Geschichte – Gesellschaft – Geltung: XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge 9783787330591, 9783787330584

Systematisches Philosophieren findet immer in einem historisch gewordenen gesellschaftlichen Kontext statt. Die Geltungs

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German Pages 1168 [1186] Year 1994

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Geschichte – Gesellschaft – Geltung: XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge
 9783787330591, 9783787330584

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Geschichte – Gesellschaft – Geltung XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie

Geschichte – Gesellschaft – Geltung XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Kolloquienbeiträge

Herausgegeben von Michael Quante Unter Mitarbeit von Nadine Mooren und Tanja Uekötter

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie e. V.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3058-4 ISBN eBook: 978-3-7873-3059-1

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zell­stoff. Printed in Germany. www.meiner.de

I N H A LT

Vorwort .......................................................................................................................................

XV

Hauptvorträge Carl Friedrich Gethmann Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen? ....................................................................................

3

Francesca Menegoni Hat die Klassische Deutsche Philosophie auch heute noch eine Relevanz für die italienische Philosophie? .............................................................................................

29

Julian Nida-Rümelin Veritas filia temporis .................................................................................................................

43

Ryosuke Ohashi Ja und Nein zur Frage: Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹? Deutsch-japanische Denkwege im Rück- und Ausblick ......................................................

67

Philip Pettit History in the Service of Philosophy ......................................................................................

85

Robert Pippin Hegel über die politische Bedeutung kollektiven Selbstbetrugs .........................................

97

Ludwig Siep Über den Sinn der Beschäftigung mit der deutschen Philosophie heute ..........................

113

Kolloquium 1 Die Philosophie und ihre Sprachen Günter Abel Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen .........

135

Dagfinn Føllesdal Philosophy of Language and Husserl’s Phenomenology ......................................................

159

VI

Inhalt

Kolloquium 2 Geschichtliches Philosophieren ohne apriorische Geschichtsphilosophie Christian Bermes Einleitung ...................................................................................................................................

179

Günter Figal Geschichte als Text und Textur ................................................................................................

183

Karl-Heinz Lembeck Metamorphosen des historischen Apriori .............................................................................

193

Kolloquium 3 Genesis und Geltung. Klassische deutsche Philosophie im Dialog mit asiatischen Philosophien Genesis and Validity. Classical German Philosophy in a Dialogue with Asian Philosophies Claudia Bickmann Selbstreflexion. Herausforderung in der Annäherung zwischen klassisch-europäischen und asiatischen Philosophien .........................................................

211

Chung-ying Cheng Receptivity and Creativity in Hermeneutics: Focusing on Gadamer with Reference to Onto-Hermeneutics ...........................................

225

Hiroshi Goto Die Rezeptionsgeschichte des Personbegriffs in der Moderne Japans ...............................

241

Rainer Schäfer Methode des Subjekts und Subjekt der Methode ..................................................................

257

Kolloquium 4 Sprachen des Denkens – Denken in Sprachen Tilman Borsche Einleitung: Denken in Sprachen ..............................................................................................

273

Günter Abel Das philosophische Problem des Übersetzens ......................................................................

277

Andrzej Przylebski »Die aus dem Land der Denker«. Zu Übersetzungsproblemen deutscher Philosophieklassiker in Polen – Hegel, Nietzsche, Heidegger ....................................................................................................

287

Inhalt

VII

Tze-wan Kwan Die vierfache Wurzel des Gedankens von ›sein‹ in der chinesischen Sprache und Schrift ..................................................................................................................

297

Rolf Elberfeld Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen Texte des Zen-Meisters Dogen in Übersetzung ....................................................................

315

Kolloquium 5 Hans Jonas. Verantwortungsphilosophische Aktualität oder ontologisch-metaphysische Vergangenheit? Michael Bongardt Dekor oder Fundament? Zur Bedeutung des Schöpfungsglaubens für die Grundlegung der Ethik bei Hans Jonas ...........................................................................

327

Holger Burckhart Verantwortungsethik – ist VE ohne Hans Jonas Metaphysik aber mit seinem universalen Anspruch heute verteidigbar? Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus ........................................................................

339

Jürgen Nielsen-Sikora Ist das »Prinzip Verantwortung« noch aktuell? .....................................................................

367

Kolloquium 8 Pragmatistische Ethik Andrea Marlen Esser Zusammenfassung .....................................................................................................................

389

Kolloquium 9 Das Geschlecht der Philosophie Andrea Marlen Esser Einleitung ...................................................................................................................................

397

Eva von Redecker Report .........................................................................................................................................

399

Mari Mikkola Die Andere der Philosophie: Warum mangelt es in der deutschen Philosophie noch an Gender-Gerechtigkeit? ..............................................................................................

403

VIII

Inhalt

Susanne Lettow Geschlechterungleichheit in der Philosophie. Drei Thesen .................................................

409

Kolloquium 10 Fortschritt und Gerechtigkeit Amy Allen Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts ......................................................................

415

Rainer Forst Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts? Kommentar zu Amy Allen, »Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts« ...................

427

Lea Ypi Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit ................................................

433

Stefan Gosepath Gegen die Matrjoschka-Puppen-Theorie des Fortschritts Kommentar zu Lea Ypis »Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit« .

445

Kolloquium 11 Die historische Pfadabhängigkeit ethischer Rechtfertigungen Carl Friedrich Gethmann Einleitung ...................................................................................................................................

455

Armin Grunwald Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie auf ihre ethische Beurteilung? ................................................................................................................

457

Dieter Birnbacher Ethische Überlegungen zu den neuen Formen der Pränataldiagnostik – mit Blick auf die Geschichte der Eugenik ..............................................................................

473

Erzsébet Rózsa Historische Innovation, kulturelle Transformationen und historische Erfahrungen am Beispiel der ›subjektiven Freiheit‹ ›im europäischen Sinne‹ .........................................

481

Kolloquium 13 Vernunft und Glaube Christoph Jäger Glaube, Wissen und rationales Hoffen Bemerkungen zum Kolloquium Vernunft und Glaube .........................................................

501

Inhalt

IX

Peter Rohs Der Platz zum Glauben .............................................................................................................

519

Ansgar Beckermann Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs: Der Platz zum Glauben .............................................................................................................

529

Volker Gerhardt Das Göttliche als Sinn des Sinns – Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen .................................................................................................................

537

Christian Tapp Über den Sinn des »Sinns des Sinns«. Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch »Der Sinn des Sinns« .......................................................................

551

Kolloquium 15 Geschichtsphilosophie als Theorie sozialen Wandels Rahel Jaeggi Einleitung ...................................................................................................................................

571

Doris Gerber Soziale und Kollektive Handlungen in historischen Kontexten ..........................................

573

Emil Angehrn Geschichte als Raum des sozialen Wandels: Zwischen Hermeneutik und Geschichtsphilosophie ......................................................................................................

585

Kolloquium 16 Transzendentale Sprachpragmatik. Geltung und die Grenzen guter Gründe Matthias Kettner Einleitung ...................................................................................................................................

601

Boris Rähme Performative Inkonsistenz für Fallibilisten ............................................................................

605

Micha Werner The Morality Club and the Moral Sceptic: A Defence of Social Constitutivism ...............

621

Matthias Kettner Der Raum der Gründe und die Kommunikationsgemeinschaft der Begründer ..............

637

X

Inhalt

Kolloquium 17 Genesis und Geltung rechtlicher Normen Stephan Kirste Rechtsbegriff und Rechtsgeltung .............................................................................................

659

Marietta Auer Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse ..........................................................

683

Dietmar von der Pfordten Kritik der Geltung .....................................................................................................................

693

Matthias Mahlmann Geschichtlichkeit und Geltung von Grundrechten ...............................................................

703

Thomas Gutmann Genesis, Geltung, Genealogie ..................................................................................................

719

Kolloquium 18 Was ist eine kulturelle Tatsache? Ralf Konersmann Einführung: Rhetorik des Tatsächlichen ................................................................................

737

Ralf Becker Kulturelle und natürliche Tatsachen .......................................................................................

743

Dirk Rustemeyer Wirklichkeit entwickeln ...........................................................................................................

753

Dirk Westerkamp Kulturelle Faktizität ...................................................................................................................

759

Kolloquium 19 Moralischer Realismus und politische Philosophie Julian Nida-Rümelin Einführung ................................................................................................................................

775

Charles Larmore Die moralische Grundlage des politischen Liberalismus ....................................................

783

Barbara Zehnpfennig Wahrheit in der Demokratie ....................................................................................................

801

Inhalt

XI

Elif Özmen Pluralismus und das Ringen um Wahrheit. Eine kurze Apologie der liberalen Demokratie .....................................................................

817

Lutz Wingert Gut für alle zusammen? Oder was könnten Demokraten in einer Demokratie erkennen? .......................................

827

Kolloquium 21 Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte Marcel van Ackeren Philosophie und die historische Perspektive. Methodische und metaphilosophische Aspekte ...................................................................

853

Dina Emundts Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel ..................................................................................................................

875

Stefan Roski / Benjamin Schnieder Gründe aller Arten? Der Anspruch auf Vereinheitlichung in Bolzanos Abfolgetheorie .....................................

891

Kolloquium 22 Antike Philosopheme in systematischen Debatten der Gegenwart Christof Rapp Einleitung ...................................................................................................................................

913

Ulrich Nortmann Sich bei Aristoteles bedienen? Sprachtheorie, Essentialismus, Dualismus und Modaltheorie zwischen Antike und Moderne ...............................................................

919

Christopher Gill Why Should We Care about Stoic Ethics Today? ..................................................................

929

Jan Opsomer Sollte man den Platonismus wohlwollend interpretieren? Philosophische Historiographie und das Prinzip der wohlwollenden Interpretation ..............................................................................................................................

945

XII

Inhalt

Kolloquium 23 Gegenstand und Geltung. Die Gegenstandsbezogenheit der ästhetischen Erfahrung von Kunst und Musik Maria Elisabeth Reicher Ästhetische Werte als dispositionale Eigenschaften: 1905–2014 .......................................

961

Lars-Olof Åhlberg Form und Gehalt. Warum Eduard Hanslicks Musikphilosophie zeitgemäß ist ...............

975

Kolloquium 24 Aufklärung und Religion Albrecht Beutel Aufklärung und Protestantismus ............................................................................................

995

Winfried Schröder Auf dem Prokrustesbett neuzeitlicher Rationalität. Schwierigkeiten mit der Religionskritik der Aufklärung .....................................................

1007

Rainer Enskat Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant ............................................

1017

Kolloquium 26 Diskurse der Moderne/n aus interkulturell-transkultureller Perspektive Georg Stenger Einleitung ...................................................................................................................................

1039

Toru Tani »Zwischen« und Begegnung. – im Zusammenhang mit Megumi SAKABE’s Interpretation der Moderne ....................

1045

Hans Schelkshorn Mexikanische Revolution und Erster Weltkrieg. Lateinamerikanische und europäische Philosophie auf dem Weg zu einem globalen Diskurs über die Moderne ............................................................................

1059

Azelarabe Lahkim Bennani Das Private Recht als Erbe der Moderne und die Herausforderung des Rechtspluralismus im Licht der islamischen Rechtskultur ..................................................

1075

Inhalt

XIII

Kolloquium 28 Politisches Denken in seiner historischen Dimension: Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Barbara Zehnpfennig Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart ..................................

1091

Hendrik Hansen Warum die Kapitalismuskritik den Rückgriff auf die antike Philosophie braucht ...........

1095

Hans-Jörg Sigwart Wider die Gespenster der Vergangenheit: Politische Ideengeschichte und Kritik der Gegenwart .........................................................

1109

Marcus Llanque Die Diskursivität politischer Ideen .........................................................................................

1125

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren ............................................................................

1141

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses ............................................................

1157

Vorwort

Der vorliegende Band dokumentiert die öffentlichen Vorträge und die wissenschaftlichen Kolloquien des XXIII. Deutschen Kongresses für Philosophie, der unter dem Titel »Geschichte – Gesellschaft – Geltung« vom 28. September bis 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster stattfand. Veranstalter des Kongresses war die Deutsche Gesellschaft für Philosophie e.V. unter ihrem Präsidenten Michael Quante, Professor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Philosophieren findet immer in einem historisch gewordenen gesellschaftlichen Kontext statt. Die Geltungsansprüche der Philosophie, dies gilt sowohl in ihren theoretischen als auch in ihren praktischen Disziplinen, reflektieren diese Kontextualität. Somit stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise universale Geltungsansprüche mit guten Gründen erhoben und verteidigt werden können. Nicht erst durch die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ist sich die Philosophie dabei auch der fundamentalen Bedeutung der sprachlichen Verfasstheit des Philosophierens bewusst. Aktuelle Entwicklungen im Wissenschaftssystem, die hier mit den Stichworten Internationalität und Interdisziplinarität nur benannt sein sollen, bringen für die Philosophie Herausforderungen mit sich, die in Münster entlang dreier Fragestellungen behandelt wurden: Erstens fand eine Reflexion auf die systematische Relevanz der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache in der Philosophie statt. Diese Fragestellung betrifft über die Philosophie hinaus die Geisteswissenschaften im Allgemeinen und hat auch Konsequenzen für die Möglichkeiten und Ausgestaltungen der interdisziplinären Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Zweitens wurde die Bedeutung der philosophischen Tradition und der Philosophiegeschichte diskutiert. Leitfragen waren dabei: Welche Funktion haben historische Positionen für die Beantwortung der systematischen Gegenwartsfragen der Philosophie und welche methodischen Zugriffe eröffnen den Zugang zu diesem systematischen Potential? Drittens zielte der Kongress darauf ab, die systematische Bedeutung zentraler Autoren und Traditionslinien der Deutschen Philosophie für die Beantwortung der Fragen der gegenwärtigen Philosophie zu bestimmen. Diese Fragestellung des Kongresses stößt in allen Ländern, in denen die deutsche Philosophie einen zentralen Stellenwert in Lehre und Forschung innehat, auf starkes Interesse und hat dem Kongress deshalb eine hohe internationale Aufmerksamkeit verschafft. Die mehr als 1.000 registrierten Teilnehmer hatten die Gelegenheit, neben den sieben Hauptvorträgen in 28 Kolloquien 102 Vorträge von eingeladenen Vortragenden zu hören; diese Vorträge sind mit wenigen Ausnahmen in dem vorliegenden Kongressband enthalten; (eine Übersicht über das vollständige Kolloquienprogramm des Kongresses findet sich im Anhang dieses Bandes). Darüber hinaus wurden 83 Sektionen zu den Disziplinen der Philosophie durchgeführt, für die aus 590 Bewerbungen nach einem Begutachtungsverfahren 394 Vorträge angenommen worden sind. Diese Sektionsvorträge, die nicht

XVI

Vorwort

im vorliegenden Kongressband dokumentiert werden, konnten vorab als elektronische Publikation veröffentlicht werden. Für die finanzielle Unterstützung des wissenschaftlichen Programms danke ich der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Für das den Kongress begleitende Rahmenprogramm und die Unterstützung der Gesamtorganisation wurde ich frühzeitig von der Sparkasse Münsterland Ost, dem FoKoS der Universität Siegen, der Alexander von Humboldt Stiftung, Münster Marketing, dem Mentis Verlag, der Westfaleninitiative und nicht zuletzt der Westfälischen Wilhelms-Universität unterstützt. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt dabei meiner Universität, die diesen Kongress zu jedem Zeitpunkt in wohlwollender und konstruktiver Weise von den ersten Planungsschritten bis zur Durchführung unterstützt hat. Darüber hinaus geht mein persönlicher Dank an Ursula Nelles, die mir als Rektorin bei meinen Planungen mit Rat und Tat sowie manch guter Idee zur Seite gestanden hat. Frau Dr. Nadine Mooren und Frau Tanja Uekötter sei für die redaktionelle Bearbeitung des Bandes gedankt; ohne ihre umsichtige und zielstrebige Betreuung des Publikationsprojekts wäre es nicht möglich gewesen, den vorliegenden Kongressband jetzt vorzulegen. Münster, im Mai 2016

Michael Quante

HAU P T T E X T E Carl Friedrich Gethmann Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen? Francesca Menegoni Hat die Klassische Deutsche Philosophie auch heute noch eine Relevanz für die italienische Philosophie? Julian Nida-Rümelin Veritas filia temporis Ryosuke Ohashi Ja und Nein zur Frage: Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹? Deutsch-japanische Denkwege im Rück- und Ausblick Philip Pettit History in the Service of Philosophy Robert Pippin Hegel über die politische Bedeutung kollektiven Selbstbetrugs Ludwig Siep Über den Sinn der Beschäftigung mit der deutschen Philosophie heute

Was bleibt vom fundamentum inconcussum angesichts der modernen Naturwissenschaften vom Menschen? Carl Friedrich Gethmann

Fragt man nach einem Beitrag der klassischen Deutschen Philosophie zur gegenwärtigen wissenschaftlichen Debatte, scheint für nicht wenige die Subjekttheorie der transzendentalphilosophischen Theorietradition eher ein Beispiel für In-Aktualität, Vor-Gestrigkeit, unbewusster oder gar bewusster Ignoranz. Demgegenüber soll in diesem Beitrag gezeigt werden, dass die transzendentalphilosophischen Konzeptionen von Subjektivität angefangen von Descartes über Kant und Fichte, die Neukantianer und Phänomenologen bis zu den neotranszendentalen Ansätzen des 20. Jahrhunderts beispielsweise bei W. Cramer, H. Krings, H. Wagner, E. Coreth, D. Henrich u. a. sowie den durch die »Wende zur Sprache« gekennzeichneten transzendentalphilosophischen Positionen von K.-O. Apel, W. Kamlah, P. Lorenzen u. a. von aktueller Bedeutung sind. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie die Subjektivität des Subjekts als nicht-wegdenkbare Voraussetzung aller theoretischen und praktischen Geltungsansprüche zu explizieren versuchen. Erst unter dieser subjekttheoretischen Präsupposition ist eine kohärente Explikation von geltungsbeanspruchendem Wissen und Handeln, demzufolge von Wissenschaft und Sitte angemessen zu fundieren. Die begriffliche Selbstexplikation dieser Position steht allerdings, wie ihre Vertreter selbst immer wieder herausgestellt haben, vor durch die Sache gegebenen methodischen Schwierigkeiten. Diese haben zu häufigen Selbstrevisionen geführt – man denke nur an die immer wieder neuen Anläufe der Fichteschen Wissenschaftslehren oder der Husserlschen Phänomenologie-Entwürfe – die sicher die Attraktivität dieser Position nicht gesteigert haben. Hinzu kommen die Einwände der frühen und späteren Kritiker, zu denen vor allem auch Hegel und der späte Schelling zu rechnen sind, die nach Meinung vieler das Scheitern dieser Position besiegelt haben. Die damit angedeutete Debatte hat das 19. und frühe 20. Jh. bestimmt. Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche, Marx, Kierkegaard, Brentano und die sich an diese anschließenden philosophischen Lehr-und Lernzusammenhänge (»Schulen«) und damit schließlich weite Teile der Gegenwartsphilosophie sind ohne diese Debatte gar nicht zu verstehen. Die philosophische Debattenlage der jüngsten Zeit schließt jedoch nicht an diese Kritik, Selbstkritik und Metakritik an; vielmehr halten viele Philosophen diesen Ansatz insgesamt durch die Entwicklung der neueren Naturwissenschaften vom Menschen für überholt. In diesem Zusammenhang wird gerne ein oft repetiertes Bild der Wissenschaftsgeschichte herangezogen, wonach sich die Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen der über Jahrhunderte hinweg sich vollziehenden Aussonderung aus und Verselbständigung gegenüber der Philosophie verdanke. Limes dieser Entwicklung sei die Überführung aller sinnvollen wissenschaftlichen Fragen in die intellektuelle Obhut

4

Haupttext · Carl Friedrich Gethmann

exakt und empirisch arbeitender Einzelwissenschaften mit dem kollateralen Effekt, dass es schließlich keine genuinen philosophischen Probleme mehr gebe. Demgemäß erlebten wir gegenwärtig die Aussonderung und Verselbständigung der Fragen, die in der traditionellen Philosophie unter Titeln wie Philosophie des Ich, der Subjektivität, des Selbstbewusstseins, der Person, des Geistes o.ä. behandelt worden sind. So wie am Beginn der Neuzeit die antike und mittelalterliche Naturphilosophie durch die moderne Physik abgelöst wurde, erlebten wir – so wird behauptet – in den letzten Jahrzehnten die schrittweise Ablösung eines bestimmten Typs philosophischer Fragen nach dem Muster des »naturalizing epistemology«.1 Die dazu geführte Diskussion ist keineswegs nur eine Debatte im elfenbeinernen Turm der Fachphilosophie. Als Beispiel sei auf die von A. Newen organisierte und von ihm und anderen verfasste zwölfteilige Serie von Spektrum der Wissenschaft zum Thema »Die größten Rätsel der Philosophie«2 hingewiesen, die insgesamt das Projekt der Transformation philosophischer Fragestellungen in solche empirischer Forschung verficht. Für die theoretische Philosophie heißt das, dass das klassische Problem des Selbstbewusstseins in die neuropsychologische Aufklärung propositionaler Einstellungen überführt werden soll. Kognitive Leistungen als Grundlage der Wissensbildung werden der psychologischen Kognitionsforschung überantwortet. Die Fragen der sprachlichen Konstitution der Welt werden in die Erforschung der Sprachzentren der Primatengehirne überführt. Für die praktische Philosophie soll es darum gehen, moralische Verpflichtungen und Berechtigungen durch ethologische Untersuchungen zu altruistischen Verhaltensweisen von Primaten aufzuklären; vor allem der Altruismus des Bonobo-Weibchens beeindruckt nicht wenige Kollegen. Die Empathie, die psychologische Grundlage der ethisch lobenswerten Haltung des Altruismus ist, lasse sich grundsätzlich auf Spiegelneuronen zurückführen.

Der Ausdruck wurde von Willard Van Orman Quine geprägt, vgl. ders.: »Epistemology Naturalized«, in: E. Sosa/J. Kim. Epistemology: An Anthology, Malden, MA, S. 292–300. Quines Naturalismus ist für viele Philosophen prägend, die sich der Tradition der analytischen Philosophie zurechnen. Allerdings bleibt unklar, was an diesem Ansatz noch »analytisch« ist. Die Grundlage des Quineschen Ansatzes ist jedenfalls nicht mehr die Analyse der Sprache, sondern ein physikalischer Neo-Empirismus. Deswegen ist auch die redaktionelle Vorbemerkung zu der Artikelserie in Spektrum der Wissenschaft (vgl. die nächste Anmerkung), wonach sich der Denkwandel der Philosophie in der Gegenwart dem Siegeszug der Analytischen Philosophie verdanke (R. Breuer: »Auszug aus dem Elfenbeinturm«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 56) mangels klarer Identitätskriterien für ›Analytische Philosophie‹ eine nicht verifizierbare Diagnose. 2 Julian Nida-Rümelin: Interview »Uns bleiben die unlösbaren Probleme«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 56–61; Albert Newen: »Wer bin ich«?, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 62–66; Michael Pauen: »Eine Frage der Selbstbestimmung«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 68–72; Tobias Schlicht: »Dem Bewusstsein auf der Spur«, in: Spektrum der Wissenschaft 4 (2011), S. 62–69; Albert Newen: »Das Verhältnis von Mensch und Tier«, in: Spektrum der Wissenschaft 4 (2011), S. 70–75; Sabine A. Döring: »Gefühl und Vernunft«, in: Spektrum der Wissenschaft 5 (2011), S. 64–67; Elke Brendel: »Was können wir von der Welt wissen?«, in: Spektrum der Wissenschaft 5 (2011), S. 68–72; Michael Esfeld: »Das Wesen der Natur«, in: Spektrum der Wissenschaft 6 (2011), S. 54–58; Marcel Weber: »Ursache und Wirkung – am Beispiel der Gene«, in: Spektrum der Wissenschaft 6 (2011), S. 60–65; Julian Nida-Rümelin: »Was ist gerecht?«, in: Spektrum der Wissenschaft 7 (2011), S. 62–69; Wilfried Hinsch: »Streitpunkt Menschenrechte«, in: Spektrum der Wissenschaft 7 (2011), S. 70–74. 1

Was bleibt vom fundamentum inconcussum

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Die Fragen der Konstitution des Rechts sollen durch Aufklärung der neuronalen Basis von Belohnung und Bestrafung von Regelkonformität und Regelverletzung beantwortet werden. Die philosophischen Fragen nach Zielen und Zwecken von Erziehung und Bildung ließen sich durch Erforschung der neuronalen Basis der Ontogenese des Menschen ersetzen. Dieser propagierte Transformationsprozess hat durchaus Parallelen in anderen Disziplinenkulturen, und Wechselwirkungen mit der philosophischen Debatte sind unschwer erkennbar. Die muntere Proliferation von Neuro-Disziplinen – vom Neuro-Marketing über die Neuro-Germanistik bis zur (theologischen) Neuro-Dogmatik – ist durchaus bemerkenswert. Allerdings ist auch eine gegenläufige Debattendynamik zu beobachten: In dem Maße, in dem manche Philosophen die Lösung der großen Rätsel von den empirischen Wissenschaften erwarten, tritt bei deren Fachvertretern und in der ihre Stellungnahmen diskutierenden Presse eine deutliche Ernüchterung, wenn nicht sogar ein deutliches Misstrauen, gegenüber zu forschen Erwartungen und uneingelösten Versprechungen der einschlägigen empirischen Disziplinen zutage. Als Beispiel sei auf das anlässlich des zehnjährigen Erscheinens des »Manifests« der Hirnforscher in »Gehirn und Geist« (2004) veröffentlichte Memorandum einer Gruppe von Hirnforschern hingewiesen, das unter dem Titel »Reflexive Neurowissenschaft« erschien.3 Dieses »Gegenmanifest« geht scharf mit dem ursprünglichen Manifest ins Gericht und fordert, die traditionellen Fragestellungen der philosophischen Anthropologie wieder in ihr Recht zu setzen, und zwar in nichtreduktionistischer Weise. Die These von der Ablösung der philosophischen Subjekttheorie durch die Neurowissenschaften wird ausdrücklich zurückgewiesen, weil die Reduktion des Menschen und seiner intellektuellen und kulturellen Leistungen auf sein Gehirn als »neues Menschenbild« völlig unzureichend sei. In diesem einseitigen Raster sei der Mensch als Subjekt und Person in seiner Vielschichtigkeit nicht mehr zu fassen. Es sei immer die ganze Person, die etwas wahrnehme, überlege, entscheide, sich erinnere usw., und nicht ein Neuron oder ein Cluster von Molekülen. Die Autoren stützen sich u. a. ausdrücklich auf philosophische Kritiker der Neurowissenschaften wie P. Janich, B. Falkenburg, Th. Fuchs u. a. Diese Kritik hat auch die Aufmerksamkeit der »Qualitätspresse« gefunden. Bemerkenswert sind Titel wie »Die große Neuro-Show. Was wurde aus den Verheißungen der Hirnforschung? Wissenschaftler ziehen Bilanz. Sie fällt dürftig aus«4. Hinzuweisen ist auch auf die Artikelserie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die unter dem Gesamttitel »Hirnforschung, was kannst du?« steht.5 Das angeführte Bild der Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen bei gleichzeitiger Ablösung der Zuständigkeit der Philosophie ist schon häufig kritisiert worden, weil es aus mehreren Gründen inadäquat ist:

3 www.psychologie-heute.de/home/lesenswert/memorandum-reflexive-neurowissenschaft/; vgl. auch Stephan Schleim: »Hirnforschung: Zu viel versprochen«, in: Gehirn und Geist 4 (2014), S. 55–54. 4 Die ZEIT: 20.02.2014 5 Die Artikelserie kann unter Frankfurter Allgemeine Archiv abgerufen werden und war bei Abfassung dieses Beitrags noch nicht abgeschlossen.

6

Haupttext · Carl Friedrich Gethmann

(a) Eine Reihe ehrenwerter Disziplinen wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie ist mit der historischen Entwicklung der Philosophie gleich ursprünglich und hat sich nicht aus ihr entwickelt. (b) Die Entwicklung von Disziplinen hat ihre kognitive Validität und Legitimität nicht bereits durch ihre Extrikation aus der Philosophie dokumentiert. Von der Kybernetik, die vor 40 Jahren die Gemüter bewegte, wird beispielsweise kaum noch gesprochen. (c) Manche Disziplinen haben sich aus der Philosophie zu ihrem eigenen Schaden heraus entwickelt, was wohl nur deshalb geschehen konnte, weil die Philosophen bestimmte Fragen vernachlässigt haben. Man denke dabei an die institutionelle Ausdifferenzierung der Rechtsphilosophie, der Pädagogik, der Politologie oder der Medizinethik. Gelegentlich wird eine Re-Integration in die Philosophie gefordert. (d) Die These von der substantiellen Auszehrung der Philosophie trifft in Wirklichkeit auch in den Fällen nicht zu, in denen die Extrikationsthese eine gewisse Plausibilität hat: Die Aussonderung und Verselbständigung der Grunddisziplinen der Physik beginnend mit der Mechanik hat die methodologischen Grundfragen, wie sie in der Wissenschaftsphilosophie abgehandelt werden, nicht überflüssig gemacht. Beispielsweise hat sie die naturphilosophischen Grundfragen in der Philosophie zurückgelassen, die Fragen einer »praktischen Naturphilosophie« (Meyer-Abich) gar nicht erst als eine eigene Aufgabe reklamiert. Die methodische Verselbständigung wissenschaftlicher Disziplinen aus der Philosophie heraus hat insgesamt nicht zu einer Entsubstantiierung der Philosophie geführt, sondern eher zu einer methodologisch geklärten Aufgabenteilung von Typen von Fragestellungen. (e) Vor allem aber sind die Probleme der präsuppositionellen Grundlagen wissenschaftlicher Wissensbildung durch den epistemologischen Neo-Empirismus und dem mit ihm verbundenen ontologischen Naturalismus nicht nur nicht gelöst, sondern gar nicht aufgeworfen. Auf dem Hintergrund dieser wissenschaftshistorischen Beobachtungen wird man seitens der Philosophie auf die jüngsten Versuche, die transzendentalphilosophischen Konzeptionen des Selbstbewusstseins durch den methodischen Ansatz der Neurowissenschaften zu ersetzen, mit gelassener Skepsis reagieren: auch hier ist nämlich zu erwarten, dass es recht bald zu einer deutlicheren Differenzierung von Fragen und Aufgaben zwischen philosophischen Theorien der Subjektivität bzw. der Person einerseits und den empirischen Naturwissenschaften vom Menschen kommen wird.

Was bleibt vom fundamentum inconcussum

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1 ›Der Mensch‹ im generischen Singular6 ›Mensch‹ ist eine Vokabel der deutschen Alltagssprache, vermutlich in entsprechender lexikalischer Gestalt eine Vokabel aller natürlichen Sprachen. Das scheint zu bedeuten, dass sich die Sprachverwender der korrekten Verwendung dieser Vokabel in allen Kontexten sicher sind, d. h. – die Wittgensteinsche »meaning-as-use-These« einmal unterstellt – seine Bedeutung klar ist. Somit dürfte auch klar sein, dass eine moralische Position, die für den Menschen eintritt, für ihn im Konfliktfall Partei ergreift und für seine MenschenRechte streitet, weiß, wofür sie eintritt. Wie jeder, der mit wachem Bewusstsein die Welt erlebt oder wenigstens ersatzweise die Feuilletons liest, schon bemerkt hat, ist aber gerade das nicht der Fall. ›Mensch sein‹ bzw. in Prädikatorenform geschrieben ›x ist Mensch‹ zerbröselt vielmehr in seiner Bedeutung in mehreren Dimensionen: (a) Eine Dimension ergibt sich aus der Variabilität der Möglichkeiten, Menschen bestimmte vermeintlich grundlegende Attribute zuzuordnen. Zu nennen sind vor allem die fünf historisch bedeutenden Parameter, nämlich die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Stand, einer Klasse, einer Rasse, einem Bekenntnis oder einem Geschlecht, wobei die Liste keineswegs abgeschlossen sein dürfte. Solche Zuschreibungen mögen »anthropologische Klassifikatoren« heißen. Bezüglich jedes anthropologischen Klassifikators ist übrigens schon die Position vertreten und auch politisch wirkmächtig exekutiert worden, sie sei das fundamentale Attribut zur Bestimmung des Menschseins. Es sind wohl auch alle entsprechenden Attribute schon in Reisepässe oder Personalausweise (identity cards) aufgenommen worden. Und da die identity cards – nach einer Feststellung Hermann Lübbes7 – aussagen, was nach Meinung ihrer Träger ihre Identität in äußerster Kurzfassung ausmacht, sind auch alle anthropologischen Klassifikatoren schon herangezogen worden, um eine Theorie der Identität des individuellen Menschen zu formulieren. Feministinnen beispielsweise, jedenfalls manche, sind überzeugt, dass das Geschlecht alle anderen Parameter an Elementarität aussticht. Sie müssen zurzeit allerdings erleben, dass Menschen (auch Frauen) auf den Plan treten, die das religiöse Bekenntnis für ein fundamentaleres Identitätsattribut halten. Vor einigen Jahrzehnten wäre der gleiche Status für die Rassenzugehörigkeit reklamiert worden. Diese Hinweise mögen genügen, um die entscheidende Frage aufzuwerfen, wie man nämlich die Frage nach der fundamentalen Einteilung überhaupt ausweisbar beantworten können soll. Das »gratis asseritur – gratis negatur« ist der intellektuelle GAU, und das nicht in erster Linie aus theoretischen Gründen, etwa, weil die Situation wegen Widersprüchen oder Ungereimtheiten intellektuell unbefriedigend wäre, sondern vor allem aus praktischen Gründen, weil sie die Position wäre, die die äußerste Partikularisierung und damit eine Konfliktma6 In diesem Paragraphen werden Überlegungen zusammengefasst, die ausführlicher behandelt wurden in: Carl Friedrich Gethmann: »Menschsein – Menschbleiben. Zur Grammatik askriptiver Äußerungsmodi«, in: J. Rüsen (Hg.): Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010, S. 41–58. 7 Hermann Lübbe: Philosophie nach der Aufklärung, Düsseldorf 1980, S. 95 f.

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ximierung provoziert. Man bedenke, dass vier Fünftel aller Kriege der Weltgeschichte Kriege waren und sind, die durch Partikularismuskonflikte ausgelöst oder wesentlich mitangetrieben sind, somit primär keine Güterverteilungskriege waren oder sind, wie eine gewisse marxistische Theorietradition glauben machen will. Vor allem Bekenntniskriege haben daran einen sehr hohen Anteil, so dass Konfessionskriege das Muster dieses Konflikttyps abgeben können. Die meisten Gewaltkonflikte sind wenigstens auch Konflikte um Anerkennung (von Identitäten), nicht in erster Linie soziale Konflikte im Sinne von Verteilungskonflikten. Es gibt somit praktische Kontexte, in denen die Verwendung des generischen Singulars ›Der Mensch‹ (als Gattungsbegriff vor allen Art-Unterscheidungen) unverzichtbar ist, in denen er nicht in spezifische oder individuelle Pluralia von menschlichen Attributen aufgelöst werden darf. Somit stellt sich unvermeidlich die Frage ›Was ist der Mensch?‹. (b) Das semantische Zerbröseln von Menschsein ist nicht nur hinsichtlich der Variabilität der grundlegenden Attribute festzustellen, durch die Menschen beschrieben werden, sondern auch hinsichtlich der kognitiven Kompetenzen, die prätendieren, für die Beantwortung der Frage zuständig zu sein. Diesbezüglich besteht ein enger Zusammenhang mit der Frage, wie sich hinsichtlich der anthropologischen Klassifikatoren überhaupt argumentieren lässt. Vereinfacht stehen miteinander im Wettbewerb: ◆ ◆



die Religionen, nach denen sich die Frage nach dem Menschsein aus dem Bekenntnis geoffenbarter Wahrheiten außerhalb menschlicher Verfügungsgewalt ergibt, die Geisteswissenschaften, die beanspruchen, durch die Rekonstruktion der Konstitutionsbedingungen der Verallgemeinerbarkeit beanspruchenden Formen des »objektiven« Geistes (Sprache, Recht, Kunst, ….) die grundlegenden Attribute des Menschseins zu explizieren, die Naturwissenschaften vom Menschen, nach denen sich das Menschsein aus der kausalen Erklärung der menschlichen Selbst-Attribuierungen aus naturhaften Ursachen ergibt.

Die Position der Philosophie, jedenfalls der Transzendentalphilosophie, liegt nicht auf dieser Deutungsebene, sondern sie beansprucht, durch kritische Reflexion auf die Präsuppositionen selbst- und weltbezogener Lebensvollzüge die Kompetenzfrage zusammen mit der Sachfrage zu klären. Die Philosophie sieht nämlich nicht nur alle Geltungsprätentionen, sondern auch alle Zuständigkeitsprätentionen kritisch: Die anthropologischen Deutungspostulate religiöser Offenbarungen mögen ihren Ursprung außerhalb menschlicher Verfügungsgewalt haben, gleichwohl erheben sie Geltungsansprüche für jedermann, die insoweit auch der kritischen Überprüfung zugänglich sein müssen; beispielsweise ist der in diesem Zusammenhang häufig angeführte Topos von der Gottebenbildlichkeit des Menschen als Vorgabe für das menschliche Handeln dem Postulat der negativen Theologie gegenüberzustellen, demgemäß alle Aussagen über die Eigenschaften Gottes im Vergleich mit den Eigenschaften des Menschseins eine größere Unähnlichkeit als Ähnlichkeit aufweisen. Soll aus der Gottebenbildlichkeit ein

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substantieller deskriptiver oder präskriptiver Gehalt abgeleitet werden, müsste man eben über das Urbild Genaueres und Verbindliches wissen. Die durch die Geisteswissenschaften rekonstruierten, Verallgemeinerbarkeit beanspruchenden Formen des ›objektiven‹ Geistes beziehen sich auf faktische Allgemeinheiten, deren Geltungsansprüche einer Überprüfung bedürfen, weswegen es übrigens methodisch irreführend ist, die Philosophie den Geisteswissenschaften zu subsumieren. Ferner hilft es nicht, dem Naturalismus mancher Naturwissenschaftler zwar zu widersprechen, um dem Determinismus dann in Form eines (kultur-)historischen, soziologischen, ökonomischen oder psychologischen Determinismus eine Bresche zu schlagen, d. h. neben den naturhaften Faktoren auch noch sog. ›Umweltfaktoren‹ ins Spiel zu bringen. Sollten Menschen einsehen müssen, dass sie in ihren elementaren Lebensentscheidungen vom Typ Schulwahl, Berufswahl, Partnerwahl, Lebensformwahl u.ä. determiniert sind (gegebenenfalls ohne es zu merken), dann ist ihnen selbst, aber auch ihren Lehrern, Partnern, Strafrichtern, Seelsorgern u.ä. ziemlich gleichgültig, ob es die Neuronen, die Gene, die Hormone, das Klima, die Geschwisterfolge, die Wohlstandsmatrix oder die Systemstrukturen sind, die sie determinieren. Schließlich sind die Geltungsprätentionen der Naturwissenschaften vom Menschen im Laufe der Neuzeit allerdings schon mehrfach aufgetreten, etwa in Gestalt des Mechanismus (La Mettrie, d’Holbach), des Physikalismus (Laplace), des Evolutionismus (Darwin, Haeckel) oder des Soziobiologismus (Wilson). Diesen Ansätzen ist gemeinsam, die Erfahrung der Handlungsfreiheit als eine (evtl. nützliche) Selbsttäuschung des Menschen darzustellen, und damit das Phänomen der Freiheit, d. h. der Erfahrung der Handlung als unverursachte Ursache als Skandalon der naturwissenschaftlichen Denkweise (nämlich die gesamte Wirklichkeit grundsätzlich als durch Ursache-Wirkungsverhältnisse strukturiert) hinzustellen. Die Kritik der Transzendentalphilosophie am Naturalismus hat daher sozusagen schon eine Routine, die daher auch auf die neueren Varianten bezogen werden kann. Im Kern besteht diese Kritik darin, naturalistischen Positionen eine Konfundierung transzendentaler Grundakte der Erfahrung der Gegenstände mit beschreibungszugänglichen Gegenständen der Erfahrung vorzuhalten. Diese Kritik kann in einer theoretischen und in einer praktischen Lesart verstanden werden. Gemäß der theoretischen Lesart geht es darum, die Konstitution der Gegenstände der Erfahrung durch die Bedingungen der Erfahrung der Gegenstände herauszustellen, wie Kant das im ›Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori‹ zusammengefasst hat. Die praktische Lesart stellt heraus, dass die Handlung der Gegenstandskonstitution die Selbstzuschreibung des Akteurs als Handlungsurheber präsupponiert. Da die Gegenstandskonstitution als Grundlage des Erkennens handlungsförmlich ist, gilt in diesem Sinne, wie vor allem Fichte herausgestellt hat, ein ›Primat des Praktischen‹.

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2 Der Akteur askriptiver Redehandlungen Der fundamentale Ansatz der Transzendentalphilosophie, nämlich Fremd- und Selbstzuschreibungen als Handlungen eines Handlungsurhebers zu explizieren, wird allerdings völlig verfehlt, wenn man den Handlungsurheber als Gegenstand der Beschreibung betrachtet. Ein derartiger Perspektivenwechsel ist bei vielen Autoren zu beobachten, die sich mit der Philosophie des Geistes beschäftigen. Danach habe Descartes im Anschluss an sein Zweifels-Argument behauptet, dass der menschliche Geist von der Welt getrennt sei, und das lasse sich angesichts moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nun einfach nicht halten – abgesehen davon, dass die Darlegungen von Descartes in der Tat in vielerlei Hinsicht missverständlich und daher klärungsbedürftig sind und somit die transzendentale Argumentationslinie allenfalls in einer Residualform repräsentieren. So schreibt A. Newen in der schon zitierten Artikelserie: »Gegen einen reinen Geist sprechen auch neurowissenschaftliche Beobachtungen. Demnach können körperliche Störungen die Psyche systematisch verändern…[Es folgen Hinweise auf neurodegenerative Erkrankungen, lokale Traumata, Psychopharmaka u. a.; CFG] Der Geist ist also untrennbar an Materie gebunden und seine Existenz unabhängig vom Körper eine pure Fiktion«8 Man beachte nur das hier in einem kurzen Zitat angerührte terminologische Chaos bezüglich »Geist – reiner Geist – Psyche« einerseits, und »Körper – Welt – Materie« andererseits. Wichtiger als das terminologische Durcheinander, das sich durch terminologische Arbeit heilen lässt, ist es jedoch, den angesprochenen Perspektivenwechsel genauer herauszustellen. 2.1 Deskriptive und askriptive Redemodi Die Bestimmung des Menschen in der Wortgebrauchsform des generischen Singulars ist die Antwort auf eine Frage, die in der klassischen Formulierung lautet: ›Was ist der Mensch?‹ In den letzten Jahren ist jedoch eine andere Frageform populär geworden: ›Wer bin ich?‹ Die neue Frageform bietet durchaus Vorteile. Der Übergang von der Was- zur Wer-Frage hebt ausdrücklich den Bezug auf den Fragesteller und damit den Primat der 1. Person-Perspektive der Frage hervor. Zugleich befreit er die Frage von essentialistischen Konnotationen und bringt so einen existenziellen Ton in die Erörterung. Diese Vorteile werden jedoch verschenkt, wenn Antworten gegeben werden, deren Legitimation unklar bleibt. Dies geschieht vor allem da, wo auf dem Hintergrund der naturalistischen Grundeinstellung die 1. Person-Perspektive mit eilfertiger Gewissheit sogleich wie8 Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 63f. – Das Zitat belegt übrigens, dass die These von der Abhängigkeit des Geistes den Dualismus bereits unterstellt und damit erst die Folgeprobleme wie vor allem das der Kausalbeziehung zwischen geistigen und körperlichen Phänomenen erzeugt, um deren Lösung sich dann die zahlreichen unter dem Titel »Philosophie des Geistes« aggregierten Ismen bemühen. Vgl. dazu beispielsweise Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1997; Albert Newen: Philosophie des Geistes. Eine Einführung, München 2013.

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der aufgegeben wird. Als Beleg dafür diene wiederum der Beitrag von Albert Newen in der einleitend zitierten Artikelserie: »Wer bin ich also? Nach dem heutigen Stand des Wissens lautet die Antwort: Ich bin ein Mensch (als biologisches Wesen), der ein Ich-Gefühl und ein begriffliches Selbstbild entwickelt. Dieses Ich-Gefühl entsteht aus der Erfahrung heraus, dass ich einen eigenen Körper habe, die Welt aus einer eigenen Perspektive sehe und der Urheber des eigenen Handelns bin. Das begriffliche Selbstbild entwickelt sich erst in Verbindung mit der Fähigkeit, die eigenen Überzeugungen, Wünsche, Hoffnungen und so weiter von denen anderer Personen abzugrenzen. Der Aufbau von Ich-Gefühl und Selbstbild kann durch Umwelteinflüsse, aber auch durch Fehlfunktionen des Gehirns systematisch gestört werden. Wer ich bin, vermag ich auch keineswegs immer selbst am besten einzuschätzen. Andere Menschen haben die wichtige Funktion, mein Selbstbild zu spiegeln und meine Selbsteinschätzung zu korrigieren.«9 Auf die Frage »Wer bin ich?« gibt Newen eine Antwort der Form: »Ich bin ein Mensch [---], der das Merkmal φ aufweist«. Diese Antwortform unterstellt gültige Antworten auf zwei Fragen, die durch Antworten des von Newen herangezogenen Typs einfach stillschweigend übergangen werden. Es geht einmal um die Frage, welcher Art die Prädikation ist, die dem Referenzobjekt von »ich« das Merkmal φ zuspricht, genauer, durch die ich mir φ zuspreche. Zum anderen ist zu diskutieren, von welcher Art die Kandidaten für φ sind, die mir von mir ab- oder zugesprochen werden. Zur Beantwortung der ersten Frage gehört die grundlegende Einsicht, dass es sich hier um keine gewöhnliche Beschreibung handelt, d. h. um die Zuordnung eines Prädikators zu einer Entität durch einen Sprecher, begleitet durch die Merkwürdigkeit, dass ich es bin, der die Handlung der Prädikation ausführt. Vielmehr geht es fraglos um eine (Selbst-)Zuschreibung des Sprechers in der 1. Person-Perspektive. Es sind also grundsätzlich zwei Redemodi zu unterscheiden. Auf die Frage ›Wer ist das?‹ kann die typische Antwort lauten: ›Der Erwin Müller von der Poststraße.‹ Auf die Frage: ›Wer bin ich?‹ wäre die Antwort des Typs: ›Der Erwin Müller von der Poststraße.‹ unangemessen. Die oberflächengrammatische Übereinstimmung suggeriert einen pragmatischen Grundfehler. Unter Heranziehung der Redehandlungstheorie im Anschluss an Austin10 kann man diesen Grundfehler so rekonstruieren: Sowohl im Falle der Frage ›Wer ist das?‹ als auch im Falle der Frage ›Wer bin ich?‹ könnte in der Antwort der gleiche propositionale Gehalt ›… dass x der Erwin Müller von der Poststraße ist‹ vorkommen. Es besteht jedoch ein folgenreicher performativer Unterschied zwischen den beiden Fragen. Im ersten Fall ist der Ich-Akteur des performativen Satzteils ein anderer als x, im zweiten Fall ist der IchAkteur des performativen Satzteils x selbst.

Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 66 (Hervorhebung CFG). Zu den hier unterstellten sprachphilosophischen Investitionen vgl. Carl Friedrich Gethmann/Geo Siegwart: »Sprache«, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 549–605. 9

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Dieser performative Unterschied tritt im Fall der kommissiven Redehandlungen besonders deutlich zutage. Im Falle der Äußerung ›Jemand verspricht dir, dass er morgen kommt.‹ macht es eben einen pragmatisch erheblichen Unterschied, ob (i) der Ich-Akteur der Redehandlung es über irgendjemanden sagt, oder ob (ii) der Ich-Akteur der Redehandlung es über sich selbst sagt. Im Fall (i) handelt es sich unter sprachlichen Normalbedingungen um einen Bericht11 über etwas, also eine Beschreibung; im Falle (ii) könnte der Ich-Akteur der Redehandlung hinzufügen ›…und dieser Jemand bin ich‹ und auf diese Weise pragmatisch hervorheben, dass er durch seine Redehandlung ein Versprechen vollzieht, das er sich selbst als Urheber der Handlung zu-schreibt. Ohne ausgefeilte Klassifikation von Redehandlungen wird man leicht die Deutung rechtfertigen können, dass ein Versprechen zu geben pragmatisch etwas anderes bedeutet als einen Bericht abzugeben. Dies zeigt sich besonders in der in »wesentlichen Bedingungen« formulierten Verpflichtung, die die Verschiedenheit der Redehandlungen kennzeichnet. Während der Vollzug des Versprechens nur dann als gelungen betrachtet werden kann, wenn sich der Autor des Versprechens daran macht, die versprochene Handlung auszuführen, hängt das Gelingen des Vollzugs des Berichts über ein Versprechen davon ab, dass der Bericht verlässlich, wahr oder etwas derartiges ist, jedenfalls nicht davon, dass sich der Autor des Berichtens verpflichtet, H zu tun, wenn er berichtet, dass jemand versprochen hat, H zu tun. Damit ist bereits die methodische Kernanalyse des Ansatzes der transzendentalphilosophischen Subjekttheorie angesprochen. Es ist zwischen der Berichtsperspektive und der Vollzugsperspektive einer Redehandlung und entsprechend zwischen deskriptiven (beschreibenden) und askriptiven (zuschreibenden) Redemodi zu unterscheiden. Das bedeutet, dass Mensch-sein im generischen Singular zumindest in manchen Kontexten eine askriptive (Selbst-)Zuschreibung ist und somit in diesen Kontexten nicht mit deskriptiven Fremdzuschreibungen von ähnlicher oberflächengrammatischer Gestalt wie ›Ich bin ein φ, der …‹ verwechselt werden darf. Die Verwechslung des Vollzugs-Ich mit dem Bericht über einen Berichtsgegenstand in der 3. Person kann als Fehler der Verwechslung von Vollzugs- und Berichtsperspektive oder kürzer als Fehler des Vollzugswiderspruchs (contradictio exercita) bezeichnet werden. Die Unterscheidung zwischen deskriptiven und askriptiven Redemodi hat eine gewisse Verwandtschaft mit der in der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre geläufigen Unterscheidung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive. Die Unterschiede liegen jedoch darin, dass die Rede vom ›Teilnehmer‹ einen institutionellen Kontext unterstellt, an dem man teilnimmt, und eine solche Teilnahme ist nur ein Sonderfall des Vollziehens einer Handlung. Der Ausdruck ›Beobachter‹ unterstellt oft eine bereits auf Wiederholbarkeit hin durchorganisierte Form von Erfahrung (z. B. Labor-Erfahrung), während das ›Berichten‹ auch bloß situativ, narrativ, ›ideographisch‹ sein kann. Die Legitimation transzendentaler Strukturen erfolgt nach der transzendentalphilosophischen Tradition durch eine bestimmte argumentative Figur, die man als retorsive Die performativen Verben, die unterschiedliche sprachliche Handlungsformen indizieren, sind zur Verdeutlichung in Kapitälchen hervorgehoben. 11

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Argumentation bezeichnet hat.12 Im vorliegenden Fall kann diese Figur so instantiiert werden: Ein Wesen, das sich selbst als Handlungen vollziehend erfährt und dies in askriptiven Redemodi artikuliert, kann sich nicht restlos als bloßen Berichtsgegenstand setzen; denn gesetzt, es berichte über sich, dann ist es eodem actu der Ich-Autor der Handlung des Berichtens, und nicht bloß das Referenzobjekt der berichteten Handlung. In Anlehnung an die Widerlegung des Skeptizismus bei Aristoteles13 kann man diese Figur auch so explizieren: Auf die Feststellung des Skeptikers ›Der Urheber meiner Handlungen existiert nicht.‹ hin kann man ihn darauf hinweisen, dass er selbst Urheber dieser Redehandlung ist und damit seine Existenz präsupponiert. Wer sich einmal und prinzipiell als Handlungsurheber erfährt, kann zwar bezüglich jeden jeweiligen Handlungsvorkommnisses, aber nicht jeden Handlungsvorkommnisses schlechthin, sich selbst als bloßen Berichtsgegenstand setzen. Der Handlungsautor kann sich nicht schlechthin wegdenken. Damit zerfällt die Klasse der möglichen Berichtsgegenstände (vollständig und disjunkt) in zwei Teilklassen, nämlich solche, für die unterstellt wird, dass sie bloße Berichtsgegenstände sind, und solche, für die unterstellt wird, dass sie es bei Strafe des Vollzugswiderspruchs nicht sind. Auf dieser Grundlage lässt sich die traditionelle Unterscheidung von Objekt und Subjekt (Ich-Autor als ›Träger‹ der Handlung) rekonstruieren. Die attributiven Selbstzuschreibungen des Handelnden sind jedenfalls keine Spezialfälle von Fremdzuschreibungen (eher könnte es umgekehrt sein). Folglich ist das ICH der Vollzugsperspektive nicht ohne Bedeutungsverlust in das ER der Berichtsperspektive übersetzbar. Eine besondere Verwechslungsgefahr besteht dadurch, dass ein Sprecher auch über sich selbst berichten kann, was vor allem im Modus des Präteritums durchaus zum Inventar normalsprachlicher Redeformen gehört. Man könnte von einer Eigenberichtsperspektive sprechen. ›Ich habe versprochen, dass p‹ ist ebenfalls ein Bericht und kein Versprechen. Dies zeigt, dass die Selbsterfahrung des Handelnden im Sinne einer Handlungspräsupposition deutlich zu unterscheiden ist von sog. ›Selbstbeobachtung‹, d. h. einem Eigenbericht im Sinne einer Handlungsproposition. Introspektionen beispielsweise sind Eigenberichte und keine Selbst-Erfahrungen im Sinne der Erfahrung einer Handlungsurheberschaft, somit Berichte im deskriptiven Redemodus. Es geht daher an der Sache völlig vorbei, empirisch die Frage der Existenz der rätselhaften Entität ›das Ich‹ untersuchen zu wollen, indem man Probanden fragt, was sie in Bezug auf ›ihr Ich‹ in sich beobachten. Eine solche Versuchskonstellation, die sich allein der Fehldeutung der sprachlichen Aktionsmuster verdankt, ist Produkt eines Kategorienfehlers im Sinne von G. Ryle.14

Vgl. Carl Friedrich Gethmann, Artikel »Retorsion«, in: J. Mittelstrass (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 597–601, mit weiteren Nachweisen; die Rede von »transzendentalen Argumenten«, wie sie sich vor allem im Anschluss an Strawson etabliert hat, ist weniger glücklich, denn nach Kant (Kritik der reinen Vernunft, B25) soll ja »transzendental« eine bestimmte Form von Erkenntnis heißen, somit eine mögliche Konklusion, die sich als Ergebnis einer Argumentation ergibt. Es ist jedoch zu vermeiden, eine Konklusion mit der gesamten Argumentation zu konfundieren. 13 Met. Buch Γ. 14 Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1949, S. 17–25. Kant illustriert diesen »Paralogismus« 12

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Eine weitere Folge der rekonstruierten Unterscheidung von deskriptiven und askriptiven Redemodi liegt darin, dass sich die Attribute, die mit der Selbstzuschreibung des Handelnden gegeben sind, jedenfalls nicht restlos durch Attribute der Fremdzuschreibung falsifizieren lassen. Der Versuch, das ICH der Handlung dadurch zu beschreiben, dass Attribute des Urhebers einer Handlung herangezogen werden, ist schon immer zum Scheitern verurteilt. Das Sinnkriterium askriptiver Redemodi ist demnach nicht die Falsifizierbarkeit in der Berichtsperspektive, sondern die Revidierbarkeit in der Vollzugsperspektive. Eine entscheidende Folge dieser Analyse liegt darin, dass sich der Ich-Autor einer Handlung (in Vollzugsperspektive) nicht ohne Verlust der performativen Bedeutung zugleich als Einsetzung einer Variable, d. h. als Fall von φ (z. B. als Exemplar einer Art) präsupponieren kann; er kann dies jedoch in der Berichtsperspektive. Eine naheliegende terminologische Festlegung besteht darin, die durch Berichte nicht zu erschütternde Präsupposition der Handlungsautorschaft (Urheberschaft) durch den Handelnden in der Vollzugsperspektive als seine Individualität, die Zuschreibung einer Handlungsautorschaft in der Berichtsperspektive als seine Exemplarität zu bezeichnen. Die Verwechslung von Individualität und Exemplarität ist demgemäß ein Fall eines Vollzugswiderspruchs.15 Der Fehler des Speziezismus liegt also fundamental darin, dass der Speziezist unterstellt, er und jeder andere seiner Art befinde sich gegenüber allen Lebewesen in einer gleichförmigen Berichtsposition und zeichne unter den Berichtsgegenständen eine Klasse aus, die eine besondere Qualifikation habe, z. B. auf dem Hintergrund einer bestimmten Theorie der Naturgeschichte mit dem Berichterstatter artverwandt zu sein. Der Speziezismus begeht den Fehler vom Vollzugswiderspruch. Vom Speziezismus ist jedoch die Handlungserfahrung zu unterscheiden, die vom Handelnden präsupponiert ist, dass es Berichtsgegenstände gibt, die mit mir die Erfahrung teilen (besser: bezüglich derer ich aus den und den Gründen unterstelle), dass sie nur bei Strafe des Vollzugswiderspruchs bloß Berichtsgegenstände sind (und nicht z. B. die Kompetenz haben, Ich-Autoren von Berichten zu sein). Diese Kritik am Speziezismus trifft sich mit der bekannten Kritik von Peter Singer. Singer hat Recht, eine Position zu kritisieren, die besondere Berechtigungen des Menschen gegenüber anderen Naturwesen aus der Zugehörigkeit zu einer Spezies rechtfertigt. Es handelt sich somit um eine Instanz des Fehlers der Verwechslung von Vollzugs- und Berichtsperspektive. Allerdings besteht eine andere Instanz dieses Fehlers darin, den IchAutor einer Handlung als Fall aller leidenden Wesen zu interpretieren. Singer sieht nicht, dass auch der Pathozentrismus eine Kategorie der Berichtsperspektive ist. Die Erfahrung der Handlungsautorschaft in der Vollzugsperspektive kann man unter Heranziehung einer naheliegenden Metapher als Erfahrung der Zentralität bezeichnen. Der Ich-Autor einer (Rede-)Handlung setzt sich selbst nicht-eliminierbar als Zentrum im Rahmen seiner Kritik an der rationalistischen Psychologie (Kritik der reinen Vernunft, B 399 ff. WW Bd. 3). 15 Vgl. Carl Friedrich Gethmann, »Praktische Subjektivität und Spezies«, in: W. Hogrebe (Hg.): Subjektivität , Paderborn 1998, S. 125–145.

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seines (Rede-)Handlungskontextes, so wie der Wahrnehmende immer im Zentrum seines Wahrnehmungshorizontes steht, wie immer er seine Position auch verändert. Dieser »Pragmazentrismus« ist nicht zu verwechseln mit einem strategischen Humanegoismus, durch den sich der Mensch zu einem ausbeuterischen Naturverhältnis ermächtigt sieht.16

2.2 Mensch und Person Bisher wurde die Frage behandelt, welcher Art die Prädikation ist, durch die ich mir φ zuspreche. Nunmehr ist zu untersuchen, (ii) von welcher Art die Kandidaten für φ sind, die mir von mir ab- oder zugesprochen werden. Bisher wurde herausgestellt, dass eine Prädikation der Form ›x ist Mensch‹ eine Äußerung ist, die neben einer deskriptiven Verwendungsweise auch eine askriptive haben kann, ohne dass die Unterscheidung oberflächengrammatisch an eindeutigen Indikatoren auszumachen wäre. Diese performative Ambiguität von ›Mensch-sein‹ erzwingt eine Unterscheidung. Im Falle der Verwendung von ›Mensch-sein‹ im generischen Singular und der Äußerung (i) kann im Anschluss an die Tradition der Begriff ›Person‹ verwendet werden. Es ist dabei keineswegs zwingend, Mensch-sein und Person-sein extensional äquivalent zu setzen. Vielmehr kann man in Bezug auf das Extensionsverhältnis von Mensch-sein und Person-sein eine Überschussthese (nicht-menschliche Personen könnten sein: [bestimmte] Tiere, Engel, Götter oder Gott) und eine Unterschussthese (nicht-personale Menschen könnten sein: Embryonen, Föten, Behinderte, Leichen) vertreten. Man kann widerspruchsfrei Anhänger der Überschuss- und der Unterschussthese sein, beispielsweise, wenn man wie Singer der Überzeugung ist, schmerzempfindende oder leidensfähige Tiere seien Personen, extrem geistig behinderte Menschen jedoch nicht.17 Die Auffassung, »Menschen« seien genau »Personen«, soll Äquivalenzthese heißen. Der Umstand, dass die Äquivalenzthese keineswegs selbstverständlich ist, macht es notwendig, die begrifflichen Verhältnisse zu klären. Zunächst ist es definitionstechnisch ungeschickt, den Satz ›Alle Menschen sind Personen‹ für analytisch wahr zu erklären und damit als Teil des semantischen Systems einer Sprache S anzusetzen. Die Äquivalenzthese würde auf diese Weise trivialisiert. Wenn das Verhältnis zwischen Mensch-sein und Person-sein jedoch als ein synthetisches interpretiert wird, stellt sich zwangsläufig die Frage nach den notwendigen Attributen des Person-Seins. Die begriffliche Klärung ist folgenreich für viele Fragen der Angewandten Ethik, insbesondere der Medizinethik. 18 16 Vgl. Carl Friedrich Gethmann: »Pragmazentrismus«, in: A. Eusterschulte/H.W. Ingensiep (Hg.): Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven, Würzburg 2002, S. 59–66 17 Peter Singer: Practical Ethics, Oxford 1979 (deutsch: Praktische Ethik, Stuttgart 1984). 18 In medizinethischen Zusammenhängen ist vor allem Robert Spaemann für die analytische Deutung eingetreten (Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996), und zwar mit dem Argument, es könne nicht zur Domäne menschlichen Gutdünkens gehören, ob man Menschen zu Personen erkläre oder nicht. Dazu ist zu bemerken, dass die Bildung von semantischen Netzwerken durch Prädikatoren-Regelsysteme grundsätzlich eine menschliche Leistung ist; semantische Netzwerke fallen eben nicht vom Himmel.

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Die eingeführte Unterscheidung zwischen deskriptiven und askriptiven Redemodi gibt zunächst die Instrumente an die Hand, an der weltweit am meisten verbreiteten Person-Konzeption Kritik zu üben, nämlich an der »Fähigkeiten-Fertigkeiten-Anthropologie«, die auf die Personkonzeption von John Locke zurückgeht. Locke hat als entscheidendes Attribut des Person-seins die Fähigkeit zur Selbstreflexion herausgestellt. Unabhängig davon, ob die Fähigkeit zur Selbstreflexion das ›richtige‹ Attribut ist, wird bei dieser Bestimmung unterstellt, dass eine ›Person‹ ein Wesen ist, dem bestimmte Attribute im Sinne einer Fähigkeit oder Fertigkeit zugeschrieben werden können. Der moralische Status einer ›Person‹ wird folglich an das erfahrungsmäßig überprüfbare Vorliegen eines Attributs φ gebunden. Allerdings sind neben der Fähigkeit zur Selbstreflexion in der Philosophiegeschichte der Neuzeit eine Reihe anderer personaler Attribute vorgeschlagen worden. Beispielsweise: ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆ ◆

das Denkvermögen (Descartes); das Bewusstsein (Hume); das Sprachvermögen (Herder); die Leidensfähigkeit (Bentham); die Fähigkeit, Gefühle zu haben (Schopenhauer); die Fähigkeit zur Anerkennung (Hegel); die Welthabe (Scheler); die Seinsoffenheit (Heidegger); die Liebe (G. Marcel); die Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden (P. Singer); die Selbstachtung (V. Gerhardt; J. Nida-Rümelin); u. v. a. m.

Attribute dieser Art sollen im Folgenden ›personale Deskriptoren‹ genannt werden. Personale Deskriptoren werfen grundsätzlich drei Typen von Problemen auf: (i) Was ist der richtige Deskriptor? Die angegebenen Merkmale haben jeweils eine mehr oder weniger lebenspraktische und umgangssprachliche Plausibilität, sie sind jedoch extensional keineswegs äquivalent. Es bedarf also eines Kriteriums, das eine überwillkürliche Festlegung für φ erlaubt. Der Rekurs auf die Erfahrung reicht dazu jedenfalls nicht aus, denn auf irgendeine Erfahrung glauben alle Positionen rekurrieren zu können. (ii) Wie ist die Komplementärmenge zu beurteilen? Wird die Personalität durch φ definiert, dann sind Wesen, die φ nicht aufweisen, keine Personen. Das erscheint vor allem mit Blick auf die ethischen Konsequenzen in einer Reihe von Fällen grob gegenintuitiv. Man überlege sich, ob man bewusstlosen (z. B. schlafenden, ohnmächtigen), sprachlosen (z. B. Aphatiker), denkunfähigen (in welchem Sinne von ›Denken‹ auch immer), leidensbereiten, schmerzunfähigen (z. B. aufgrund neuronaler Störungen) Menschen, ferner Menschen, die über keine Selbstachtung verfügen usw. respektive den Personstatus absprechen möchte.

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(iii) Wie ist φ zu verifizieren? Diese Frage stellt sich vor allem mit Blick auf die bio-ethischen Streitfälle, z. B. Embryonen, Föten, Anencephale, extrem Behinderte, Leichen und andere. Je nach semantischer Explikation gehören fast alle bisher vorgeschlagenen personalen Deskriptoren (letztlich) einer mentalistischen Sprache an. Dies führt zu einer Iteration der Frage, ob φ vorliegt oder nicht: Wie entscheidet man beispielsweise, ob ein Embryo Bewusstsein aufweist, Sprache hat, denken kann usw. In Bezug auf mentalistische Prädikatoren besteht grundsätzlich ein »Manifestationsproblem« (M. Dummett). Das Ergebnis dieser Analyse ist, dass die Explikation des Person-Status durch personale Deskriptoren bestenfalls eine Problem-Iterierung, schlechtestenfalls ein obscurum per obscurius darstellt. Auch wenn die Liste der personalen Deskriptoren nicht abgeschlossen ist, wird man bis auf weiteres folgern dürfen, dass die Angabe einer Fähigkeit oder Fertigkeit im Sinne eines personalen Deskriptors letztlich nicht das entscheidende Kriterium für ›Person‹ sein kann. Die transzendentalphilosophische Gegenkonzeption bezieht sich auf die Einsicht, dass Personen Wesen sind, die ihre mögliche Handlungsurheberschaft präsupponieren und sich wechselseitig identifizieren können. Demzufolge unterstellen sie ferner wechselseitig, dass sie Verpflichtungen übernehmen und Berechtigungen einfordern. Damit ist mit den Mitteln der präsuppositionellen Rekonstruktion von Redehandlungen, also mit ›analytischen‹ Instrumenten, die Kritik an der Reflexionskonzeption des Ich reformuliert, wie D. Henrich sie im Anschluss an Fichte gegen die Lockesche Tradition ins Feld geführt hat.19 2.3 Handlungsurheberschaft und Selbstbestimmung Schreibt sich ein Akteur seine Handlung zu, tut er das somit grundsätzlich in askriptiver Perspektive. Dass der Akteur Urheber seiner Handlung ist, ist ein mehr oder weniger explizites, jedenfalls präsuppositionelles, nicht propositionales Wissen, das jede Handlung begleitet. Das präsuppositionelle Wissen kann nicht ohne semantische Verluste in propositionales übersetzt werden. Kant hätte also entsprechend zum Grundsatz der transzendentalen Apperzeption einen Grundsatz der transzendentalen Adoperation formulieren können: »Das ›Ich bin der Urheber dieser Handlung‹ muss alle meine Handlungen begleiten können …« Berücksichtigt man, dass ›Denken‹ ein Modus von Handeln ist, geht dieser Grundsatz der transzendentalen Adoperation systematisch der transzendentalen Apperzeption voraus. Dies ist jedenfalls die methodische Position, die Fichte mit dem Begriff der ›Tathandlung‹ verbindet. Die mit der transzendentalen Ad-Operation verbundene präsuppositionelle Einsicht ist in folgendem Sinne unhintergehbar: Wenn ICH schon einsehen muss, dass 19

Dieter Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt/M. 1967.

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eine vermeintlich zweckorientierte Handlung ›eigentlich‹ nur die Wirkung bestimmter Ursachen (neuraler, hormoneller, klimatischer, ökonomischer … Art) war, dann ist doch dieses Einsehen zweckorientiert, wenn ich aber einsehen muss, dass das Einsehen selbst wiederum … sed non ad infinitum. Die Frage nach dem Scopus des Begriffs der ›Person‹ hat somit von der Frage auszugehen, wem der Akteur in der dritten Personperspektive zugesteht, sich so irreduzibel als Handlungsautor zu setzen, wie er selbst sich als Handlungsautor setzt. Personalität bezeichnet die Unterstellung des Akteurs, sich selbst unaustauschbar als handelnd zu präsupponieren. An dieser Stelle ist eine Anmerkung zu dem von Karl-Otto Apel und anderen mit dieser transzendentalen Einsicht verbundenen Gedanken der Letztbegründung am Platze. Die Unterscheidung von präsuppositionellem und propositionalem Wissen und die These von der Nicht-Übersetzbarkeit ohne semantische Verluste bedeutet auch, dass unter Rekurs auf präsuppositionelles Wissen propositionales Wissen nicht als letztbegründet, nicht-falsifizierbar, unfehlbar oder ähnlich qualifiziert werden kann. Mit dem transzendentalen Projekt der Explikation von Subjektivität als solcher ist (ohne Heranziehung weiterer propositionaler Prämissen) kein Letztbegründungsanspruch für irgendwelche propositionalen Einsichten verbunden.20 Dass der Übergang von präsuppositionellem zu propositionalem Wissen ohne weitere Investitionen nicht möglich ist, kann man schon in den Meditationes von Descartes studieren. Um von der transzendentalen Einsicht in die eigene Handlungsurheberschaft zu empirischem Wissen zu gelangen, muss Descartes zunächst die Existenz Gottes, dann die Annahme, dass Gott kein Betrüger ist, sodann, dass uns die Wahrnehmung der Außenwelt nicht grundsätzlich trügen kann, einfügen. Im Zusammenhang der Unterscheidung der Vollzugs- und Berichtsperspektive lässt sich auch die pragmatische (handlungstheoretische) Frage der terminologisch adäquaten Rekonstruktion von Handlungen als Wirkungen von Ursachen (Kausalismus) oder Ursachen von Wirkungen (Finalismus) erörtern. Dass sich Handlungen als Wirkungen von Ursachen beschreiben lassen und dass solche Beschreibungen gut etablierten Zwecken dienen, dürfte unbestritten sein. Die Zweckperspektive ist jedoch diejenige, die der Handelnde selbst einnimmt, und sie hat einen methodischen Primat, der sich in verschiedenen Varianten darstellen lässt: (i) Wer verschiedene Terminologien zur Handlungsdeutung zur Verfügung hat, fragt sich, welche er zu welchem Zweck wählen soll; die Ursache-Wirkungs-Sicht empfiehlt sich immer dann, wenn Störungen eines erwartbaren Handlungsablaufs erklärt werden sollen (mit dem Zweck ihrer Bewältigung). (ii) Auch der kausalistische Handlungstheoretiker verfolgt Zwecke, er versteht sich nicht als bloß durch Ursachen angetrieben. Der Handelnde versteht sein Handeln primär als Zweckrealisierungsversuch, was immer ihm darüber auch berichtet wird. Es reicht im Übrigen völlig aus, die askriptive Selbstbeschreibung von Handlungen in terms of ›Mittel – Zweck‹ durchzuführen. AllerVgl. Carl Friedrich Gethmann: »Letztbegründung vs. lebensweltliche Fundierung des Wissens und Handelns«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Philosophie und Begründung, Frankfurt/M. 1987, S. 268–302. 20

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dings darf ›Zweck‹ dabei nicht mit ›Nutzen‹ identifiziert werden. Es gibt nämlich nichtutilitäre Zwecke wie Glück, Freundschaft, Gesundheit u. a. Für sie ist nach der Analyse von Aristoteles kennzeichnend, dass sie nicht direkt intendiert werden können.21 Erst wenn man den Zweckbegriff semantisch in die Nähe des Nutzens rückt, kommt man in die Verlegenheit, eine weitere Sphäre des Handelns, z. B. den ›Sinn‹ einer Handlung einzuführen. Kant charakterisiert die Person entsprechend als »vernünftiges Wesen als Zweck an sich selbst«22, eine Zuschreibung, die nur ein durch Handlungen Zwecke realisierendes Wesen von sich vornehmen kann. Die Präsupposition der Handlungsurheberschaft ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass Akteure grundsätzlich fähig sind, Handlungen aus eigener Spontaneität auszuführen oder zu unterlassen. Diese Spontaneität ist somit auch Grundlage dafür, dass Akteure ihre Handlungen nach Regeln mittlerer Reichweite (›Maximen‹) ausrichten, die sie sich selber setzen (›Autonomie‹). Verfügten sie über diese Fähigkeiten nicht, wären sie etwa gezwungen, Handlungen durch Befolgen von Autoritäten oder Traditionen auszuführen oder zu unterlassen. Oder aber wären Handlungen nichts anderes als Wirkungen von Ursachen, seien sie physikalischer, genetischer oder neuronaler Art, dann gäbe es keine Probleme mit moralischer und rechtlicher Regulierung (›Inkompatibilismus‹). Handlungsurheber ist ein Akteur oder nicht, ›autonom – nicht-autonom‹ ist somit ein kontradiktorischer Gegensatz. Handlungsurheberschaft und somit Autonomie sind ein erfahrungsvorgängiges und erfahrungsermöglichendes Merkmal der Person. Das mehr oder weniger ausgeprägte Ausüben der Handlungsurheberschaft bezeichnet man dagegen als Selbstbestimmung. Selbstbestimmung übt ein Handlungsurheber (eine Person) nach Maßgabe eines Mehr oder Weniger aus. Die Selbstbestimmung hat einen Grad. Die Einsicht in den Grad der Selbstbestimmung gilt a posteriori (d. h. erfahrungsabhängig) und ist somit [selbst-]täuschungsanfällig. ›Selbstbestimmt – nicht-selbstbestimmt‹ ist somit ein polar-konträrer Gegensatz. ›Selbstbestimmung‹ ist die mehr oder weniger ausgeprägte Aktualisierung der Handlungsurheberschaft, kann verbessert oder verschlechtert werden. Die apriorische Handlungsurheberschaft der Person bleibt daher auch eine gültige Selbstzuschreibung bei eingeschränkten Leistungen der Selbstbestimmung bis zum infinitesimalen Nullpunkt. Das hat zur Folge – und hier wird die unmittelbare praktische Bedeutung des transzendentalen Ansatzes sichtbar – dass auch die faktisch untätige, schlafende, ohnmächtige, unter Drogen stehende, demente usw. Person als autonomes Wesen zu identifizieren ist, auch wenn sie während der Untätigkeit, des Schlafes, der Ohnmacht, des Drogenrausches, des Gedächtnisverlustes usw. keine Selbstbestimmung ausübt. Auf Selbstbestimmung kann der Akteur demnach schließlich mehr oder weniger verzichten, aber nicht auf die Präsupposition der Handlungsurheberschaft und die damit verbundene Autonomie, denn selbst im Grenzfall eines vollständigen Handlungsverzichts ist der den Verzicht Ausübende gerade derjenige, der die Handlung des Verzichts ausführt oder

21 22

Ethica Nic. I 6. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WW (Akademie) VI 438.

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deren Ausführung unterlässt. Der Akteur ist zur Handlungsurheberschaft, aber nicht zur Selbstbestimmung verurteilt.23 Die Kategorie des Verzichts ist von erheblicher praktischer Bedeutung, denn der Verzicht kann z. B. darin bestehen, dass man sein Recht auf Selbstbestimmung an jemanden delegiert. Für weitere Operationalisierungsfragen folgt daraus unmittelbar der Begriff des »fiktiven Diskurses«24. Ein fiktiver Diskurs ist ein solcher, der geführt wird, wie wenn eine autonome Diskurspartei über die perfekte Selbstbestimmung verfügte. Auch beim gesunden, normalsinnigen und hellwachen Erwachsenen schließt Autonomie nicht aus, dass die Selbstbestimmung in advokatorischen, repräsentativen oder tutorischen Handlungsformen ausgeübt wird. A fortiori gilt dies bei nach Leistung und Fähigkeit in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkten Personen, etwa bei Kindern oder hilflosen (z. B. dementen) Personen. Zufolge der fiktiven Handlungsform ist ein diskursiv verstandener Paternalismus durchaus mit Autonomie verträglich. Die Fürsorge muss nicht Ausdruck einer Missachtung von Autonomie sein (obwohl sie es sein kann), sondern kann als Kompensation beschränkter Fähigkeit zur Selbstbestimmung verstanden werden. Ausfallende Fähigkeiten sind durch Formen fiktiver Diskurse soweit nötig und möglich zu kompensieren, etwa ◆ durch einen von der Person individuell eingesetzten Vertreter (advokatorische Selbstbestimmung), ◆ durch einen von der Person neben anderen kollektiv gewählten Vertreter (repräsentative Selbstbestimmung) oder ◆ durch einen von anderen für die Person mit ihrer mehr oder weniger selbstbestimmten Zustimmung eingesetzten Vertreter (tutorische Selbstbestimmung).

3 Die askriptiv/deskriptiv-Amphibolie In Anlehnung an Kants Erörterung der Reflexionsbegriffe wird hier unter einer Amphibolie eine Form sprachlicher Ambiguität verstanden, die durch die Verwechslung der performativen Modi des deskriptiven und askriptiven Sprachgebrauchs entsteht. Probleme der Verbalisierung der transzendentalen Strukturen von Subjektivität sind den Klassikern der Transzendentalphilosophie seit Kants Paralogismus B der Kritik der reinen Vernunft geläufig. Fichte hat zusätzlich Kants Analyse aufgenommen und – einen Gedanken aus Kants Aufklärungsschrift die Bequemlichkeit der unaufgeklärten Lebensform betreffend – verschärft, indem er die Vermutung aufstellt, dass der Mensch die Handlungsurheberschaft in der 1.Person-Perspektive gerne verdrängt – sich lieber »als ein Stück Lava auf 23 Genau das meint Sartre mit seinem berühmten Diktum, der Mensch sei verurteilt frei zu sein. JeanPaul Sartre: »Ist der Existenzialismus ein Humanismus?«, in: ders.: Drei Essays, Berlin 1962, S. 7–36, hier S. 16. 24 Vgl. Carl Friedrich Gethmann: »Proto-Ethik. Zur formalen Pragmatik von Rechtfertigungsdiskursen«, in: T. Ellwein/H. Stachowiak (Hg.): Bedürfnisse, Werte und Normen im Wandel. Bd. 1, München, Paderborn 1982, S. 113–143.

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dem Mond« interpretiert25 – um sich so der Verantwortung für seine Handlungen zu entziehen. Sartre hat diese Neigung schließlich als Inbegriff unmoralischen Verhaltens, als »mauvaise foi« (Unwahrhaftigkeit) angeprangert.26 Dieser moralische Aspekt soll hier nicht weiterverfolgt werden. Stattdessen soll abschließend auf einige Verlegenheiten der Verbalisierung des transzendentalen Ansatzes eingegangen werden, die Kant, Fichte, Husserl u. a. immer wieder beschäftigt haben.

3.1 Die sog. Rätselhaftigkeit des ›ICH‹ Das grammatische Kriterium für die Unterscheidung von Vollzugs- bzw. Berichtsperspektive ist die Auswechselbarkeit der Konstante ›ich‹ ohne Sinnverlust bei Handlungszuschreibungen. Hierzu ist allerdings zu beachten, dass dieses Kriterium nicht unterstellt, dass eine rätselhafte Entität namens ›Ich‹ existiert. Wir sagen: ›Ich bin der Urheber meiner Handlung‹, ›Ich bin es, der das gerade tut‹, usw. Damit äußert der Akteur, dass er ein präsuppositionelles Wissen von seiner Urheberschaft hat. ›Ich‹ kann in der Tat nicht ohne Wechsel der illokutionären Funktion und damit der Semantik des performativen Satzteils durch ›Jemand‹ ersetzt werden. In diesem Zusammenhang ist jedoch auf zwei Standardfehler hinzuweisen. Der eine besteht in der Verwechslung des präsuppositionellen Wissens mit dem propositionalen Wissen von einem Gegenstand x, der der Akteur einer Handlung ist. Selbstverständlich gibt es auch ein solches propositionales Wissen über Handlungsurheber, und gerade dadurch ist die Gefahr einer performativen Ambiguität gegeben. Der andere Standardfehler ergibt sich, wenn man eine Referenztheorie der Bedeutung vertritt und in diesem Rahmen nach dem Referenzobjekt von ›ich‹ fragt. Im Rahmen einer Gebrauchstheorie der Bedeutung muss der Sprecher die Verwendungsregeln für den Gebrauch von ›ich‹ beherrschen (nicht unbedingt kennen). ›Ich‹ ist nicht das Referenzobjekt der Selbstbezüglichkeit askriptiver Redemodi. Die diesbezügliche Kritik von Ryle und Wittgenstein an der Reifizierung des Ich im Rahmen der Referenztheorie der Bedeutung ist also vollständig berechtigt.27 3.2 Solipsismus vs. Wende zur Sprache Die askriptiv/deskriptiv-Unterscheidung betrifft ausschließlich den illokutionären Teil der Redehandlung, somit den performativen Teil der Äußerung. Es ist vor allem dieser Teil der Äußerung, der die kommunikativen Sprachfunktionen konstituiert, während Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794, Fichtes Werke. Ed. I.H. Fichte Bd. 1, Berlin 1971, 175 Anm. 26 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962, S. 91–121. 27 In der Grundtendenz ist auch Heideggers Verwendung des Wortes »Dasein« an der Systemstelle des »Ich« eine implizite Kritik dieser schlechten Metaphysik. – Ansgar Beckermann hat die gleiche Kritik durch die Formulierung zum Ausdruck gebracht: »Es gibt kein Ich, doch es gibt mich.« In: M. Fürst/ W. Gombocz/C. Hiebaum (Hg.): Gehirne und Personen, Frankfurt/M., S. 1–17. 25

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die propositionalen Redeteile scheinbar auch ganz gut mit der repräsentativen Sprachfunktion erklärt werden könnten. Durch die performativen Redeteile adressiert der Ich-Akteur der Äußerung diese an einen Ko-Akteur (Opponent, Adressat, Hörer, …). Er verweist auf die sprachliche Interaktion zwischen Akteuren, die sich wechselseitig als Akteure mit bestimmten regelhaften Berechtigungen und Verpflichtungen präsupponieren. Das Geflecht dieser Präsuppositionen zeigt, dass wir es mit einer »transzendentalen Inter-Subjektivität«28 zu tun haben. Wer dagegen einen Beweis der Existenz anderer Egos sucht und somit unterstellt, dass das transzendentale Subjekt ein empirisches solus ipse ist, wie Husserl das zeitweise getan hat29, übersieht, dass das transzendentale Ich a priori eine soziale Realität ist. Andernfalls wäre auch das Problem der Geltungsfundierung, der Zweck des Unternehmens, gar nicht formulierbar, denn ein Geltungsanspruch soll ja gegenüber möglichen Opponenten bestehen. Der soziale Kontext der transzendentalen epistemischen Funktionen des Ich ist jedenfalls Kant und Fichte völlig klar gewesen. Man beachte neben vielen anderen Zusammenhängen nur Kants Zurückweisung des Egoismus des Verstandes (»logischer Egoismus«)30. Fichte betont am Beginn seiner moralphilosophischen Überlegungen sogleich die Bedeutung sozialer Beziehungen.31 Daher ist dem hartnäckigen Gerücht, Kant und Fichte seien Solipsisten gewesen und erst Hegel habe das Selbstbewusstsein als von Anfang an sozial eingebunden herausgehoben, entgegenzutreten.32 Hegels Entdeckung war nicht die Intersubjektivität, sondern die Institutionalität des Selbstbewusstseins, vor allem mit Blick auf die Phänomene des objektiven Geistes wie Sprache, Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft. Wie gezeigt lässt sich das präsuppositionelle Wissen um die transzendentale Ad-operation nicht durch introspektive oder anderweitige propositionale Selbstbeschreibung gewinnen. Deswegen ist das psychologische Vokabular der rationalen Psychologie und erst recht der empirischen als Beschreibungsinstrument dazu ungeeignet. Von Descartes bis Husserl wird mangels Alternative gleichwohl in der Subjekttheorie ›mentalesisch‹ gesprochen, sehr häufig verbunden mit dem Not-Kommentar, man dürfe die begrifflichen Rekonstruktionen nicht psychologisch missverstehen – was dann prompt immer wieder geschieht.33 Edmund Husserl: Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die Phänomenologische Philosophie (Husserliana Bd. 6), Den Haag 1953, 21962, Berlin u. a. 31976, §§ 54, 55 (185–193). 29 So in Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einführung in die Phänomenologie, Hamburg 1977, S. 121–177. 30 Anthropologie, WW VII 128 31 Z. B. »Es ist notwendig, dass jedes freie Wesen andere seiner Art ausser sich annehme.« Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre 1796, WW I.H. Fichte. Bd , 1–385, 9. 32 So in der Dialogischen Philosophie, z. B. Franz Rosenzweig: Hegel und der Staat. 2 Bände, München, Berlin 1920. 33 Dies ist auch ein Problem der Übersetzung transzendentalphilosophischer Texte ins Englische. Alles, was mit Bewusstsein, Vernunft, Verstand usw. zu tun hat, hat im Englischen zunächst psychologische Konnotationen, die natürlich durch denotative Maßnahmen überwunden werden können; allerdings ist dazu eine begriffliche Disziplin erforderlich, über die nicht jeder Sprachteilnehmer ohne weiteres verfügt. Für die Philosophie ist es daher keineswegs belanglos, in welcher natürlichen Sprache sie betrieben wird; vgl. dazu Carl Friedrich Gethmann: »Die Sprache der Wissenschaft«, in: Berlin-Bran28

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Die Kritik von Heidegger, Ryle und Wittgenstein am Mentalismus der Rede über ›innere Zustände und Ereignisse‹ legt eine bestimmte Version des ›linguistic turn‹ nahe. Wenn das konstituierende Ich ein In–der–Welt–seiendes, soziales Wesen ist, d. h. die Attribute der transzendentalen Subjektivität nicht ein egologisches Residuum bezeichnen, sondern eine Form elementarer präsuppositioneller sozialer Interaktionen, dann muss der Grundvollzug der transzendentalen Subjektivität eine soziale Form von Welterschließung und Weltbildung sein; im Anschluss an Hamann, Herder und W. v. Humboldt liegt daher nahe, als den transzendentalen Grundvollzug die ›Sprache‹ anzunehmen. Schon der späte Neukantianismus (Peirce, Cassirer, Hönigswald) als auch die späte Phänomenologie (Becker, Heidegger) haben diese sprach-pragmatische Wende vollzogen, der sich im 20. Jahrhundert viele Philosophen angeschlossen haben.34 Dabei ist allerdings zu beachten, dass das Verständnis der Sprache in ihrer transzendentalen Funktion nicht in eine mentalistische Sprachdeutung zurückfällt. Die Sprache ist nicht die sekundäre Expression auf der »Vorderbühne« von den Prozessen, die sich primär auf der Hinterbühne (Bewusstsein, mens, mind) abspielen, sondern alle Formen von Bewusstsein sind primär und elementar als sprachlich strukturiert zu rekonstruieren.35 Denken ist als phonetisch leise gestelltes Sprechen zu rekonstruieren. Der transzendentalphilosophisch verstandene ›linguistic turn‹ beinhaltet nicht eine Wende zu den natürlichen Sprachen und damit zur faktischen Rede, sondern Sprache ist dabei im Sinne eines transzendentalen Grundvollzuges als Regelsystem verstanden, das Bedingung der Möglichkeit jeder faktischen Rede ist.36 Die Struktur der transzendentalen Subjektivität, nämlich als Urheber des Wissens und Handelns nicht weg-eskamotiert werden zu können, bleibt auch bei der Weiterinterpretation der transzendentalen Subjektivität im Sinne der De-Mentalisierung erhalten. Beachtet man die transzendentale Perspektive nicht, droht ein Lingualismus-Problem, das strukturell ganz ähnlich dem Psychologismus-Problem ist.37

denburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Welche Sprache(n) spricht die Wissenschaft? Streitgespräch in den Wissenschaftlichen Sitzungen der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 2. Juli und am 26. November 2010, Berlin 2011, S. 57–63 (Debatte 10). 34 Zum philosophiehistorischen Überblick vgl. Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963, 31980; S. 42–52; Carl Friedrich Gethmann: »Pragmatische Tendenzen in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts«, in: ders.: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, S. 1–39. 35 Genauer dazu s. Carl Friedrich Gethmann/Thorsten Sander: »Anti-Mentalismus«, in: M. Gutmann/D. Hartmann/M. Weingarten/W. Zitterbarth (Hg.): Kultur – Handlung – Wissenschaft. Für Peter Janich, Weilerswist 2002, S. 91–108. 36 Zu dem damit verbundenen sprachphilosophischen Projekt vgl. Carl Friedrich Gethmann: »Grundzüge einer pragmatischen Semantik«, in: ders.: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, S. 217–228. 37 Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Sapir-Whorf-Hypothese, die besagt, dass die Sprache das Denken forme, und dabei die Dichotomie von Sprache und Denken bereits unterstellt.

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3.3 Weltlosigkeit vs. konkrete Subjektivität Die Konsequenz aus diesen kritischen Kommentaren zum Mentalismus-Problem der klassischen Transzendentalphilosophie ist von Heidegger in seinen Kommentaren zu den Vorarbeiten Husserls zum Encyclopedia-Britannica Artikel »Phenomenology« dahingehend zusammengefasst worden, dass das transzendentale Subjekt der konkrete Mensch ist, der sich in ständigem umsichtigen Umgang mit seiner Umgebung auseinandersetzt, in mehr oder weniger anspruchslosen Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen lebt, in eine Geschichte zwischen Geburt und Tod eingebunden ist.38 Das heißt, dass das transzendentale Subjekt im Interesse der Lösung der Fundierungsaufgabe nicht als weltlos gedacht werden darf. Es dürfen (bei Strafe des vitiösen Zirkels) nur nicht diejenigen Segmente von Welt als geltend unterstellt werden, um deren Geltungsbegründung es geht, vor allem diejenigen Geltungsansprüche, die im Rahmen von Wissenschaft bzw. Sitte und Recht erhoben und gegebenenfalls eingelöst werden. Allerdings ist bei dieser Wende zum konkreten Menschen als transzendentalem Subjekt zu beachten, dass das methodische Projekt der Geltungsfundierung nicht durch einen neuen Typ des Geltungsrelativismus paralysiert wird. Husserl hat diese Gefahr mit dem Stichwort des »Anthropologismus« markiert.39 Das in diesem Beitrag kritisierte Bild vom Menschen, das die modernen Naturwissenschaften vom Menschen leitet, ist eine naturalistische Variante des Anthropologismus, deren zentraler Fehler darin besteht, den Menschen als Teil der Natur zu interpretieren, ohne in Rechnung zu stellen, dass es der Mensch ist, der seine Welt und damit auch die Natur durch Investitionen von Systemen von Prädikatorenregeln versteht und auf dieser Basis auch verändert. Kurz: der naturalistische Anthropologismus der Naturwissenschaften vom Menschen verfehlt die transzendentale Rolle seines Gegenstandes. E. Husserl hat in seiner Krisis-Schrift versucht, die Balance zwischen der konkreten Subjektivität und ihrer transzendentalen Funktion unter Zuhilfenahme des Begriffes der ›Lebenswelt‹ zu fassen. Das constituens der Welt, d. h. der auf die Welt vollzogenen Geltungsansprüche, ist das lebensweltliche Subjekt. Der Begriff der Lebenswelt erfüllt seine

38 S. Edmund Husserl: »Der Encyclopaedia-Britannica-Artikel«, in: ders.: Phänomenologische Psychologie, Den Haag 1962, 21968, S. 237–301 (Husserliana IX). – Heidegger nimmt allerdings Tendenzen auf, die in gleicher Weise im späten Neukantianismus und in der späten Phänomenologie eine Rolle spielten; vgl. Manfred Brelage: Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965. Ferner Carl Friedrich Gethmann: »Pragmatische Tendenzen in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts«, in: ders.: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, S. 11–39. Zu Heidegger speziell vgl. Carl Friedrich Gethmann: »Das Sein des Daseins als Sorge und die Subjektivität des Subjekts«, in: ders.: Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin u. a. 1993, S. 70–112. 39 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zu einer reinen Logik, Tübingen 1968, S. 115 f. Den Vorwurf richtet Husserl später auch gegen Heidegger und Becker. Ob er gegenüber diesen berechtigt ist, mag hier offenbleiben (vgl. O. Becker: »Über den sogenannten ›Anthropologismus‹ in der Philosophie der Mathematik. Eine Erwiderung in Sachen der ›Mathematischen Existenz‹«, in: Philosophischer Anzeiger 6 (1929) S. 369–387).

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Funktion allerdings nur, wenn er als in einer »Fundierungsordnung«40 stehend verstanden wird. Allerdings sieht Husserl auch, dass dieser Balance eine Labilität zu eigen ist, die er als »Paradoxie der Subjektivität«41 bezeichnet. Einerseits kommt Subjektivität in der Welt vor und erscheint so auf Seiten des constitutum; daher sind die Naturwissenschaften vom Menschen (Genetik, Hirnforschung, Evolutionsbiologie usw.) wissenschaftlich möglich. Andererseits ist Subjektivität constituens aller constituta. Das konkrete Subjekt ist Zentrum seiner Welt, unbeschadet dessen, dass es sich in einer Welt befindet. Diese Zentralitätsstruktur löst sich nicht auf, wenn es sich selbst zum Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung konstituiert. Dass es einen Wissenden gibt, ist notwendige Bedingung dafür, dass es Wissen einschließlich naturwissenschaftlichen Wissens vom Wissenden gibt. Das konkrete Dasein ist geltungsfundierend, selbst wenn man versucht, das Geltungsfundament zu zerstören, denn dann ist es Subjekt der Zerstörung. Das konkrete Subjekt kann sich weder weg-denken noch weg-machen. Um noch einmal auf Sartre anzuspielen: Wir sind verurteilt, da zu sein, der Gedanke mag etwas Bedrohliches haben, er hat aber auch etwas Tröstliches.

Literatur Apel, Karl-Otto: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 1963, 31980. Aristoteles: Ethica Nicomachea. Ed. Bywater, Oxford 1994. – Metaphysica. Ed. W. Jäger, Oxford 1957. Becker, Oskar: »Über den sogenannten ›Anthropologismus‹ in der Philosophie der Mathematik. Eine Erwiderung in Sachen der ›Mathematischen Existenz‹«, in: Philosophischer Anzeiger 6 (1929), S. 369–387. Beckermann, Ansgar: »Es gibt kein Ich, doch es gibt mich«, in: M. Fürst/W. Gombocz/C. Hiebaum (Hg.): Gehirne und Personen, Frankfurt/M., S. 1–17. Brelage, Manfred: Studien zur Transzendentalphilosophie, Berlin 1965. Brendel, Elke: »Was können wir von der Welt wissen?«, in: Spektrum der Wissenschaft 5 (2011), S. 68–72. Breuer, Reinhard: »Auszug aus dem Elfenbeinturm«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 56. Esfeld, Michael: »Das Wesen der Natur«, in: Spektrum der Wissenschaft 6 (2011), S. 54–58. Die ZEIT, Hamburg. Döring, Sabine A.: »Gefühl und Vernunft«, in: Spektrum der Wissenschaft 5 (2011), S. 64–67. Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794, WW I.H. Fichte. Bd. 1, Berlin 1971. – Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre 1796, WW I.H. Fichte. Bd. 3, Berlin 1971, S. 1–385. 40 41

Husserl: Krisis S. 127 f. (§34). Ebd., S. 182 ff. (§53).

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Gethmann, Carl Friedrich/Sander, Thorsten: »Anti-Mentalismus«, in: M. Gutmann/D. Hartmann/M. Weingarten/W. Zitterbarth (Hg.): Kultur – Handlung – Wissenschaft. Für Peter Janich, Weilerswist 2002, S. 91–108. Gethmann, Carl Friedrich/Siegwart, Geo: »Sprache«, in: E. Martens/H. Schnädelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 549–605. Gethmann, Carl Friedrich: »Proto–Ethik. Zur formalen Pragmatik von Rechtfertigungsdiskursen«, in: T. Ellwein/H. Stachowiak (Hg.): Bedürfnisse, Werte und Normen im Wandel. Bd. 1, München/Paderborn 1982, S. 113–143. – »Letztbegründung vs. lebensweltliche Fundierung des Wissens und Handelns«, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Philosophie und Begründung, Frankfurt/M. 1987, S. 268–302. – Artikel »Retorsion«, in: J. Mittelstrass (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 597–601. – »Das Sein des Daseins als Sorge und die Subjektivität des Subjekts«, in: ders.: Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im Phänomenologische Kontext, Berlin u. a. 1993, S. 70–112. – »Praktische Subjektivität und Spezies«, in: W. Hogrebe (Hg.): Subjektivität, Paderborn 1998, S. 125–145. – »Pragmazentrismus«, in: A. Eusterschulte/H.W. Ingensiep (Hg.): Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven, Würzburg 2002, S. 59–66. – »Pragmatische Tendenzen in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts«, in: ders.: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, S. 1–39. – »Grundzüge einer pragmatischen Semantik«, in: ders.: Vom Bewußtsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2007, S. 217–228. – »Menschsein – Menschbleiben. Zur Grammatik askriptiver Äußerungsmodi«, in: J. Rüsen (Hg.): Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, Bielefeld 2010, S. 41–58. – »Die Sprache der Wissenschaft«, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Welche Sprache(n) spricht die Wissenschaft? Streitgespräch in den Wissenschaftlichen Sitzungen der Versammlung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 2. Juli und am 26. November 2010, Berlin 2011, S. 57–63 (Debatte 10). Henrich, Dieter: Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt/M. 1967. Hinsch, Wilfried: »Streitpunkt Menschenrechte«, in: Spektrum der Wissenschaft 7 (2011) S. 70– 74. Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zu einer reinen Logik, Tübingen 1968. – »Der Encyclopaedia-Britannica-Artikel«, in: ders.: Phänomenologische Psychologie, Den Haag 1962, 21968, S. 237–301 (Husserliana IX). – Cartesianische Meditationen. Eine Einführung in die Phänomenologie, Hamburg 1977 (Husserliana I). – Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die Phänomenologische Philosophie, Den Haag 1953, 21962, Berlin u. a. 31976 (Husserliana Bd. VI).

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Kant, Immanuel, Anthropologie, WW (Akademie) VII. – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WW (Akademie) VI. – Kritik der reinen Vernunft B, WW (Akademie) III. Lübbe, Hermann: Philosophie nach der Aufklärung, Düsseldorf 1980. Newen, Albert: »Wer bin ich?«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), 62–66. – »Das Verhältnis von Mensch und Tier«, in: Spektrum der Wissenschaft 4 (2011), S. 70–75. – Philosophie des Geistes. Eine Einführung, München 2013. Nida-Rümelin, Julian: »Was ist gerecht?«, in: Spektrum der Wissenschaft 7 (2011), S. 62–69. – Interview »Uns bleiben die unlösbaren Probleme«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011), S. 56–61. Pauen, Michael: »Eine Frage der Selbstbestimmung«, in: Spektrum der Wissenschaft 3 (2011) S. 68–72. Quine, Willard Van Orman: «Epistemology Naturalized”, in E. Sosa/J. Kim: Epistemology: An Anthology. Malden, MA, S. 292–300. Rosenzweig, Franz: Hegel und der Staat. 2 Bände, München, Berlin 1920. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1997. Ryle, Gilbert: The Concept of Mind, London 1949. Sartre, Jean-Paul: »Ist der Existenzialismus ein Humanismus?«, in: ders.: Drei Essays, Berlin 1962, S. 7–36. – Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962. Schleim, Stephan: »Hirnforschung: Zu viel versprochen«, in: Gehirn und Geist 4 (2014), S. 50– 54. Schlicht, Tobias: »Dem Bewusstsein auf der Spur«, in: Spektrum der Wissenschaft 4 (2011), S. 62–69. Singer, Peter: Practical Ethics, Oxford 1979 (deutsch: Praktische Ethik, Stuttgart 1984). Spaemann, Robert: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996. Weber, Marcel: »Ursache und Wirkung – am Beispiel der Gene«, in: Spektrum der Wissenschaft 6 (2011), S. 60–65.

Hat die Klassische Deutsche Philosophie auch heute noch eine Relevanz für die italienische Philosophie? Francesca Menegoni (Padova)

1. Das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie in Italien Die Klassische Deutsche Philosophie hat bis vor einigen Jahren eine große Rolle in der italienischen Philosophie gespielt, aber hat sie immer noch dieselbe Relevanz? Ich bin der Deutschen Gesellschaft für Philosophie und ihrem Präsidenten Michael Quante für ihre Einladung dankbar, in diesem prestigevollen Rahmen einige Aspekte der aktuellen Philosophie meines Landes vorzustellen. Mir kommt eine keineswegs einfache Aufgabe zu, weil sie mich zu einer radikalen Auswahl auf einige wenige Aspekte der italienischen Philosophie zwingt, nämlich die, wo die Verbindungen mit der Klassischen Deutschen Philosophie klar zu Tage liegen. Das erschöpft jedoch nicht die Komplexität der Philosophie Italiens. Es ist relativ einfach, ein Bild der italienischen Philosophie in ihren Verknüpfungen mit der Klassischen Deutschen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert zu umreißen, da die großen Ereignisse der damaligen Geschichte den Hegelschen Idealismus als theoretischen Hintergrund hatten. Wie Norberto Bobbio sagte: alle Straßen führten zu Hegel oder – was dasselbe ist – alle Straßen gingen von Hegel aus!1 Seitdem hat sich aber die italienische Philosophie stark verändert und bietet heute dasselbe gegliederte und zersplitterte Bild, das das zeitgenössische Denken überhaupt kennzeichnet:2 Um einem Publikum, das die Kunst und die Schönheiten meines Landes sehr gut kennt, aber wahrscheinlich mit seiner philosophischen Produktion weniger vertraut ist, einige Anhaltspunkte zu liefern, Norberto Bobbio: Da Hobbes a Marx. Saggi di storia della filosofia, A. Morano, Napoli 1965. Der italienische Hegelismus im 19. und 20. Jahrhundert ist nie ein rein akademisches Phänomen gewesen, sondern war stets mit den großen Ereignissen der Geschichte verschweißt, handle es sich nun um den Vereinigungsprozess (Bertrando Spaventa, Francesco De Sanctis), die sozialistischen Kämpfe (Antonio Labriola), die Reformen der Hegelschen Dialektik (Benedetto Croce und Giovanni Gentile), den »romantischen und mystischen« Hegel zwischen den beiden Kriegen oder das Verhältnis zwischen Hegel und Marx nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Eugenio Garin: »La fortuna nella filosofia italiana«, in: L’opera e l’eredità di Hegel, Laterza, Bari 1972, S. 121–138). 2 Ein reichhaltiges und komplexes, aber auch bewegtes und lebendiges Bild der italienischen Philosophie in den letzten fünfzig Jahren – von Turin über Mailand, Padua, Trient, Venedig, Genua, Florenz, Pisa, Rom, Neapel und Salerno bis Palermo – zeichnet der von Giuseppe Riconda und Claudio Ciancio herausgegebene Band: Filosofi italiani contemporanei, Mursia, Milano 2013. Ebenso informativ ist Alberto Gaiani: Il pensiero e la storia. L’insegnamento della filosofia in Italia, CLEUP, Padova 2014. Vgl. außerdem Massimo Ferrari: Non solo idealismo. Filosofi e filosofie in Italia tra Ottocento e Novecento, Le Lettere, Firenze 2006; Pietro Rossi – Carlo Augusto Viano (Hg.): Le città filosofiche. Per una geografia della cultura filosofica italiana del Novecento, Il Mulino, Bologna 2004 und Pietro Rossi – Carlo Augusto Viano (Hg.): Filosofia italiana e filosofie straniere nel dopoguerra, Il Mulino, Bologna 1991. 1

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werde ich zuerst ein einleitendes Bild zeichnen, um mich dann auf einige theoretische Linien zu konzentrieren, die meiner Meinung nach das Weiterbestehen der Klassischen Deutschen Philosophie beweisen.3 Die italienische Philosophie der letzten sechzig Jahre kann im Wesentlichen in drei Abschnitte von jeweils etwa zwanzig Jahren unterteilt werden. 1) Den ersten Abschnitt bilden die Sechziger und Siebziger Jahre, die sich durch die enge Verbindung des idealistischen Erbes und des Marxismus auszeichnen. In einem schönen Aufsatz der Achtziger Jahre hat Livio Sichirollo daran erinnert, wie unmöglich es war, das Paar Hegel-Marx zu trennen. Hegel wirkt in Italien durch Marx von 1945 bis 1970 und darüber hinaus mit dem Triumph des politischen Hegel. In Hegel ist das Beste der italienischen philosophischen Kultur verwurzelt, das sich mit dem Marxismus identifiziert oder das zumindest die kulturelle Funktion des Marxismus anerkennt:4 die Hegelsche Philosophie ist ein fester Bestandteil des historischen Bewusstseins jener Jahre. 2) Die darauffolgenden zwanzig Jahre bilden den Wendepunkt, der gegen Ende der Siebziger auf die gewalttätige und tragische »Bleierne Zeit« folgt. Auf philosophischer Ebene wird dieser Wendepunkt durch eine immer intensivere historisch-philologische und theoretische Arbeit charakterisiert, die schon auf unauffällige aber durchdringende Weise in den Jahrzehnten zuvor begonnen hatte. Die Früchte dieser neuen Epoche werden vom Erscheinen zahlreicher der Klassischen Deutschen Philosophie gewidmeter Reihen, kritischer Ausgaben, Übersetzungen und philosophischer Zeitschriften belegt.5 Diese Phase ist nicht das Resultat archäologischer Grabungsarbeiten in den Unterlagen der Vergangenheit, sondern sie entspricht einem sehr präzisen Programm, das von einigen Universitäten – darunter Turin, Mailand, Padua, Pisa, Rom und Neapel – umgesetzt worden ist. Sie legt nämlich den Grundstein für eine direkte und tiefgehende Kenntnis der Autoren und Inhalte der Klassischen Deutschen Philosophie, die außerhalb Deutschlands ihresgleichen sucht. Diese gewaltige Arbeit ermöglichte eine in Italien sonst undenkbare Säuberung von ideologischen Annahmen: Von Mal zu Mal wurde nämlich unsere Philosophie von den verschiedenen Idealismen von Rosmini, Gioberti und Labriola im 19. Jahrhundert, von Croce, Gentile und Gramsci in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-

3 Ich stimme Georg Sans zu, der in Anbetracht der Vielfalt und Zersplitterung des zeitgenössischen philosophischen Denkens vorschlägt, theoretische Knotenpunkte und systematische Optionen zu erkennen, die einen Zusammenfluss zwischen spekulativem Interesse und einem Sinn für die historische Rekonstruktion ermöglichen (vgl. Georg Sans: Al crocevia della filosofia contemporanea, GBP, Roma 2010). 4 Livio Sichirollo: Hegel e la tradizione. Scritti hegeliani, Guerini e Associati, Napoli 2002, S. 121–159. Vgl. außerdem: Salvatore Veca: Filosofia italiana e marxismi eterodossi, in Rossi – Viano, Filosofia italiana e filosofie straniere nel dopoguerra, S. 283–298; Domenico Losurdo: Dai fratelli Spaventa a Gramsci. Per una storia politico-sociale della fortuna di Hegel in Italia, La città del sole, Napoli 1997; Dario Gentili: Italian Theory. Dall’operaismo alla biopolitica, Bologna, Il Mulino 2012. 5 Es reicht, an die Namen einiger Verleger zu erinnern, die Orte heraufbeschwören, an denen Ideen geboren werden: in Turin Einaudi und UTET; in Genua Marietti; in Mailand Bompiani, Feltrinelli, Mondadori, Mursia, Rizzoli, Sansoni; in Trient und Padua Verifiche; in Florenz Le Monnier und La Nuova Italia; in Rom Editori Riuniti; in Neapel Guida, Morano und Micromegas; in Bari Laterza.

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derts und von Della Volpe, Luporini, Merker, Badaloni, Colletti und Losurdo in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst. 3) Die letzten zwanzig Jahre ernten nun die Früchte dieser Arbeit und erleben unsere philosophische Kultur als gut in die internationalen Beziehungen eingegliedert. Das beweist die Organisation bedeutender internationaler Veranstaltungen wie der von Massimo Barale, Alfredo Ferrarin und Claudio La Rocca organisierte Internationale KantKongress 2010 in Pisa, oder der von Carla De Pascale, Luca Fonnesu und Marco Ivaldo abgehaltene Internationale Fichte-Kongress 2012 in Bologna. Das 20. Jahrhundert endet, in Italien wie auch anderswo, mit einer wachsenden Aufmerksamkeit für die kritische Auseinandersetzung mit Fragen, die die Probleme des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens betreffen: Die Debatte dreht sich unter anderem um die ausgleichende Gerechtigkeit, um die Funktionstüchtigkeit der politischen Institutionen, um die Entscheidungen über Geburt, Therapie und Tod, um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern.6 In diesem veränderten Kontext verliert die Präsenz der Klassischen Deutschen Philosophie unvermeidlich an Gewicht. Der Globalisierungsprozess verursacht auch in Italien ein verringertes Interesse an der, die nun als eine regionale Kultur (die deutsche) wahrgenommen wird, zu Gunsten einer ebenso regionalen Kultur (der amerikanischen), die eine nicht immer kritisch betrachtete Hegemonie zu genießen scheint. Wenn die Geschichte der Ideen auch weiterhin eine Stärke unserer philosophischen Kultur darstellt, so wächst doch das Interesse an der Epistemologie, an der analytischen Philosophie, an der Sprachphilosophie und der sozialen Ontologie. Die Rolle der Klassischen Deutschen Philosophie muss deshalb im Inneren dieser verschiedenen philosophischen Gebiete gesucht werden, und man entdeckt ihr Wirken auch da, wo man es am wenigsten erwartet hätte, bei Autoren, die trotz eines ganz anderen theoretischen Werdegangs einige Kategorien übernommen haben, jene Begriffe oder theoretischen Linien, die die Bezeichnung ›klassisch‹ für eine Philosophie rechtfertigen.7 Deshalb ist die Rolle der Klassischen Deutschen Philosophie auf einer systematischen Ebene in der heutigen italienischen Philosophie schwer zu beschreiben. Wenn man unter ›systematisch‹ die Zugehörigkeit zu einem System versteht, das sich durch seine innere organische Einheit und Kohärenz auszeichnet, dann muss man sagen, dass nach Benedetto Croce und Giovanni Gentile8 recht wenig von der Systematik der Klassischen Deutschen Vgl. Eugenio Lecaldano: »La riflessione sulla morale tra bioetica ed etica teorica«, in: La filosofia italiana in discussione, hg. v. Francesco Paolo Firrao, Mondadori, Milano 2001, S. 160–179. 7 Ein Beispiel dafür ist Evandro Agazzi (»Che cosa è dentro e che cosa è fuori dalla scienza. Una riflessione filosofica«, in: Filosofi italiani contemporanei, S. 8). Als er die Gründe für seine Landung bei der Philosophie der Wissenschaft in Erinnerung ruft, sagt Agazzi: Wenn die Philosophie in dem Bemühen besteht, die Welt des Lebens vernünftig zu begreifen, das heißt die Totalität dessen, was in die Erfahrung fällt und uns umgibt, der Komplex der materiellen, natürlichen, historischen, sozialen und kulturellen Umstände, in denen wir unser Dasein führen, und darin, eine rationell gerechtfertigte Lösung für das Problem des Lebens zu finden, indem wir ihm einen Wert oder einen Sinn geben, dann übernimmt sie in beiden Fällen den Standpunkt des Ganzen oder des Absoluten (immanent oder transzendent): Der Bezug auf Hegel ist ausdrücklich. 8 Zu Benedetto Croce (1866–1952) vgl. die Einleitung von Claudio Cesa in Benedetto Croce: Sag6

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Philosophie geblieben ist. Bei Autoren wie Agamben, Ferraris, Sasso, Severino, Sini oder Vattimo ist der Einfluss von Nietzsche, Husserl oder Heidegger deutlich stärker als der der Kantischen oder Nachkantischen Philosophie, auch wenn sie sich damit ausdrücklich auseinandergesetzt haben. Da ich die Bedeutsamkeit der Klassischen Deutschen Philosophie im heutigen Italien hervorzuheben beabsichtige, werde ich hier eine Reise durch einige Universitäten unternehmen, die sich durch bedeutende Forschungsgruppen oder philosophische Schulen hervortun, indem sie das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie weiterführen.9

2. Anfang und Prinzip Ich beginne bei dem Umfeld, das mir am vertrautesten ist, die Universität Padua, wo die Klassische Deutsche Philosophie eine lange und gefestigte Tradition genießt, insbesondere was das Denken Kants (Giovanni Santinello, Pietro Faggiotto, Giuseppe Micheli), Fichtes (Giuseppe Duso und die von ihm geleitete Forschungsgruppe über die politische Philosophie in ihrer historisch-begrifflichen Dimension), Schellings (Gian Franco Frigo) und Hegels (Franco Chiereghin, Franco Biasutti, Luca Illetterati) betrifft. Schon in den Sechziger Jahren hat Franco Chiereghin in Padua eine Forschungstradition über die Hegelsche Philosophie begründet, auch durch seine aktive Präsenz bei der Zeitschrift »Verifiche« und bei den sie begleitenden Reihen (»Quaderni di Verifiche« und »Pubblicazioni di Verifiche«). Sein spekulativer Werdegang, der durch die Interpretation von Platon, Spinoza, Kant, Hegel und Heidegger geprägt wird, kann angesichts einiger Schlüsselbegriffe wie Sein und Wahrheit, Raum und Zeit, Wahrnehmung und Denken, Prinzip und Freiheit interpretiert werden.10 An dieser Stelle möchte ich kurz ein paar Thesen zu diesen letzteren in Erinnerung rufen. gio sullo Hegel, seguito da altri scritti di storia della filosofia, hg. v. Armando Savorelli, Bibliopolis, Napoli 2006. Cesa rekonstruiert die Entstehung von Croces Interesse an einer kritischen Darstellung des Hegelschen Denkens. In den Aufsätzen Siamo noi hegeliani? und Saggio sullo Hegel wird Hegels Philosophie, begriffen als «die Vollendung der Klassischen Deutschen Philosophie», der Ausgangspunkt für jeden philosophischen Fortschritt. Ihr wird das Verdienst anerkannt, als erste die Philosophie selbst zum spezifischen Gegenstand des Denkens gemacht und somit eine «Logik der Philosophie» ausgearbeitet zu haben. Im Mittelpunkt dieser Logik stehen der konkrete universelle Begriff und die Dialektik, die die Überwindung von Dualismen und Antinomien ermöglicht, welche die Geschichte des menschlichen Denkens kennzeichnen. Benedetto Croces und Giovanni Gentiles verschiedene Wege zum System hebt gut hervor Mauro Visentin: »Le metafisiche del neoidealismo italiano, fra logica e filosofia dello spirito«, in: La metafisica in Italia tra le due guerre, hg. v. P. Pagani, S. D’Agostino und P. Bettineschi, Istituto della Enciclopedia Italiana, Roma 2012, S. 37–69. 9 Da ich die philosophischen Schulen nicht als Unterwerfung unter eine Autorität verstehe, sondern als Synonym für eine Forschungsgemeinschaft, die die Arbeitsmethoden auch über die vorgeschlagenen Inhalte hinaus teilt, messe ich ihnen einen absolut positiven Wert bei. 10 Unter Chiereghins Veröffentlichungen erinnere ich an L’influenza dello spinozismo in Hegel (1961), L’unità del sapere in Hegel (1963); Hegel e la metafisica classica (1966), Dialettica dell’assoluto e ontologia della soggettività in Hegel (1980), Il problema della libertà in Kant (1991), La »Fenomenologia dello spirito« di Hegel. Introduzione alla lettura (1994); Sul Principio (2000), Tempo e storia. Aristotele, Hegel, Heidegger (2000); L’eco della caverna. Ricerche di filosofia della logica e della mente (2004), Rileggere la Scienza della

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Bei der Definition des Prinzips als das Freie schlechthin und zugleich als das wertvollste Gut unserer Subjektivität geht Chiereghin von den verschiedenen Wegen der Subjektivierung des Prinzips aus, die in der Klassischen Deutschen Philosophie seit Kants Definition der Freiheit entwickelt worden sind. Die Freiheit als Prinzip des Denkens ist das, was auch seine inneren Aporien bestimmt. Das Denken denkt nämlich immer objektive Inhalte, auch wenn es sich selbst denkt: Der Vorsprung des Denkens vor jedem Gedachten bestimmt die Unobjektivierbarkeit des Denkens und kann in vielen wichtigen Momenten des deutschen Idealismus wiederangetroffen werden, insbesondere bei Schelling und Hegel. Schellings Philosophie kann einheitlich als eine ununterbrochene Vertiefung der Frage nach der Freiheit des Prinzips verstanden werden, da es frei ist, zu sein oder nicht zu sein. Auf einer anderen Ebene bewegen sich die Reflexionen, die Hegel von den Jenaer Jahren bis zu seinem Tode über das Thema des Anfangs fortgeführt hat. Auch hier tritt kraftvoll die Rolle der Subjektivität hervor, denn der von Voraussetzungen freie Anfang besteht im Entschluss des Willens, der sich entscheidet, rein denken zu wollen (Enz. A § 36 Anm.): Das Subjekt entscheidet sich für das Philosophieren. Demzufolge stützt sich das System auf einen Grund, der ein Akt der Freiheit ist. Frei, behauptet Chiereghin, ist jede unabhängige Form, die in ihrer Bewegung nur mit sich selbst in Beziehung steht und die keinem anderen etwas für ihr immanentes Leben schuldet. Beispiele dieser Freiheit sind in der Praxis Taten wie die Opfergabe oder das Geschenk. Eine Radikalisierung dieser Reflexionen erscheint in Chiereghins Interpretation von Hegels Wissenschaft der Logik angesichts der komplexen Systeme. In Analogie zur Freiheit des Prinzips folgt auch das System der Wissenschaft der Logik dem Modell des organischen Wachstums, das heißt es verfährt nicht mittels einer Planung von oben (top-down, also von vollen Begriffen wie dem Absoluten, der Freiheit, des Ichs) sondern von unten nach oben (bottom-up), von dem, was zu jeder Beziehung bereit ist, da es ohne Bestimmungen ist. Das System als einheitliches Gefüge einer Mehrzahl von selbstorganisierten Elementen ist der Schlüssel zur Hegelschen Logik, die in der Rückwirkung und im Selbstbezug die Stärken ihrer holistischen Perspektive hat. Was bleibt von der Freiheit in dieser Perspektive? Man findet sie in der Opferbereitschaft des Logischen auf dem Gipfel seiner Verwirklichung, in dem freien Entschluss, mit dem die Idee zu einer Welt ohne Subjektivität, also zur Natur, Anlass gibt. Dieser freie Entschluss bringt die härteste Entfremdung mit sich, durch die man sich selbst im eigenen absoluten Anderen wiederfinden kann, und das ist bekanntlich für Hegel das Wesen der Freiheit. Auf diese Opferbereitschaft des Logischen auf dem Gipfel seiner Verwirklichung zu verzichten, würde also bedeuten, auf das Wesen der menschlichen Freiheit zu verzichten. Aus diesem Grund bildet die Freiheit selbst, laut Chiereghin, die Innovation der Hegelschen Logik.

logica di Hegel (2011). Zu seiner Gesamtinterpretation Hegels vgl. Claudio Cesa: »Il tema della Anerkennung nelle interpretazioni italiane della Fenomenologia dello spirito«, in: Riconoscimento e comunità. A partire da Hegel, hg. v. C. Mancina, P. Valenza, P. Vinci, Archivio di filosofia 77 (2009), S. 175–177.

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3. Freiheit vom System In Venedig wie auch in Mailand wirkt Massimo Cacciari, dessen Philosophie einem Weg folgt, der neben ausdrücklichen Verweisen auf Schopenhauer, Nietzsche, Wittgenstein und Heidegger eine starke theologische und mystische Betonung zeigt, die sich auf die neoplatonische Tradition und den späten Schelling stützt. Auch für Cacciari steht das Thema des Anfangs im Mittelpunkt: Seine Überlegungen führen jedoch zu ganz anderen Ergebnissen. Im Band Dell’Inizio11 geht er vom aporetischen Incipit der Kritik der reinen Vernunft aus, das in der ersten Ausgabe behauptet, die Erfahrung sei das erste Produkt unseres Verstands, und in der zweiten Ausgabe sagt, dass alle unsere Kenntnisse bei der Erfahrung beginnen. Das Incipit von 1781 hat zur Folge, dass es einen Anfang gibt und dass der Anfang aus der produktiven Kraft des Verstands besteht. Aber wenn die Erfahrung als Produkt des Verstands gedacht wird, muss man daraus schließen, dass jede Kenntnis bei etwas Erarbeitetem oder Produziertem beginnt, und dass ihre einzige Quelle das Subjekt ist, das erarbeitet oder produziert. Zu sagen, dass die Erkenntnis bei der Erfahrung anfängt, dass wir von hier beginnen, bedeutet, dass kein Anfang gegeben ist, denn, wenn wir etwas beginnen, bewegen wir uns immer weg vom Anfang: Jeder Anfang ist immer ein Resultat. Das Problem des logischen Anfangs verwickelt so in einem einzigen und identischen Schicksal äußeres Objekt und Selbstbewusstsein, die nicht versuchen, sich gegenseitig zu überwältigen, sondern die einen ursprünglichen Dualismus bilden, der jede Vorstellung von arché ausschließt. Cacciari sucht bei Schelling nach einem Ausweg aus der Aporie des logischen Anfangs: Die Münchner Vorlesungen, die Untersuchungen zum Wesen der menschlichen Freiheit, die Erlangener Konferenzen und die Vorlesungen über die positive Philosophie und die Philosophie der Offenbarung haben ihren gemeinsamen Nenner im Problem des Seins, das vor jedem Grund steht. Folglich ist das Prinzip, das das wahre ›Subjekt‹ des Denkens bildet, unaussprechlich und unfassbar. Solange es als das Seinkönnende gedacht wird, als zum Wollen fähiger Wille, ist das Prinzip noch nicht eigentlich ein solches, da es den Willen als sein Fundament voraussetzt. Nur wenn es nichts will, ist das Prinzip vollständig frei von jeder bestimmten Kraft, ist es die reine Gleichgültigkeit der Urmöglichkeit, die in sich jede mögliche Welt einschließt. Deshalb ist das Prinzip weder das Fundament noch das transzendente Absolute. Es ist vielmehr, im Leibnizschen Sinne, der Inbegriff aller Bestimmungsmöglichkeiten. Stark ist der Einfluss des späten Schelling in dieser Scharfeinstellung der Freiheit des Anfangs, eine Freiheit, die kein ek-sistere verbraucht oder einschließt, eine Freiheit, der niemals eine »starre, stillstehende und in diesem Sinne dogmatische Wissenschaft« entstammen wird. Dieses Zitat aus der Einleitung in die Philosophie der Offenbarung enthält für Cacciari eine außerordentliche Schlussfolgerung des antisystematischen Denkens der Gegenwart, wobei diese antisystematische Eigenschaft in toto sowohl der Herabsetzung der Philosophie auf ein historistisches Erkennen als auch der vergänglichen Mode der Krise der Vernunft widerspricht. Die Krise der Form des Systems, die die zeitgenössi11

Massimo Cacciari: Dell’Inizio, Adelphi, Milano 1990.

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sche Philosophie trifft und kennzeichnet, scheint nur auf den Spuren Schellings radikal denkbar zu sein: Eben dieses Beharren des Denkens auf die Frage des Anfangs bildet das Fundament einer möglichen Freiheit vom System entgegen jeder möglichen dialektischen Versöhnung.12

4. Die Umwandlungen der traditionellen Ontologie Das Thema der Ontologie der Freiheit erscheint auch bei anderen Philosophen, die sich auf Schelling berufen. Für alle steht der Name von Luigi Pareyson, der in Turin eine wichtige Schule gegründet hat.13 Der Turiner Universität müsste ein Kapitel für sich gewidmet werden, da sie neben der kraftvollen Interpretation Schellings und der Romantiker von Pareyson und seinen Schülern (Vattimo, Perone, Ciancio, Moiso, Pagano und Vercellone) auch die sehr unterschiedlichen Ansichten von Viano und Rossi, von Mathieu und Mori, von Riconda und Poma sowie von Marconi und Ferraris in sich vereinigt. Diese Philosophie ist derart reichhaltig und vielfältig, dass sie innerhalb eines begrenzten Umfelds die gesamte italienische Philosophie vertreten könnte, wie viele gute Studien zeigen.14 Da eine solche ausführliche Darstellung hier unmöglich ist, ziehe ich vor, noch eine Weile in Venedig zu bleiben, wo eine ganz andere philosophische Perspektive von Luigi Ruggiu und seinen Schülern (Lucio Cortella und Italo Testa) vorgeschlagen wird.15 Der philosophische Werdegang von Ruggiu ist von einer starken Gegenwart Aristoteles’ und Hegels geprägt, der in der letzten Zeit angesichts der theoretischen Beiträge einiger Vertreter der aktuellen Hegel-Renaissance in den USA neu interpretiert wird.16 Ihnen erkennt Ruggiu das Verdienst an, Hegels Übertreffen der subjektivistischen Auffassung im Namen der Sozialität der Vernunft hervorgehoben zu haben. Folglich drückt Ruggiu seine Sympathie für die Umwandlung der traditionellen Ontologie in soziale Ontologie aus. Der Geist ist weder Sein noch Wesen sondern Geworden-sein, das Ergebnis eines sozialen Prozesses. Deshalb besteht die begriffliche Arbeit darin, die in jeder sozialen PraEin Echo dieser Gedanken hallt auch in seinem letzten Buch wider (Labirinto filosofico, Adelphi, Milano 2014), in dem Cacciari bekräftigt, dass die philosophische Methode das diaporein ist, das Hinterfragen, das bei der Aporie anhält, das sie weiterentwickelt und vertieft, und nicht das, das in der Augenfälligkeit schließt und die Sache im Begriff löst. 13 Von Luigi Pareyson möchte ich, außer an Ontologia della libertà. Il male e la sofferenza (1995), nur an die Fichte (1950) und Schelling (1971) gewidmeten Studien erinnern, die eine neue Interpretation des deutschen Idealismus in Italien eingeführt haben. 14 Für eine ausreichende Darstellung der verschiedenen theoretischen Linien, die in Turin zusammenleben vgl. Ugo Perone: Italienische Philosophie der Gegenwart. Ein Überblick, Freiburg, Alber 2004; Rossi – Viano (Hg.), Le città filosofiche; Giuseppe Riconda: »Torino 1950–1990: il pensiero religioso«, in Riconda – Ciancio (Hg.): Filosofi italiani contemporanei. 15 Luigi Ruggiu hat seine Forschungen über Hegel in einigen Bänden zusammengefasst: vgl. die kürzlich erschienenen Logica Metafisica Politica. Hegel a Jena, 2 Bde., Milano-Udine, Mimesis 2009 und Lo spirito è tempo. Saggi su Hegel, Milano-Udine, Mimesis 2013. 16 Vgl. Luigi Ruggiu – Italo Testa: Hegel contemporaneo. La ricezione americana di Hegel a confronto con la tradizione europea, Guerini, Milano 2003; ders.: Lo spazio sociale della ragione. Da Hegel in avanti, Milano-Udine, Mimesis 2009. 12

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xis immanenten Strukturen zum Ausdruck zu bringen, in dem andauernden Bemühen, den Wortschatz der Praxis und die Dialektik zwischen Bewusstem und Unbewusstem zu erneuern. In dieses allgemeine Interpretationsbild fügt sich ein spezifischerer Zweck, der in der Rekonstruktion des holistischen Hintergrunds liegt, welcher die Grundlage der Hegelschen Studien in jüngeren Jahren bildet, und dabei sucht Ruggiu nach den Wurzeln, die Logik und Politik, Wirtschaft und Metaphysik, Überwindung des Endlichen und Bewahrung der Unterschiede, Annahme der Zeit und die Notwendigkeit, über die Zeit hinauszugehen, in eine Einheit einschließen. Der Geist gibt sich nur in seinen Handlungen, die vorwiegend von Sprache, Arbeit und Familie ausgedrückt werden, und er existiert nur durch diese sozialen Formen. Er bestimmt sich als ein sozial strukturierter Raum, der sich durch die Gesamtheit der in ihm geltenden Regeln und Vorschriften auszeichnet. Vor diesem Hintergrundansatz tritt dringend die Frage der Zeit und der Geschichte hervor, eine Frage, die durch die Verbindung der Hegelschen Philosophie des Geistes mit der Aristotelischen Lehre angepackt wird. Ruggiu behauptet, dass der Geist, solange er nicht selbstbewusst ist, die Kraft der Zeit als Notwendigkeit und Schicksal erduldet. Erst wenn er die Zeit als sein eigenes Dasein versteht, befreit er sich von deren Joch: Das Ende der natürlichen Zeit fällt also mit der Eröffnung der Geschichte zusammen. Wenn der Geist einerseits nicht unabhängig von seiner Geschichte und von seinen konkreten Gestalten betrachtet werden kann, da er sich in den intersubjektiven Beziehungen konkretisiert, so gründet das Logische andererseits die Geschichte nicht nur als einfach erzählt, sondern als begriffen. Die begriffene Geschichte hat ihre Wurzeln also in der spekulativen Logik.

5. Kritischer Historismus Die Aufmerksamkeit, die Ruggiu dem Thema der Zeit und der Geschichte widmet, gestattet mir, einen wunden Punkt zu berühren, die vexata quaestio des Historismus, der einem verbreiteten Klischee zufolge die auf den deutschen Idealismus zurückgehende italienische Kultur dominiere.17 Um die Unangemessenheit dieser Interpretation auszudrücken, wähle ich hier zwei beispielhafte Stimmen, Fulvio Tessitore in Neapel und Remo Bodei in Pisa. Tessitore schlägt im Gegensatz zum absoluten Historizismus, der einen Großteil der italienischen Philosophie zwischen Hegel und Croce einverleibt, einen kritischen und problematischen, anti-ontologischen und anti-metaphysischen Historismus vor, der sich

Vgl. zum Beispiel Wilhelm Büttemeyer: »Rapporti tra la filosofia italiana e la filosofia tedesca«, in: La filosofia italiana in discussione, S. 259–279. Büttemeyer behauptet ausdrücklich, dass die Philosophie in Italien vor allem Geschichte der Philosophie ist, eine Folge der Bildungsreform Gentiles, die die Philosophie mit der Geschichte verbindet. Auf derselben Interpretationslinie liegt Luciano Floridi: »I filosofi: calciatori o giornalisti? La ricezione della filosofia italiana nel contesto anglosassone«, in ebd., S. 337–361, mit einer Kritik an der italienischen Philosophie, dass ihr auf Grund des Vorherrschens der Geschichte im philosophischen Denken eine robuste innovative Reflexion fehle. 17

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nicht für das Sein sondern für die Seienden interessiert.18 Radikaler als Tessitore ist Bodeis Einstellung, der seine Allergie gegen jeden Historismus offen zugibt, da der das Denken über die zeitliche Dimension erdrückt. Er hat einen Weg eingeschlagen, der ihn im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Positionen dazu geführt hat, das erniedrigte System wieder zur Geltung zu bringen. Auf die Mitte der Siebziger Jahre geht nämlich sein erfolgreiches Sistema ed epoca in Hegel zurück.19 Die systematische Form ermöglicht, Kants Dualismen, die Phänomene und Noumene gegenüberstellen, zu überwinden, die Welt in eine Gesamtheit von Verbindungen umzuwandeln und sie als eine komplexe hierarchische Gliederung von Wahrheitsgraden zu interpretieren. Damit entspricht sie einer teleologischen Ordnung, die noch viel von der Kantischen Definition des Systems hat, das auf das analogische Modell des tierischen Organismus gründet. Indem er das Feld von vielen Missverständnissen räumt, die den Hegelschen Begriff des Systems belasten, erklärt Bodei das Scheitern jeder Philosophie, die nicht in der Lage ist, mit dem Denken die neue sich öffnende historische Epoche zu begreifen: Um verstanden zu werden, braucht jede neue Epoche eine neue Philosophie.

6. Recht, Moralität, Sittlichkeit Mit Remo Bodei kommen wir zum lebhaften Umfeld von Pisa, wo das Erbe der Klassischen Deutschen Philosophie eine vielfältige Zusammenstellung philosophischer Perspektiven hervorgebracht hat. Schematisch ausgedrückt können sie einerseits auf die Problematisierung des Kantischen Transzendentalismus (Scaravelli, Tonelli, Sainati, Marini, Marcucci, Barale, Amoroso, La Rocca und Ferrarin) und andererseits auf Claudio Cesas Arbeiten über die gesamte Zeitspanne der Klassischen Deutschen Philosophie zurückgeführt werden. Um die ungerechte Etikettierung des Historismus für die ganze heutige italienische Philosophie besser zu verstehen, reicht es, die ununterbrochene Veröffentlichungstätigkeit von Claudio Cesa zu betrachten: über die Begriffe von Recht, Moralität, Sittlichkeit, Gemeinschaft und Staat, über die Vielfältigkeit ihrer Bedeutungen und ihrer systematischen Funktionen, über ihren Platz in einem Gesamtbild, das von Mal zu Mal auf historischer oder theoretischer Ebene definiert wird.20 Diese Studien umfassen das politiUnter den vielen Studien, die Fulvio Tessitore dem Thema gewidmet hat, erinnere ich hier nur an: Criticità dello storicismo e nuova storia della cultura, Introduzione allo storicismo, Laterza, Roma-Bari, 1991; Kritischer Historismus, Böhlau, Köln, Weimar, Wien, 2005; Ultimi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, Bde. 1–3, Edizioni di Storia e Letteratura, Roma 2010. 19 Vgl. Remo Bodei: Sistema ed epoca in Hegel, Il Mulino, Bologna 1975 (neue erweiterte Ausgabe: La civetta e la talpa. Sistema ed epoca in Hegel, Il Mulino, Bologna 2014). 20 Claudio Cesa, emeritierter Professor an der Scuola Normale Superiore in Pisa, ist am 21. November 2014 in Siena verstorben. Claudio Cesas methodologische Lektion prägte ganze Generationen von Forschern, angefangen bei Carla De Pascale, Angelica Nuzzo und Luca Fonnesu. Die Größe und das Format des Gelehrten gehen aus einem Blick auf die Bibliographie seiner Werke hervor (vgl. C. De Pascale – A. Savorelli (Hg.), Claudio Cesa: bibliografia degli scritti (1959–2002), in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, Pisa 2001, S. 351–408). Es handelt sich um ein Verzeichnis von über fünfzig Seiten mit 18

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sche Denken der ganzen Klassischen Deutschen Philosophie, und dabei rücken sie die radikale Überarbeitung von Kants Moralphilosophie durch Fichte, Schelling und Hegel ins Licht, die alle auf verschiedenem Weg eine Gründung der Subjektivität anstreben. Dieses Thema hat Cesa für einen der gelungensten Kongresse der Internationalen Hegel-Vereinigung 1981 in Stuttgart gewählt. Cesa behauptete, dass die praktische Philosophie der Bereich ist, in dem die Unterschiede zwischen Fichte einerseits und Hegel und Schelling andererseits am tiefsten sind, und das obwohl sie alle dasselbe Bedürfnis teilten, den Formalismus der Kantischen Ethik zu überwinden und die Subjektivität zu begründen.21 Auf das Thema der Subjektivität kam Cesa mehrfach zurück, beispielsweise um mit einer damals unkonventionellen These zu behaupten, dass das wesentliche Element der Subjektivität bei Hegel die Innerlichkeit ist, eine Innerlichkeit, die ihre Wurzeln in anderen Sphären als denen des objektiven Geistes hat.22 Jenseits des Reizes, den seine Lektüre der Hauptvertreter der Klassischen Deutschen Philosophie ausübt, bleibt das Wichtigste seine Gesamtinterpretation, die meisterhaft die einzelnen Steinchen jenes Mosaiks zusammenfügt, das wir den Deutschen Idealismus nennen. Cesa behauptet, dass es für die Interpretation von Fichte, Schelling oder Hegel notwendig ist, sich das System vor Augen zu halten und festzustellen, wie dessen einzelne Teile entstanden sind. Hierbei greift die unausweichliche Auseinandersetzung eines jeden von ihnen auf unterschiedliche Weise mit Kant ein. Die jahrzehntelange Vertrautheit mit den Werken der wichtigsten Vertreter der Klassischen Deutschen Philosophie führt Cesa zu einer Überlegung, die heute noch zum Nachdenken anregt: Auf der Grundlage der Lektüre der Philosophen, die die europäische Debatte Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts belebten, schrieb Cesa nämlich, dass die Dialektik zwischen den politischen Institutionen und den historischen, sozialen und religiösen Umständen, unter denen die Individuen leben, nicht ausreiche, um ihre Rolle und Aufgabe zu definieren. Deshalb bleibt die innerliche Versöhnung des Subjektes mit dem sozialen und politischen Umfeld eine ihm gestellte Aufgabe, von der er weder von der Geschichte noch von den Institutionen befreit wird.23

644 Titeln von Bänden, Übersetzungen, Aufsätzen, Ausgaben, Rezensionen und bibliographischen Übersichten, oft anonym oder nur gezeichnet, die ab 1950 erschienen sind. Seine Übersetzungen und seine Studien zu Feuerbach und die Hegelsche Linke (Il giovane Feuerbach 1963, Studi sulla sinistra hegeliana 1972, Introduzione a Feuerbach 1978) sind Klassiker geworden, ebenso wie seine Überarbeitung von Arturo Monis Übersetzung der Wissenschaft der Logik von Hegel (1968), sein Hegel filosofo politico (1976) oder J.G. Fichte e l’idealismo trascendentale (1992) und die Introduzione a Fichte (1994). 21 Vgl. Claudio Cesa: » Die Krise der Moralphilosophie«, in: Stuttgarter Hegel-Kongreß 1981. Kant oder Hegel? Über Formen der Begründung in der Philosophie, hg. v. D. Henrich, Klett-Cotta, Stuttgart 1983, S. 176–185. 22 Vgl. Claudio Cesa: »Considerazioni provvisorie sulla soggettività hegeliana. Posizione o crisi?«, in: La crisi del soggetto nel pensiero contemporaneo, hg. v. A. Bruno, FrancoAngeli, Milano 1988, S. 13–41. 23 Vgl. Claudio Cesa: Verso l’eticità. Saggi di storia della filosofia, hg. v. C. De Pascale, L. Fonnesu und A. Savorelli, Scuola Normale Superiore di Pisa 2013.

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7. Die systematische Bedeutung der transzendentalen Philosophie Die ontologische Reichweite der praktischen Vernunft steht im Mittelpunkt der von Marco Ivaldo vorgeschlagenen Interpretation des Transzendentalen; seit Längerem hat er sich dafür entschieden, ›genealogische‹ Interpretationsschemen bei der Rekonstruktion der Klassischen Deutschen Philosophie zu Gunsten einer neuen hermeneutischen Perspektive aufzugeben, um die Vielstimmigkeit der Philosophien zu schätzen und jede in ihrer Besonderheit, in ihren Unterscheidungen und inneren Entwicklungen, in ihren Verflechtungen mit anderen philosophischen Positionen und in ihren konstitutiven begrifflichen und sachlichen Konstellationen zu erfassen.24 Seine Studien über Jacobi, Reinhold, Kant und Fichte werden vom Interesse für die systematische Bedeutung der transzendentalen Philosophie und für deren praktische Implikationen getragen. Von Kant bis Fichte ist die praktische Vernunft die Fähigkeit, die das Ich ›ist‹ – und nicht ›hat‹ –, sich selbst angesichts eines unbedingten Aufrufs zu bestimmen, der dem Ich selbst die radikale der Freiheit zukommende Verantwortung offenbart. Hinter dieser Aufmerksamkeit für Kants und Fichtes transzendentale Perspektive kann man die Anregungen von Luigi Pareyson, Alberto Caracciolo und Reinhard Lauth erkennen, aber auch die Reflexion von Armando Rigobello über den Kantischen Begriff des Transzendentalen als dem Ort, an dem die radikalste Immanenz ihre Grenzen offenbart, und seine phänomenologische und hermeneutische Wiederaufnahme des problematischen Verhältnisses zwischen persönlicher Erfahrung und transzendentalem Bewusstsein.25

8. Methode und System Mit Ivaldo sind wir zu Neapel übergegangen. Auch für die Universitäten von Neapel und Rom gilt, was schon zu Turin gesagt worden ist. Der neapolitanische Hegelianismus der Brüder Bertrando und Silvio Spaventa sowie von Augusto Vera und Benedetto Croce wurde bereits erwähnt. Hier soll an Neapel als Zentrum der historistischen Tradition erinnert werden, deren Vertreter Pietro Piovani und seine Schüler sind.26 Nicht weniger komplex ist die Situation in Rom, die sich seit den Siebziger Jahren durch eine starke Präsenz der Kantischen und Nachkantischen Philosophie mit L. Colletti, G. Della Volpe, L. Lugarini, M.M. Olivetti, E. Garroni und V. Verra auszeichnet, eine Tradition, die heute von D’Angelo, Dottori, Finelli, Gigliotti, Semplici, Valenza, Vinci und anderen fortgeführt wird.

Marco Ivaldo: Ragione pratica. Kant, Reinhold, Fichte, Edizioni ETS, Pisa 2012. Vgl. Armando Rigobello: I limiti del trascendentale in Kant, Silva, Milano 1963; ders.: Immanenza metodica e trascendenza regolativa, Studium, Roma 2004. 26 Ein Bild dieser komplexen Umgebung, mit ihren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Widersprüchen zeichnet Giuseppe Cantillo in Rossi – Viano (Hg.): Le città filosofiche (S. 335–383), der es nicht versäumt, die bevorzugten Beziehungen zur deutschen Philosophie zu unterstreichen, die das italienische Institut für philosophische Studien von Gerardo Marotta seit 1976 unterhält. 24 25

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Hier sei mir gestattet, nur die Lehre von Valerio Verra in Erinnerung zu rufen. Als großer Kenner der Klassischen Deutschen Philosophie war Verra jahrzehntelang der wesentliche Bezugspunkt für die italienische Kultur, die in der Klassischen Deutschen Philosophie ihren Mittelpunkt fand. Verra hatte die Gabe, eine solide historisch-philosophische Kultur und das Gefühl für die Texte zusammenwirken zu lassen, sein besonderes Augenmerk galt den methodologischen Fragen. Das geschieht im Falle der Annäherung von Philosophie und Mathematik zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Endlichem und Unendlichem, bei der Erklärung der philosophischen Reichweite der wissenschaftlichen Ergebnisse wie auch bei der Erläuterung der spezifischen Sprachen der Offenbarungen des Geistes in der Kunst und in der Religion. Valerio Verra vereinte glücklich die Sensibilität des gebildeten und ausgeglichenen Historikers mit der Fähigkeit, das Neue zu erkennen, das der deutsche Idealismus und insbesondere die Hegelsche Philosophie dem zeitgenössischen Denken zuführt. Mit seinem Aufsatz über die Kreisförmigkeit der absoluten Methode bei Hegel27 kommen wir zur Frage der Antinomien zurück, denen der Gründungsprozess ausgesetzt ist, Antinomien, die gerade die Annäherung von Methode und System in Hegels Philosophie hervortreten lassen. Das System ist kein Vorwärtspurzeln von einem Inhalt zum anderen in einer ewigen Flucht, denn jede Stufe bringt eine Erhebung der gesamten vorhergehenden Inhaltsmasse mit sich, ein Zunehmen an Ausdehnung und Stärke, eine Bereicherung, die ihren Gipfel in der Freiheit der reinen Persönlichkeit erreicht. Jeder Schritt vorwärts in der Bestimmung, bei dem wir uns vom unbestimmten Anfang entfernen, stellt eine Wiederannäherung zu ihm dar: Das ist der Sinn, in dem die scheinbar antinomische Struktur des Gründungsprozesses ihren dialektischen Charakter zeigt. Die Unruhe des Prinzips, das einen Großteil der zeitgenössischen italienischen Philosophie und viele ihrer nihilistischen Ergebnisse durchzieht, findet ein stabilisierendes aber alles andere als banalisierendes oder beruhigendes Element in der, die vielleicht die ›klassischste‹ der Kategorien der Klassischen Deutschen Philosophie ist, das heißt in ihrer systematischen Natur.

9. Schlussbemerkung Zum Abschluss dieses gezwungenermaßen unvollständigen Überblicks erlaube ich mir eine letzte Bemerkung. Die Reise, die uns von Padua über Venedig, Turin, Pisa und Rom bis nach Neapel geführt hat, ermöglicht mir zu zeigen, dass die italienischen Philosophen, die sich mit der Klassischen Deutschen Philosophie auseinandersetzen, eine Eigenheit besitzen. Sie teilen nämlich die Überzeugung, dass sie ausgehend von Kant, Fichte, Schelling oder Hegel über Fragen nachdenken, die auch unabhängig von diesen Autoren eine ihnen eigene Relevanz haben. In der scheinbar ausweglosen globalisierten Situation, in der die Geschichte der Philosophie von der Philosophie getrennt ist, so wie sich auch die Philosophie von ihrer Geschichte verabschiedet hat, bietet die Klassische Deutsche Philosophie 27

Valerio Verra: Su Hegel, hg. v. C. Cesa, Il Mulino, Bologna 2007, S. 199–216.

Hat die Klassische Deutsche Philosophie auch heute noch eine Relevanz

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ihnen einen dritten Weg. Diejenigen, die in Italien auf den Spuren der Klassischen Deutschen Philosophie denken, lehnen nämlich diesen doppelten Abschied ab, und sie fühlen sich dazu berufen, mit Hegel daran zu erinnern, dass es keine Geschichte der Philosophie außerhalb eines theoretischen Rahmens gibt und dass es keine Theorie gibt, die frei von den historischen Bedingungen ist. Aus dem Italienischen von

Nina Meyer

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Veritas filia temporis Julian Nida-Rümelin (München)

Vorbemerkung In diesem Vortrag geht es mir um die Überwindung eines doppelten Schismas in der modernen Philosophie: dem Schisma zwischen Realisten und Antirealisten und dem zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Nun bin ich nicht so vermessen anzunehmen, dass sich mit einem Vortrag – selbst wenn er auf dem bedeutendsten Kongress der deutschsprachigen Philosophie gehalten wird – zwei in der modernen Philosophie tief verwurzelte Schismen zu Grabe tragen lassen. Die bescheidene Formulierung meines Vortragsziels lautet daher: Ich möchte Sie davon überzeugen, dass sich diese Schismen überwinden lassen und deutlich machen, wie sie sich überwinden lassen. Zugleich aber möchte ich erläutern, wie es zu diesen Schismen kommen konnte und warum sie einen so dominierenden Einfluss auf das moderne, auch auf das zeitgenössische, philosophische Denken erringen konnten. Dieser Vortrag richtet sich sowohl an die Kolleginnen und Kollegen aus dem Fach, als auch an ein breiteres Publikum, das ein Interesse an der Philosophie hierher geführt hat, wie es sich für einen Abendvortrag gehört. Dies stellt mich, wie die anderen, die auf diesem Kongress einen Abendvortrag übernommen haben, vor eine gewisse Herausforderung: Kann man ein komplexes und intrikates philosophisches Argument so entwickeln, dass es sowohl diejenigen, die Philosophie zum Beruf gemacht haben, als auch diejenigen, die ein außerberufliches Interesse an philosophischen Fragen entwickelt haben, gleichermaßen adressiert? Ich denke, das sollte möglich sein, ob es mir gelingt, steht auf einem anderen Blatt. Die interessantesten Beiträge in der Geschichte des philosophischen Denkens haben sich jedenfalls nicht eines Jargons der Eingeweihten bedient, sondern versucht Genauigkeit mit Verständlichkeit zu verbinden. Dass auch große Köpfe an dieser Aufgabenstellung immer wieder gescheitert sind, ist allerdings nicht ermutigend. Wir versuchen es hier trotzdem.

I. Anmerkungen zur Historie des Schismas Wie so vieles in der Philosophie, genauer in der Philosophie unseres Kulturkreises, kann man die Ursprünge dieses Schismas, das es zu überwinden gilt, bis auf Platon zurückverfolgen. In der berühmten Kaskade der drei Gleichnisse – dem Sonnen-, dem Linien- und dem Höhlengleichnis – geht es um das Verhältnis von dóxa und epistème, von bloßer Meinung und sicherem Wissen. Platon ist der Überzeugung, dass Wissen nur auf dem Wege der Philosophie und der Wissenschaft (was damals noch nicht zu trennen war), zu errei-

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chen ist. Da nicht alle diesen Weg gehen können, müssen sich die Vielen auf die Wenigen verlassen, die in der Lage sind den philosophischen Weg zu gehen und ihrem Rat folgen. Das Spannungsverhältnis zwischen philosophischem Wissen und Alltagserfahrung bleibt jedoch in praxi bestehen, wie die resignativen Schlusspassagen des Höhlengleichnisses deutlich machen und wie es das Menetekel des Todes des Sokrates, nicht nur für Platon, drastisch vor Augen führte. Wissen verlangt nach einer radikalen Distanz von den Praktiken und Urteilen der Alltagswelt. Diese radikale Lösung über die Wenigen, die ihr Leben der Philosophie widmen, hat eine stilbildende und zugleich hochproblematische Konsequenz: Es ist die Abwertung dessen, was in unterschiedlichen Formulierungen, im Anschluss an Husserl als »lebensweltliches Wissen«, im Anschluss an Wittgenstein und die ordinary language Philosophie als »Alltagssprache«, im Anschluss an die schottische Aufklärungsphilosophie als common sense und im Anschluss an Dewey als »Erfahrung« bezeichnet werden könnte. Der Widerstand gegen diese radikale Abwertung formiert sich früh, bei einem, allerdings rund vierzig Jahre jüngeren Schüler Platons: bei Aristoteles. In der Nikomachischen Ethik wird nicht nur die Ideenlehre Platons geradezu brüsk verworfen, sondern auch die Lebenserfahrung und das Alltagswissen in Gestalt des phronimos aufgewertet. Dem Intellektualismus Platons wird – so könnte man in historisch verzerrender Terminologie sagen – der Pragmatismus erfahrungsgesättigter Lebensklugheit entgegengestellt. Platon ist, wie Aristoteles, zweifellos im philosophischen Sinne Realist. Aber während sich die Realität für Aristoteles in Gestalt eines topischen Vorgehens aus unseren lebensweltlichen Überzeugungen erschließt, müssen diese für Platon radikal in Frage gestellt werden, um hinter den Schattenbildern des alltäglichen Erfahrungswissens das eigentlich Seiende, nämlich die Formen und Strukturen, das was irreführend als »Ideen« übersetzt wird, zu enthüllen. Aber führt die topische Methode nicht geradewegs in einen Relativismus unterschiedlicher Perspektiven? Ist nicht die normativ weitgehend abstinente Beschreibung, die Aristoteles unterschiedlichen Verfassungsformen angedeihen lässt, ein Beleg und die Ziviltheologie, wonach jede griechische Stadt gut beraten ist dem gemeinsamen Glauben an die Götter Ausdruck zu geben und die Beteiligung an den entsprechenden Riten und Festlichkeiten als Bürgerpflicht zu etablieren, kein Warnsignal, jedenfalls für gläubige Menschen? Die topische Methode als Weg in den Agnostizismus nicht nur in der Theologie? Und die Abwertung der Wissenschaft jedenfalls dort, wo sie eine Genauigkeit fordert, die dem Gegenstand unangemessen ist,1 als eine Form des Quietismus, der sich mit den überkommenen Vorstellungen und Gebräuchen arrangiert, etwa in der bemerkenswert unkritischen Akzeptanz dreier vermeintlicher Herrschaftsformen von Natur: der der Eltern über die Kinder, der der Freien über die Sklaven und der der Männer über die Frauen? Ist da nicht die platonische Utopie einer gerechten Stadt vorzuziehen, die mit überkommenen Praxen der Unaufgeklärtheit und Unterdrückung radikal bricht, Männer und Frauen gleich behandelt, die Familien auflöst (jedenfalls für die An-

Vgl. Aristoteles’ Ausführungen zur angemessenen Genauigkeit der Ethik: Nikomachische Ethik, 094b11–95a11, 1098a20–33, 1102a23–26. 1

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gehörigen des Wächterstandes) und Gerechtigkeit als praktische Umsetzung philosophischer Erkenntnis realisiert? Auch wenn der Gegensatz von Platonismus und Aristotelismus das weitere philosophische Denken in der Antike und im Mittelalter beeinflusst, so kommt es zur eigentlichen Ausprägung des Schismas um das es uns in diesem Vortrag geht, erst mit der scientia nova und dem neuzeitlichen Rationalismus. Man mag vermuten, dass sich kulturell in der italienischen und dann gesamteuropäischen Renaissance ein Muster wiederholt, das auch Platon zu seiner Philosophie inspirierte, nämlich das einer tiefgehenden und umfassenden Entwertung vertrauter Praktiken und Überzeugungen. In der frühen Neuzeit nimmt das die Form des klerikalen Autoritätsverfalls, der Abwertung des aristotelisch-thomasischen Weltbildes, der über Glaubens- und Moralgewissheiten gestifteten einheitlichen christlichen Lebensform an. Erst das Zwillingspaar aus globaler Skepsis und Zertismus, also die subjektive Erschütterung lebensweltlicher normativer wie empirischer Gewissheiten und die Identifikation von Wissen mit Unbezweifelbarkeit führt zum rationalistischen Irrweg der Philosophie, der diese über weite Strecken bis heute prägt. Unter »Rationalismus« verstehe ich dabei eine spezifische Methodik, eine Vorgehensweise in der Theoriebildung und schließlich eine philosophische Erkenntnistheorie, wonach aller Intuition, aller lebensweltlichen Erfahrung, allem commen sense, aller etablierten Pragmatik zu misstrauen und diese durch ein methodisch-wissenschaftlich gesichertes, deduktives Verfahren des Wissenserwerbs zu ersetzen sei. René Descartes, der Prototyp des neuzeitlichen Rationalismus exponiert beide seiner Quellen in den Meditationes2 in beispielloser Konsequenz: Weil unsere Sinne uns gelegentlich täuschen, sollten wir überhaupt kein Vertrauen mehr in diese setzen, sie fallen als Erkenntnisquelle aus. Was bleibt, ist das cogito, die Existenz eines wohlwollenden Gottes und die logische Deduktion. Der neuzeitliche Rationalismus ist ein umfassendes Ersetzungsprogramm: Lebensweltliches Erfahrungswissen normativer und empirischer Art soll durch logische Deduktion aus minimalen, selbstevidenten und damit unbezweifelbaren Axiomen ersetzt werden. Wer glaubt, dies sei lediglich ein merkwürdiger Auswuchs einer kulturellen Krise im Gefolge des Verfalls theologischer Autorität in der damaligen Zeit gewesen, dem empfehle ich eine gründliche Lektüre von Moral Thinking, der letzten Monographie von Richard Hare, die in aller Deutlichkeit an einem Rationalismus kartesischer Radikalität festhält, alle moralische Intuition entsorgt und diese durch ein, mit den Mitteln der Sprachlogik vermeintlich deduzierbares Prinzip zu ersetzen sucht.3 Richard Hare hat dabei zeitlebens in immer wieder neuen Anläufen deutlich gemacht, dass ein solcher Rationalismus keineswegs in den abstrakten Sphären der Prinzipien hängen bleiben muss, sondern sich auf ganz konkrete Alltagsprobleme, wie z. B. die Ethik der Stadtplanung oder die Ethik der menschlichen Fortpflanzung anwenden lässt, mit teilweise (wie zu erwarten) hochgradig kontraintuitiven Ergebnissen. Peter Singer, sein Meisterschüler, ist der bekannteste Vertreter dieser Form des ethischen Rationalismus, dem die Abwertung allen lebens2 3

Vgl. René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Vgl. Richard Hare: Moral Thinking, Oxford 1984.

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weltlichen Orientierungswissens Bewunderung, wie Kritik, einschließlich eines höchst problematischen Auftritts- und Redeverbots in deutschsprachigen Teilen Mitteleuropas, einbrachte.4 Die Gegenseite vertraut dagegen auf lebensweltliche Erfahrung. Der prominenteste Vertreter dieser Gegenseite, Bernard Williams, vertritt einen relativism from the distance und ist skeptisch gegenüber der Möglichkeit ethischer Theorie generell und rationalistischer speziell.5 Die Tatsache, dass sich dieses Schisma so lange hält, dass es über Jahrhunderte das philosophische Denken, nicht nur in unserem Kulturkreis, prägt und sich in der Neuzeit radikal vertieft, in der Gegenwart auch in Gestalt der Auseinandersetzung zwischen einer rationalitäts- und objektivitätskritischen Postmoderne und ihren universalistischen und objektivistischen Opponenten, muss uns zu denken geben. Es ist schwer vorstellbar, dass ein solcher Gegensatz lediglich Folge eines Irrtums ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass auf beiden Seiten gute Gründe zur Geltung gebracht werden, die dieses Schisma prolongieren und vertiefen. Bevor wir das systematisch zu klären suchen, möchte ich kurz auf zwei zeitgenössische Philosophen eingehen, die Wichtiges zu dieser Thematik beigetragen haben. Der eine ist Hilary Putnam, der in einer irritierenden Wandlungsfähigkeit, aber immer mit starken Argumenten unterschiedliche Positionen zur Realismus-Problematik im Laufe seines Lebens eingenommen hat und dessen – in meinen Augen gescheiterte – Konzeption des internen Realismus Elemente enthält, die auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie zur Rechtfertigung einer irrigen These gebraucht werden. Der andere ist ein Vorgänger im Amt des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, nämlich Herbert Schnädelbach, der einen objektivistischen Standpunkt gegen die Historisierung der Vernunft verteidigt. Ich hebe diese beiden Philosophen aus einer unübersehbaren Vielfalt von Stellungnahmen hervor, weil jeder von ihnen eine besondere Begabung hat, kritisch und undogmatisch, vor allem völlig unbeeindruckt von ›Schul-Zugehörigkeiten‹ zu argumentieren. Beide überwinden souverän ideologische Mauern, die es auch in der Philosophie – jedenfalls für eine lange Zeit – gegeben hat: Der Analytiker Hilary Putnam geht mit großem Interesse und Respekt auf die kontinentale, speziell die klassisch deutsche philosophische Tradition ein und der von Kant und Hegel, aber auch der Kritischen Theorie geprägte Herbert Schnädelbach berücksichtigt Argumente aus der analytischen Philosophie. Beide, Putnam wie Schnädelbach, befassen sich mit dem Verhältnis von Vernunft und Geschichte.6 Putnam stellt die objektiven und die subjektiven Auffassungen von Vernunft einander gegenüber, kritisiert den »metaphysischen Realismus« als einen überzogenen Objektivismus und die Postmoderne als einen überzogenen Subjektivismus und bietet seine Konzeption eines »internen Realismus« als Lösung an. Dreh- und Angelpunkt der Putnamschen Argumentation ist das berühmte Gedankenexperiment der Gehirne im Tank. Vgl. Peter Singer: Practical Ethics, Cambridge 2011. Vgl. Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge 1981. 6 Vgl. Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M. 1990 (Erstausgabe: Reason, Truth and History, Cambridge 1989); Herbert Schnädelbach: Vernunft und Geschichte, Frankfurt/M. 1987. 4 5

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Metaphysische Realisten, wie sie von Putnam charakterisiert werden, sind davon überzeugt, dass es de facto sein kann (wie unwahrscheinlich auch immer), dass wir Gehirne im Tank sind, deren Sinneswahrnehmungen und Weltbilder von Reizungen des in einer Flüssigkeit schwimmenden neurophysiologischen Systems ausgelöst werden, während die Kritiker des metaphysischen Realismus dies als unmöglich erachten, da wir uns damit (als Gehirne im Tank) nicht auf die Welt, sondern in Wirklichkeit auf etwas anderes, nämlich auf diese Reizungen (mit unseren Wahrnehmungen und Begriffen) bezögen. Die These Putnams lautet, selbst wenn wir Gehirne in einem Tank wären, könnten wir jedenfalls nicht sagen oder denken, dass wir es sind. Ähnlich wie die Äußerung »Ich existiere nicht« selbst-widerlegend ist, weil man seiner eigenen Existenz gewiss ist, wenn man über sie nachdenkt (das kartesische Argument zur Überwindung der Skepsis), so gilt, dass wenn Gehirne überlegen können, ob sie Gehirne im Tank sind, sie dann keine Gehirne im Tank sind, weil Gehirne im Tank gar nicht denken können, dass sie Gehirne im Tank sind. Der metaphysische Realist, wie ihn Putnam charakterisiert, wird jedoch ungerührt entgegnen: Logisch und physikalisch sei es möglich, dass wir Gehirne im Tank sind, das genüge. Putnam bestreitet, dass sich diese realistische Position überhaupt kohärent einnehmen lässt. Ausgehend von diesem Lackmustest entwickelt Putnam im Weiteren eine Vielzahl von Argumenten, die die anti-realistische Ausgangsthese aufrechterhalten, aber die relativistischen Konsequenzen zu vermeiden suchen. Wahrheit wird schließlich mit idealer Rechtfertigbarkeit identifiziert und damit versucht Putnam in dieser Phase seines Nachdenkens über den Realismus den postmodernen Fallstricken des Antirealismus, wie er es vor allem in Richard Rorty exemplifiziert sieht, zu entgehen7. Herbert Schnädelbachs befasst sich mit dem Grundproblem, dass wir uns »zugleich als vernünftige und als historische Wesen verstehen müssen«,8 und versucht den klassischen Gegensatz von Vernunft und Geschichte, zwischen Allgemeinem und Partikularem, zwischen Ewigem und Vergänglichem, zwischen Notwendigem und Zufälligem aufzulösen. Er verteidigt eine im Ganzen objektivistische Erkenntnistheorie gegen die historistische (Selbst-)Interpretation der Vernunft. Schnädelbachs Überlegungen münden in die These, dass eine zeitgemäße Philosophie nur als Theorie der Rationalität auftreten kann.9 In der Tat spricht vieles dafür, die zeitgenössische Residualwissenschaft Philosophie, aus der all diejenigen Bereiche ausgewandert sind, die sich zu methoden- und paradigmengeleiteten natur-, geistes- oder sozialwissenschaftlichen Einzeldisziplinen verselbstständigt haben, als Theorie der Rationalität, der praktischen, wie der theoretischen, zu verstehen. Was bei Schnädelbach als Auseinandersetzung mit dem Historismus auftritt, ist bei Putnam die Auflehnung gegen die postmodernen Implikationen des Anti-Realismus. Schnädelbach formuliert die historistische Herausforderung folgendermaßen:

7 Vgl. Robert Brandom: Rorty and His Critics, Malden/MA u. a. 2000; Richard Rorty: »Hilary Putnam and the Relativist Menace«, in: ders.: Truth and Progress. Philosophical Papers. Vol.3, New York 1998, S. 43–62. 8 Vgl. Schnädelbach: Vernunft und Geschichte, S. 7. 9 Vgl. Herbert Schnädelbach (Hg.): Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 1984, insbes. S. 8–14.

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»Was wir für unsere Vernunft halten, hat es nicht immer gegeben; unser individuelles und kollektives Vermögen vernünftig zu denken und zu handeln, ist offenbar entstanden, und es hat sich verändert – […] – als Entstandene und sich Wandelnde hat die Vernunft eine Geschichte«.10 Andererseits könne man die Geschichte »nicht bloß als das ›ganz Andere‹ der Vernunft ansehen. Wäre das Geschichtliche nur ein struktur- und sinnloses Chaos, bliebe es unserer Vernunft unzugänglich, denn es gäbe da nichts zu verstehen und zu erklären«11. Wer von Geschichte rede, setze Vernunft voraus, meint Schnädelbach. Ich kann mir diesen Geschichtsoptimismus nicht zu eigen machen und sehe auch den systematischen Zusammenhang anders, aber damit ist eine Herausforderung formuliert, die ich als Spannungsverhältnis zwischen der Objektivität der Wahrheit (und insofern des Wissens) und der Partikularität der Begründung (theoretischer, wie praktischer Vernunft) nun näher analysieren werde.

II. Der systematische Kern des Schismas Unser Wissensbegriff, so wie wir im Alltag von »Wissen« sprechen, ist zweifellos objektivistisch. Nehmen wir an, die Menschen im Mittelalter hatten gute Gründe für die Überzeugung, dass sich die Sonne und die übrigen Gestirne um die Erde drehen. Diese Überzeugung war nicht Ausdruck einer Irrationalität, sondern angesichts der gegebenen Daten und des Augenscheins wohlbegründet. Die Tatsache, dass die astronomischen Beschreibungen der Bahnen von Planeten auf der Basis dieser Überzeugung mit zunehmender Genauigkeit ziemlich kompliziert wurden, spricht zunächst nicht dagegen, dass diese Überzeugung wohlbegründet war: Die Menschen hatten guten Grund anzunehmen, dass sich die Sonne und die anderen Himmelskörper um die Erde drehen. In dem Moment, in dem eine alternative Theorie und eine auf diese gestützte weit einfachere Beschreibung der Planetenbewegungen möglich waren, wurde die Wohlbegründetheit des geozentrischen Weltbildes fragwürdig. Galileo Galilei jedenfalls war überzeugt, die besseren Argumente zu haben und selbst sein intellektuell ebenbürtiger Widerpart Kardinal Bellarmin war sich nicht sicher, ob die Argumente von Galileo Galilei nicht möglicherweise die besseren seien und zog sich daher auf pragmatische Gegengründe zurück: Kann Galilei wirklich verantworten, dass die Autorität des Klerus, ja die der Heiligen Schrift durch eine solche theoretische Revolution in Mitleidenschaft gezogen wird, mit all den Unruhen und Verwerfungen, die das vermutlich zur Folge haben könnte?12 Die galileische Sicht jedenfalls setzt sich durch, die von einer grausigen Blutspur begleiteten Rückzugsgefechte der Kirche konnten der Wirkung des besseren Argumentes nicht mehr trotzen. Seitdem Vgl. Schnädelbach: Vernunft und Geschichte, S. 9. Ebd. 12 Der anarchistische Erkenntnistheoretiker Paul Feyerabend zeigte in Against Method charakteristischerweise Sympathie für die Argumentation von Kardinal Bellarmin. 10 11

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sind die allermeisten Menschen davon überzeugt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.13 Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen »Weltbild«, wie es gerne genannt wird, ist in der Tat eine epistemische Revolution, aber eine solche, die unsere Alltagserfahrungen und unsere Alltagspraxis fast vollständig unberührt lässt. Es ändert nicht unser Weltbild als Ganzes, sondern einen eher marginaler Teil, der die Interpretation der Himmelserscheinungen angeht, d. h. genauer die erklärende Theorie der Himmelserscheinungen. Man könnte auch ohne eine solche erklärende Theorie gut leben, sie ist lebensweltlich zunächst so gut wie irrelevant, sie erhält ihr pragmatisches Gewicht dadurch, dass eine machtvolle Institution, nämlich die damalige christliche Kirche, ihre Autorität unter anderem auch an die Aufrechterhaltung der geozentrischen Interpretation der Himmelserscheinungen knüpfte. Der Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen »Weltbild« war keine grundstürzende epistemische Revolution, sie wurde zu einer kulturellen und schließlich auch politischen dadurch, dass diese hochtheoretische Auseinandersetzung mit klerikalen versus wissenschaftlichen Autoritätsansprüchen aufgeladen wurde. Man geht vermutlich nicht zu weit, wenn man den Sieg der wissenschaftlichen Argumente über die klerikalen als wichtiges Vorspiel der Aufklärung und dann der Europäischen Moderne interpretiert. Wir haben heute, nach rund einem halben Jahrtausend, sehr gute Gründe die heliozentrische Interpretation der Himmelserscheinungen für die richtige und die geozentrische für die falsche zu halten. Wir glauben zu wissen, dass die heliozentrische Interpretation die zutreffende und die geozentrische die unzutreffende ist. Niemand wird sagen, dass der Kleriker des 13. Jahrhunderts wusste, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Wir werden sagen, dass er davon überzeugt war, oder dass er meinte oder glaubte, aber auf keinen Fall, dass er das wusste. Warum? Wir können das deswegen nicht sagen, weil wir überzeugt sind, dass sich die geozentrische Interpretation als falsch herausgestellt hat. Eine falsche Überzeugung ist aber kein Wissen. Unser alltäglicher Wissensbegriff ist zweifellos objektivistisch: Er schließt falsche Überzeugungen, wie gut auch immer sie begründet sein mögen, als Wissen aus. Im Theaitetos-Dialog hatte der platonische Sokrates Wissen als wohlbegründete wahre Meinung charakterisiert und alle subjektivistischen Konkurrenten, deren wichtigste Vertreter im Dialog auftauchen und die uns durchaus aus marxistischen und poststrukturalistischen Kontexten vertraut sind, widerlegt. Der ausführliche Dialog endet mit der kryptischen Feststellung, dass man mit dem Ergebnis noch nicht wirklich zufrieden sein könne und Platon-Verehrer werden vermuten, dass er das, was Edmund Gettier rund 2500 später in einem kurzen Artikel Is Justified True Belief Knowledge?14 ausführte, schon wusste oder ahnte, nämlich dass diese beiden Bedingungen – erstens die Wahrheit der Überzeugung und zweitens ihre Wohlbegründetheit – noch nicht ausreichen, dass vielmehr ein geeigneter Zusammenhang zwischen der betreffenden Tatsache und der BeTatsächlich drehen sich Sonne und Erde um ihren gemeinsamen Schwerpunkt, der aber wegen des gewaltigen Größenunterschieds nahe am Mittelpunkt der Sonne ist. 14 Edmund Gettier: »Is Justified True Belief Knowledge?«, in: Analysis 23 (1963), S. 121–123. 13

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gründung bestehen muss, um von ›Wissen‹ sprechen zu können. Diese Gettier-Herausforderung ist, obwohl unterdessen ein halbes Jahrhundert alt, bis heute nicht wirklich bewältigt. Eine kausale Theorie der Erkenntnis kann nicht die adäquate Antwort auf diese Herausforderung sein, weil es Gründe sind, die unser Wissen konstitutieren und Gründe keine Ursachen im naturwissenschaftlichen Sinne sein können.15 An der Verbindung von Wahrheit und Begründung nimmt mein Argument zur Überwindung des Schismas seinen Ausgangspunkt: Wahrheit lässt sich nicht anders als objektivistisch verstehen, während die Wohlbegründetheit auf die jeweiligen epistemischen Bedingungen der Begründung bezogen bleibt. Die geozentrische Interpretation war im 12. Jahrhundert wohlbegründet aber falsch, daher glaubten die Menschen zu wissen, dass sie in einer geozentrischen Welt lebten. Da sie sich aber geirrt haben, war dies eine irrtümliche Überzeugung, sie wussten es nicht, sondern sie meinten es, allerdings mit guten Gründen. Alternativ können wir auch sagen: Die geozentrische Überzeugung war rational, aber falsch. Nicht jede irrtümliche Überzeugung ist irrational. Rationale Überzeugungen sind nicht notwendigerweise Wissen. Friedrich Nietzsche irrt, wenn er Wissen definiert als das, was jeweils für wahr gehalten wird. Hier fehlen beide Bedingungen, erstens die der Wahrheit und zweitens die der Wohlbegründetheit. Vieles wird für wahr gehalten, was nicht wahr und zudem noch nicht einmal wohlbegründet ist. Es gibt nicht nur Schwarmintelligenz, für deren Beleg gerne und oft zutreffend die Internet-Enzyklopädie Wikipedia angeführt wird, sondern auch Schwarm-Idiotie, wie die Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, die antikommunistische Paranoia in den USA während der McCarthy-Ära und die aktuelle polemische Aufrüstung auf beiden Seiten angesichts des Ukraine-Konfliktes belegen, um dramatischere Beispiele aus der jüngeren deutschen Geschichte auszuklammern. Auch wenn alle etwas für wahr halten und gute Gründe für diese Überzeugung sprechen, handelt es sich noch nicht um Wissen, weil Wahrheit objektiv ist. Man beachte den Unterschied zwischen Begründung und Wahrheit: Die Begründung für eine geozentrische Interpretation der Himmelserscheinungen im 12. Jahrhundert kann damals eine gute Begründung gewesen sein, trotz der Irrtümlichkeit der geozentrischen Interpretation und diese Eigenschaft verliert die Begründung nicht dadurch, dass sich die begründete Überzeugung als falsch herausgestellt hat. Die Irrtümlichkeit einer Überzeugung mag ein Indiz dafür sein, dass die vorgebrachte Begründung für diese Überzeugung keine gute Begründung war, aber es gibt keinen zwingenden Zusammenhang dieser Art: Auch irrtümliche Überzeugungen können wohlbegründet sein. Das, was für Wissen gehalten wurde (die geozentrische Interpretation), hat sich als falsch herausgestellt, war also auch damals kein Wissen, während die – wie wir annehmen wollen – gute Begründung für die geozentrische Interpretation davon nicht tangiert ist. Diese Begründung wird nicht dadurch irrational, dass sich die geozentrische Interpretation als Diese Teilproblematik kann ich hier aussparen, weil ich andernorts darauf eingegangen bin: In dem Aufsatz Reasons Against Naturalizing Epistemic Reasons: Normativity, Objectivity, Non-computability, im ersten Kapitel von Über menschliche Freiheit, und in meinen Repliken auf naturalistische Einwände in Dieter Sturmas Vernunft und Freiheit. 15

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falsch herausgestellt hat. Die Kosmologien des 13. Jahrhunderts können perfekt rational gewesen sein, selbst perfekte epistemische Rationalität garantiert keine Wahrheit und daher kein Wissen – nicht nur Nietzsche irrt, sondern auch Putnam. Diese Asymmetrie zwischen Wahrheit und Begründung sollten wir als Stoppschild für alle epistemischen Wahrheitsdefinitionen verstehen. Diese sind allesamt inadäquat, auch dann, wenn der objektivistische Charakter des Wahrheitsbegriffes (und in dieser Hinsicht des Wissensbegriffes) durch die Idealität einer Rechtfertigung, durch ideale Rechtfertigbarkeit zu berücksichtigen versucht wird. Jürgen Habermas wie Hilary Putnam verstehen sich als Kognitivisten und grenzen sich insofern scharf von postmodernen und neo-pragmatistischen Erkenntnistheorien ab. Zugleich aber sind sie Antirealisten (bei Habermas gilt dies nur noch für die Interpretation praktischer Diskurse, während die theoretischen und speziell die naturwissenschaftlichen von Habermas seit den 90er Jahren realistisch interpretiert werden und er damit von seiner ursprünglichen Konsensus-Theorie der Wahrheit für diesen Bereich abrückt16): Sie versuchen die Objektivität des Wissens über die Idealität der Begründung zu erfassen. Für beide geht Wahrheit in Begründetheit auf, beide hängen einem epistemischen Wahrheitsbegriff an. Mir scheint es offenkundig zu sein, dass es sich hier impliziter um eine Petitio handelt: Wenn man einer realistischen Interpretation begründender Diskurse anhängt, liegt es nahe, anzunehmen (besser sollte man sagen: »zu hoffen«), dass wir uns durch den Austausch von Gründen in der Regel der Wahrheit annähern. Aber man darf diesen epistemischen Optimismus nicht zu einer Wahrheitsdefinition überhöhen, wonach ideale Begründung Wahrheit konstituiert, wonach Wahrheit nichts anderes sei, als ideale Begründetheit, wonach es analytisch wäre, dass nur solche Überzeugungen (Hypothesen, Theorien, etc.) in idealer Weise gerechtfertigt werden können, die tatsächlich wahr sind. Es mag ja sein, dass es sich so verhält, aber dann würde es sich um eine, überaus erfreuliche, wenn auch höchst unwahrscheinliche kontingente Tatsache handeln, und nicht um eine begriffliche Wahrheit. Ein Realist könnte sogar – unvernünftigerweise – postulieren, dass ideale Begründungen eben solche sind, die ausschließlich wahre Überzeugungen rechtfertigen, aber damit würde der (ideale) Begründungsbegriff über einen nicht-epistemischen, eben realistischen Wahrheitsbegriff expliziert und nicht umgekehrt! Wir sollten die beiden Kriterien von Wissen – Wahrheit und Begründetheit – nicht miteinander vermengen, weder indem wir Wahrheit in Begründetheit aufgehen lassen, wie epistemische Wahrheitsdefinitionen ganz unterschiedlicher Typen, von postmodernen, relativistischen, subjektivistischen bis hin zu internalistischen und kognitivistischen, noch sollten wir Begründung begrifflich an Wahrheit binden. Das Schisma lässt sich nicht in Gestalt einer Fusion von Wahrheit und Begründung beheben.

Vgl. seine Aufsätze in Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999, sowie: Jürgen Habermas, »Wahrheitstheorien«, in: Helmut Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion, Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Schulz, Pfullingen 1973, S. 211–265. 16

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III. Überwindung des Schismas Das Schisma lässt sich überwinden, wenn wir eine konsequent epistemische Perspektive einnehmen. Ich spreche hier nicht von einer »epistemologischen« oder »erkenntnistheoretischen« Perspektive, sondern von einer »epistemischen«. Begründungen sind erforderlich, um (epistemische) Unsicherheiten zu beheben oder wenigstens zu mildern. Wir wollen wissen, ob p oder non p, sind uns aber nicht gewiss, ob p oder non p (p sei eine beliebige Proposition). Eine soziologische Proposition wäre z. B. die Fragestellung, ob die Zahl der Kinder pro Frau bei steigender Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit sinkt oder nicht (in Europa scheint sie zu steigen, in Indien zu sinken). Oder, ob ein Steuersystem mit proportionaler, nicht progressiver Besteuerung gerecht ist oder nicht. Begründungen beziehen sich auf empirische, hier sozialwissenschaftliche, Tatsachen oder auf evaluative, hier die Gerechtigkeit eines Steuersystems. »Hat Fritz wirklich die Absicht zu kommen oder tut er nur so?« bezieht sich auf einen intentionalen Sachverhalt. »Ist dies der passende Schlüssel für die Schlafzimmertür?« bezieht sich auf einen lebensweltlichen empirischen Sachverhalt. »Soll ich mein Versprechen, das ich ihr gegeben habe, halten, obwohl sie mich zuletzt schwer gekränkt hat?« bezieht sich auf einen lebensweltlichen normativen Sachverhalt. Gelungene Begründungen beheben Zweifel oder mildern sie. Im dialogischen Fall differieren die Ungewissheiten, die einen Begründungsbedarf auslösen: Die eine Person findet etwas zweifelhaft, was eine andere Person nicht für zweifelhaft hält. Oder sie differieren im Grade der epistemischen Unsicherheit, des Zweifels. Die eine hält dies für hochgradig gewiss, die andere hat gewisse Zweifel, ist aber immer noch eher geneigt anzunehmen, dass die Proposition zutrifft, als dass sie es nicht tut. Im dialogischen Fall ist eine gelungene Begründung dadurch charakterisiert, dass gemeinsame, von den beiden Beteiligten nicht bezweifelte Propositionen herangezogen werden, um die epistemische Differenz bezüglich der infrage stehenden Propositionen zu beheben. Neben den von den beiden Beteiligten nicht bezweifelten Propositionen, die für das begründende Argument herangezogen werden, spielen das geteilte Hintergrundwissen und die geteilte inferentielle Praxis eine konstitutive Rolle für gelungene Begründungen: Dies macht gelungene Begründungen aus, dass sie am Ende eine epistemische Differenz beheben – ausgehend von gemeinsamem Hintergrundwissen (geteilten propositionalen Einstellungen) und einer geteilten inferentiellen Praxis17. Begründungen sind erfolgreich vor einem geteilten Hintergrund, zu dem nicht nur empirische, sondern auch mentale, speziell intentionale, evaluative und normative, sowie inferentielle Elemente gehören. Unterdessen ist eine eigene Disziplin entstanden, rational belief dynamics, die rationale Überzeugungsänderungen mit den Methoden der Entscheidungs- und Wahrscheinlichkeitsheorie expliziert. Bis heute dominiert in den Analysen das AGM-Modell, das auf ein gemeinsames Paper von Alchourrón, Gärdenfors, und Makinson zurückgeht (Carlos Alchourrón / Peter Gärdenfors / David Makinson: »On the Logic of Theory Change«, in: Journal of Symbolic Logic 50 (1985), S. 510-530). Auch deutsche Autoren haben zu diesem Zweig interdisziplinärer Epistemologie (Computerwissenschaft, Philosophie, Entscheidungstheorie, Mathematik und Logik) wichtige Beiträge geleistet, u. a. Wolfgang Spohn: The Laws of Belief, Oxford 2012; Luc Bovens / Stephan Hartmann: Bayesian Epistemology, Oxford 2003. 17

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Bis hierhin scheinen wir uns mit Trivialitäten aufzuhalten. Aber Vorsicht: Je weiter sich die Philosophie von diesen Trivialitäten entfernt, in umso gefährlicheres Fahrwasser gerät sie. Die Geschichte des philosophischen Denkens ist voll von Beispielen der Erörterung von Fragestellungen, die sich nicht erörtern lassen, weil sie das infrage stellen, was Voraussetzung vernünftiger Begründung ist. Der schon erwähnte Descartes ist das vielleicht berühmteste Beispiel: Wer vom lebensweltlichen Erfahrungshintergrund in toto zu abstrahieren sucht, verliert jede Basis erfolgreicher Begründung, er nimmt – und sei es nur als philosophisches Experiment, das seit Descartes als »methodischer Zweifel« bezeichnet wird – den Zusammenbruch des epistemischen Systems als Ganzem in Kauf. Wenn er dann verzweifelt versucht diesen Zusammenbruch zu verhindern, hält er sich an dem einen oder anderen, vermeintlich noch nicht kollabierten Element des epistemischen Systems fest und hofft, mit diesem allein die Stabilität aufrecht zu erhalten oder wiederherzustellen. Das muss scheitern. Manchmal sieht man es sofort, meist erst nach genauerer Analyse (Richard Hares Ethik ist dafür ein zeitgenössisches Beispiel).18 Wenn ich für eine konsequent epistemische Perspektive plädiere, dann ist gerade dieses damit gemeint: Mit dem Kontext, in dem alles Begründen stattfindet, sorgsam umzugehen, keiner philosophischen Hybris zu verfallen. Um etwas bezweifeln zu können, muss es sehr viel Unbezweifeltes geben. Wenn wir Zweifel beheben wollen, können wir nicht aussteigen aus dem Kontext des Unbezweifelten. Die konsequent epistemische Perspektive bleibt immer innerhalb unserer geteilten Erfahrungswelt. Die begriffliche Relativität unserer Erfahrungswelt rechtfertigt keinen Anti-Realismus, wie Goodman oder Putnam meinen. Aber während Goodman, Putnam, auch Habermas den Kognitivismus über ideale Rechtfertigbarkeit zu retten suchen, kapituliert das, was jenseits des Atlantiks irreführend als continental philosophy bezeichnet wird, marxistisch oder strukturalistisch inspiriert vor dieser (kulturell verfassten) Begriffsrelativität und verabschiedet sich in Gestalt der Logozentrismuskritik von theoretischer und praktischer Vernunft. Die konsequent epistemische Perspektive erlaubt nicht die Neukonstruktion des inferentiellen Rahmens unserer Lebensform. Wir können nicht postulieren, wie jeweils Gründe vorzubringen sind, weil wir schon immer Teil dieses Spiels des Gründe Gebens und Nehmens sind. Der gesamte Kulturalisations- und Sozialisationsprozess ist auf diese Fähigkeit der Deliberation abgestellt. Wir werden nicht zu bestimmten Praktiken abgerichtet, sondern zu einer deliberativen Praxis befähigt, die unser Handeln und Urteilen leitet. Menschliche Freiheit ist nichts anderes als das: Sich im Handeln, Urteilen, aber auch in emotiven Einstellungen von Gründen leiten zu lassen.19 Verantwortliche, humane Bildung richtet nicht ab, sondern befähigt zur Autorschaft des eigenen Lebens. Diese Autorschaft besteht aber nicht darin alles neu zu konstruieren, sondern im Rahmen einer geteilten Praxis des Gründe Gebens und Nehmens ein Leben 18 Vgl. die Beiträge von Franz von Kutschera und mir in: Christoph Fehige / Georg Meggle (Hg.): Moralisches Denken, Frankfurt/M. 1995. 19 Einige Aspekte dieser Konzeption einer über das Wirken von Gründen vermittelten Freiheit habe ich in dem Reclam-Bändchen Über menschliche Freiheit (2005) erörtert, vgl. dazu die kritische Diskussion in Dieter Sturma (Hg.): Vernunft und Freiheit. Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, Berlin 2012.

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zu gestalten.20 Wir können weder individuell noch kollektiv diese Welt der Gründe21 neu erfinden, nachdem wir die alte vernichtet haben. Das war zu allen Zeiten immer nur eine philosophische Spielerei und seriöse Philosophie sollte sich solcher Spielereien enthalten. »Der vernünftige Mensch hat bestimmte Zweifel nicht«, so Wittgenstein in Über Gewißheit. Der philosophische Zweifel, der über das, was sich vernünftigerweise bezweifeln lässt, hinausgeht, ist unseriös, eine intellektuelle Spielerei, die, wenn ernst genommen, zerstörerische Folgen für die theoretische und die praktische Vernunft hat. Rationalismus und (globale) Skepsis sind Zwillingsbrüder im Geiste. Die zeitgenössische postmoderne Skepsis und der frühneuzeitliche Rationalismus sind zwei unterschiedliche philosophische Haltungen, die aber eines gemeinsam haben: die Aufgabe der epistemischen Perspektive. Im einen Fall wird Wissen über vermeintlich unbezweifelbare Deduktionen aus unbezweifelbaren Axiomen gesichert und im anderen wird Wissen in seinen beiden Elementen – Übereinstimmung mit den Tatsachen und Wohlbegründetheit – aufgegeben. Eine konsequent epistemische Perspektive beinhaltet – manche mögen das als paradox empfinden – einen robusten, unaufgeregten Realismus. Wir begründen Überzeugungen, dass etwas tatsächlich der Fall ist, wobei sich der Inhalt unserer Überzeugungen auf die Welt bezieht (auf die Welt im weitesten Sinne, nicht lediglich auf die physische Welt). Es geht uns also nicht lediglich um Mitteilungen (Deskriptionen) oder Ausdrücke (Expressionen) eigener subjektiver Zustände, es geht uns (im Regelfall) nicht darum herauszufinden, was in unserer Kultur geglaubt wird, oder von idealen Personen in einer idealen Diskurssituation geglaubt würde, sondern darum, was tatsächlich der Fall ist, wie es sich verhält, welche empirischen oder normativen Sachverhalte tatsächlich bestehen. Wir begründen propositionale und nicht propositionale Einstellungen: empirische, normative oder evaluative Überzeugungen, Handlungen, Praktiken und Institutionen, aber auch emotive Einstellungen nicht propositionaler Art. Der Inhalt unserer Überzeugungen tritt erst als Wissens- oder Geltungsanspruch in die Welt der Gründe ein. Aber der Inhalt selbst ist nicht epistemisch. Wir führen Gründe an für die Überzeugung, dass sich das Universum ausdehnt, wir rechtfertigen die Überzeugung (oder auch die hohe epistemische Wahrscheinlichkeit, die wir diesem Sachverhalt beimessen), aber der Sachverhalt selbst ist objektiv, nicht subjektiv, Teil der Welt, nicht Teil eines epistemischen Systems. Diese Gründe haben nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Rolle, sie verändern nicht nur unsere epistemischen Einstellungen, sondern auch unsere Praxis, sie motivieren uns, Gründe sprechen für Überzeugungen und Handlungen (u. a.), Gründe sind immer zugleich normativ und inferentiell. Gründe stiften einen Zusammenhang zwischen Tatsachen (von denen wir überzeugt sind) und Vermutungen, dass etwas der Fall ist oder der Fall sein wird (theoretische, empirische, deskriptive Gründe) oder zwischen Tatsachen und Handlungen (normative Gründe), zwischen Tatsachen und Bewertungen (evaluative Gründe), zwischen Tatsachen und Emotionen (emotive Gründe). Diese Ka20

Zu dieser Konzeption vgl. meinen kleinen Traktat Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg

2013. Ich hatte den vorausgegangenen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie unter diesen Titel gestellt, die Proceedings sind eine Fundgrube philosophischer Analysen dieser Welt der Gründe (Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Hamburg 2012). 21

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tegorien von Gründen dürfen aber die Doppelrolle von Gründen als inferentielle und normative in allen Kategorien nicht verdecken. Auch ein physikalisches Argument für die Falschheit einer Hypothese hat eine normative Rolle: Zum Beispiel spricht es dafür, diese Hypothese fallen zu lassen, sie in begründenden Argumenten nicht mehr anzuführen oder vorauszusetzen, eine Theorie, die ohne diese Hypothese nicht aufrecht zu erhalten ist, aufzugeben, nicht so zu tun, als habe man keinen Grund, diese Hypothese zurückzuweisen usw. Gründe sind keine Tatsachen (wie Scanlon meint)22, sondern Relationen zwischen Tatsachen und dem zu Begründenden. Begründungen haben eine inferentielle, logische Struktur, Gründe sind immer in ein System von Gründen eingebettet, die in Gestalt verbal vorgebrachter Begründungen nur in winzigen Ausschnitten explizit werden. Deskriptive, normative, evaluative und emotive Gründe spannen ein Netz auf, in dem Deliberation stattfindet. Dieses Netz wird modifiziert, verbessert, einzelne Gründe werden fallen gelassen, andere treten hinzu, strukturelle Merkmale dieses Netzes in Gestalt bestimmter inferentieller Invarianzen werden modifiziert, übermäßige Spannungen durch neue Verknüpfungen gemildert, aber all das findet statt, ohne dass wir dieses Netz verlassen können. Wir bewegen uns, auch wenn wir Teile dieses Netzes verändern, immer innerhalb dieses Netzes, wir sind auf dieses angewiesen, wenn wir nicht abstürzen wollen. Es gibt keinen externen, erkenntnistheoretischen oder epistemologischen Standpunkt, von dem aus dieses Netz ab ovo neu geknüpft werden könnte, insofern kann auch das faszinierende Projekt der Erlanger Schule, einer konsequenten Rationalisierung durch Neukonstruktion,23 als gescheitert gelten. Was immer der Gegenstand dieser Neukonstruktion ist, welche Teile dieses Netzes auch immer neu aufgebaut werden sollen, sie findet immer innerhalb des großen Gesamtnetzes einer durch Gründe gestifteten diskursiven Lebensform statt, sie bleibt, ob dies den Konstrukteuren nun bewusst ist oder nicht, immer lebensweltlich eingebettet, oder wird irrational. Die Voraussetzungen, die an den einzelnen Stellen einer Argumentation gemacht werden, beziehen sich auf eine unübersehbare Vielzahl von Netzelementen und strukturellen Merkmalen des Gesamtnetzes, auf konkrete Überzeugungen, Inferenzen und Invarianzen. Nicht nur die konkreten Einzelteile, sondern auch die strukturellen Merkmale sind fallibel, sie können unter bestimmten Bedingungen infrage gestellt werden. Die Invarianzen der Anschauungsformen von Raum und Zeit, von denen Kant spricht, sind durch die moderne Physik infrage gestellt worden, ohne dass dies unser lebensweltliches Wissen in irgendeiner Weise tangiert hätte. Es gibt kein synthetisches Apriori, sondern nur graduelle Unterschiede der epistemischen Erschütterbarkeit. Manches lässt sich erst infrage stellen, wenn sehr vieles andere schon infrage gestellt worden ist, auch dafür ist die Entwicklung der modernen Physik ein Beispiel. Aber die Revolutionen in den Einzelwissenschaften finden an der Peripherie unserer geteilten Lebensform statt, im Zentrum gibt es keine epistemischen Revolutionen. Dort kann Thomas Scanlon: Being Realistic About Reasons, Oxford 2014. Paul Lorenzen: »Diesseits von Idealismus und Realismus«, in: Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt/M. 1992, S. 207–217; Gernot Böhme: (Hg.): Protophysik – Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, Frankfurt/M. 1976. 22 23

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es auch deswegen stürmischer zugehen, weil weit weniger auf dem Spiel steht. Der Szientismus möchte die Peripherie zum Zentrum machen und muss damit scheitern. Der robuste Realismus unserer Lebenswelt ist deswegen unaufgeregt, weil es keiner weiteren Interpretation bedarf, die Gewisses noch gewisser machen könnte. Selbstverständlich gibt es die mittelgroßen physischen Gegenstände unserer Lebenswelt völlig unabhängig von der Art und Weise, in der sie beschrieben werden. Selbstverständlich ist die Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer Hautfarbe unzulässig. Selbstverständlich ist die gezielte existenzielle Beschädigung der Selbstachtung (die Verletzung der menschlichen Würde) einer Person inhuman. Selbstverständlich ist Hass auf eine Person, die nichts Unrechtes getan hat, irrational. Die Tatsache, dass unterschiedliche Begriffssysteme unterschiedliche Individuierungen vornehmen, kann diese Form eines umfassenden lebensweltlichen Realismus nicht erschüttern. In der Peripherie dünnt der Realismus aus, auch hierfür bietet die moderne Physik beeindruckendes Anschauungsmaterial. Aber interessanterweise kann die physikalische Beschreibung des Mikrokosmos an der lebensweltlichen, empirischen Erfahrung nichts verändern. Jedenfalls hat die moderne Physik daran nichts geändert Warum sollte sich dies für die mentalen Gegenstände unserer Lebenswelt anders darstellen? Dass wir selbst und andere Menschen Wahrnehmungen, Empfindungen, Intentionen, propositionale und nicht propositionale Einstellungen, Wünsche, Überzeugungen und Erwartungen haben (Erwartungen in der schönen Doppelbedeutung von empirisch und normativ), dass also all die Gegenstände der von Szientisten gerne abgewerteten folk psychology real sind, kann nicht ernsthaft bezweifelt werden. Der robuste Realismus unserer Lebenswelt umfasst physische, wie mentale Entitäten. Und so wie die Physik sich an der lebensweltlichen Empirie physischer Entitäten bewähren muss, so muss sich die Psychologie an der lebensweltlichen Realität mentaler Phänomene bewähren. Nicht die Physik beweist die Existenz oder Nicht-Existenz der physischen Gegenstände unserer Lebenswelt, sondern sie muss mit diesen kompatibel sein. Nicht die Psychologie erweist die Existenz oder Nicht-Existenz mentaler Zustände unserer Lebenswelt, sondern sie muss mit diesen kompatibel sein. Da das epistemische System ein Ganzes ist mit fließenden Übergängen und graduellen Differenzen epistemischer Gewissheiten, Begründungsformen und experimentellen Praktiken, ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass von der Peripherie ein Einfluss auf das Zentrum der geteilten Lebensform ausgeht: Auch die Physik oder die Psychologie können das Netz verändern und auf die Zentralbereiche der lebensweltlichen Praxis des Gründe Gebens und Nehmens einwirken. Der robuste Realismus unserer Lebenswelt ist kein ontologisches Postulat, sondern ein Merkmal des epistemischen Systems, innerhalb dessen wir uns bewegen, bewegen müssen, zu dem es keine Alternative gibt. Die Option auf empirische oder normative Wahrheitsansprüche zu verzichten, gibt es nicht, weil wir das epistemische System der geteilten Lebensform24 nicht verlassen können. Aber auch die Abschwächung über epistemische Definitionen von Wahrheit sind mit einer konsequent epistemischen Perspektive Auf das Verhältnis von Lebenswelt und Lebensform will ich hier nicht weiter eingehen, das habe ich in Philosophie und Lebensform (Kapitel 1) getan. 24

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unvereinbar: Wir bringen Gründe vor, um Überzeugungen zu rechtfertigen: Überzeugungen, dass es sich so und nicht anders verhält, dass diese Handlung geboten ist oder nicht, dass diese emotive Einstellung gerechtfertigt ist oder nicht etc. Wir wollen, indem wir Begründungen vorbringen, nicht die Behauptung aufstellen, dass unter bestimmten Bedingungen alle rationalen Personen zu einer bestimmten Überzeugung kämen (ideale Rechtfertigbarkeit). Wir wollen auch nicht lediglich sagen, dass sich in unserer Kultur Menschen auf dieses oder jenes de facto einigen (Konventionalismus). Wir reden nicht über epistemische Zustände irgendwelcher Art, weder über diejenigen idealer Personen unter idealen Bedingungen, noch über diejenigen realer Personen in spezifischen kulturellen Kontexten, noch gar über eigene epistemische Zustände (Subjektivismus), sondern über reale Sachverhalte empirischer, normativer, evaluativer oder emotiver Art.25 Dieser robuste Realismus ist insofern »unaufgeregt«, als er nicht auf eine ontologische Hypostasierung, eine philosophische Theorie warten muss, um plausibel zu sein.

IV. Ein neues Schisma: das zwischen theoretischer und praktischer Vernunft? Das »neue« (oder Nachfolge-) Schisma, von dem nun die Rede sein soll, prägt die zeitgenössische Philosophie in hohem Maße. Ich illustriere dies, indem ich einige ihrer bedeutendsten Repräsentanten anführe: Jürgen Habermas hat seine konsenstheoretische Konzeption der Wahrheit in den 90er Jahren aufgegeben.26 In den Naturwissenschaften, so der späte Habermas, gehe es nicht darum herauszufinden, was das Ergebnis eines idealen Diskurses sein würde, sondern Sachfragen zu klären, es gehe nicht darum die allgemeine Akzeptabilität von Theorien im Diskurs zu eruieren, sondern naturwissenschaftliche Tatsachen und Regularitäten zu klären, insbesondere Kausalitätsbeziehungen. Theoretische Vernunft bedarf demnach einer realistischen Interpretation der Gegenstände und einer (naturwissenschaftlichen) Rechtfertigung. Anders im Bereich der praktischen Vernunft, im Bereich dessen, was Habermas »Moralität« nennt, also dem Bereich der Rechtfertigung von Normen mit allgemeinem Geltungsanspruch. Hier geht es entsprechend dem diskursethischen Programm um die Klärung der Akzeptabilität gegenüber jeder Person. In einer Diskussion mit Ronald Dworkin zeigte sich, dass der Anti-Realismus im Bereich der praktischen Vernunft für Habermas auch eine politische Dimension hat, nämlich die der kollektiven Autonomie: Die Bürger eines Staates sollten die Möglichkeit haben, die für sie geltenden Normen in

Die Tatsache, dass unter den Sachverhalten, die wir begründen oder bezweifeln, auch epistemische sind, kann den robusten lebensweltlichen Realismus nicht erschüttern. Beispiel: »Stimmt es, dass der Angeklagte davon überzeugt war, dass es zu seiner Handlung keine Alternative gab?« Die Gründe, die dafür und dagegen vorgebracht werden können, beziehen sich auf den realen Sachverhalt War der Angeklagte davon überzeugt, dass es zu seiner Handlung keine Alternative gab. Es wäre ein offenkundiger Denkfehler, diesen Typ Sachverhalt als Argument für epistemische Wahrheitsdefinitionen heranzuziehen. 26 Vgl. Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. 25

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einem öffentlichen und möglichst rationalen Diskurs zu klären und nicht herausfinden, welche wechselseitigen Verpflichtungen sie sich schulden.27 Die erste wichtige Publikation von John Rawls28 entwickelt ein Entscheidungsverfahren für die Ethik, das Parallelitäten zu Rudolf Carnaps Wissenschaftstheorie hat und später zur berühmt gewordenen Theorie des reflective equilibriums, des reflektiven Gleichgewichtes, modifiziert wird. Schon der frühe Rawls ist überzeugt, dass ethische Theorien ganz normale Theorien sind, dass sie sich rechtfertigen lassen, wie andere auch. Auch die Theory of Justice von 1971 wird als ein Zweig der normativen Rationalitätstheorie präsentiert und das Begründungsverfahren unterscheidet sich nicht von dem anderer Theorien generell, wie Rawls betont. Man geht aus von bestimmten Daten, bzw. well-considered moral judgements im Bereich der Ethik, systematisiert diese, modifiziert sie im Prozess ihrer Systematisierung und verändert wiederum das Ergebnis der Systematisierung, um eine möglichst weitgehende Übereinstimmung zwischen well-considered moral judgements und Theorie herzustellen – im Falle der Theorie von John Rawls eine vertragstheoretische Rekonstruktion der Prinzipien einer gerechten Grundstruktur der Gesellschaft. Man geht vor und zurück, von den »Daten« (well-considered moral judgements) zur Theorie und umgekehrt. Die Kohärenz des Ganzen rechtfertigt die Theorie (hier die Prinzipien der Gerechtigkeit), wirkt aber auch auf die well-considered moral judgements zurück: Im Lichte einer systematisierenden Theorie sind wir bereit, sperrige Wahrnehmungsurteile oder sperrige Moralurteile zu revidieren. Daten oder well-considered moral judgements sind nicht einfach das Gegebene und die Theorie das aus ihnen Konstruierte oder durch sie Gerechtfertigte. Das Equilibrium wird in beide Richtungen hergestellt und verlangt in beide Richtungen Modifikationen. Spätestens mit den Dewey Lectures, der Geburtsstunde des sogenannten Kantian Constructivism 1980, treten aber auch bei Rawls theoretische und praktische Vernunft auseinander29: Die Gerechtigkeitstheorie ist nun keine Theorie im Wortsinne mehr, sondern hat eher den Charakter eines Arrangements zum wechselseitigen Vorteil, getragen vom öffentlichen Vernunftgebrauch und einem sich überlappenden Gerechtigkeitssinn über die unterschiedlichen Partialkulturen einer modernen Gesellschaft hinweg. Im Kantian Constructivism von Christine Korsgaard radikalisiert sich dieses Programm: Nun geht es um die Schaffung eines self-images und dann später in einer Wendung zum klassischen Kantianismus um die konstitutiven Bedingungen von agency überhaupt.30 Der Wissenschaftstheoretiker Gilbert Harman kommt zum Ergebnis, dass die Standards naturwissenschaftlicher Rationalität, wie sie für die moderne Physik gelten, in moralischen Alltagsdiskursen nicht erfüllt sind und es daher in der Ethik nicht um ErkenntRonald Dworkin, der als Rechtsphilosoph und politischer Theoretiker nicht weit von Habermas entfernt ist, verbindet seine linksliberalen inhaltlichen Positionen mit einem geradezu vehementen metaethischen Realismus, zuletzt in Justice for Hedgehogs Cambridge/MA 2011. 28 John Rawls: »Outline of a Decision Procedure for Ethics«, in: Samuel Freeman (Hg.): John Rawls. Collected Papers, Cambridge/MA 1999, S. 1–19. 29 John Rawls: »Kantian Constructivism in Moral Theory«, in: Journal of Philosophy 77 (1980), S. 515–557. 30 Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. 27

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nisfragen gehen kann, sondern nur um solche der subjektiven Präferenz. 31 Auch hier treten theoretische und praktische Vernunft auseinander. Bernard Williams, der große Moralist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, skeptisch gegenüber ethischen Theorien, aber überzeugt von der Notwendigkeit der Klärung moralischer Fragen, ist trotz dieser Differenz zum zeitgenössischen ethischen Mainstream Anhänger der Trennungsthese, also einer halbierten, von David Hume inspirierten, auf empirische Urteile reduzierten Rationalität.32 Das Ergebnis ist ein konsequenter relativism from the distance: Es gibt keine Möglichkeit, moralische Fragen aus der kulturellen Distanz allgemeingültig zu klären. John Mackie schließlich ist der erste, der das Programm des ethischen Subjektivismus analytischer Provenienz zu Grabe trägt und zugleich in einer paradox anmutenden Kombination erneuert. 33 Demnach saß die gesamte ordinary language Philosophie der Moral, die analytische Metaethik von Ayer bis Hare, einem fundamentalen – linguistischen – Irrtum auf: Die Moralsprache kann demnach nur objektivistisch, nicht subjektivistisch interpretiert werden, wie es analytische Philosophen über Jahrzehnte unternommen haben. Zugleich aber ist damit die Moralsprache – wir können durchaus erweitert sagen: die moralische Verständigungspraxis der Lebenswelt – von einem fundamentalen (erkenntnistheoretischen) Irrtum geprägt, wonach es tatsächlich um die Klärung von Sachfragen geht. Während die analytischen Metaethiker es unternommen haben, die gesprochene Moralsprache im Sinne ihrer metaphysischen, speziell ontologischen Vorurteile subjektivistisch zu interpretieren, erkennt Mackie die Sinnlosigkeit all dieser Versuche an und zieht sich auf zwei vertraute Argumente für einen ethischen Skeptizismus (zweiter Ordnung) zurück, the argument from relativity (die faktische (Kultur-) Relativität moralischer Überzeugungen) und the argument from queerness (die ontologische Absonderlichkeit moralischer Eigenschaften). Der ethische Skeptizismus und Subjektivismus wird nun als eine (plausible) Metaphysik, nicht mehr als Ergebnis der Sprachanalyse präsentiert. Ein halbes Jahrhundert analytischer Ethik wird radikal entwertet und die Analyse der ordinary language durch Metaphysik ersetzt. Wenn das keine Ironie der Geschichte (analytischer Philosophie) ist! Es gibt keine normativen Tatsachen und daher gibt es keine Möglichkeit Kriterien zur Beurteilung normativer Tatsachen zu entwickeln. Aus erkenntnistheoretischer und ontologischer Perspektive müssen wir Subjektivisten bleiben. Moral ist lediglich ein Instrument, um bestimmte Ziele zu erreichen und da sich die instrumentelle Rationalität von Regeln und Institutionen durchaus rational klären lässt, kann auf diesem Weg ein Subjektivismus zweiter Ordnung (eine subjektivistische Metaethik) mit einem Objektivismus erster Ordnung (einer objektivistischen Theorie normativer Ethik) kombiniert werden. Sensiblere Naturen wie Bertrand Russell haben dieses Spannungsverhältnis Zeit ihres Lebens kaum aushalten können, bei Mackie löst es sich in einem philosophischen Taschenspielertrick auf.34 31 32 33 34

Gilbert Harman: The Nature of Morality, Oxford 1977. Bernard Williams: Ethics and the Limits of Philosophy, Milton Park 1985. John Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong, London u. a. 1990. Ebd.

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Diese Auflistung ließe sich lange fortsetzen und am Ende könnte sie in eine kritische Analyse all dieser anti-realistischen Entwürfe praktischer Vernunft münden. Hier will ich das nicht tun.35 Jede dieser anti-realistischen Ethikkonzeptionen kann am Ende aus dem einfachen Grund nicht überzeugen, weil unsere normativen Diskurse zu klären suchen, wozu wir tatsächlich verpflichtet sind. Die Spaltung von theoretischer Vernunft, die auf rationale Überzeugungen gerichtet ist, und praktischer Vernunft, die letztlich nur Ausdruck individueller Wünsche ist, kann nicht überzeugen. Egozentrikern mag es in ihrem Verhalten auch darum gehen ein bestimmtes self-image aufzubauen, aber selbst pathologische Fälle werden nicht behaupten, dass es lediglich darum gehe (gegen die frühe Korsgaard, auch den frühen Scanlon). Niemand kann bezweifeln, dass auch SS-Offiziere handlungsfähig waren, die Konstitutionsbedingungen von agency reichen für Moralität nicht aus (gegen die spätere Korsgaard). Menschenrechte und Demokratie wurden gegen Feudalismus, Sklaverei und Frauenunterdrückung mühsam genug erkämpft. Wenn es lediglich darum gegangen wäre einen overlapping consensus festzustellen, gäbe es heute weder Menschenrechte noch Demokratien (gegen Rawls). Das Argument gegen die Feudalherren war, dass sie kein Recht haben andere als ihre Untertanen zu behandeln, ganz unabhängig davon, wie die kulturellen Kontexte jeweils sein mögen. Und dieses Argument war zutreffend. Ich darf die Selbstachtung eines menschlichen Individuums nicht existenziell beschädigen, ganz unabhängig davon, was andere Menschen meinen, was die Mehrheit entscheidet oder was in meinem eigenen Interesse ist. Das ist der normative Kern nicht nur unserer Verfassungsordnung, in der dieser allerdings besonders deutlich wird. »Die Würde des Menschen ist unantastbar« hat deswegen eine Ewigkeitsgarantie, kann durch Mehrheitsentscheid nicht verändert werden, weil es sich um eine normative Erkenntnis handelt.36 Bitter genug, dass es zwölf Jahre NS-Terror bedurfte, um den realen Gehalt einer humanen und demokratischen Verfassungsordnung so deutlich werden zu lassen, dass sie unmissverständlich, schwarz auf weiß, nachzulesen ist. Der Zusammenbruch des Rechtspositivismus unter dem Eindruck der NS-Verbrechen spricht eine deutliche Sprache: Die subjektivistischen Varianten des Anti-Realismus sind mit normativer Erkenntnis unvereinbar. Die kognitivistischen Anti-Realisten versuchen, moralische Erkenntnisse zu ermöglichen ohne moralische Tatsachen postulieren zu müssen. Die Naturalisten unter ihnen überführen normative Sachverhalte in empirische37, während kantianische Konstruktivisten sich an (quasi-)logischen Konstruktionen von Moralität abmühen.38 Eine konsequent epistemische Perspektive erübrigt diese philosophischen Überspanntheiten. Für diese ist ein ethisches Urteil so zu behandeln, wie andere Urteile auch, für diese ist eine ethische Theorie so zu behandeln, wie andere Theorien auch. Sie bewähren sich an Das war Ende November 2014 Inhalt einer kleinen Tagung an der LMU zu der von mir vertretenen Konzeption der ethischen Erkenntnistheorie, also der Verbindung von Realismus und Kohärentismus: Vgl. Dietmar von der Pfordten (Hg.): Moralische Tatsachen, Paderborn i. E. 36 Günter Dürig: Grundgesetz. Kommentierung der Artikel 1 und 2 Grundgesetz, hg. von Theodor Maunz, München 2003. 37 Vgl. die Klassiker des ethischen Neo-Naturalismus: Richard Boyd und Peter Railton. 38 Darunter so imposante Entwürfe, wie die von Alan Donagan (vgl. Alan Donagan, The Theory of Morality, Chicago u. a. 1977). 35

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dem, was nicht in Frage steht: an bestimmten konkreten oder allgemeinen normativen Sachverhalten, Invarianzen, Inferenzen, am ethischen Hintergrundwissen, am großen Netz, das durch die normative Verständigungspraxis, den lebensweltlichen Austausch normativer Gründe aufgespannt ist. Nur die eine oder andere Form globaler Moralskepsis würde diesen Sprüngen in die Reduktion (ethischer Naturalismus) und die Konstruktion (radikaler Konstruktivismus und Kantianischer Konstruktivismus) eine gewisse Plausibilität verleihen. Aber zu einer fundamentalen Moral-Skepsis besteht überhaupt kein Anlass: Die Verständigungspraktiken funktionieren ziemlich gut, nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, sondern auch international. Wir verstehen sehr gut, was es heißt, dass jemand etwas tun sollte, dass jemand seine Pflicht verletzt hat, dass eine bestimmte Praxis inhuman sei etc., wenn wir auch hinsichtlich der Kriterien differieren.39 Ernst Tugendhat rechtfertigt seine vertragstheoretische Ethikkonzeption mit dem Ende der Moralbegründung aus der Tradition oder der Religion. Ich kann dagegen keinerlei Moralkrise erkennen, eher im Gegenteil: Die erstaunliche Konvergenz der Weltgesellschaft, die Verständigung auf Kodifizierungen der Menschenrechte, globale Kriterien normativ akzeptabler unternehmerischer Praxis, die Einrichtung eines Weltstrafgerichts, auch der Siegeszug der rechtstaatlich verfassten, auf der Zuschreibung von Menschenrechten beruhenden, demokratischen Ordnung, zunächst in Südeuropa, in Südamerika, in Osteuropa und Afrika, die Möglichkeit sich über alle kulturellen Differenzen hinweg normativ zu verständigen, spricht gegen die Diagnose einer umfassenden moralischen Krise. Um es ein wenig boshaft zu formulieren: Was es zweifellos gibt, ist eine anhaltende Krise der philosophischen Ethik, das Nebeneinander unvereinbarer, gar gegensätzlicher Theorien, die Abkoppelung der Bereichsethiken von der philosophischen Ethik, die aktuelle Zuspitzung meta-theoretischer Auseinandersetzungen, die neue Offensive des Naturalismus. Daraus aber auf eine umfassende moralische Krise der modernen Kultur zu schließen, zeugt von einer bemerkenswerten Überschätzung der Rolle von Intellektuellen generell und der philosophischen Ethiker im Speziellen. Man sollte nicht von der Krise des eigenen Fachs auf die Krise ihres Gegenstandes schließen. Die Kosmologie als Subdisziplin der theoretischen Physik, scheint sich seit Jahrzehnten in einer vergleichbaren Krise zu befinden – niemand käme aber deswegen auf die Idee, dass sich der Kosmos in einer Krise befindet. Aber zugegeben, die theoretische Physik ist für die kosmische Ordnung noch weit irrelevanter als die philosophische Ethik – oder besser: ihre Subdisziplin, die Metaethik – für die moralische, rechtliche, politische und kulturelle, also die normative Praxis der Interaktion und der Verständigung. Für diese ist ein robuster, unaufgeregter Realismus charakteristisch. Wir wollen wissen, was richtig ist und was falsch und zu diesem Zwecke wägen wir Gründe ab – praktische und evaluative. Die Unsicherheiten, Dilemmata und Ratlosigkeiten sind groß genug, um diesem Spiel des Gründe Gebens und Nehmens immer wieder neue Nahrung zu geben. Wir spielen dieses Spiel, weil wir epistemische Optimisten sind, weil wir hoffen, dass wir normative Irrtümer durch Deliberation klären können. Unsere 39

Anders als konservative Moraltheoretiker wie Anscombe, McIntyre oder Finnis annehmen.

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Lebensform ist eine deliberative, sie ist ohne das Abwägen theoretischer und praktischer Gründe nicht möglich. Für ihre beiden Zentralbegriffe – den der Überzeugung und den der Handlung – ist Deliberation sogar konstitutiv: Eine Überzeugung ist eine Meinung, für die die Person, die diese Meinung hat, Gründe anführen kann. Eine Handlung ist ein Verhalten, für das die handelnde Person Gründe anführen kann. Die Gründe beziehen sich auf einen praktischen und theoretischen Hintergrund des Fraglosen und Selbstverständlichen, für das wir keine Gründe anführen können ohne aus der geteilten Lebensform herauszufallen. Diese geteilte Lebensform bietet keinen Ansatzpunkt der Separierung theoretischer und praktischer Vernunft. Der robuste Realismus unserer Lebensform ist umfassend, ist nicht halbierbar, kann nicht auf theoretische Vernunft eingeschränkt werden. Auch das zweite Schisma ist eine philosophische Chimäre.

V. Veritas filia temporis? Im Lateinunterricht lernt meine Tochter, dass veritas filia temporis in etwa bedeutet: »Mit der Zeit kommt die Wahrheit (schon noch) ans Licht.« Das ist eine durchaus altersgemäße Übersetzung und wird von einer Elfjährigen in etwa so verstanden: Wie immer ich mich bemühe, etwas vor meinen Eltern geheim zu halten, auf Dauer wird es mir nicht gelingen. Bei dieser Interpretation bleibt die Prominenz dieses lateinischen Spruchs allerdings unverständlich, schon deswegen, weil jedenfalls meine Tochter davon überzeugt ist, dass das keineswegs zutrifft, dass es ihr schon oft gelungen ist, Wichtiges aus ihrem Leben auf Dauer den Eltern vorzuenthalten. Im Novum Organum von Francis Bacon kommt dieser Satz ebenfalls vor40 und die Interpreten streiten sich über seine Auslegung. Claus Zittel schlägt vor, ihn postmodern zu deuten: »Bacon erkennt in aller Schärfe die Geschichtlichkeit von Wahrheit und mithin auch der eigenen Position.«41 Die »Geschichtlichkeit von Wahrheit« soll dann heißen, dass das als wahr zu gelten hat, was in der jeweiligen historischen Situation für wahr gehalten wird. In der Tat gibt es bei Bacon zahlreiche Belegstellen, die dafür sprechen, dass er jedenfalls zu den epistemischen Pessimisten zu zählen ist, wonach es nicht zu erwarten sei, dass die klügeren Argumente und die besseren Theorien sich im Laufe der Zeit gegenüber den irrigen Argumenten und den schwächeren Theorien durchsetzen. Die Dominanz von Aristoteles in der Philosophie über Jahrhunderte belegt für Bacon diese pessimistische Sicht. Bacon kann man als Proto-Pragmatisten lesen, wonach es letztlich ausschließlich um eine erfolgreiche technische und soziale Praxis gehen sollte, zu deren Instrumenten moderne Wissenschaft gehört. Damit sollten wir uns begnügen und nicht dem absoluten Gottesstandpunkt, der gewissen und eindeutigen, allumfassenden Theorie nacheifern. Aber auch der Pragmatiker bedarf Kriterien des Gelingens der Praxis. Wozu theoretische und praktische Gründe, die zweifellos eng miteinander verkoppelt sind, vorbringen, »Omnium enim consensu veritatem temporis filiam esse« (Francis Bacon: Novum Organum I, 84). Claus Zittel: »Truth is the Daughter of Time«, S. 215, in: Wolfgang Detel/Claus Zittel (Hg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit, Berlin 2002, S. 213–238. 40 41

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wenn von ihnen kein Fortschritt hinsichtlich einer gelungenen Praxis und hinsichtlich der Kohärenz unserer propositionalen Einstellungen – deskriptiven, wie normativen – zu erwarten ist? Die konsequent epistemische Perspektive, für die ich geworben habe, ist in der Tat auf einen gewissen Optimismus festgelegt, d. h. auf die Annahme, dass es sinnvoll ist Gründe und Gegengründe für Überzeugungen, Handlungen, auch emotive Einstellungen abzuwägen. Wir klären, was der Fall ist, welche empirischen Überzeugungen zutreffen, welche Verpflichtungen wir haben, welche emotiven Einstellungen angemessen und welche unangemessen sind. Diese Klärung hat die Form der Deliberation, des Abwägens von Gründen. Es handelt sich um ein großes, inklusives Spiel des Gründe Gebens und Gründe Nehmens. Unsere Lebensform wird durch dieses Spiel einer Veränderungsdynamik unterworfen, zugleich hat sie starke Beharrungskräfte. Alle Veränderung kann nur graduell sein, weil dieses Spiel Selbstverständliches und Unhinterfragbares voraussetzt. Insofern sind die Begründungsrelationen immanent. Eine gute Begründung ist immer relativ zum Hintergrund geteilter Selbstverständlichkeiten und der Übergang von geteilten Selbstverständlichkeiten zu begründungsbedürftigen Elementen ist fließend. Aber der Inhalt des zu Begründenden hat einen Weltbezug. Es geht um die Klärung von empirischen, wie normativen Tatsachen. Der Idealismus in seinen unterschiedlichen Varianten löst das Netz aus seinen Verankerungen. Die Welt löst sich auf und das Netz wird zur Welt. Das gilt auch für unwillige Idealisten, wie Hilary Putnam in seiner Phase des sogenannten internen Realismus. Wir können epistemische Optimisten bleiben, ja wir haben gar keine andere Wahl, weil dies der Praxis des Gründe Gebens und Gründe Nehmens, an der wir teilhaben, die unsere Lebensform ausmacht, überhaupt erst ihren Sinn verleiht, und doch wäre die These, dass sich Vernunft in der Geschichte realisiert, ein non sequitur. Diese These wäre nur dann schlüssig, wenn die Menschheitsgeschichte ein hohes Maß an Kontinuität aufwiese, wenn also die jeweils erreichten deliberativen Fortschritte Bestand hätten und nicht nur die begrenzte Lebenszeit von Individuen und Generationen überdauerten, sondern auch alle Arten historischer Brüche. Mit dem Untergang des Römischen Imperiums gingen nicht nur technische Kenntnisse verloren, sondern es versank ein riesiger Schatz kultureller und zivilisatorischer Erkenntnisse. Die Überlieferungspraxis ist voll von Beispielen dieser Art. Die beiden Großen der griechischen Klassik, Platon und Aristoteles, erscheinen uns so groß, weil ihre Konkurrenten den Brüchen der Überlieferungspraxis weitgehend zum Opfer gefallen sind. Bacon vermutet, dass dies nicht mit ihrer überragenden Qualität korrespondiere. Oder nehmen wir eine Karikatur der zeitgenössischen »cutting edge«- Forschungspraxis, wie Nachwuchswissenschaftler es gerne nennen: Diese bezieht sich jeweils auf die letzten einschlägigen Publikationen in amerikanischen Fachzeitschriften. Der Zeithorizont umfasst, sagen wir, drei bis fünf Jahre. Alles was davor ist, kommt nicht mehr in den Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, ist zu einem historischen Sediment geworden, das nur noch Spezialisten der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte interessiert. Dies würde das merkwürdige Phänomen philosophischer Wiedergänger erklären, also das der immer wieder neu auftauchenden, aber im Kern unveränderten philosophischen Argumente und Theorien, die zu Zeiten als widerlegt galten, ohne dass ihre damaligen Urheber und Kritiker noch präsent wären. Der US-ame-

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rikanische Pragmatismus der 80er Jahre kennt Ferdinand Tönnies natürlich nicht, auch nicht die unselige Rolle, die ›kommunitaristische‹ Argumente in der Auseinandersetzung zwischen vermeintlich deutscher Kultur und französischer Zivilisation im Vorfeld des Ersten Weltkrieges gespielt haben. Ein Gutteil der Argumente US-amerikanischer Kommunitaristen war aus europäischer Sicht ein Déjà-vu. Sie erschienen in den USA nur aufgrund eines Kontinuitätsbruchs in der westlichen Philosophie (und wegen mangelnder Fremdsprachenkenntnisse in den USA) als aufregend und neu. Stellen wir uns das kulturelle Gedächtnis wie einen Scheinwerfer vor: Sein Lichtkegel umfasst jeweils einen Kern von einigen Jahren und die Konturen werden unscharf, je weiter man sich davon entfernt. Im Laufe der Geschichte des menschlichen Begründens wandert das Licht dieses Scheinwerfers weiter, Altes verschwindet im Dunkel und Neues kommt ans Licht. Es wäre durchaus denkbar, dass das jeweilige Argument, die Begründung uns – in realistischer Perspektive – hilft, Irrtümer zu vermeiden, unsere deskriptiven, wie normativen Überzeugungen wahrheitsähnlicher macht. Und doch ergäbe sich daraus keine Tendenz der Geschichte zu fortschreitender Vernünftigkeit. Der jeweilige Hintergrund würde sich im Laufe der Zeit ändern, bei starker Invarianz eines Kerns, also dessen was man als die menschliche Lebensform bezeichnen könnte. Der Unterschied ist wiederum ein gradueller: Die menschliche Lebensform manifestiert sich in unterschiedlichen, kulturell und sprachlich verfassten Lebensformen und entsprechend verschiebt sich der Hintergrund, vor dem Deliberation stattfindet. Es gibt Fortschritte, aber diese bleiben lokal. Ich denke nicht, dass diese skeptische Sicht auf die Geschichte der Vernunft eine radikale Skepsis nahelegen würde. Wir sollten epistemische Optimisten bleiben, ohne die Geschichte als Akteur auf dem Wege zu vollkommener menschlicher Vernunft zu überhöhen. Es sind jeweils immer nur die konkret Beteiligten an der Praxis der Deliberation, denen es zukommt die Tatsachen zu klären. Sie sind Autorinnen und Autoren ihres Lebens, sofern sie sich von Gründen leiten lassen, in der Annahme, dass sie dies einer zutreffenden Beurteilung und damit einer kohärenteren Praxis näher bringt. Aber die Geschichte macht nur phasenweise Fortschritte, sie kennt auch Rückschritte, die Vernunft realisiert sich nicht in der Geschichte. Ich gebe zu, dass diese Haltung ein wenig an den Sisyphos von Albert Camus erinnert. Aber mir scheint, wie damals Camus, dass es dazu keine Alternative gibt. Francis Bacon spricht in Hinblick auf das Dictum veritas filia temporis von einem consensus omnium. Sollte die zeitgenössische, postmodern inspirierte Interpretation von Francis Bacon zutreffen, dann irritiert diese Charakterisierung. Aber jedenfalls für unsere heutige kulturelle Situation gilt in der Tat ein consensus omnium hinsichtlich der Kulturrelativität und Zeitlichkeit jedenfalls der praktischen, oft genug auch der theoretischen Vernunft. Aber dies ist ein consensus omnium zweiter Ordnung, der deutlich kontrastiert mit dem robusten Realismus unserer lebensweltlichen Praxis des Gründe Gebens und Gründe Nehmens. Der skeptische, zumindest relativistische consensus omnium zweiter Ordnung ist durch die geteilte Lebensform und die in diese eingebettete Verständigungspraxis nicht gedeckt. Man könnte mit John Mackie von einer error theory sprechen, aber in genau umgekehrter Richtung: Nicht der Realismus der Moralsprache ist irrtümlich, wie Mackie meint, sondern der Anti-Realismus zweiter Ordnung, der sich in unserer

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Praxis des Gründe Gebens und Gründe Nehmens, in der geteilten, deliberativ verfassten Lebensform nicht abbildet. Dieser Skeptizismus zweiter Ordnung ist ohne Fundament, er ist unbegründet. Dieser Skeptizismus ist zudem peripher, ohne Chance größere Wirkung auf das Netz als Ganzes zu entfalten. Irrtümlich ist der anti-realistische Skeptizismus zweiter Ordnung, während wir keinen Grund haben den robusten Realismus unserer Lebenswelt in Zweifel zu ziehen. Der vernünftige Mensch hat bestimmte Zweifel nicht.

Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik (dt. Ausgabe: Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 6, hg. von Franz Dirlmeier, Berlin101999). Alchourrón, Carlos/Gärdenfors, Peter/Makinson, David: »On the Logic of Theory Change«, in: Journal of Symbolic Logic 50 (1985), S. 510–530. Francis Bacon: Novum Organum. Bovens, Luc/Hartmann, Stephan: Bayesian Epistemology, Oxford 2003. Böhme, Gernot (Hg.): Protophysik – Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, Frankfurt/M. 1976. Brandom, Robert: Rorty and his Critics, Malden/MA (u. a.) 2000. Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur, EA Paris 1641 (dt. Ausgabe: Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. und hg. von Christian Wohlers, Heidelberg 2009). Donagan, Alan: The Theory of Morality, Chicago (u. a.) 1977. Dürig, Günter: Grundgesetz. Kommentierung der Artikel 1 und 2 Grundgesetz, hg. von Theodor Maunz, München 2003. Dworkin, Ronald: Justice for Hedgehogs, Cambridge/MA 2011. Fehige, Christoph/Meggle, Georg (Hg.): Moralisches Denken, Frankfurt/M. 1995. Feyerabend, Paul: Against Method, London 32008. Gettier, Edmund: »Is Justified True Belief Knowledge?«, in: Analysis 23 (1963), S. 121–123. Habermas, Jürgen: »Wahrheitstheorien«, in: Helmut Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Schulz, Pfullingen 1973, S. 211–265. – Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt/M. 1999. Hare, Richard: Moral Thinking, Oxford 1984. Harman, Gilbert: The Nature of Morality, Oxford 1977. Korsgaard, Christine: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. Lorenzen, Paul: »Diesseits von Idealismus und Realismus«, in: Peter Janich (Hg.): Entwicklungen der methodischen Philosophie, Frankfurt/M. 1992, S. 207–217. Mackie, John: Ethics. Inventing Right and Wrong. London (u. a.) 1990. Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005. – Philosophie und Lebensform, Frankfurt/M. 2009. – »Reasons Against Naturalizing Epistemic Reasons: Normativity, Objectivity, Non-computability«, in: Arturo Carsetti (Hg.): Causality, Meaningful Complexity and Embodied Cognition, Dordrecht (u. a.) 2010, S. 203–210.

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– Philosophie einer humanen Bildung, Hamburg 2013. Nida-Rümelin, Julian/Özmen, Elif (Hg.): Welt der Gründe, Hamburg 2012. Putnam, Hilary: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M. 1990 (Erstausgabe: Reason, Truth and History, Cambridge 1989). Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1971. – »Kantian Constructivism in Moral Theory«, in: Journal of Philosophy 77 (1980), S. 515–557. – »Outline of a Decision Procedure for Ethics«, in: Samuel Freeman (Hg.): John Rawls. Collected Papers, Cambridge/MA 1999, S. 1–19. Rorty, Richard: »Hilary Putnam and the Relativist Menace«, in: ders.: Truth and Progress. Philosophical Papers. Vol.3, New York 1998, S. 43–62. Scanlon, Thomas: Being Realistic About Reasons, Oxford 2014. Schnädelbach, Herbert (Hg.): Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt/M. 1984. – Vernunft und Geschichte, Frankfurt/M. 1987. Singer, Peter: Practical Ethics, Cambridge 2011. Spohn, Wolfgang: The Laws of Belief, Oxford 2012. Sturma, Dieter (Hg.): Vernunft und Freiheit. Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, Berlin 2012. von der Pfordten, Dietmar (Hg.): Moralische Tatsachen, Paderborn i.E. Williams, Bernard: Moral Luck, Cambridge 1981. – Ethics and the Limits of Philosophy, London (u. a.) 1985. Zittel, Claus: »Truth is the Daughter of Time«, in: Wolfgang Detel/Claus Zittel (Hg.): Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit, Berlin 2002, S. 213–238.

Ja und Nein zur Frage: Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹? Deutsch-japanische Denkwege im Rück- und Ausblick Ryosuke Ohashi (Kyoto)

1. Kurzer Rück-und Überblick über die Rezeption der deutschen Philosophie in Japan (1.1.) Ich bin mit der Themenrichtung beauftragt, in der nachgedacht werden soll, wie die klassische deutsche Philosophie in der japanischen philosophischen Welt gewirkt hat und wie sie dort eingeschätzt wird. Ich versuche im Folgenden, das aufgegebene Thema im Hinblick auf die Frage zu betrachten, die ich im Titel angegeben habe: »Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹?« Den Auftrag habe ich zuerst deshalb gerne akzeptiert, weil ich mich mit der deutschen Philosophie lange beschäftigt habe. Aber meine persönliche Erfahrung allein rechtfertigt nicht, dass ich zum beauftragten Thema auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie in Form eines Hauptvortrags spreche. Die Rechtfertigung muss in der philosophischen Lage in Japan selber vorgegeben sein. So fange ich mit einem Zitat Kitarô Nishidas an, der als Gründer der Philosophie der Kyôto-Schule seit einigen Jahrzehnten auch in Deutschland bekannt geworden sein dürfte. Er schrieb 1944, ein Jahr vor seinem Tod, im Zusatz zu einem Aufsatz über Descartes, wie folgt: »In meinem Land wurde bis in die zwanziger Jahre der Meiji-Zeit (d. h. bis ca. 1888) ausschließlich die Philosophie der Englischen Empirismus-Schule betrieben, seit den zwanziger Jahren wurde aber die deutsche Philosophie eingeführt, die seitdem zur Hauptströmung wurde. Seit ca. den vierziger Jahren der Meiji-Zeit (d. h. seit ca. 1909) kam die Philosophie der neukantianischen Schule zur Blüte. Das Philosophieren in meinem Land wurde somit auch erkenntnistheoretisch ausgerichtet. Danach wurde die Phänomenologie Husserls betrieben, was auch von der hermeneutischen Phänomenologie Heideggers gesagt werden kann.«1

Kitarô Nishidas: Über die Philosophie Descartes, in: Gesamtausgabe Kitarô Nishidas (jp.), Alte Ausgabe, 3. Aufl., Tokyo 1978, Bd. 11, S. 177/8; Neue Ausgabe, Bd. 10, 2004, S. 140. Ein äußerlicher Anlass zu dieser von Nishida gemeinten Wende der philosophischen Strömung in Japan seit ca. 1909 war, dass ein deutscher Philosophie-Lehrer namens Busse zur Kaiserlichen Universität Tokyo als dem Spitzeninstitut der akademischen Welt im modernisierten Japan berufen wurde. Dazu vgl. Yasuo Takemura: »Kant in Japan« (jp.), in: Der deutsche Idealismus und die japanische Moderne (jp.), hrsg. von Yoshio Kayano, Bd. 6 der Serie Der Dialog mit dem deutschen Idealismus (jap.), hrsg. von Ryosuke Ohashi, Tomio Nishikawa, Yoshio Kayano, Akira Ohmine, Takuji Kadowaki, Tsunemichi Kambayashi, Kyoto 1994, S. 100 f. 1

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Haupttext · Ryosuke Ohashi

In diesem Wort wird in aller Kürze dargestellt, dass und wie die deutsche Philosophie seit der Modernisierung Japans bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in der japanischen Philosophie Wurzeln geschlagen hat und rezipiert wurde.

(1.2.) Dieser Befund darf aber nicht allein von der individuellen Äußerung Nishidas abhängig gemacht werden. Ich füge deshalb einige Berichte hinzu: Die erste kritische Darstellung zu Friedrich Nietzsche erschien in Japan noch zur Lebzeit Nietzsches, 1893, unter dem Titel »Vergleichende Betrachtung der Philosophie von zwei Vertretern des moralischen Gedankens in Europa, Herrn Friedrich Nietzsche und Graf Tolstoi«.2 Der Name Nietzsche war damals sogar in Deutschland nur wenig bekannt, ausgenommen im Kreis der philologischen Gräzisten. Die erste japanische Übersetzung von Also sprach Zarathustra erschien 1911, elf Jahre nach Nietzsches Tod. Die erste Monographie zu Nietzsche in Japan erschien 1913, verfasst von Tetsurô Watsuji, der Nietzsche als Philosophen und nicht als klassischen Gräzisten betrachtet hat, und den Gedanken des Willens zur Macht sowie den der ewigen Wiederkehr des Gleichen als philosophische Gedanken bewertet hat, was damals auch in Deutschland noch nicht selbstverständlich war. Die japanische Gesamtausgabe Nietzsches erschien ab 1916, somit früher als die zweite Gesamtausgabe in Deutschland, die Musarion-Ausgabe, die erst ab 1922 begann. Die Lage der NietzscheForschung in Japan und Deutschland ist beinahe parallel, oder die Forschung in Japan ist teilweise sogar vorlaufend.3 Dasselbe gilt auch von der Forschungslage zu Heidegger. Drei Jahre vor dem Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit, im Jahre 1924, als Heidegger noch nicht sehr bekannt war, verfasste Hajime Tanabe, der eine der zentralen Figuren der Kyôto-Schule war, einen ausführlichen Bericht über Heidegger. Der Bericht wurde betitelt: »Die neue Wende der Phänomenologie«. Tanabe meinte mit der »neuen Wende« die Wende von der transzendentalen Phänomenologie Husserls zur hermeneutischen Phänomenologie Heideggers.4 Die japanischen Gesammelten Schriften zu Heidegger begannen 1953,5 also mehr als 2 Der Verfasser des Artikels ist anonym. Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Shin-kai (Herz– Meer), Nr. 4, Dezember 1893. Im Folgenden stützt sich der Autor beim Zitat der heute kaum zugänglichen älteren Nietzsche-Literatur auf die gründliche und gediegene Untersuchung in: Toshio Takamatsu/ Kanji Nishio: Nihonjin no Niche Kenkyûfu (Register zur japanischen Nietzsche-Forschung), Sonderband im Rahmen der neuen japanischen Nietzsche-Gesamtausgabe, Tokyo 1982. 3 Vgl. dazu auch den Vortrag des Verfassers zum Anlass »10 Jahre Kolleg Friedrich Nietzsche«, vom 15.–18. Oktober 2009, im Kolleg Friedrich Nietzsche, 2009: Über die Möglichkeit des fernöstlichwestlichen philosophischen Gespräches. 4 Weiterhin: Es gibt bis jetzt acht japanische Übersetzungen von Sein und Zeit, und das Ganze der 102-bändigen Gesamtausgabe erscheint auch in der japanischen Übersetzung, die der Verfasser als MitHerausgeber betreut. 5 Haideggâ senshû (Gesammelte Schriften Heideggers) vom Verlag Risô-sha, Tokyo, zählt 35 Bände. Sie wurden allerdings jetzt von der Japanischen Heidegger-Gesamtausgabe von Sôbunsha ersetzt, der die deutsche Martin Heidegger-Gesamtausgabe zugrunde liegt. (Siehe dazu oben Anm. 4.)

Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹?

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zwanzig Jahre früher als die deutsche Heidegger-Gesamtausgabe. Was die Philosophie des deutschen Idealismus betrifft, wurde die japanische Fichte-Gesellschaft 1985 gegründet, also drei Jahre früher als die Gründung der deutschen Fichte-Gesellschaft im Jahre 1988. Der Wettbewerb in der Herausgabe einer Gesamtausgabe oder der Gründung einer philosophischen Gesellschaft ist zwar in philosophischer Hinsicht belanglos, aber in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht wäre es doch nicht ohne Bedeutung.6 Was die textliche Grundlage für die Forschung betrifft, so gibt es zu allen wichtigen europäischen, somit auch zu den deutschen Philosophen manchmal sogar mehrere Gesamtausgaben bzw. Gesammelte Schriften in japanischer Übersetzung.7 Die Tendenz der regen Rezeption und Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie in Japan hält sich bis heute. Ein kleines Beispiel dafür ist das Programm im Jahr 2013 des jährlich stattfindenden Kongresses der Japanischen Gesellschaft für Philosophie. Dort gab es grob gerechnet 13 Vorträge zur angelsächsischen Philosophie, 7 Vorträge zur französischen Philosophie, 6 zur antik-griechischen Philosophie, und zur deutschen Philosophie gab es 23 Vorträge, wobei allerdings Wittgenstein als österreichischer Philosoph mitgezählt wird.8

(1.3.) Was überhaupt von der klassischen deutschen Philosophie regt die japanischen Philosophen so sehr an, dass diese Philosophie mit Eifer rezipiert und erforscht wird? Diese Frage sollte auch deshalb einmal erhoben werden, weil in den vergangenen drei Jahrzehnten die philosophische Initiative in der Welt, so weit man die Publikations- und Diskussionslage sieht, nicht in erster Linie von der deutschen Philosophie ergriffen zu werden scheint, sondern eher von den philosophischen Strömungen in den USA in Form der sprachanalytischen Philosophie und des danach folgenden Neupragmatismus seit den achtziger Jahren einerseits, und andererseits von den Strömungen in Frankreich in Form des einst modisch gewesenen Strukturalismus und Poststrukturalismus, und in andauernder Tendenz von den dortigen phänomenologischen Neubewegungen. Ich selber bin allerdings der Ansicht, dass man dabei eines nie übersehen darf, nämlich, dass alle diese phiDie Fichte-Gesellschaft sowie Kant-Gesellschaft, Schelling-Gesellschaft, Hegel-Gesellschaft, Schopenhauer-Gesellschaft, Kierkegaard-Gesellschaft, Jaspers-Gesellschaft, usw. haben Mitglieder, deren Zahl genauso groß oder nicht selten sogar größer ist, als die der Gesellschaften mit denselben Namen in Deutschland. 7 Um nur ein paar Beispiele anzugeben: Neben der Gesamtausgabe Kants gibt es zusätzlich vier Taschenbuch-Ausgaben der Kritik der reinen Vernunft. Zur Phänomenologie des Geistes Hegels gibt es ebenfalls vier Übersetzungen. 8 Unter den deutschen Philosophen wurde je ein Sektionsraum für Kant, Hegel, Husserl, Heidegger und Wittgenstein zur Verfügung gestellt. Allerdings hat sich dieses philosophiehistorisch orientierte Programm in diesem Jahr 2014 geändert zu einem themen-orientierten Programm. Dennoch gab es 13 Vorträge zur deutschen Philosophie, während zur französischen Philosophie 4 Vorträge und zur angelsächsischen Sprachphilosophie 5 Vorträge aufgenommen waren. 6

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losophischen Strömungen nicht ohne intensive, wenn auch kritische Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie zustande kamen. Aber darauf werde ich hier nicht eingehen.

2. Inwieweit ist die deutsche Philosophie »deutsch«? Der Fall des »deutschen Idealismus« (2.1.) Allerdings ist zu fragen, inwieweit es philosophisch sinnvoll ist, die Nationalität einer philosophischen Bewegung zu thematisieren. Denn die Philosophie im Abendland hat sich seit der griechischen Antike ständig in regem Verkehr zwischen den Völkern und verschiedenen Geistestraditionen einschließlich der asiatischen gebildet. Dies gilt auch von den deutsch-japanischen Denkwegen in Japan. Die japanischen Forscher beschäftigen sich mit Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger usw. nicht deshalb, weil diese deutsche Philosophen sind, sondern weil diese Philosophien philosophisch wichtig sind. Wenn es trotzdem in der Philosophie »West« und »Ost« oder »Japanisch« und »Deutsch« geben soll, so sollte das Kriterium durchaus in der Philosophie selbst gesucht werden. Es scheint deshalb nicht unnütz zu sein, zuerst einmal zu zeigen, dass die geläufige Verwendung »deutsch« unter Umständen fraglich werden kann. Nehmen wir den Begriff des »deutschen Idealismus« als Ansatzpunkt auf. Man vergisst oft oder fast immer, dass dieser heute fraglos verwendete, weit geläufige Ausdruck nicht von den Vertretern des »deutschen Idealismus«, d. h. Fichte, Schelling und Hegel, als Terminus verwendet wurde. Dieser Titel wurde erst seit dem einflussreichen Buch von W. Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, geläufig.9 Die von den genannten drei Philosophen verwendeten Bezeichnungen waren hingegen der transzendentale Idealismus, der kritische Idealismus, der subjektive oder objektive Idealismus, der absolute Idealismus, usw. Nur einmal verwendete Schelling in den Weltaltern diesen Begriff, allerdings nicht als einen Terminus technicus. Er meinte damit den Idealismus in Deutschland im Unterschied zum Idealismus in England und Frankreich, und noch genauer, den Fichteschen Idealismus.10 Nicht nur die Bezeichnung »deutsch«, sondern auch der Begriff Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 2, Von Kant bis Hegel und Herbart, Leipzig 1880. Windelband erörtert dort, dass und inwiefern Schopenhauer die »dem deutschen Idealismus gemeinsamen Weltanschauung« klar ist (zitiert aus der Ausgabe: Wilhelm Windelband: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt, Leipzig 1911, S. 371). Die Genealogie des Begriffs des deutschen Idealismus reicht allerdings noch weiter zurück. Nach der ausführlichen und präzisen Untersuchung von W. Jaeschke soll es Engels gewesen sein, der das Wort zum ersten Mal verwendet hat, und zwar in seinem Brief vom 19. Nov. 1844 an Marx. (Vgl. dazu Walter Jaeschke: »Zur Genealogie des Deutschen Idealismus«, in: Materialismus und Spiritualismus, herausgegeben von Andreas Arndt/W. Jaeschke, Hamburg 2000, Anm. 16 auf S. 223.) Die Forschung des Verfassers hat ergeben, dass Schelling dieses Wort noch viel früher verwendet hat. Vgl. dazu die folgende Fußnote 10. 10 F.W.J. Schelling: Weltalter, Originalausgabe, Bd. VIII, S. 342. Schelling stellt dort dar, dass der 9

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»Idealismus« wird dadurch grundsätzlich in Frage gestellt. Hegel wäre m. E. auch nicht dagegen gewesen, seinen absoluten Idealismus als den absoluten Realismus zu bezeichnen, weil der Gegensatz von »ideal - real« eben im Absoluten aufgehoben sein soll. Es ist die Trägheit der Nachwelt, den Begriff »der deutsche Idealismus« ohne Aufmerksamkeit zu verwenden. Es sei weiterhin daran zu erinnern, dass alle genannten Philosophen aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten heftig miteinander gestritten und sich schließlich entzweit haben, so dass sie es sicherlich abgelehnt hätten, in der Nachwelt unter den gemeinsamen Nenner des »deutschen Idealismus« gebracht zu werden.

(2.2.) Hier könnte der Einwand erhoben werden, ein Schüler Diltheys, Hermann Nohl, habe einst das Einheitsbild des deutschen Idealismus aufgelöst. Er habe die geistige und kulturelle Bewegung in Deutschland in der Zeit 1770–1830 die »deutsche Bewegung« genannt und diese 60 Jahre in drei Epochen eingeteilt, wobei er Fichte der zweiten, und Schelling sowie Hegel der dritten Epoche zugeordnet hat.11 Aber bei Nohl bedeutete diese Auflösung nicht das Aufzeigen der Fraglichkeit des Adjektivs »deutsch«, sondern ist die Folge der eher zurückweisenden negativen Einschätzung des deutschen Idealismus zugunsten seiner Zuneigung zur Philosophie des Lebens von seinem Lehrer Dilthey.12

(2.3.1.) Der Begriff des »deutschen Idealismus« war eigentlich schon von den dazu gezählten Philosophen selbst überstiegen worden. Sie nahmen nämlich zwar bekennende Stellung zur deutschen Nation, wie man beispielsweise an der Fichteschen Vorlesung »Die Rede an die »deutsche Idealismus in seiner höchsten Steigerung durch Fichte hervortrat« (Originalausgabe der Werke Schellings, Bd. 8, S. 342). Dabei bezeichnet Schelling seine eigene Philosophie nicht als den »Idealismus«, sondern als den »höheren Realismus«! Diese Stelle scheint mir wichtig zu sein, um das Selbstverständnis des sog. »deutschen Idealismus« besser zu verstehen. Dazu vgl. den Verfasser, »Wohin ist das Absolute entschwunden? Der deutsche Idealismus und die gegenwärtige Welt« (jap.), Kyoto 1999. Ich versuche dort, die philosophische Bewegung des sog. »deutschen Idealismus« in ihren verschiedenen Aspekten und Bedeutungen auch im Hinblick auf das geistige Leben der Gegenwart zu beleuchten. 11 Die Ansicht Nohls ist als die Übernahme und Weiterentwicklung seines Lehrers Dilthey anzusehen, der in seiner Schrift Die dichterische und philosophische Bewegung in Deutschland 1770–1800 (1867) (Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 1990, S. 12–17), die für Nohl grundlegende Ansicht entwickelt hat. 12 Die Korrektur des Bildes des »deutschen Idealismus« wird schon innerhalb dieses Bildes ständig einer Korrektur bedürftig, wenn z. B. die Figuren in der Peripherie wie Jacobi, Salomon Maimon, Franz von Baader usw. nicht nur mit der Einschätzung der großen Figuren wie Kant, Hegel, Schelling, sondern anhand der historisch exakten Recherche untersucht werden. Dazu vgl. z. B. Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000. Die Verfasserin versucht, anhand der von Hegel als »Jacobis heimliches Hauptwerk« genannten Beilage VII, der Briefe Jacobi an Mendelssohn über die Lehre des Spinoza, die Kritik Hegels an Jacobi zu überprüfen, und diese Kritik (in: Enzyklopädie § 65 usw.), zurückzuweisen.

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deutsche Nation« sieht. Aber dennoch hatten diese Philosophen auch ein »weltoffenes« oder »universales« Bewusstsein.13 Der späte Schelling schrieb einmal: »Und wie viele und welche inhaltsvolle Jahrhunderte sind nun inzwischen über den menschlichen Geist hinweggegangen; wie hat erst durch das nach Europa verpflanzte Christenthum, dann durch die in neuester Zeit fast unbeschränkt erweiterten Weltverbindungen Orient und Occident nicht bloß sich berührt, wie sind sie gleichsam genöthigt worden sich in einem und demselben Bewußtseyn zu durchdringen, einem Bewußtseyn, das schon darum allein zum Weltbewußtseyn erweitert seyn sollte!«14 Die Zweiseitigkeit von vor-modernem und modernem Charakter ist bei allen Philosophien von damals zu sehen. Im Fall Fichtes ist dies vor allem in seiner Rechtslehre ausdrücklich zu sehen. Dort wird die Freiheit als das Prinzip der moralischen Weltordnung betrachtet, was auch in unserer Moderne gesagt werden kann. Der Begriff der Freiheit wurde aber bei Fichte dem »Absoluten« als dem Gott zugeschrieben, der »als moralischer Gesetzgeber« gilt. (Versuch einer Kritik aller Offenbarung, Erste Auflage 1792; zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, 1793. Fichtes Werke, ibid., Bd. V, S. 115) Fichtes Rechtsphilosophie bewegt sich also in der Sphäre des Gottesglaubens, der sich als vor-modern bezeichnen lässt. Damit wird hier nicht gemeint, dass die Moderne als ein Zeitalter höher und besser sei als die Vormoderne. Einiges ist noch hinzuzufügen: Die genannte Zweiseitigkeit der Fichteschen Ansicht, die moderne und die vor-moderne, zeigt sich auch in seiner »Staatslehre« von 1800. Der geschlossene Handelsstaat. Einerseits betrachtete Fichte, wie »die modernen Staaten sich gebildet« (Der geschlossene Handelsstaat, V. S. 451) haben. Er warnte vor einem Welthandelssystem, das anscheinend Vorteile der Bekanntschaft der Nationen unter einander durch Reisen und Handel hat. »Aber, so wie mir es scheint, sind wir über dem Bestreben, Alles zu seyn, und allenthalben zu Hause, nichts recht und ganz geworden, und befinden uns nirgends zu Hause.« (Ibid., S. 512) Diese Kritik Fichtes kann auch von der heutigen Globalisierung der Erde geltend gemacht werden, in der man dank der Entwicklung des Verkehrsmittels und der Medien zwar allenthalben ist, aber dennoch nirgends zu Hause ist. Indem Fichte die Abschaffung des Welt-Geldes zugunsten des Landes-Geldes behauptet, und den »geschlossenen Handelsstaat« als das Ideal des Staates vorlegt, war er einem »Weltbewusstsein« gegenüber eher skeptisch. Ein Schüler Hegels, Karl Rosenkranz, hielt übrigens 1860 in der physikalisch-ökonomischen Gesellschaft zu Königsberg einen Vortrag »Japan und Japaner«. Er erörterte, dass das fichtesche Ideal des geschlossenen Staates im vor-modernen feudalistischen Japan verwirklicht war. »Dieser geschlossene Handelsstaat Fichtes ist in Japan realisiert” (Karl Rosenkranz: Japan und Japaner, in: Neue Studien von Karl Rosenkranz. Erster Band: Studien zur Culturgeschichte, Leipzig, 1875. S. 357). Rosenkranz sah aber in diesem Staatssystem einen Widerspruch. Er sah einerseits, dass dieser auffällige Staat Japan sich »gegen den Andrang der Völker wehrt, die nach seinen Schätzen begierig sind, und wie es, das traurige Beispiel Chinas vor Augen, sich gegen einen Verkehr mit Nationen stemmt, die seine Ordnung und Ruhe, seinen Wohlstand und seine Behaglichkeit zunächst unzweifelhaft zerstören«. (Ibid.) Aber: »Doch die Menschheit ist an und für sich Eine. Sie duldet die Isolierung der Völker nicht.« (Ibid.) Er sah mit Recht, dass der geschlossene Handelsstaat, wie Fichte ihn konzipierte und wie er im damaligen Japan verwirklicht war, als das feudalistische System in der neueren Weltgeschichte nicht mehr haltbar war. Rosenkranz lebte also doch in der Zeit, in der die Isolierung der Völker für nicht möglich gehalten und insofern das »Weltbewusstsein« als selbstverständlich vorausgesetzt wird. 14 F. W. J. Schelling: Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, ibid., XIII, 8. Sicher hatte Schelling in seiner Philosophie eine theosophische Tendenz, die er schon früh unter dem Einfluss Jacob Boehmes hatte, und seine eher klassisch-konservative Ansicht über die Monarchie (Vgl. Einleitung in die Philosophie der Mythologie, die dreiundzwanzigste Vorlesung, XI. 534-552) drückte eher den Gegenzug gegen die moderne Welt aus, aber das ändert nichts daran, dass er zumindest dem Streben nach ein »Weltbewusstsein« hatte bzw. haben wollte, was damals schon weit vorlaufender als die gemeine Vernunft der meisten Zeitgenossen war. 13

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Das war ein Wort, das man erst im 20. oder 21. Jahrhundert mit vollem Recht sagen kann, und das fast banal klingt. Aber was im 21. Jahrhundert banal ist, war nicht banal im 19. Jahrhundert. Es war übrigens nicht Schelling allein, der dieses Weltbewusstsein hatte.

(2.3.2.) Auch Hegel besaß dieses Bewusstsein. Offensichtlich in der Weiterentwicklung der kantischen »weltbürgerlichen Absicht«,15 hielt er in Berlin mehrmals die Vorlesungen über die »Weltgeschichte«. Zwar nannte er die letzte und vollendete Epoche dieser Weltgeschichte die »christlich-germanische Welt«. Was er aber faktisch unter diesem Begriff auffasste, war die moderne Welt im heutigen Sinne. Allerdings ist jeder Philosoph ein Kind seiner Zeit. Hegel meinte, dass die Weltgeschichte von Osten nach Westen geht,16 und ahnte nicht, dass die Weltgeschichte nach seinem Tod umgekehrt von Westen nach Osten in Form der »Europäisierung« bzw. der »Modernisierung« gehen wird. Aber was die empirischen Kenntnisse betrifft, die mit der Zeit erneuert und vermehrt werden, braucht man nur zu korrigieren oder zu ergänzen. Die Zeitbegrenztheit ist übrigens für jeden Philosophen und Historiker unausweichbar. Im 20. Jahrhundert schrieb Max Weber: »welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftragen, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?« »Nur im Okzident gibt es ›Wi ss e ns ch af t‹ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als ›gültig‹ anerkennen.«17 Es ist verwunderlich, dass Max Weber im Jahr der Entstehung seiner Schrift, 1920, immer noch den Blick nur auf Indien und China hatte, und noch nicht sah, dass in der fernöstlichen Ecke ein kleines Land Japan als Folge der universalen Verbreitung der europäischen Rationalität mit der raschen kapitalistischen Entwicklung zu einer imperialistischen Macht neben den europäischen Mächten heranwuchs, im Krieg gegen China, dann gegen Russland zum Sieger wurde, und danach wie einige europäische Mächte an der Kolonialisierung der asiatischen Länder teilnahm. Weber sah nicht voraus, dass die in Europa entstandene rationale Vernunft zwar die nicht-europäische Welt europäisieren,

15 Vgl. I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); ders.: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) usw. Es ist noch hinzuzufügen, dass Kant in seiner weltweit hinblickenden Perspektive auch das damals kaum bekannte Land Japan ins Auge gefasst hatte. Vgl. dazu die heute fast in Vergessenheit geratene, von Helmuth von Glasenapp entdeckte und herausgegebene Nachschrift der Vorlesung Kants: Kant und die Religion des Ostens, Würzburg 1954. 16 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, gehalten zwischen dem Wintersemester 1822/23 und dem Wintersemester 1830/31, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 18, Frankfurt/M. 1970, S. 414. 17 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I , Tübingen 1920, 19889, S. 1.

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dadurch aber Europa bald in der technisch rationalisierten modernen Welt zu einem eher kleinen Teil der Welt relativieren sollte. In dieser Hinsicht hatte Max Scheler weiter reichend eingesehen als Max Weber, was im und mit dem Ersten Weltkrieg geschah, nämlich, dass die Menschheit in ein Weltalter des »Ausgleiches« von verschiedener Art eintritt. Ein Ausgleich im weltweiten Ausmaß sollte der zwischen Asien und Europa sein.18 Im Hinblick auf die weltweite Einsicht war Kant, der fast zwei Jahrhunderte vor Max Weber gelebt hat, ebenfalls weitsichtiger als Weber, indem er in seiner umfangeichen Vorlesung über die Geographie mit regem Interesse zu Japan eine ausführliche Darstellung machte.19 Um Hegel in seiner Zeitbedingtheit zu verteidigen, ist zu bemerken, dass er in seinen Vorlesungen über die Weltgeschichte immer wieder ergänzende Korrekturen gemacht, und insofern immer bewusst »empirischer« wurde. Er schreibt, dass zwar die Vernunft die Welt beherrscht, dass es also in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen ist, »die Geschichte aber haben wir zu nehmen wie sie ist; wir haben historisch, empirisch zu verfahren«.20 Gerade deshalb, und nicht als Folge der »apriorisch« konstituierten Geschichtskonzeption, war Hegels Ansicht zwar in vielen Hinsichten historisch notwendigerweise zeitbedingt, aber dies ändert auch nichts daran, dass er philosophisch ein »Weltbewusstsein« hatte, das über die Sicht der preußisch-deutschen Nation hinausgeht.

(2.4.) Was für den vorliegenden Vortrag wichtig ist, ist, dass das Weltbewusstsein der genannten Philosophen auf ihre philosophisch radikalen und insofern weltoffenen Fragestellungen, Systementwürfe, Methodenlehre usw. zurückzuführen ist. Diese philosophische Radikalität als solche wurde trotz aller Veränderung der philosophischen Welt seit der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland beibehalten. Der Vollzug des Nihilismus mit dem Willen zur Macht bei Nietzsche, die Phänomenologie als die strenge Wissenschaft bei Husserl, die fundamentale Ontologie in der Seinsfrage bei Heidegger, usw. sind nur einige Beispiele dafür. Es waren gerade diese grundsätzlichen und radikalen Fragestellungen der deutschen Philosophen, die in Japan früh rege erforscht wurden. Für diese Radikalität des philosophischen Denkens gibt es keine »deutsche« oder »japanische« Beschränkung. Wenn dennoch von der »deutschen Philosophie« die Rede sein soll, so soll diese Bezeichnung keine nationalistische Bestimmung, sondern den Wurzelort bedeuten, aus dem ein radikal universales Denken wächst. Dies soll auch von der Rede der japanischen Philosophie gelten. Ein nationales Selbstbewusstsein ohne universale Perspektive ist blind, und der wurzellose Universalismus ist leer.

18 Vgl. dazu Max Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: M. Scheler: Gesammelte Werke, Bd. IX, Bern 1976, S. 145–170. 19 Vgl. Helmuth von Glasenapp, op. cit. 20 G. W. F. Hegel: Gesammelte Werke, Bd.18. Vorlesungsmanuskripte II (1816–1831), hrsg. von Walter Jaeschke, Düsseldorf 1995, S. 142.

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3. Die von einem deutschen Philosophen (K. Löwith) beobachtete Rezeptionsweise der europäisch-deutschen Philosophie in Japan (3.1.) Als eine Folge des Gangs der Weltgeschichte vom Westen nach Osten, die nach dem Tod Hegels in Gang kam, hat sich Japan als das erste außer-europäische Land modernisiert, und zu einer kapitalistischen und zeitweise imperialistischen Macht gebildet. Achtzig bis hundert Jahre später haben auch die anderen asiatischen Länder begonnen, sich zu modernisieren.21 Ob und in welcher Weise die im Abendland entstandene Philosophie in diesen zwar wirtschaftlich und technologisch inzwischen teilweise größer als Europa gewordenen, außer-europäischen Ländern Wurzel schlagen wird, ist die Frage. Karl Löwith, ein jüdisch-deutscher Philosoph, kam während der Nazi-Zeit von 1936 bis 1941 nach Japan, um dort Philosophie zu lehren. Nach seinem fünf-jährigen Aufenthalt in Japan kommentierte er oft, dass Japan vom Westen nur die moderne Industrie und Technik, Kapitalismus, bürgerliches Recht, Heeresorganisation und die wissenschaftlichen Arbeitsmethoden lernte, nicht aber den europäischen »Geist« und seine Geschichte. Er schrieb im »Nachwort an den japanischen Leser« zu seinem Buch »Der Europäische Nihilismus«: »Sie [die Philosophie-Studenten in Japan] leben wie in zwei Stockwerken: einem unteren, fundamentalen, in dem sie japanisch fühlen und denken, und einem oberen, in dem die europäischen Wissenschaften von Platon bis zu Heidegger aufgereiht stehen, und der europäische Lehrer fragt sich: wo ist die Treppe, auf der sie vom einen zum anderen gehen?«22 Löwith, der die europäische Selbstkritik, wie jene von Baudelaire oder Nietzsche sehr hoch schätzte, vermisste bei den Japanern das Erlernen dieses kritischen Geistes der Europäer. In einem auf Englisch verfassten Essay schreibt er wieder: »They (the Japanese) read Hegel in German, Plato in Greek, Hume in English; and at least one of them studied the Old Testament in Hebrew. At the University of Sendai, where I taught Philosophy, I had as an assistant a Japanese who had studied the German literature of the Middle Ages in the original texts, which I myself could not read. What did they get out of all this Western wisdom?«23

Vgl. die Anm. 17 und 18. Karl Löwith: Der Europäische Nihilismus. Nachwort an den japanischen Leser (1940), jetzt in: Karl Löwith: Sämtliche Schriften, Bd. 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983, S. 537. 23 Ders.: The Japanese Mind. A Picture of the Mentality that We Must Understand if We are to Conquer, S. 558. 21

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(3.2.) Ob das Problem nur auf der japanischen Seite, oder doch teilweise auch auf der Seite Löwiths lag, ist allerdings eine Frage. Denn trotz seines langen Aufenthaltes in Japan bemerkte Löwith nicht, dass ein typisch modernes Haus in Japan nicht oben europäisch und unten japanisch strukturiert ist. Dasselbe Stockwerk wird in der Regel in zwei Teile eingeteilt: Der eine Teil heißt »washitsu, (࿴ᐊ)«, d. h. das Zimmer mit dem traditionell japanischen Stil, belegt mit Tatami, auf dem man sitzt und sich hinlegt; das andere wird »yôma, (ὒ㛫)« genannt, wörtlich: der Raum in europäischem Stil. Man sitzt dort auf dem Stuhl und legt sich hin auf dem Bett. Zwischen diesen zwei Teilen liegen die aus Papier gefertigten zwei Schiebetüren, die im Verhältnis zueinander bewegt werden und somit insgesamt als Ein- und Ausgang halb-geöffnet bleiben können, im Gegensatz zur relativ massiven Tür in europäischen Häusern, die prinzipiell entweder zu oder auf gemacht wird. Das Draußen und das Drinnen werden dadurch voneinander getrennt. Aber die durch die Papier-Schiebetür getrennten zwei Zimmer stehen prinzipiell in einem halbdurchlässsigen Verhältnis zueinander.

(Abbildung: »washitsu, (࿴ᐊ)« und »yôma, (ὒ㛫)«) Die Innenräume des japanischen Wohnhauses: Der europäische Raum (yôma) links und der japanische Raum (washitsu) rechts werden getrennt durch die und verbunden mit den Schiebetüren in der Mitte. (Die Zeichnung stammt von Oliver Vieweg, der von einem Entwurf von Thomas Wizany ausging, der seinerseits die Erklärung des Autors verbildlicht hatte.)

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(3.3.) M. E. gilt diese halbe Durchlässigkeit mehr oder weniger von jeder Kulturbegegnung und Kulturübersetzung. Löwith bemerkte nicht, dass auch und eben in Japan die deutsche Philosophie sowie die europäische Kultur überhaupt durch die halb durchlässigen Schiebetüren rezipiert wurde. Ihm fehlte die Treppe, um aus der ›Lehrerhöhe‹ hinabzusteigen und als Gesprächspartner mit den japanischen Philosophierenden unten umzugehen. Zu Kitarô Nishida schrieb er: »But even this man’s work is no more than an adaptation of Western methodology, the use of it for a logical clarification of the fundamental Japanese intuitions about the world. He attempts to understand in terms of Western philosophy the Buddhist experience and notion of ›nothingness‹.«24

4. Die Fernnähe an der jeweiligen Höhentiefe – Die Philosophie in Deutschland für das japanische Denken (4.1.) Die buddhistische Erfahrung sowie das Nichts im buddhistischen Sinne waren Nishida tatsächlich vertraut. Es ist dann zu fragen, in welcher Weise von ihm die europäisch-deutsche Philosophie rezipiert wurde. Wie ich nachher bemerken werde, gilt sein Fall nicht nur als sein persönlicher Fall, sondern als ein ausgezeichneter Fall der Rezeptionsweise der klassischen deutschen Philosophie in Japan überhaupt. Ich gebe eine Passage im Text von Nishida in meiner Übersetzung an. Ausgehend vom Sprichwort der Phänomenologie Husserls und Heideggers, »Zu den Sachen selbst«, sagt Nishida: »Die genannte Sache soll die Tatsache des Bewusstseins heißen. Nur dann, wenn unser handelndes Selbst lediglich für das Ich-Bewusstsein genommen wird, wird die Tatsache zur bloßen Sache. Die Sache ist die minimalisierte Tat in der Tatsache. So möchte ich statt: Zu den Sachen selbst eher sagen: Zu den Tatsachen selbst. Das Bewusstsein überhaupt bei Kant, wurde bei Fichte mit dem Ich, und bei Schelling mit der Intellektualen Anschauung zu eine Metaphysik versetzt, aber die Hegelsche Dialektik ist zur von mir 24 Ebd., S. 560. Löwith hätte dabei nur einen damals von der Nichte Nishidas, Fumi Takahashi, ins Deutsche übersetzten Essay lesen müssen, da er selber kaum Japanisch konnte, um die Texte Nishidas lesen zu können. Während Löwith den japanischen Raum (washitsu) nur von oben anschaute, trat der süd-westdeutsche Neukantianer Eugen Herrigel gänzlich in den japanischen Raum ein. Er beschäftigte sich nämlich mit dem ganzen Leib und der ganzen Seele mit dem vom Geist des Zen geprägten Bogenschießen, und erreichte den Rang des Meisters. Allerdings kann man an seinem long-seller Buch »Zen in der Kunst des Bogenschießens« sehen, dass gerade indem er gänzlich in den japanischen Raum eingetreten ist, dieser Raum doch wiederum »europäisch installiert« wird. Denn seine eingehend analytische und selbstreflexive Art der Beschreibung hätte kein Japaner, der sich in konventioneller Weise mit dem Bogenschießen beschäftigt, nachahmen können.

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gedachten selbstwissenden Bestimmung des Nichts nah. Allerdings geht sie als die Dialektik der Idea nicht weiter als ein noematisiertes Selbstwissen des Nichts.«25 In dieser Passage, die bestimmt einer weiteren Erläuterung bedarf, werden die repräsentativen Namen und Gedanken der klassischen deutschen Philosophie genannt. Das »Bewusstsein überhaupt« bei Kant, das absolute »Ich« bei Fichte, die »intellektuale Anschauung« bei Schelling, die »Dialektik« bei Hegel, die »Sache selbst« bei Husserl und Heidegger usw. Diese philosophischen Gedanken werden in den Gedanken Nishidas vom »Nichts« über-setzt. Das Schlüsselwort in dieser Über-setzung ist die »Tat« in der »Tatsache« im Unterschied von der »Sache«.

(4.2.) Die Kenner dieser Philosophien würden zu jedem Satz in der Passage Nishdias einiges Kritisches sagen, oder zumindest jeden Satz in Frage stellen, was auch gut und notwendig wäre. Zugleich ist aber auch darauf aufmerksam zu machen, dass Nishida hier die westliche Philosophie in einer Weise der Über-setzung, durch eine denkerische halbe Durchlässigkeit aufgenommen hatte, so dass die westliche Philosophie für ihn in einer »Fernnähe« zu ihm aufgeht. Die Ferne an sich gibt es nicht, so wenig wie die Nähe an sich. Es gibt nur die jeweilige Fernnähe. Die Fernnähe im Fall Nishidas ist, um es noch einmal zu sagen, hier deshalb zu betrachten, weil sein Fall ein Beispiel für das ist, was auf den deutsch-japanischen Denkwegen als die Grundtendenz mehr oder weniger zu sehen ist. In dieser Hinsicht ist nur auf das Schlüsselwort »Tat« aufmerksam zu machen. Eine Tat ist, wenn sie als eine Sache vorgestellt und in die vorgestellte Tat verwandelt wird, nicht mehr die Tat selbst als reiner Akt. Die »Tat« als reiner Akt kann als solcher nicht noematisch objektiviert werden. In ihrem entquellenden Augenblick ist eine Tat immer ein tätiges Nichts. Nishidas Streben: Zu den Tatsachen selbst, bedeutet das Eindringen in diesen Ursprung der »Tat« als dem reinen Akt. Hier sei vielleicht an Goethes Faust erinnert, der bekannterweise den Biblischen Satz »Im Anfang war das Wort (Logos)« übersetzen wollte, und als Übersetzung für den Logos nicht den »Geist«, nicht den »Sinn«, auch nicht die »Kraft«, sondern die »Tat« benannte. Für Goethe sollte der Logos im Anfang kein vom Schöpfer ausgesprochenes Wort, sondern eine »Tat« Gottes sein. Im Anfang war die Tat, so nach Goethe, und die Tat am Anfang ist ein unhintergehbares Nichts, was als der Sinn der creatio ex nihilo zu verstehen wäre. Nishida versuchte, diese »Tat« zwar nicht als Logos Gottes, aber logisch-philosophisch als das Anfängliche des Lebens und der Welt zu begreifen, und diese Logik zu entfalten, wurde seine Lebensaufgabe. Nur beiläufig sei erwähnt, dass Nishida zum logischen Begreifen der »Tat« als des tätigen Nichts die mathematische Mengenlehre und diese Gruppentheorie zu Hilfe zu nehmen versuchte. In dieser Hinsicht ist sein Entwurf mit dem von Quine zu vergleichen, Kitarô Nishida, Watashi no zettaimu no jikakuteki-gentei to iumono (Was das von mir gemeinte Selbstgewahren des absoluten Nichts bedeutet), in: Nishida Kitarô zenshû, (Gesamtausgabe Kitarô Nishidas), Alte Ausgabe, 3. Aufl., Bd. 6, 1978, S. 166; Neue Ausgabe, Bd. 5, 2002, S. 130. 25

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der in Mengenlehre und ihre Logik die wesentliche Analogie zwischen der Mathematik und der philosophischen Logik herausstellte.26 Für Nishida war aber die mathematische Lehre nur ein Erklärungsmodell für seine Logik, und nicht diese selbst. Denn für ihn war die mathematische Logizität am Ende die Vogelschau aus der Höhe, von der aus die Existenz des Mathematikers selbst weder begriffen noch gesehen wird. Er wollte die Logik aufbauen, mit der das Selbst des Mathematikers gefasst werden kann. Die gesuchte Logik sollte die »Tat« des Sehaktes der Vogelschau selbst thematisieren.

(4.3.) Diese Tat als Seh-akt des denkenden Mathematikers ist, solange sie nur in der unmittelbaren Erfahrung desselben vollzogen, nicht aber als ein noematisch vorgestelltes Etwas verstanden werden kann, ein tätiges Nichts.27 Jede Tat ist in gewissem Sinne eine creatio ex nihilo. Wenn dieses tätige Nichts dennoch unbedingt mit der philosophischen Sprache zum Ausdruck gebracht werden soll, so stünde der Ausdruck »noêsis noêseôs« im Aristotelischen und Hegelschen Sinne28 wohl in einer wesentlichen Fernnähe. Das Denken des Denkaktes bzw. das Sehen des Seh-aktes ist eine Tat in der un-reflektierbaren Unmittelbarkeit, quasi eine »tathandelnde noêsis noêseôs«. Wenn es etwas schroff und gewaltsam klingt, den Fichteschen Begriff der »Tathandlung« in einer verbalen Form zu verwenden, so muss diese Wendung kurz gerechtfertigt werden. Die »Tathandlung« bei Fichte war die Tat und die Handlung. Sie ist zwar erstens die »Handlung« im Sinne des Vollzugs der Bewusstseinstätigkeit, zweitens aber nicht eine bloß empirisch motivierte Handlung in der Zeit, sondern eine ursprüngliche »Tat« des Bewusstseins. Die Tathandlung ist die Vgl. Willard Van Orman Quine: Set Theory and its Logic. Cambridge MA 1963. Deutsche Übersetzung: Logik und Grundlagen der Mathematik. 27 Die unmittelbare Erfahrung wurde auch innerhalb des logischen Positivismus, dem Quine am Anfang an gehörte, nicht nur bemerkt, sondern sogar zu einem Grundstein der Theorie gemacht. B. Russell nannte nämlich diese Erfahrung die »sensation« als die unmittelbare Erfahrung der »sense data«, die bei einem synthetischen Satz als invarianter Ausgangspunkt vorausgesetzt wird. Mit dem Wort von Russell selbst zu sagen: »the experience of being immediately aware of these things«. (Bertrand Russell: The Problems of Philosophy, London 1912. New and revised edition 1919, S. 17 f.) Aber für Nishida, der ebenfalls von der unmittelbaren Reinen Erfahrung als Ausgangspunkt seines Philosophierens redete, sollte die unmittelbare Reine Erfahrung die Erfahrung vor jeglicher Entzweiung ins Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt-sein, die Erfahrung einer Ichlosigkeit, die bei Russell nicht das Thema war. 28 Vgl. Aristoteles: Metaphysik, Buch Λ,1074Β 34: »ἔστιν ἡ νόησις νοήσεως νȳησις«. Zu Hegel vgl. Enzyklopädie, 3. Aufl. 1830, den letzten Paragraph § 577, wo Hegel von der »sich wissenden Vernunft« redet, und im Anschluss daran ohne Kommentar lediglich ein Zitat aus der Metaphysik von Aristoteles, 1072 b 18-30 hinzufügt. An dieser Stelle spricht Aristoteles davon, dass die Vernunft sich selbst denkt: Ἁυτὸν δὲ νοεῖ ὁ νοῦς κατὰ μετάληφιν τοῦ νοητοῦ. (Die Rechtsschreibung folgt dem Zitat Hegels.) Die »ἐνέργεια« der Vernunft ist nach Aristoteles das Leben als solches. In der deutschen Übersetzung durch H. Bonitz wird diese »ἐνέργεια« mit »Tätigkeit« übersetzt. Vgl. Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet mit Einleitung und Kommentar. Herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1980, S. 257.) 26

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ursprüngliche Tat, die je und je in Form der Handlung der Stiftung des Bewusstseinshorizontes vollzogen wird. Dadurch wird das Selbstbewusstsein ›Ich‹ gestiftet, das sich das Nicht-Ich entgegensetzt. Zwar hat Fichte die verbale Form von »Tathandlung« nicht verwendet. Aber der Sache nach muss die Tathandlung als die anfängliche Tätigkeit des Bewusstseins eben in einer verbalen Form verstanden werden können, als das tathandelnde Bewusstsein, das vor jeglicher Entzweiung in noetisches Ich und noematisches Nicht-Ich. Was nun die noêsis noêseôs von Aristoteles selbst betrifft, so könnte man sie auch als die Stiftung des Horizontes des Denkaktes überhaupt verstehen, und sie als eine Tathandlung des Denkens, als das tätige Nichts bezeichnen. Hegel zieht diese Aristotelische Einsicht in die noêsis noêseôs als das Selbstwissen des Menschen in Gott heran. Er fasste sie somit zwar bis zum Letzten als das »Wissen«, und nicht als die »Tat« auf.29 Aber das »Wissen« ist, um teilweise mit Goethes Faust in seiner Übersetzung des »Logos« zu sprechen, doch auch eine »Tat« im ausgezeichneten Sinne, wie Aristoteles die »theôria« als die in sich vollendete Tätigkeit namens »energeia« auffasste. Das »Wissen« als solches ist eine Tat per excellence, und die Tat als reiner Akt ist, wie gesagt, ein tätiges Nichts. Nishida versuchte, von diesem Ort des Nichts aus die Gedanken der deutschen Philosophen auszuloten, die zu ihm in einer Fernnähe standen, und die er in seinen Gedanken des »Nichts« über-setzte. Dies ist zwar der individuelle Fall Nishidas. In ihm sieht man aber auch eine in der Geistestradition in Japan gemeinsame Gesinnungstendenz: konkret und schlicht zu sein, wie typischerweise in Form des Kurzgedichtes haiku zu sehen ist. Zwar geht es in einem philosophischen Gedanken immer um einen Akt des Verstehens. In Japan wird das leibliche Verstehen (ja p.: etoku, ఍ᚓ) höher geschätzt als die Kopfarbeit des intellektuellen Verstehens (jap.: rikai, ⌮ゎ). Zu den Tatsachen selbst von Nishida ist ein radikalisierter Ausdruck für diese Gesinnungstendenz. Das radikal-universale philosophische Denken in Deutschland affiziert mit seiner Höhentiefe das japanische Denken, zu dem es in einer Fernnähe steht. Die Höhentiefe ist wie das Wort Fernnähe wiederum ein von mir erfundenes ›sonntagsdeutsches‹ Wort.30 Es gibt weder die Höhe an sich noch die Tiefe an sich. Es gibt nur die jeweilige Höhentiefe. Mit diesem Wort meine ich hier die Tiefe des DenkboVgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, ibid., § 564, Zusatz: (Gott weiß von sich, der Mensch weiß von Gott, was fortgeht dazu, dass der Mensch in Gott sich selbst weiß). 30 Das Wort »Fernnähe« ist allerdings jetzt auch über »Google« zu finden, wobei die Wortbedeutung, die sich aus den erscheinenden Seiten ablesen lässt, nicht ganz dieselbe zu sein scheint wie jene hier erörterte. Dem gegenüber wird das Wort »Höhentiefe«, soweit der Verfasser dies überblickt, bisher von niemandem genutzt. Die Wörter »Fernnähe« und »Höhentiefe« werden zur Zeit in einem phänomenologischen Entwurf des Verfassers Phänomenologie der Compassion sowie in einem von ihm geleiteten deutsch-japanischen interreligiös-interkulturellen Projekt mit demselben Arbeitstitel »Phänomenologie der Compassion« als Schlüsselwörter zu entfalten versucht. Das letztere Wort könnte ebenso wie das erstere bei »Google« auftauchen, sobald der vorliegende Aufsatz im DGPhil-Tagungsband erscheint, und durch die Suchfunktion herausgefiltert wird. Da die kriterienlose und indifferente Aufnahme aller Informationen durch »Google« diese Informationen zur Voraussetzung für die Einschätzung der weiteren Informationen macht, besteht allerdings auch die Gefahr, dass die Qualität der kulturellen Phänomene nur durch die quantitativen Elemente bestimmt wird. Besonders im Gebiet der Sprache bedarf dieses Phänomen des Nachdenkens. 29

Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹?

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dens und die Höhe der darauf entstehenden Denkgebäude. Es darf im Rahmen des vorliegenden Vortrags davon abgesehen werden, die Begriffe der Höhentiefe und der Fernnähe teilweise mit der Logik Nishidas von der sog. »Widersprüchliche[n] Selbstidentität«, teilweise als Existenzialien phänomenologisch, wie in Heideggers Sein und Zeit, zu entfalten. Es genüge hier nur darauf hinzuweisen, dass die vertikale Höhentiefe und die horizontale Fernnähe je und je ein Geschehen in der Begegnung von Kultur und Kultur, Mensch und Mensch darstellen. Eine Geistestradition begegnet einer anderen je aus ihrer Fernnähe und in ihrer eigenen Höhentiefe, wobei die Höhentiefe als die Bedingung der Möglichkeit für eine Fernnähe zu verstehen wäre.

(4.4.) Die These, es gebe in der sonst universal-rationalen Philosophie doch »West« und »Ost«, wie ich im Titel meines Vortrags in Form der Frage formuliert habe, besteht nur insofern, als West und Ost in einer Fernnähe zueinander stehen, indem jede Seite in ihrer eigenen Höhentiefe Wurzeln schlägt und diese Wurzeln pflegt. Deutsch-japanische Denkwege im »Rückblick« sind die Beispiele dafür. Wie der »Ausblick« der deutsch-japanischen Denkwege aussieht, darüber ist allerdings noch nachzudenken, und zwar an beiden Herkunftsorten. Denn was bisher geschehen ist, ist keine Garantie dafür, dass dasselbe auch weiter geschehen wird.31

㹙Nachtrag㹛 Meine Damen und Herren, das Manuskript, das ich schriftlich vorbereitet hatte, endet hier. Da ich aber sehe, dass ich noch ein paar Minuten haben kann, möchte ich einige Worte hinzufügen, zumal da das Manuskript gerade an dem Punkt endet, wo das genannte Nachdenken zum »Ausblick« der deutsch-japanischen Denkwege und die Diskussion darüber beginnen sollte. Wie Herr Rümelin in seinem Abendvortrag von vorgestern sagte, wird in den USA heute mit der »kontinentalen Philosophie« nicht die klassische deutsche Philosophie wie Diese »Fernnähe« in der »Höhentiefe« kann nicht nur von der philosophischen Begegnung, sondern auch von der zen-buddhistischen Überlieferung her bedacht werden. Als der sechste Patriarch des Zen-Buddhismus Enô zum ersten Mal den fünften Patriarch Kônin besuchte, um sein Schüler zu werden, fragte Kônin ihn, »Woher bist Du gekommen?« Enô antwortete, »Ich bin vom Süden der Gebirge Dairei gekommen.« Kônin sagte, »Der Barbar aus der Gegend Dairei-Süd hat keine Buddha-Natur. Wie kann er zu Buddha werden?« Enô sagte, »Beim Menschen gibt es zwar Süd und Nord; aber für die Buddha-Natur gibt es weder Süd noch Nord.« (ࠗභ♽ቭ⤒࠘ ♽᭣ࠊࠕỢ᫝㸦ᕊ༡ேࠊཪ⾠᧺ࠊⱝⅭ ሓస௖ࠋ្͒⬟᭣ࠊࠕே㞪᭷༡໭ࠊ௖ᛶᮏ↓༡໭ࠋ⾠᧺ࡢ㌟࡜࿴ᑦ࡜ྠࡌ࠿ࡽࡊࡿࡶ㸪௖ᛶ࡟ ఱࡢᕪู࠿࠶ࡽࢇࠖ㸧. Es ist zwar ein historisches Faktum, dass der erste Patriarch Boddhi Dharma von Indien nach China kam, wodurch der Zen-Buddhismus in China die Wurzel geschlagen hat. Im Zen selbst aber gibt es weder »West« noch »Ost«. Warum ist dann Boddhi-Dharma vom Westen nach Osten gekommen? Dies zu begreifen, ist der Sinn der bekannten Kôan-Frage »Warum ist Boddhi Dharma vom Westen gekommen (d. h. von Indien nach China)?« 31

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die von Kant oder Hegel, sondern die französische Philosophie wie die von Derrida, Foucault, usw. gemeint. Die anderen Namen wie Merleau-Ponty, Levinas, Lévi-Strauss usw. könnten bestimmt hinzugefügt werden. Ob dieses Phänomen nicht teilweise der allgemeinen Tendenz der deutschen philosophischen Welt zuzuschreiben wäre, ist eine Frage. Denn es ist z. B. zwar schön, dass auf den Tagungen in Deutschland die Vorträge auf Englisch ohne weiteres gehalten werden können und dürfen, was angesichts der globalisierten Wirklichkeit der Welt sogar praktisch und notwendig ist. Es ist aber zugleich noch sehr zu wünschen, dass trotz des oder eben in der Verbreitung des englisch-sprachigen Imperialismus das enorme philosophische Potential der deutschen Sprache neu zum Bewusstsein gebracht wird. Denn das philosophische Potential der Sprache ist nicht auf die wirtschaftliche oder politische Macht zurückzuführen. Mit dieser These meine ich keineswegs, dass ein nationales deutsches Bewusstsein wieder erweckt werden soll. Umgekehrt: Es geht eher darum, mit dem »Weltbewusstsein«, wie es Schelling sagt, mit der Sprache umzugehen. Der Blick auf die Sprachen der Welt ist der Blick auf die Welt der Sprache.32 Mit meinem Sonntagsdeutsch gesagt: Es geht um das Gewahren der Höhentiefe und der Fernnähe der Denktraditionen. Es genügt also nicht, nur die Namen wie Rawls, Rorty, Quine, usw. zu zitieren und sich an sie zu wenden. Es ist bekannt, wie intensiv Quine sich mit der Kritik der reinen Vernunft von Kant beschäftigt hat, was auch Rawls’ Aufsatz »Kantian Constructivism«33 in ähnlicher Weise zeigt. Es ist geboten, mit diesen amerikanischen Philosophen und auch mit den französischen, sowie überhaupt mit nicht-deutschen Philosophen die Gespräche auf Augenhöhe zu führen, solange sie durch die philosophische Radikalität und Gründlichkeit des Denkens geprägt sind. Ohne die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Philosophie gibt es keine gegenwärtige Philosophie, was auf der Oberfläche ihrer Modephänomene oft übersehen wird. In diesem Sinne finde ich es von epochaler Bedeutung, dass der Präsident der DGPhil, Herr Quante, die Neubewertung und Neubeleuchtung der klassischen deutschen Philosophie auf diesem Kongress zu thematisieren vorgeschlagen hat. Mit dieser Beobachtung schließe ich meinen Vortrag ab. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit aus Ihrer Fernnähe und in Ihrer Höhentiefe.

Vgl. Rolf Elberfeld: Sprachen der Welt – Welt der Sprachen (Alber Verlag, Freiburg i.Br. und München, 2012). 33 John Rawls: »Kantian Constructivism in Moral Theory«, in: Journal of Philosophy, LXXVII, 1980, p. 515-572. 32

Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹?

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Literatur Aristoteles: Metaphysik. In der Übersetzung von Hermann Bonitz. Neu bearbeitet mit Einleitung und Kommentar. Herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg 1980. Elberfeld, Rolf: Sprachen der Welt – Welt der Sprachen, Freiburg i.Br. und München 2012. Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer Kritik aller Offenbarung, Erste Auflage 1792; zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, 1793. Fichtes Werke, Bd. V, Berlin 1971. – Der geschlossene Handelsstaat, V, Berlin 1971. Glasenapp, Helmuth von (Hg.): Kant und die Religion des Ostens, Würzburg 1954. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, gehalten zwischen dem Wintersemester 1822/23 und dem Wintersemester 1830/31, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 18, Frankfurt/M. 1970. – Gesammelte Werke, Bd.18. Vorlesungsmanuskripte II (1816 – 1831), hrsg. von Walter Jaeschke, Düsseldorf 1995. Kitarô, Nishida: Über die Philosophie Descartes, in: Gesamtausgabe Kitarô Nishidas (jp.), alte Ausgabe, 3. Aufl., Tokyo 1978, Bd. 11; Neue Ausgabe, Bd. 10, 2004. – Watashi no zettaimu no jikakuteki-gentei to iumono (Was das von mir gemeinte Selbstgewahren des absoluten Nichts bedeutet), in: Nishida Kitarô zenshû, (Gesamtausgabe Kitarô Nishidas), Alte Ausgabe, 3. Aufl., Bd. 6, 1978, S. 166; Neue Ausgabe, Bd. 5, 2002. Löwith, Karl: Der Europäische Nihilismus. Nachwort an den japanischen Leser (1940), jetzt in: Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983. – »The Japanese Mind. A Picture of the Mentality that We Must Understand if We are to Conquer«, in: Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 2: Weltgeschichte und Heilsgeschehen: zur Kritik der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1983. Ohashi, Ryosuke: Wohin ist das Absolute entschwunden? Der deutsche Idealismus und die gegenwärtige Welt (jap.), Kyoto 1999. Quine, Willard Van Orman: Set Theory and its Logic. Cambridge MA 1963. Rawls, John: »Kantian Constructivism in Moral Theory«, in: Journal of Philosophy, LXXVII, 1980, S. 515-572. Rosenkranz, Karl: Japan und Japaner, in: Neue Studien von Karl Rosenkranz. Erster Band: Studien zur Culturgeschichte. Leipzig 1875. Russell, Bertrand: The Problems of Philosophy, London 1912. New and Rivised edition 1919. Sandkaulen, Birgit: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000. Scheler, Max: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. IX, Bern 1976. Schelling, F.W.J.: Die Weltalter, Originalausgabe Bd. VIII. In neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter. Münchner Jubiläumsausgabe, Vierter Hauptband, München 1965. – Einleitung in die Philosophie der Offenbarung, Originalausgabe Bd. XII. In neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter. Münchner Jubiläumsausgabe, Sechster Ergänzungsband, München 1969. – Einleitung in die Philosophie der Mythologie, die dreiundzwanzigste Vorlesung. Originalaus-

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gabe Bd. XI. In neuer Anordnung hrsg. von Manfred Schröter. Münchner Jubiläumsausgabe, Fünfter Hauptband, München 1965. Takemura, Yasuo: »Kant in Japan« (jp.), in: Der deutsche Idealismus und die japanische Moderne (jp.), hrsg. von Yoshio Kayano, Bd. 6 der Serie Der Dialog mit dem deutschen Idealismus (jap.), hrsg. von Ryosuke Ohashi, Tomio Nishikawa, Yoshio Kayano, Akira Ohmine, Takuji Kadowaki, Tsunemichi Kambayashi, Kyoto 1994. Takamatsu, Toshio/Nishio, Kanji: Nihonjin no Niche Kenkyûfu (Register zur japanischen Nietzsche-Forschung), Sonderband im Rahmen der neuen japanischen Nietzsche-Gesamtausgabe, Tokyo 1982. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I , Tübingen 1920, 19889. Windelband, Wilhelm: Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur und den besonderen Wissenschaften dargestellt, Leipzig 1911.

History in the Service of Philosophy Philip Pettit (Princeton)

For someone who believes in interdependence between the practice and the history of philosophical thought, Kant supplies a template on which to build an appealing formulation. Philosophy without history is empty, we might say, history without philosophy is blind. The second, blindness part of the creed strikes me as more or less obvious. We are all familiar with the difference between the antiquarian, plodding history of a debate from past times that lets us see the counters in play between the different sides, lets us track the different configurations in which the protagonists organize those counters, but leaves us entirely unengaged. This sort of history is unengaging, precisely because it is written in the absence of a philosophical sensibility: a tutored sense of what is interesting and what persuasive, which presupposes an independent attunement to philosophical issues. The authors of such antiquarian inquiries scout their way around the debates they map with a feel for the territory no better than that of the amateur tour-guide; lacking the ability to go native, they fail to make us feel at home in the domain they chart. But I put aside the blindness claim here in order to focus instead on the emptiness charge. This claim is that philosophy done in ignorance or neglect of history is liable to lack a sense of direction, having none of the landmarks constituted by the arguments, ideas and theories familiar from the past; that, I take it, is what the emptiness charge alleges. Not knowing your philosophical history, you may not be destined to repeat it – after all, that would be a rare achievement – but you will certainly be in danger of being unable to evaluate whatever insights you generate, comparing them with the best that is available from the past. For all you are in a position to recognize, you may be blazing a trail, exploring a dead end, or stuck in a rut. The claim that philosophy without history is empty, as just formulated, is probably a little overstated. After all, there are new philosophical inquiries generated by the puzzles of quantum mechanics, the development of neuroscientific techniques, the digitization of information, and so on. And those inquiries are unlikely to connect with much philosophical work that was done in the past. Putting aside such inquiries, however, I wish to make a case for why more generally the emptiness claim is sound. The defense of the claim needs to identify a difference between philosophy on the one side and most scientific disciplines on the other. It is generally assumed, even among insiders, that you can find your bearings in physics or chemistry, biology or psychology, even economics or political science, without a grounding in the history of the discipline and without a sense of its development. If the parallel claim is implausible in the case of philosophy, that must be because philosophy is different in some crucial respects from those other disciplines.

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The defense of the claim is made in two stages, then, each with a section of its own. In the first section, I look at the reconstructive role of philosophy, as I describe it, arguing that this marks philosophy off from other disciplines. And then in the second, I try to show that this difference explains why philosophy stands to benefit from history.

1. The reconstructive role of philosophy If we wanted a simple phrase in which to identify what makes philosophy different, then I would suggest the following: philosophy is the theory you do when you are not doing theory. Philosophical thinking introduces ideas about a variety of topics, as any theory does. But the ideas that go to make up a philosophical theory are not ideas of the kind that you can choose not to have. They bear on topics on which you are already bound to endorse some ideas, however unthinkingly you do so. Whether you like it or not, whether you are interested or not in sorting out your views on the matters involved, you cannot help but endorse certain assumptions about those topics. You cannot help but hold, however implicitly, by recognizably philosophical positions. The best way of explaining why this is so is to begin with what happens when we converse with one another on any topic, or even converse with ourselves in the exercise of reflective thought. Any conversation, as Robert Stalnaker (1978) and David Lewis (1983, Ch 13) argued some decades ago, is a moving exchange in which the participants start from common ground and build up that ground progressively, converging on a variety of propositions that they each agree should be added to it. A proposition will be part of the common or shared ground among participants insofar as it is something that they each believe, they each believe that they each believe, they each believe that they each believe that they each believe, and so on (Lewis 1969). They need not have an infinite hierarchy of actual beliefs on relevant matters but what must be the case, more or less, is that should the question arise at any level as to whether there is appropriate convergence between them, then they are each disposed to give a positive answer. Every conversation begins from common ground insofar as we use various words on the basis of shared semantic and pragmatic assumptions. When I say that the King of France is bald, for example, I speak on the basis of assumptions about what it is for someone to be a king and what sort of entity France constitutes. That is common ground between us. In making my assertion I am proposing at least two extra propositions as matters to be added to that common ground: first, a pragmatic presupposition: that France has a King; and, second, the semantic content of the assertion: that that King is bald. This conversation is unlikely to go anywhere, since you and others will know enough geography and history to object to my proposed additions to the common ground between us and I will be unable to counter those objections. But most conversations do not stall like this. In most exchanges I will propose assumed or asserted propositions as additions to our pre-existing common ground without your lodging any objection, or at least any objection that I cannot rebut to your satisfaction. And as such conversations progress they will establish a rich sediment of commitments in the common ground between us.

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Those commitments will constitute pre-judgments, in Gadamer’s (2004) sense, that we each take for granted as we develop our exchanges and interactions with one another, seeking to build up a common picture of the world we share. Each conversation will create a rich patch of ground that comes to be shared amongst those of us who are party to that particular exchange. Sometimes this ground will be specific to that interaction only; it will embed propositions we are prepared to endorse for the sake of hanging together, say in some common enterprise, but not to espouse in any more enduring way. But many of the propositions embedded in common between us in conversation will have a more or less enduring character. They will be aspects, for each of us, of ground zero, so to speak: the ground on which we are each willing to begin or maintain any conversation with others. Among those more permanent elements in your ground zero, or indeed in anyone’s ground zero, there are bound to be many that bear on distinctively philosophical subjects. These will crop up in a variety of areas: for example, in traditional grandiose labels, the areas of reason, nature, mind, society and value. In the domain of reason philosophical topics include principles of consistency and inference and the like; in the domain of nature matters like space, time and causation; in the area of mind the essence of intentional and phenomenal states, or of linguistic and instrumental behavior; in the area of society the preconditions of social interactions and institutions; and in the domain of value the nature of evaluation and the form that it should take in different spheres. You and I may differ in some of the assumptions we make about such topics, in which case there will be a philosophical difference between us. But we are likely to converge to a good extent with one another on many issues. Our working assumptions, embedded in common ground that has the status of ground zero for each of us, will constitute a shared view of the world. Those assumptions will rarely be spelled out explicitly, of course. The view they constitute will amount to a Lebenstheorie, a lived theory, giving us access in Husserl’s (1970) phrase to the same Lebenswelt, the same lived world (Pettit 2004). Our shared philosophical assumptions are bound to show up in various interactions and exchanges. When we use arguments to persuade one another, we have to make common assumptions about relevant principles of reasoning. When we seek to determine in common the cause of some phenomenon, we can do so profitably just to the extent that we agree on what would make for a cause. When we debate about whether someone did something intentionally, we can only expect to reach the same conclusion on the basis of a shared sense of what intentional action requires. When we ask about what the law should require of corporations, we can pursue the matter usefully only if we hold by similar views on what makes for law and on what are corporations. And when we explore issues of individual or institutional assessment, we will do so with benefit only to the extent that we converge on relevant values and on the role, consequentialist or otherwise, those values should play in this exercise. On the picture emerging from these observations, we are all philosophers. We are philosophers, if not by first genetic nature, at least by the second nature we develop in becoming versed in the use of language and inducted into the exercise of conversation (McDowell 1996). But of course the philosophy we hold by is bound to be indeterminate on

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various margins, even perhaps somewhat confused. And we are bound to hold by it only in an unthinking, lived sense of the term. Just to illustrate the lived manner in which we may endorse philosophical views, think about the assumptions we display in arguing about causes. We accept the argument that X cannot have been the cause of Y, because it didn’t occur until after X. Or in supporting the case that W is the cause of Z, we look for local connections between the two events: say, a flow of subatomic particles between them. And we thereby display working assumptions about causation, albeit ones that we may not have a ready capacity to spell out: in the first case, that causation works from earlier to later, not vice versa; and in the second, that causation does not operate at a distance: that is, in the absence of intervening linkages. It is the unthinking, indeterminate character of the philosophical assumptions we inescapably endorse that points us towards the role of formal, reflective philosophy: that is, philosophy considered as a discipline. The role of philosophical discipline is threefold. First, we aim in our philosophizing in any area to bring to awareness – to make explicit (Brandom 1994) – the assumptions to which we commit ambulando in our spontaneous patterns of argument, whether the area be that of reason, nature or mind, society or value. Second, we aim to examine those assumptions for how far they can be interpreted, or how far they need to be revised, so as to fit with evidence from a culturally privileged source like natural science, as it is in our culture, or revealed religion, as it might be in another. And third we look at the implications of suitably interpreted or revised assumptions – or indeed of novel assumptions that we feel forced to put in their place – in more practical areas: for example, in the area of morality, individual or institutional, or in the area of methodology. The role of philosophical discipline, on this account of it, is critical reconstruction. First, we begin from how the world is conceptualized for us spontaneously in our habits of thought and talk, seeking to articulate as persuasively as possible the assumptions to which we are committed. This exercise may be cast in more analytical or phenomenological or reflective terms; those differences need not concern us here. Second, we look for how far the assumptions we reconstruct can be squared with the theories, in particular the well-established theories, of natural science. In Wilfrid Sellars’s (1997) picture, we begin from the manifest image of the world and see how far it can be reconciled with the scientific. In Frank Jackson’s (1998) metaphor, we start with phenomena described in commonsense terms and see how far they can be located or given a home within the world described in the austere vocabulary of mature science. The third stage in critical reconstruction bears on developing lessons of a broadly moral or methodological kind. If we conclude that aspects of the manifest image rest on a mistake, as J.L. Mackie (1977) argued in the case of ethics, then we will have to develop a story as to how far we can sustain our received moral practices. If we conclude that some assumptions in that image need interpretation or revision on distinctive lines, as many have argued in the case of causation, then we will have to elaborate a corresponding story about the methodology of causal inquiry. If we endorse a certain view of scientific reasoning, as in a Bayesian approach, then we will want to display its implications for scientific practice. And if we endorse a certain view of moral reasoning, say a consequen-

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tialist theory, then we will naturally want to show where this is likely to lead in ethics and politics. These observations about the role of philosophy should help to identify a deep cleavage with most other disciplines, and certainly with the natural sciences. They show that there is a tight connection that binds philosophy and our common sense and that has no counterpart in the case of the natural sciences. Physics may begin with commonsense terms like mass and force and inertia, for example, but those terms get radically redefined in scientific practice and the assumptions on the basis of which they figure in ordinary usage have absolutely no impact on where physics is led by data and theory. In other words, the direction that physics takes does not have to answer in any way to the thrust of our lay commitments. Nor indeed does the direction taken in natural sciences like chemistry or biology or, in some of its forms, psychology. The fact that formal theory in natural science can displace folk theory, as it is often called, suggests the possibility that perhaps the received views that we expect philosophy to articulate in any area have no more standing than the sort of folk physics that formal physics displaces, and that received views should not be treated with the deference supported here. This suggestion, however, is deeply misleading. The folk physics that formal physics undermines is a contingent set of views that we may or may not hold: the contingent view, for example, that inertia derives from the natural disposition of every object to remain at rest. The assumptions in the area of philosophy that are deeply embedded in the common ground that most of us share are much less contingent than that. They are assumptions, for example, to the effect that middle-sized objects do not go into and out of existence, as they are observed or unobserved, or that causation does not work in a temporally backward direction. Such assumptions may be challenged by science (Price 1997), as may any assumptions in the manifest image. But they are not the sorts of claims that science routinely displaces in the way that formal physics displaces folk physics. The lived theory of the world to which philosophy answers, then, does not reduce to the contingent views that the folk in any culture may happen to endorse in one or another area and that we should expect science to correct. Whether in the area of reason, nature or mind, society or value, the theory amounts to a framework of ideas that is deeply embedded in the common ground presupposed to most conversation. Rather than describe it as a folk theory, with the resonance that has with folk medicine, it may be better to stick to Sellars’s term and describe it as our manifest image of the world. That manifest image is not unrevisable, as I have stressed, but it does have a resilient hold on our minds, offering the bedrock on which conversation and reasoning normally proceed. And as such it is fully deserving of the respect that philosophy as it is understood here – philosophy as critical reconstruction – seeks to give it. We have identified a role for philosophy that explains why it is very different from other disciplines like the natural sciences. But we should note in conclusion that the contrast with some of the human sciences – the Geisteswissenschaften – may not be so clear. As many have argued, Max Weber (1949) prominently amongst them, it is doubtful if we could ever be content to endorse a social theory that required a pattern of perfor-

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mance in individuals that we could not understand from within our manifest image of human psychology; a pattern that we could not make sense of in terms of Verstehen, casting the agents involved as conversable subjects with whom we could imagine doing business (Pettit 1993, Pt 3). This is not the place to discuss this claim but it is certainly worth registering that the human sciences may contrast in this respect with the natural and that they may display greater similarity to reconstructive philosophy.

2. Reconstruction and history It is because of its reconstructive role that philosophy stands to benefit in an important way from history: that is, in a way that marks a contrast with other disciplines, in particular the natural sciences like physics, chemistry and biology. That role gives philosophy a goal that maintains the relevance to current pursuits of the views that those in past ages and places have developed. The goal of the natural sciences, as it is often expressed, is one of prediction and explanation (Habermas 1971). In the selection of theory within the natural sciences many criteria will serve a guiding role: not just a criterion of adequacy to the facts but criteria of precision in framing those facts and refutability by them, as well criteria related to pragmatic goals such as generality and simplicity (Quine and Ullian 1978). Fidelity to such criteria may be expected to further a pursuit that is at once well grounded in the increasing body of data at the disposal of science and well tuned to the desiderata of useful prediction and explanation. The goal of philosophy, on the reconstructive picture of the discipline, is quite different from this. It involves the aim expressed in Socrates’s dictum – know yourself – and it is guided by a related principle: if not that the unexamined life is not worth living, at least that it leaves much to be desired. To be able to articulate, examine and explore the assumptions that you cannot help but make in the course of discourse and reasoning is in an important sense to come to know yourself: to understand the framework within which your experience evolves and your practice proceeds. There is a satisfaction in coming to recognize your lived assumptions, whether or not you revise or replace them, that testifies to a sort of liberation or emancipation. It is an experience that registers the fact that now you know something about yourself that previously you were in ignorance of. You are no longer the prisoner of inherited, unremarked constraints. You know the constraints under which you spontaneously operate and you endorse them under the interpretation you give them or you revise or replace them according to your own judgment. Where previously you acted in the unwitting service of received assumptions, now you are your own master; you serve only assumptions that you yourself have approved, or even put in place. Freud offers a formula we might co-opt: Wo Es war, soll Ich werden. On one version of the emancipatory goal of philosophy, it remains a solipsistic enterprise, with each of us seeking a framework that we can live with in our own experience and practice. But that interpretation of the goal neglects the fact that the assumptions

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explored in philosophy have a crucial role in conversation or discourse and can really be vindicated only to the extent that we can embed them fruitfully in the common ground required for mutual, progressive exchange. There would be a sort of idiocy, in the etymological sense of the word, in seeking out a philosophical vision without pushing for its vindication with interlocutors. If the framework of philosophical assumptions that appeals to you is to pass muster as a viable way of seeing the world, then it must prove capable of mediating interpersonal discourse, answering not just to your personal perspective but to the perspectives of those with whom you commune. After all, the world you seek to limn in the framework assumptions that are typical of philosophy is a world that you share with others: a world that you can treat as objective only insofar as it makes inter-subjective rather than just intra-subjective sense. This is to say that the aspiration in reconstructive philosophy is inevitably an ambition to make public, interpersonal sense of how we see or should see the world together. That lesson teaches much about how philosophy should be taught and how it should be developed. It makes sense of the tradition of the one-to-one tutorial where the student is an active participant, not just a passive recipient. And it makes sense of the practice of workshopping ideas in the to and fro of conference meetings, email networks or blogging exchanges. And on the negative side, of course, it makes nonsense of the idea that anyone should claim or be given the status of a master or expect to command the credulous attention of disciples. It vindicates the Socratic practice of dialectic in which the discipline was born. This emphasis on the reconstructive role, the liberating aim and the interpersonal testing of philosophical claims is consistent, it should be noted, with admitting that philosophy, like natural science, can make an important degree of progress. Some forms of progress are responses to progress in other areas. A good example is the way in which we can make sense of the skills displayed in the use and understanding of natural language, in particular of an indefinite range of sentences in the language. This is possible only in light of the recognition of recursion and of the possibilities it opens up in the systematic, openended application of rules. Descartes (1985) had argued in The Discourse on Method, published in 1637, that nothing constructed out of matter in his sense could master openended speech and that a non-material mind is required for that reason. But we now know that this is a bad argument and that in itself it does not constitute a serious objection to materialism (Stoljar 2006). Other forms of progress in philosophy have other sources. To take a very recent but rather pointed example, consider the traditional view that a body of individuals can perform satisfactorily as an agent – and, by some accounts, only perform satisfactorily – on the basis of majority voting among its members. Although this view was endorsed by outstanding figures like Thomas Hobbes, John Locke and Jean-Jacques Rousseau, we now know that it is seriously mistaken (List and Pettit 2011). A majority of the members of a group may each have consistent views on connected propositions and yet, as a majority, support an inconsistent conjunction of those views, thereby jeopardizing their capacity to perform like a single agent.

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Just to illustrate this claim, suppose that a group of three people, A, B and C, wish to operate as a group, committing themselves to act on the basis of majority voting. Imagine that the group confronts three logically connected issues at a particular time or over a particular period: say, issues like whether p, whether q, and whether p&q. A and B might vote for ›p‹, with C against; B and C might vote for ›q‹, with A against; and so A and B would vote against ›p&q‹, with only B supporting it. This would leave the group with an inconsistent set of judgments to endorse and follow: p, q, and not-p&q. The following matrix displays the problem. Question 1: p?

Question 2: q?

Question 3: p&q?

Person A

p

Not q

Not p&q

Person B

p

q

p&q

Person C

Not p

q

Not p&q

The majority

p

q

Not p&q

Despite the fact that philosophy can make progress, however, that does not mean that it can be as indifferent towards its own history as natural science typically is. And that brings us to the punch-line of this essay. The essentially interpersonal testing to which philosophical claims are subject means that we should always be on the look-out for interlocutors with whom we can explore ideas: our ideas, on the one side, and theirs, of course, on the other. And the history of philosophy offers a resource so rich in interlocutors – indeed interlocutors, by the testimony of peers and successors, of the first rank – that it would be madness or hubris not to try to make use of it. Sure, there are positions defended in that history that have been superseded by later developments, as we would expect in any progressive discipline. But the progress made still leaves many positions standing. This is wholly understandable, given the philosophical goal of making sense of the assumptions we find ourselves committed to. Well-established science offers one criterion of what truly makes sense, and there are other criteria, akin to the pragmatic guidelines relevant in science itself, to complement these. They prescribe here as elsewhere that we should seek the maximally precise and the refutable, so far as that is attainable, and of course the maximally simple and general. But all of these criteria still leave a good deal of slack and allow us considerable discretion in developing our philosophical perspective in one or another domain. The criteria will leave a very considerable deal of slack, of course, if natural science is not treated with the respect that naturalists accord it: if philosophers are willing to posit aspects or parts of the world that can vary without a variation in anything that natural science is capable of charting. But even among naturalistic philosophers, the criteria listed are consistent, as David Lewis was fond of putting it, with a range of theoretical stalemates. This means that the choice of how to go on in many philosophical issues is more akin to choice in the realm of art – say, in the style of literature that you find illuminating and

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engaging – than it is to choice in the realm of science. That, in the end, is why philosophy belongs with the humanities. It represents a demanding intellectual discipline but generally tells us only where we are permitted to stand, not where we are obliged or required to do so. Its greatest achievement is the imaginative innovation that expands the options available, showing us new positions that we can adopt and explaining how established positions can be secured against familiar objections. All of this said, it should be no surprise that philosophers are going to look to the past achievements of their discipline with a much warmer eye than those in the natural or even the human sciences. Aware of the challenge involved in reconstructing, assessing and exploring the pre-judgments to which discourse commits us, and aware of the many obstacles and pitfalls that the exercise confronts, we philosophers can hardly fail to be curious and interested about how the great thinkers of the past – the mighty dead, in Robert Brandom’s (2002) phrase – thought about the issues we confront. Working at the more political end of philosophy, Machiavelli displays the kind of attitude we ought all to find appealing, on the reconstructive picture of philosophy defended here. Having been ejected from public office, he writes to Francesco Vettori in late 1513 about the solace he finds in his evening discourse with the classic authors. ›I enter the ancient courts of ancient men, where, received by them lovingly, I feed on the food that alone is mine and that I was born for. There I am not ashamed to speak with them and to ask them the reason for their actions; and they in their humanity reply to me. … I deliver myself entirely to them. And … I have noted what capital I have made from their conversation‹. The benefit that Machiavelli drew from conversing with ancient men we are all in a position to draw from interacting with those who have pursued in other ages the philosophical goals that we target in our own day. Perhaps the most effective way in which I can underline this message is to highlight areas of philosophy where I have worked myself and where my own feeling is that I could scarcely have reached the positions I came to endorse, whether for good or ill, without interacting with the ideas of others in the past. I mention six issues that have particularly engaged me and on which I think of myself as deeply indebted to a sense of the history of our discipline. Although my knowledge of history leaves much to be desired, even by my own lax standards, it has been an indispensable resource in my research and reflection. In much of my work I have wanted to emphasize the special nature of the understanding between people, to return to the issue between Verstehen and Erklären. Thus I have argued that we cannot claim to know one another except insofar as we find one another conversable: reachable within rules of thought and standards of taste that are not entirely alien to us (Pettit 1993; 2007). I cannot imagine having come to such views other than in interaction with the writings of Wilhelm Dilthey and those like Heidegger, Gadamer and Schütz who took their lead from him. Equally I am one of those attached to the idea that the exercise of thought and reasoning, contrary to standard assumptions, presupposes a resource of mutual discipline that only natural language seems capable of providing (Pettit 1993; 2007). How could I have explored these themes without reflection on Hobbes’s ideas about the transformative

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power of language, on the social turn that Rousseau and Hegel and others gave to those ideas, and of course on Wittgenstein’s exploration of the preconditions of rule-following? How indeed could anyone seriously engage with such ideas without benefitting from conversation with their defenders and opponents in the past? In debates on free will I am of the school of thought that takes free will to presuppose the practice whereby we hold one another responsible – a practice embedded in our very emotions, as Peter Strawson (1962) argued – and to be inseparable from fitness under the rules of that practice to be held responsible: that is, in effect, inseparable from the capacity to respond to relevant reasons as they require (Pettit 2001). It is hardly possible to imagine taking such a view – even adopting the naturalistic version of it that I prefer – without engaging with Kant’s work on the topic. On the nature of personhood I have come to think that like the notion of free will, this too is tied up with the practice of holding responsible. To be a person is to be the sort of agent who can assume and incur responsibility by means of authorized commitments or licensed presumptions: by means of words underwritten, expressly or otherwise, with the authority of a spokesperson. This idea of the person is already present in Hobbes’s work in philosophical psychology, which was much heralded by Mersenne in the early 1640’s but then eclipsed by the rise of Descartes’s star and by Hobbes’s own immersion in matters of politics (Pettit 2008). I cannot imagine exploring this approach other than in interaction with Hobbes himself, with the legal tradition of thinking on which he drew, and with the emerging idea, as Locke put it, that the idea of a person is essentially a forensic concept. Are the concepts of agency and personhood restricted to individuals? Or can they apply in a literal sense to suitably organized or incorporated bodies of individuals? I have been persuaded to join those who think they can and who believe that this has important implications for the responsibilities and the rights that corporate bodies ought to be given in law (List and Pettit 2011). While recent work on the aggregation of judgments, has been crucial to my views of this topic – I gestured at this in my comments on Hobbes’s mistake about majority voting – I could scarcely have become engaged with the issue without relying on the work of Otto Gierke and his followers in the later nineteenth century and on the medieval ways of thinking that they sought to resuscitate. More broadly I cannot imagine having become focused on the question without an immersion in the debates about individual and society that played such a role in twentieth-century discussions of individualism, as it has been called. One of the main themes that has held my attention in political philosophy is the nature of social or political freedom and its capacity to serve as a guiding value in exploring issues of social justice, political legitimacy and state sovereignty (Pettit 2014). While thinking about this topic, I learned through Quentin Skinner’s work of the prominence of theories of freedom within the long Roman and neo-Roman republican tradition. And it was in studying the main figures in that tradition, from Polybius and Cicero to Machiavelli and Harrington, to Montesquieu and Rousseau and Kant, that I came to think that the normatively richest way of conceiving freedom, lost to us in the early nineteenth century, requires not just the absence of interference but the absence of domination (Pettit 1997; 2012). Freedom on this approach consists in being more or less proof against the

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interference of others in the range of the basic liberties, not just being lucky enough to escape it. I apologize for the autobiographical, perhaps even narcissistic character of these references to my own work. But I hope that they may make vivid the claim I am defending, that philosophy without history is bound to be lacking in landmarks and orientation: that, in our earlier metaphor, it is liable to seem empty in comparison to philosophy pursued in commerce with our forerunners. Pick almost any of the big philosophical themes and only a little reflection suggests that it would be extraordinarily arrogant to pursue it without a concern for the debates and doctrines that captured the attention of those who have gone before. Who can think of reconstructing our assumptions about causality, for example, without a sense of the challenge that Kant found in Hume or of the dramatic response to which that led him? It is striking that even in the most unhistorical writing on this topic, we still find the Humean view – or, as some would have it, the view wrongly ascribed to Hume – put forward as the rest position that all later theories must confront. But what is true of Hume and Kant on causality, is true of Aristotle on virtue, of Aquinas on arguments for God’s existence, of Descartes on mind-body interaction, of Berkeley on perception and of Adam Smith on the moral sentiments. And that is not yet to mention any figures from the nineteenth or twentieth centuries. I began this essay with a suggestion that the history of ideas becomes antiquarian when it is pursued in neglect of contemporary philosophical inquiry; it lacks an ability to weigh concerns properly and sift the significant out from the banal. If the observations we have been considering are sound, then it should be clear that philosophy suffers a counterpart failure when it is pursued with indifference towards ideas from the past. Antiquarian history leaves us unengaged, blind as it is to genuine philosophical concern. But what we might call contemporanian philosophy fails us just as badly, if in a rather different way. Emptied of the historical landmarks that might give us bearings, it deprives us of guiding coordinates. If history needs philosophy to give it a sense of purpose and proportion, philosophy needs history to give it a sense of where it has gone and of where it may yet go.

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Bibliography Brandom, R.: Making it Explicit, Cambridge, Mass. 1994. – Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge, Mass. 2002. Descartes, R.: The Philosophical Writings, Vol. 1, translated by J. Cottingham, R. Stoothoff, D. Murdoch, Cambridge 1985. Gadamer, H.-G.: Truth and Method, New York 2004. Habermas, J.: Knowledge and Human Interests, Boston, Mass. 1971. Husserl, E.: The Crisis of European Sciences and Transcendental Phenomenology, Evanston, Ill. 1970. Jackson, F.: From Metaphysics to Ethics: A Defence of Conceptual Analysis, Oxford 1998. Lewis, D.: Convention, Cambridge, Mass. 1969. – Philosophical Papers, Vol. 1. Oxford 1983. List, C. and P. Pettit: Group Agency: The Possibility, Design and Status of Corporate Agents, Oxford 2011. Mackie, J. L.: Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth 1977. McDowell, J.: Mind and World, Cambridge, Mass. 1996. Pettit, P.: The Common Mind: An Essay on Psychology, Society and Politics, paperback edition New York 1996 (1993). – Republicanism: A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997. – A Theory of Freedom: From the Psychology to the Politics of Agency, Cambridge and New York 2001. – »Existentialism, Quietism and Philosophy«, in: B. Leiter (ed.): The Future for Philosophy, Oxford 2004. – Joining the Dots. Common Minds: Themes from the Philosophy of Philip Pettit, H. G. Brennan, R. E. Goodin, F. C. Jackson and M. Smith, Oxford 2007, S. 215–344. – Made with Words: Hobbes on Language, Mind and Politics, Princeton 2008. – On the People’s Terms: A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge 2012. – Just Freedom: A Moral Compass for a Complex World, New York 2014. Price, H. (1997). Time’s Arrow and Archimedes’ Point: New Directions for the Physics of Time, Oxford. Quine, W. V. O. and J. S. Ullian: The Web of Belief, New York 1978. Sellars, W.: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass. 1997. Stalnaker, R.: »Assertion«, in: Syntax and Semantics 9, New York 1978, S. 315–32. Stoljar, D.: Ignorance and Imagination: The Epistemic Origin of the Problem of Consciousness, Oxford 2006. Strawson, P.: Freedom and Resentment and Other Essays, London 1974. Weber, M.: The Methodology of the Social Sciences, New York 1949.

Hegel über die politische Bedeutung kollektiven Selbstbetrugs Robert Pippin (Chicago)

I Die philosophische Wiederbelebung des deutschen Idealismus im Anschluss an den zweiten Weltkrieg war von diversen Interessen motiviert und konzentrierte sich auf eine Reihe von verschiedenen Texten. Wenn ich ›Wiederbelebung‹ sage, meine ich dabei nicht nur den Versuch, die untersuchten Positionen zu verstehen und ihre Einflüsse und Wirkungen nachzuvollziehen. Dieses Ziel wäre schon anspruchsvoll genug, vor allem wenn man an die ungewöhnliche Sprache denkt, die eigens vom Idealismus erschaffen wurde, um neue gedankliche Zusammenhänge zu artikulieren. Leider ist diese Sprache größtenteils verloren gegangen und muss erst wieder gelernt werden. Dabei gleicht die Idee einer Wiederbelebung dem Versuch, die tatsächlichen philosophischen Erfolge dieser Tradition nachzuvollziehen (beziehungsweise zu beurteilen, ob es tatsächlich welche gab) und man realisiert dies auf verschiedenste Art und Weise und mit Bezug auf eine Vielzahl von vieldebattierten Themenkomplexen. Es bedeutet auch, dass man an die Texte mit der Annahme herantreten sollte, von ihnen zu lernen und von ihnen herausgefordert werden zu können. Manchmal verlangt dies auch, die verschiedenen Positionen auf philosophisch verständlichere Weise umzuformulieren beziehungsweise sie in vertrauteren Worten wiederzugeben. Trotz all der Kontroversen, die diese Herangehensweise bisher stets provoziert hat, stellte sie für mich immer einen ausreichend bescheidenen Anspruch dar. Natürlich hätte diese Herangehensweise keinen Sinn, wenn man nicht gleichzeitig dem Vermeiden von Anachronismen einerseits und dem Vermeiden von übereilten Übersetzungsprozessen andererseits verpflichtet wäre. Man möchte etwas von dem Philosophen lernen; und ihn nicht nur als Medium für das Ausdrücken der eigenen Gedanken missbrauchen. Hier tut man gut daran sich zu erinnern, dass es ein exemplarisches Vorbild für dieses wahrhaft philosophische Auseinandersetzen mit historischen Texten gibt: Dies ist Hegels eigene Behandlung der Protagonisten der Philosophiegeschichte. Im Folgenden möchte ich mich auf einen Aspekt von Hegels Projekt konzentrieren, von dem ich glaube, dass er von hohem Wert für die Gegenwart ist. Um dort hinzugelangen, müssen wir jedoch erst eine Reihe von Vorüberlegungen anstellen.

II Hegel ist berühmt für seinen Ausspruch, dass die Philosophie »ihre Zeit in Gedanken erfasst«. Die Bedeutung dieser Aussage wird sofort deutlich in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, die auf diese Aussage in der Vorrede folgen. Hegels Grundlinien sind

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nämlich keine Abhandlung über jene Institutionen, von denen er behaupten würde, dass sie für alle, überall und zu jeder Zeit gerecht seien. Vielmehr stellen sie eine Analyse des typisch modernen Verständnisses und der damit einhergehenden Verwirklichung des Vertragswesens, des Verbrechens, der legalen und moralischen Verantwortung, der modernen Familie, der Marktwirtschaft und der modernen politischen Institutionen dar. Gleichzeitig handelt es sich bei den Grundlinien offensichtlich nicht um eine empirischsoziologische Studie über das tatsächliche Funktionieren solch einer Gesellschaft. Doch sind sie auch keine rein normative Einschätzung dieser besonderen Charakteristika im Lichte eines über-geschichtlichen Ideals. Des Weiteren scheinen die Grundlinien relativ selbstständig dazustehen. Hegels Argumente für die Unvollständigkeit des abstrakten Rechts und der Moralität als Aspekten des Rechts scheinen nicht von einer historischen Theodizee abzuhängen oder gar von irgendwelchen Aussagen über einen umfassenden, historischen Entwicklungsprozess. Und falls sie dies tun, scheint dieses Element auf gewisse Weise isolierbar und es wird sich im Text selbst zu Zwecken der Rechtfertigung nicht darauf berufen. Auch das Argument für die Unvollständigkeit des abstrakten Rechts und der Moralität und für ein angemesseneres Verständnis des Rechts in der Form der Sittlichkeit scheint nicht auf systematischen Zusammenhängen zu beruhen, wie dies etwa in dem Anspruch artikuliert wird, dass wir die Kategorie des objektiven ›Geistes‹ im Kontext der Struktur des ›subjektiven Geistes‹ und des ›absoluten‹ Geistes verstehen müssten, oder dass der objektive Geist eine bestimmte Position in der enzyklopädischen Darstellung der Gesamtheit der möglichen philosophischen Wissenschaften einnimmt. (Dies ist der Fall, obwohl Hegel unter anderem in der ›Vorrede‹ zur Rechtsphilosophie sagt, dass sein Grundriss die »spekulative Erkenntnisweise« impliziere, welche von der »alten Logik« und der »Verstandeserkenntnis« unterschieden werden müsse. Er bemüht diesen letzten Ausdruck auch, um die gesamte Metaphysik vor seiner eigenen zu charakterisieren. Außerdem sagt er ganz deutlich, dass er die Kenntnis seiner Wissenschaft der Logik beim Leser voraussetze. Und trotzdem geht er nicht explizit auf die Details der spekulativen Logik ein, etwa um mit ihrer Hilfe etwas in den miteinander verschränkten Aussagen der gedanklichen Entwicklung in den Grundlinien umzusetzen. Dies lässt sofort die Frage aufkommen, wie ›zeitgebunden‹ Hegels Begriff des Rechts tatsächlich ist, und damit einhergehend, wie wir seine Bedeutung für unsere eigene Epoche verstehen sollen, die nämlich eine ganz andere Epoche ist als die seinige. So leben wir in einer Zeit der Massenkonsumgesellschaften, einer globalisierten Wirtschaftsordnung, der vollkommen anderen Heirats- und Scheidungsgewohnheiten, einer hochkommerzialisierten und manipulierbaren Öffentlichkeit et cetera. Manche Interpreten haben argumentiert, dass es trotz dieser Unterschiede ausreichend Berührungspunkte mit den Grundlinien gibt, so dass diese noch immer direkte Relevanz für uns haben können. Einige Kommentatoren zitieren entsprechend Hegels Analyse der Beschränkungen kontraktualer Staatstheorien oder der Grenzen liberaler Begriffe des Schutzes von Individualrechten, oder seine Gründe für das Insistieren auf der Unterscheidung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft. In Abgrenzung von diesen Lesarten möchte ich hier einen anderen Gedankengang verfolgen und stattdessen die Reichhaltigkeit von Hegels

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Ansatzes im Allgemeinen betonen und damit einhergehend auch einen seltsam anmutenden Aspekt dieses Ansatzes hervorheben, den ich bereits im Titel dieses Vortrages angekündigt habe. So haben sich doch beide Aspekte seiner originellen und einflusseichen Aussage, dass die Philosophie eine zeitdiagnostische Aufgabe innehabe, als schwer nachvollziehbar erwiesen. Dabei beziehe ich mich erstens auf die Frage, was man genau unter der »Zeit« des Philosophen verstehen sollte und zweitens auf das Problem, was »in Gedanken erfasst« bedeuten soll? Wir haben nur wenig Zeit und somit möchte ich pro Aspekt nur einen Vorschlag machen. Auf die erste Frage scheint es eine einfache, eindeutige Antwort zu geben. Der Deckname für die geschichtlich manifesten Institutionen und Praktiken, die Hegels Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Zeit lenken, lautet ›Geist‹. Dieser kann in subjektiver, objektiver oder absoluter Form präsent sein, er kann der Gegenstand einer besonderen Art der Analyse sein, d. h. einer Phänomenologie, oder aber als Weltgeist oder Volksgeist verstanden werden. Dem Argument zuliebe wollen wir annehmen, dass sich der Begriff des Geistes auf eine Art kollektives Bewusstsein bezieht, dessen Formen (die ›Gestalten des Geistes‹) sich im Laufe der Zeit wandeln. Dabei ist es bemerkenswert, dass Hegel keine konkrete Form des Geistes jemals als summenhafte Ansammlung von individuellen Einstellungen behandelt, das heißt als Mehrheitsansichten, oder etwa als direktes Objekt intentionaler Einstellungen wie etwa von Glaubenssätzen. Und obwohl es gewisse Ähnlichkeiten gibt, hat Geist bei Hegel nie die Funktion einer vorausgesetzten ›Lebensform‹, wie man sie etwa bei Wittgenstein findet, oder die Rolle, die der Begriff der ›Welt‹ beim frühen Heidegger spielt. Hegel hält es vielmehr unmissverständlicher Weise für möglich, dass man so einem kollektiven Subjekt Zustände und Fähigkeiten zuschreibt, die mit denen identisch sind, die wir auch Einzelpersonen zuschreiben. Dies geht weit über das Zuschreiben von gemeinsamen, tief empfundenen Verpflichtungen, Annahmen und Gesinnungen hinaus. Ja, wir können sogar mit Hegel sagen, dass eine historische Form des Geistes über sich selbst und ihre Glaubenssätze reflektieren kann und im Laufe der Zeit ein immer höheres Niveau an Selbstbewusstsein erreichen kann (zum Beispiel mittels der Erzeugung von Kunstwerken). Außerdem lässt sich sagen, dass der Geist Handlungen vollbringt, für die man ihm Verantwortung zuschreiben kann. (Dies trifft vor allem auf Staaten zu, die in unserem Namen als Bürger handeln). Wir können also von einem kollektiven Akteur sprechen. Dabei ist für Hegel dieses Postulat eines gemeinsamen Bewusstseins keine bloße Fiktion oder eine nur heuristische oder theoretische Annahme. Vielmehr hat der Geist ontologischen Status; er existiert tatsächlich. Selbstverständlich kann sich der Geist nicht in jeder Beziehung wie ein Individuum oder ein Akteur verhalten. Er ist nicht auf gleiche Art und Weise verkörpert, er kann nur in höchst metaphorischem Sinne ›Gefühle haben‹ (zum Beispiel in einer Massenhysterie oder -panik, oder in Momenten wie dem französischen Terreur). Er hat eine Vergangenheit, die er mit sich nimmt und auf die er sich bezieht, aber der Geist erinnert sich seiner Vergangenheit nicht wie dies ein Individuum tut, und so weiter. Nichtsdestotrotz ist Hegel durchaus bereit, mit seinen Aussagen über so ein kollektives Subjekt sehr weit zu gehen, und in Kürze werden wir uns eine seiner ehrgeizigsten und anfänglich sehr unplausibel erscheinenden Aussagen genauer ansehen.

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Und schließlich, wenn Hegel den Geist als ein »ich, das ein Wir ist« und als ein »Wir, das ein Ich ist« bezeichnet, verschreibt er sich dem Gedanken einer dialektischen Beziehung zwischen solch einem kollektiven beziehungsweise gruppenartigen Subjekt und den individuellen Personen, die an ihm teilhaben. Anders ausgedrückt, so ein Kollektiv wie der Geist ist nur als Produkt der Einstellungen und Verpflichtungen seiner Teilhaber möglich. Er würde nicht existieren, wenn es diese Einstellungen und Verpflichtungen nicht gäbe. Dies vermindert in keiner Weise die Wirklichkeit des Geistes als Geist; solche Einstellungen und Verpflichtungen erlangen durchaus den Status kollektiven Handelns. Aber die Abhängigkeitsbeziehung ist für Hegel bekannter Weise eine beidseitige. Individuen sollten nicht als ex ante, atomistische, selbstgenügsame Ursprünge solch einer Verpflichtung verstanden werden, ganz so, als ob der Geist nur als Resultat konstitutiver Handlungen geistloser und atomistischer Individuen existiere. Sie sind nur die Individuen, die sie sind, weil sie immer schon innerhalb solcher Kollektive ›gebildet‹ wurden. (Entsprechend insistiert Hegel: »Die bewußte Individualität hingegen geistlos als einzelne seiende Erscheinung zu nehmen, hat das Widersprechende, daß ihr Wesen das Allgemeine des Geistes ist.«1) Dies ist nun vollkommenes Hegelesisch, artikuliert aber eigentlich eine ziemlich alte Idee, die sich auch bei Denkern wie Kant findet, der auf Hegel einen so großen Einfluss ausübte; sie findet sich auch in der Behauptung des Aristoteles, dass ein menschliches Wesen außerhalb der Polis nicht als ein menschliches Wesen gedacht werden kann. Dort ist er entweder ein Tier oder ein Gott. Aber Hegels Betonung der Bedeutung beider Abhängigkeitsrichtungen und sein Historismus verkomplizieren diesen Gedanken erheblich. Es ist aufgrund dieser gegenseitig konstitutiven Abhängigkeit, dass Hegel wiederholt Aussagen machen kann, die ansonsten eher mysteriös anmuten würden, wie etwa, dass der Geist ein »Produkt seiner selbst ist.«2 (Geist ist diese gegenseitig konstitutive Beziehung; das Produkt von Individuen, die selbst die Produkte ihrer Teilhabe am Geist sind. Geist hat keine substantielle Existenz außerhalb dieser gegenseitigen Reflexion.) All diese Überlegungen beziehen sich nur auf das erste der beiden Elemente in Hegels berühmter Aussage über den Zweck der Philosophie; ihre Zeit als Geist. Was könnte er mit dem zweiten meinen, den Geist seiner Zeit »in Gedanken zu erfassen«? Auch hier möchte ich einen Vorschlag unterbreiten. Manchmal klingen Hegels Aussagen ziemlich unplausibel. So sagt er zum Beispiel, dass die Philosophie dem, was sonst als zufällig erscheint, die Form der Notwendigkeit gibt. Wenn er dies etwa über die Entwicklung der empirischen Wissenschaften anmerkt,3 kann es so klingen, als ob er glaube, dass der tatsächliche Verlauf dieser Entwicklung nicht anders hätte sein können. Wenn dies dann auch noch mittels einer Aussage über eine sich selbst wandelnde, implizierte metaphysische Entität, d. h. den ›kosmischen Geist‹, oder ›Gott‹ gerechtfertigt wird, erscheint sein Ansatz hoffnungslos unüberzeugend. Einer etwas bescheideneren Interpretation zufolge 1 G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes/Phenomenology of Spirit, übers. v. Terry Pinkard, http:// terrypinkard.weebly.com/phenomenology-of-spirit-page.html 2013, §304. 2 G. W. F. Hegel: Hegels Philosophie des Subjektiven Geistes/Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, übers. und hg. v. M. Petry, Dordrecht 1978, S. 6–7. 3 G. W. F. Hegel: Die Wissenschaft der Logik. Erster Teil, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: E. Moldenhauer/K. Michel (Hg.): Werke, Bd. 8, Frankfurt/M. 1971, §12A.

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(und mir scheint, dass er selbst so verstanden werden möchte), meint er vielleicht, dass eine signifikante Verwandlung in der Geschichte der Kunst, oder in der politischen Geschichte, in der religiösen Geschichte oder eine Verschiebung innerhalb der kollektiven ethischen Verpflichtungen durch eine philosophische Erklärung verständlich gemacht werden kann. Dabei basiert solch eine Erklärung auf einer Art praktischem Widerspruch, der eine weniger befremdliche Art der Notwendigkeit mit sich bringt. Dies ist die Form, die zu dem Gedanken passt: ›wer den Zweck will, muss, das heißt er ist gezwungen, das Mittel zu wollen‹ (wäre dies nicht der Fall, hätten wir einen Beweis dafür, dass er den Zweck nicht gewollt hat). Wenn über eine kollektive Unternehmung, die ein gewisses Ziel erreichen möchte, gesagt werden kann, dass sie kollektiv lernt, dass eine Verpflichtung diesem Zweck gegenüber unmöglich ist, ohne dass man gleichzeitig einem weitergreifenden, umfassenderen Zweck verpflichtet ist, dann muss man entweder diesen neuen Zweck verfolgen oder aber die ganze Unternehmung aufgeben. Sollte sich alternativ herausstellen, dass die gewählten Mittel das Erreichen des Zweckes unmöglich machen, dann müssen die Mittel eben anders gewählt werden. Und sie werden nicht auf zufällige Weise anders gewählt. Sie müssen anders gewählt werden, sonst würde man sich praktischerweise inkohärent verhalten. Indem eine philosophische Interpretation die Vernünftigkeit solch einer teleologischen Unternehmung annimmt, vermag sie dieses zu beweisen. Sie befindet sich in der Lage, demjenigen, das sonst als zufälliger Wechsel der Mittel erscheinen würde, die Form (praktischer) Notwendigkeit zu verleihen. Oben habe ich »unter Annahme der Vernünftigkeit solch einer teleologischen Unternehmung« gesagt. Damit wollte ich an die hegelsche Maxime erinnern, das er in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erwähnt: »Wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an.«4 Auch hier findet sich ein Leitmotiv, das zahlreiche eigenständige Vorträge verdient hätte.

III Es stellt sich wieder die Frage, inwiefern man einen kollektiven bzw. gruppenartigen Akteur so behandeln kann, als ob er praktischer Vernunft und der Selbst-Korrektur fähig sei. Um dies zu veranschaulichen, müssen wir gedanklich weiter ausholen. Unter anderem könnte man die lange Geschichte der Behandlung kollektiver Entitäten als Akteure bemühen, oder diese Möglichkeit besonders im rechtlichen Kontext und im Zusammenhang mit der Schuldfähigkeit erwägen — nur um sie gleichzeitig abzustreiten. Dabei kann man mindestens bis zu Innozenz IV im dreizehnten Jahrhundert zurückblicken, der den Gegenstand nicht wirklich deutlich bestimmte, als er personifizierte Unternehmen als ›ficta‹ bezeichnete, das heißt als ›erfunden‹. Dabei könnte er zweierlei gemeint haben, und beides wurde ihm zugeschrieben: Einerseits ›ficta‹ im Sinne bloßer Erfindung, das heißt im Sinne von ›irreal‹. Andererseits könnte er ›ficta‹ im Sinne von ›unnatürlich, aber trotzdem G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: E. Moldenhauer/K. Michel (Hg.): Werke, Bd. 12, Frankfurt/M. 1971, S. 23. 4

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wirklich‹ gemeint haben, also im Sinne von ›nicht erfunden‹. (Dabei schien er hauptsächlich daran interessiert zu sein, ob solche gruppenartigen Akteure, wie zum Beispiel die Pariser Universität, eine Seele haben und folglich exkommuniziert werden können. Er kam zu dem Schluss, dass sie keine haben und somit auch nicht exkommuniziert werden können.) Die Gegenwartsphilosophen, die ein substantielles Verständnis der Wirklichkeit der Gruppenakteure verteidigen wollen, wie etwa Philip Pettit, argumentieren dabei wie folgt: Solange es einer Entität nachgesagt werden kann, dass sie im Allgemeinen die Bedingungen der Handlungsfähigkeit erfüllt – und zwar als Individuum oder als Gruppe – sollte sie als Akteur bezeichnet werden. In diesem Fall können ihr auch Zwecke, Vorstellungen und reflexive Einstellungen zugeschrieben werden. Pettit fährt fort, dass diese Bedingungen dreifacher Art sind und dass sie von vielen Gruppen erfüllt werden: Erstens handelt es sich um die Fähigkeit plausibel Zwecke als ein Kollektiv zu verfolgen (dies impliziert: Zwecke, von denen gewusst wird, dass man sie hat und verfolgt; solche Gruppenakteure müssen also selbst-reflektierende Akteure sein, nicht nur Unternehmen, denen ein angenommener Zweck zugeschrieben wird). Zweitens müssen sie die Fähigkeit haben, verlässliche Vorstellungen der Wirklichkeit zu formulieren und dem Vorgestellten gegenüber reaktionsfähig zu sein. Drittens benötigen sie die Fähigkeit, diese Zwecke auf verlässliche Art und Weise und im Einklang mit den Vorstellungen zu verwirklichen. Das Letztgenannte schließt die Fähigkeit mit ein, angemessen auf im Verlaufe solch einer Verwirklichung Gelerntes zu reagieren und das eigene Handeln im Lichte der gelernten Schwierigkeiten beziehungsweise der Entdeckung inkompatibler Verpflichtungen anzupassen. Das Erfüllen dieser drei von Pettit identifizierten Bedingungen ist mit einer Vielzahl institutioneller Wirklichkeiten, repräsentativer Gesellschaften beziehungsweise Steuermechanismen kompatibel. Außerdem können laut Pettit solche Gruppen nicht durch eine einfache Mehrheitswahl konstituiert werden. Dies würde nämlich bedeuten, dass ein Gruppenakteur, d. h. ein Geist, bloß eine Metapher wäre beziehungsweise eine Beschreibung dessen, was die meisten Leute wollen oder glauben. Zahlreiche wertvolle Zwecke können nur durch Teilnahme an einer Gruppe erreicht werden und das sogenannte ›diskursive Dilemma‹ in der Rechtstheorie hat bewiesen, dass es irrational wäre, an solch einer Gruppe teilzunehmen, wenn die einzige reflexive, deliberative Prozedur mehrheitsorientiert wäre, das heißt, wenn sie eine bloße Summe individueller Präferenzen wäre. Es ist nämlich ein Leichtes zu beweisen, dass eine Situation entstehen kann, in der solch eine Gruppe einem Zweck verpflichtet wäre, den alle Gruppenmitglieder in ihrer Rolle als einzelne Individuen ablehnen würden. Wir müssen uns an dieser Stelle jedoch nicht mit den Einzelheiten des Arguments (das von einer Reihe von disjunktiven Entscheidungen abhängt) auseinandersetzen. Es handelt sich hier lediglich um ein Argument für den Gedanken, dass eine tatsächliche Gruppenhandlung einem reflexiven Prozess untergeordnet sein muss, das heißt einem tatsächlichen Prozess des bewussten Formulierens einer Perspektive oder Einstellung – und zwar nicht im Sinne eines Prozesses, der bloße Mehrheitsmeinung artikuliert. Hiervon können wir lernen, dass eine Gruppe ein Gruppenakteur ist, weil sie eine bestimmte Form der rationalen Einheitlichkeit innehat – und zwar eine Einheitlichkeit, die auf bewusste Art und Weise erzeugt und erhalten werden muss. Dies heißt auch, dass

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die Gruppe auf Widersprüchlichkeiten bei Gruppenverpflichtungen und auf empirische Fakten, die mit geteilten Glaubenssätzen inkompatibel sind, reagiert. Außerdem zeichnet sie sich durch einen Erzeugungsprozess von Verpflichtungen und Glaubenssätzen aus, der tatsächlich kreativ ist und nicht nur geteilte Verpflichtungen und Glaubenssätze der konstituierenden Individuen artikuliert. In diesem Sinne kann sich ein Gruppenakteur, wie etwa ›die polis‹ im klassischen Theben, für so eine rationale Einheit halten, aber beim Verfolgen ihrer Verpflichtungen realisieren, dass sie auf kollektive Art und Weise sowohl gewissen Vorstellungen von Verantwortlichkeit gegenüber der Familie als auch gewissen Vorstellungen der politischen Verantwortlichkeit verpflichtet ist, und dass beide unter praktischen Gesichtspunkten nicht miteinander kompatibel sind. Der Geist kann so die Erscheinung haben, beziehungsweise auf kollektive Art und Weise so erscheinen, als ob er die gesuchte rationale Einheitlichkeit innehabe, dann aber feststellen, dass er diese nicht hat. Dies hat eine Tragödie zur Folge. In so einem Fall müssen dann die Verpflichtungen revidiert werden und man kann sagen, dass die Gemeinschaft gelernt hat, wenn sie das Gelernte praktisch umgesetzt hat, wie etwa in Form der Einrichtung der Mordgerichte am Aeropag in den Eumeniden des Aischylos, um nur ein weiteres Drama zu erwähnen.

IV Zugegebenermaßen geht es Pettit um zahlreiche verschiedene Institutionen und Konfliktfälle in einer Gesellschaft und diese müssen in keiner besonderen Beziehung zueinander stehen. So positioniert er sich auch nicht bezüglich der Frage, ob verschiedene Gruppenakteure wie zum Beispiel Firmen, Universitäten, Krankenhäuser, Armeen, Staaten und Kirchen so gedacht werden können beziehungsweise so gedacht werden müssen, dass sie selbst Elemente eines »gemeinsamen Bewusstseins« – um den Titel von einem von Pettits Büchern zu zitieren – innehaben, ganz so wie Individuen nur innerhalb von zweckorientierten Gruppen wirkliche Individuen sein können. Doch muss man sich nicht besonders anstrengen, um zu argumentieren, dass es sich hierbei um eine notwendige Erweiterung seines Ansatzes handelt. Erstens sind viele Individuen Mitglieder von zahlreichen dieser Gruppen und sind so sich widersprechenden beziehungsweise inkompatiblen Verpflichtungen ausgesetzt. Das Bewusstsein um solche Konflikte wäre nicht zu vermeiden und somit wäre es unter praktischen Gesichtspunkten inkohärent, wenn man diese zahlreichen Gruppenakteure nicht wenigstens als untereinander kompatibel ansehen würde. ›Kompatibel‹ würde uns jedoch noch immer nicht zum anspruchsvolleren Status von Geist bringen. Um diesen zu erreichen, benötigen wir den Begriff eines geteilten Bewusstseins, innerhalb dessen institutionelle Verpflichtungen sich nicht als indifferent gegenüberstehen, selbst wenn sie logisch kompatibel sind. Stattdessen müssen sie tatsächlich kohärent sein beziehungsweise als Unternehmungen, die zusammengehören, verstehbar sein. Diese künstlerischen Praktiken zum Beispiel wären künstlerische Praktiken, denen sich Personen verpflichtet fühlen, die in solche religiösen Praktiken involviert sind, in dieser bürgerlichen Gesellschaft, in solchen Universitäten, die diese Vorstellung des Zweckes einer Armee haben, diese politische Verfassung befürworten et cetera. Dieser allgemeine, eine

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Einheit artikulierende Zusammenhang wäre dann ein anderer Name für ›Geist‹. Universitäten müssen die religiösen Überzeugungen ihrer Studenten berücksichtigen. Religionen müssen die Bedürfnisse der Armee ernst nehmen, und so weiter. So ließe sich der Geist als höchstwertigste, selbst-vereinigende, rationale Form der Einheitlichkeit in einer Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit denken. Mir scheint, es gibt wenig Grund zu bezweifeln, dass Hegel von solch einem superstrukturellen Subjekt im Sinne einer substantiellen Einheitlichkeit ausgeht. In dem Abschnitt, in dem er diesen Begriff in der Phänomenologie einführt, nennt er den Geist »diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.«5 Hegel ist es daran gelegen, solch ein kollektives Subjekt auf diesem Abstraktionsniveau zu beschreiben. Es ist dies der westliche Geist, der als distinguierter Erbe seines griechischen Ursprunges in einer praktischen, zweckgerichteten Unternehmung befangen ist: dem Kampf um Selbst-Verständnis im Verlaufe der historischen Zeit. In diesem Projekt wird er durch zahlreiche Zusammenbrüche der Kohärenz seines Selbstbewusstseins immer weiter vorangetrieben, wobei diese Zusammenbrüche die oben erwähnten, praktischen Widersprüche reflektieren. Nun befinden wir uns auf einem so hohen Abstraktionsniveau, dass man nichts mehr sagen kann, was zur weiteren Verteidigung dieser Interpretation dienen könnte. Es bleibt uns jedoch noch ein kleinerer, leichter zu behandelnder Gegenstand zu untersuchen.

V Vor langer Zeit formulierte Platons Sokrates den Gedanken, dass es eine erleuchtende Analogie zwischen den Elementen der Seele und deren Beziehung untereinander und den entsprechenden Elementen und Zwischenbeziehungen der polis gibt. Aber wie weit können wir dabei gehen, die Kategorien, die der Einschätzung und der Analyse von Individuen angemessen sind auf den Geist anzuwenden? Psychische und politische Einheitlichkeit (und somit auch Gesundheit) ist die Hauptsorge überhaupt in der Politeia, und Hegel nimmt sie ebenfalls sehr ernst. Aber er scheint noch viel weiter als Platon zu gehen. Ein Phänomen (dem sich auch Pettit gewidmet hat) ist die kollektive akrasia. Man kann sich leicht vorstellen, dass eine Gemeinschaft auf dem benötigten Abstraktionsniveau verschiedene Handlungsweisen befürwortet; die Gleichheit vor dem Recht, zum Beispiel. Jeder Angeklagte sollte genau den gleichen Status, die gleichen Rechte und Freiheiten wie jeder andere haben. Diese Verpflichtung ist formalerweise im Grundgesetz verankert und wird in zahlreichen Riten und öffentlichen Erklärungen auf implizite und explizite Weise bestätigt. In der Praxis stellt sich jedoch heraus, dass reiche Leute erhebliche Vorteile genießen und die Verurteilungsquoten von Personen oberhalb einer gewissen Einkommensgrenze auffällig niedriger sind. Jeder weiß um diesen Sachverhalt und 5

Hegel: Phänomenologie des Geistes/Phenomenology of Spirit, §174.

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jeder kennt und bestätigt die kollektive Verpflichtung zur Gleichheit vor dem Recht. Aber niemand tut etwas gegen diesen Widerspruch. Bei der Analyse dieses Sachverhaltes können wir plausiblerweise vorschlagen, dass diese Irrationalität auftritt, weil es trotz der ehrlichen Hingabe an die Verpflichtung zur Rechtsgleichheit (wenigstens wird diese nicht auf hypokritische oder betrügerische Weise vorgetäuscht), die Kosten und der Aufwand ihrer Umsetzung zu hoch sind. Wenn sich also die Gelegenheit bietet, das Problem zu bekämpfen, ist es einfacher, sich herauszureden, sich zu verstellen, sich auf unvermeidliche Einschränkungen zu berufen, einmalige Ausnahmen zu verlangen, et cetera. Wenn wir uns sowohl die Individuen als auch den Geist als eine Art Einheitlichkeit zwischen verschieden motivierten Stimmen vorstellen, von denen alle Aufmerksamkeit und Solidarität verlangen, sollte es uns im zweiten Schritt nicht schwerfallen, Anreize auszumalen um die eine oder die andere Stimme auf Kosten der jeweils anderen zu bevorzugen. Man wählt nämlich diejenige, die den einfachsten oder den die Selbstsucht am ehesten befriedigenden Weg nach vorne verspricht. Wie dies in jedem speziellen Fall genau passiert, mag nicht immer leicht nachvollziehbar sein, besonders weil dieser Widerspruch dem Bewusstsein beziehungsweise der Öffentlichkeit nicht immer zugänglich ist. In zahlreichen Passagen in der Phänomenologie, wie etwa in »Die Tugend und der Weltlauf«, oder in »Die schöne Seele,« die sich nicht zum Handeln durchringen kann, scheint Hegel so etwas vorzuschweben. So verlangt etwa die Perspektive der Tugend, dass der Akteur jeden Aspekt seiner Individualität ›opfere‹, das heißt seine Rolle im Weltlauf aufgebe. Wenn es aber darauf ankommt, im Sinne dieser vollständigen Selbstaufgabe zu handeln, vermag die Tugend es nicht. Sie kann ihren eigenen Prinzipien nicht gerecht werden, ohne der Inkohärenz anheim zu fallen. (Hier müssen wir auch anmerken, dass etwas, das wie ›Schwäche‹ aussehen mag, tatsächlich das Resultat einer unvollständigen und verzerrten Selbstkenntnis sein könnte.) Dabei benutzt Hegel die Sprache der Stärke und der Kraft, um das Dilemma der schönen Seele zu beschreiben: »Insofern nun der seiner selbst gewisse Geist als schöne Seele nicht die Kraft der Entäußerung des an sich haltenden Wissens ihrer selbst besitzt, kann sie nicht zur Gleichheit mit dem zurückgestoßenen Bewußtsein und also nicht zur angeschauten Einheit ihrer selbst im Anderen, nicht zum Dasein gelangen; die Gleichheit kommt daher nur negativ, als ein geistloses Sein, zustande.«6 Aber wie kann man von einem der möglichen Motive in eine Richtung ›gezogen‹ werden, ohne sich gleichzeitig der Ansprüche der kohärenten Rationalität bewusst zu sein – ganz so, als ob man nicht ›gezogen‹ werden würde? Was auch immer hier das Problem sein mag, es scheint im Fall der Gruppe nicht größer zu sein, als im Fall des Individuums, und in beiden Fällen scheint es gleichermaßen vertraut. An einer Stelle in der Phänomenologie beginnt Hegel eine Analyse dessen, was er »die Welt des sich entfremdeten Geistes«7 nennt und er kehrt bei der Erklärung zahlreicher anderer Phänomene immer wieder zu dieser Analyse zurück. So zum Beispiel im 6 7

Ebd., §670. Ebd., §793.

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Fall kollektiv geteilter Ideale, wie sie etwa die Staatsmacht und der Reichtum darstellen, oder etwa bei der Besprechung der Verfügbarkeit und Unausweichlichkeit von zweierlei Perspektiven auf jede Handlung: Einerseits gibt es die Perspektive des Dieners, dies ist die niedrigere, entlarvende, reduktionistische Perspektive – Hegel nennt sie die Niederträchtigkeit – und andererseits gibt es die großzügigere beziehungsweise freimütigere Perspektive, welche er die Edelmütigkeit nennt. Dies ähnelt der Situation, die Hegel in seiner Bewertung der philosophischen Bedeutung der Tragödie beschreibt. Doch bleibt der Unterschied, dass in einem Zustand höherer Bildung, oder kultureller Reife, die widersprüchlichen Verpflichtungen keine tragische Wahl erzwingen, in deren Falle gutes Handeln auch falsches Handeln sein muss. Solch ein Zustand der Entfremdung ist ein irrationaler Zustand und er findet sich auf dem selbst-reflexiven Niveau, auf dem reflexive Kohärenz angesichts des Grades der Selbstkenntnis einer Gemeinschaft nicht möglich ist und somit eine gewisse Art der Verstellung notwendig wird. Dabei ist es auch von Bedeutung, dass Hegel diese Situation als selbst-entfremdeten Geist beschreibt. Dies bedeutet, dass es sich nicht um eine zufällige Manifestation handelt, die einfach nur zu einem bestimmten zeitlichen Moment stattfindet. Die Situation ist dem Geist nicht zugestoßen, der Geist hat etwas getan um sie zu bewirken, er hat sich von sich selbst entfremdet. Dieses Phänomen kann philosophisch verständlich gemacht werden, und zwar mit Bezug auf die oben erwähnten Ideen der praktischen Notwendigkeit und der Widersprüchlichkeit. Die beschriebene Situation impliziert auch, dass der Geist nicht nur von sich selbst in diesem reflexiven Sinn entfremdet ist, sondern auch, dass man nicht sagen kann, dass Individuen in der Lage sind, diejenigen Ansprüche, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Gruppeneinheit an sie gemacht werden, als kohärent erfüllbar zu erfahren. Entsprechend sind sie von ihrer eigenen kollektiven Identität entfremdet, sind gleichzeitig an sie gebunden und von ihr abgestoßen. Außerdem sind die Prozesse, mittels derer die gegenseitige Abhängigkeit der individuellen und der kollektiven Identität geformt werden, sicherlich nicht auf eine Notwendigkeit implizierende Art und Weise fixiert. Sie können ebenso angefochten werden wie jedes andere Ergebnis dieses Formierungsprozesses. Man mag sich durchaus mit unterschiedlichen Arbeitsmöglichkeiten konfrontiert sehen oder von verschiedenen Optionen ideal-allgemeiner Verpflichtungen oder von politischen Wahlmöglichkeiten, die nicht als möglicher Ausdruck der eigenen Verpflichtungen und der eigenen Talente erfahren werden. Sie sind die einzig verfügbaren und können ›seltsam‹, fremd, bloß positiv und so weiter anmuten, und dies obwohl man sie freiwilliger- und effektiverweise durch das eigene Sprechen und Handeln bestätigt. Wie im Falle von akrasia, muss all dies jedoch nicht als Beweis dafür gelten, dass die Gruppenidentität oder Handlungsfähigkeit nicht wirklich das ist, als was sie sich darstellt, nur weil Entfremdung stattfindet. Stattdessen suggeriert die Erfahrung selbst, dass etwas schief läuft, es fehlt irgendeine notwendige Einheitlichkeit, es fehlt etwas, das für die eigene praktische Identität wesentlich ist und die Verwirklichung dieser Identität ist nicht mehr möglich. Wenn dieses Phänomen jedoch nur von einer Art Täuschung hervorgebracht werden kann, existiert auch eine natürliche Verknüpfung zum nächsten Phänomen. Hegel sagt nämlich auch Sachen wie das Folgende. So weist er am Anfang seiner Auseinanderset-

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zung in »der wahre Geist, die Sittlichkeit« darauf hin, dass die allgemein geteilte, ethische Substanz der polis in der klassischen Periode »(…) sich also in ein unterschiednes sittliches Wesen [spaltet], in ein menschliches und göttliches Gesetz. Ebenso das ihr gegenübertretende Selbstbewußtsein teilt sich nach seinem Wesen der einen dieser Mächte zu, und als Wissen in die Unwissenheit dessen, was es tut, und in das Wissen desselben, das deswegen ein betrognes Wissen ist.«8 Hier spricht er letzten Endes über die Art und Weise, in der Kreon und Antigone miteinander streiten, nämlich ganz so, als ob sie nichts über die Glaubwürdigkeit der Gegenargumente des jeweils anderen wüssten, und trotzdem bezüglich dieser nicht vollkommen ignorant sind. Dieser Aspekt von Hegels Ansatz ist auffällig modern und wird nicht viel beachtet. Zwar weiß jeder, was er oder sie beim Verteidigen der eigenen Position macht. Aber weil sie vorgeben, die Gegenargumente des anderen nicht zu verstehen, weiß sie oder er nicht, was dies eigentlich mit dem eigenen Absolutismus anstellt. So machen sie, von Hegel auf bemerkenswerte Weise formuliert, keine falsche Aussage über Wissen, sondern artikulieren ein betrogenes Wissen. So führt Hegel also das klassische Problem des Selbstbetrugs ein. Wie kann eine individuelle Manifestation des Geistes gleichzeitig wissen, was sie weiß und diesbezüglich unwissend sein, das heißt sich selbst unwissend bezüglich dessen machen, was sie weiß? Dieser Ausdruck ist bei Hegel kaum ein hapax legomenon. Er hat das allgemeine Thema des Betrugs bereits innerhalb des Kapitels Vernunft im Abschnitt mit dem Titel »Das geistige Tierreich, und der Betrug, oder die Sache selbst« eingeführt. In diesem Abschnitt besteht er auf dem gesellschaftlichen – das heißt auf dem öffentlichen und performativen und somit gesellschaftlich abhängigen – Charakter von Handlungen. An einer Stelle merkt er an, »Indem in dieser Abwechslung das Bewußtsein ein Moment für sich und als wesentliches in seiner Reflexion, ein anderes aber nur äußerlich an ihm oder für die anderen hat, tritt damit ein Spiel der Individualitäten miteinander ein, worin sie sowohl sich selbst als sich gegenseitig sowohl betrügen als betrogen finden.«9 Hier scheint es sich um eine Art gewalttätigen Ausbruch von Betrug und Selbstbetrug zu handeln und auch hier gilt es wieder anzumerken, dass Hegel nicht von individuellen Pathologien spricht. Wie im Fall der kollektiven akrasia gibt es eine allgemeine Verbindung zwischen einer kollektiven Selbstdarstellung und dem, was so ein Gruppen- beziehungsweise Super-Gruppenakteur tatsächlich tut. In allen drei Fällen, die wir gesehen haben, besteht das Problem im Erreichen der rationalen Einheitlichkeit, die für rationales Handeln notwendig ist. Tatsächlich scheint dieses Berufen auf Selbstbetrug viel wichtiger beziehungsweise umfassender zu sein als akrasia. Der oben erwähnte Fall der öffentlichen Unterstützung des Gleichheitsideals vor dem Gesetz, der durch keine effektive Handlung 8 9

Ebd., §444. Ebd., §415.

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unterstützt wird, ist viel wahrscheinlicher ein Anzeichen dafür, dass keine so geartete Verpflichtung dem Gleichheitsanspruch gegenüber existiert. Liest man es so, kann es offensichtlich durchaus kollektiven Selbstbetrug geben. Behält man dies im Hinterkopf, lässt sich außerdem einsehen, dass die interessante Originalität von Hegels Begriff des Selbstbetrugs in diesem und in vielen anderen Fällen darin besteht, dass er nicht nur psychologistisch ist. Das heißt, er ist keine Instanz des Phänomens, dass das Subjekt etwas vor sich und in sich ›versteckt‹ und damit eine Suche nach den tieferen und tatsächlichen Motiven initiiert. Die Wirklichkeit eines Motivs wird nur im Handeln deutlich, in dem, was man zu tun gewillt ist. Es ist in diesem Umsetzen, dass sich diese Trennung, also dieser Selbstbetrug manifestiert. Wenn wir uns sowohl individuelle als auch Gruppenakteure als Mengen möglicher Stimmen für mögliche Motive vorstellen, dann werden wir darauf achten, wie ein jeder Akteur sich zu einer Absicht bekennt, die zwar möglich ist, aber nicht in Taten manifestiert wird, und dann etwas verheimlicht. Dies kann eine plausible, aber immer noch falsche Beschreibung des Inhalts der Handlung beinhalten. So scheint zumindest die zentrale Aussage im Abschnitt über die Sache selbst zu lauten. Ebenso könnte man über den Besitzer der schönen Seele sagen, dass er diesem Verständnis von Handlung nicht verpflichtet ist, weil er nicht entsprechend handelt. Er ist von sich selbst getäuscht, nicht schwach. In seiner Auseinandersetzung mit Diderots Stück Rameaus Neffe und dem dort angesprochenen Gipfel der Selbst- und gesellschaftlichen Entfremdung in der Phänomenologie, beschwört Hegel wieder den Begriff der Täuschung herauf. So möchte er in seiner Besprechung »des Musikers« zum Ausdruck bringen, dass der Anspruch des Neffen auf Identitätslosigkeit, und somit auf die Fähigkeit, jede Theaterrolle zu spielen, und dem damit einhergehenden Gedanken, dass es keinen Unterschied zwischen der Theaterwelt und wirklichen gesellschaftlichen Rollen gibt, nicht nur fehlgeleitet ist und nicht nur andere täuscht, sondern auch einen Fall von Selbstbetrug darstellt: »Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der andern, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit.«10 Und schließlich gibt es da noch Hegels offensichtlichstes Beispiel, nämlich die moderne Moralität. Diese wird manifest, wenn ein Akteur, oder ein Gruppenakteur oder ein super-struktureller Akteur, wie es der Geist ist, die Rolle des moralischen Richters übernimmt und alle einer moralischen Prüfung unterzieht, laut der sie immer fehlen und niemals wirklich pflichtgemäß, sondern immer nur im Dienste des Eigeninteresses handeln. (Wenn man sagt, dass der Geist die Rolle des moralischen Richters übernimmt, bedeutet dies etwa so viel wie, dass es ein Mittel der kollektiven Selbst-Darstellung gibt, das nicht nur ein bloß summenartiges Ergebnis ist und das sich solchen Idealen öffentlich verschreibt.) Eine so rigorose Verurteilung ist laut Hegel irrational, ja sogar selbstwidersprüchlich, und er geht sogar so weit zu sagen, dass niemand so eine Position einnehmen kann, ohne sich gleichzeitig bewusst zu sein, dass sie selbstwidersprüchlich ist. Die Position 10

Ebd., §521.

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der Moralität verlangt geradezu, dass Individuen nicht die Individuen sein sollen, die sie sind und sie will eine Anpassung an extrem strenge Standards, die nie erfüllt werden können. Hegel suggeriert außerdem, dass sich diese Einsicht in das Wesen der Moralität früher oder später durchsetzen wird, dass es ein Äquivalent zur christlichen Beichte geben wird, laut der »wir alle Sünder sind,« und dass diese Beichte ein gegenseitiges Vergeben bewirkt. Dies ist eine seltsam anmutende Passage in der Phänomenologie und sie wirkt so, als ob Hegel denke, dass die Last dieses rigorosen Moralismus und des damit einhergehenden Selbstbetrugs unerträglich sei. Während viele der anderen Übergänge in dem Buch einer intellektuellen oder begrifflichen Einsicht auf einen praktischen Widerspruch zu folgen scheinen, präsentiert sich diese existentieller und dramatischer als andere. Das spielt für uns hier jedoch keine Rolle, denn Hegel irrte sich in diesem Zusammenhang offensichtlich in jeder Beziehung. Diese Art von Selbstbetrug kann offensichtlich ziemlich leicht ausgehalten werden. In der Tat hat selbstbetrügerischer Moralismus epidemische Ausmaße in der nach-hegelschen, also in unserer Welt erreicht. Und dies ist nicht nur die ›Schuld‹ der Selbstbetrüger, sondern auch die ihrer Zuschauer, denn auch die Leichtgläubigkeit ist eine Art des Selbstbetrugs (›nur das zu hören, was man hören will‹) und ist ebenso strafbar. Wie Bernard Williams betont, haben sich in solchen Fällen Betrüger und Betrogener regelrecht miteinander ›verschworen‹.

V Hier bleiben noch viele Fragen offen. Erstens, während Hegel das Konzept des Selbstbetruges im Kontext des Altertums heraufbeschwört, handelt es sich dabei nicht um einen Begriff des Altertums, denn er scheint in der entsprechenden Literatur nicht vorzukommen. So stellt sich die Frage: Wann wurde dieser Begriff zum ersten Mal zu einem wichtigen analytischen Mittel und könnte uns dies etwas Charakteristisches über den Zustand der Moderne selbst verraten? Und dann gibt es da auch noch die Frage seiner Möglichkeit beziehungsweise, wie man die Aura der vollkommenen Paradoxität verscheuchen kann, die diesen Begriff des Selbstbetruges umgibt. Angesichts von Hegels ungewöhnlicher Sichtweise auf die Beziehung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit beim Handeln habe ich hierzu bereits einen Lösungsvorschlag angeboten. Doch die weitergefasste Frage verlangt nach einer Rückkehr zu unseren früheren Gedanken über die Relevanz von Hegels Abhandlung über den Begriff des geschichtlichen Geistes. Aus Hegels Perspektive gibt es nämlich tatsächlich einen Grund zu glauben, dass die Komplexität unserer Situation etwas ziemlich Neuartiges erzeugt hat. Und dieses Neue kann nur seine Philosophie erklären, dank ihrer Fähigkeit, die ›positive‹ Rolle des Negativen und die Realität des Gruppenhandelns und der kollektiven Subjektivität begreifbar zu machen. So scheint das Leben in modernen Gesellschaften ein Bedürfnis nach einzigartigen, gesellschaftlich entfremdeten, kollektiv-doxastischen Zuständen erzeugt zu haben, eine Art Wiederholung der verschiedenen Charaktere im Drama des Selbstbetrugs, das in der Phänomenologie erzählt wird. Laut dieser Beschreibung glauben wir zutiefst von

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uns selbst zu wissen, dass wir fundamentalen Prinzipien und Maximen verpflichtet sind, denen wir eigentlich, angesichts dessen, was wir tatsächlich tun, in keinem wirklichen Sinne verpflichtet sind. (Kierkegaard glaubte, dass in diesem Sinn die meisten modernen Menschen ›Christen‹ sind [beziehungsweise dies nicht sind]. Dieser Verweis ist nicht nebensächlich. Wie sonst könnten wir so etwas wie eine ›Vereinigung reicher, christlicher Diebesbarone‹ erklären [die irgendwo existieren muss], oder etwa die Existenz kommunistischer Milliardäre?) Die Prinzipien können bewusst und auf ehrliche Weise anerkannt und öffentlich unterstützt werden. Doch können sie aufgrund der Art von Prinzipien, die sie sind, nicht in eine kohärente, umsetzbare Lebensweise integriert werden. (Die gesellschaftlichen Bedingungen für Selbstbetrug in diesem Kontext können zeigen helfen, dass das Problem nicht als Beispiel eines kollektiven Selbstbetrugs beschrieben werden kann. Die Analyse ist keine moralische, denn sie legt das Augenmerk nicht auf Individuen. Vielmehr muss sie als eine Instanz des geschichtlichen Geistes verstanden werden und zwar in dem Sinn, den dieser Vortrag beschreiben möchte.) Oder aber wir sind tatsächlich verschiedenen Handlungsweisen verpflichtet, denen wir allen aus tiefster Überzeugung und mittels der zahlreichen repräsentativen Praktiken, die dem Geist zu bestimmter Zeit zur Verfügung stehen, abschwören würden. Und dies, obwohl unsere Handlungen uns wieder entlarven. In seinen frühen Schriften hat Hegel argumentiert, dass das Verlangen nach moderner Philosophie selbst als Versuch entsteht, das zu versöhnen, was die moderne Philosophie in »Entzweiung«11 zurückließ. Ein offensichtliches Beispiel für diese Art der Entzweiung ist die genannte entfremdete Beziehung zu uns selbst. Dies scheint vor allem in der politischen Welt der Fall zu sein. Natürlich trifft es auch zu, dass in der modernen Politik – wie dies vielleicht schon immer der Fall war – massiver, offensichtlicher und vorsätzlicher Betrug und Täuschung an der Tagesordnung sind. Manchmal wird dies sogar gefeiert und nicht nur als notwendiges Übel angesehen. Ich denke dabei an Machiavellis berühmtes Argument, dass die Bedürfnisse und Interessen der Regierung sich hinreichend von denen der Individuen unterscheiden, so dass Täuschungspraktiken rechtfertigbar sind, ja, dass diese sogar als tugendhaft gelten müssen.12 Entsprechend behauptete die NSA eben das nicht zu tun, von dem Snowdens Unterlagen bewiesen, dass sie es taten – und dabei waren sie sich dessen sicherlich bewusst. Zweifellos war Selbstbetrug Teil ihrer Rechtfertigung, aber sie wussten auch auf jeden Fall, dass sie eindeutigerweise logen. Es gibt noch zahlreiche weitere Beispiele und diese beschränken sich nicht nur auf die Politik. So haben etwa Zigarettenunternehmen das Risiko des Rauchens verharmlost, obwohl sie es besser wussten und man könnte nahezu endlos lange mit dieser Aufzählung fortfahren. Doch die spezielle Art des Selbstbetrugs, den Hegel identifizierte – und ich würde sogar sagen, den er als Erster identifizierte – ist von anderer Art und stellt eventuell ein noch weiter verbreitetes Phänomen dar. Wie Williams deutlich machte, scheint die geG. W. F. Hegel: Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: RheinischWestfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg 1968, S. 9. 12 Bernard Williams: »Truth, Politics and Self-Deception,« in: ders.: In the Beginning Was the Deed, Princeton 2005, S. 154–164. 11

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samte politische Welt heutzutage ohne diesen Selbstbetrug unvorstellbar zu sein. Zumindest dann, wenn man die Politik als ein Spielfeld versteht, auf dem das gespielt wird, was die Externalisierung einer besonderen Art von Gruppenakteur darstellt, nämlich des Gruppenakteurs Regierung. Politische Akteure werden präsentiert und präsentieren sich selbst, so argumentiert Williams, wie Schauspieler in Seifenopern. Sie spielen Rollen, in denen sie weder zynisch vorgeben, bestimmte Positionen zu vertreten, von denen sie wissen, dass sie falsch sind (nicht immer oder zumindest meistens nicht), noch fühlen sie sich in diesen Rollen wohl oder füllen sie auf authentische Weise aus – man denke hier nur an das theatralische Verhalten, die Übertreibung, das ›Posieren‹ und die Rhetorik des ›überflüssigen Protests‹. Williams’ Analyse ist wahrhaft bewundernswert: Entweder nennt man sie beim Vornamen oder sie bekommen die gleichen lustigen Spitznamen wie Schauspieler in Seifenopern. Auch haben sie die gleichen, breit gezeichneten Charaktere, den gleichen Willen zum Triumph und zu der Art Erniedrigungen, die auf schematische Weise mit dem Rollenhandeln von anderen Darstellern verknüpft sind. Man glaubt ihnen wie man Schauspielern in Seifenopern glaubt: Man nimmt die Einladung an, sich halbherzig auf sie einzulassen.13 Und er fährt fort: …Politiker, die Medien, und die Zuschauer verschwören sich und täuschen vor, dass hier bedeutende Tatsachen behandelt werden, ganz so als ob man sich verantwortungsvollerweise um die wirkliche Welt kümmere. Selbstverständlich wird dieses Phänomen selbst nicht explizit thematisiert. Die gesamte Strategie stellt einen Versuch dar, eben dies zu vermeiden. Trotz all des hier Gesagten bin ich mir der Gefahr bewusst, die Glaubwürdigkeit, ja sogar die Plausibilität, überzustrapazieren, wenn man behauptet, dass all diese Phänomene am besten erklärt werden, indem man sagt, dass der Geist – in diesem Fall der gemeinsame Geist einer Nation – bei seiner Selbstdarstellung kollektiven Selbstbetrug vollzieht. All das hier Gesagte soll nur den Charakter eines Angebots haben. Aber es bedeutet auch, dass es vielleicht eine andere und eventuell bessere Art und Weise gibt, die ›Wirklichkeit‹ von Hegels Philosophie einzuschätzen, als es der institutionell orientierte Ansatz vorschlägt, wenn er sich auf die heute ›verbliebenen Anknüpfungspunkte‹ mit Hegels Grundlinien konzentriert. Das Problem der Wirklichkeit ist nämlich auf enge Weise mit dem allgemeinen Phänomen des kollektiven Selbstbetrugs verknüpft. So wie ich es hier dargestellt habe, handelt es sich bei diesem Phänomen um ein Mittel, das dazu dient, die Anerkennung dessen zu vermeiden, von dem man trotz allem weiß, dass es wahr ist: der Tatsache, dass es eine Unterbrechung zwischen bewusst akzeptierten Handlungsprinzipien und den tatsächlich resultierenden Handlungen gibt. Das Bedürfnis nach so einer Strategie wird verständlich, wenn man die Hauptaussage der Grundlinien bedenkt. Diese lautet, dass praktische Irrationalität das unausweichliche Resultat wäre, wenn die Institutionen des abstrakten Rechts und der Moralität nicht als Momente innerhalb der über13

Ebd, S. 154–164. Hier: S. 163; dies ist die deutsche Übersetzung nach dem Original.

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greifenden, gemeinsamen Sittlichkeit existieren würden. Sollte es wahr sein, dass ohne solch eine geteilte Sittlichkeit und, besonders wichtig, ohne ihre Unterscheidbarkeit von der bürgerlichen Gesellschaft, zahlreiche kollektive Prinzipien als unzureichend, als irrational, als Gegenstand praktischer Widersprüche erscheinen würden, dann wäre dies natürlich toll; ja sogar toller und vielleicht sogar noch toller. Ich möchte also vorschlagen, dass wir uns genau in dieser Situation befinden. Wir leben in anonymen Massengesellschaften, in denen die Abwesenheit dessen, was Hegel tatsächliche Gemeinsamkeit, das heißt Sittlichkeit nennt, eine gefühlte Abwesenheit ist und nicht nur eine unbestimmte Abwesenheit. Abschließend möchte ich noch Folgendes suggerieren: Die Einsicht, dass diese Situation notwendigerweise zum Verständnis der Prävalenz des kollektiven Selbstbetruges gehört, ist besser, als auf irgendeine Variante des moralischen Verfalls, des Mangels an Authentizität oder der Existenz moralischer Feigheit in Individuen hinzuweisen. Dieses Verhalten wäre selbst ein Beispiel für eben die Art des Selbstbetruges, den Hegel als notwendigen Aspekt der Institution der Moral identifiziert.

Literatur Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes/Phenomenology of Spirit, übers. von Terry Pinkard, http://terrypinkard.weebly.com/phenomenology-of-spirit-page.html 2013. – Hegels Philosophie des Subjektiven Geistes/Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit, übers. und hg. von M. Petry, Dordrecht 1978. – Die Wissenschaft der Logik. Erster Teil, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: E. Moldenhauer/K. Michel (Hg.): Werke, Bd. 8, Frankfurt/M. 1971. – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: E. Moldenhauer/K. Michel (Hg.): Werke, Bd. 12, Frankfurt/M. 1971. – Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie, in: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Gesammelte Werke, Bd. 4, Hamburg 1968. Williams, Bernard: »Truth, Politics and Self-Deception«, in: ders.: In the Beginning Was the Deed, Princeton 2005. S. 154–164.

Über den Sinn der Beschäftigung mit der deutschen Philosophie heute Ludwig Siep (Münster)

I. Deutsche Philosophie als Stil II. Über den Umgang mit den Texten der deutschen Philosophie III. Gegenwärtige Transformationen

I. Deutsche Philosophie als Stil Gibt es deutsche Philosophie? Sollte es sie geben? Zumindest zwei weltweit unter die Klassiker gezählte Philosophen, Fichte und Heidegger, haben eine genuin deutsche Philosophie für möglich gehalten und gefordert. Für beide war sie zur Bewahrung der von den Griechen gegründeten Philosophie nötig, ja sogar zur Rettung der Menschheit.1 Dafür haben sie fundamentale sprach- und geschichtsphilosophische Begründungen gegeben. Sie überzeugen aber aus der Sicht der gegenwärtigen Sprachphilosophie und Geschichtswissenschaft nicht mehr. Aussagen über Wesenseigenschaften von Nationen und Kulturen haben sich allenthalben als Mythen mit Integrations- und Rechtfertigungsfunktion erwiesen. Gemeinsame Traditionen, Erfahrungen und besondere ›kulturelle Gedächtnisse‹ müssen darum keine bloße Manipulation sein. Deutsche Philosophie war aber nicht nur ein Konstrukt des Sendungsbewusstseins. Seit dem Ersten Weltkrieg gibt es eine Reihe kritischer Versuche, die Ursachen für den aggressiven Nationalismus und später Faschismus der Deutschen bei ihren großen Philosophen zu suchen. Für John Dewey zählten dazu der Dualismus und der Rigorismus Kants, für Karl Popper die Absolutheitsansprüche der Systeme Fichtes und Hegels, für Georg Lukacs Schelling, die Romantik und der sog. Irrationalismus Nietzsches.2 Auch für Cassirer oder Plessner gehörte die nachkantische deutsche Philosophie zu den wesentlichen Das kann man sowohl Fichtes Reden an die deutsche Nation wie verschiedenen Texten vor allem des mittleren und späten Heidegger entnehmen. Ihre eigene Philosophie, die eine mögliche Rettung der Menschheit vorbereitet, ist wesentlich auf die deutsche Sprache und Denkgeschichte angewiesen – im Falle des späten Heidegger vor allem auf Nietzsche und Hölderlin. Zu Heideggers Verständnis einer deutschen »Besinnung« anstelle der rechnenden, an Macht und Kontrolle (»Machenschaft«) orientierten Rationalität sowohl des »Amerikanismus« wie des »Bolschewismus«, aber auch des typisch jüdischen und englischen Denkens vgl. jetzt seine »Überlegungen XII«, in ders. Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Bd. 96: Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. v. Peter Trawny, Frankfurt/M. 2014, S, 17 f., 41, 48, 50, 243. Für die notwendige Wende des Denkens haben beim späten Heidegger aber zunehmend auch asiatische Traditionen wie der Zen-Buddhismus Bedeutung. 2 Vgl. John Dewey: Deutsche Philosophie und deutsche Politik, hg. v. Axel Honneth, Berlin 2000; Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 2003; Georg Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft (Werke Bd. 9), Darmstadt und Neuwied 1974. 1

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Ursachen des deutschen Irrweges weg von den Gemeinsamkeiten des Völkerrechts und der Menschenrechte.3 Das ist gewiss kein bloßer Mythos, sondern trifft Bedenkenswertes. Aber die behaupteten geistesgeschichtlichen Wirkungsketten halten einer genaueren Prüfung zumeist nicht stand. Das Vernunftrecht von Leibniz bis Hegel läuft dem pseudoreligiösen Nationalismus von 1914, ohnehin dem Rechtsnihilismus der Naziideologie diametral zuwider. Und das Amalgam abstruser Ideen in »Hitlers Wien«4 war für die völkische Weltanschauung einflussreicher als selbst ein entstellter Nietzsche. Das heißt nicht, dass diese philosophische Tradition ganz unschuldig wäre an Fehlentwicklungen der politischen Kultur in Deutschland. Es gibt keine starke Tradition der individuellen Abwehrrechte gegen den Staat, der Tyranniskritik oder der Rechtfertigung der parlamentarischen Demokratie im deutschen philosophischen Denken vor der Mitte des 20. Jahrhunderts. Man kann nicht einmal sagen, dass die Ansätze zu Grundrechten und Demokratie in den Verfassungen von 1848 bis 1919 von den heute international berühmten deutschen Philosophen dieser Zeit unterstützt, d. h. prinzipiell gerechtfertigt worden wären. Die bewundernswerten Bemühungen um die Erschließung und Fortentwicklung dieser Philosophie bei Forschern und Studierenden in aller Welt habe ich als im Zweiten Weltkrieg geboren nicht ganz ohne Beklommenheit wahrgenommen. Eine Entlastung waren für mich immer die Worte, die vor ziemlich genau 50 Jahren ein deutsch-jüdischer Philosoph und Rückkehrer aus der Emigration, Werner Marx, bei seiner Antrittsvorlesung auf dem Lehrstuhl gesprochen hat, den Martin Heidegger nach dem Krieg nicht mehr innehaben durfte: »Als in Deutschland, vor noch gar nicht langer Zeit, die Barbarei herrschte und viele Deutschgebürtige in der Emigration und hier an ihrer Herkunft verzweifelten, da war es ein Trost und Grund für Stärke und Hoffnung, dass es jene Werke gab [gemeint sind vor allem die Kants, Fichtes und Hegels, LS], in denen Deutsche für alle Menschen die höchste Sittlichkeit erstrebten.«5 Ob Trost oder Irrweg – es wäre offenbar zu einfach, durch Bestreitung einer spezifisch deutschen philosophischen Tradition deren Last loszuwerden. Trotzdem werde ich im Folgenden mögliche Abgrenzungskriterien wie Sprache, Wirkungsgeschichte, wechselseitige Beeinflussung mit anderen Bereichen der Kultur oder Politik nicht weiter erörtern. Ich lasse mir vielmehr den Gegenstandsbereich von außen vorgeben: Überall in der Welt wird Deutsche Philosophie studiert, zumal seit sich auch die angelsächsisch-analytische Philosophie wieder der Geschichte zugewandt hat. Es gibt Leibniz-, Kant-, Fichte-, Nietzsche- und Heidegger-Gesellschaften. Vielleicht ist das Faszinierende dieser Philosophie einfach ein Korpus großartiger Texte, der erwähnten Autoren und anderer – bis in die Gegenwart, man denke an Adorno, Blumenberg, Gadamer, Habermas, Henrich, vielleicht 3 Vgl. Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, übers. v. Franz Stoessl, Zürich 1949; Helmut Plessner: Die verspätete Nation, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 6, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard et al., Frankfurt/M. 1982. 4 Brigitte Hamann: Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München u. a. 2001. 5 Werner Marx: Die Bestimmung der Philosophie im Deutschen Idealismus, Stuttgart o.J. (1965), S. 5 f.

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auch Wittgenstein (wenn man ihn zu dieser Tradition zählen darf). Es lässt sich aber auch von einer Art gemeinsamen Stils dieses Philosophierens sprechen. Ich verstehe unter Stil hier nicht mehr als die Kontinuität beherrschender Fragestellungen und der Art, sie anzugehen. Nach meiner These gehören dazu die folgenden Charakteristika: erstens eine besondere Verbindung von historischem und systematischem Denken, zweitens die Vermittlung von Wissenschaft und Religion oder umfassenden Weltbildern und drittens der Anspruch radikaler Neuanfänge. Das alles gibt es sicher auch außerhalb der deutschen Philosophie und es gibt Philosophen deutscher Sprache, wie Lichtenberg oder Stirner, die vielleicht nicht gut dazu passen. Trotzdem verbindet dieser Stil die wirkungsreichsten deutschen Philosophen untereinander stärker als mit anderen Traditionen – und er lässt ihre Stärken und Schwächen erkennen. (1) Historisch-systematisch: Seit Aristoteles interessiert sich die Philosophie für die Irrtümer und Fortschritte der Vorgänger, seit der Renaissance steigt das Bewusstsein der Bedeutung des zeitlichen Abstandes. Das Interesse an der Fremdheit des Vergangenen, an Quellen und Einflüssen ist dem europäischen historischen Bewusstsein des 19. Jahrhunderts gemeinsam. Charakteristisch für die deutsche Philosophie zumindest seit dem 18. Jahrhundert scheint mir aber das Bemühen, die Thesen der Vorgänger zugleich in ihrer Eigenart und als Herausforderung systematischer Auseinandersetzung zu verstehen. In der nachkantischen Philosophie wird die Philosophiegeschichte dann zu einem Teil des Systems und dieses zu ihrem konsequenten Entwicklungsresultat. Zu dieser philosophiegeschichtlichen Verortung tritt die geschichtliche, etwa bei Kant im »Jahrhundert Friederichs« oder bei Hegel nach dem »herrlichen Sonnenaufgang« der Französischen Revolution.6 Das Verhältnis der systematischen Prinzipen und Theorien zu dieser historischen Genese ändert sich natürlich selber grundsätzlich. Noch Hegel glaubte, dass die Vernunft zwar das Begreifen der Geschichte zur Selbsterkenntnis benötigt, das Resultat aber den weiteren historischen Prozessen im Wesentlichen entzogen ist.7 Im 20. Jahrhundert wird dieser Anspruch zumeist aufgegeben zugunsten eines unabschließbaren Reflexionsprozesses. Für die Klarheit einer Epoche über sich selbst muss sie dann erst recht ihre Genese verstehen. Nicht nur die der Begriffe und Institutionen, sondern, wie bei Blumenberg, auch der für ganze Weltsichten grundlegenden Metaphern. Oder mit Gadamer: Eine nicht mehr absolute Reflexion braucht das Gespräch mit den Vorgängern, denen sie ihre geistigen Voraussetzungen verdankt und deren Fragen sich auf neue Weise stellen. Einsicht in historische Bedingtheit stand lange in Spannung mit dem Anspruch eines Wissens von unveränderlichen Gegenständen und einer exakten Methode. Die europäische Philosophie der Neuzeit ist insgesamt am ›sicheren Gang‹ der mathematischen Naturwissenschaften orientiert. Der Anspruch einer von ersten evidenten Prinzipien oder 6 Vgl. Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wissenschaften, Bd. 8, Berlin/Leipzig 1923, S. 33–42, hier: S. 40. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: ders.: Werke, Bd. 12, Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, S. 529. 7 Das ist jedenfalls meine Deutung und die von Hans Friedrich Fulda: Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1965, S. 213.

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Axiomen ausgehenden philosophia more geometrico demonstrata geht auf Descartes und Spinoza zurück. Er hat sich aber vielleicht nirgendwo so nachhaltig ausgewirkt wie in der deutschen Philosophie von Leibniz und Christian Wolff bis zum frühen Marx. Systemphilosophie ist die deutsche Philosophie noch bei Husserl und in Heideggers Sein und Zeit, auch wenn darin an die Stelle der systematischen Deduktion aus Prinzipien eine Fundamentalhermeneutik getreten ist. Weit weniger als an der mathematisch-logischen Seite der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist die deutsche Philosophie an der empirischen orientiert. Wie wissenschaftliche Erfahrung möglich ist und wie weit sie trägt, ist natürlich Gegenstand der Vernunftkritik bei Kant, der Wissenschaftslehre Fichtes oder der »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«8 bei Hegel. Auch besteht kein Zweifel daran, dass die besten erfahrungswissenschaftlichen Erklärungen der materiellen Welt, auch des Menschen und seiner Geschichte, von der Philosophie zu rezipieren sind. Sie dürfen durch keine Spekulation übersprungen werden. Dennoch bleibt die deutsche Philosophie skeptisch gegenüber dem Empirismus vor allem der englischen Tradition. Auch auf die Vorläufigkeit und Korrigierbarkeit der eigenen Resultate will sie sich nicht einlassen. Erst im 20. Jahrhundert dämmert die Erkenntnis, dass gerade die Revision von Theorien und Normen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen die Freiheit des Individuums und seine Mitbestimmung sichert. (2) Zwischen Wissenschaft und Religion: Die großen Systementwürfe des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts in der deutschen Tradition waren ausdrücklich der Vereinbarung von moderner Wissenschaft und aufgeklärtem Christentum gewidmet. Aber auch danach bleibt das Problem konstitutiv, wie die Antworten der Religion auf die Fragen der menschlichen Weltdeutung, des persönlichen Lebenssinnes und der Gebote des richtigen Verhaltens im Lichte der wissenschaftlichen Naturerklärung zu beurteilen sind. Das gilt auch noch für Nietzsche oder Marx, für die der Kampf gegen Deutungs- und Herrschaftsansprüche der Religion, vor allem des Christentums, der Stachel ihrer philosophischen Leidenschaft ist. Diese Stellung zwischen Wissenschaft und Religion, auf die ja auch Habermas hingewiesen hat, erklärt Stärken und Schwächen des deutschen Stils. Eine Folge des philosophischen Absolutheitsanspruches, nach dem Vorbild sowohl des exakten Wissens als auch der religiösen Wahrheit, ist Intoleranz gegen alternative philosophische Konzeptionen. Sie reicht bis zu Ausschließlichkeitsansprüchen, nicht nur in der gelehrten Welt, sondern auch in Staat und Gesellschaft. Fichte für seine späte Transzendentalphilosophie und Hegel für das spekulative Denken haben solche Ansprüche erhoben.9 Die philosophische Orientierung der deutschen »Bewegung« bei Heidegger scheint eher eine kurzfristige So der ursprüngliche Zwischentitel (nach der Vorrede) der Phänomenologie des Geistes von 1807. Vgl. Phänomenologie des Geistes (1807), in: G.W. F. Hegel: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Reinhard Heede, Hamburg, Düsseldorf 1980, S. 444, 469. 9 Zu Fichte vgl. etwa die »Sittenlehre 1812«, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. II,13: Nachgelassene Schriften 1812, hg. v. Reinhard Lauth, Erich Fuchs, et al., Stuttgart/Bad Cannstatt 2002, 307–392, hier: S. 389; zu Hegel Ludwig Siep: »Vernunftrecht und Rechtsgeschichte«, in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010, S. 28, 42. 8

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Hoffnung gewesen zu sein.10 Diese epistemischen Ansprüche bedeuten oft eine Immunisierung gegen historischen Wandel, die problematische Auswirkungen noch in der heutigen Rezeption der deutschen Philosophie hat (s.u. II.). Das Ziel der Versöhnung zwischen Wissenschaft und Religion hat der deutschen Philosophie aber umgekehrt ihre Distanz zu wissenschaftlichem Reduktionismus und gesellschaftlichem Quietismus erhalten. Bis heute wird das weltverbessernd utopische Erbe der Religion besonders in der deutschen Philosophie in Anspruch genommen, von Kant über Fichte, Hegel und Marx bis in die Kritische Theorie: Die Welt, vor allem die soziale, kann nicht so hingenommen werden, wie sie ist. Sie muss gerechter, vernünftiger, friedlicher werden. Für Hegel muss sogar Gott aus seiner Jenseitigkeit zur Welt »befreit« werden, indem diese eine vernünftige rechtliche und sittliche Ordnung erhält.11 Auch dieser Verbesserungselan hat aber seine Kehrseite, nämlich das geschichtsphilosophisch-eschatologische Erbe der Erlösungsreligionen. Gesamtdeutungen der Weltgeschichte als Heilsgeschichte der Verwirklichung der Vernunft dominieren im 18. und 19. Jahrhundert, mit unterschiedlichem epistemischem Anspruch. Katastrophen und Unrecht der Vergangenheit und Gegenwart erhalten den Charakter der Notwendigkeit auf dem aufwärts führenden Weg der europäischen Rationalität. Noch problematischer sind die der Religion entlehnten Züge einer verweltlichten Apokalypse. Fichtes Idee der deutschen Weltrettung gegen den Antichristen Napoleon zielt immerhin noch auf einen nie dagewesenen Zustand des Rechts und der Gleichheit aller Menschen.12 Heideggers Hoffnungen auf das Rettende deutscher »Besinnung« vor der Gefahr der Seinsvergessenheit in Metaphysik, Kapitalismus und Technizismus haben ihn dagegen in die Nähe abstruser antisemitischer Verschwörungstheorien geführt.13 Vgl. Otto Pöggeler: Philosophie und Politik bei Heidegger. Freiburg, München ²1974. Die »Schwarzen Hefte« zeigen allerdings, dass Heidegger dem Führer und der deutschen Politik zumindest noch bis 1941 gewogen war. Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. 96, S. 242 sowie mit weiteren Belegen Peter Trawny, Heidegger und der Mythus der jüdischen Weltverschwörung. Frankfurt ²2014 11 Vgl. G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 20, unter Mitarb. v. Udo Rameil hg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Hans-Christian Lucas, Hamburg, Düsseldorf 1992, § 552, A., S. 534. 12 In Fichtes Vorlesungen zur Staatslehre von 1813 – genauer in dem Exkurs »Über den Begriff des wahrhaften Krieges« – heißt es offenbar mit Bezug auf Napoleon: »Erkenne ich recht Gott und seinen Weltplan, wie ich festiglich glaube […]: so ist in ihm alles Böse […], was seit Beginn der Zeit bekämpft worden ist von allen Tugendhaften, zusammengedrängt, und auf einmal erschienen, ausgestattet mit aller Kraft, die das Böse haben kann.« J. G. Fichte: »Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche« in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. II,16: Nachgelassene Schriften 1813, hg. v. Erich Fuchs, Hans Georg von Manz et al. unter Mitwirkung von Alessandro Bertinetto et al., Stuttgart/Bad Cannstatt 2011, S. 1–204, hier S. 53. Durch die Überwindung dieser Kraft solle aus den Deutschen ein »Reich des Rechts« hervorgehen, wie es »noch nie in der Welt erschienen ist, [in] aller der Begeisterung für Freiheit […], gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschengesicht trägt.« Ebd., S. 57. 13 Eine der unsäglichsten Formulierungen aus Heideggers Schwarzen Heften (XV) lautet: »Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.« Martin Heidegger: »Überlegungen XV« in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 96, S. 262. Zu Heidegger und den antisemitischen Verschwörungstheorien vgl. Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung S. 45–57. 10

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(3) Auch das dritte Charakteristikum zeugt von einer »Ansteckung« durch religiöse Denkmuster: die radikale Archäologie – um an eine Begriffsverwendung Michael Theunissens anzuschließen.14 Neuanfänge prägen die europäische Philosophie seit dem 17. Jahrhundert, seit dem 18. Jahrhundert sind sie aber nirgends so radikal wie in der deutschen. Das betrifft nicht nur die Verwerfung des common sense, sondern auch den Rückgang hinter die gesamte philosophische Tradition – man denke an Nietzsche oder Heidegger. Das verbindet sie mit den Revolutionen der Gestaltungsweisen und Lebensformen in der Kunst, vor allem der modernen. Sie gehen oft den Paradigmenwechseln in der Wissenschaft voraus. Radikale Traditionsbrüche haben aber eigene Gefahren. Vor allem in der praktischen Philosophie führen sie zum Vergessen der klassischen Theorien von guten und schlechten Verfassungen sowie der neuzeitlichen Geschichte und Theorie der Menschen- und Bürgerrechte, der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates. Auch gegenüber der deutschen Verfassungsgeschichte, zumindest seit der Paulskirche,15 kann das eine verhängnisvolle Regression bedeuten. Revolutionäre Perspektivenwechsel sind in der Philosophie, vor allem der normativen, problematischer als in Kunst und deskriptiver Wissenschaft. Institutionen des Rechts und moralische Regeln verdanken sich einer langen Lern- und Erfahrungsgeschichte. Auch ihre philosophischen Begründungen stehen in einer argumentativen Kontinuität. Das schließt grundlegende Änderungen in neuen historischen Situationen nicht aus. Aber die Missachtung der neuzeitlichen Entwicklung des Rechts durch radikale Denker von Marx bis Heidegger war nicht nur für ihr Denken verhängnisvoll. Schon daraus folgt, dass man sich mit den Werken der deutschen Philosophie in gehöriger kritischer Distanz auseinandersetzen sollte. Systematische Geschlossenheit und Radikalität der Reflexion sind nicht nur philosophische Stärken.

II. Über den Umgang mit den Texten der deutschen Philosophie Die deutsche Philosophie ist heute Gegenstand eines sowohl historischen wie systematischen Interesses in vielen Ländern. Sie ist sozusagen Gegenstand ihres eigenen Stils geworden. Aber auch dabei gibt es problematische Züge vorschneller Aktualisierungen und unhistorischer Perpetuierungen. Der Wahrheitsanspruch und die systematische Form verleiten zum Überspringen des historischen Abstandes und zum Übersehen der eben skizzierten Schwächen. Dabei kann man erstens hermeneutisch affirmativ das Eigenrecht der Gegenwart verleugnen, zweitens rekonstruktiv das heute Einleuchtende den vergangenen Texten implantieren, oder drittens systematisch-selektiv für den eigenen Ansatz Bestätigung bei Teilen der großen Systeme suchen. Alle drei Formen sind verbreitet, nicht Diese führt Theunissen in verwandtem, aber nicht bedeutungsgleichem Sinne ein in: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 325 ff. 15 Vgl. den Grundrechtskatalog der Paulskirche in: E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart etc. ³1978, S. 358 f. 14

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nur in Deutschland, und bedürfen der kritischen Erwägung. (1) Der erste, hermeneutisch-affirmative Umgang mit philosophischen Texten, sucht deren Argumentation als zwingenden Gedankengang nachzuvollziehen, ohne ihre Prämissen infrage zu stellen. Ein solcher vom principle of charity geleitete Zugang ist zweifellos notwendig, um die Stärke der Argumente und Systeme herauszuarbeiten. Je weiter sich Philosophien aber in das Feld der sozialen Wirklichkeit begeben oder auf Ergebnisse empirischer Wissenschaften angewiesen sind, desto eher stößt man auf Resultate, die heutige Forscher in der Regel nicht akzeptieren können. Der ›harte Kern‹ der affirmativen Interpreten wird dann, wie der religiöse Traditionalist, die schlechte Gegenwart verwerfen. Er wird etwa als Kantianer an einem rigorosen Strafrecht festhalten, als Fichteaner an einem patriarchalischen Familienrecht, als Hegelianer an einer Theorie des sittlichen Krieges oder als Nietzscheaner an der Verwerfung des demokratischen Staates.16 Der etwas weichere Nachfolger wird zwischen Kern und Rändern unterscheiden: Die unakzeptablen Lehrstücke gelten ihm als zeitgeistbedingt, aber nicht systemnotwendig. Er übergeht, dass sie von den betreffenden Philosophen meist mit größtem systematischen Anspruch vertreten wurden. Außerdem zeigt er in der Regel nicht, wie denn die auszuwechselnden Ränder mit dem alten Kern zusammenpassen. Die unveränderte Gültigkeit eines philosophischen Systems aus vergangenen Zeiten setzt eine zeitlose objektive Vernunft voraus – nicht nur in formalen Systemen, sondern auch in natürlichen und historischen Prozessen, die Gegenstand der Philosophie sind. Eine solche zeitlose Vernunft hat nicht einmal die klassische deutsche Philosophie angenommen und daher auch nicht die Gültigkeit vergangener Philosophien als ganzer. An die Stelle der philosophia perennis rückte schon im 18. Jahrhundert die Konzeption von Vorstufen und Teilwahrheiten in einem Fortschrittsprozess. Eine solche teleologische Konzeption der Philosophiegeschichte wird man heute aber weder für die theoretische noch für die praktische Philosophie verteidigen können – sie hält den Einsichten der Wissenschafts- und Sittengeschichte nicht mehr stand. Gedankengänge aus vorindustriellen europäischen Ständegesellschaften, konzipiert vor der Evolutions- oder Relativitätstheorie und formuliert in der Sprache ihrer Zeit, können im 21. Jahrhundert nicht mehr uneingeschränkt verteidigt werden. Darüber kann ihre oft faszinierende interne Schlüssigkeit nicht hinwegtäuschen. Die historisch-kontextuelle Interpretation philosophischer Texte hat nicht erst seit der Cambridge-School große Fortschritte erzielt. Auch die Begriffsgeschichte Joachim Ritters, die MetaphernZu Fichtes Familienrecht vgl. J. G. Fichte: »Grundriß des Familienrechts (Als erster Anhang des Naturrechts)« in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. I,4: Werke 1797–1798, hg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky unter Mitwirkung von Richard Schottky, Stuttgart/Bad Cannstatt 1970, S. 95–149.) Zu Hegels Theorie des Krieges als Bedingung der »sittlichen Gesundheit« der Völker vgl. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, 1–3, hg. v. Klaus Grotsch u. Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg, Düsseldorf 2009/2010/2011,vor allem §324; zu Nietzsche vgl. Hasso Hoffmann: »Nietzsche«, in: Hans Maier, Heinz Rausch et al. (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens. Bd. 2, Von Locke bis Max Weber, München 1968, S. 320–343, vor allem S. 337 ff. Zur Kritik an modernen Versuchen, Nietzsche als »Theoretiker der Demokratie zu lesen« vgl. Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3,3, Stuttgart, Weimar 2008, S. 261 f. 16

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geschichte Hans Blumenbergs oder die von Dieter Henrich initiierte Konstellationsforschung haben dazu beigetragen. Das macht die Klassiker nicht obsolet, sollte aber die Schulkämpfe zwischen Kantianern, Hegelianern usw. endlich erübrigen. (2) Der zweite und dritte Typ der Interpretation liest die historischen Texte im Lichte gegenwärtiger Fragestellungen oder Theorieansätze. ›Rekonstruktiv‹ nenne ich dabei den Versuch, den Text oder Autor im Ganzen als Vorwegnahme aktueller Theorien zu deuten, in deren Licht er allein widerspruchsfrei bleibt. Die Wirkungsgeschichte wird dann zu einer Kette von Missverständnissen. Neben die historisch wirksame tritt die reine Lehre, die erst dem jetzigen Interpreten zugänglich ist. Der Reichtum unterschiedlicher Interpretations-perspektiven weicht einem hermeneutischen Absolutismus. Sicher lässt sich mit der Zunahme an sorgfältig edierten Texten und Kommentaren eine Reihe von Interpretationen ausschließen. An die Stelle der zerstörten Mythen – etwa des Zweiten Weltkriegs als eines Kampfes zwischen Links- und Rechtshegelianern17 – treten aber oft neue, wenn man den Klassikern allzu Modernes unterstellt, von der Demokratie bis zum religiösen Pluralismus. (3) Die dritte, systematisch-selektive Interpretation entnimmt den Vorgänger-Philosophien bestimmte Teile und verwirft andere. Sie wird daher oft als eklektisch oder als Steinbruch-Methode kritisiert. Damit ist aber implizit der Charakter des geschlossenen Systems akzeptiert, der heute in Philosophie und Wissenschaften fragwürdig ist. Philosophen haben daher auch keine Verpflichtung, vergangene Lehren ganz oder gar nicht anzunehmen. Man kann also durchaus klassische Theoriestücke mit modernen Methoden und Perspektiven verbinden – etwa die Selbstbewusstseins- und Handlungstheorie der klassischen deutschen Philosophie mit Mitteln der modernen Sprachphilosophie. Schon selbstverständlich ist die Anknüpfung moderner Logiker an Leibniz oder Frege. Diese Art der Interpretation kommt für mich den Vorzügen des deutschen Stils am nächsten. Aber sie hat ihre eigenen Probleme. Die Suche nach systematischer Vorläuferschaft kann gegenwärtiges Denken sowohl über- wie unterschätzen. Überschätzt wird es, wenn in vergangenen Texten allenthalben Spuren der Modernität als eines unbestrittenen Maßstabs der Relevanz oder gar Wahrheit ausgemacht werden. Unterschätzt, wenn wissenschaftliche Revolutionen und emanzipative politische Kämpfe auf die bloße Ausführung längst erdachter Konzepte reduziert werden. Zur philosophischen Begründung notwendiger und berechtigter Veränderungen, sowohl der Theorien wie der Normen und Institutionen, gehört die Klarstellung, welche Prämissen vergangener Systeme man aufgeben muss. Die Konstruktion einer Genealogie eigener systematischer Einsichten hat immer etwas von Selbstlegitimation durch exklusiven Anspruch auf ein Erbe. Wir kennen ihre problematischen Folgen aus der politischen Geschichtsschreibung. Derartige Vereinnahmungen führen auch zu Blickverengungen, etwa wenn die deutsche Philosophie von Kant bis zum frühen Heidegger nur als Proto-Pragmatismus erscheint.

Hajo Holborn: »The science of history«, in: Joseph R. Strayer (Hg.): The Interpretation of History, Princeton 1943, S. 59–83, hier: S. 62. (vgl. Cassirer: Vom Mythus des Staates, S. 323) 17

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Wenn zum Stil der deutschen philosophischen Tradition die Verbindung von historischem und systematischem Denken gehört, dann muss auch in der Beschäftigung mit ihr zwischen systematischer Anschlussfähigkeit und historischer Einordnung, zwischen Aktualität und Grenzen, unterschieden werden. Manche Klassiker selber haben ihre Vorgänger zugunsten der eigenen Originalität unterbewertet. Auch bei mehr hermeneutischem Wohlwollen sollte man aber die Differenz zur Interpretation religiöser Texte nicht einebnen: Deren Kanonisierung lebt von der Wahrheitsunterstellung. Theologische Neuinterpretationen wollen den Gesamtrahmen einer Offenbarung in der Regel nicht verlassen. Die Philosophie ist aber auf keinen Textkanon und keinen theoretischen Rahmen festgelegt. Sie kann sich von bedeutenden Texten anregen lassen und zugleich fragen, in welcher Hinsicht und warum sie überlebt sind.

III. Gegenwärtige Transformationen Soll man den Stil der deutschen Philosophie fortsetzen, also die Verbindung von historischer und systematischer Reflexion, Wissenschaft und Gesamtdeutung des Lebens und der Welt? Wenn ja, dann nach meiner Auffassung nur im Sinne einer grundlegenden Transformation. Eine solche Philosophie sollte erstens problemorientiert sein, sie sollte zweitens im Sinne eines negativen Systembegriffs kritisch die Ansprüche jeder Wissenschaft und Deutungsperspektive eingrenzen, und es gehört drittens zu ihren Aufgaben, für die globalen gemeinsamen Handlungsziele nach einem Konsensrahmen zu suchen. Das alles im Lichte der Erfahrungen des vergangenen Denkens und der öffentlichen Institutionen – was eine problem- und kontextbezogene Philosophiegeschichte impliziert. (1) Transformierte deutsche Philosophie muss für die Probleme der modernen Gesellschaft und Wissenschaft offen sein, ohne sich als politische Krisenhelfer instrumentalisieren zu lassen. Was solche Probleme sind, ist natürlich nicht einfach von der sozialen Wirklichkeit vorgegeben. Sie sind aber auch nicht allein mit philosophischen Kriterien identifizierbar. Vielmehr gehen sie auf eine komplexe Wechselwirkung zwischen natürlichen Bedürfnissen, technischen Änderungen der Lebenswelt und – sich ebenfalls wandelnden – kollektiven normativen Selbstbildern zurück.18 Im Licht solcher normativer Kriterien stellen sich etwa die Probleme der Überwindung von globaler Ungerechtigkeit bei Ernährung oder medizinischer Versorgung, der Unterdrückung und der Ausgrenzung von Individuen und Gruppen (Klassen, Minoritäten, Religionsgemeinschaften), oder neuer gewalttätiger Intoleranz. Bei diesen Aufgaben ist die neuere Philosophie in Deutschland keineswegs vorangegangen. Schon die erforderliche Unterscheidung philosophischer Disziplinen wurde lange abgelehnt und die Entwicklung einer angewandten Ethik traf auf erhebliche Skepsis. Das erschwerte den Anschluss an normative Entwicklungen in der entstehenden Weltöffentlichkeit. In ihr sind seit einigen Dekaden weltweite Konventionen präsent, die nicht Paradigmatische Beispiele solcher Prozesse bieten globale historische Untersuchungen wie Jürgen Osterhammels Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München, 5. Aufl. 2010. 18

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nur Menschen- und Völkerrechte, sondern auch das gemeinsame Natur- und Kulturerbe betreffen, darunter Zielsetzungen in Bezug auf menschenverursachte Umweltprobleme. Es gehört heute zu den Aufgaben der Philosophie, sie nach den impliziten kulturellen Übereinstimmungen und Differenzen zu befragen – sowohl der Normen wie der Naturbegriffe. Auf die Fragen der klassischen Metaphysik muss nicht verzichtet werden, aber ihre Antworten sind nicht mehr Bestandteil einer Theorie der besten Erklärung von Phänomenen universal nachvollziehbarer sinnlicher und wissenschaftlicher Erfahrungen. Anders als bei der Gottes- und Unsterblichkeitsfrage erscheint beim Freiheitsproblem ein interdisziplinärer, auch naturwissenschaftlicher Zugang zumindest möglich. Er setzt aber eine Unterscheidung der Perspektiven von empirischer Beobachtung körperlicher Vorgänge und normativer Selbst- und Fremdattribution voraus, bei der es um Kompetenzen und Verpflichtungen geht – auch im Rahmen von Institutionen. (2) Kritische Abgrenzung der Wissens- und Geltungsansprüche war in der deutschen Tradition verbunden mit der Suche nach Einheit der Vernunft und einem System der Wissenschaften. Kants frühe Nachfolger haben Kritik nur als Vorbereitung eines Systems verstanden, das dem Wissen von Natur und menschlichem Geist einen notwendigen, deduktiven oder holistischen Zusammenhang geben sollte. Dieser Anspruch ist auch im 20. Jahrhundert von Philosophen wie Husserl und Heidegger nicht ganz aufgegeben worden, wenn sie die Methoden und Evidenzen der Wissenschaften in der Selbstauslegung der Lebenswelt fundieren wollten. Ob eine systematische Genealogie der unterschiedlichen Wissensformen auf einem vorwissenschaftlichen Boden noch möglich ist, scheint mir allerdings fraglich. Unsere Lebenswelt ist selber von angewandter Wissenschaft durchdrungen. Aber die ursprüngliche Bedeutung des Wissen- und Verstehen-Wollens kann noch kritisch gegen die Verselbständigung der Großorganisationen für Verwertungswissen zur Geltung gebracht werden. Man muss zwischen wissenschaftlichen Methoden keine absoluten Grenzen ziehen. Im Gegenteil ist heute die Anwendung der verschiedensten Methoden und Perspektiven bei den gleichen Gegenständen fruchtbar, von der Archäologie bis zur Hirnforschung. Aber – um es an einem Beispiel zu illustrieren – zwischen dem Erlebnis einer Klaviersonate, ihrem Verständnis in der Musikwissenschaft oder der Erklärung ihres Hörens in der Neurophysiologie bleiben wesentliche Differenzen. Sie können nicht ohne Verlust von Erfahrungsdimensionen und der Komplexität der Deutung eingeebnet werden. Es hat aber auch soziale Relevanz in einer Wissensgesellschaft, wenn zwischen Naturgesetzen, die nicht übertreten werden können, und Gesetzen, die festgelegt, verändert, kritisiert und gerechtfertigt werden können und müssen, nicht mehr unterschieden wird. Kritik einseitiger Dominanzansprüche und Freilegung ontologischer und epistemischer Implikationen wissenschaftlicher Aussagen ist Fortsetzung des Systemgedankens als Differenzierung von Perspektiven und Suche nach ihrer Komplementarität. Kritik kann eine weitere Bedeutung haben, die in der deutschen Tradition zumindest von Hegel bis zur Kritischen Theorie reicht. Bei Hegel bezieht sie sich – vor allem in der Phänomenologie des Geistes – auf Gestalten des kollektiven Bewusstseins, bei Marx auf die gesellschaftlichen, vor allem ökonomischen Verhältnisse und in der jüngeren kriti-

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schen Theorie auf Lebensformen.19 Kritik dieser Art will ihre Maßstäbe nicht deduzieren, sondern gesellschaftliche Konflikte artikulieren und zu ihrer systemverändernden Konsequenz treiben. Schwierig ist aber in pluralistischen und demokratischen Gesellschaften der Nachweis, dass sich eine bestimmte Diagnose gesellschaftlicher Störungen auf ein gemeinsames Selbstverständnis, geteilte Krisenerfahrungen und weitgehend unparteiische Veränderungsforderungen berufen kann. Kritik in beiden Bedeutungen und die Orientierung an öffentlichen Problemen sind eng verbunden. Das kann man am Beispiel der Biotechnologie, der Ökonomie oder der Soziologie sehen. In der Biotechnologie, der Wissenschaft und ihrer technischen Verwendung, erscheint zunehmend nicht nur die äußere Natur, sondern auch der Mensch selbst als verbesserbare Maschine. Man könnte ihn – theoretisch jedenfalls – durch eine Änderung der Gene oder des Gehirns technisch besser anpassen für die Ernährungs- und Kooperationsprobleme einer wachsenden Weltbevölkerung. Senkung der Aggressivität könnte sich aber auf andere soziale und künstlerische Fähigkeiten verheerend auswirken. Gehirnimplantate, die Schädigungen anderer automatisch verhindern, würden alle Normen zurechenbaren Handelns, von Bestrafung, Vergebung und Versöhnung außer Kraft setzen. 20 An ihre Stelle träten Reparatur und verordnete Therapie. Das sind Fragen des Menschenbildes und der sozialen Praxis, die in Normwissenschaften und öffentlichen Foren erörtert werden müssen. Auch der Anspruch der Ökonomie auf den Status einer wertfreien Wissenschaft lässt außer Acht, dass Produktion und Distribution von Gütern oder Dienstleistungen mit Regeln des Rechts und der ›Vertrauensbildung‹ verbunden sind, d. h. mit normativen Entscheidungen. Dass Fairnessvorstellungen eine Toleranzgrenze der Verletzbarkeit haben, zeigen die ökonomischen Kämpfe und ihre institutionellen Resultate. Moderne Arbeitssklaverei und Korruption werden heute, trotz unterschiedlicher Rechts- und Sozialordnungen, weltweit kritisiert. Normen und Institutionen haben eine eigene Dimension von Erfahrungen, die von technischem Lernen unterschieden ist. Ähnliches gilt für Versuche, die Ökonomie über Soziobiologie und evolutionäre Genetik naturwissenschaftlich abzusichern. Heute kommt zunehmend die Einbettung ökonomischer Systeme in kulturelle Lebensformen und Wertpräferenzen zum Bewusstsein, auch in religiöse Überzeugungen – man denke an Fragen des Islamic Banking. Bis zu einem gewissen Grade können ökonomische Theorien sicher von diesen Umgebungen abstrahieren. Aber Ökonomen können dann die unmittelbare Umsetzung dieser Theorien in Politik nicht mehr verlangen. Die Versuche, mit den gleichen wirtschaftlichen Maßnahmen die Ökonomien der verschiedensten Länder dieser Erde zu ›sanieren‹, sind auch aus diesen Gründen zweifelhaft. Zur kritischen Beschränkung der Ansprüche von Wissenschaften gehören Wissenschafts- und Rationalitätstheorie. Die Verabsolutierung von Rationalitätstypen hat sich auch in den jüngeren Debatten um sozialwissenschaftliche Modernisierungs- und SäkuVgl. Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Berlin 2014. Vgl. Julian Savulescu und Ingmar Persson: »Moral Enhancement, Freedom and the God Machine«, in: The Monist, Bd. 95, H. 3 (2012), S. 399–421. 19 20

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larisierungstheorien gezeigt. In deren klassischer Form wurden nicht nur beobachtbare Trends überschätzt, sondern auch wissenschaftliche Einstellungen der Menschen als einzige auf Dauer ernstzunehmende Werthaltungen unterstellt. Die Kritik daran muss aber nicht wieder in geschichtsphilosophischer Manier ein ›postsäkulares‹ Zeitalter ausrufen. Nicht alle Formen der Säkularisierung, vor allem im rechtlichen Bereich, sind umkehrbar – der weltanschauungsneutrale Staat ist selber unabdingbare Voraussetzung der Religionsfreiheit. Die Philosophie verdankt ihm seit der frühen Neuzeit ihre Freiheit von jeder Gesinnungskontrolle.21 Wo steht eine solche kritische Philosophie heute zwischen Wissenschaft und Religion? Mathematische Naturwissenschaften haben für die Erklärung der materiellen Welt in zwei Hinsichten ein Primat: Erstens sind Mathematik, Logik und experimentelle Erfahrung oder kontrollierte Beobachtung offenbar die einzige universale, auf keine besonderen Sprachen, Kulturen und Traditionen beschränkte Methodik. In der modernen Physik überschreiten theoretische Modelle sogar die raum-zeitliche Vorstellungsweise des Menschen. Zweitens ist ihr Gegenstand, die materielle Welt, nach allem, was wir wissen, der Träger aller Ereignisse und Leistungen in dieser Welt, einschließlich der menschlichen Denk-, Willens- und Phantasieoperationen. Wir können zwar eine grenzenlose Fülle von Sinnzusammenhängen erfinden oder imaginieren, aber diese Tätigkeit ist mit Vorgängen im menschlichen Gehirn verbunden – auch wenn ihre Inhalte sich durchaus nicht in der Sprache der neuronalen Prozesse allein deuten lassen. Die Passung zu den Erklärungen der materiellen Welt ist auch ein Ausschlusskriterium für diejenigen Sinnkonstruktionen, die Auswirkungen auf das gemeinsame Handeln haben. Denn das setzt verlässliche Annahmen über Kausalverhältnisse in der materiellen Welt voraus. Daraus folgt, dass die Aufgabe der Vereinbarung naturwissenschaftlicher und theologischer Erklärungen der materiellen Welt keine sinnvolle Aufgabe mehr für die Philosophie ist; jedenfalls solange sie von besonderen Offenbarungen, tradierten Texten und religiösen Erfahrungen unabhängig sein will, die nicht allen Menschen zugänglich sind – ein Anspruch, den in der Neuzeit auch die deutsche Philosophie erhebt. Erklärungen aus den Absichten eines intelligenten Wesens sind ohne solche Voraussetzungen nicht überzeugend, eine Bestätigung dafür mit universal zugänglichen Methoden ist nicht in Sicht. Zudem ist fraglich, ob wir uns von Absichten ohne materielle Basis eine mehr als mysteriöse Vorstellung machen können. Aus diesem Primat der Naturwissenschaften für die Erklärung der Vorgänge in der materiellen Welt folgt aber keine Deutungshoheit für die Bereiche des Mentalen, des Kulturellen und des Normativen. Die Sinnzusammenhänge und die Normen des Lebens und Handelns lassen sich aus den Gesetzen und Prozessen der naturwissenschaftlich erklärten Welt weder erschließen noch ableiten. Handlungsnormen erfordern gemeinsame und anerkannte Festlegungen. Aus der Evolutionstheorie folgt keine Ethik und aus der humanen Entwicklungsbiologie keine Normen des Lebensschutzes. Ob die Menschheit in der Evolution bestehen sollte, hängt auch von ihren bleibenden moralischen Qualitäten ab. Vgl. dazu jetzt Ludwig Siep: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015. 21

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Auch von der Moral führt aber kein notwendiger Weg mehr zu Gottespostulaten. Zwar hat jüngst Peter Rohs in einer Aktualisierung von Kants Postulatenlehre die These verteidigt, der Theismus passe besser zur Moral als der Atheismus.22 Auch Rohs geht davon aus, »dass weder die empirische Wissenschaft noch die Rechtfertigung von Normen der Prämisse bedürfen, dass es Gott gibt«23. Aber moralische Verantwortung müsse über das Leben hinausreichen und mit der Hoffnung auf endgültige Gerechtigkeit verbunden sein. Wenn die Autonomie und Würde des Menschen aber gerade darin besteht, dass er zur Einhaltung moralischer Normen auch ohne Hoffnung auf Belohnung oder Furcht vor Strafe fähig ist, erscheint jede Annahme eines strafenden Gottes der Autonomie unwürdig – ein für mich noch immer überzeugendes Argument Fichtes gegen Kant.24 Man kann sich auch fragen, ob es dem Begriff göttlicher Würde gerecht wird, Gottes Existenz für das moralische Auskommen der Menschen untereinander zu postulieren. Und schließlich fällt die Hoffnung auf endgültige Gerechtigkeit für viele Philosophen unter den Verdacht des Wunschdenkens. Von einer humanen Moral gefordert ist aber, das ist auch ein Hauptthema von Peter Rohs, eine Kritik der normativen Gehalte von Religionen. Religionskritik dieser Art teilt die deutsche Philosophie mit einer gesamteuropäischen Tradition seit dem 17. Jahrhundert. Vernunft, die heute nicht nur Gegenstand philosophischer Theorie, sondern Inhalt weltweiter Rechtskonventionen ist, verlangt von Religionen Respekt vor dem Recht jedes Gläubigen und Ungläubigen auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Ferner den Verzicht darauf, die Regeln politischer Gemeinschaften zu diktieren oder für Verfassungen und Grundrechte exklusive Deutungsansprüche zu erheben. Philosophische Kritik entlarvt seit der Antike natürliche und übernatürliche Vorgegebenheiten als historische Setzungen, oft im Dienste der Mächtigen. Dazu gehört heute auch die Berufung auf natürliche oder gottgewollte Unterschiede der Geschlechter – selbst in Bezug auf die Gottesvorstellung oder den Zugang zum Priesteramt. Die institutionelle Vernunft pluralistischer Staaten stellt aber auch an den Religionsskeptiker Anforderungen: Er muss jedem, der den Konsens über die Verfassungsprinzipien teilt, ebenso viel an möglicher Richtigkeit seiner Normvorschläge zubilligen wie den eigenen. Zumal Religionen, nicht nur christliche, Tugenden lehren, die für die Konflikte moderner Gesellschaften Schlüsselbedeutung haben: Solidarität mit den Schwachen und Brüderlichkeit gegenüber dem Fremden, Verzicht und Umkehr, Verzeihung und Versöhnung. Was die Religion noch von der neutralen Philosophie zu erwarten hat, sind nach meiner Auffassung nicht mehr Gottesbeweise oder eine entmythologisierende Übersetzung christlicher Dogmatik in Vernunftbegriffe wie bei Kant oder Hegel. Ohnehin haben sich die Gottesbegriffe der deutschen Philosophie seit dem 19. Jh. immer mehr von den gelebten Religionen entfernt. Die Philosophie kann keine religiösen Offenbarungen – abgesePeter Rohs: Der Platz zum Glauben, Münster 2014. Ebd., S. 143. 24 Vgl. dazu Ludwig Siep: »Moral und Gottesbild«, in: ders.: Moral und Gottesbild. Aufsätze zur konkreten Ethik 1996–2011, Münster 2013, S. 25–46, hier: S. 38–41. 22 23

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hen von ihren ethischen Gehalten – mehr in rein rationale Begriffe ›übersetzen‹. Auf die Ansprüche einer Konkurrenz- oder Übertheologie sollte sie verzichten. Nicht verzichten kann sie, als Anthropologie so wenig wie als politische oder Sozialphilosophie, auf die Deutung des Phänomens der Religion. Für die Hermeneutik der religiösen Existenz hat etwa der frühe Heidegger Bedeutendes geleistet.25 Was die heutige, von der Ethnologie und Soziologie angeregte Religionsphilosophie besonders interessiert sind die rituellen und kultischen Aspekte. Auch hier muss die Beziehung zu aktuellen Problemen nicht erst konstruiert werden. Religiöser Kult hat es u. a. mit der Ermöglichung und Disziplinierung kollektiver Verschmelzungserlebnisse zu tun. Schon Elias Canetti zählt zu den Mitteln der Zähmung den umgrenzten heiligen Raum, die abgemessene Zeit und die Moderierung des An- und Abschwellens solcher Ekstasen.26 Charismatiker, die derartige Energien zu zerstörerischen Machtzwecken instrumentalisieren, sind Gegenstand bereits innerreligiöser Kritik. Unter Wahrung der Grundrechte können Religionen Ansprüche letzter Wahrheit nach innen immer noch vertreten. Philosophen müssen auch darauf verzichten. Sie müssen heute, anders als in den großen Systemen, eine vernünftige Pluralität philosophischer Theorien anerkennen. Letztbegründung, die jede Alternative als in sich widersprüchlich erweisen kann, gibt es wohl nicht einmal mehr in Bezug auf Moral und Recht. Selbst bei formalen Prinzipien wie Universalisierbarkeit, Vertrag oder Diskurs erscheint zweifelhaft, ob sie wirklich von inhaltlichen Prinzipien und Werten wie Autonomie, Gleichheit oder Solidarität unabhängig sind. Die aber sind historisch entstanden und nicht grundsätzlich alternativlos. Die gemeinsame Basis moderner Rechtsordnungen, Menschenwürde und ihre Artikulation in einem sich erweiternden Katalog von Menschenrechten, stützt sich ebenso sehr auf kollektive Erfahrungen der Unterdrückung und Entwürdigung wie auf philosophische – auch theologische – Begründungen der Rechte autonomer Personen. Derartige Begründungen haben sicher teilweise für Verletzungen erst sensibel gemacht – obwohl noch die klassische deutsche Philosophie erstaunlich viele rechtliche Unterschiede etwa zwischen den Geschlechtern und Kulturen zugelassen hat.27 Heute können gleiche Menschenrechte als irreversibel gelten, weil im vorstellbaren Raum der Gründe nichts erkennbar ist, was ihren freiwilligen Widerruf rechtfertigen könnte. Das bedeutet keinen Historismus oder Konstruktivismus. Historische Phasen der Sklaverei oder der massenhaften Folter und Vernichtung werden nicht wertfrei und »unmittelbar zu Gott« (Ranke) beurteilt. Leiden und Demütigungen sind physisch und psychisch erlitten und nicht durch Erzähler erfunden worden – auch wenn ihre narrativen Verarbeitungen oft erst das Gewissen unbeteiligter Massen verstört haben. Es ist zu verMartin Heidegger: »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« in: ders.: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 60: Phänomenologie des religiösen Lebens, hg. v. Matthias Jung, Thomas Regehly et al., Frankfurt/M. 1995, S. 1–156. Auf diesen Text bin ich durch ein unveröffentlichtes Manuskript von Johannes Weiß (Kassel) aufmerksam geworden. 26 Elias Canetti: Masse und Macht, Düsseldorf 1981, besonders S. 22–24, 175–179. 27 Vgl. dazu Ludwig Siep: »Toleranz und Anerkennung bei Kant und im deutschen Idealismus« in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010, S. 77–91. 25

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muten, dass sie sich in Erfahrungsgeschichten verschiedener Kulturen identifizieren lassen. Das könnte die Basis eines pluralistischen Konsenses sein, für den keine Religion oder Philosophie die Deutungshoheit beanspruchen kann. Der Sinn eines menschlichen Lebens muss nicht auf einen Gesamtzweck und eine verborgene Bedeutung der Welt und der Geschichte zurückgeführt werden. Anmaßend und überfordernd sind auch existenzphilosophische Säkularisierungen der Entscheidung zwischen Heil und Verdammnis in Termini der Eigentlichkeit, Entschlossenheit und des Geschicks – erst recht, wenn sie auf kollektive Aufträge übertragen werden. Für den einzelnen hängen Sinn und Wert seines Lebens nicht von einem einmaligen Selbstentwurf oder einer radikalen Wahl ab. Die meisten Menschen dieser Erde haben mit der Lebensbewältigung unter schwierigen Umständen, sozusagen ›alle Hände voll zu tun‹. Solange sie berechtigten Erwartungen gerecht wird, hat sie einen Sinn in sich, auch wenn sie gängigen sozialen Mustern folgt. Verachtung für Normalität und Konformismus steht dem einzelnen frei – aber nicht einer Philosophie, die unabhängig von religiösen oder auch ästhetischen Prämissen nach Kriterien sinnvollen Lebens sucht. Sinnfragen sind nicht dasselbe wie ethische Fragen des guten Lebens. Aber für beide lassen sich allgemeine Kriterien erhöhter Erfüllungswahrscheinlichkeit angeben, die mit Strukturen der Subjektivität verbunden sind. Dazu gehört das Zugleich von innerer Balance und Selbstdistanz sowie Begegnung mit dem Fremden ohne Selbstverlust – mit Hegel gesprochen: das bei sich selbst Sein im Anderssein. Bleiben für die Philosophie nur die ›deflationistische‹ Kritik an Absolutheitsansprüchen und die Einschränkung von Perspektiven? Kann von umfassenden Horizonten des Verstehens und Handelns in ihr keine Rede mehr sein? Oder muss der theoretische Fluchtpunkt der Komplementarität der Perspektiven durch einen umfassenden Rahmen gemeinsamen Handelns ergänzt werden? (3) In zwei Hinsichten scheint mir die Suche nach einem solchen Rahmen notwendig: Erstens in Bezug auf das praktische Verhältnis heterogener Kulturen (a); zweitens in Bezug auf die Natur, die zunehmend zum Gegenstand radikaler technischer Umgestaltung wird (b). (a) Was den Rahmen für den globalen und innerstaatlichen Pluralismus angeht, so verfügen wir inzwischen über weltweite Konventionen der Menschenrechte und des Völkerrechts. Derartige Konventionen gibt es auch für den Umgang mit der Natur, wie etwa Klima- oder Biodiversitätskonventionen. Aber die Deutungen dieser Übereinstimmungen, ihrer Grundlagen – etwa des Anthropo-, Bio- oder Physiozentrismus – und ihrer Handlungsfolgen, geraten immer wieder in Konflikt. Für mich gehört es zum Erbe der Systemphilosophie, einen Rahmen zu skizzieren, in dem sich diese Konflikte lokalisieren und eingrenzen lassen. Für die sozialen Konflikte ist das in Anlehnung an einen Begriff versucht worden, der maßgeblich von Fichte und Hegel geprägt ist, den der Anerkennung. Er muss für die modernen Probleme der durch Migration und Vertreibung ausgelösten Koexistenz verschiedener Kulturen auf engem Raum neu bestimmt werden. Man kann das in Bezug auf die elementaren Institutionen menschlichen Zusammenlebens versuchen, also Familie, Wirtschaft und Staat, wie in Axel Honneths Transformation des Hegelschen An-

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satzes.28 Nötig erscheint mir auch eine Stufung von Anerkennungsformen, die teils erzwingbar, teils förderns- und ermutigenswert sind – von der Gewaltlosigkeit und NichtDiskriminierung bis zur Solidarität und zur wechselseitigen kulturellen Bereicherung.29 (b) Ein solcher gemeinsamer Rahmen für begrenzte Dissense und Konflikte ist auch für den Umgang mit der Natur nötig. Die Aufwertung der Natur gegen ihre cartesische Mechanisierung, ihre dualistische Abwertung oder ihre baconsche Beherrschung, ist ein zentraler Impuls der deutschen Philosophie seit dem 18. Jahrhundert – natürlich im Kontext der europäischen Philosophie, des Rousseauismus oder der Romantik. Heute stellt sich das Problem in viel radikalerer Weise, sowohl in Bezug auf die globalen Knappheiten wie die umfassenden Eingriffsmöglichkeiten.30 Über die Nachhaltigkeit unserer technischen Lebensweisen hinaus brauchen wir daher gemeinsame Wertvorstellungen der erhaltens- und erstrebenswerten Verfassung der Natur. Dafür bieten die naturwissenschaftlichen Erklärungen nur sekundär Ressourcen, wenn wir zwischen Krankheit und Gesundheit, Gedeihen und Verkümmern, Stabilität und Fragilität von Lebewesen, Biotopen und anorganischen Formationen unterscheiden wollen. Die wachsende Abhängigkeit wissenschaftlicher Erklärungen von dem Interesse an technischer Beherrschung und wirtschaftlicher Nutzung kann aber auch zu einem politisch-ökonomischen Szientismus führen. Das ›Bacon-Projekt‹ wandelt sich dabei zunehmend von der Befreiung von Mühen, Leiden und Katastrophen zur Optimierung unter rein technischen Funktions- und Leistungsmaßstäben. An dieser Stelle ist das Gespräch mit Religion, Kunst und anderen Formen traditioneller Weisheit und kreativer Phantasie fruchtbar. Nicht zu Unrecht ist der Schöpfungsstandpunkt ›nahöstlicher‹ oder die holistische Naturauffassung ›fernöstlicher‹ Religionen in den Debatten über den richtigen Umgang mit der Natur virulent geworden – nicht als kausale, sondern als moralisch-praktische Vorstellung, wie ansatzweise schon bei Kant. Dass die Natur erst durch den Menschen überhaupt Sinn und Zweck erhält, passt aber nicht mehr zu einer evolutionären Sichtweise.31 Diese legt vielmehr erneut die Perspektive eines umfassenden wohlwollenden Beobachters nahe, der eine Welt der Mannigfaltigkeit, Gerechtigkeit und des Gedeihens gutheißt. Sie lässt sich in unterschiedliche Visionen der Kultivierung konkretisieren, jenseits des Verständnisses der Natur als unfertiger Maschine oder bloßem Material. Der Verzicht auf das Ziel der vollständigen Beherrschung könnte, wie im sozialen Bereich, erst wirkliche Freiheit und Bereicherung durch ein selbständiges Gegenüber zulassen. Den technischen Kampf gegen naturverursachte Leiden muss man dafür nicht aufgeben. 28 Vgl. Axel Honneth: Kampf um Anerkennung, Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992; ders.: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. 29 Vgl. Ludwig Siep: »›Eine Kultur der Anerkennung‹. Bestimmung eines zentralen Wertes in pluralistischen Gesellschaften« in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.): Ankommen in einer Gesellschaft der Vielfalt: Eine Querschnittsaufgabe für Bildung, Kultur und Integration, Freiburg, Basel, Wien 2014, S. 38–50. 30 Vgl. zum Folgenden Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt/M. 2004. 31 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urtheilskraft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1913, S. 165–485, §§ 84 u. 87.

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Ob die vorgeschlagene Transformation ein radikaler Neuanfang ist, kann unterschiedlich beurteilt werden. Sie ist es nicht in Bezug auf die Normen und Institutionen, an denen die Menschheit gemeinsam arbeitet. Aber sie ist es in Anbetracht der Begriffe von System und Natur, die in der neuzeitlichen Philosophie vorherrschend waren. An die Stelle des Systems tritt die Kritik von Dominanzen zugunsten eines komplementären Pluralismus im sozialen Rahmen der Anerkennung. Der Naturbegriff einer dynamischen, in Evolution und Kultivierung möglichen Wohlordnung, tritt an die Stelle materialistischer, dualistischer oder geistmonistischer Konzeptionen. Philosophie auf diese Art zu betreiben, ist nicht exklusiv deutsch, aber eine Transformation der Intentionen und des Stils deutscher Philosophie, wie sie angesichts der Entwicklung der Wissenschaften und der historischen Erfahrungen notwendig geworden zu sein scheint.

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II. Abteilung: Vorlesungen 1919–1944, Bd. 60: Phänomenologie des religiösen Lebens, hg. v. Matthias Jung, Thomas Regehly et al., Frankfurt/M. 1995, S. 1–156. – »Überlegungen XII« in: ders. Gesamtausgabe IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Bd. 96: Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. v. Peter Trawny, Frankfurt/M. 2014, S. 1–74. – »Überlegungen XV« in: ders. Gesamtausgabe IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Bd. 96: Überlegungen XII–XV (Schwarze Hefte 1939–1941), hg. v. Peter Trawny, Frankfurt/M. 2014, S. 249–276. Hoffmann, Hasso: »Nietzsche« in: Hans Maier, Heinz Rausch et al. (Hg.): Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, Von Locke bis Max Weber, München 1968, S. 320–343. Holborn, Hajo: »The science of history«, in: Joseph R. Strayer (Hg.): The Interpretation of History, Princeton 1943, S. 59–83. Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992. – Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. Huber, Ernst Rudolf: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, 3. Aufl., Stuttgart u. a. 1978. Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Berlin 2014. Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« (1784), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wissenschaften, Bd. 8, Berlin/Leipzig 1923, S. 33–42. – Kritik der Urtheilskraft (1790), in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Königl. Preuß. Akademie d. Wissenschaften, Bd. 5, Berlin 1913, S. 165–485. Lukacs, Georg: Die Zerstörung der Vernunft (Werke Bd. 9), Darmstadt und Neuwied, 1974. Marx, Werner: Die Bestimmung der Philosophie im Deutschen Idealismus, Stuttgart o.J. (1965). Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2010. Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3,3, Stuttgart/Weimar 2008. Persson Ingmar/Savulescu, Julian: Unfit for the Future: The Need for Moral Enhancement, Oxford 2012. Plessner, Helmuth: Die verspätete Nation, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. 6, hg. v. Günter Dux, Odo Marquard et al., Frankfurt/M. 1982. Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 2003. Rohs, Peter: Der Platz zum Glauben, Münster 2014. Siep, Ludwig: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015. – »›Eine Kultur der Anerkennung‹. Bestimmung eines zentralen Wertes in pluralistischen Gesellschaften«, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.): Ankommen in einer Gesellschaft der Vielfalt: Eine Querschnittsaufgabe für Bildung, Kultur und Integration, Freiburg/Basel/Wien 2014, S. 38–50. – Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt/M. 2004. – »Moral und Gottesbild«, in: ders.: Moral und Gottesbild. Aufsätze zur konkreten Ethik 1996– 2011, Münster 2013, S. 25–46.

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– »Toleranz und Anerkennung bei Kant und im deutschen Idealismus«, in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010, S. 77–91. – »Vernunftrecht und Rechtsgeschichte«, in: ders.: Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels, München 2010, S. 25–43. Theunissen, Michael: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970. Trawny, Peter: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Frankfurt/M. 2014.

KOLLO QUIUM 1 Die Philosophie und ihre Sprachen Kolloquiumsleitung: Günter Abel

Günter Abel Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen Dagfinn Føllesdal Philosophy of Language and Husserl’s Phenomenology

Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen Günter Abel (TU Berlin)

Gliederung: I.

Begriffliche Klärungen

(a) Denkformen (b) Sprachformen (c) Lebensformen II. Empirische Befunde und logische Zusammenhänge (i) (ii) (a) (b) (c) (d) (e)

Empirische Belege Logische Hinsichten Reine Natur der Sache Relativismus Physikalistische Reduktion Mentalismus Denken und Sprechen

III. Gewissheit, Rationalität, Objektivität (a) (b) (c) (d)

Semantische und pragmatische Merkmale Gewissheit Rationalität Objektivität

IV. Wissenschaft, Technik und Lebensform Form und Inhalt, mithin das Wie und das Was philosophischer Gedanken sind an die Artikulation und Darstellung in einer Sprache gebunden. Zugleich hat die Grammatik der verwendeten Sprachen und Zeichen Einfluss auf das Spektrum möglicher Gehalte, Ausrichtungen und Profile philosophischen Denkens. Das Wechselspiel dieser Komponenten, eingebettet in Lebensformen, steht im Zentrum des Kolloquiums »Die Philosophie und ihre Sprachen« des XXIII. Deutschen Kongresses für Philosophie. Im Folgenden möchte ich fünf Fragen und deren Beantwortungen entwickeln: (1) Besteht ein Zusammenhang zwischen Denk-, Sprach- und Lebensformen? (2) Wie ist dieser Zusammenhang logisch möglich? (3) Worin genau besteht er? (4) Welche Konsequenzen

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Kolloquium 1 · Günter Abel

hat er für das Selbstverständnis der Philosophie? (5) Welche Aufgaben philosophischer Forschung ergeben sich daraus?1

I. Begriffliche Klärungen (a) Denkformen – »Denken Sie daran, dass die Geschäfte um 18 Uhr schließen«, – so oder ähnlich begegnet uns umgangssprachlich die Rede von »denken«. Denken bedeutet hier so viel wie: sich vorstellen, überlegen, in Beziehung setzen, erwägen, erinnern. In diesen Bestimmungen stecken bereits auch die beiden Komponenten, die dann im terminologischen Gebrauch des Wortes »denken« wichtig werden: dass es sich um eine selbständige kognitive Tätigkeit der Menschen handelt, und dass es in dieser Tätigkeit zugleich um das Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit, des näheren um die triangulären Beziehungen zur Welt, zu anderen Personen und zu einem selbst geht. Im Denken wird Erfahrungswirklichkeit vorgestellt, organisiert, spezifiziert und im Blick auf Handlungen gewusst, erkannt und gestaltet. Dementsprechend möchte ich im Folgenden unter »Denkformen« diejenigen Formen verstehen, kraft derer genau dieses Vorstellen, Organisieren, Spezifizieren, Wissen, Erkennen und Gestalten erfolgt. Des näheren geht es, in der Linie Kants, um die Weisen, in denen, unter Einsatz der Funktionen des Urteilens, geordnet von Vorstellung zu Vorstellung übergegangen und darin »etwas als bestimmt angesehen wird«2, das dann näher spezifiziert, mithin empirisch bestimmt werden kann. ›Denken‹ in diesem weiten Sinne des Ausdrucks meint also nicht bloß das korrekte prämissenfolgernde Schließen im Sinne der formalen Logik. Und die Rede von ›Form‹ des Denkens darf nicht im Sinne eines Gefäßes verstanden werden, in das unsere Gedanken und Erfahrungen zunächst gegossen werden müssten, um sodann, etwa in einer Sprachform, auch kommuniziert und transportiert zu werden. Korreliert mit dem skizziert weiten Sinn von Denken meint ›Form‹ im Folgenden die Art und Weise der epistemischen Organisation unserer Gedanken, Handlungen und Erfahrungswirklichkeiten, unter signifikantem Einschluß der in diesen Aktivitäten jeweils leitenden Weise des Welt-, Wirklichkeits- und Sinnerschließens selbst. Offenkundig unterscheidet sich solche Rede von ›Denkformen‹ sowohl von den psychologischen Mechanismen, die bei den Vorgängen des Denkens auftreten, als auch von den elementaren Gesetzen der Logik im Sinne derjenigen Regeln, die für das formale und vernünftige Denken unverzichtbar sind (wie zum Beispiel der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch). Und deutlich unterscheidet sich solche Rede auch von dem Programm einer »Denkformen-Forschung«, wie diese Hans Leisegang vorgeschlagen hat, in der Denkformen in einem ontologischen Sinne als Abstraktionen von Gesetzmäßigkeiten des Seienden verstanden werden.3 1

Im vorliegenden Text greife ich teils wörtlich auf Passagen und Materialien zurück, die ich in ersten Ansätzen in Kapitel 4 meines Buches Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004 entwickelt habe. 2 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956 (abgekürzt als: KrV), B 128. Kant spricht von Denk- und Gedankenformen, vgl. KrV, B 148; 150; 288; 305. 3 Vgl. Hans Leisegang: Denkformen, 2. neu bearbeitete Auflage, Berlin 1951. Die bei Leisegang

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Demgegenüber werden ›Denkformen‹ im Folgenden und in Kantischem Verständnis als die Horizonte der Weisen des Ansehens-von-etwas-als-bestimmt verstanden. Die Betonung des Horizontcharakters schließt den weiteren und wichtigen Aspekt ein, dass das Denken endlicher Geister stets nur Denken nach Menschenmaß, nicht Denken nach Gottesmaß, nicht Denken von einem »Gottesgesichtspunkt (God’s-eye-view)« (Putnam) sein kann. Denken ist intern mit epistemischen Perspektivierungen seitens der Menschen verbunden, ist stets Denken in Perspektiven. Ein gänzlich perspektive-freies Denken von einem quasi extraterrestrischen absoluten Standpunkt lässt sich unter kritischem Vorzeichen nicht sinnvoll konzipieren. Ein solches Denken zu fordern, erwiese sich letztlich als ein selbst-destruktiv hoch angesetztes Unternehmen, das, vergeblicherweise, die endliche und perspektivische Natur der Menschen überspringen möchte. Diesem Befund korreliert, dass das menschliche Denken auf eine nicht-eliminierbare Weise an perspektivierende, individuierende, klassifizierende und spezifizierende Sprach-, Zeichen- und Interpretationsprozesse, an denkende und handelnde Subjekte, an Horizonte, an epistemische Perspektiven, an Standpunkte, an eine Praxis des Denkens gebunden und, als Denken, stets in eine Praxis des Handelns eingelassen ist. Als endliche und daher perspektivische Geister ist es uns nicht möglich, einen gänzlich zeichen-, interpretations- und horizont-freien absoluten Standpunt einzunehmen oder einen solchen Standpunkt auch nur gänzlich zeichen- und interpretations-frei zu definieren. Letzteres Ansinnen selbst wäre zudem wiederum stets nur (kleingeschrieben) eine, nicht jedoch (großgeschrieben) Die Eine und metaphysisch einzig seriöse Perspektive. (b) Sprachformen – In der Überschrift meines Beitrags steht die Rede von »Sprachformen« zwischen der von »Denkformen« und »Lebensformen«. Hinsichtlich des Verhältnisses der beiden letzteren sei damit den Sprachformen auch bereits rein äußerlich eine Mittelstellung zugedacht. Mit einer solchen Verortung möchte ich zugleich zwei weitergehende Thesen verbinden (die ich später näher erläutern werde): erstens, dass das Denken sich nicht vermittels, sondern kraft der sprachlichen Zeichen und Interpretationen vollzieht; und zweitens, dass sich die organisierende und orientierende Macht der Lebensformen vornehmlich in der Bestimmtheit der sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen und Interpretationen sowie in der Ausrichtung der menschlichen Handlungen und Bewertungen manifestiert. Wo immer wir es mit individuierten, spezifischen, gestalteten und zu gestaltenden Wirklichkeiten zu tun haben, haben wir es mit Zeichen- und Interpretationswirklichkeiten zu tun.4

genannten Denkformen sind: der »Gedankenkreis«, der »Kreis von Kreisen«, die »Begriffspyramide«, die »euklidisch-mathematische Denkform« und die »Denkform der Antinomien«. Vgl. dazu Hans Poser: »Erkenntnisgegenstand, Argumentationsstruktur und Weltbild. Zu Leisegangs Phänomenologie der Denkformen«, in: K. Gloy (Hg.): Rationalitätstypen, Freiburg 1999, S. 25–44. 4 Die angeführten Annahmen zählen zu den Grundannahmen, die in der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie im Einzelnen entwickelt werden. Vgl. Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M. 1995; ders.: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999; ders.: Zeichen der Wirklichkeit.

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Vor diesem Hintergrund rückt die »Praxis des Gebrauchs« (Wittgenstein) der sprachlichen wie der nicht-sprachlichen Zeichen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Diese Praxis ist eine öffentliche, mithin eine mit anderen Sprechern, Hörern, Interpreten und Akteuren kommunikativ und kooperativ geteilte Praxis. In diesem Rahmen sei die Rede von »Sprachformen« zunächst in ihrem weit gefassten Sinne als die Form der Praxis des Gebrauchs sprachlicher Zeichen und Interpretationen verstanden. In solcher Rede von ›Form‹ geht es nicht um die linguistische Form von sprachlichen Sätzen oder anderer Zeichenkonfigurationen. Es geht vielmehr um die Art und Weise des Gebrauchs der sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen in den Verhältnissen der Kommunikation, der Kooperation und des Weltbezugs endlicher Geister, um die Praxis des Gebrauchs der Zeichen in unseren triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Entsprechend weit sei hier zugleich (und in der Linie Wittgensteins) der Begriff der Grammatik und der grammatischen Form der Sprache gefasst. Dieser weite Sinn adressiert die in Lebenspraktiken und Lebensformen verankerten Weisen und Regeln des Verwendens und Verstehens sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen. Er geht mithin deutlich über die linguistischen Regeln der Wort- und Satzbildung und über die bloße Syntax der Sprache hinaus. Zudem vermag der Rekurs auf eine so verstandene Rede von Grammatik auch zur Erläuterung des Sinns, der Relevanz, der Bedeutung sowie der Referenz sprachlicher Zeichen beizutragen. Zudem führt der skizziert weite Begriff der grammatischen Form auch zu einem sinnkritischen und funktionalen Vorrang der Grammatik vor der formalen Logik im Sinne des prämissenfolgernden Schließens. Sprachformen und Denkformen spielen offenkundig eine kardinale Rolle auch hinsichtlich der Fragen nach den Typen, Praktiken und Dynamiken des Wissens und der Wissenschaften. Propositionales Wissen sowie alle Wissenschaften sind konditional an ihre Artikulation, Mitteilbarkeit und Begründbarkeit in einer Sprache und in Zeichen gebunden. Dies zu betonen heißt freilich auch, die Unterschiede ausbuchstabieren zu müssen, die in puncto Sprache und Zeichen bestehen zwischen (a) den Sprachen der Wissenschaften (die auf buchstäblich denotierende Theorie zielen), (b) den Sprachen der Philosophie (die vor allem reflektierenden Charakters, Sprachen der Reflexion sind), (c) den Sprachen des Alltags (die auf die kommunikative und kooperative Orientierung zwischen Sprechern, Hörern, Akteuren und der Welt ausgerichtet sind) und (d) den Sprachen der Künste (die ihre je eigenen, z. B. musikalischen, bildlichen, skulpturalen Weisen des sinnlichen wie kognitiven Affizierens, der Artikulation und ihre genuin künstlerischen Weisen der Evidenzgenerierung und Evidenz besitzen). (c) Lebensformen – »Was als schicklich gilt oder als anstößig, hängt von der zugrunde liegenden Lebensform ab«, – so oder ähnlich kann einem umgangssprachlich heute die Rede von ›Lebensform‹ begegnen. Der Ausdruck ›Lebensform‹ bedeutet dann so viel wie: Lebensweise, Lebensmuster, auch Weltsicht, kulturelle Praxis und kultureller Kontext. Auch in diesem Falle kommt in der alltäglichen Sprechweise bereits der spätere terminologische Sinn des Begriffs zum Vorschein: ›Lebensform‹ nämlich als das abkürzende Wort für die Formen (mithin: die Arten und Weisen) menschlichen Lebens, menschlicher Praktiken, Sitten, Gebräuche, Handlungsweisen, Gepflogenheiten, Traditionen, sozialer

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Muster, Verhaltensregeln, Zeremonien, Riten, kurz (und ganz im Sinne Wittgensteins gesprochen): ›Lebensform‹ als der Hintergrund und das Netzwerk derjenigen Bedingungen, die den Rahmen dafür bilden, dass wir so leben, erleben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln, wie wir nun einmal tun.5 Dieses Themenfeld spielt bekanntlich eine wichtige Rolle in der Philosophie Wittgensteins. Dreh- und Angelpunkt ist für ihn dabei das Konzept der »Sprachspiele«, in dem das Sprechen einer Sprache und dessen Verankerung in deren Lebensform als ein internes Verhältnis verstanden wird. Die Rede von Sprachspiel soll hervorheben, dass »das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform«.6 Jedes Ausführen von Sprech- und Zeichenhandlungen ist situations-bezogen, regel-geleitet und jeweils in Kontexte auch nicht-sprachlicher Tätigkeiten und Praktiken verwoben. Ohne diese Situiertheit, Verankerung und Kontextualität, mithin ohne die jeweilige Lebensform, wäre es gar nicht möglich, die Ausdrücke einer Sprache in ihren semantischen Merkmalen (das heißt in puncto Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) sowie in ihren pragmatischen Merkmalen (das heißt in puncto Gebundenheit an Situation, Zeit, Individuen, Einstellungen und Handlungen) verstehen und sie situationsgemäß und regelgerecht verwenden zu können. Geht es zum Beispiel darum, die Wörter und Sätze einer uns völlig fremden Sprache in die eigene Sprache zu übersetzen – das ist Quines berühmtes Problem der »radikalen Übersetzung (radical translation)« – so ist es, mit Wittgenstein gesprochen, auch in diesem Falle die »gemeinsame menschliche Handlungsweise«, die das »Bezugssystem« für die jeweilige Deutung der Ausrücke der fremden Sprache bereitstellt. So können wir in einer solchen Situation beispielsweise nicht auf einen lebensform-unabhängigen oder lebensform-invarianten Apriorismus eines jeden Sprechens und auch nicht auf Kalküle oder Algorithmen des Verwendens und Verstehens sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen zurückgreifen.7 Offenkundig hat erfolgreiches Sprechen eine seiner Voraussetzungen in der Verankerung der Wörter und Sätze sowie ganzer Diskurse in den Kontexten und Horizonten einer Lebensform. Solche Überlegungen bringen die Lebensform in eine starke, ja konstitu5

Die Rede von ›Lebensform‹ ist von der der ›Lebenswelt‹ zu unterscheiden. ›Lebensform‹ meint nicht nur die vor allem von Edmund Husserl eingeführte Bedeutung von ›Lebenswelt‹ im Sinne des Bereichs der ›vor-wissenschaftlichen‹ Erfahrung (in ihrem wichtigen Unterschied zur ›wissenschaftlichen‹ Theoriebildung im engeren Sinne). Zudem geht es mir im vorliegenden Text auch nicht um ›Lebensformen‹ im Sinne von Eduard Spranger: Lebensformen. Ein Entwurf, 6. Aufl., Tübingen 1966. In idealtypischer Sicht unterscheidet Spranger individuelle und psychologische Charaktere (nämlich: den theoretischen, den ökonomischen, den ästhetischen, den sozialen, den religiösen und den macht-orientierten Menschen). Und auch geht es mir hier nicht um ›Lebensformen‹ im Sinne der pädagogischen Bestimmung des Menschen etwa nach Herman Nohl. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen von ›Lebensform‹ vgl. Gerhard Mittelstädt, Art. »Lebensformen«, in: J. Ritter/K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Darmstadt 1980. Betont sei, dass der Ausdruck ›Lebensform‹ eine wichtige Tradition in der deutschen Philosophie, etwa bei Hamann, Herder, Hegel und W. v. Humboldt hat. 6 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I, Frankfurt/M. 1971, Nr. 23. 7 Vgl. dazu Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 5 (»Übersetzung als Interpretation«), und Günter Abel: »Indeterminacy and Interpretation«, in: D. Føllesdal (Hg.): Philosophy of Quine, Bd. 3: Indeterminacy of Translation, New York, London 2000, S. 367–383.

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tive Stellung hinsichtlich des flüssigen und anschlussfähigen Funktionierens sprachlicher Verständigung ebenso wie nicht-sprachlicher Handlungen. Zugleich sei hier der überaus wichtige Aspekt hervorgehoben, dass die relevante Rolle der Lebensform für das Wie und das Was unserer symbolischen Repräsentationen sowie für unser Wissen ihrerseits in den Repräsentationen nicht repräsentiert und im Wissen nicht explizit gewusst wird. Die Lebensform ist nicht Gegenstand der semantischen Logik. Diesen wichtigen Befund möchte ich den elusiven, den sich eigentümlich entziehenden Charakter der so überaus starken Relevanz der Lebensform in allen unseren menschlichen Verständigungs-, Ausdrucks-, Handlungs- und Kooperationsverhältnissen nennen. Der elusive und eben darin subtil wirksame Charakter der Lebensformen zeigt sich auch, sobald der Zusammenhang von Lebensform und Weltbild näher betrachtet wird.8 Jede Lebensform hat ihr Weltbild und für mein Weltbild ist, Wittgenstein zufolge, charakteristisch, dass ich für es eine metaphysische letzt-gewisse Evidenz weder besitze noch auch, glücklicherweise, benötige. Auch kann ich mein Weltbild als Ganzes nicht als wahr oder falsch beurteilen. Denn es ist ja das Weltbild und die mit diesem korrelierte Lebensform, die diejenige Hintergrundfolie bildet, auf die bezogen und von der her wir letztlich überhaupt erst die Unterscheidung zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ vornehmen. Was die Frage angeht, ob wir gänzlich alternative und fremde Lebensformen überhaupt detektieren, adressieren und verstehen sowie uns in diese finden und uns auf sie verstehen könnten, so sei an Wittgensteins schönes Bild erinnert: »Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen«.9 Wir wissen nicht – um eine berühmte Formulierung von Thomas Nagel von der Fledermaus auf den Löwen zu übertragen – »what it is like to be a lion«. Warum nicht? Weil uns seine Lebensform fremd ist, jene Lebensform, welche die semantischen und pragmatischen Merkmale seiner Zeichen und Handlungen mitregiert. Freilich wäre es nicht gerade ein Zeichen von Klugheit, dann, wenn ich auf freiem Feld auf ein Rudel ausgehungerter Löwen treffe und einer von ihnen in korrektem Deutsch äußerte »Wir sind ausgehungert und es kommt uns sehr gelegen, dass Sie hier vorbeikommen«, die drohende Gefahr mit dem Hinweis darauf zu ignorieren, dass ich mich ja nicht in den Löwen finden könne.

II. Empirische Befunde und logische Zusammenhänge (i) Empirische Belege – In empirischer Hinsicht lässt sich der innere Zusammenhang von Denk-, Sprach- und Lebensformen vielfältig belegen. So machen wir beispielsweise etwas auf eine bestimmte Weise – etwa eine andere Person mit einer Handbewegung oder einem freundlichen Wort zu grüßen –, weil wir denken, dass, im Beispiel, Grüßen eben so-undso praktiziert und verstanden wird. Und wir denken, dass es üblicherweise so-und-so zu machen ist, weil es so-und-so praktiziert wird bzw. in einer so-und-so funktionierenden 8

Zum Folgenden vgl. ausführlicher Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Kap. 3 (»Die Macht der Weltbilder und Bildwelten«). 9 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen II, S. 358.

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kulturellen Praxis verankert und selbstverständlich ist. Diese Verhältnisse können wir als drehtürartige Verhältnisse beschreiben. So gesehen liefert jede erfolgreiche Äußerung, jedes Verhalten und jede Handlung einen empirischen Beleg für das unauflösbare Geflecht und Netzwerk von Denk-, Sprach-, Zeichen- und Lebensformen. (ii) Logische Hinsichten – Die Frage, wie der Zusammenhang von Denk-, Sprach- und Lebensformen logisch möglich ist, möchte ich in zwei Teilfragen zerlegen. (1) Welche Konzeptionen hinsichtlich des Verständnisses und Verhältnisses von Denken und Sprechen stehen unter kritischem Vorzeichen nicht mehr zu Gebote? (2) Welche Komponenten und Dimensionen des Sprechens und Denkens gehen auf Leistungen seitens der Lebensformen zurück und können auch nur von diesen her und auf sie hin verständlich gemacht werden? Die erste Frage läuft auf eine Kennzeichnung derjenigen Denkfiguren hinaus, die den Aufstieg der ›Lebensform‹ zu einem grundlegenden Begriff der Philosophie bislang blockierten. In diesem Zusammenhang möchte ich die folgenden fünf Denkfiguren kurz in ihren Blockadefunktionen skizzieren (nämlich: den Rekurs auf die reine Natur der Sache; den Relativismus; die physikalistische Reduktion; den Mentalismus; und das bloß instrumentelle Verständnis des Verhältnisses von Denken und Sprache). (a) Reine Natur der Sache – Solange das Denken in einem essentialistischen Sinne verstanden und seine Aufgabe einzig darin gesehen wurde, den Bezug zum ›wahren Sein‹ und zur ›reinen Natur der Sache‹ (in gnoseologischer, ontologischer und axiologischer Hinsicht) herzustellen, mussten die Verstrickungen und wechselseitigen Abhängigkeiten von Denkformen und Lebensformen verborgen bleiben. Jedoch geriet diese mit Parmenides einsetzende Position vor allem in der Moderne zunehmend in Schwierigkeiten und musste schließlich aufgegeben werden. Der bereits betonte Charakter der epistemischen Perspektivierung, der Organisation und nicht zuletzt der Temporalität unserer menschlichen Erfahrungswirklichkeiten waren, zugespitzt formuliert, in der älteren essentialistischen und ontologischen Metaphysik gleichsam übersprungen und vergessen worden. Das Scheitern der Parmenideischen Konzeption des Denkens kann man auch als das Scheitern eines starken essentialistischen Reduktionismus des Denkens verstehen. Im Würgegriff der Parmenideischen Sichtweise blieb der Blick auf die grundlegende Rolle der Sprach-, Zeichen-, Denk-, Handlungs- und Lebensformen für unsere spezifizierten Erfahrungswirklichkeiten eigentümlich verstellt und blockiert. (b) Relativismus – Ebenso wie der absolute Essentialismus blockiert auch dessen dichotomischer Gegenpart, der Relativismus der Beliebigkeit, den Blick auf die grundlegende Rolle der Lebensformen. Im tatsächlichen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln ist relativistische Beliebigkeit offenkundig nicht gegeben. Keineswegs ist in diesen Prozessen und Zuständen ein jeder Aspekt so gut wie jeder andere. Wenn das sich in Zeichen vollziehende Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln aber stets nur eingebettet in eine Lebensform möglich ist, so heißt dies auch, dass das erlebende, sprechende, denkende und handelnde Ich (ebenso wie das soziale und kollektive Wir) stets bereits in diese Prozesse eingebunden und verstrickt ist. Somit jedoch ist für das

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Ich und Wir eine Beliebigkeit der Vorstellungen sowie der semantischen und pragmatischen Merkmale der verwendeten und verstandenen Wörter, Zeichen und Handlungen offenkundig gerade nicht gegeben, ja ausgeschlossen. Der Relativismus in Bezug auf die Spezifität unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns ist sinnkritisch sowie unter Einbeziehung der jeweiligen Situations-, Kontext-, Sprach-, Zeichenund Praxis-Abhängigkeiten nicht explizierbar. Hätte der Relativismus Recht, dann würde es letztlich erst gar nicht zu einem flüssigen und anschlussfähigen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln kommen können.10 Umgekehrt bedeutet dies jedoch weder einen Determinismus noch eine Garantie für gelingende Verständigungs-, Handlungs- und Kooperationsverhältnisse. Man muss hier also strikt den Unterschied beachten zwischen Relativität und Relativismus. Die grundbegriffliche Relativität (im Sinne der Abhängigkeit von dem jeweils zugrunde liegenden Zeichen- und Interpretationssystem) ist für menschliches Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln unverzichtbar und nicht-eliminierbar. Auf eine gänzlich nicht-relative und überhaupt nicht durch epistemische Perspektivierungen spezifizierte Welt würden wir uns als endliche Geister nicht verstehen. Eine solche Welt wäre nicht unsere Welt. Epistemische Relativität bewerkstelligt die Spezifität unserer Erfahrungswirklichkeiten und auch zum Beispiel das flüssige und anschlussfähige Funktionieren unserer Sprache in den Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen. Dagegen ist der Relativismus der Beliebigkeit nicht in der Lage, eine zufriedenstellende Beschreibung derjenigen Prozesse und Zustände zu liefern, die das spezifische Gelingen unseres tatsächlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns ausmachen. Die mit der jeweiligen Bestimmtheit einer Lebenspraxis selbst stets gegebene Relativität können wir als eine nicht-eliminierbare und praxeologische Relativität unter starken KohärenzRestriktionen beschreiben. Relativität darf mithin keineswegs mit einem Relativismus der Beliebigkeit verwechselt oder mit diesem gar gleichgesetzt werden. Erstere ist unverzichtbar. Letztere nicht wirklich explizierbar. Sofern Verständigung, Kooperation und Weltbezug überhaupt gegeben sind und aufrechterhalten werden sollen, ist es vornehmlich unser Wille zur Verständigung, Kooperation, Weltbeziehung sowie zur Orientierung (in der Welt, anderen Personen und einem selbst gegenüber), der den Relativismus immer schon unterlaufen hat. Auch dieser Befund öffnet den Blick auf die verständigungs-, kooperations-, weltbezogen- und orientierungs-konditionale Funktion der menschlichen Lebensform und Lebenspraxis. (c) Physikalistische Reduktion – Die skizzierte Rede von Lebensformen, Sprachformen und Denkformen beinhaltet zugleich auch deren Situiertheit und Eingebettetheit in die geschichtlichen, kulturellen, sozialen, interaktiven Formen menschlicher Praxis. Diese Dimensionen haben offenkundig einen anderen ontologischen Status als physikalische Zustände und Prozesse. Lebensformen, Sprachformen und Denkformen können daher nicht einfach mit der physikalischen oder der biologischen Natur des Menschen gleichge10

Ausführlicher zu diesem Punkt siehe Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation; Abel: Interpretationswelten; und Abel: Zeichen der Wirklichkeit; jeweils über die Register zu ›Relativismus‹.

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setzt und auch nicht aus dieser abgeleitet werden. Erst wenn diese so überaus wichtige Differenz und Asymmetrie deutlich hervortritt und der Versuch einer naturalistischen oder physikalistischen Reduktion preisgegeben wird, kann die genuine Rolle der Lebensformen, Sprachformen und Denkformen angemessen in den Fokus der Aufmerksamkeit treten. So lässt sich zum Beispiel eine physikalistische Kausaltheorie der semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) der Lebens-, Sprach- und Denkformen nicht wirklich explizieren. Selbst die bestmögliche Kausaltheorie – die wir nicht haben! – über zum Beispiel die Verbindung zwischen dem Kugelschreiber vor mir auf dem Tisch und der Äußerung des Wortes »Kugelschreiber« enthielte noch keine Auskunft über den philosophisch hier entscheidenden Punkt: dass die semantischen Aspekte (Bedeutung, Referenz, Sinn und Relevanz) des Wortes »Kugelschreiber« so sind, wie sie sind, das Wort »Kugelschreiber« mithin von Kugelschreibern handelt und sich auf Kugelschreiber bezieht. Zunächst (a) ist dies deshalb nicht der Fall, weil die Frage nach der Bedeutungs-, Referenz- und Relevanzfunktion eines Wortes, eines Satzes oder einer Handlung letztlich gar keine Frage kausaler Antezedenzien oder kausaler Rollen ist.11 Entsprechendes kann auch hinsichtlich der Versuche gezeigt werden, mentale, kognitive, soziale, kulturelle, personale und interaktive Prozesse und Phänomene (in denen sich Lebensformen, Sprachformen und Denkformen manifestieren) einer naturalistischen, im Grenzfall einer physikalistischen Reduktion zuzuführen. Zu diesem Zweck müsste nämlich der Nachweis erbracht werden, dass es die physikalischen oder (im biologistisch-neurowissenschaftlichen Modell die) neurophysiologischen Prozesse selbst sind, die die physikalischen oder neurophysiologischen Zustände und Prozesse des Gehirns in semantische und pragmatische Zustände, Prozesse und Handlungen überführen und so den Lebensformen, Sprachformen und Denkformen überhaupt erst ihre Semantik und Pragmatik sowie ihren Sinn und ihre Relevanz verleihen. Einen solchen Nachweis hat – aus sinnkritischen Gründen wenig überraschend – bislang niemand liefern können. Vielmehr lässt das Scheitern genau derartiger Versuche die Lebensformen, Sprachformen und Denkformen in ihrer sinn- und relevanz-kritischen fundierenden Rolle nur umso deutlicher hervortreten. Sodann (b) ist der skizzierte Befund aus einem noch anderen Grund schwerlich abzuweisen. Sinn und Relevanz ebenso wie Bedeutung und Referenz der Sprach- und Denkformen sind auf eine nicht-eliminierbare Weise physikalistisch unterbestimmt. Oder umgekehrt formuliert: die semantischen Merkmale sowie Sinn und Relevanz der Zeichen, Gedanken und Handlungen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie einen semantischen Überschuss gegenüber ihren physikalischen und neuronalen Korrelaten besitzen. Offenkundig mache ich mir mit dieser Behauptung Quines berühmte These von der »Unterbestimmtheit« zunutze. Dieser These zufolge haben wir es stets mit einem systematischen Gefälle zwischen einem »meager input« (an physikalischen/neurobiologischen Daten)

11

Zu diesem grundlegenden Punkt vgl. ausführlich Abel: Interpretationswelten, Kap. 11 und 12; und Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Kapitel 2, 5 und 7.

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und einem »torrential output«12 (hinsichtlich der oftmals enormen Reichweiten von wissenschaftlichen Theorien) zu tun, – wie zum Beispiel in der Astronomie mit einer Theorie über den Ursprung und die Geschichte des ganzen Universums. Quine hatte dieses grundlegende Merkmal primär im Blick auf wissenschaftliche Theorien im Fokus. Sein Befund lässt sich zugleich aber anwenden auch im Blick auf Bedeutung, Referenz, Erfüllungsbedingungen, Sinn und Relevanz der Sprach-, Denk- und Lebensformen und auf deren Orientierungskraft in unseren menschlichen Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Erst wenn die nicht-eliminierbare und grundlegende Unterbestimmtheit zutage tritt, kann die fundierende, weil organisierende und orientierende Kraft der Lebens-, Sprach- und Denkformen in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht werden. (d) Mentalismus – Freilich ist es unter kritischem Vorzeichen um den Gegenpart zum physikalistischen Reduktionismus, den methodischen und ebenfalls reduktionistischen Mentalismus, keineswegs besser bestellt. So behauptet der (auf die Kraft der Introspektion setzende) Mentalismus der Lebens-, Sprach- und Denkformen, dass die semantischen und pragmatischen Merkmale sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen durch innere mentale Zustände auf Seiten der Sprach- und Zeichenbenutzer festgelegt werden. Eine solche Position wäre aber nur dann akzeptabel, wenn uns die Introspektion tatsächlich ein sicheres Wissen in puncto Semantik, Referenz und Pragmatik der Zeichen und Handlungen lieferte. Dies ist jedoch nicht der Fall. Schon Ludwig Wittgenstein und später vor allem Hilary Putnam und Tyler Burge haben mit Recht betont, dass die Bedeutung und Referenz der Wörter nicht als Konsequenzen innerer psychischer Zustände und auch nicht so konzipiert werden können, als verwendeten wir die sprachlichen und gedanklichen Ausdrücke nach vorab feststehenden Regeln, die in unserem mentalen Innenleben vorfabriziert gegeben sind. Bedeutung und Referenz der Wörter und Zeichen werden vielmehr gerade nicht durch einen psychischen Zustand in unserem Inneren festgelegt. Ich kann mein Inneres in Bezug auf Bedeutung und Referenz eines Zeichens, zumal eines fraglich gewordenen Zeichens noch so intensiv ausquetschen. Es liefert mir keine semantischen und pragmatischen Festsetzungen der Wörter und Zeichen, die zugleich im öffentlichen Raum kommunikativ und kooperativ funktionierten. Das Scheitern des internalistischen, psychologistischen und konzeptualistischen Modells eines Mentalismus der Bedeutung und Referenz lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf den öffentlichen und externalistischen Charakter der Sprach-, Denk- und Lebensformen, des näheren auf die mit anderen Personen geteilte und darin zugleich auf die Welt bezogene Praxis des Gebrauchs solcher Formen und Zeichen. Und im Sinne drehtürartig ineinander greifender Abhängigkeiten kann die Strukturiertheit dieser öffentlichen Praxis ihrerseits als Manifestation einer Lebensform, als eine Zeichen- und Interpretations-Praxis verstanden werden. Diese öffentliche Praxis kann als der Schauplatz angesehen werden, von dem her und auf den hin die Umgrenzung und Festlegung der Bedeutung und Referenz der sprachlichen ebenso wie der nicht-sprachlichen Zeichen und Handlungen erfolgt.

12

Willard Van Orman Quine: Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969, S. 83.

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Wenn Denken ein Vorgang in der Sprache ist, wie aber kann man dann Einsicht in und Übersicht über das Funktionieren der Sprache im Denken gewinnen? Das ist eine aufschlussreiche Frage. Zunächst ist zu betonen, dass wir diese Frage offenkundig nicht einfach durch Rückgriff auf unsere inneren Vorstellungsbilder, Empfindungen oder Gefühle beantworten können. Denken im engeren Sinne bewegt sich nicht in Vorstellungsbildern, sondern in Begriffen und Urteilen. Unter einem Begriff können wir dabei zunächst die voll-umfängliche Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks verstehen. So verfügt man zum Beispiel über den Begriff »Zitrone«, wenn man das Wort »Zitrone« (wie Hilary Putnam mit Recht betont hat) situationsgemäß und regelgerecht sowie dem Stereotyp entsprechend verwenden, auf Zitronen, die in der äußeren Wahrnehmung gegeben sind, zeigen und mit Zitronen praktisch umgehen kann. Alle vier Aspekte (Situationsgemäßheit; Regelgerechtheit; Stereotyp; praktischer Umgang) hängen im Kern von einer öffentlichen, mithin von einer mit anderen Personen geteilten Art und Weise der Lebenspraxis, von einer Lebensform ab. Denken ist, so könnte man (mit Putnam) zugespitzt formulieren, keine innere Schau, kein inneres Kino. Denken ist stets an eine öffentliche Zeichen- und Interpretations-Praxis gebunden und in diesem Sinne in eine Lebensform verstrickt, – wie subtil diese Verstrickung auch immer sein mag. Wollte man diese Verstrickung lösen oder überspringen, hätte man das Denken selbst zerstört. Einer Person einen Begriff oder einen Gedanken zuschreiben ist, wie Hilary Putnam betont hat, etwas ganz anderes als ihr eine »mental ›presentation‹« oder eine »introspectible entity« zuschreiben. Denn Begriffe sind gar keine mentalen und auf dem Wege der Introspektion im inneren Theater zu besichtigenden Darbietungen. Sie können vielmehr als »signs used in a certain way« angesehen werden.13 Man nimmt sie nicht im Zuge einer Introspektion wahr, gleichsam »flowing through our minds as such«, so dass besonders grundlegende Begriffe dann diejenigen wären, die auf ununterbrochene Weise und gleichbleibend intensiv durch unseren Geist, durch unser Gehirn flössen. Diesen Punkt zu betonen ist wichtig auch in Bezug auf Teile der computationalen Psychologie und Kognitionswissenschaft. In diesen Disziplinen wird in der Regel davon ausgegangen, dass Begriffe und Gedanken im Kopf existieren und dass das Denken in der Manipulation von Symbolen in unseren Köpfen bestehe, mithin nicht in einem externalistischen Sinne an eine öffentliche Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis gebunden sei. Für gewöhnlich wird den Symbolen dann sogar eine fest umgrenzte, exakte Bedeutung zugeschrieben, die sich auch im Zuge der Manipulation durch das Denken im Sinne von Symbolverarbeitungsprozessen nicht verändere. Diese Aspekte spielen bekanntlich eine wichtige Rolle auch im Rahmen der Annahme einer inneren »Sprache des Denkens (language of thought)«, des Mentalesischen, in welcher Sprache sich dieser Auffassung zufolge das Denken und die mentalen Repräsentationen vollziehen.14 Das Mentalesische hat in den Kognitionswissenschaften eine bemerkenswerte Karriere hingelegt, verstanden als diejenige innere mentale Sprache und als dasjenige satzartige innere Medium der 13

Hilary Putnam: Reason, Truth and History, Cambridge 1981, S. 17 f.; Hervorhebung G.A. Vgl. Jerry A. Fodor: The Language of Thought, New York 1975; und ders.: Representations, Cambridge Mass. 1981. 14

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Repräsentation, in dem sich die menschlichen kognitiven und intellektuellen Tätigkeiten artikulierten. Bei kritischer Prüfung jedoch zeigt sich, dass die computationale Psychologie und die Kognitionswissenschaft aufgrund ihrer Engführung der Betrachtung auf symbolverarbeitende Systeme nicht in der Lage sind, den systematischen Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen in den Blick zu bringen. Von besonderem Interesse scheint mir hier der Punkt zu sein, dass die computationale Psychologie ihrerseits offenkundig, jedoch unbemerkt, stets bereits eine Zeichen- und Interpretationstheorie voraussetzt und in Anspruch nimmt, mithin auch explizit um eine solche ergänzt werden müsste. Das ist ein Desiderat, das ich hier nicht weiter verfolgen möchte.15 In unserem Zusammenhang ist vornehmlich der folgende Befund wichtig: Wenn der Rekurs auf die inneren psychischen Zustände seine Erklärungskraft hinsichtlich der semantischen und pragmatischen Merkmale erfolgreich verwendeter Wörter und Zeichen verliert, dann ist der Weg frei, die Aufmerksamkeit auf die öffentliche Praxis des Gebrauchs der Zeichen zu lenken. Jetzt also kann der Blick auf die konstitutive Rolle der Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis für das flüssige, anschlussfähige, organisierende und orientierende Funktionieren der Lebens-, Sprach- und Denkformen gelenkt werden. (e) Denken und Sprechen – In dem Maße, in dem der innere Zusammenhang von Denken und Sprechen deutlich wird, tritt zugleich auch die wichtige Rolle der Lebensformen für beider Bestimmtheit und Verbindung zutage. Denn es sind vornehmlich die Lebensformen, von denen her und auf die hin die semantischen, pragmatischen und orientierenden Merkmale der sprachlichen wie der nicht-sprachlichen Zeichen und Handlungen umgrenzt und festgelegt werden. Selbstredend geht es hier nicht um eine externe Abhängigkeit des Denkens von Sprache, Zeichen und Interpretation, etwa im Sinne des Bildes, dass das Denken vermittelnde Zeichen benötige, um sich und seine Gehalte darstellen und diese anderen Personen kommunizieren zu können.16 Man muss (mit Peirce, Nietzsche und Wittgenstein) einen entscheidenden Schritt weitergehen: »We have no power of thinking without signs«.17 Es geht mithin um den grundlegenden Aspekt, dass Denkprozesse intern und nicht-elimi15

In diese Richtung siehe Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Kap. 9. Auf eine andere Weise extern wird das Verhältnis von Gedanke und Sprache bei Frege, Russell und anderen konzipiert, die (in strikter Wende gegen eine psychologistische bzw. rein mentalistische Auffassung) unsere Gedanken gerade nicht als mentale Prozesse und Zustände, sondern, etwa bei Frege, als abstrakte Entitäten auffassen, die ein platonisches »drittes Reich« bevölkern. Vgl. Gottlob Frege: Der Gedanke, in: ders.: Logische Untersuchungen, 4. Aufl., Göttingen 1993, S. 30–53. Die Frege-Semantik/ Logik, die die Bedeutung eines Satzes als dessen Proposition fasst, schneidet sich damit systematisch von der Möglichkeit ab, den Lebensformen in ihrer kognitiv relevanten Funktion für die Denkformen Rechnung tragen zu können. Eine strikte Sprachtranszendenz des Denkens ist ebensowenig verteidigbar wie eine rein instrumentalistische Verbindung von Denken und Sprache. 17 Charles S. Peirce: Collected Papers, (= CP), hg. v. Ch. Hartshorne/P. Weiss, Cambridge Mass., 2. Aufl. 1960, Bd. V, Nr. 5.265; vgl. CP 5.251 ff. Vgl. Friedrich Nietzsche: Kritische Gesamtausgabe der Werke, Berlin, New York 1974, Abteilung VIII/1, Fragment 5 [22]. 16

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nierbar als Sprach-, Zeichen- und Interpretationsprozesse angesehen werden können. Sprache und Zeichen sind nicht bloß Vehikel oder Werkzeuge des Denkens. Wir denken nicht vermittels, sondern kraft der Zeichen. Und in der Umgrenzung der semantischen und pragmatischen Merkmale erfolgreich verwendeter und verstandener Zeichen spielt die Lebensform, spielt die Lebenspraxis (die als Zeichen- und Interpretations-Praxis charakterisiert werden kann) eine entscheidende Rolle. In welch umfänglichem und tiefsitzendem Sinne dies zu verstehen ist, möchte ich auch mit Hilfe des schönen Bildes von Peirce zum Ausdruck bringen, dass »just as we say that a body is in motion, and not that motion is in a body we ought to say that we are in thought and not that thoughts are in us«.18 Wir sind, so wäre in Analogie zu sagen, in Zeichen- und Interpretationsprozessen, nicht aber sollten wir sagen, dass diese in uns sind. Frage: Wo aber manifestiert sich dann das Denken, wenn das nicht einfach nur in unseren Köpfen und nicht einfach nur in unserem Inneren der Fall ist? Antwort: es manifestiert sich vornehmlich in den öffentlichen Sprach-, Zeichen- und Interpretationsprozessen unserer Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Und in genau diesen Beziehungen kommt dem flüssigen und anschlussfähigen Fortsetzen der Handlungs-, Kommunikations- und Kooperationsverhältnisse eine entscheidende Wichtigkeit zu. Flüssig und anschlussfähig jedoch vermögen diese Beziehungen jeweils nur dann zu sein, wenn die jeweils zugrunde liegende Lebensform getroffen und in ihrer strukturierten und strukturierenden ebenso wie in ihrer orientierten und orientierenden Leistungskraft erfolgreich aktiviert wird. Dies zu sagen, heißt offenkundig keineswegs, dass Sprechen und Denken, dass Sprache und Vernunft, gleichgesetzt werden könnten, eins seien. Könnten wir beide gleichsetzen, dann dürften wir nicht auf so viel »gedankenloses Sprechen«19 stoßen. Auch heißt die skizzierten Aspekte zu betonen nicht, dass jeder Gedanke auch nach außen kommuniziert werden muss. Aber es heißt, dass ein Gedanke nur dann als ein sinnvoller Gedanke zählt, wenn er artikulierbar, ausdrückbar und kommunizierbar ist. Wenn jemand sagt, er habe einen Gedanken, doch lasse sich dieser nicht ausdrücken, dann ist eher Vorsicht denn Bewunderung geboten.

III. Gewissheit, Rationalität, Objektivität Kommen wir nun zu der Frage, welche Komponenten des Sprechens und Denkens auf genuine Leistungen seitens der Lebensformen zurückgehen und von diesen her sowie auf sie hin rekonstruiert werden können. Im Folgenden möchte ich vier solcher Hinsichten ansprechen. (a) Semantische und pragmatische Merkmale – Zeichen, Wörter, Gedanken und Handlungen besitzen semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen). Und sie besitzen pragmatische Merkmale (wie die Bezogenheit auf 18 19

Peirce: CP 5.289, Anm. 1. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I, Nr. 330.

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Situation, Kontext, Zeit, Individuen). Eine nicht uninteressante Frage ist, wie diese Merkmale in die Zeichen, Gedanken und Handlungen gekommen sind bzw. kommen. Besonders brisant wird diese Frage von dem Moment an, an dem die beiden üblichen und extremen Antworten nicht mehr zu Gebote stehen, nämlich: (i) die angeführten Merkmale seien den Wörtern, Zeichen, Gedanken und Handlungen vorab (etwa durch einen Ratschluss Gottes oder durch die Evolution) eingebaut und ein für alle mal festgelegt; und (ii) die Merkmale seien gänzlich von den subjektiven Meinungen der einzelnen Sprecher, Denker und Akteure sowie deren Interpreten abhängig. Ersteres wäre Magie der Zeichen. Letzteres wäre Relativismus der Beliebigkeit. Beide Positionen jedoch und mit ihnen die ganze Dichotomie von Essentialismus und Relativismus erleiden Schiffbruch. Woher aber haben die Wörter, Zeichen, Gedanken und Handlungen dann ihre semantischen und pragmatischen sowie ihre sinn- und relevanz-markierenden Merkmale? Eine Antwort auf diese Frage lautet: Wörter, Zeichen, Gedanken und Handlungen besitzen ihre Merkmale vor allem aufgrund ihrer Verankerung in einer Lebensform, von der her und auf die hin es zu einer erfolgreichen Umgrenzung und Festlegung der semantischen und pragmatischen Merkmale kommt. In diesem Bild sei mit der Rede von ›Lebensform‹ der Hintergrund und das Netzwerk derjenigen Bedingungen adressiert, aus denen heraus und auf die hin Menschen so leben, erleben, sprechen, denken und handeln wie sie eben leben, erleben, sprechen, denken und handeln. Dieses Netzwerk und diesen Hintergrund können wir im Ganzen weder überschauen noch in der Vorstellung oder Reflexion transparent vor uns hinlegen. Auch können wir den Hintergrund weder operational herstellen noch ihn in seiner Geltung suspendieren oder vergegenständlichen. Die Lebensform ist, wie betont, kein Objekt der semantischen Logik. Sie ist letztlich vielmehr auch in deren organisierender und orientierender Kraft stets bereits vorausgesetzt und als Quelle der Organisation und Orientierung in Anspruch genommen. Wenn sich, wie betont, unser Leben, Erleben, Sprechen, Denken und Handeln strenggenommen nicht vermittels, sondern kraft Zeichen vollzieht, dann ist die folgende Überlegung von grundsätzlicher Wichtigkeit: da wir weder von einer Magie noch von der Beliebigkeit der Zeichen- und Interpretationsfunktionen ausgehen können, kann man sagen, dass jedes gelingende Zeichenhandeln (der Verständigung, der Kooperation, der Fremd-, Selbst- und Weltbeziehung) intern stets bereits eine Praxis der Interpretation der involvierten Zeichen voraussetzt und in Anspruch genommen hat. Bedeutung, Referenz, Sinn und Relevanz der Zeichen hängen, so möchte ich dann sagen, von der zugrunde liegenden Interpretations-Praxis ab. In dieser Praxis kann man den eigentlichen Schauplatz der Bedeutungs-, Referenz-, Sinn- und Relevanz-Festlegungen (und zwar: jenseits der überlieferten Dichotomie von Essentialismus und Relativismus) sehen. Die These kann daher lauten: Die semantischen und pragmatischen Merkmale ebenso wie Sinn und Relevanz eines Ausdrucks, Zeichens, Gedankens und Handelns sind stets bereits durch deren angemessene Interpretation bestimmt. In solcher Rede besteht die Funktion der Interpretation offenkundig nicht bloß aus der nachträglichen und hermeneutischen Deutung gegebener Zeichen, Gedanken und Handlungen. Entscheidend ist vielmehr, dass die Zeichen in ihren semantischen, pragmatischen, referentiellen, ausdrückenden und repräsentierenden

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Funktionen selbst bereits als perspektivisch konstruierend, projizierend, konjektierend, interpolierend, kurz: als im Kern interpretativ verfasst und interpretatorisch verfahrend gekennzeichnet werden können. Diese Zusammenhänge möchte ich hier nicht im Einzelnen darlegen. Sie bilden den Ausgangspunkt der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie, einschließlich der dieser zugehörigen Epistemologie und Handlungsphilosophie.20 Hervorgehoben sei an dieser Stelle jedoch, dass Lebensformen in diesem Sinne als Zeichen- und Interpretationsformen aufgefasst und modelliert werden können. In einer solchen Modellierung werden die semantischen und pragmatischen Merkmale nicht nur der sprachlichen, sondern auch der nicht-sprachlichen Zeichen und Zeichenpraktiken (wie z. B. der Gesten, Körperbewegungen, Bilder, musikalischen Klänge, visuellen Anschauungen) im Rekurs auf die jeweils zugrunde liegende Interpretations- bzw. Lebens-Praxis und in diesem Sinne durch Lebensformen spezifiziert. In Bezug auf die genannten Beispielbereiche sind wir auch mit dem in diesem Rahmen so grundlegenden Phänomen des Zeigens kraft nicht-sprachlicher Zeichen bestens vertraut.21 In einer gegebenen Zeichen- und Interpretationspraxis verstehen wir auf Anhieb, was eine Geste oder eine Körperbewegung bedeutet. Man denke hier zum Beispiel auch an Diagramme, an topologische Figuren, an Bilder aus der Werbung, an Fotos, an Stummfilme oder an das direkte Verstehen von Ausdrucksverhalten in alltäglichen Situationen. In solchen Kommunikations-, Kooperations- und Welt-Verhältnissen fungiert die Praxis der zugrunde liegenden Lebensform als Bestimmungsgrund der jeweiligen Bedeutung, Referenz und Repräsentation sowie des Sinns und der Relevanz der Zeichen und Handlungen. Zugleich manifestiert sich in diesen Situationen ineins auch der Zeichen- der Interpretationscharakter dieser Verhältnisse selbst. Sehen, dass eine Geste (z. B. eine bestimmte Handbewegung) Gefahr bedeutet, heißt, das auftretende Zeichen von der zugrunde liegenden und eingespielten Zeichen- und Interpretations-Praxis her und auf diese hin direkt so zu sehen, dass es Gefahr signalisiert und verkörpert. In einer anderen Zeichen- und Interpretations-Gemeinschaft kann das syntaktisch identische Zeichen eine gänzlich andere Bedeutung haben. So kann ein bestimmtes nuanciertes Lächeln zum Beispiel in einer Kultur Ausdruck freundlicher Zugewandtheit, in einer anderen Kultur dagegen Zeichen eines bevorstehenden Angriffs sein. Gänzlich ohne eine Praxis der Interpretation der Zeichen jedoch (– mithin ohne das fraglose Funktionieren von in sich interpretativ verfassten Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten, Praktiken und Fertigkeiten des Verwendens und Verstehens symbolisierender Zeichen –) wäre diejenige Direktheit erst gar nicht gegeben, kraft derer wir (im Beispiel) sehen, dass Gefahr im Verzuge ist.

20

Vgl. Abel: Interpretationswelten, Kap. 11, 14 und 15; Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 3 und 4.; und Abel: »Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology«, in: G. Abel/J. Conant (Hg.): Rethinking Epistemology Vol. 1, ( = Berlin Studies in Knowledge Research Bd. 1), Berlin, Boston, S. 1–52; deutsch als: »Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie«, in: D. Koppelberg/S. Tolksdorf (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und Wozu?, Münster 2015, S. 385–434. 21 Vgl. dazu Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 8.2. (»Interpretationscharakter des Zeigens«).

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Interpretativität ist mithin nicht optional, sondern konditional dafür, dass etwas überhaupt als ein bedeutungsvolles Zeichen, als ein bestimmter Gedanke oder als eine bestimmte Handlung verstanden wird und ausgeführt werden kann. Die in diese Praktiken jeweils involvierte Weise des Symbolisierens der Zeichen (zum Beispiel denotativer, referenzieller, bildhafter, direkter, indirekter, expliziter, impliziter, expressiver oder anderer Art) ist konditional von der jeweils zugrunde liegenden Interpretations-Praxis abhängig. »Nothing is intrinsically a representation«, betont Nelson Goodman einmal mit Recht.22 Repräsentation, Präsentation ebenso wie Ausdruck und Expressivität von Zeichen sind stets bereits abhängig von der praktizierten und jeweils in Anspruch genommenen Zeichen- und Interpretationspraxis. In deren erfolgreichem Funktionieren manifestiert sich zugleich eine Lebensform in ihrer organisierenden und orientierenden Kraft. Den Tiefensitz dieser Zusammenhänge möchte ich an noch zwei weiteren Aspekten kurz verdeutlichen, (i) an der Situationsabhängigkeit der Bedeutung sprachlicher wie nicht-sprachlicher Zeichen und (ii) an dem spezifischen Charakter ethischer und religiöser Zeichen. (i) In der traditionellen Semantik sind die Wahrheitswerte von Sätzen und Zeichen unabhängig von den Situationen und pragmatischen Kontexten, in denen die Sätze und Zeichen geäußert werden, als Eigenschaften der Sätze und Zeichen festgelegt. Eine solche Konzeption ist ambitioniert. Sie hält jedoch einer näheren Prüfung nicht wirklich Stand. Sinnvoller erscheint eine umfassende Situationssemantik. In dieser wird der innere Zusammenhang zwischen der Situiertheit, Kontextgebundenheit, Eingebettetheit sowie der Einstellungsabhängigkeit der Äußerungen, Zeichen, Gedanken und Handlungen auf der einen Seite mit deren semantischen Merkmalen auf der anderen Seite adressiert, expliziert und modelliert. Im Sinne dieses Ziels schlägt die Situationssemantik von Jon Barwise und John Perry eine Theorie der Bedeutung und der Referenz für kontextabhängige Sätze vor.23 Offenkundig ist dies ein keineswegs einfaches Unternehmen. Zudem werden in einer solchen Perspektive Korrekturen an der traditionellen FregeLogik/Semantik erforderlich. In letzterer wird die Bedeutung eines Satzes bekanntlich als die situations-unabhängige Proposition des betreffenden Satzes aufgefasst und in einem platonistischen »dritten Reich« angesiedelt. Im Rahmen einer zufriedenstellenden Situationssemantik gälte es nicht zuletzt auch die semantisch und pragmatisch konstitutiven Funktionen der Lebensform zu rekonstruieren und einzubeziehen sowie die diesbezüglichen Mechanismen auszubuchstabieren. Das ist bislang nicht erfolgreich gelungen. Diese Aufgabe stellt jedoch ein herausragendes Desiderat der Forschung dar. Herausragend ist dieses Desiderat zumal auch deshalb, weil es hier unter anderem auch um die Schnittstellen und Wechselspiele zwischen Sprach- und Zeichenphilosophie, Handlungstheorie, Philosophie des Geistes und Wissensforschung geht. Diese Bereiche werden bislang immer noch als mehr oder weniger separate Disziplinen der Philosophie gesehen und be-

22

Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis 1968, S. 226. Jon Barwise/John Perry: Situations and Attitudes, Cambridge Mass., 4. Aufl. 1986; deutsch als: Situationen und Einstellungen. Grundlagen der Situationssemantik, Berlin, New York 1987. 23

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handelt. Demgegenüber hätte es offenkundig darum zu gehen, diese Bereiche einer integrativen Modellierung zuzuführen. (ii) Dass die semantischen Merkmale von Wörtern, Zeichen und Handlungen von der zugrunde liegenden Lebensform abhängig sind, wird an der ethischen und dann vor allem an der religiösen Rede und Erfahrungswirklichkeit besonders deutlich. Ethische und religiöse Perspektiven haben einen tieferen Sitz im Leben als zum Beispiel die Formulierung wissenschaftlicher Hypothesen. So kann eine Verschiebung in der Bedeutung der ethischen Wörter »gut« oder »böse« ein Leben, eine individuelle Lebensform, von Grund auf verändern. Vergleichbares ist bei der Verschiebung der Bedeutung des Wortes »Atom« in einer wissenschaftlichen Theorie nicht oder zumindest nicht in demselben Maße der Fall. In religiöser Rede kann dieser Effekt noch radikaler sein. Wittgenstein merkt einmal an, dass eine Offenbarung Gottes nicht in der Welt sich ereigne, sondern an deren Grenze. Sie kann daher Einfluss darauf haben, in welcher Welt wir leben. (b) Gewissheit – Auch in puncto Gewissheit spielt die Lebensform eine letztlich entscheidende Rolle. Hier ist es hilfreich, zwei Begriffe von Gewissheit zu unterscheiden: die erkenntnistheoretische und die lebenspraktische Gewissheit.24 Die erste Art von Gewissheit ist unter kritischem Vorzeichen letztlich nicht zu haben und sie bliebe auch jederzeit skeptisch angreifbar. Die zweite Art dagegen ist nicht nur möglich, sondern über weite Strecken auch höchst erfolgreich gegeben. Lebenspraktische Gewissheit meint die mit dem fraglos funktionierenden Eingespieltsein einer Lebens- resp. Zeichen- und Interpretationspraxis gegebenen Selbstverständlichkeiten, das praktische Vertrauen in das, was man erlebt, wahrnimmt, sagt, denkt und tut. Diese praktische Sicherheit hat ihrerseits letztlich keine weiteren Grundlagen als eben unsere Lebens-, Zeichen-, Interpretationsund Handlungsweisen selbst. Diese fungieren gleichsam als ‚letzte’ pragmatische Fundierungen unserer gelingenden und erfolgreichen Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Daher auch verkörpern sie für uns überaus relevante Quellen der Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber. In Lebensformen sind wir zunächst stets bereits orientiert. Das kann man sich in etwa so vorstellen wie im spezifischeren Falle der Ausdrücke unserer natürlichen Sprache, die stets bereits über gegebene Bedeutungen verfügen, wir in und mit ihnen in diesem Sinne mithin bereits orientiert sind. Und mit Rekurs auf unsere praktisch bewährten Lebensformen versuchen wir sodann auch, angesichts gänzlich neuer Situationen und Herausforderungen Orientierung zustande zu bringen, das heißt: die neuen Situationen zu meistern.25 Die lebenspraktischen Gewissheiten dürfen freilich nicht im Sinne einer Wahrheitsgarantie oder einer metaphysischen Letztgewissheit missverstanden werden. Es geht vielmehr um diejenige Sicherheit, die mit den Selbstverständlichkeiten, mit den zunächst und zumeist selbstverständlichen Vollzügen unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, 24

Zum folgenden vgl. Verf.: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. I., insbes. S. 37 ff. Siehe dazu ausführlich Verf.: Quellen der Orientierung, in: B. Alberts/A. Bertino/A. Rupschus/E. Poliakova (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung. Werner Stegmaier zum 70. Geburtstag, Berlin, Boston 2015. 25

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Denkens und Handelns gegeben sind. Dieser Aspekt macht zwar wahrscheinlich, dass wir mit unseren in der Regel fraglos funktionierenden Zeichen- und Interpretationspraktiken und den auf diesen beruhenden Orientierungen in der Welt nicht im Ganzen falsch liegen. Doch ist dies eben keine Garantie dafür, dass unsere erfolgreich funktionierenden Zeichen- und Interpretationspraktiken eine externe und objektive Sicht der Beschaffenheit der Welt liefern. Auch sind Störungen in der Orientierung offenkundig nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sehr oft anzutreffen. Doch die verblüffende Pointe des vorgetragenen positiven Befundes ist, dass wir einer Letztgarantie gar nicht bedürfen, um erfolgreich in der Welt und anderen Personen gegenüber orientiert zu sein und uns auch angesichts neuer Herausforderungen orientieren zu können. Es sind die Selbstverständlichkeiten der Vollzüge unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns, die hier die letztlich entscheidende Fundierung bereitstellen. Wir erleben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln eben so wie wir erleben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln, – ohne ultimative metaphysische Letztgewissheit und ohne irgendeinen apodiktischen Apriorismus. Diesen Punkt möchte ich mit Wittgenstein durch einen Blick auf diejenigen Voraussetzungen verdeutlichen, die erfüllt sein müssen, wenn von einer Übereinstimmung zwischen Personen die Rede ist. Erforderlich ist zunächst eine Übereinstimmung im Verhalten und Reagieren im Sinne einer »gemeinsamen menschlichen Handlungsweise«. Sie liegt vor, wenn, Wittgensteins Beispiel, bei einer Zeigegeste in Richtung Fingerspitze und nicht etwa in Richtung Schulterblatt geblickt wird. Auf einer nächsten Ebene ist dann die Übereinstimmung von Handlungen mit ihren Regeln verlangt. Darin ist bereits die Möglichkeit vorausgesetzt, eine Handlung vorsprachlich korrigieren zu können (zum Beispiel durch eine körperliche Abwehrgeste). In diesen Bereich gehört auch die zumeist implizit bleibende Übereinstimmung in elementaren Erfahrungsurteilen. Um einander verstehen zu können, reicht es nicht aus, die gleiche Sprache zu sprechen. Erforderlich ist Übereinstimmung in grundlegenden Urteilen.26 Erst wenn diese Übereinstimmung explizit gemacht wird, bewegt man sich auf der Ebene, auf der es zu diskursiver Übereinstimmung oder zu Nicht-Übereinstimmung und Dissens zwischen Personen über etwas, z. B. über Sachverhalte in der Welt oder über Inhalte des Meinens, Glaubens und Wissens kommen kann. Wenn Übereinstimmung in diesen Hinsichten vorliegt, können die zuvor genannten Voraussetzungen als erfüllt unterstellt werden. Dann kann von annähernder Übereinstimmung auch in der Lebensform und davon ausgegangen werden, dass es die Lebensform ist, die diese unterschiedlichen Grade an Übereinstimmung und Gewissheit trägt und fundiert. (c) Rationalität – Zwischen den lebenspraktischen Gewissheiten, die mit den menschlichen Gepflogenheiten, Praktiken und Fertigkeiten gegeben sind, und der Annahme von Rationalitätsstandards besteht eine innere Verbindung. Die Gewissheiten der menschlichen Lebensform und Lebenspraxis fungieren letztlich auch als Rationalitätsprinzipien.

26

Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I, Nr. 242; vgl. Nr. 206.

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Das schließt auch deren Dynamiken mit ein.27 Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, ist es hilfreich, einen engen und einen weiten Sinn von Rationalität zu unterscheiden.28 Der enge Sinn bezieht sich auf formale Merkmale wie Konsistenz, Eindeutigkeit, inferentielle Sicherheit, Gültigkeit über wechselnde Kontexte hinweg, Vollständigkeit, Konsensfähigkeit. Der weite Sinn bezieht sich auf die Stimmigkeit und ein kohärentes Passen dessen, was wir meinen, glauben, wissen und für-wahr-halten, zu den relevanten Verständigungs- und Handlungszusammenhängen, zum Geflecht unserer Erfahrungswirklichkeiten und zum Netzwerk unserer propositionalen und nicht-propositionalen Einstellungen. So kann eine Person in diesem weiten Sinne als rational angesehen werden, wenn sie zum Beispiel den Kohärenzbeziehungen, die zwischen ihren unterschiedlichen Überzeugungen bestehen, nicht systematisch zuwiderhandelt (nicht also zum Beispiel offenkundige Widersprüche zwischen einzelnen ihrer Überzeugungen duldet oder diese einfach übergeht). Die Rede von Geflecht und Netzwerk meint dabei die jeweils kulturell und geschichtlich gewordenen Rahmenbedingungen in derjenigen Ausprägung, wie diese zurzeit und bis auf weiteres als die Norm gelten. Hier kommt die Lebensform auch als der pragmatisch letzte uns erreichbare und fundierende Bestimmungsgrund dessen ins Spiel, was als rational gilt, – und zwar vornehmlich auch dann, wenn ›rational‹ als ein normatives Prädikat angesehen wird. Als Rationalitätsunterstellungen kommen freilich nur solche Annahmen in Frage, die sich intern aus dem ergeben, was es heißt, (i) sich in einer Sprache oder einem nichtsprachlichen Zeichen- und Interpretationssystem zu bewegen, (ii) sich auf die dieser Sprache und den Zeichen zugrunde liegende Interpretations- resp. Lebenspraxis zu verstehen und (iii) sich in Verhältnissen der Verständigung, des Gegenstandsbezugs und der Welterschließung zu befinden. Kurz: es kommen nur solche Annahmen resp. Präsuppositionen in Frage, die intern mit der Lebensform verbunden sind. Es geht jetzt also nicht mehr um externe metaphysische, sondern nur noch, aber entschieden, um interne lebensform-pragmatische Prinzipien und Standards. Auf der Ebene der Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxen bedeutet dies auch, dass die Form (mithin die Art und Weise) der Repräsentation intern ihre je eigenen Standards der Rationalität besitzt. In diesem Sinne bedeutet die Situiertheit des Sprechens, des Denkens und des Handelns in der Lebensform eine Verankerung in einem Bereich, der seinerseits weder rational noch irrational genannt werden kann. Denn erst aus ihm heraus wird die Rational-Irrational-Unterscheidung überhaupt ins Spiel gebracht. 27

Wittgenstein notiert einmal (Über Gewißheit, Ausgabe Frankfurt/M. 1977, Nr. 336): »Aber was Menschen vernünftig oder unvernünftig erscheint, ändert sich. Zu gewissen Zeiten scheint Menschen etwas vernünftig, was zu anderen Zeiten unvernünftig erschien. U.u. Aber gibt es hier nicht ein objektives Merkmal? Sehr gescheite und gebildete Menschen glauben an die Schöpfungsgeschichte der Bibel, und andere halten sie für erwiesenermaßen falsch, und diese Gründe sind jenen bekannt.« 28 Zum Folgenden ausführlich Abel: »Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations«, in: V. Lektorsky/A. Guseynov (Hg.): Rationality and its Limits (= Proceedings of the Scientific Conference ›Rationality and its Limits‹ of the »International Institute of Philosophy«, Moskau 2012, S. 54–66. Wiederabdruck in: A. Wagner/J. M. Ariso (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (= Berlin Studies in Knowledge Research, Band 9) Berlin, Boston 2016. Siehe auch Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 4: »Zeichenlogik und Rationalität«.

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Angesichts dieser Befunde geht die Frage, ob eine Lebensform im Ganzen rational sei oder nicht, offenkundig ins Leere. Freilich sind einzelne und spezifische Praktiken einer komparativen Analyse durchaus zugänglich, etwa die Frage, ob die wissenschaftliche Meteorologie oder ein Naturorakel der Indianer trefflichere Wettervorhersagen liefert. Doch selbst wenn die wissenschaftliche Meteorologie dabei in positiverem Lichte erscheint, so wird man daraus umgekehrt nicht ableiten können, dass die Indianer ihre Praktiken und Gepflogenheiten aufzugeben hätten. Dies ist wohl auch deshalb nicht der Fall, weil, wie mir ein Freund erzählte, Indianer-Häuptling ›Schwarze Wolke‹, an dessen Reservatsgrenze sich eine High-Tech-Meteorologie-Station befindet, auf seine telefonische Anfrage bei dem Leiter dieser Station, ob denn der kommende Winter streng werde, zur Antwort erhalten haben soll: »Es wird wohl einen strengen Winter geben, denn die Indianer sammeln auffallend viel Holz«. (d) Objektivität – Unsere Urteils- und Denkformen als epistemische Perspektivierungen und mit Kant als Horizonte und Gesichtspunkte der Ordnung, der Organisation und der Orientierung in der übergroßen Fülle des mannigfaltig Gegebenen aufzufassen, tut dem kritischen Sinn der Rede von ›Objektivität‹ und ›Wahrheit‹ keinerlei Abbruch. Hervorgehoben wird ja in einer solchen Sicht lediglich die lebenspraktische, die lebensformbezogene Fundierung von Objektivität und Wahrheit. Nicht jedoch wird damit – was »intellektueller Selbstmord« (Putnam) wäre – deren Preisgabe gefordert. Es sind die schon bei Kant als Urteilsformen verstandenen Denkformen, die dem Bewusstsein die Gewissheit seines Weltbezuges, seines objektivierenden und darin objektiven Bezugs auf Gegenstände in Raum und Zeit, mithin Erfahrung garantieren. In einem solchen Szenario kann Wahrheit durchaus als ein intern objektives Merkmal eines Wissens- und Erkenntnisanspruchs angesehen werden. Das Eingebettetsein der Denk- und Sprachformen in Lebensformen heißt gerade nicht, dass die Konzepte der Objektivität und Wahrheit obsolet geworden sind. Der Rekurs auf die Lebensformen und deren umgrenzende und fixierende Wirkung stellt daher keineswegs ein Hindernis für die Fragen nach der Objektivität und Wahrheit dar. Im Gegenteil: sobald nicht mehr von einem essentialistischen Szenario ›wahrer Natur der Sachen selbst‹ oder eines ›apodiktischen Apriorismus‹ ausgegangen werden kann, müssen die Fragen nach Objektivität und Wahrheit unseres Wissens und Erkennens, die mit Recht auf ihre Beantwortung drängen, auf dem Boden der Lebensform, und des näheren der Zeichen- und Interpretations-Praxis entwickelt, behandelt und beantwortet werden. Für ein kritisches Philosophieren liegt in dieser Einsicht eine Chance, keine Gefahr. Denn einen lebensform-externen und göttlichen Begriff von Objektivitätund Wahrheit-an-sich müssten wir unter dem kritischen Vorzeichen endlicher Geister letztlich so starken Restriktionen unterwerfen, dass schließlich nur noch Schwundstufen realer Erfahrungswirklichkeiten und Rückzugsgefechte in Sachen Objektivität und Wahrheit übrigblieben (wie etwa ein Konzept bloß hypothetischer Objektivität und Wahrheit). Dagegen sind auf dem Boden der Lebens- bzw. Zeichen- und Interpretations-Praxis weit stärkere Versionen von Objektivität und Wahrheit konzipier- und verteidigbar. Nennen möchte ich hier zum Beispiel präsuppositionale und sinn-kritische Argumente, die die-

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jenigen Sinn-Präsuppositionen hervorheben, ohne die wir unserem eigenen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln sowie dem der anderen Personen nicht über den Weg trauen könnten. Ohne solche Präsuppositionen könnten wir gar nicht flüssig und anschlussfähig erleben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln. Dass solche Präsuppositionen ihren Grund wiederum in der Zeichen- und Interpretations-Verfasstheit unserer Lebensformen haben, tut der Unabdingbarkeit dieser Präsuppositionen nicht nur keinen Abbruch. Vielmehr rückt die Betonung genau dieses Umstandes die Präsuppositionen nur umso deutlicher in den Fokus der theoretischen wie der praktischen Aufmerksamkeit. Die Ausarbeitung strenger Konzepte von Objektivität und Wahrheit jenseits der älteren Dichotomie von Essentialismus und Relativismus ist ein Desiderat philosophischer Forschung.

IV. Wissenschaft, Technik und Lebensform Komplementär zur skizzierten Abhängigkeit der Sprach- und Denkformen von Lebensformen gilt es auch, die Einwirkungen in umgekehrter Richtung hervorzuheben. Dies gilt heute insbesondere im Hinblick auf die Denk- und Urteilsformen, durch die die modernen Wissenschaften sowie die modernen Technologien bestimmt sind. Wissenschaft und Technik üben heute einen enormen und folgenreichen Einfluss auf unsere Lebenswelt, Lebenspraktiken, Erfahrungswirklichkeiten und über diese auf die zugrunde liegenden Lebensformen selbst aus. Mit der Figur überzeitlicher menschlicher Denk- und Urteilsformen ist zugleich auch die Figur überzeitlich stabiler menschlicher Lebensformen preiszugeben. Denk-, Sprach-, Zeichen-, Interpretations- und Lebensformen unterliegen den mit der Zeit, der Geschichte, den wissenschaftlich-technischen und den kulturellen Entwicklungen verbundenen Veränderungen, – wie unmerklich diese im Einzelnen für den Zeitgenossen auch immer sein mögen. Temporalität und Dynamik sind in die Denk-, Sprach- und Lebensformen selbst intern eingebaut, wesentlich. Da Lebensformen nicht selbst Gegenstände der semantischen Logik sind, sondern vielmehr Hintergründe für deren Bestimmtheit bilden, manifestieren sich solche Veränderungen und Verschiebungen in den jeweiligen Objektivationen selbst. Dies kann zum Beispiel in der Einschätzung dessen der Fall sein, was uns als ›gut‹ oder ›böse‹ oder, weniger dramatisch, was uns als ›schicklich‹ oder ›unschicklich‹ gilt. Die Rede von der Lebenspraxis und von empirischen Lebensformen adressiert keine zeitlos rigiden Muster, sondern plastische Formen, die auf Einwirkungen ihrerseits mit dynamischen Um- und Neuformungen reagieren und sich an veränderte Rahmenbedingungen anpassen können. Dass dies möglich ist, ist eine Konsequenz des Umstands, dass sich Denk-, Sprach- und Urteilsformen aus Lebensformen heraus, aber eben auch auf diese hin vollziehen. Die Trias ›Wissenschaft – Technik – Lebensform‹ ist heute offenkundig nicht nur von besonderer theoretischer, sondern vor allem von herausragender praktischer Relevanz für unser Leben und unsere Erfahrungswirklichkeiten. Dieser Befund gilt auf dem ganzen Spektrum von hochspezialisierten theoretischen Problemlösungen bis hin in die unauffälligen Formen der Organisation und Steuerung unseres alltäglichen Lebens ebenso

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wie unseres psychischen Erlebens. Ganz offenkundig tragen die modernen Wissenschaften mit ihren Problemlösungen wesentlich zur Organisation und Spezifikation unserer Welt und unseres Lebens bei. Sie wirken in einem starken Maße als prägende epistemische Perspektivierungen. Die modernen Technologien (z. B. die Informations- und Kommunikationstechnologien, die Mikrosystem- und die Biotechnologien, oder Visionen wie DNS-Computer, intelligente Kleidung, Designermoleküle) haben mit ihren Prozessen, Verfahren und Artefakten einschneidende Konsequenzen sowohl für unser individuelles als auch für unser soziales Leben. Daher lenkt nicht zuletzt auch der im vorliegenden Aufsatz betonte innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen die Aufmerksamkeit auf die praktische Ausgestaltung dieser Verhältnisse, mithin auch auf die mit diesen verbundenen normativen und ethischen Herausforderungen. Vornehmlich dann, wenn Philosophie nicht Philosophie nach Gottesmaß, sondern nach Menschenmaß ist, steht sie in der Verpflichtung, in theoretischer wie praktischer Hinsicht das Verhältnis von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen, erweitert um Handlungsformen, zu einem ihrer wichtigsten Themen zu machen. Irgendwie müssen wir die Eule der Minerva noch vor der Dämmerung zum Fliegen bringen. Andernfalls droht der Philosophie das Schicksal zunehmender Marginalisierung. Die Chance, dies zu verhindern, scheint gegenwärtig durchaus gegeben. Wir müssen sie nur ergreifen.

Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen

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Philosophy of Language and Husserl’s Phenomenology Dagfinn Føllesdal (Stanford und Oslo)

The development of the philosophy of language was delayed by half a century because Husserl was not studied by the main later contributors to the philosophy of language. In his work from 1900 on, particularly in his Logical Investigations (1900/01), in the Ideas (1913) and in various lectures and manuscripts, Husserl discussed issues in the philosophy of language that are of fundamental importance and only much later have been discovered and discussed in mainstream philosophy of language. Husserl knew very well the work of the eleven years older Frege, who became a key figure in the 20th century development of the philosophy of language. Husserl owned all of Frege’s books and articles. His copies of Frege’s works, which are preserved in the Husserl archives, show that he studied them thoroughly. He even studied with great care Frege’s Grundgesetze, where his annotations show that he read Frege’s formal proofs carefully and even spotted some inaccuracies. There is also an interesting correspondence between the two. In one of the letters Frege sent Husserl he draws the following diagram to elucidate his distinction between Sinn and Bedeutung for the three main types of expression he distinguished: sentences, proper names and concept-words. Sentence È Sense of sentence (thought) È Reference of sentence (truth value)

Proper name È Sense of proper name

Concept-word È Sense of concept-word

È È Reference of proper name Reference of concept-word → object which falls (object) (concept) under a concept

However, while Frege was widely studied and became very influential for the development of logic and philosophy of language during the whole twentieth century, Husserl was hardly ever read and discussed by philosophers of language. Why? Part of it has to do with Husserl’s writing style. Frege was eminently simple and clear – Wittgenstein once said »I wish I could write like Frege.« Husserl’s sentences are long and complicated, so long that he sometimes loses track of the grammar. He also uses many philosophical terms, like ›ontology‹ and ›metaphysics‹ in a very idiosyncratic way. We will get back to this at the end of the paper, in connection with his »idealism.« Husserl gradually became aware that he used philosophical terms in a way that differed from that of many other philosophers, and to avoid misunderstandings he therefore

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introduced terms that were not used by others, such as ›noema‹, ›noesis‹, etc. However, since terms get their meaning through the various contexts in which they are used, he decided not to start with definitions, but instead stated his view using these special terms. Their meaning gradually dawns on the reader through the use Husserl makes of them. This contributed to making him difficult to read. It also makes it hard to present his philosophical views briefly, and in teaching Husserl I therefore use a spiral movement: I first give a brief sketch of his view to impart an impression of how his different basic notions hang together. After this brief overview we go new rounds and for each round get a better and more precise understanding of the basic notions and structure of his philosophy. There will be no time for such a spiral movement in this lecture, but I will at least give you an impression of Husserl main contributions to the philosophy of language. All these difficulties: long and complicated sentences, deviant terminology and strange and undefined key terms have contributed to the neglect of Husserl among philosophers of language. Another important factor has been the emergence, in certain intellectual milieus, of »schools« of philosophers who refrained from reading one another, believing that what the others said was irrelevant to their concerns. This was often connected with an introduction of labels, like »continental« versus »analytic« philosophy, etc., which in turn closed people’s mind: use of labels is comfortable when much more is published that one has time to read. One puts a label on the authors and then with good conscience abstains from reading them. »Analytic« philosophers hence did not read Husserl, and »continental« philosophers who did struggle their way through some of his work did not discover more than a fraction of what is there, since they were not familiar with the issues Husserl dealt with. In the 1950s, however, Husserl started to be read by philosophers who were open to both traditions, and it was discovered that Husserl very early had important insights in philosophy of language and many other fields that had remained unexplored.

So what did Husserl contribute to the philosophy of language? Already in his first phenomenological work, Logical Investigations (1900/01) Husserl takes up issues in the philosophy of language that had been little discussed at that time, but now are central. Starting in the first of his six Logical Investigations he discusses, for example, what he calls »essentially occasional expressions,« that is expressions which are systematically context-sensitive, such as indexicals, like ›I‹ ›here‹ ›now‹. In § 26, »Wesentlich okkasionelle und objective Ausdrücke,« he introduces the semantic distinction between the »anzeigende« and the »angezeigte« meaning, that is the purely linguistic meaning expressed by a word like ›I‹ contrasted with the meaning it has in a given situation of use. This distinction anticipates some basic elements in Kaplan’s distinction between »character« and »content.« Husserl discusses related issues in the 6th Logical Investigation and he deepens and improves his discussion in the second edition of the work. While the second edition was in proofs he added a supplement with some improvements. (Husserliana XIX/2, pp. 556–

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558). In Logical Investigations there are also anticipations of other important ideas and distinctions in the philosophy of language that have been set forth and developed more than sixty years later by Donnellan, Perry and others. Continuing his work Husserl got into examples and problems that could not be handled within the framework of Logical Investigations, and in Ideas (1913) he developed a new general approach which we will explore in the rest of this paper. This new approach is closely connected with his »idealism«. This, together with his many new unfamiliar terms turned many philosophers with an »analytic« background off, and if they were interested in Husserl at all, they confined themselves to the Logical Investigations. Recent generations of Husserl scholars who cross the boundary between »analytic« and »continental« philosophy have explored Husserl’s later work and shown that there is still much to learn from him. Among the first ones to do this I will in particular mention David Smith, Ronald McIntyre and Christian Beyer. I have included a selection of their earliest work in the bibliography, but there are by now many more later contributions by them and by many others, and their number is growing rapidly.

Husserl’s philosophy of language from the Ideas on. I will not try to survey Husserl’s many insights in the Logical Investigations, but will instead focus on this later development in Husserl from which we have much to learn. In the Ideas (1913) and later work Husserl developed further his views on meaning and introduced the notion of the noema, which provided a bridge between the notion of meaning and his general theory of intentionality. »The noema is nothing but a generalization of the notion of meaning (Sinn) to the field of all acts,« he wrote in the third volume of Ideas, Husserliana V, page 89. The connection is reflected in the title of a manuscript that all too long remained unpublished: »Noema und Sinn.« As Frege pointed out, his distinction between Sinn and Bedeutung helps to deal with some issues, such as identity (same Bedeutung, different Sinne) and non-referring expressions (Sinn, but no Bedeutung). He also was able to handle many other challenges, for example those discussed in Künne’s »Hybrid proper names.« However, many problems cannot be handled by Frege, they require a dynamic notion of sense. Husserl’s noema is such a dynamic notion, as we shall now see. While he was working on this new approach, Husserl in a manuscript in 1911 proposed the following Twin World example. His discussion starts as follows: But how is it, if on two celestial bodies two people in surroundings that seem to be totally similar, conceive of »the same« objects and adjust their utterances accordingly? Does not the »this« in these two cases have a different meaning?1 »Wie aber, wenn auf zwei Himmelskörpern zwei Menschen in völlig gleicher Umgebungserscheinung ›dieselben‹ Gegenstände vorstellen und danach ›dieselben‹ Aussagen orientieren? Hat das ›dies‹ in beiden Fällen nicht eine verschiedene Bedeutung?« (Edmund Husserl: Husserliana XXVI, Ergänzende Texte, Beilage XIX, The Hague 1987, 211.44–212.2). Here and in the following, all translations are mine. 1

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Husserl immediately gives a variant of the example: Let us change the example somewhat. Let two similar surroundings be arranged on the earth, and two people in the same position relative to them, who experience the same appearances, utter the same words, etc. Do their words have the same meaning?2 Later he gives a third variant, where only one person is involved: »If I were brought from one surrounding to another totally similar one, where my empirical perceptions were either absolutely similar or fit in with my being in the same surroundings, and if, being confounded through the route, which did not give me enough clues to estimate correctly the direction of the movement, I believe that I have returned to the same start point […]«3 Philosophers of language in our time will immediately associate this example with Putnam’s Twin Earth example, which Putnam put forth in lectures at the University of Washington and the University of Minnesota in the summer of 1968. A short version was published as »Meaning and Reference« in 1973 and a full version followed in »The Meaning of ›Meaning‹« (1975). The example has been widely discussed and has been used for several different purposes. It has led to several different conceptions of the relation of language to the world, particularly of demonstratives, and of natural kinds and the relation of our mind to the world. It has also been used as an argument for »semantic externalism« and much else. Husserl’s manuscript was printed in 1987, long after Putnam had put forth his twin earth example. Before then it was known only to a few Husserl specialists, and the examples had never been mentioned in the philosophical discussion. So Putnam got the idea independently.4

Some basic notions in Husserl’s phenomenology: acts, hyle, noesis, noema Husserl thought of these examples while he was working on what was to become Ideas Toward a Pure Phenomenology and Phenomenological Philosophy, his most important work beside the Logical Investigations (1900). The first volume of Ideas came out in 1913. Two 2 »Ändern wir das Beispiel etwas ab. Es seien auf der Erde zwei gleiche Umgebungen hergestellt und zwei Menschen zu ihnen in gleicher Lage, beide völlig gleiche Erscheinungen habend, in gleichen Worten aussagend etc. Haben beiderseits die Worte dieselben Bedeutungen?« (Husserl: Husserliana XXVI, p. 212, 3–6). 3 »Würde ich von einer Umgebung in die andere völlig gleiche gebracht, wobei die empirischen Anschauungen entweder absolut gleich oder im Sinne eben anschaulich gleicher Umgebung zusammenpassend sein werden, und glaube ich, verwirrt durch den Weg, der nicht genug Anhaltspunkte richtiger Schätzung der Bewegungsrichtung abgab, zum selben Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein […].« (Husserl: Husserliana XXVI, p. 212, 30–35) 4 The first to mention in writing Husserl’s use of the twin earth example was Christian Beyer, now in Göttingen, in the final section of his book Bolzano und Husserl, which appeared in 1996. This section was written at Stanford in 1994. Beyer worked with Wolfgang Künne in Hamburg and is now professor in Göttingen. This illustrates the observation I made earlier, that philosophers who are familiar with the issues and know the discussion of them are more likely to discover the insights in the texts they read.

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more volumes were planned, but were left unfinished. Ideas was Husserl’s first and main presentation of his mature phenomenology. He here elaborated the theory of intentionality and developed his ideas of hyle, noesis and noema. We shall take a brief look at these notions and see how they help us to deal with the issues raised by the twin world example. A central concern in Husserl’s philosophy is the study of acts and their intentionality, notions that engaged his teacher Franz Brentano and occupied all of Brentano’s students. In our normal lives we are absorbed by the world and its objects or we are engaging in other forms of activity. Husserl calls all these activities acts. Many acts involve movements of our bodies. Others are intellectual or emotional. They, too, may be prompted by or lead to bodily acts. They all involve our consciousness. The aim of phenomenology is to study, in detail, the structures of acts. We study acts by reflecting on them. We carry out what Husserl calls the transcendental reduction (which is part of the phenomenological reduction). We are then not directed towards the natural world and its objects, as we are in our daily lives, but we reflect on our acts. We discover three elements: the hyle, the noesis, and the noema. When I have been teaching courses on Husserl, from 1961, I have found it pedagogically helpful to start with the following diagram of an act, which specify the different factors and how they are interrelated:

The first two elements, the hyle and the noesis, are temporal and are parts of the act. They are experiences that we have, they have a duration in time, in a special sense of duration that we are not going to discuss here. There is an interplay between these two elements: the noesis structures the act, while the hyle constrains the noesis and thereby the structure the act can have. Every act has a noesis, and corresponding to it, a noema. The noesis is a very distinctive kind of experience, which gives meaning, or structure to the act. Husserl calls the noesis the meaning-giving element of the act. We will get back to it in connection with the noema. The hyle are experiences which we typically have when our sense organs are affected, but we can also have them in special other situations, for example when we are affected by fever, drugs or nervous disturbances. They form a kind of boundary condition for the kind of noesis we can have in an act of perception. For perception to take place, the noesis and the hyle must fit harmoniously together. Note that we may keep our eyes open and

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think about something else, for example a philosophical or a mathematical problem. In such a case we have hyle, but the hyle do not play any role in determining the object of our act. This has to do with what Husserl calls the »thetic« character of the act, to which we shall soon come. Husserl often calls the hyle »sense data« (Sinnesdaten). Looked at from our contemporary perspective, this is an unfortunate choice of words. In British empiricism and also in much later philosophy »sense data« has been used for entities which supposedly are perceived and are the basis for our structuring the world as consisting of physical objects. Husserl has sometimes been interpreted that way, as a sense datum philosopher.5 However, one does not need to read much of Husserl before one discovers that the hyle are not entities that are perceived. They are, as just noted, experiences that we typically have when our sense organs are affected. And they play an important role in perception, in that they constrain the kind of noesis we can have in an act of perception. Let us, for example, consider the duck/rabbit picture, which is suitable for illustrating many points in Husserl. When we look at such a picture, our hyle are not sufficient to determine whether we look at a picture of a duck or a rabbit. However, our hyle are not compatible with our looking at, for example, a locomotive. Hence the hyle constrain, but do not determine, the object of the act. There is always ample scope for different kinds of structuring, through various noeses.6 It may be helpful, in order to avoid the misleading connotations of sense datum theories of perception, to compare the hyle to the kinesthetic experiences we have when we move our body. The kinesthetic experiences constrain the way we structure the world, but they are not entities that we perceive. Husserl has detailed discussions of kinesthetic experiences and the role they play in our experience of the world, in particular our experience of space. However, I will not go into this here. Finally, in addition to hyle and noesis, there is the noema. The noema is a meaning, a structure in an act, which is instantiated by the noesis of the particular act. It may help to think of the noema as a type that is instantiated by one or more noeses, which are tokens of that type. The noema reflects the relations between all the features of consciousness that go into the act. The noema is a very rich structure with several components, which we will soon get to. However, before we turn to them, let us note that the noema has no temporal coordinates. It contains determinations of the temporal features of the objects of I shall not discuss other interpretations of Husserl here. The main disagreements concern the noema, which plays a central role in Husserl. The interpretation I give here is often called the Fregean interpretation because it brings out certain parallels between the noema and the notion of meaning (Sinn) in Frege, and also in Bolzano and many others. According to this interpretation the noema is what directs an act towards its object. Competing interpretations identify the noema with its object, as experienced in a certain way. I will not polemize here against these other interpretations, this would require discussion of passages in various of Husserl’s books and manuscripts, and also systematic considerations concerning acts that lack an object, concerning indiscernibility of identicals, etc. 6 This holds not only for »ambiguous« cases, like the duck/rabbit picture, but for all perception. However, normally we do not notice the numerous other possibilities. Which cases we notice, depends on several factors, including our past experiences. Thus, for example, if we have grown up in an area with lots of rabbits, but no ducks, we would probably not experience the duck/rabbit picture as ambiguous. 5

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acts, but it is not itself temporal. It can, in principle, be the same in several acts, acts of the same agent that take place at different times, or even acts carried out by different agents (although so much of the agent’s peculiarities and background and of the spatio-temporal setting is involved in the noema that in practice no two agents would ever have the same noema, and even for one agent to have the same noema twice would be problematic). The notion of the noema may help us make the notion of an act a little clearer. However, since the noema has no temporal coordinates it is strictly speaking not a part of the act. The act has temporal coordinates and can only have parts that are temporal. This is why I prefer to call the noema an element in our analysis of acts. As one should expect, there is a thorough-going parallelism between noema and noesis. An example Husserl gives in order to clarify the two notions is that of a judgment. Philosophers have often maintained that what we study in logic, are abstract entities called judgments, and not the acts through which we make the judgments. A judgment is a component in the noema of an act of judging, while the act of judging includes the corresponding noesis. Now to the various components of the noema. Husserl distinguishes two main constituents: the thetic character and the noematic meaning (Sinn). Within the meaning again, he singles out what he calls »the determinable X« for special attention. This latter notion will be crucial for our handling the twin earth example as well as numerous other cases where reference and indexicality play a role, and we shall soon discuss it in some detail. First, however, the thetic character. This is what distinguishes different kinds of acts: perception, imagining, dreaming, etc, and also uttering, asserting, etc. The thetic character is crucial for whether and in what way the hyle constrains the noesis. In perception, for example, the noesis has to fit in with the hyle, while in imagination no such fit is required.7 In communication, the thetic character differentiates different kinds of speech acts, which were explored by some of Husserl’s students.8 The thetic character of acts is highly important in Husserl’s idealism. The study of the thetic character gives us insight into what it means for the world and its objects to be. We

Husserl’s notion of the thetic component resembles Frege’s notion of assertoric force (»behauptende Kraft«). As I mentioned earlier, Husserl studied Frege’s work carefully, and sometimes uses Frege’s examples, e. g. concerning the identity of the victor at Jena and the vanquished at Waterloo. However, Husserl knew these basic ideas earlier, from Bolzano, Mill and many others. When I give brief presentations of Husserl to philosophers I often start from Frege, with whom they are all familiar, and then go on to explain crucial differences. However, when I teach courses on Husserl for a mixed audience of philosophers and people from other fields, I have found it helpful to begin with Bolzano, who has even more in common with Husserl, and who is usually new to everybody. When I taught Husserl at Harvard in 1961–64, I began the course with seven lectures on Bolzano. At that time he was not even mentioned in Encyclopedia Britannica, and none of his philosophical works were available in English. He is a philosopher who deserved, and still deserves, much more attention, and it is very fortunate that his main work, Wissenschaftslehre, is now fully translated into English (see the bibliography at the end of this paper). 8 Adolf Reinach and others. See Barry Smith: »Towards a History of Speech Act Theory,« in A. Burkhardt (ed.): Speech Acts, Meanings and Intentions. Critical Approaches to the Philosophy of John R. Searle, Berlin/New York 1990, pp. 29–61. 7

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will return to this later, but we first need to take a look at the other main factor in the noema: the meaning component. The meaning component has two constituents, both having to do with the object of the act. One constituent corresponds to the various properties we expect the object of the act to have. The second constituent reflects the fact that the act is object-directed: the act is directed towards something that has more to it than what is presently anticipating, and our anticipations may turn out to be wrong. This second constituent in the meaning of the act Husserl calls the determinable X. This is a crucial notion in his philosophy. It distinguishes him from all other philosophers I know, including Bolzano and Frege, with whom he has otherwise much in common. And it is at the core of his approach to intentionality and his way of dealing with reference and in particular how he deals with the twin earth case. Let us now take a look at this important idea. For Brentano, every act is directed towards an object. For Husserl, every act is as if it is directed towards an object. There is not always an object there, I may be hallucinating or seriously misperceiving, but until I discover this, my act is as if of an object. It is this ›as if of‹ that Husserl is exploring in his phenomenology. Here the determinable X comes in. Objects play an important role in our lives, in perception, thinking and practical action. We conceive of the world as consisting of objects, which we explore and make use of. The determinable X reflects this object-directedness of our consciousness. The noematic meaning of an act is grouped around the act’s determinable X. We conceive of the object as having a variety of properties, as bearing relations to other objects and to our body, as being valuable, useful for various purposes, etc. Here are four features that characterize our experience of objects: 1. Enriching. Objects have many more properties than those that are reflected in the meaning component of the noema, we have only partial knowledge of them, there is always more to be found out about them. They transcend our experience of them, Husserl writes.9 Our intellectual endeavors are very much aimed at determining what the objects we encounter are like. The notion of object plays a double role here: objects always present us with the challenge of finding out more about them. And they guide us in this exploration: objects that share some properties are usually expected to share other properties as well. Husserl explores this in his notion of »pairing,« which we will not discuss here. Objects therefore play an important role in the associative processes through which the meaning-component in the noema becomes enriched, that is, in the determination of the determinable X. 2. Adjusting. We may be wrong about some of the properties we attribute to the object. It is important to distinguish ›transcendental‹ and ›transcendent‹ in Husserl. What is transcendental, are the factors in our consciousness that we are not normally aware of, but that are important for our »constituting« the world, such as noesis, noema and hyle. In phenomenology we study these by carrying out the ›transcendental‹ reduction, where we turn away from our »natural« absorption in the world and reflect instead on the constituting of the world. The objects that we are aware of and engaged by in our natural attitude to the world, Husserl calls ›transcendent‹, since they have lots of features that go beyond our experience of them. In translations of Husserl, and even more in translations of Sartre, who uses this same pair of words, the words often get mixed up. 9

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The further course of our experience may show that the object has other features than we originally expected, we come to adjust our beliefs about the object. So the noematic meaning does not only become expanded, but also adjusted. This kind of adjustment would of course be impossible if we think that the object of an act is the one and only object that has all the properties that the noematic meaning ascribes to it, or at least the »essential« ones, whatever that might mean. In order to understand the relation between noema and object, we have to take into account the determinable X. The notion of the determinable X is crucial for understanding how the object of the act gets determined. 3. Change. Time and space play a role. An object may change its properties over time. Persons are examples: I am the same person now as when I was born, but I have changed very many of my properties. An object may have different properties at different times or in different places, look differently in different light or from different sides, etc. In German the word ›gleich‹ is sometimes used for ›similar‹, other times for ›identical‹. However, although Husserl uses this word, he is clear: objects may be similar, but not identical, and one object may have many different aspects. Part of our notion of the determinable X is therefore a conception of identity for the kind of objects we are considering, for example persons. 4. Explosion. Sometimes the discrepancies between our anticipations and the further course of our experiences may be so severe that our noema »explodes,« to use Husserl’s word. We come to see that the act has no object, and perhaps that we are hallucinating or seriously misperceiving. Often in such cases the act is superseded by another act that has an object similar to the one we thought was there. This act has a new determinable X, many of the anticipations in the noematic meaning are changed, and in some cases also the thetic component may change, for example from perception to hallucination. Given the identity criteria for the objects we encounter, we can go wrong about the identity of objects. We may discover that what we took to be two objects are just two aspects of one and the same object. Frege’s morning star/evening star is an example. Or we may discover that what we thought was one object was actually two. The twin earth situation is an example. »But what cannot all step into the unity of an identifying consciousness, what can a person not all mix up!« writes Husserl.10

Intersubjectivity Although the hyle, that are so crucial in perception, are private experiences, not shared by others, Husserl emphasizes, early and late, that the world we intend and thereby constitute, is not our own private world, but an intersubjective world, common to and accessible to all of us. Thus in the Ideas he writes:

10 »Aber was kann nicht alles in die Einheit eines identifizierenden Bewusstseins treten, was kann der Mensch nicht alles verwechseln!« (Husserl: Husserliana XXVI, The Hague 1987, p. 213, 5–6).

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»I continually find at hand as something confronting me a spatiotemporal reality [Wirklichkeit] to which I belong like all other human beings who are to be found in it and who are related to it as I am.«11 Husserl stresses the shared, intersubjective nature of the world particularly in § 29 of the Ideas, which he entitles »The ›Other‹ Ego-subjects and the Intersubjective Natural Surrounding World.« He there says: »I take their surrounding world and mine Objectively as one and the same world of which we are conscious, only in different ways [Weise] […] For all that, we come to an understanding with our fellow human beings and together with them posit an Objective spatiotemporal reality […]«12 In the later works one finds similar ideas, and also in many of Husserl’s unpublished manuscripts. A very good selection from these manuscripts has been edited by Iso Kern in three volumes of the Husserliana devoted to intersubjectivity.13 In Crisis, his last work, which he left unfinished when he died in 1938, Husserl writes: »Thus in general the world exists not only for isolated men but for the community of men; and this is due to the fact that even what is straightforwardly perceptual is communal.«14 A similar point is made by Quine, who in his Paul Carus lectures in 1973 observed the social nature of perception: »Perception being such a private business, I find it ironical that the best evidence of what counts as perceptual should be social conformity. I shall not pause over the lesson, but there is surely one there.«15 Husserl discusses in great detail empathy and the many other varieties of intersubjective adaptation that enable us to intend a common, intersubjective world. For these discussions I refer to the three volumes on intersubjectivity that I just mentioned. This intersubjectivity is an important feature of Husserl’s idealism, to which we shall turn shortly. His idealism is not a solipsism. The world we intend, the »constituted« world in which we find ourselves, is a shared world, experienced by each of us only from a perspective. This communal nature of the world and of the objects we perceive is another characteristic of their transcendence. In addition to the innumerable aspects of transcendent objects that we ourselves have not yet explored, they also have lots of aspects that are there for others to explore. Some of these other aspects might not even be accessible to us. Edmund Husserl: Husserliana III.1, The Hague 1977, § 30, p 61, l. 15–18. Original edition, p. 52, Kersten’s translation, pp. 56–57, slightly modified by me. 12 Husserliana III.I, § 29, p. 60, l. 16–26. Original edition, p. 52, Kersten’s translation, pp. 55–56. 13 Husserliana XIII, XIV, XV. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Unfortunately, this valuable material is not available in English. 14 Edmund Husserl: Husserliana VI, The Hague 1976, § 47, p. 166.19–22 = Carr’s translation, p. 163. 15 Willard Van Quine:, The Roots of Reference, La Salle, Illinois 1974, p. 23. 11

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If, for example, I am color blind, I will not see the colors of the world. Still, in virtue of my life together with others, I constitute the world as having colors. The noematic meanings are shaped not just by our perception of the world but also through communication with other perceivers of the world. This is particularly important when one or more of our senses is defective, but also because some people are better situated relative to some of these objects, have more experience with them and have explored them more thoroughly. Putnam’s well-known example of elms and beeches illustrates this division of labor and how we defer to specialists and generally to those who we think are better informed (Putnam 1975).

Language and communication So far, we have concentrated on perception and our experience of objects. However, just as objects are central in perception and in our lives in general, so they are in our talk about the world and our lives. There is, as we noted, an interplay here: our perception of objects shapes and is in turn shaped by our communication with others about these objects. The meaning of linguistic expressions is a result of this interaction between the various users of a language. However, Husserl’s focus on objects, which is reflected in his notion of the determinable X, leads to an important special feature in his notion of the meaning of referring expressions, like names, pronouns etc. For Husserl, the meaning of an act consists, as we have noted, of two components: the determinable X and the various features that we expect the act’s object to have. The act’s object is at any time determined through the interplay between these two components. Similarly the reference of a referring expression is not fixed by the various features that we expect the object to have, but by our ongoing concern for making sure that we are referring to the intended object. We noticed how we may discover that the object we refer to fails to have some properties that we thought it had, but this does not always mean that the act has no object, only that it is different from what we expected. What object an expression refers to is hence determined by the meaning of the expression, but the meaning includes a determinable X and does not just consist of properties. Given the central role of objects in our lives, we should expect that part of our language is intended to reflect our efforts to explore and keep track of objects. Names, pronouns, variables of quantification, indexicals and demonstratives reflect the role of the determinable X. When we use one of these terms we signal that we attempt to keep track of an object, through changes, through mistakes about its properties, etc. These terms are introduced into our language and our conversations through different procedures, but once introduced we do our best to have them stick to their object. Traditionally, definite descriptions have also been counted as singular terms, but they should, in most of their uses,16 be regarded as general terms true of one object. They do not signal an attempt to There are exceptions. Some definite descriptions are used like genuine singular terms and signal that we intend to keep track of an object. This was first observed by Keith Donnellan (Donnellan: »Reference and Definite Descriptions.«, in: The Philosophical Review Vol. 75, 1966, p. 281–304). 16

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keep track of a reference, but philander from object to object depending on what object happens to satisfy the meaning of the term. They should therefore not be counted as genuine singular terms. Like Husserl’s determinable X, the genuine singular terms do not keep their reference by describing an individual essence that the object keeps through its changes. Nor do they, as Peter Geach proposed, get their reference through a baptism that assigns to the term a reference which stays with it come what may: »I do indeed think that for the use of a word as a proper name there must in the first instance be someone acquainted with the object named. But language is an institution, a tradition; and the use of a given name for a given object, like other features of language, can be handed down from one generation to another; the acquaintance required for the use of a proper name may be mediate, not immediate. Plato knew Socrates, and Aristotle knew Plato, and Theophrastus knew Aristotle, and so on in apostolic succession down to our own times; that is why we can legitimately use ›Socrates‹ as a name the way we do. It is not our knowledge of the chain that validates our use, but the existence of such a chain, just as according to Catholic doctrine a man is a true bishop if there is in fact a chain of consecrations going back to the apostles, not if we know that there is. When a serious doubt arises (as happens for a well-known use of the word ›Arthur‹) whether the chain does reach right up to the object named, our right to use the name is questionable, just on that account. But a right may obtain even when it is open to question.«17 Nor is the term’s reference fixed through a causal chain where the object plays a special role.18 The singular terms keep their reference through a complex process that reflects the efforts that we make in keeping track of the determinable X. We could call this a normative view on reference: the use of a singular term signals our effort to keep track of an object through changes and mistakes.19 However, sometimes we discover that through confusions of various kinds the term has shifted its reference, like ›Madagascar‹20 or that it has no reference, like ›phlogiston‹. Husserl’s notion of the determinable X is the best approach I know of how singular terms get and keep or lose their reference. Let us now see how it deals with the problems connected with the twin earth example and, connected with that, the problem of natural kinds that has received much attention since Putnam brought it up. In the last of the three passages I quoted at the beginning of the paper, Husserl asked what happens when one is brought from one surrounding to another which is just like it, along a route that is so confusing that one thinks that one is back where one started. Peter, Geach, »The Perils of Pauline«, in: Review of Metaphysics 23, 1969, pp. 287–300, here: pp. 288–289. Page 155 of the reprint in Geach: Logic Matters, Oxford: Blackwell, 1972. 18 Gareth, Evans 1985 »The Causal Theory of Names.«, in: Ders.: Collected Papers, Oxford: Clarendon Press, pp. 1–24. 19 Dagfinn, Føllesdal: Referential opacity and modal logic. Dissertation, Harvard 1961, Routledge 2004 and later work. 20 Gareth Evans’ example. 17

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He answers: »then I regard the similar objects as the same, and then I will also say that the meanings are the same. The meaning of […] ›this table‹ etc., is then in both cases the same.«21 However, when one learns about the mix-up, ›this table‹ will have different meanings in the two situations. At the end of the discussion of the determinable X above I quoted Husserl: »But what cannot all step into the unity of an identifying consciousness, what can a person not all mix up!« Husserl’s response to this is remarkable: »That does not hurt. It counts as the same for him, it is meant as one, and when this really is so, then the meaning he attaches to it is the same. Hence, when I mix up a house and booth polish then the meaning of ›this‹ is the same. When another or I at another occasion do not mix them up, then the meaning is different.«22 Husserl’s main point, in this manuscript and other places where he discusses these issues, is the following: Our use of language, including singular terms, like ›this‹, is based on our present conception of the world. We talk about the world as we and those we defer to in our community conceive of it. Our views change as we and others find out more about the world, and our use of words change accordingly. In their normal use our words do not relate to a world of »the final theory« or the world »as it really is,« whatever that may mean. We refer to the world as we presently conceive of it. Sometimes new insights show that we had mixed up objects or that there was no object there to refer to. Husserl deepens this discussion as he goes on. His position is clear, and it seems to me satisfactory: What we refer to depends on our current state of knowledge. We may come to learn that the object we refer to is different from what we first thought, but we keep on referring to the same object as long as we do not find out something that makes the noema »explode.« If such an explosion takes place, we may, looking back, say that we thought that we were referring, but did not succeed. This illustrates a central point in Husserl, to which we shall return. Husserl always focuses on the subjective perspective: the noema, with its interplay between the determinable X and its various properties, directs us towards objects that transcend our consciousness. The hyle constrains this interplay. This constraint gives reality character to the world and often forces us to revise our structuring of the world. If we start from the »outside« and take the world and its objects as given, and think, as the »naïve realist,« that consciousness simply relates us to these given objects, we overlook the important struc-

21 »[…] so gelten mir die gleichen Gegenstände als dieselben, und dann werde ich auch sagen, die Bedeutungen seien dieselben. Die Meinung von […] ›dieser Tisch‹ etc. ist dann beiderseits dieselbe.« Husserliana XXVI, p. 312, 36–38. 22 »Das schadet nichts. Es gilt ihm als dasselbe, es ist als eines vermeint, und wenn das wirklich so ist, ist die Eigenbedeutung dieselbe. Wenn ich also ein Haus und Stiefelwichse verwechsle, so ist die Bedeutung von ›dies‹ dieselbe; wenn ein anderer oder ich ein andermal nicht verwechsle, so ist die Bedeutung eine verschiedene.« Husserliana XXVI. 213, 6–11. It is not easy to imagine a situation where we confound a house and boot-polish. However, Husserl may have chosen such an extreme example in order to stress that in spite of the great factual differences, the meaning of ›this‹ remains the same in the two cases.

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turing role of consciousness. And if, on the other side, we do not pay enough attention to Husserl’s analysis of how transcendent objects are constituted in our consciousness, but identify these objects with features of consciousness, then we go wrong both about consciousness and the world and come close to an idealism that Husserl rejects. I will now end the paper with a brief discussion of Husserl’s idealism.

Husserl’s idealism As we noted earlier, Husserl often had problems with labels, and he uses the word ›idealism‹ in a sense rather different from that of other philosophers. The reason why Husserl called himself an idealist is that, as we have seen, he did not take the external world as something given, but concentrated on how we experience the world, and studied the details what he calls its »givenness.« He writes about this in the Crisis: »The first breakthrough of this universal a priori of correlation between experienced object and manners of givenness (which occurred during work on my Logical Investigations around 1898) affected me so deeply that my whole subsequent life-work has been dominated by the task of systematically elaborating on this a priori of correlation.«23 Again and again Husserl comes back to this aim of phenomenology: »Above all: phenomenological idealism does not deny the factual [wirklich] existence of the real [real] world (and in the first instance nature) as if it deemed it an illusion […] Its only task and accomplishment is to clarify the sense [Sinn] of this world, just that sense in which we all regard it as really existing and as really valid. That the world exists […] is quite indubitable. Another matter is to understand this indubitability which is the basis for life and science and clarify the basis for its claim.«24 In fact, just the difference between our notions of illusion and reality is one of the contrasts that phenomenology seeks to clarify. Phenomenology is, as we have seen, a study of these structures of our consciousness, those that relate to the noematic sense and the determinable X as well as those that pertain to the thetic character. An important task for phenomenology is to throw light on the

Husserliana VI, p. 305.8–15 = p. 274 of the original edition = p. 317 of Carr’s translation. »Vor allem: der phänomenologische Idealismus leugnet nicht die wirkliche Existenz der realen Welt (und zunächst der Natur), als ob er meinte, dass sie ein Schein wäre, dem das natürliche und das positiv-wissenschaftliche Denken, obschon unvermerkt, unterläge. Seine einzige Aufgabe und Leistung ist es, den Sinn dieser Welt, genau den Sinn, in welchem sie jedermann als wirklich seiend gilt und mit wirklichem Recht gilt, aufzuklären. Dass die Welt existiert, dass sie in der kontinuierlichen immerfort zu universaler Einstimmigkeit zusammengehenden Erfahrung als seiendes Universum gegeben ist, ist vollkommen zweifellos. Ein ganz Anderes ist es, diese Leben und positive Wissenschaft tragende Zweifellosigkeit zu verstehen und ihren Rechtsgrund aufzuklären.« (Husserl, Preface to the Gibson’s translation of Ideas, London 1931. Here from the German version in Husserliana V: p. 152.32–153.5, my translation.) 23 24

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sense in which we regard the world as real, as existing. Husserl claimed that the world is experienced as transcendent, intersubjective and constantly at hand. He was particularly concerned with what gives reality-character to the world. Like William James, whom he read already in the mid-nineties, when he made the transition to phenomenology, he stressed the importance of the body, and the inflictions upon our body, for our sense of reality. As James put it: »Sensible vividness or pungency is then the vital factor in reality […]«25 Husserl goes much more into depth and detail than James concerning the role of the body. In a manuscript from 1917 Husserl introduced the word ›lifeworld‹ for this world in which we find ourselves living and which is experienced by us as real. In the Crisis (1936), where he first uses this word in print, he writes: »[…] the lifeworld, for us who wakingly live in it, is always there, existing in advance for us, the ›ground‹ of all praxis, whether theoretical or extratheoretical. The world is pregiven to us, the waking, always somehow practically interested subjects, not occasionally but always and necessarily as the universal field of all actual and possible praxis, as horizon. To live is always to live-in-certainty-of-the-world.«26 The thetic character of acts is highly important in Husserl’s idealism. The study of the thetic character gives us insight into what it means for the world and its objects to be. Husserl’s idealism does hence not consist in rejecting the reality of the world, or regarding it as an illusion. On the contrary, the very notion of an illusion presupposes the realitycharacter of the world. To say that the world is an illusion would verge on a contradiction. It would be to undercut the very sense of what is claimed. There are certain parallels to this in the earlier German idealists, notably Fichte. However, Husserl’s position seems to me to be better thought through, and it differs in important respects from the positions that are commonly labeled ›idealism‹. Husserl was as we noted earlier, notorious for his lack of skill in understanding other philosophers and for his ineptitude in using their terms. My own view is that the traditional idealism/realism distinction is ill suited to capture Husserl’s position, and that here, as in the rest of his philosophy, he might have been better off avoiding traditional philosophic terminology. This is confirmed by a letter he wrote in 1934 to Abbé Baudin: »No ordinary ›realist‹ has ever been as realistic and concrete as I, the phenomenological ›idealist‹ (a word which by the way I no longer use).«27

William James: The Principles of Psychology, Ch. XXI, p. 301 of Vol. 2 of the Dover edition, New York 1950. 26 Husserliana VI, p. 145.24–32 = Carr’s translation, p. 142. 27 Letter quoted in Iso Kern: Husserl and Kant, The Hague 1964, p. 276 n. 25

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KOLLO QUIUM 2 Geschichtliches Philosophieren ohne apriorische Geschichtsphilosophie Kolloquiumsleitung: Christian Bermes

Christian Bermes Einleitung Günter Figal Geschichte als Text und Textur Karl-Heinz Lembeck Metamorphosen des historischen Apriori

Geschichtliches Philosophieren ohne apriorische Geschichtsphilosophie Christian Bermes

Die Frage nach der Möglichkeit eines geschichtlichen Philosophierens, das ohne eine apriorische Geschichtsphilosophie auskommt, trifft nicht nur in das Zentrum der etablierten Geschichtsphilosophie, es berührt die Philosophie selbst. Die Frage wirkt auf den ersten Blick irritierend, auf den zweiten Blick jedoch zeigt sich ihre Brisanz und Relevanz. Denn mit ihr entfaltet sich die Problematik zwischen der Deutung des Historischen und dem Faktum der Geschichte selbst. Mit dem Topos eines ›geschichtlichen Philosophierens‹ wird durchaus auch eine historische Assoziation geweckt, nämlich der Verweis auf Schelling und dessen Distanzierung von Geschichtsentwürfen, wie sie etwa bei Hegel u. a. zu finden sind.1 ›Geschichtliches Philosophieren‹ verweist dabei nicht auf eine Deutung der Geschichte, das Konzept sucht keine apriorisch begründete Konzeption eines Geschichtsverlaufs, sondern rekurriert vielmehr auf eine Erfahrung der Geschichtlichkeit oder ein geschichtliches Sein, das es philosophisch mit eigenen Mitteln zu begreifen gilt. Einer Geschichtstheorie steht in diesem Sinne eine ›geschichtliche Philosophie‹ gegenüber, die einem Faktum eigener Art, dem Faktum der Geschichte selbst, Rechnung zu tragen sucht.2 Die Schellingsche Idee eines ›geschichtlichen Philosophierens‹, so könnte man sagen, blieb im 19. Jahrhundert gleichsam ein Versprechen, ein Desiderat, vielleicht auch eine Beunruhigung. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Fragestellung wieder mehr oder weniger ausdrücklich relevant. Hermeneutik, Phänomenologie aber auch andere Traditionen greifen die Problematik auf, ohne sie jedoch immer auf Schelling zu beziehen. Um die Konturen eines ›geschichtlichen Philosophierens‹, deutlicher hervortreten zu lassen, bietet es sich an, zwei Autoren in Erinnerung zu rufen, die auf den ersten und wohl auch auf den zweiten Blick fern jeder klassischen Geschichtsphilosophie stehen, jedoch durchaus Perspektiven eröffnen, dem Topos des ›geschichtlichen Philosophierens‹ einen philosophischen Rahmen zu geben. Es handelt sich dabei um Autoren, die vehement mit überlieferten Geschichtstheorien als Rechtfertigungs- und Begründungsmustern gebrochen bzw. sich erst nie darauf eingelassen haben. Und dennoch – vielleicht aber auch deshalb – kommen sie aus unterschiedlichen Motiven und auch in unterschiedlichem Vgl. zum Begriff der ›geschichtlichen Philosophie‹ bei Schelling u. a.: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke, Bd. 10, Stuttgart, Augsburg 1861, S. 168, 170; Bd. 11, Stuttgart und Augsburg 1856, S. 571. Vgl. weiterhin: Axel Hutter: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Philosophie Schellings, Frankfurt/M. 1996; Michael Guschwa: Dialektik und philosophische Geschichtserzählung beim späten Schelling, Würzburg 2013. 2 László Tengelyi hat die Vorbereitung des Kolloquiums wesentlich unterstützt und beabsichtigte, einen eigenen Beitrag zu Schelling und der Phänomenologie beizusteuern. Dieses Vorhaben blieb unvollendet, da László Tengelyi am 19. Juli 2014 verstorben ist. 1

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Kolloquium 2 · Christian Bermes

Umfang auf die Frage zu sprechen, wie die Beschreibung des geschichtlichen Seins gelingen kann, ohne es in einer Geschichtsdeutung zu verlieren. Bei diesen Autoren handelt es sich um Wittgenstein und Husserl. In seiner Auseinandersetzung mit Frazers ethnologischen Studien in The Golden Bough bemerkt Wittgenstein, dass die »historische Erklärung, die Erklärung als eine Hypothese der Entwicklung« nur als »eine Art der Zusammenfassung der Daten – ihrer Synopsis« zu begreifen sei. Es sei »ebensowohl möglich, die Daten in ihrer Beziehung zueinander zu sehen und in ein allgemeines Bild zusammenzufassen, ohne es in Form einer Hypothese über die zeitliche Entwicklung zu tun.«3 Die bei Frazer vorausgesetzte Geschichtstheorie zur Erklärung mythischer Kulturen, die Primitives von Fortgeschrittenem scheidet, verfehle das zu erfassende Phänomen vollständig: Denn »nur beschreiben kann man hier und sagen: so ist das menschliche Leben.«4 Was Wittgenstein gegen Frazer mit Blick auf die Geschichte vorbringt, ist das, was Husserl von der Philosophie einfordert: Es müsse, so sein bekanntes Diktum, »die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung« »erst zur reinen Aussprache ihres eigenen Sinnes« gebracht werden.5 In diesem Sinne fordert Wittgenstein von Frazer die Aussprache des eigenen Sinnes mythischer Kulturen, jenseits einer Geschichtstheorie. Wie Wittgenstein das geschichtliche Sein gegen die historische Deutung ausspielt und den Bezugspunkt in einer Beschreibung der Lebensform findet, so fragt sich Husserl: »Wie dient uns Selbstdenkern die Geschichte (der Philosophie), was kann sie, was muß sie dem Denker sein?«6. »Jeder Versuch, aufgrund der Verkettung literarisch dokumentierter Tatsachen eine Geistesgeschichte, eine Geschichte der Philosophie zu konstruieren«, ist für Husserl, »nicht ein ›Roman‹, sondern eine ›Interpretation‹, eine durch die Tatsächlichkeiten der Dokumentierung gebundene ›Dichtung‹.«7 Um nicht die Interpretation der Geschichte, die Geschichtsdichtung nach Husserl, an die Stelle der Geschichte zu setzen, schlägt Husserl in seinen späten Schriften einen neuen Weg ein. Eine Archäologie der Lebenswelt füllt das Desiderat, wie Husserl es am Beispiel der Geometrie in der Krisis-Schrift und in den benachbarten Fragmenten vorstellt. Dass eine solche Fragestellung mit Blick auf die gesamte Philosophie Auswirkungen hat, ist offensichtlich. Bei Husserl ist es geradezu handgreiflich und kommt in der Bemerkung zum Ausdruck dass die »echte historische Erklärung« »bei den Wissenschaften

Ludwig Wittgenstein: »Bemerkungen über Frazers Golden Bough«, in: Ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989, S. 29–46, hier: S. 36 f. Vgl. S. 31: »Ich glaube, dass das Unternehmen einer Erklärung schon darum verfehlt ist, weil man nur richtig zusammenstellen muß, was man weiß, und nichts dazusetzen, und die Befriedigung, die durch die Erklärung angestrebt wird, ergibt sich von selbst.« Zur Einordnung vgl. Christian Bermes: »Ludwig Wittgenstein«, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart, Weimar 2012, S. 138–143. 4 Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers Golden Bough, S. 32. 5 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. und eingeleitet von Stephan Strasser, Nachdruck der 2. verb. Auflage, 1991, S. 77. 6 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937, hg. von R.N. Smid, 1993, S. 47 f. 7 Ebd., S. 47. 3

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mit der ›erkenntnistheoretischen‹ Begründung oder Aufklärung«8 (Hua VI, 381) zusammenfalle. Dies ist nun aber richtig zu verstehen: Weder die Wissenschaften noch die Erkenntnistheorie sollen historisiert werden; es geht nicht darum, Entwicklungen an die Stelle von Wahrheiten zu setzen; es sollen keine äußerlichen Abfolgen, ein Nacheinander von Ereignissen und Deutungsmuster an den Platz der wissenschaftlichen Aussage treten. Vielmehr sucht Husserl nach einem Zugang zur Geschichtlichkeit als einem Faktum, das grundlegender ist als jede Geschichtstheorie. Dieses Projekt realisiert er in einer »Archäologie der Lebenswelt«9 – ein Projekt, das wie das Schellingsche Vorhaben einer »geschichtlichen Philosophie« vielleicht unabgegolten blieb, aber mehr denn je als eine philosophische Herausforderung begriffen werden darf.

Literatur Bermes, Christian: »Ludwig Wittgenstein«, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart, Weimar 2012, S. 138–143. Guschwa, Michael: Dialektik und philosophische Geschichtserzählung beim späten Schelling, Würzburg 2013. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, hg. und eingeleitet von Stephan Strasser, Nachdruck der 2. verb. Auflage, 1991, S. 77. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937, hg. von R.N. Smid, 1993. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel, Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1976, S. 381. Hutter, Axel: Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Philosophie Schellings, Frankfurt/M. 1996. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Sämmtliche Werke, Bd. 10, Stuttgart, Augsburg 1861. – Sämmtliche Werke Bd. 11, Stuttgart und Augsburg 1856. Wittgenstein, Ludwig: »Bemerkungen über Frazers Golden Bough«, in: Ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften, hg. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M. 1989, S. 29–46.

8 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hg. von Walter Biemel, Nachdruck der 2. verb. Auflage. 1976, S. 381. 9 Ebd., S. 380: »Was immer als historisches Faktum erfahrungsmäßig gegenwärtig oder vom Historiker als Faktum der Vergangenheit erwiesen wird, hat notwendig seine innere Sinnesstruktur; aber was dabei alltäglich verständlich an Motivationszusammenhängen herausgestellt ist, hat erst recht seine tiefen, immer weiter reichenden Implikationen, die zu erfragen, zu enthüllen sind. Alle Tatsachenhistorie verbleibt in Unverständlichkeit, weil sie, immer nur naiv geradehin von Tatsachen schließend, den allgemeinen Sinnesboden, auf dem solche Schlüsse insgesamt beruhen, nie thematisch macht, nie das gewaltige strukturelle Apriori, das ihm zueigen ist, erforscht hat.«

Geschichte als Text und Textur Günter Figal

1. Wenn man einen Satz mit dem Namen Sokrates beginne, so Hans Blumenberg in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen zu einer Theorie der Unbegrifflichkeit, sei im Allgemeinen klar, was zu erwarten sei. Füge man »nähere Zeit- und Situationsbestimmungen« hinzu wie »der junge Sokrates«, »Sokrates im Kerker« oder »der platonische Sokrates«, sei die Erwartung, worum es in dem Satz gehen könne, noch weiter eingeschränkt. Beginne man hingegen »einen Satz mit dem Ausdruck ›Die Geschichte‹«, so sei »der Hörer / Leser auf alles gefaßt«, beinah so , als hätte man ihn »mit dem Ausdruck ›Das Sein‹« begonnen.1 Das ist, wenn man Blumenberg folgt, darum so, weil der Ausdruck ›die Geschichte‹ nicht referentiell eingelöst werden kann; es gibt nichts Lokalisierbares, auf das man zeigen könnte und von dem sich sagen ließe, dass es die Geschichte sei. ›Geschichte‹ ist deshalb – im Sinne Blumenbergs – ein mystischer Begriff, ein Anwendungsfall der problematischen Tendenz von Begriffen, »in der Mystik« zu enden,2 und entsprechend ein Begriff, der sich nicht anders als metaphorisch veranschaulichen lässt, genauer absolut metaphorisch. Absolute Metaphern sind für Blumenberg »solche, deren Kontextresistenz unüberwindbar erscheint«,3 Metaphern also, die sich in keinen beschreibbaren Kontext einfügen, also nicht auf etwas bezogen sind, das sich auch unmetaphorisch oder wenigstens mit abgesunkenen, nicht mehr als solchen erkennbaren Metaphern bezeichnen lässt. Absolute Metaphern erzeugen Kontexte oder, weniger freundlich gesagt: sie suggerieren, dass es die Kontexte gebe, die mit Ausdrücken, die für mystische Begriffe stehen, angezeigt sind. Blumenbergs Antwort auf die Frage, wie man es mit mystischen Begriffen und absoluten Metaphern halten solle, bleibt in der Schwebe. Seine Überlegungen sind einerseits kritisch gemeint; wenn das Mystische, wie Blumenberg im Hinblick auf die Schlussparagraphen von Wittgensteins Tractatus festhält, »das ganz und gar Heterogene« ist, das noch nicht einmal berührt, geschweige denn ausgesagt werden könne,4 so bewegt man sich, absolute Metaphern bildend, außerhalb der rationalen Kontrolle. Nun kann alles Mögliche gesagt werden, zum Beispiel, dass die Geschichte eine Mühle sei, in der die Lebendigen zu arbeiten glauben, während die Geister die Arbeit verrichteten – ein Beispiel, das Blumenberg aus den Tagebüchern Friedrich Hebbels zitiert.5 Andererseits ist Blumenberg, wie 1 Hans Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2007, S. 61–62. 2 Ebd., S. 75. 3 Ebd., S. 65. 4 Ebd., S. 103. 5 Ebd., S. 62.

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man auch schon aus seinen frühen Arbeiten weiß, von der Unumgänglichkeit des metaphorischen, auch absolut metaphorischen Sprechens und Denkens überzeugt. Wenn der Begriff nicht alles vermag, »was die Vernunft verlangt«,6 so müssen Metaphern einspringen; offenbar verlangt die Vernunft, dass auch über so etwas wie ›die Geschichte‹, ›das Sein‹ oder, um die Reihe fortzusetzen, ›die Sprache‹, ›den Raum‹, ›die Zeit‹ noch zu sprechen und nicht nur zu schweigen sei. Wenn es jedoch »die Vernunft« ist, die das verlangt, so lässt sich das Unbehagen, das man gegenüber absoluten Metaphern empfinden mag, nicht allein durch Sprachkritik auflösen. Dann müssten absolute Metaphern sich kritisch beurteilen lassen, kritisch im Wortsinne, also derart, dass man Sinnvolles und Unsinniges an ihnen unterscheiden kann und mit ihrer Kritik zurück auf den Begriff kommt. Blumenberg zieht eine solche kritische Beurteilung metaphorischen Sprechens nicht in Betracht; daran hindert ihn seine Annahme, dass Begriffe, die sich referentiell nicht einlösen lassen, als Grenzfälle des Begrifflichen außerhalb der Rationalität stünden. Diese Annahme ist freilich nicht zwingend; selbst wenn das Fehlen referentieller Anschaulichkeit, das mit solchen Begriffen einhergeht, zum absolut metaphorischen Sprechen motiviert, muss ein von Blumenberg »mystisch« genannter Begriff, auch wenn er Grenzfall des Begrifflichen ist, ein Begriff sein. Er muss sich, indem man die sprachlichen Ausdrücke, die für ihn stehen, betrachtet und klärt, verständlich machen und als Möglichkeit des Denkens erläutern lassen. Die von Blumenberg »mystisch« genannten Begriffe können dann so mystisch nicht sein.

2. Die Schwierigkeit mit Begriffen, die absolute Metaphern anziehen, lässt sich am Begriff der Geschichte besonders gut veranschaulichen; einerseits ist sowohl die absolut metaphorische Verwendung von ›die Geschichte‹ als auch die Kritik an dieser Verwendung reich und vielfältig ausgeprägt, und andererseits würde man kaum auf den Begriff ›der Geschichte‹ verzichten wollen. Warum soll die exzessiv metaphorische Verwendungen eines Ausdrucks gegen den Begriff, für den er steht, sprechen – vorausgesetzt, dass er wirklich für einen Begriff steht und darin ausweisbar ist? Das ist nicht zuletzt eine philosophie-interne Frage, denn bekanntlich war der metaphorische Überschwang im Hinblick auf die ›Geschichte‹ vor allem eine affaire philosophique. Sofern diese die Welt und das Leben in ihr nicht unberührt ließ, konnte ein Kritiker der philosophischen Geschichtsmetaphorik, Odo Marquard, freilich aus gutem Grund fordern, nachdem die Geschichtsphilosophen die Welt »nur verschieden verändert« hätten, komme es »darauf an, sie zu verschonen«.7 Zur Verdeutlichung mag eine kleine Skizze der von Marquard und anderen kritisch betrachteten Gedankenformation hilfreich sein. In der Folge oder Nachfolge Kants, der mit seinen Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht einen geschichtsphilosophischen Anfang gemacht hatte, entstanden Großkonstruktionen eines 6 7

Ebd., S. 11. Odo Marquard: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973, S. 13.

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allumfassenden Prozesses, der ›Geschichte‹ oder ›Weltgeschichte‹, denen es vor allem auf den Gesamtsinn dieses Prozesses ankam, darauf, dass es, wie Hegel formuliert, »in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen« sei.8 Auch wenn es für diese Überzeugung verschiedene Motive gibt, liegt ein wichtiges, um nicht zu sagen: das wichtigste, in der Absicht, die Bedeutung der Vernunft, und das heißt wiederum: der Philosophie in diesem Prozess zu erweisen. Wie Hegel festhält, sei die »Frage, was die Bestimmung der Vernunft an ihr selbst« sei, gleichbedeutend damit, wie »die Vernunft in Beziehung auf die Welt genommen« werde, und das wiederum falle »mit der Frage zusammen, was der Endzweck der Welt« sei.9 Sofern ›die Philosophie‹ das aktuale Philosophieren ist, sieht sie den bisherigen Weltprozess auf sich zulaufen und blickt voraus, falls noch etwas von der Realisierung des »Endzwecks« aussteht. Dieser Blick aus dem weltgeschichtlichen Zentrum gegenwärtigen Denkens zurück und voraus bleibt auch beherrschend, wenn die weltgeschichtliche Diagnose weniger günstig ausfällt, zum Beispiel so, dass die Vernunft, wie bei Marx, einen besonderen weltgeschichtlichen Akteur, nämlich das Proletariat, braucht, um wirklich zu werden, oder auch so, dass der Blick auf ›die Geschichte‹ sich, wie bei Adorno, verdunkelt, weil die endliche Verwirklichung der Vernunft ganz ausfällt. Der weltgeschichtliche Blick bleibt in Heideggers Rückblick auf eine alles Denken und Wissen ermöglichende Anfangserfahrung in Kraft, die schon bald verstellt und vergessen worden sei und sich, nicht zu planen, nicht zu initiieren, sondern höchstens im Warten vorzubereiten, anders anfänglich neu ereignen müsse, um die spätestens seit dem vierten vorchristlichen Jahrhundert andauernde Weltnacht zu erleuchten, vielleicht sogar zu beenden. Im Zusammenhang dieser seinsgeschichtlichen Version der Geschichte oder Weltgeschichte finden sich klarerweise reiche Belege für den von Blumenberg angedeuteten absolut metaphorischen Gebrauch von »Sein«. Diese Skizze ist nicht geschichtlich gemeint, zumindest nicht im Sinne des skizzierten Geschichtsverständnisses; es geht nicht darum, ein Kapitel Philosophiegeschichte unter dem Gesichtspunkt der Geschichtsphilosophie zu skizzieren und dies geschichtsphilosophisch, also im Sinne einer geschichtlichen Standortbestimmung zu tun – als ob die Zeit der Geschichtsphilosophie ›hinter uns‹ läge und wir nun, befördert durch die Einsichten von Kritikern der Geschichtsphilosophie wie Burkhardt, Löwith, Popper, Marquard und Lyotard, in der Phase eines post-geschichtsphilosophischen Denkens angekommen seien. Wer will behaupten, dass geschichtsphilosophische Gedankenfiguren ›endgültig‹, selbst ›mehr oder weniger‹ vorbei sind? Und wer will hinreichend gute Argumente dafür haben, dass die neuen Varianten dieser Gedankenfiguren ›regressiv‹, ›überholt‹ und ›nicht mehr zeitgemäß‹ sind? Wer legt das Zeitgemäße fest? Kann das Zeitgemäße überhaupt ein sachliches Kriterium für die Beurteilung einer philosophischen Position sein? Überzeugender als eine geschichtsphilosophische Einordnung der Geschichtsphilosophie sollte G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832–45 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band 12, Frankfurt/M. 1970, S. 20. 9 Hegel, Philosophie der Geschichte, Werke 12, S. 29. 8

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die Klärung des für Geschichtsphilosophien charakteristischen Geschichtsverständnisses sein; es könnte zu einer ersten Klärung dessen führen, was Geschichte im absolut-metaphorischen Sinne ist. Versteht man die Geschichte als einen Prozess im skizzierten Sinne, ist sie zunächst durch Sukzession bestimmt; sie ist ein Verlauf, bei dem sich verschiedene Phasen als frühere und spätere unterscheiden lassen. Das steckt bereits im Wort ›Prozess‹ selbst, dessen lateinischer Vorfahre, processus, das Fortschreiten, das Vorwärtsgehen, bedeutet. Man sollte das Prozedieren in diesem Sinne nicht mit Fortschritt oder Verfall gleichsetzen; es ist eine beidem gegenüber neutrale Bestimmung, die beides als mögliche Deutungen zulässt; ein Prozess kann fortschrittlich sein, indem er, in welcher Hinsicht auch immer, zum Besseren führt, oder ein Verfallsprozess, in dem etwas, was auch immer, zerfällt und vergeht. Von der Geschichte im Sinne eines sukzessiven Geschehens kann freilich nur die Rede sein, wenn dieses Geschehen außerdem bestimmt ist; es muss einen bestimmten Inhalt haben, von dem her es bei aller Diversität als dieses eine, alles umfassende Geschehen verstanden werden kann. Mit Hegel müsste man »die Vernunft« als diesen Inhalt verstehen, mit Marx die lebendige Arbeit, mit Heidegger das »Sein«. Entsprechend lässt sich die geschichtsphilosophische Geschichte durch ihren Inhalt kennzeichnen; sie ist Vernunftgeschichte, Arbeitsgeschichte oder Seinsgeschichte. Dass die Geschichte einen Inhalt hat, heißt nicht, alles, was geschehen ist oder geschieht, müsse direkt von diesem bestimmt sein. Aber nur, sofern es überhaupt von diesem bestimmt ist, hat es geschichtliche Bedeutung; alles was nicht diesem Inhalt zugeordnet werden kann, ist geschichtlich ohne Belang. Wenn die Geschichte derart ein einheitlicher, inhaltlich bestimmter Prozess ist, muss sie, und das ist ihre dritte und letzte Bestimmung, in sich geschlossen und darin einheitlich sein. Das heißt nicht, man könnte ihren Anfang und ihr Ende bestimmen. Die Anfänge dessen, was man ›die Geschichte‹ nennt, können sich in dunklen Frühzeiten verlieren, und ihr Ende, wenn sie je endet, kann in unbestimmt ferner Zukunft sein. Die Geschlossenheit der Geschichte liegt vielmehr darin, dass sie in sich war, sein wird und also ist, was sie ist, ein Geschehen ohne wirkliche Überraschungen. Was an ihrem Anfang war, mag sich entwickeln, und es mag sich im »Endzweck« der Geschichte vollenden; die Entwicklung mag durch Verzögerungen, Beschleunigungen, durch Rückschritte und Fortschritte bestimmt sein. Die Geschichte kann ebenso ein sich in verschiedenen Formen vollziehender Niedergang sein, eine Abirrung, zum Beispiel Seinsvergessenheit in verschiedenen Varianten. Aber immer ist sie dann diese eine Seinsgeschichte, und sie lässt sich als diese ganz überblicken, so lange sie die Geschichte ist, die sie ist. Wenn das eine angemessene Charakterisierung der geschichtsphilosophisch verstandenen Geschichte ist, lässt sich auch die Bedeutung des Metaphorischen für dieses Verständnis der Geschichte verstehen. Spricht man von ›der Geschichte‹, so ist das noch vor allen absolut metaphorischen Verwendungen des Ausdrucks insofern eine Metapher, als hier die Struktur einer einzelnen Bewegung auf das Weltgeschehen zu allen Zeiten und im Ganzen übertragen worden ist. So entsteht, absolut metaphorisch, ein neuer Kontext, sogar der Kontext aller Kontexte, dessen Beweggrund, Wesen, Substanz oder was auch

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immer ›die Geschichte‹ ist. Unmetaphorisch gesehen, ist es hingegen nur die einzelne, besondere und in ihrer Besonderheit bestimmbare Bewegung, die einen Fortgang hat und bei der so auch besondere Bewegungsphasen im Sinne eines ›vorher‹ und ›nachher‹, eines ›früher‹ und ›später‹ unterschieden werden können. Außerdem ist jede besondere Bewegung in nachvollziehbarer Weise bestimmt, und zwar als Bewegung von etwas, das entweder sich bewegt oder bewegt wird; was derart in Bewegung sein kann, ist ein Lebewesen oder ein Ding. Und schließlich kann eine solche Bewegung wahrhaft einheitlich und geschlossen sein. Indem man ihren Anfang und ihr Ende benennt, bestimmt man einen Prozess oder Verlauf als eine Bewegung. Dabei ist das Ende wichtiger als der Anfang, wenn man unter dem Ende nicht das bloße Aufhören oder Abbrechen versteht, sondern das Ziel oder den »Endzweck«. Allein im Hinblick auf das Ziel lässt sich nämlich sagen, ob eine Bewegung einen Sinn hat, und, wenn ja, ob ihr Sinn sich erfüllt oder nicht. Dabei gehören die drei genannten Bestimmungen zusammen. Nur als Bewegung von etwas ist ein Verlauf eine Bewegung, und nur, wenn es einen Verlauf gibt, kann etwas in Bewegung sein. Beides wiederum ist eine Bewegung nur, sofern es durch Anfang und Ende begrenzt und darin geschlossen ist. Das sind aristotelische Selbstverständlichkeiten, aber keine Trivialitäten. Mit ihnen zeigt sich, dass zwar jede besondere Bewegung, nicht aber die Geschichte so verstanden werden kann, wie es die drei genannten Charakteristika erfordern würden. Weil die Geschichte keine besondere und begrenzte Bewegung ist, ist sie keine zielgerichtete, durch etwas Sichbewegendes oder Bewegtes bestimmte Bewegung, die sich in voneinander unterscheidbaren sukzessiven Phasen vollzieht; sie ist weder eine Handlung noch ein Naturvorgang – das waren die beiden Möglichkeiten einer Bewegung im skizzierten Sinne, einer κίνησις, die Aristoteles vorgesehen hatte. In geschichtsphilosophischen Konzeptionen wie denen von Kant und Hegel ist das sogar berücksichtigt. Im Sinne eines möglichen Endzwecks der Geschichte argumentiert Kant einerseits mit der teleologischen Verfassung der Natur, die, »selbst im Spiele der menschlichen Freiheit, nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre«,10 und setzt andererseits darauf, dass die einen allgemeinen Völkerbund verhindernden Kriege alle instabilen Verhältnisse sukzessive auflösen und so »endlich einmal« zu einem weltbürgerlichen Zustand führen können.11 Das ist schon sehr nah an Hegels »List der Vernunft«, die »die Leidenschaften für sich wirken läßt« und so »aus dem Besonderen und Bestimmten und aus dessen Negation« als das »Allgemeine resultiert«.12 Demgegenüber hat die Skepsis leichtes Spiel: Was ist, wenn in der kriegerischen und katastrophalen Negation des »Besonderen« das Allgemeine fehlt? Das heißt nicht, ein weltbürgerlicher Zustand, wie Kant ihn entwirft, sei nicht erstrebenswert. Aber um diesen auf nachvollziehbare Weise zu denken, muss man ihn nicht als Endzweck der Geschichte verstehen. Dass er nicht unmöglich sei, muss nicht heißen, dass er sich aus dem Wirken Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 408; Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischeidel, Frankfurt/M. 1964, Band 11, S. 31–50, S. 48. 11 Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte, A 400; Werke 11, S. 42–43. 12 Hegel: Philosophie der Geschichte, Werke 12, S. 49. 10

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der Natur in der menschlichen Freiheit ergibt und durch das blutige Dauerexperiment der Geschichte schließlich erreicht wird. Es könnte eine Situation eintreten, in dem klar würde, dass das Überleben der Menschheit von ihm abhängt. Die Einsicht in diese Situation wäre höchstwahrscheinlich situativ evident und also unabhängig von jeder zu ihr führenden geschichtlichen Entwicklung.

3. Die entwickelten metaphernkritischen Überlegungen sollten nicht zeigen, dass es sinnlos sei, von ›der‹ Geschichte zu sprechen. Sie sollten nur ein rational einlösbares, nicht mehr geschichtsphilosophisches Verständnis der Geschichte vorbereiten. Wenn sie dazu wirklich geeignet sind, müsste ein solches Verständnis sich im Kontrast zu den Charakteristika der geschichtsphilosophisch konzipierten Geschichte verständlich machen lassen. Geschichte müsste demnach nicht durch Sukzession, nicht durch einen bestimmten Inhalt und nicht durch Geschlossenheit bestimmt sein. Dann wäre für sie kein Nacheinander charakteristisch, sondern ein Nebeneinander, sie hätte viele verschiedene Inhalte, und sie wäre in eigentümlicher Weise offen. Von diesen Charakteristika dürfte das zuletzt genannte am leichtesten zu erläutern sein. Geschichte, wie man sie erfährt, hat keinen Anfang und kein Ende, und deshalb kann sie auch nicht als ein Ganzes betrachtet werden; man kann und muss deshalb auch nicht über ›die‹ Geschichte wie über eine allumfassende Bewegung sprechen, sondern kann sich auf Ausschnitte beschränken, die wiederum mehr oder wenige unscharfe Ränder haben können. Jede geschichtliche Betrachtung muss demnach am Besonderen und Einzelnen ansetzen. Was man jetzt noch ›das Ganze‹ der ›allgemeinen‹ Geschichte nennen könnte, wäre das Gesamt aller möglichen Besonderheiten, und damit etwas, das niemals gegeben ist. Entsprechend ist das Allgemeine, das mit dem Ausdruck ›die Geschichte‹ genannt ist, das Mögliche, in dem es das Besondere und Einzelne geben kann. Die Erfahrung dieses Möglichen wäre gleichbedeutend damit, etwas in bestimmter Weise, nämlich geschichtlich zu betrachten. Was das heißt, lässt sich zusammen mit der Frage nach den Inhalten der Geschichte klären. Grundsätzlich kann alles ein geschichtlicher Inhalt sein; durch bekannte Ausprägungen von Geschichte – politische Geschichte, Sozialgeschichte, Kunst- und Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Religionsgeschichte, Philosophiegeschichte – ist das hinreichend belegt. Aber nichts von alledem ist als das, was es ist, geschichtlich. Dazu wird es erst, wenn es die Erscheinungsbedingungen für das Geschichtliche erfüllt und, indem es sich unter diesen zeigt, auch entsprechend verstanden werden kann. Welche Bedingungen das sind, lässt sich zunächst mit einem Hinweis auf Wortbedeutungen klären. Das Wort ›Geschichte‹ kommt von ›schicken‹, was wiederum mit ›geschehen‹ verwandt ist. Es bezeichnet zunächst das, was sich »durch höhere Schickung« ereignet, später allgemein das, was geschieht.13 Nun ist nicht alles, was geschieht oder 13

Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Band 5, Leipzig 1897, S. 3857–3866.

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geschehen ist, geschichtlich. Als geschichtlich erweist sich etwas erst dadurch, dass es als Gegenstand einer besonderen Erforschung und Erkundung entdeckt wird, die klären will, ›wie es gewesen ist‹. Das wiederum ist nur erforderlich, wenn man das nicht genau weiß, weil die zu klärende Sache nicht mehr direkt zugänglich ist, sondern allein aus sekundären Quellen – Zeugnissen, Dokumenten, Überresten und ähnlichem – erkennbar, deren Zuverlässigkeit freilich nicht unbezweifelbar ist. Schon Thukydides beklagt, wie schwierig es sei, jedem überlieferten Zeugnis zu vertrauen, und versichert zugleich, was ihn bewege, sei allein die Suche nach der Wahrheit.14 Geschichte, so verstanden, ist weder Dichtung noch bloße Erzählung; für beides hat Thukydides nur Verachtung übrig; sie ist die Feststellung faktischen, aber nur indirekt zugänglichen Geschehens.15 Eine solche Feststellung, wie Thukydides sie versteht, kann nur eine Zusammenstellung sein. Quellen und Zeugnisse müssen gesammelt werden; man muss sie auswerten und sie bewerten, also daraufhin befragen, wie aufschlussreich sie sind. Schon dies wird kaum in der isolierten Beschäftigung mit einzelnen Zeugnissen möglich sein; man muss sie aufeinander beziehen, miteinander vergleichen und man muss das, was sie bekunden oder berichten, in seinem Stellenwert bestimmen. Sie müssen in einen Zusammenhang gestellt werden, der sich, wie ein Puzzle, das nicht vorgegeben ist, erst aus den gesichteten Teilen ergibt und, da er nicht einfach vorgefunden wird, sondern erarbeitet werden muss, mehr oder weniger reflektiert ist. Dieser Zusammenhang, versehen mit dem Index der Realitätsannahme oder Realitätsbehauptung, ist die jeweilige Geschichte oder genauer: das Geschichtliche, wie es sich in der Geschichtsschreibung zeigt. Mit diesem Wort ist ein weiteres Merkmal im Spiel, das für die Erkundung des Geschichtlichen wesentlich ist. Wenn es darum gehen soll, ›wie es gewesen ist‹, muss diese Erkundung schriftlich sein. Nur als schriftlich fixierter Zusammenhang kann das Geschichtliche hinreichend genau bestimmt sein und damit gegen die Ungenauigkeit des Weitergeredeten und Weiterredens gesichert werden, das, wenn man Thukydides folgt, sich lieber an »das Naheliegende«, τὰ ἑτοῖμα , hält, also an das, was an Geschichten im Umlauf ist.16 Demgegenüber liegt das geschichtlich Erkundete, das sich der Wahrheitssuche verdankt, in der Ordnung des Geschriebenen; in dieser Ordnung, die auf Lateinisch ›textus‹ heißt, ist es festgeschrieben.17 Es gehört ins Gewebe der Sache, das sich mit der gewebten Darstellung zeigt. Von hier aus lässt sich endlich das dritte, vorhin an erster Stelle genannte Merkmal der Geschichte, genauer des Geschichtlichen, erläutern, dies also, dass für die Geschichte kein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander wesentlich sei. In der Ordnung des geschichtlichen Textes ist alles, was zu dieser gehört, nebeneinander da; jedes Moment eines Texts kann jederzeit auf jedes bezogen und so im Zusammenhang verstanden werden. So kann Thucydides, with an English Translation by Charles Forster Smith, in four volumes, volume I, History of the Peloponnesian War Books I and II, Cambridge Mass., London 1919, revised edition 1928, I, S. 20: ἡ ζήτησις τῆς ἀληθείας. 15 Thucydides I, S. 21. 16 Thucydides I, S. 20. 17 Zum Begriff des Textes vgl. Günter Figal: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010, S. 161–164. 14

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freilich auch schon der Geschichtsschreiber bei der Zusammenstellung seiner Zeugnisse und Quellen und damit des Geschehenen vorgegangen sein. Nichts nötigt dazu, das Geschehene ›der Reihe nach‹ aufzuschreiben; was später geschehen ist, zum Beispiel als spätere Folge eines Früheren, kann zu dessen Verständnis beitragen, so dass man es sinnvollerweise bereits bei der Darstellung des Früheren erwähnt. Und selbst wenn man sich an die zeitliche Ordnung hält, steht das Frühere im Text neben dem Späteren; es ergibt sich nicht erst aus diesem, sondern ist im Gesamtbild des Textes zusammen mit dem Späteren da. Chronologie, ist anders gesagt nur im λόγος möglich, was wiederum nur ein anderes Wort für die als ›Text‹ bezeichnete Sache ist. Das Gesamtbild des Textes ist kein vollständiges Bild. Wie sollte es das sein? Selbst wenn alle verfügbaren Zeugnisse berücksichtigt worden wären, hätte man damit nicht das, ›was gewesen ist‹, selbst, sondern lediglich eine Verkürzung. Der Text weist in ein unendlich differenziertes, in seinen Einzelheiten unerschöpfliches Geschehen, ein unendlich dichtes Gewebe unendlich vieler Einzelheiten, das sich als Textur bezeichnen lässt.18 Jedes texturale geschichtliche Moment hätte zu einem Textmoment werden können, während die Unendlichkeit und Dichte der Textur in keinem Text direkt darstellbar ist. Sie ist freilich bemerkbar, allein schon darin, dass die begrenzte Anzahl von Zeugnissen und Quellen, die eine geschichtliche Darstellung aufnimmt, auf reichere und differenziertere Darstellungsmöglichkeiten verweisen. Außerdem lässt jedes Moment eines Textes die Frage nach möglicher Differenzierung zu; auch wenn man nicht alles genauer wissen möchte und auch nicht alles genauer wissen muss, steht die Möglichkeit des Genaueren und Differenzierteren mit jedem geschichtlichen Text offen. Auch das ist eine Offenheit dessen, was man die Geschichte nennt.

4. Mit diesen Erläuterungen zu dem, was man ›Geschichte‹ nennt, hat sich die Bedeutung des Ausdrucks verschoben. ›Geschichte‹ ist nun kein homogener, durch einen Inhalt bestimmter und geschlossener Prozess mehr – überhaupt kein Prozess, so dass es auch wenig Sinn hätte, die inhaltliche Homogenität ein wenig pluraler, die Geschlossenheit ein wenig offener zu denken. Der Ausdruck ›Geschichte‹ bezieht sich nicht mehr auf etwas, von dem man annimmt, dass es, wie auch immer, da sei, so dass man sich auf es beziehen könnte. Er bezeichnet aber auch keine bloße gedankliche Vorstellung von etwas, unter deren Einfluss man etwas in einer bestimmten Weise sieht. Vielmehr steht der Ausdruck ›Geschichte‹ für eine bestimmte Möglichkeit des Sichzeigens und, mit dieser korreliert, für die Möglichkeit, etwas in dieser Weise des Sichzeigens zu verstehen und zu erkunden. Geschichte ist, anders gesagt, die phänomenale Möglichkeit des geschichtlich Erscheinenden in einem geschichtlichen Erscheinen, wie sie mit Thukydides und im Anschluss an ihn beschrieben wurde.

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Zum Begriff der Textur vgl. Figal: Erscheinungsdinge, S. 222–230.

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Man kann das ›Geschichte‹ Genannte, wenn es derart verstanden wird, einen Begriff nennen, wenn man darunter versteht, was das Wort selbst sagt: etwas Einbegreifendes, ein Bezirk, der keine bestimmte Menge von Entitäten ist, sondern ein offener Bezirk, der etwas einbegreift, indem er es in der eigentümlichen Bestimmtheit, die er selbst ist, erfahrbar sein lässt.19 Das muss nicht auf Dauer sein; etwas, das im Begriff der Geschichte geschichtlich erscheint, kann auch anders erscheinen. Geschichtlich denken, geschichtlich arbeiten, das heißt: sich im Begriff der Geschichte halten, der als Begriff nicht gleichbedeutend mit dem Ausdruck ›Geschichte‹ ist, sondern auch durch andere, dem Ausdruck ›Geschichte‹ äquivalente Ausdrücke angezeigt werden kann. Der Begriff, den der Ausdruck ›Geschichte‹ anzeigt, ist nicht referentiell einlösbar; wie sollte eine ermöglichende Möglichkeit des Phänomenalen selbst phänomenal sein? Es gibt nichts, worauf man zeigen könnte und von dem sich sagen ließe, dies sei ›die Geschichte‹. Der Versuch, die Geschichte als Phänomen, statt als Begriff im Sinne eines phänomenalen Bezirks zu verstehen, führt zwangsläufig zu Metaphern, die aus dem Phänomenalen herübergeholt sind und auf das Gemeinte übertragen werden. Dann erscheint die Geschichte, wie gezeigt, als allumfassende Bewegung, die, um als Bewegung gefasst werden zu können, geschlossen und inhaltlich homogen stilisiert werden muss. Doch in seiner referentiellen Uneinlösbarkeit ist der Begriff der Geschichte nicht im Sinne Blumenbergs »mystisch«. Es lässt sich sagen, was er ist, wenn man ihn von dem her, was sich in ihm erfahren lässt, beschreibt und so als dessen Begriff versteht. Ist diese Beschreibung selbst geschichtlich? Ja, unter Umständen, und zwar genau dann, wenn sie im Begriff der Geschichte erfolgt und sich in diesem in den Zusammenhang von etwas, das geschehen ist, stellt. So lässt sich die Philosophie ohne Zweifel beschreiben. Sie kann etwas Geschichtliches sein, aber sie geht darin nicht auf; philosophisch muss man nicht im Begriff der Geschichte denken, sondern kann diesen Begriff auch ungeschichtlich klären – als Begriff und als den bestimmten Begriff, der er ist. Das ist von Vorteil, philosophisch und geschichtlich und auch für die Welt, die es, um noch einmal auf Marquard zu kommen, vor der Philosophie zu verschonen gilt. Wenn die Philosophie als solche nicht geschichtlich ist, was, wie gesagt, eine Betrachtung der Philosophie im Begriff der Geschichte nicht ausschließt, so muss die Geschichte auch nicht philosophisch sein – was sie nur sein müsste, wenn die Philosophie in der Geschichte aufginge und zugleich bleiben sollte, was sie wesentlich ist. Wenn die Geschichte nur Geschichte ist und die Philosophie nur Philosophie, ist das besser für beide und ebenso für die Welt. Man kann sie philosophisch verschonen.

Zu ›Begriff‹ in diesem Sinne vgl. Günter Figal: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015, S. 239–278. 19

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Literatur Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt/M. 2007. Günter Figal: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie, Tübingen 2010 – Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Band 5, Leipzig 1897. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832–45 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band 12, Frankfurt/M. 1970. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, A 408; Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischeidel, Band 11, Frankfurt/M. 1964. Marquard, Odo: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M. 1973. Thucydides: History of the Peloponnesian War, Books I and II with an English Translation by Charles Forster Smith, in four volumes, volume I, Cambridge Mass., London 1919, revised edition 1928.

Metamorphosen des historischen Apriori Karl-Heinz Lembeck (Würzburg)

1. Kein Apriori der Geschichte, sondern geschichtliches Apriori Der Begriff des Apriori ist offenbar eine Art Generalschlüssel für alle möglichen Tore, die ins Gebiet philosophischer Fragen sui generis führen. Wo immer es um das Proteron, um das Frühere, um Ursprungsforschung oder Begründungsdiskurse geht, da steht auch das Apriori-Problem an zentralem Ort. Kant suchte diese universale Prominenz zu präzisieren, indem er das Apriori mit dem einschränkenden Merkmal der ›Unabhängigkeit von der Erfahrung‹ versah. Es war dies, wie wir wissen, eine sehr nachhaltige Einschränkung. Denn seither gilt das Apriori vorzugsweise als Sigel für solches, was als Kandidat für die Aufnahme in den Kreis der notwendigen Geltungsbedingungen unserer Erfahrung taugt, dabei jedoch selbst nicht der Erfahrung entstammt. Aber so maßgebend Kants Apriori auch auftritt, so ist es doch frühzeitig diversen Lesarten ausgeliefert, die stets ebenso viele Anhänger wie Gegner hatten. Darum konnte der Kantianer Otto Liebmann bereits 1876 in bitterem Ton unter dem Titel »Die Metamorphosen des Apriori« vermeintlich desaströse Zustände diagnostizieren, die sich dem Streit zwischen metaphysisch-idealistischer und empiristisch-realistischer Auslegung des Kantischen Apriori verdankten, und die er allesamt mit der Attitüde stolzer Kant-Orthodoxie zurückwies.1 – Hätte der gute Mann gewusst, was dem Apriori erst im 20. Jahrhundert blüht, er hätte den Kampf resigniert aufgegeben. Die hier angesprochene Ambivalenz der Rede vom Apriori wird nun an keiner Formel deutlicher, als an dem mysteriösen Oxymoron »Historisches Apriori«. Man segelt damit offenbar zwischen Skylla und Charybdis; denn wer so redet, der kann entweder die Apriorisierung des Geschichtlichen, oder aber ganz anders: die Historisierung des Apriori meinen. Und beide Varianten sind gleichermaßen problematisch. Unser Kolloquium will nun ausdrücklich dafür werben, auf eine apriorische Geschichtsphilosophie zu verzichten. Ich verstehe das so, dass gewiss die erstgenannte Lesart, nicht aber auch schon die zweite verboten werden soll. Und tatsächlich ist es ja bereits seit langem beobachtbar, wie die Apriorisierung der Geschichte von der Historisierung des Apriori abgelöst wird. Schon das 19. Jahrhundert lieferte maßgebliche Voraussetzungen dafür, dass an die Stelle eines geschichtsphilosophischen Apriori ein vielgestaltiges und gelegentlich fragiles Apriori treten konnte, das – jedenfalls in seiner provokativsten Variante – ein geschichtliches Philosophieren mit gleichwohl noch immer transzendentalphilosophischem Anstrich erlaubte. Man darf vielleicht pointierter sagen: an die Otto Liebmann: Die Metamorphosen des Apriori, in: ders.: Zur Analysis der Wirklichkeit, Straßburg 1876, S. 191–240; 41911, S. 208–258. 1

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Stelle der philosophischen Suche nach dem Sinn der Geschichte tritt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vorzugsweise die Frage nach dem Sinn für Geschichte. An die Stelle spekulativer Geschichtsphilosophie tritt die philosophische Historik, die sich eben vor allem als Epistemologie der Geschichte und damit der Geschichtswissenschaft verstand – nun ganz im Sinne einer »Kritik der historischen Vernunft«, wie sie exemplarisch Dilthey zu geben versucht hat. Eine solche Kritik war natürlich therapeutisch motiviert. Und das hatte mit der inflationären Konjunktur des historischen Sinns – einem Kant wohl noch unbekannten Phänomen – zu tun. Denn wo ein spekulativ verengter Geschichtsbegriff à la Hegel gewissermaßen an Sinnüberlastung zugrunde ging, da wirkte umgekehrt ein wissenschaftlich dominierter Geschichtsbegriff eben wegen seiner unkoordinierten Materialfülle zweifelhaft. Bereits Nietzsches Warnung vor einer Überhistorisierung des Lebens war diesbezüglich treffsicher.2 Vielleicht hatte er für jene »Krankheit«, wie er es genannt hat, keinen praktikablen Heilungsvorschlag; aber er kann sicher als wichtiger Zeuge für die Herausforderung neuer Formen geschichtsphilosophischen Denkens dienen, die bis in unsere Tage sich weniger am Begriff des Apriori als an dem der Geschichte abzuarbeiten suchen. – Und so klingt auch noch die Diagnose Heideggers aus einer frühen Freiburger Vorlesung ganz ähnlich, wo er konstatiert, dass »[d]as aufdringlichste Phänomen« welches »das Apriori bzw. die absolute Geltung, den Gegenstand der Philosophie, in Gefahr bringt, […] die Geschichte« sei. Dies gilt freilich nur, wie wir aus seinen weiteren Analysen dann erfahren, weil und solange Geschichte als objektiver Sachbestand und nicht als ursprüngliches Korrelat »selbstweltlichen« Daseins ins Spiel kommt.3 Mit Heidegger wäre darum bereits ein einflussreicher Verteidiger eines Verständnisses von Apriori benannt, das geeignet sein soll, es für den philosophischen Diskurs zu retten, ohne die Augen vor der Historisierung des Denkens verschließen zu müssen; das also in einem eminenten Sinne als geschichtliches verstanden werden kann. Andere mögliche Zeugen aus den Kreisen von Hermeneutik, Lebensphilosophie, Phänomenologie und sogar Neukantianismus könnten in diesem Zusammenhang leicht ergänzt werden. Und zumindest bei Husserl und den Neukantianern handelt es sich dabei um ein Apriori, das seine Geschichtsaffinität jedenfalls nicht um den Preis einer Verleugnung seiner transzendentalphilosophischen Herkunft gewinnt, sondern diese vielmehr unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts zu rehabilitieren sucht. Und dennoch – wer heute von historischem Apriori spricht, referiert damit in der Regel weniger auf den Stifter dieses Begriffs – m. W. Husserl –, als auf jenen einflussreichen Autor, der dem Begriff eine Art Zweitbedeutung zugesprochen und ihm erst damit KonFriedrich Nietzsche: Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), Kritische Studienausgabe in 15. Bänden, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin, New York 1988, Bd. 1, S. 279 ff. – Vgl. die eindrucksvollen Darstellungen zu Nietzsche bei Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1973), Frankfurt/M. 1991, bes. S. 426–483; Ders.: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, passim. 3 Vgl. Martin Heidegger: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (1920) (Gesamtausgabe 59) Frankfurt/M. 1993, S. 43 ff. 2

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junktur verschafft hat – auf Foucault. Das »historische Apriori«, in der Ordnung der Dinge eingeführt, wird wenig später in der Archäologie des Wissens in einer berühmten Definition als jener geschichtlich gegebene Geltungsrahmen bestimmt, der nicht als »Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern [als] Realitätsbedingung für Aussagen« verstanden werden soll. In strenger Abgrenzung vom formalen Begriff des Apriori handelt es sich hierbei um »eine rein empirische Figur«, die sich als die »Gesamtheit der Regeln« versteht, »die eine diskursive Praxis charakterisieren«.4 Das historische Apriori ist bei Foucault Inbegriff des Bedingungsgefüges für die Sagbarkeit der Dinge, das aus der Praxis des Sagens selbst erwächst. Es beschreibt somit kein formal Allgemeines, sondern eine je unhintergehbare Normativität des Faktischen. Abgesehen von der generellen Aversion, die Foucault namentlich der transzendentalen Phänomenologie gegenüber an den Tag legt, ist es nicht leicht (und soll darum auch gar nicht versucht werden) Rezeptionsverhältnisse etwa zwischen Husserl und Foucault darzustellen. Es ist jedoch offensichtlich, dass das historische Apriori, das Husserl bekanntlich in seiner Krisis-Schrift namhaft macht,5 jedenfalls von ganz anderer Art ist, als jenes bei Foucault. Es soll mir hier aber auch gar nicht um einen Vergleich gehen,6 sondern in erster Linie um den Versuch einer Rehabilitierung des transzendentalphilosophischen Anspruchs des Begriffs bei Husserl sowie darum, ob dieser Anspruch noch fruchtbar zu machen ist für erkenntnistheoretische Fragen zur Geschichte. Das historische Apriori meint bei Husserl einen seltsam hybriden Strukturbegriff, dessen interne Problematik ihm durchaus klar war, wie mehrere Formulierungen bezeugen.7 Ein merkwürdiges Ding ist das historische Apriori namentlich deshalb, weil es als Möglichkeitsbedingung für die Objektivität geschichtlichen Wissens gedacht und zugleich selbst ein je gehaltvolles »Geltungsgebilde« des solches Wissen generierenden Menschen ist. Diese Beobachtung erinnert an das von Husserl ebenfalls in der Krisis diskutierte Problem der »Paradoxie der Subjektivität«.8 Das taucht bekanntlich dort auf, wo die Erkenntnislogik die Subjektivität als transzendentalen Geltungsgrund von Objektivität entdeckt, wo also Subjekt und Objekt in einem konstitutionstheoretischen Sinne auseinander treten, wo die objektive Welt nur noch als korrelativer Sinnbestand einer Sinn stiftenden Vernunft vorkommt – wo jedoch gleichwohl jenes Subjekt notwendig selbst noch als welt4 Michel Foucault: Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt/M. 1981, S. 184 f. Vgl. Ders.: Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt/M. 1971, Einleitung. 5 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21976, bes. Beilagen II und III. 6 Einen solchen Vergleich hat jüngst Wouter Goris in recht ausführlicher Form vorgenommen und – vielleicht wenig überraschend – deutlich mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten gefunden: »Das historische Apriori bei Husserl und Foucault«, in: Quaestio 12 (2012), S. 291–341. 7 So konstatiert er die »sonderliche Frage«: »Indem wir methodisch das Apriori der Geschichte systematisch zur Erkenntnis bringen, ist das selbst eine Faktizität der Geschichte, setzt es nicht also das Apriori der Geschichte voraus?« Oder es heißt, dass das Apriori ein ideal Allgemeines sei, »das einerseits sich auf Menschen selbst als Objekte bezieht, andererseits ein Gebilde in Menschen, in uns, die wir es bilden«; und dass »historische Tatsachen« zwar »objektiv« genannt werden könnten nur »aufgrund des Apriori«, dass »das Apriori« selbst jedoch »historische[s] Sein« bereits voraussetze (Husserl: Krisis, S. 362 f.). 8 Husserl: Krisis, § 53, S. 183 ff.

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gebunden erscheint, manifestiert im faktisch situierten Menschen. Das Problem des historischen Apriori erweist sich offenbar als Teilaspekt, vielleicht sogar als zentraler Aspekt dieser Zusammenhänge. Es könnte mit folgenden Fragen weiter präzisiert werden: Lässt sich eine Struktur des transzendentalen Bewusstseins ausmachen, die erfahrungsermöglichend gleichwohl selbst nur als historisch-konkretes Gebilde auftritt? Könnte das Apriori selbst von historischer Gestalt sein, ohne deshalb bloß empirisch-kontingent zu sein? Wie ist es denkbar, dass Formalität und Faktizität einander im historischen Apriori kreuzen?

2. Materiales und/oder formales Apriori? Die Diskussion um diese Verhältnisse firmiert phänomenologisch unter der einschlägigen Alternative: formales und/oder materiales Apriori. Jedoch ist die Debatte schon älter. Sie wurde bereits im Schatten Kants angelegt und seither gepflegt. Sie geht einher mit deutlich psychologisierenden Lesarten des Kantischen transzendentalen Apriori. Also Lesarten, die namentlich für Husserl eigentlich unzumutbar waren, die aber auf Umwegen für sein eigenes Konzept des »historischen Apriori« wirksam wurden. Es waren dies Umwege, die von der psychologischen Kant-Interpretation über die Marburger Neukantianer bis hin zu den Pointen der genetischen Phänomenologie führten. Eine Skizze dieses Weges könnte etwa beim »relativen Apriori« in der Völkerpsychologie ansetzen, sie hätte Hermann Cohens genetisches Apriori mit der Konsequenz einer Art Kategorieninflation zu berücksichtigen,9 um schließlich in Natorps philosophischer Psychologie10 auf die genetische Struktur der Subjektivität zu stoßen, die in einem stets in die Vergangenheit absinkenden, vor einer apodiktischen Manifestierung wie auf der Flucht befindlichen Apriori – man könnte wohl sagen: in einem bewusstseinshistorischen Apriori gründet. Mit diesem Gedanken ist gerade Natorps Psychologie zu einer wirkmächtigen Schrift für die Geschichte des transzendentalphilosophischen Denkens im 20. Jahrhundert geworden. Bekanntlich hat dann auch Husserl auf diese Überlegungen mit Zustimmung reagiert, indem er die ehemals ›statische‹ Konzeption der Phänomenologie durch eine ›genetische‹ ersetzt, weil Konstitutionsfragen nur mit Rücksicht auf den intentionalgenetischen Horizont des Bewusstseins geklärt werden können. Und man weiß ja, dass sich in diesem Konzept einer Bewusstseinsgenesis dann tatsächlich der Kern des historischen Apriori bei Husserl finden lässt.11 Im Rahmen der Diskussionsgeschichte um Möglichkeiten und Sinn eines gewissermaßen »kontingenten«12 und insofern materialen Apriori zeigen sich also schon früh deutVgl. dazu Näheres bei Karl-Heinz Lembeck: Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994, §§ 1–3. 10 Paul Natorp: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (Tübingen 1912). Neu herausgegeben, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Sebastian Luft, Darmstadt 2013. 11 Vgl. Karl-Heinz Lembeck: Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie (Phaenomenologica 111), Den Haag 1988, bes. S. 70 ff. 12 Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (Husserliana XVII), Den Haag 1974, S. 32 ff. 9

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liche Tendenzen zu einer Relativierung der kantischen Position. Wenn daher noch 1930 etwa Moritz Schlick13 voller Empörung die phänomenologische Rede vom materialen Apriori zurückweist, so hat er offenbar nicht gesehen, dass er damit längst auf verlorenem Posten stand – sogar gegenüber vielen Kant-Interpretationen bereits des 19. Jahrhunderts. Aber wichtiger für uns ist nun die Frage, ob aus diesen Beobachtung zugleich schon ein Plädoyer für die Verabschiedung des ursprünglich maßgebenden formalen Aspekts im Apriori-Diskurs folgt. Doch dem ist – entgegen manchen Gerüchten14 – wohl nicht so.15 Zunächst muss man nämlich konstatieren, dass die hier geschilderte ›Vergeschichtlichung‹ des Bewusstseinsapriori nicht ohne weiteres mit der Bedeutung kompatibel ist, die der Begriff des materialen Apriori, zumindest in der Phänomenologie, trägt. In deren früher gegenstandstheoretischer Variante werden bekanntlich ontische Aprioris als Wesenssachverhalte diskutiert, die in ideierender Anschauung erschlossen und notwendigerweise material verstanden werden müssen.16 In der späteren transzendentalen Variante hingegen konsumiert das Apriori des Bewusstseins alle regionalen apriorischen Strukturen, insofern sich zeigt, dass ein solch ontisch-regionales Apriori stets als Korrelat eines »konstitutiven Apriori« auftritt; oder wie es auch heißt: insofern sich zeigt, dass dem »kontingenten Apriori« der Wesensgegebenheiten ein »formales Apriori« der urteilenderkennenden Subjektivität notwendig korreliert.17 Ist demnach die Rede vom materialen Apriori für die erste Variante maßgebend, bleibt sie für die zweite, die transzendentale Variante von Phänomenologie, zwar noch erlaubt, steht aber unter der Kuratel des formalen transzendentalen Apriori des Bewusstseins. – Die Herausforderung nun ist, zu klären, wie dann das historische Apriori, das doch explizit ein solches des transzendentalen Bewusstseins sein soll,18 überhaupt materiale Züge tragen kann; was es aber doch muss, wenn es ein historisches genannt werden will. Oder umgekehrt: Wäre die geschilderte Entwicklung der Apriori-Diskussion hin auf ein genetisches Verständnis eo ipso verbunden mit einer Verabschiedung ihres transzendentalen Anspruchs? Richtig ist wohl, dass Versuche einer gezielten Öffnung des Begriffs für empirische Lesarten ohne transzendentale Ambitionen um die formale Struktur des Apriori fürchten müssen, oder vielleicht besser: deren Überwindung feiern dürfen. So gesehen 13

Moritz Schlick: »Gibt es ein Materiales Apriori?« (1930), in: ders.: Gesammelte Aufsätze (1926– 1936), Wien 1969, S. 20–30. 14 Verbreitet z. B. in einer ansonsten aufschlussreichen Arbeit über das Lebenswelt-Apriori bei Husserl: Gerd Brand: Die Lebenswelt. Eine Philosophie des konkreten Apriori, Berlin 1971, z. B. S. 51 u. ö. 15 Selbst Schelers Verdikt, wonach »[d]ie Identifizierung des ›Apriorischen‹ mit dem ›Formalen‹ […] ein Grundirrtum der Kantischen Lehre« sei, besagt ja nicht, dass das Apriori keine formale Seite habe (Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik (1916), neu hg. von Chr. Bermes, Hamburg 2014, S. 80). 16 Vgl. Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1907) (Husserliana II), Den Haag 1950, S. 51. – Vgl. Karl-Heinz Lembeck: Art. »Wesensschau«, in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 655–659. Ders.: »Seinsformen. Spielarten des Ontologiebegriffs in der Phänomenologie Husserls«, in: H.-R. Sepp (Hg.): Metamorphose der Phänomenologie. Liber amicorum für Meinolf Wewel, Freiburg i.Br. 1999, S. 28–57. 17 Husserl: Formale und transzendentale Logik, S. 253; S. 33 f. 18 Ebd., S. 257.

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könnten sich ein Nichtkantianer wie Foucault vielleicht sogar mit frühen Nachkantianern wie Herbart oder dessen Schüler Moritz Lazarus einig sein: Nicht die vermeintlich ›reine Vernunft‹ konstituiert das Sein, sondern – wie Lazarus es völkerpsychologisch ausdrückt – eine im jeweiligen »Gemeingeist« »verdichtete«19 normative Ordnung. Dass sich gleichwohl normative Ordnungen, wie sie auch jenes Foucault’sche historische Apriori bezeichnet, immer schon »verdichtet« haben, wird dann freilich sehr unterschiedlich diskutiert. Denn ist es etwa bei Herbart der mit geradezu mathematischer Präzision ablaufende Mechanismus der Apperzeption, der den Geist »aus Vorstellungsreihen […] construirt«, wie es in seiner Psychologie heißt,20 ist es also eine psychologische Norm, die eine quasi historische begründet, welche dann als ›gewordenes‹ Apriori gilt – so verzichtet Foucaults Entdeckung ja gerade auf solche Begründungsversuche. Die normativen Ordnungen, von denen hier die Rede ist, sind selbst nicht nach Normen entstanden; es handelt sich um Struktursysteme, die sind, indem sie wirksam sind, ohne selbst auf eine legitimierende Herkunft ihres Wirksam-seins zu verweisen. Bernhard Waldenfels zieht darum eine Parallele zu Merleau-Pontys späterer, gewissermaßen ›entmachtender‹ Bestimmung des Subjekts als »hierarchisches System von Strukturen, die durch ein anfängliches ›es gibt‹ eröffnet werden«.21 Der Hinweis ist aufschlussreich, weil es sich bei dieser Passage aus Das Sichtbare und das Unsichtbare um eine Kritik an Husserls eidetischer Phänomenologie aus der Zeit der Logischen Untersuchungen handelt, in der einem vermeintlich reinen Bewusstsein noch materiale Aprioris gegenüber gestellt wurden, ohne dass jedoch das Bewusstsein selber schon als eine erfahrungsgeschichtliche Größe begriffen wird; also ohne dass es bereits als Inbegriff erfahrungsgeschichtlichen Fungierens verstanden würde. Dass das historische Apriori an dieser Stelle bei Husserl darum auch noch gar keine Rolle spielt, ist nicht überraschend. Dass es hingegen dort, wo es eine Rolle zu spielen beginnt, zugleich etwas über das erweiterte Selbstverständnis der transzendentalen Phänomenologie aussagt, kann man zeigen. Im Kontext der frühen eidetischen Ontologie ist die Subjekt-Objekt-Differenz noch maßgeblich, insofern ›alles, was es gibt‹ stets nur als Korrelat von subjektiven Auffassungsakten beschrieben werden kann; deren Inbegriff jedoch – das intentionale Bewusstsein – bleibt merkwürdig ort- und weltlos. Erst mit der weiteren Entwicklung des Begriffs des Transzendentalen ändern sich auch diese Verhältnisse. Die transzendentale Struktur des Subjekts wird nun ihrerseits ontologisch lesbar gemacht. Husserl sucht in den 20er Jahren unter dem Titel einer »universalen Ontologie« eine »Wissenschaft von den apodiktischen Notwendigkeiten« alles Seienden zu begründen, die das Transzendentale als 19 Moritz Lazarus: »Verdichtung des Denkens in der Geschichte«, in: Zeitschr. f. Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft II (1862), S. 54–62. Vgl. Ders.: Das Leben der Seele. Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze, 3 Bde, Berlin 1883, 1885, 1897; hier Bd. I, S. 330 ff. – Natürlich ist der Begriff ›Gemeingeist‹ nicht vorschnell mit der gleichlautenden Husserl’schen Variante zu identifizieren. Vgl. z. B. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II (Husserliana XIV), Den Haag 1973, S. 192 ff. 20 Johann Friedrich Herbart: Sämmliche Werke, hg. v. G. Hartenstein, Leipzig 1850 ff., Bd. V, S. 192. 21 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 21994, S. 302; vgl. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983, S. 523.

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ein Seiendes gleich mitumfasst, sofern dieses eben zur »Seinsart des Menschen gehört«.22 Transzendentalität gilt hier – wohlgemerkt – als Seinsmodus »des Menschen«. Besagte »universale« Ontologie umgreift also auch den transzendentalen Kern dieses menschlichen Seins, »das Sein der transzendentalen Subjektivität selbst«.23 Demzufolge wird die universale schließlich zur »transzendentalen Ontologie«.24 Das ›Transzendentale‹ wird für Husserl zuletzt also ontologisch, oder genauer: anthropologisch bestimmbar. »Es gibt« jenes Transzendentale – das muss man einräumen – hier zwar immer noch anders, als es anderes »gibt«; insbes. anders als konstituiertes Gegenständliches. Aber dennoch ist es eine bemerkenswerte Entwicklung, dass das »es gibt« des Transzendentalen ganz auf die Gestalt seines individuellen Auftritts restringiert wird, um es so als »kontingentes Apriori« zu verstehen. Wohl bleibt ihm das »formale Apriori« des Bewusstseinsstroms gewissermaßen als ›Bühne‹ jenes Auftritts noch vorgeordnet;25 doch ist der analytische Zugang zu dieser Form eben nur bei Gelegenheit seines Auftretens zu gewinnen. Vielleicht ist die Kritik Merleau-Pontys26 am transzendentalen Ansatz damit noch nicht ganz ausgeräumt, die sich daran stört, dass diese auftretende, »fungierende Intentionalität« im Rahmen der Aktphilosophie Husserls in ein theoretisches Gerüst gezwängt bleibt, insofern jedes Sinnereignis auf einen Sinngebungsakt zurück geführt wird. Aber wir müssen deshalb unsere Fragestellung nach fruchtbaren Lesarten des historischen Apriori nicht aufgeben. Denn der geschilderte Gedankengang verweist systematisch offenbar auf etwas, das uns hier weiterhilft: nämlich auf einen eigentümlichen doppelten Sinn von ›transzendental‹. Zunächst und ursprünglich in Anlehnung an Kantisches Gedankengut ist ›transzendental‹ auch bei Husserl ein methodischer Begriff, der die kalkulierende Organisation der Vernunft umschreibt, sofern sie konstituierend, also welterschließend fungiert. Darüber hinaus aber weist die ontologische Manifestation dieser Organisationsstruktur auf eine zweite Bedeutung hin, die man auch in anthropologischer Terminologie mit dem Scheler’schen Stichwort von der ›Weltoffenheit‹ des Menschen konnotieren könnte. Diese zweite Bedeutung ist sogar die fundamentalere, sofern sie nichts geringeres beschreibt, als die Seinsart des Menschen, zu der es gehört, nicht nur welterschließend fungieren zu können, sondern die dieses eigene ›Können‹ auch noch zu thematisieren vermag. Husserl bestimmt darum sogar das Vermögen, eine auf die eigene Erkenntnis- und Einstellungsart reflektierende Transzendentalphilosophie ins Werk zu setzen, bereits als einen zentralen Charakterzug des menschlich-mundanen Seins.27 Womöglich wird auch der nun von Husserl immer häufiger verwendete Begriff der »transzendentalen Erfahrung«, der doch zunächst ähnlich dem des historischen Apriori wie eine contradictio in adjecto wirkt,28 Edmund Husserl: Erste Philosophie II (Husserliana VIII), Den Haag 1959, S. 217. Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie (Husserliana IX), Den Haag 1968, S. 296 f. 24 Husserl: Erste Philosophie II, S. 212, S. 217. 25 Vgl. die entsprechende Unterscheidung ebd., S. 32 ff., S. 381 f. 26 Vgl. entsprechend Merleau-Pontys Bemerkungen in: Das Sichtbare, S. 301 f., S. 307 f. 27 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II (Husserliana IV) Den Haag 1952, S. 152. 28 Weshalb Moritz Schlick mit dem Begriff des materialen Apriori auch den der phänomenologischer ›Erfahrung‹ kritisiert: Schlick: »Gibt es ein Materiales Apriori?«, S. 20. 22 23

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nur von daher verständlich: dass jener ganz unnatürlich wirkende Einstellungswechsel eben doch ein prinzipiell menschliches Vermögen ist, das unter okkasionellen Bedingungen steht. – Es ist also wohl diese zweifache Bedeutung des Begriffs ›Transzendental‹, der zugleich bewusstseinstheoretisch formal wie anthropologisch material konnotiert ist, die dazu beiträgt, dass die Phänomenologie so geschmeidig in die anthropologischen und kulturphilosophischen Diskurse des 20. Jahrhunderts eingeht. Ich referiere diesen Gedanken hier,29 weil er m. E. auch aufschlussreich für eine fruchtbare Deutung der Rede vom historischen Apriori sein kann. Ich hatte ja gefragt, wo sich im historischen Apriori materiale Gehalte mit formalen Strukturen kreuzen. Die bisherigen Beobachtungen machen nun vielleicht Hoffnung, dass die Frage eine Antwort finden kann.

3. Phänomenologie des Apriori: Wie materiale und formale Aspekte sich im historischen Apriori kreuzen Wenn sich historisches und formales Apriori kreuzen, so sagt Foucault, »dann weil sie zwei verschiedenen Dimensionen angehören«.30 Deren Differenz darf schon deshalb nicht nivelliert werden, weil die Polemik Foucaults gerade gegen die formale Lesart der transzendentalen Fragestellung gerichtet ist. Meine Frage, die das Problem des historischen Apriori hingegen im Sinne des Versuchs einer Rehabilitierung der transzendentalen Dimension erörtert, lautet darum etwas anders. Sie fragt danach, ob nicht beide Dimensionen gemeinsam erst jene Struktur prägen, die wir dann als historisches Apriori bezeichnen könnten, insofern darin materiale und formale Bestimmungen eben gleichursprünglich sind. Bei Husserl ist, wie man weiß, das historische Apriori tatsächlich zunächst formal bestimmt: als genetische Verfasstheit des horizontintentional fungierenden Bewusstseins. Darin begründet sich eine eigene ›Historizität‹, die als ein Name dafür verstanden wird, wie sich das Subjekt »für sich selbst sozusagen in der Einheit einer Geschichte« konstituiert.31 Die gewöhnliche Tatsachengeschichte ist dann ihrerseits erst fundiert in dieser Form transzendentaler Historizität, die eben unter dem Titel eines »universalen historischen Apriori« firmiert.32 Sicherlich dokumentiert sich in diesen Überlegungen ein nach wie vor gewöhnungsbedürftiges Verständnis von Historizität, weil es sich offenbar bloß um einen um den Begriff des Erlebens aufgefrischten Begriff logischer Genesis handelt. Wo bleibt da die Beziehung zur Geschichte als opake Gemengelage von Kontingenz und Interesse? Nun, diese Be-

Vgl. ausführlicher dazu: Lembeck: »Seinsformen«. – Ders., Art. »Transzendental; Transzendentalphilosophie. X. Die phänomenologische Bewegung«, in: Histor. Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1412–1420. – Ders.: »Natürliche Motive der transzendentalen Einstellung? Zum Methodenproblem in der Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen NF 4 (1999), S. 3–20. 30 Foucault: Archäologie, S. 186. 31 Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen (Husserliana I), Den Haag 1950, S. 109. 32 Husserl: Krisis, S. 386. 29

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ziehung bleibt – obgleich als existent behauptet33 – bei Husserl bis zuletzt recht schwach beleuchtet.34 Aber dennoch finden sich Hinweise, denen zu folgen sich lohnt. Einer davon ist die Diskussion der geschichtstheoretischen Rolle der Erinnerung. Denn die formale Genesis des Bewusstseins bedarf ja stets einer materialen Interpretation. Ist jene Form eben nur Form fungierender Intentionalität, so muss auch deren Gehaltsseite berücksichtigt werden. Die Intentionalanalyse beschreibt darum diese Gehaltlichkeit als eine Art ›historischer‹ Sammlung von Erfahrungs- oder Bedeutungssedimenten. Der Erlebnisfluss bildet gewissermaßen Sammelbecken habitueller Sedimentierungen aus. Diese tragen zunächst nur den Charakter passiver Synthesen. Diesen anonymen Erfahrungsbedingungen nun jedoch als ›historischem‹ Bestand auf die Spur zu kommen, bedarf es allerdings einer eigenen Form von Bewusstseinsaktivität, die Husserl unter dem Titel ›Wiedererinnerung‹ diskutiert. Dass die Erinnerung nicht nur für die Einheit einer Bewusstseinsgeschichte, sondern für die wissenschaftliche Rekonstruktion der Geschichte selbst konstitutiv ist, ist eine bekanntlich schon von Dilthey propagierte These, die erst unlängst in geschichtstheoretischen Diskursen wiederbelebt worden ist.35 Man könnte fast der Meinung sein, Erinnerung gelte wieder als Kandidat für ein historisches Apriori. Sollte diese Auffassung nach weiteren Zeugen suchen, käme dafür Husserl gewiss in Betracht. Wollen wir es mit ihm versuchen, so müssen wir seine Ausführungen allerdings noch etwas genauer lesen. Die erste Frage, die wir dazu aufzugreifen hätten, wäre die nach dem Verhältnis zwischen der individuellen Erinnerung (als identitätsstiftende Rekonstruktion einer Art persönlichen Erlebnisgeschichte) und dem, was man als kollektive Erinnerung (einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft etc.) bezeichnen könnte. Husserl diskutiert dieses Verhältnis im Umkreis der Krisis-Problematik. Er spricht hier analog zur Rekonstruktion der persönlichen Geschichte durch die Erinnerung gelegentlich zwar von der Möglichkeit, »Geschichte als methodische ›Erinnerung‹ der Menschheit« zu schreiben.36 Aber es folgt dann sogleich die Einschränkung, es könne sich dabei nur »sozusagen« um eine Art »Gemeinschaftserinnerung« handeln.37 Er bleibt also mit Recht skeptisch, weil historisches Verständnis von überkommenen Zeugnissen keine Erinnerung in dem Sinne sein kann, dass sie »in sich selbst und in der rekonstruierbaren Erinnerungskontinuität bis zum wahrnehmungsmäßigen Jetzt einen Limes der Anschauung als Selbsterfassung des Vergangenen« aufwiese. Was hier als Bewährungsgang erinnernder Vergegenwärtigung beschrieben wird,38 kann die historische Anschauung nicht einlösen, Z. B. Husserl: Krisis, S. 381 Fn. 1 u. ö. Vgl. Lembeck: Gegenstand Geschichte. 35 Vgl. zur Übersicht z. B. Karl-Heinz Lembeck: »Geschichte und Erinnerung. Dilthey und die gegenwärtige Debatte«, in: Giuseppe D’Anna, Helmut Johach, Eric S. Nelson (Hg.): Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages, Würzburg 2013, S. 243–255. 36 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband (Husserliana XXIX), Dordrecht 1993, S. 310. 37 Husserl: Krisis, S. 213; vgl. Husserl: Erste Philosophie II, S. 236. 38 Vgl. Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (Husserliana III/1), Den Haag 1976, S. 326 ff. – Selbstverständlich ist gar nicht ausgemacht, ob dieser Optimismus kontinuierlicher Bewährung der individuellen Lebenserinnerung überhaupt angebracht ist, 33 34

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weil sie ihrem Wesen nach eben kein originär Gegebenes darstellt. Historische Vergegenwärtigung als Kollektiverinnerung ist einer wirklichen Erinnerung allenfalls analog, schon weil die Geschichte in der Regel nicht zur je eigenen, konkreten Erinnerungsgegenwart gehört.39 Es handelt sich darum vielmehr um eine Vergegenwärtigung, die eher den Charakter einer Verbildlichung hat. Die hier notwendige Verbildlichung bedient sich daher ergänzend der Phantasie. Die historische Vergegenwärtigung bewegt sich in Vorstellungen, die ihrerseits ein Milieu von »Nichtgegenwärtigem« erschließen. Doch dieses Nichtgegenwärtige wird nicht anschaulich erinnert, sondern geht in eine Phantasievorstellung ein, die ein Bild des historischen Gegenstandes im Modus einer ›Quasi-Präsenz‹ entwirft.40 Historische Veranschaulichung trägt somit den Charakter einer Vergegenwärtigung bildhafter Vorstellungen eines Nichtgegenwärtigen; sie gründet also in dem, was man seit je »historische Einbildungskraft« genannt hat. Zwar bleibt dabei berücksichtigt, dass es sich um Bilder einer vergangenen Wirklichkeit handeln soll, dass also auch das ein-bildende Bewusstsein ein »setzendes« ist. Aber es handelt sich eben um ein Bildbewusstsein innerhalb der Phantasie, und so kann diese Setzung nur in zweiter Ordnung erfolgen. Die in der Bildvorstellung liegende Vergangenheitsanschauung ist nur Quasi-Anschauung mit »Als-ob-Charakter«; sie ist ein Versuch der Sichtbarmachung eines uneinholbar Abwesenden.41 Wenn man diesen Hinweisen nachgeht, zeigt sich, dass die Phantasie als Neutralisationsmodifikation von Wirklichkeitserfahrung Perspektiven eröffnet, die es zwar erlauben, über den okkasionell gesetzten Horizont praktischer Erfahrungsmöglichkeiten hinaus eine Quasi-Wirklichkeit zu fingieren, die dabei aber gleichwohl an die Gegebenheiten der Gegenwartswelt gebunden bleiben. Denn die historische Veranschaulichung bewegt sich im Reich von Quasi-Positionen, aber es bleiben dies nach wie vor die Quasi-Positionen des Erzählers. Eine Gewähr, dass diese deckungsgleich wären mit den Positionalitäten des historischen Sujets, kann es nicht geben. Angesichts also der Erkenntnisfunktion, die eine quasi-positionale Vergegenwärtigung historischer Welten hier übernehmen soll, muss das Spiel der Einbildungskraft notwendig bestimmten Regeln folgen. Dazu gehört neben dem Umweg über das Bildbewusstoder ob die Rekonstruktion des eigenen Lebens nicht prinzipiell »vage« bleibt, wie Husserl gelegentlich selber einräumt (z. B. Edmund Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III [Husserliana XV], Den Haag 1973, S. 418 f.). Aber diese Problematik wird im vorliegenden Zusammenhang ohnehin nicht wirksam, da die historische Erinnerung sich an der individuellen offenbar nicht unmittelbar ausrichten kann. – Vgl. zur ausführlichen Kritik an den Konsequenzen, die dieser Kontinuitätsgedanke bei Husserl insbesondere für die Phänomenologie der Fremderfahrung hat: László Tengelyi: Der Zwitterbegriff der Lebensgeschichte, München 1998. 39 Husserl: Krisis. Ergänzungsband, S. 54. 40 Edmund Husserl: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen (Husserliana XXIII), Den Haag 1980, S. 153: »Ich mache mir ein Bild von Cäsar etc. Das ist keine eigentliche Vorstellung von Cäsar, kein direktes Gegenstandsbewusstsein von ihm als einem Nichtgegenwärtigen. Keine ›Erinnerung‹ von ihm. Sondern es ist eine Phantasievorstellung (Vorstellung eines Nichtgegenwärtigen), die einen Gegenstand (einen nichtgegenwärtigen) vorstellig macht, der seinerseits Cäsar ›vorstellt‹, ein Bild von ihm entwirft.« 41 Vgl. ebd. S. 448, S. 469.

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sein auch die Bindung der Fiktion an die die kulturellen Narrative beherrschenden Allgemeinheiten. Gebunden wird also die historische Phantasie nicht zuletzt durch eben jene Zeugnisse, die uns in Erzählungen, Berichten, Beschreibungen, bildhafte Ansichten der historischen Welt mit ihren Bedeutsamkeitsstrukturen vorliegen; gebunden wird sie aber natürlich auch durch die normativen Verständnisbedingungen des Gegenwartsdiskurses. Bereits Max Weber hatte in seiner ›kulturwissenschaftlichen Logik‹ auf diese Rolle der Phantasie aufmerksam gemacht. Das historische Urteil stützt sich einerseits auf »Tatsachenwissen« zu einer historischen Konstellation, auf das sogenannte »ontologische« Wissen, andererseits auf »nomologisches Wissen« über regelhaftes Verhalten von Menschen in gegebenen Situationen. Die »›Phantasie‹ [hat] auf dieses ›ontologische‹ Wissen unser, aus der eigenen Lebenspraxis und der Kenntnis von dem Verhalten anderer geschöpftes, ›nomologisches‹ Erfahrungswissen anzuwenden.«42 Diese Welt-Gebundenheit auch der Phantasie wird sonach insgesamt durch jenen »Gemeingeist« gewährleistet, von dem Husserl gelegentlich als dem immer nur mittelfristig stabilen Ergebnis einer unvordenklichen Geschichte der Kulturalisierung der Welt spricht.43 Die historische Vergegenwärtigung findet darin gewissermaßen die Farbskala und das Konfigurationsmuster der ihrerseits anschaulichen historischen Darstellungen vorgegeben. Wenn hier also von Phantasie die Rede ist, so ist damit keineswegs der Willkür freie Bahn gelassen, und es ist auch nicht das gemeint, was die Tradition von Humboldt bis Bernheim bloß als ein Synonym für »historischen Takt« oder für »Einfühlung« genommen hat.44 Es ist vielmehr ein Vermögen gemeint, dessen Betätigung an eine ihm eigene Logik gebunden ist. Man könnte sie als Interpolationslogik oder Logik der Horizontintentionalität bezeichnen, sofern man bereit ist, dieses Husserl’sche Konzept nicht nur wahrnehmungsphänomenologisch, sondern auch geschichtstheoretisch zuzulassen. Dann handelt es sich um die Fähigkeit einer Art horizontalen Ergänzung historischer Wissensbestände um solche Elemente, die gegeben gewesen sein mussten, damit verständlich wird, warum etwas so ist, wie es ist, und warum es das ist, was es ist. Für solche »Interpolationen« müssen freilich allgemeine Geltungsannahmen geteilt werden, die nach Weber aus »nomologischem Erfahrungswissen« stammen; also Geltungsannahmen, die, insbesondere wenn es um politische Geschichte und weniger um Strukturgeschichte geht, auf anthropologische Motive referieren. Robin George Collingwood hat eben diese Verhältnisse später in seiner Philosophie der Geschichte explizit unter dem Titel eines »Apriori der historischen Einbildungskraft« diskutiert.45

42 Max Weber: »Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik« (1906), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41973, S. 215–290; S. 276 f. 43 Vgl. Husserl: Intersubjektivität II, S. 200 ff. – Vgl. dazu Merleau-Ponty, der Husserl an dieser Stelle die Entdeckung der »Weltlichkeit des Geistes« attestiert: Das Sichtbare, S. 306 f. 44 Vgl. bspw. Wilhelm v. Humboldt: »Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers«, in: Ders.: Werke Bd. 1, hg. v. Flitner u. Giel, Darmstadt 21962, S. 586 f.; oder: Ernst Bernheim: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 5/61908, S. 625–633. 45 Vgl. Robin G. Collingwood: Philosophie der Geschichte (engl. Oxford 1946), dt. Stuttgart 1955, S. 251–260.

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Phantasie und historische Wirklichkeit bleiben einander also prinzipiell fremd, wohl aber trägt jene dazu bei, die Brücke zwischen dem Bewusstsein der je eigenen Gegenwart und der ins Präteritum verschobenen Geschichte eines Kollektivs zu schlagen, indem sie Wissensformen im Modus des Als-ob »schöpferisch« miteinander zu konfundieren vermag, die faktisch so vielleicht nie miteinander konfundiert waren. Das historische Bewusstsein, das als reales Subjekt lokalisiert ist,46 kann sich dieser Ausgangssituation zunächst nur im Medium der erinnernden Selbsterfahrung vergewissern. Dieser Vergewisserungsakt vermittelt ihm aber bereits jenes »nomologische Wissen« um Motivationsstruktur, Interessenlage, mittelfristig stabile Verhaltensregularitäten und Entscheidungsnormalitäten, die im Horizont einer je historisch orientierten Gegenwart, also im Horizont des »Gemeingeistes«, den Blick in die kollektive Vergangenheit immer schon justiert haben. Unter solchen Konditionen trifft dann schließlich dieser Blick auch auf die in literarischen und bildlichen Darstellungen bezeugten anschaulichen Abläufe des vergangenen Geschehens. Dessen Vergegenwärtigung gelingt freilich nur so gut, als wir uns dabei erlauben dürfen, jenes nomologische Wissen explikativ zu verwenden, also so zu tun, als ob ein historischer Protagonist sich anthropologischen Standards gemäß verhalten hätte, und zwar genau solchen, die wir einander auch in einer historischen Gegenwart zuzuschreiben bereit sind. Mit anderen Worten: Wir unterstellen Regeln des Verhaltens und damit des Geschehens, die wir den stabilisierenden Fiktionen des reflexiven Selbst entliehen haben, in die es sich in seiner anschaulich gegebenen Gegenwart immer schon verstrickt findet. Und die daraus resultierende Geschichte, die gar nicht die unsere ist, von der wir aber so tun müssen, als ob sie unsere würde sein können, erzählen wir dann. Weil dabei weder das ontologische Wissen dasselbe bleibt – es hat sich mit unserer Erzählung schon wieder verwandelt –, noch jener nomologische Standard tatsächlich mehr als ein Ausdruck des bloß mittelfristig stabilen Selbstverständnisses eines Gegenwartssubjekts ist, erzählen wir das vermeintlich Selbe auch immer wieder neu. Und weil wir schließlich über das, was geschehen ist, so berichten, wie es aufgrund unserer Annahmen hätte geschehen können, scheint dergestalt der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen und damit zugleich der von Aristoteles bis Kant postulierte Unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter hinfällig zu werden. Nun ist diese Behauptung einer wesentlichen Affinität zwischen Geschichte und Literatur zwar, wie wir wissen, durchaus älter und wird mindestens seit Hegel47 offensiv ver-

46 Auch der Historiker verkörpert stets »eine geistige Zuständlichkeit mit einem bestimmten Weltaspekt« (Alfred Heuß: Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, S. 73). – Der Göttinger Althistoriker Heuß wirbt auch aus der engeren Sicht seiner Wissenschaft bereits früh für eine Rehabilitierung der Erinnerung als Schlüsselkonzept historischer Rekonstruktion. Vgl. Karl-Heinz Lembeck: »Geschichte zwischen Erinnerung und Phantasie«, in: Jagna Brudzinska, Dieter Lohmar (Hg.): Phänomenologie des Menschen und die Grundlagen einer modernen Sozialtheorie. Neuere Beiträge zur Phänomenologie und Anthropologie des Sozialen, Berlin (im Erscheinen). 47 Immerhin findet sich Hegels umfassendste Abhandlung zur Geschichtsschreibung unter dem Titel »Die Poesie« (!) in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, (Ästhetik III, Frankfurt/M. 1970, bes. S. 256– 261). (Darauf macht White aufmerksam: Auch Klio dichtet, S. 66ff.)

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treten. Aber der damit verbundene Gedanke einer Reduzierung historischen Geschehens auf die Regeln seiner Erzählung und in der Folge die linguistische Kontaminierung der Geschichtswissenschaft ist für deren Selbstverständnis, wie die gegenwärtige Diskussion zeigt, wohl nicht unbedingt förderlich. Allerdings sollte wenigstens die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass auch Klio dichtet, wie der deutsche Titel des bekannten Buches von Hayden White lautet.48 Dessen Analyse der historiographischen Tropologie und sein Konzept der figurativen Imagination in der Geschichtsschreibung wirkt auf Philosophen durchaus charmant. Ob wir deshalb aber auch jeden linguistischen Radikalismus mitmachen müssen, hängt davon ab, ob z. B. eine Phänomenologie denkbar ist, die der Einbildungskraft eine ähnlich starke Rolle bereits diesseits des linguistic turn zuzusprechen vermag. Ich bin diesbezüglich, wie man vielleicht bemerkt, ganz zuversichtlich, da ich mir als Gegenstück zum Begriff der res gestae lieber den Begriff der rerum gestarum memoria statt schlicht den der narratio vorstellen mag. Oder frei nach Kant: Wenn aber alle historische Erkenntnis mit der narratio anhebt, so entspringt sie darum doch nicht aus ihr.49 – Damit jedoch genug der Ausflüge in das Feld einer Epistemologie der Geschichte, das gewiss näherer Erkundung bedarf, die aber hier nicht geleistet werden kann. Statt dessen soll ein erstes Fazit gezogen werden. Kann man, so hatte ich gefragt, im Dickicht der Metamorphosen des historischen Apriori eine Gestalt dieses Begriffs ausmachen, der man sowohl formale wie materiale Seiten attestieren darf, und die eben deshalb und derart als Bedingung der Möglichkeit historischer Erkenntnis selber zugleich eine historische Prägung aufweist? Mein Vorschlag dazu lautete zuversichtlich: ja, auch deshalb, weil dieser Gedanke einer gewissermaßen zwitterhaften Rolle des Apriori erkenntnistheoretisch und namentlich phänomenologisch wohl gar nichts Neues ist. Sofern wir Erkenntnis als Korrelationsgeschehen verstehen und wir dessen strukturelle Aufklärung zur Angelegenheit transzendentalphilosophischer Analysen erklären dürfen, zeigt sich diese Ambiguität apriorischer Konditionen recht schnell. Sobald nämlich Vergegenwärtigungsvollzüge wie Erinnerung und Phantasie konstitutiv werden für Objektivierungsakte, müssen sie vor allem in ihrer eigentümlichen Defizienz, also mit all ihrer Uneigentlichkeit, Kontingenz und Opazität ernst genommen werden. Und dann muss man folgerichtig auch einräumen, dass die formale apriorische Struktur solcher Vollzüge notorisch von den manifesten Ergebnissen ihrer eigenen Leistungen durchkreuzt wird, von ontologischen und nomologischen Standards also, die längst nicht nur darüber entschieden haben, was einer erinnert, sondern auch wie er erinnert, nicht nur darüber, was einer phantasiert, sondern auch wie er phantasiert – wobei Vgl. White: Auch Klio dichtet, bes. S. 64–160. Whites Ansatz will nur die Überschneidungen zwischen geschichtswissenschaftlicher Beschreibung und fiktionaler Literatur diskutieren, keineswegs aber für eine Ersetzung jener durch diese werben (vgl. S. 145). Es ist daher nicht ganz unbegründet, wenn Gottfried Gabriel den tendenziösen Anspruch der deutschen Übersetzung des englischen Originaltitels (Tropics of Discourse) beklagt: Gottfried Gabriel: »Fiktion und Fiktionalismus. Zur Problemgeschichte des Als Ob«, in: Matthias Neuber (Hg.): Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers ›Philosophie des Als Ob‹, Würzburg 2014, S. 65–87, bes. S. 82 ff. 49 Analog zu KrV B 1. 48

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hier das Was für Gehalte und das Wie für Interessen steht. (Eine These, über deren Recht wohl nicht zuletzt eine Geschichte der Historiographie lebhaft Auskunft geben könnte.) Wenn dies aber zutrifft, dann müssen wir unter dem Titel Apriori nun also ein Strukturkonzept verstehen, das seinerseits von demjenigen mitgestaltet wird, für das es selbst wirksam ist. Ein solches Apriori könnte man dann ein historisches nennen. Ein solches historisches Apriori ist aber nicht bloß in materialer Hinsicht empirisch konstatier-, sondern auch auf seinen formalen Geltungsgrund hin prüfbar. Dieser bleibt zwar, sofern Form und Materie stets wesenhaft konfundiert sind, in eine verborgene Unendlichkeit verschoben. Aber deshalb löst sich die formale Seite darin nicht einfach auf, sondern wird gewährleistet durch die formalen Bedingungen der besagten Appräsentationsmodi Erinnerung und Phantasie. Genau darum aber, so die phänomenologische Pointe, bleibt diese formale Seite des Apriori ihrerseits erfahrungsbedürftig, ohne doch aus Erfahrung zu stammen, da man von besagten Modi eben nichts berichten könnte, ohne sie in ihrem Fungieren erlebt zu haben. Solche Berichte nehmen darum methodisch in Anspruch, was Husserl eine »transzendentale Erfahrung« genannt hat.50 In dieser Hinsicht ist der Kantische Formalismus hier also tatsächlich verlassen,51 ohne dass deshalb auf den transzendentalen Aspekt des historischen Apriori verzichtet würde. Denn auf die operative Bedeutung des Begriffs Bewusstsein – nämlich als Inbegriff spezifischer Formen intentionalen Fungierens – ist eben nicht zu verzichten, wenn anders Transzendentalphilosophie möglich sein soll. Und sei es nur, um besagten Funktionsinbegriff am Ende anthropologisch zu lesen, also das Feld zu bereiten für eine von Husserl selbst so bezeichnete (und in ›post-postmodernen Zeiten‹ vielleicht auch wieder salonfähige) »transzendentale Anthropologie«.52

Literatur Bernheim, Ernst: Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie, Leipzig 5/6 1908. Brand, Gerd: Die Lebenswelt. Eine Philosophie des konkreten Apriori, Berlin 1971. Collingwood, Robin G.: Philosophie der Geschichte (engl. Oxford 1946), dt. Stuttgart 1955. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt/M. 1981. – Die Ordnung der Dinge (1966), Frankfurt/M. 1971. Gabriel, Gottfried: »Fiktion und Fiktionalismus. Zur Problemgeschichte des Als Ob«, in: Matthias Neuber (Hg.): Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers ›Philosophie des Als Ob‹, Würzburg 2014, S. 65–87.

50 Husserl: Cartesianische Meditationen, S. 11, S. 66, S. 69 f. u. ö. – Vgl. Tobias Trappe: Transzendentale Erfahrung. Vorstudien zu einer transzendentalen Methodenlehre, Basel 1996. Dazu auch meine Besprechung in: Phänomenologische Forschungen NF 2 (1997), S. 155–158. 51 Vgl. auch Martin Heidegger über den »ursprünglich Sinn des Apriori«, in: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe 20), Frankfurt/M. 31994, S. 99 ff. 52 So der Titel des Ms.-Konvoluts E III im Husserl-Archiv Leuven.

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Goris, Wouter: »Das historische Apriori bei Husserl und Foucault«, in: Quaestio 12 (2012), S. 291–341. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik (Ästhetik III), Frankfurt/M. 1970. Heidegger, Martin: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (1920) (Gesamtausgabe 59) Frankfurt/M. 1993. – Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Gesamtausgabe 20), Frankfurt a.M. 31994. Herbart, Johann Friedrich: Sämmliche Werke, hg. v. G. Hartenstein, Leipzig 1850 ff. Heuß, Alfred: Verlust der Geschichte, Göttingen 1959. Humboldt, Wilhelm v.: »Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers«, in: Ders.: Werke Bd. 1, hg. v. Flitner u. Giel, Darmstadt 21962, S. 586 f. Husserl, Edmund: Cartesianische Meditationen (Husserliana I), Den Haag 1950. – Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (1907) (Husserliana II), Den Haag 1950. – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I (Husserliana III/1), Den Haag 1976. – Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II (Husserliana IV) Den Haag 1952. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21976. – Erste Philosophie II (Husserliana VIII), Den Haag 1959. – Phänomenologische Psychologie (Husserliana IX), Den Haag 1968. – Zur Phänomenologie der Intersubjektivität II (Husserliana XIV), Den Haag 1973. – Zur Phänomenologie der Intersubjektivität III (Husserliana XV), Den Haag 1973. – Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (Husserliana XVII), Den Haag 1974. – Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen (Husserliana XXIII), Den Haag 1980. – Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband (Husserliana XXIX), Dordrecht 1993. Lazarus, Moritz: »Verdichtung des Denkens in der Geschichte«, in: Zeitschr. f. Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft II (1862), S. 54–62. – Das Leben der Seele. Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze, 3 Bde, Berlin 1883, 1885, 1897. Lembeck, Karl-Heinz: Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie (Phaenomenologica 111), Den Haag 1988. – Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994. – Art. »Transzendental; Transzendentalphilosophie. X. Die phänomenologische Bewegung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, Sp. 1412–1420. – »Natürliche Motive der transzendentalen Einstellung? Zum Methodenproblem in der Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen NF 4 (1999), S. 3–20. – »Seinsformen. Spielarten des Ontologiebegriffs in der Phänomenologie Husserls«, in: H.-R. Sepp (Hg.): Metamorphose der Phänomenologie. Liber amicorum für Meinolf Wewel, Freiburg i.Br. 1999, S. 28–57.

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– Art. »Wesensschau«, in: Histor. Wörterbuch d. Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 655–659. – »Geschichte und Erinnerung. Dilthey und die gegenwärtige Debatte«, in: Giuseppe D’Anna, Helmut Johach, Eric S. Nelson (Hg.): Anthropologie und Geschichte. Studien zu Wilhelm Dilthey aus Anlass seines 100. Todestages, Würzburg 2013, S. 243–255. – »Geschichte zwischen Erinnerung und Phantasie«, in: Jagna Brudzinska, Dieter Lohmar (Hg.): Phänomenologie des Menschen und die Grundlagen einer modernen Sozialtheorie. Neuere Beiträge zur Phänomenologie und Anthropologie des Sozialen, Berlin (im Erscheinen). Liebmann, Otto: Die Metamorphosen des Apriori, in: ders.: Zur Analysis der Wirklichkeit, Straßburg 1876, S. 191–240; 41911, S. 208–258. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 21994. Natorp, Paul: Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode (Tübingen 1912). Neu herausgegeben, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Sebastian Luft, Darmstadt 2013. Nietzsche, Friedrich: Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), Kritische Studienausgabe in 15. Bänden, hg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin, New York 1988, Bd. 1. Scheler, Max: Der Formalismus in der Ethik und die Materiale Wertethik (1916), neu hg. von Chr. Bermes, Hamburg 2014. Schlick, Moritz: »Gibt es ein Materiales Apriori?« (1930), in: ders.: Gesammelte Aufsätze (1926– 1936), Wien 1969, S. 20–30. Tengelyi, László: Der Zwitterbegriff der Lebensgeschichte, München 1998. Trappe, Tobias: Transzendentale Erfahrung. Vorstudien zu einer transzendentalen Methodenlehre, Basel 1996. Waldenfels, Bernhard: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/M. 1983. Weber, Max: »Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik« (1906), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 41973, S. 215–290. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1973), Frankfurt/M. 1991. – Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986.

KOLLO QUIUM 3 Genesis und Geltung. Klassische deutsche Philosophie im Dialog mit asiatischen Philosophien Genesis and Validity. Classical German Philosophy in a Dialogue with Asian Philosophies Kolloquiumsleitung: Claudia Bickmann

Claudia Bickmann Selbstreflexion. Herausforderung in der Annäherung zwischen klassisch-europäischen und asiatischen Philosophien. Chung-ying Cheng Receptivity and Creativity in Hermeneutics: Focusing on Gadamer with Reference to Onto-Hermeneutics Hiroshi Goto Die Rezeptionsgeschichte des Personbegriffs in der Moderne Japans Rainer Schäfer Methode des Subjekts und Subjekt der Methode

Selbstreflexion. Herausforderung in der Annäherung zwischen klassisch-europäischen und asiatischen Philosophien. Claudia Bickmann (Universität zu Köln)

I. Einführung Streit und Widerstreit in der Auslegung des Selbstverständnisses der Philosophie begleiten in einer Tradition des Traditionsbruchs den Entwicklungsgang der abendländischen Philosophie: Sein und Werden, Ruhe und Bewegung, Identität und Differenz, Freiheit und Notwendigkeit, Natur und Geist, Idealismus und Realismus, werden zwischen Parmenides und Heraklit, zwischen Locke und Leibniz, Carnap und Heidegger, in kontradiktorische Verhältnisse gebracht, die mal das Sein intelligibilisieren, mal das Denken naturalisieren.1 Gewahrt bleibt der Versuch einer Integration entgegengesetzter Prinzipien und Prämissen in vielfältigen nicht-europäischen Gegenwartsphilosophien: Ein An-denken an den Ort der Mitte soll hier das einigende Band ihrer Verbindung erhellen: So beanspruche Laotse in seinem Daodejing, wie neuere chinesische Philosophien bekräftigen, den Ort des Zwischen, durch den die Urpolarität von Denken und Sein, Natur und Geist, stets als Einheit in der Entgegensetzung der Pole betrachtet werde.2 Darum konnten insbesondere die verschiedenen Modelle der Integration von Ästhetik, Ethik und Erkenntnistheorie, wie sie innerhalb der klassischen Periode der europäischen Philosophie von Kant und dem nachkantischen Idealismus entfaltet wurden, ein geeigneter Bezugspunkt für die verschiedenen neu-konfuzianischen, daoistischen und buddhistischen Renaissancen innerhalb der asiatischen Philosophie sein. Auf ein Desiderat in der Selbstauslegung einer der wohl gewichtigsten Traditionen der abendländischen Philosophie möchte ich im Folgenden in wenigen Schritten aufmerksam machen: Wird die abendländische Philosophie in ihrem Ausgang von Platon und Vgl. Claudia Bickmann, Markus Wirtz u. a. (Hg.):Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, Amsterdam, New York 2006. 2 Vgl. etwa Stefan Schmidt: »›Der große Chinese von Königsberg‹ – Kants Rolle und Funktion im Kontext der Modernisierung konfuzianischen Denkens im 20. Jahrhundert«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 33/1, S. 5–29; ferner: Mou Zongsan: Substance of Mind and Substance of Human Nature, Taipei 1969; ferner: Wing-Cheuk Chan: »Mou Zongsan’s Transformation Of Kant’s Philosophy«, in: Journal of Chinese Philosophy 33.1 (2006), S. 125–139; ferner: Claudia Bickmann: »Self-reflection of Thinking and Being: Is contradiction the essence of being?«, in: The International Conference in Commemoration 2565th Anniversary of Confucius & the 5th Congress of the International Confucian Association, Beijing 2014, S. 1685–1698; dies.: »The Idea of a Highest Divine Principle – Founding Reason and Spirituality. A Necessary Concept of a Comparative Philosophy?«, in: Religions 3 (2012), no. 4: S. 1025–1040; dies.: »In-sich-widersprüchliche Selbstidentität. Wege der Annäherung zwischen Ost und West. Platon, Schelling und Laotse«, in: Nils Weidtmann (Hg.): Identität und Differenz, Selbstheit und Fremdheit, Freiburg 2013, S. 211–231. 1

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Kolloquium 3 · Claudia Bickmann

Aristoteles vornehmlich als ein gedankliches Unternehmen ausgelegt, in dem auf methodisch durchsichtige Weise die jeweiligen Theoreme, Sätze und Urteile auf ihre mögliche Geltung hin überprüft werden, um in überschaubaren und nachvollziehbaren Schritten die jeweilige Rede über einen Gegenstand oder Sachverhalt zu klären, so ist auf diese Weise ihr Vorhaben nur unzureichend bestimmt: Methoden und Wege, nicht aber ihre Ziele und Zwecke werden zur Sprache gebracht. Denn nicht erfasst wird auf diese Weise das jeweilige Worum-willen, der Fluchtpunkt, auf den das ›logon didonai‹, das Auseinanderlegen und Rechtfertigen, das Dia-legestai, der jeweiligen Prämissen und Prinzipien des Gedachten gerichtet ist. So fragt Platon zwar nach der Art einer ›Präsuppositionsanalyse‹ in die Bedingungen der Geltung unserer Vorverständnisse hinein, um Einsicht in das im Gesagten Mit-gesagte, – ohne doch explizit gesagt zu sein, –  zu gewinnen; doch hält er das Ziel einer zu vollführenden staatlichen und kosmischen Ordnung, in die sich der Einzelne durch Selbsterkenntnis und Selbstkultivierung hineinzubilden habe, stets im Blick. Aristoteles erkundet die unterschiedlichen Weisen der Verwendung einzelner Termini – wie Sein, Wesen, Eines, etc. – nicht allein, um die Hinsichten ihres Gebrauchs (polachos legetai) im systematischen Horizont in rein theoretischer Absicht zu erschließen. Vielmehr ist die Grundhaltung, das Ethos des Einzelnen gegenüber sich selbst wie der zu gestaltenden Gemeinschaft von der theoretischen Bemühung unabtrennbar und bleibt von fern her leitender Fluchtpunkt der Annäherung. Die klassische deutschsprachige Philosophie von Kant über Fichte, Schelling zu Hegel folgt diesem Impuls und wird darum – so in Japan – bereits seit mehr als 170 Jahren, in China verstärkt in den letzten 30 Jahren zu einer Bezugsgröße, in deren Lichte die eigenen Modelle kultureller Selbstauslegung gedanklich reflektiert und bearbeitet werden. Transzendentalphilosophische, spekulativ-dialektische, hermeneutische oder phänomenologische Analysen werden für eine kulturelle Selbstauslegung im Horizont von Konfuzianismus, Taoismus oder Buddhismus zu Rate gezogen. Die These lautet: Das in der Selbstverständigung der abendländischen Philosophie ausgeblendete Ziel einer ethisch motivierten Fragestellung im Horizont der theoretischen Philosophie wird nun im Lichte der lebensbezüglichen Orientierung in den asiatischen Traditionen, denen die Selbstkultivierung wie die Nähe zu den Lebensvollzügen des Einzelnen wie der Gemeinschaft insgesamt als Leithorizont der Annäherung gilt, eingeklagt und führt bei aller Nähe zu einer vielfach artikulierten Distanzierung gegenüber der interpretierten Vereinseitigung reflektierender Abstraktion innerhalb der westlichen Philosophie. Suchen wir nun nach Berührungspunkten und Anschlussmöglichkeiten zwischen diesen unterschiedlichen Lesarten, so ist Prämissen-klarheit durch Präsuppositions-analyse – zunächst bezogen auf die eigenen philosophischen Traditionen – ein erster Schritt. Auf einem Umweg über die lebensweltbezügliche Orientierung eines gewichtigen Teils asiatischer Traditionen gilt es darum zunächst zu fragen, ob das genannte Bild der dominanten ›logical-inquiry‹ (Lik Quen Tong) in rein-rationaler Absicht in den genannten abendländischen Traditionen zu Recht besteht oder nicht vielmehr einer Korrektur bedarf.3 3

Vgl. Lik Quen Tong: »Dao und Logos: Prolegomena to a Quintessential Hermeneutics – With spe-

Selbstreflexion

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Wenn Platons ›Idee des durchgängig bestimmten Ganzen‹, in dem Mikro- und Makrokosmos sich wie Urbild und Abbild ineinander spiegeln, theoretische und praktische Züge gleichermaßen zur Sprache bringt und noch Hegel im Lichte der platonisch-aristotelischen Philosophie seine Idee des Seinsganzen als Horizont und Bestimmungsgrund alles Einzel-Seienden, – nicht allein, insofern es ist, sondern im Anschluss an Kant und Fichte, insofern es durch Freiheit möglich ist, – bestimmt, so wird auch hier menschliche Freiheit in einer sittlich geordneten Welt zum Leitfaden und Fluchtpunkt der Entfaltung des Seinsganzen. Für Schelling ist die Idee der Freiheit gar der »Anfang und das Ende aller Philosophie«.4 So finden wir in der Fundierung der Philosophie aus dem Prinzip freier Selbst-bestimmung, wie sie von Platon bis Hegel leitend ist, beides: Sowohl den Gedanken einer notwendigen Lebensweltbezüglichkeit aller Philosophie, die in der Idee des Guten und der Gerechtigkeit ihr Maß und ihren Richtungssinn erhalten, als auch die gewünschte Brücke zu den vielfältigen asiatischen konfuzianischen, buddhistischen und daoistischen Philosophien, die diese Dimension heute gegen mögliche Vereinseitigungen der Philosophie als bloß theoretisches Unternehmen einzuklagen suchen. Es ist diese Zielsetzung einer lebensbezüglichen Annäherung an die Idee des Seinsganzen, die selbst Platon und Aristoteles im Auge haben und die Martin Heidegger in seinem Versuch der ›Verwindung der abendländischen Philosophie‹ nicht recht bedachte: Das Ziel der abendländischen Philosophie von Platon bis Hegel vornehmlich als theoretisches Bemühen zu begreifen, dem es in logifizierender und abstrahierender Weise an einer begrifflichen Verobjektivierung des Seins gelegen ist, hat vielmehr ein folgenschweres Missverständnis auf den Weg gebracht. Nicht aufmerksam genug hat Martin Heidegger den leitenden Fluchtpunkt der Annäherung von Platon bis Hegel in der zu vollführenden lebensbezüglichen, moralischen, rechtlichen und staatlichen Dimension der jeweiligen Theorie bedacht. So ist weder Platons Idee der An-ähnlichung des Menschen an die urbildlich antizipierte Quelle seiner Herkunft ein bloß theoretisches, ein verobjektivierendes Bemühen. Die Idee des Guten bleibt als Grund und Quelle allen Denkens und Seins vielmehr als ›epekeina tes ousias‹ einer jeden Verobjektivierung entzogen. Auch Kants Idee einer durch freie Akte zu gestaltenden moralischen Welt ist eine solche Tendenz zur Verobjektivierung fern. Denn Kant hatte in seiner Kritik an der transzendentalen Subreption bezogen auf die Ideen von Welt, Seele und Gott eine jede hypostatische Auslegung des Ideengedankens als dialektischen Schein zurückgewiesen und die Ideen des Unbedingten allein für unsere praktische Vernunft in einer konstitutiven Funktion ausgelegt. Selbst Hegels Prinzip des Sich-verstehens und Sich-selbst-setzens ist leitend für unsere Handlungsvollzüge in einer vernünftigen und sittlichen Welt – und nicht ein epistemisches, auf der Idee hypostasierter Wesenheiten beruhendes Programm. Auch Hegels Philosophie hat Heidegger in seiner lebensbestimmenden Bedeutung nicht durchschaut. cific Reference to its Implications for Intercultural Philosophy«, in: Claudia Bickmann u. a. (Hg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, Amsterdam, New York 2006, S. 461–469. 4 Vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Vom Ich als Prinzip der Philosophie«, in: K.F.A. Schelling (Hg.): Schellings »Sämtliche Werke«, Stuttgart (Cotta) 1856–1861 (= O[riginalausgabe]), § 6.

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So greifen wir zu kurz, wenn wir die Wege philosophischer Selbstverständigung innerhalb der abendländischen Philosophie nicht auf diejenigen Ziele und Zwecke hin auszulegen suchen, die ihren Gang von fern her lenken und die selbst für die theoretischen, die epistemischen Vollzüge der Selbstdurchlichtung als Leithorizont dienen. In ihren Grenzen sollte alle Erkenntnis im Grunde ›Selbsterkenntnis‹ sein, alles Denken ein Wollen, und unser Wollen vom Denken und Handeln untrennbar derart, dass ein freies Selbstverhältnis in einer Welt unter moralischen Gesetzen zu ihren leitenden Hinsichten gehört. Der Vorwurf einer dominant theoretischen abendländischen Philosophie, die eines nachträglichen Korrektivs durch eine lebensweltbezügliche praktische Vernunft bedarf, greift darum nicht, wenn man den in ihr selbst waltenden Richtungssinn auf eine zu vollführende moralische Zweckordnung ernst zu nehmen vermag. Denn so wie etwa die praktisch zu vollführende Zweckidee in der stoisch-epikureischen und pyrrhonischen Individual-diätetik zu Ataraxie in allen auf Glauben und Wissen beruhenden Dingen führen soll; die staats-, gemeinschafts- und kosmosbezügliche Orientierung der platonisch-aristotelischen Tradition – wie die negativ-theologische Idee des wahren Selbst im Neuplatonismus – zur Anähnlichung an das Ur-prinzip des Seinsganzen anleiten soll; oder aber Kants Idee einer durch die freie Selbstbestimmung des Einzelnen zu vollführenden moralischen Welt wie auch Hegels Idee einer nur durch das moralische Wollen sich manifestierenden sittlichen Ordnung allein aus dem Geiste der Freiheit einer moralischen und rechtlichen Welt begreiflich ist, so ist in diesen Traditionslinien die Idee einer lebensweltbezüglichen Annäherung nicht nur als Ingredienz, sondern als Leithorizont selbst der theoretischen Bemühungen präsent. Darum beruht die heute vielfach geäußerte Kritik an einer von der praktischen Zielsetzung zu trennenden theoretischen Philosophie bezogen auf diese einflussreiche Hauptströmung der platonisch-aristotelischen Tradition, die bis in die Hegelsche Philosophie noch leitend ist, auf einem Missverständnis. Nicht bloß ein Seiendes, insofern es ist, sondern insofern es durch Freiheit möglich ist, gehört zu den Leithorizonten ihrer philosophischen Analyse – nicht erst seit Kants ›kopernikanischer Wende‹ in Sachen Metaphysik. Auf dem Wege der Selbstbesinnung und Selbstkritik ist darum im Gespräch mit den asiatischen Philosophien bereits ein großer Schritt aufeinander zu getan, wenn in erneuter Selbstbesinnung die Zielsetzung der platonisch-aristotelischen wie auch der klassischen deutschen Philosophie auf das hin ausgelegt wird, was als ihr leitender Bezugspunkt in einer praktischen oder pragmatischen Hinsicht verbindlich war.

II. Die Ausgangslage in der Annäherung der klassischen europäischen und asiatischen Philosophien So mag der gegenwartsphilosophische westliche Hiatus zwischen den erkennenden Funktionen in Wissenschaft und Technik einerseits – und einer ›Welt zeugenden und deutenden‹ Kunst und Kultur andererseits zum Ausgang einer Neubesinnung auf den inneren Zusammenhang von Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik auch innerhalb der westlichen

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Philosophie werden. Insofern nämlich in den Erneuerungen des Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus – in den chinesischen Arbeiten von Tang Junyi, Mou Zongsan, Lik Quen Tong, Guo Yi, Chung Ying Cheng u. a. sowie – im Rahmen der Kyoto-Schule – von Keij Nishitani, Nishida Kitaro, oder Tanabe – Bezug genommen wird auf die klassische Epoche der abendländischen Philosophie von Kant bis Hegel, Marx und Heidegger, wird vornehmlich ein ethisches Fundament der epistemischen Akte sowie eine vernünftige Durchdringung der menschlichen Praxis eingeklagt. Im Sinne der Suche nach einem Mittleren, einem maßvollen Umgang mit uns selbst, der Gemeinschaft wie der uns umgebenden Natur soll etwa ›Dao-learning‹ als Form der Selbstkultivierung des Menschen gegenüber einem bloßen ›logical-inquiry‹ westlich-analytischer Methoden und Modelle, so Lik Kuen Tong, in seiner überlegenen Kraft zu erweisen sein. Dabei wird Anschluss an diejenige Epoche europäischer Philosophie gesucht, die ihrerseits Maß an der Idee der Bildbarkeit des Menschen in der urbildlich antizipierten Einheit von mikro- und makrokosmischen Entwicklungsprozessen nimmt und die im Gestaltbegriff der inneren Form die ästhetische Dimension der Selbstartikulation von Mensch und Kosmos als einigende Mitte zur Sprache bringt. Es ist dies die Epoche der klassischen Philosophie, in der Kants Idee der kategorischen ›Selbstverpflichtung im Fremdbezug‹ auf die reflektierende und aufgeklärte Urteilskraft des Einzelnen gerichtet ist; Schillers ›ästhetische Erziehung des Menschen‹ Kunst als ›Lehrmeisterin der Menschheit‹ begreift; Fichtes Idee der Bildbarkeit des Einzelnen auf dem Prinzip der Tathandlung als der gemeinsamen Quelle von Sein und Setzen beruht; Schellings Idee der bloß graduellen Unterscheidung von natürlichen und künstlichen Entitäten wie ihrer Einheit in Kunst und Kultur in einer integrativen Identitätsform zur Sprache gebracht wird; aber auch Hegels Suche nach der inneren Übereinstimmung von Freiheit und Notwendigkeit im Bilde einer sittlichen Gemeinschaft eine Kategoriengenese aller Denk- und Seinsbestimmungen motiviert. Hegels Idee der Übereinstimmung aller menschlichen Kräfte in einer sittlichen Ordnung sollte noch die Frühschriften des jungen Marx beeinflussen können. Selbst Heidegger beerbt in seiner Kritik am vornehmlich theoretisch inspirierten, verobjektivierenden Impuls der abendländischen Metaphysik diesen freiheitsorientierten Impuls der kantischen und nachkantischen Philosophie vielmehr, als dass er in seiner versuchten Neuorientierung eine Überbietung hätte bewirken können. Seit dem 18. Jahrhundert rücken somit Vermittlungsversuche in das Zentrum der Aufmerksamkeit, die im Sinne von Kants Grenzbestimmung der theoretischen Vernunft Systembildungen aus dem Geiste einer sittlich gebundenen moralischen Welt zu entfalten suchen und somit zwischen den Extremen der Seins- und Sollensordnung nach einem Prinzip ihrer Übereinstimmung suchen. So wird heute erneut nach der Erschließungskraft solcher Modelle zu fragen sein, in denen Erkennen, Handeln, und Empfinden (oder Gefühl, Intuition oder ästhetischer Sinn) noch in systematischer Weise in einem integrativen Horizont aufeinander bezogen sein könnten. Fichte, Schelling und Hegel suchten – im Sinne der Selbstbildung und Selbstverpflichtung des Menschen – nach einer solchen inneren Verbindung von vernünftiger Einsicht und moralischem Handeln in der Idee der Bildbarkeit des Menschen. Der Wahrheitsbezug der epistemischen Akte sollte von der Idee eines höchsten Worum-Willen, der Idee des in Gemeinschaft und Gesellschaft zu

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gestaltenden Guten ebenso unabtrennbar sein wie die Idee des Guten von ihrem sinn-fälligen Ausdruck in der auf Moralität gründenden empirischen Welt. Die Kultivierung der Natur und die Versinnlichung des Geistes sollte in einer Sphäre sichtbar werden können, in der wie in einem Urbilde das Modell einer zu gestaltenden Ordnung greifbar war. Kant hatte diese Vermittlungsbemühung in seiner dritten Kritik als Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen in den Horizont der ästhetischen und der teleologischen Urteilskraft gestellt. Fichte, Schelling und Hegel sind ihm darin gefolgt. Und so erhielt der ästhetische Sinn eine gebundene Stellung im Rahmen einer zu vollführenden sittlichen Ordnung, die ihrerseits als kultivierte Natur und als in die Natur eingebundene Kultur zu begreifen ist, und nun als Leithorizont der Selbst- und Weltverständigung auch im Rahmen neu-konfuzianischer Annäherungen – aber auch in der japanischen Kyoto-Schule – Beachtung gewinnt. Der Impuls, der für diese Zielsetzung von Kant ausgegangen ist, macht einen kurzen Blick auf seine Systemarchitektur erforderlich.

III. Bedeutung der Systemarchitektur Kants als Ort der Vermittlung 1. Die Spannung zwischen autonomen und heteronomen Ästhetiken Bezogen auf die genannte Zielsetzung kommt nun der Systemarchitektur der kantischen Philosophie eine besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur den nachkantischen Systembildungen von Fichte, Schelling und Hegel den Weg bereitet, sondern einer Vielzahl neuerer Ansätze in der chinesischen und auch japanischen Gegenwartsphilosophie als Bezugsquelle dient. Mit Blick auf Kants Versuch einer Vermittlung von Erkenntnistheorie und Moralphilosophie rückt zunächst der ästhetische Sinn in der Analyse der ›reflektierenden Urteilskraft‹ in die Mitte: Der ästhetische Sinn vermag, so Kant, anzuzeigen, dass wir als erkennende Wesen ›in die Welt passen‹, und er symbolisiert zugleich – in der ästhetischen Anschauung – unsere Freiheit gegenüber der Sphäre des Sinnlichen. Darum sollte Kants ›Kritik der ästhetischen Urteilskraft‹ im Rahmen seines dritten Hauptwerkes auch nicht allein der Autonomie der Kunst und Kultur der Moderne zum Durchbruch verhelfen. Seine Idee der Kunst als ›Symbol des sittlich Guten‹5 behält der Urteilskraft vielmehr das regulative Maß und die Mitte einer ästhetischen Idee zurück, durch die selbst die autonome Kunst noch normativ an die Idee des höchsten Worum-willen, die Idee des Guten, gebunden ist. Aus diesem Grunde kann Kants ästhetische Theorie auch sowohl der Idee der Autonomie der Kunst und Kultur in der Moderne zum Durchbruch verhelfen als auch solchen wahrheitsverpflichteten Ästhetiken zur Seite stehen, die wie etwa Schiller und die romantischen Kunstphilosophien bis zur Existentialontologie von Martin Heidegger – der Kunst als dem eigentlichen ›Orte der Wahrheit‹ verpflichtet sind. In diesen heteronomen Ästhetiken sollen Kunst und Kultur im Lichte vorgängiger Wahrheitsan5

Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 254–B 261 .

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sprüche, – seien sie existentieller, gesellschaftlicher oder auch politischer Natur, – in ihrer Verpflichtung auszulegen sein, die Menschen nicht allein aufzuklären, sondern im Sinne einer zu gestaltenden höheren Ordnung als ein moralisch empfindendes Wesen zu kultivieren. Zwei gegenwärtige, widerstreitende Positionen treten die Nachfolge dieser Traditionslinie an: Die auf Heideggers Existentialontologie zurückgehende sinnverstehende Hermeneutik Gadamers und die gesellschaftsphilosophisch inspirierten Ästhetiken Walter Benjamins und Th. W. Adornos: Beiden gilt die Kunst – gegenüber der philosophischen Arbeit am Begriff – als der eigentliche Ort der Wahrheit, welcher auf dem Wege des Enthüllens und Offenbarens, des Zeigens und Zur-Erscheinung-Bringens zugleich dem Selbstaufschluss der Philosophie über ihre eigenen Möglichkeiten und Grenzen dienen kann. In Kants ästhetischer Theorie finden beide Perspektiven noch zusammen. Die moralische Selbstverpflichtung des Ästhetischen bindet den Wahrheitsgedanken der Philosophie an eine Idee des Schönen, welche im Herzstück philosophischer Selbstverständigung die Funktion einer Grenzbestimmung der Philosophie als Wissenschaft erhält. Nicht soll dabei der ästhetische Sinn als Wahrheitsgarant fungieren, sondern er soll vielmehr allein die Grenzen aller begrifflichen Annäherung an das Vor- und Überbegriffliche sinnfällig werden lassen können und zugleich anzeigen können, dass wir uns in ein freies Verhältnis gegenüber der Sphäre der Sinnlichkeit setzen können. Der Bezug auf einen möglichen Wahrheitsgehalt ist darum nur indirekt greifbar: Die Form des Ästhetischen im Medium einer sinnlichen Gestalt ist zugleich die Form der möglichen Freiheit des Menschen gegenüber der Sphäre des Sinnlichen. Darin liegt, so Kant, ihr höherer, ihr moralischer Wert. Die darum mit der Autonomie des ästhetischen Urteils zugleich einhergehende heteronome Dimension der Moralität und Sittlichkeit der ästhetischen Idee – als ›Symbol des sittlich Guten‹ – ist nur vor dem Horizont der Einsicht in das Gesamtsystem der kantischen Erkenntniskritik wie auch seiner auf Freiheit gründenden Moralphilosophie begreiflich. In der Erschließung der Gesamtstruktur des kantischen Systems, die hier nur angedeutet, nicht aber geleistet werden kann, macht die vermittelnde Funktion der Urteilskraft die ästhetische Dimension des Epistemischen – im Horizont der ästhetischen Urteilskraft – ebenso sinnfällig wie – im ›Symbol des sittlich Guten‹ – die ethische Dimension des Epistemischen. Die teleologische Urteilskraft schließlich greift über diesen sinnen-bezogenen Zugang des Ästhetischen noch hinaus, indem sie den Blick auf das Weltganze, als einer Ordnung aus Zwecken denkbar macht, die nur aus moralischer Selbstgesetzgebung gerechtfertigt ist. Kants Integration der drei Sphären – Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik – in seiner dritten Kritik macht es nicht allein möglich, die abendländische Wende in die Richtung einer totalisierten Idee der autonomen Kunst und Kultur der Moderne – wenigstens in ihren ursprünglichen Grundlegungsversuchen – als ein mögliches Selbst-Missverständnis freizulegen, – da der Begriff der Autonomie im Sinne Kants nicht nur innerhalb der praktischen Vernunft, sondern auch innerhalb der Sphäre der Kunst von einer ethischen Dimension unabtrennbar ist. Ferner bietet Kants Integration von Ethik, Ästhetik und Erkenntnistheorie zugleich eine mögliche Brückenfunktion für die derzeitigen Bemühun-

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gen der chinesischen Philosophie –  auf der Suche nach dem Ganzen aller aufeinander bezogenen Momente in Natur und Kultur.

2. Inversion von Kunst und Natur am Leitfaden des transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit Im Mittelpunkt der Analyse der Funktion der Urteilskraft steht eine Neubesinnung auf Kants Unterscheidung zwischen seiner Idee der natürlichen und der nur durch Freiheit möglichen sittlichen Sphäre des Menschen. Dabei bildet seine Inversion von Kunst und Natur in der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft den Ausgangspunkt: Kants Diktum, nach dem die Kunst so zu entfalten und zu betrachten sei, ›als sei sie Natur‹ sowie umgekehrt, die Idee einer allein durch Kunst und Kultur zu steigernden und damit erst zu vervollkommenden Natur lebt von einer Wechseldurchdringung der Sphären und ist ohne die kritische Revision der Erkenntnistheorie wie die Idee einer auf freier Selbstgesetzgebung beruhenden Ethik und Moralphilosophie nicht zu verstehen. Eine ethisch gebundene Ästhetik und eine durch Kultur zu vervollkommnende Natur bilden in Kants Systemanlage nur mehr die zwei komplementären Seiten der einen Seins- und Sollensordnung, in der die Vernunftidee der Freiheit und die verstandesbezogene sinnliche Welt einander nicht widerstreiten müssen. Die nachkantischen Philosophien von Reinhold, über Fichte, Schelling zu Hegel bilden dann in der Auslegung von Kants Systemarchitektur je unterschiedliche integrative Modelle aus, durch die beide Sphären in ihrer jeweiligen Ortsbestimmung sowohl unterschieden als auch innerlich aufeinander bezogen sind. Leitend ist dabei – wie bereits in den drei Hauptwerken der kantischen Philosophie – die Differenzierung der Seinssphären – des Natürlichen wie auch des Künstlichen – am Maß des in beiden Sphären waltenden transzendentalen Prinzips der Zweckmäßigkeit: Zwischen der bloß formalen und subjektiven Zweckmäßigkeit, wie sie der Beurteilung der Werke der Kunst und Kultur zugrunde liegt und der äußerlichen objektiven Zweckmäßigkeit, wie sie der mechanischen Natur wie den funktionalen Gebilden in Technik und Wissenschaft zu eigen ist, sollte die innere Zweckmäßigkeit, wie sie den sich selbst organisierenden, den organischen Lebewesen zugesprochen werden kann, eine Brücke zur Idee einer möglichen Ordnung aus Zwecken bilden. Durch diese erreicht die freie moralische Welt nicht allein eine systematische Verbindung zwischen der natürlichen und kulturellen Selbstauslegung des Menschen, sondern vermag es zugleich, sich zum Endzweck des kosmischen Gesamtgeschehens zu steigern. So haben die nachkantischen Systembildungen den vermittelnden Impuls des dritten Hauptwerkes der kantischen Philosophie, seinen Versuch, die innere Einheit der natürlichen und intelligiblen Sphäre im ästhetischen Urteil, aber auch in der Idee des moralischen Endzwecks der Natur in einer Propädeutik zu einem philosophischen System zu antizipieren, nicht allein aufgegriffen, sondern ihn in ihren Systembildungen auch zu komplettieren versucht. Den auf Kant folgenden klassischen Systembildungen Fichtes, Schellings und Hegels ist darum der Gedanke einer notwendigen Übereinstimmung von Intelligibilität und

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Sinnlichkeit, Natur und Vernunft quasi-teleologisch eingeschrieben. Sie bilden verschiedene Modelle aus, um der gesuchten Ineinsbildung der Pole gedanklich Rechnung zu tragen: Sei es – wie Kant dies sucht –  durch den Aufschein der moralischen Welt in der ästhetischen Betrachtung; sei es – wie in Schellings mittlerer Periode des Systems des transzendentalen Idealismus – so, dass Kunst selbst als Organ der Vermittlung fungiert; sei es – wie in Hegels Philosophie – im Gedanken des sich gestaltenden organischen Ganzen, dessen Telos Freiheit und dessen Ausgang das bloße unmittelbare ›reine Sein‹ genannt werden kann. Doch auch die ästhetischen Entwürfe der Frühromantiker Schlegel, Novalis und Hölderlin greifen über den Gegensatz von Natur und Kultur – nun explizit – auf ästhetischem Wege hinaus: wie etwa in Schlegels Gestalt der unendlichen Approximation in einer progressiven Universalpoesie oder wie in Hölderlins und vom späten Schelling erwogenen Gedanken eines unerreichbaren unvordenklichen Seinsgrundes, der die Fährte zu Heideggers Überwindung der Philosophie im Denken und Dichten öffnen soll.

3. Post-metaphysische und post-teleologische Modelle Diese Vermittlungsversuche, die in Kants kritischer Wende der Erkenntnistheorie sowie seiner ableitbaren Idee der Freiheit in der Moralphilosophie ihren Ausgang finden, werden nach Hegel in einer post-metaphysischen und post-teleologischen Wende der Moderne grundlegend durchtrennt. Die vormalige Verbindung zwischen der freien Selbstgesetzgebung der inneren, der menschlichen Natur und der funktionalen Verfasstheit der kausal-bezüglichen äußeren Natur wird sukzessive naturalisiert oder epi-phänomenalisiert. Die damit verbundene reduktive, historisierende oder gar eliminative Perspektive in Bezug auf die menschliche Natur findet ihren Niederschlag zunächst in drei fundamentalen Abkehrbewegungen von den Systembildungen der kantischen und nachkantischen Philosophie. Je eine Seite der genannten Einheit – Erkennen, Wollen oder Empfinden/ Gefühl wird Ausgang der Annäherung. 3.1. Die erste dieser Abkehrbewegungen besteht in der Rückführung kultureller Phänomene auf geschichtliche Prozesse, die nun zugleich in einem Gefühl oder Empfinden (der reinen Wahrnehmung) zu verankern sind: So in der Historisierung der Modellbildungen, die von Hamann, Herder, Humboldt und Schleiermacher ihren Ausgang nehmen und in deren Folge das Seinsgeschehen in einem universellen Zeichengeschehen etwa in den semiotischen Konzepten von Peirce, James und Dewey in eine pragmatisch inspirierte Erkenntnistheorie oder in eine historisch ausgelegte Symboltheorie im Sinne von Ernst Cassirer oder auch von Nelson Goodman münden wird. 3.2. Eine zweite Gruppe von Einwänden gegen die Systembildungen der klassischen Periode der Philosophie wird die epistemischen Funktionen zum Ausgang nehmen und, getragen von der durch den Neukantianismus und die entstehende Wissenschaftstheorie begleiteten naturwissenschaftlichen Relativierung, ihre Orientierung am Einfachheits-, Exaktheits- und Folgerichtigkeitsmaß eines auf Reproduzierbarkeit und Beherrschbarkeit

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ausgerichteten Naturverständnisses suchen. Auf diesem Wege soll die Philosophie vornehmlich den Anspruch zurückbehalten, die logischen Grundlagen für das ›Faktum der Wissenschaften‹ zu bearbeiten. 3.3. Drittens wird die Neufundierung aller kulturellen Phänomene in einem auf den Willen, auf die praktischen Funktionen des Menschen bezogenen Seinsgeschehen für die Überwindung der Systemstrukturen der klassischen Philosophien von Kant bis Hegel verantwortlich gemacht: Diese kann mindestens zwei grundlegende Typen ausprägen: Zum einen die mit Schellings integrativer Identitätsform möglich gewordene Neufundierung unserer mentalen Akte in einem un-vordenklichen Sein, das entweder im Sinne Schopenhauers oder Nietzsches ein voluntativ Naturhaftes wie den Willen zum Leben oder den Willen zur Macht ihren Ausdruck findet oder aber – wie in den Arbeiten von Marx wie den Linkshegelianern – im Sinne eines Gesellschaftlich-sozialen wie der Ökonomie der sich wandelnden Gesellschaftsformationen als fundierenden Grund unserer mentalen Akte ins Spiel bringen konnte. Auch in diesem Modell sind die handlungsbezogenen Akte als Derivate eines vorgängigen Seinsgeschehens von epi-phänomenaler Bedeutung. Auch wenn in den drei genannten Traditionslinien Erkennen, Wollen und Fühlen durch eine Neufundierung mit Bezug auf je eine Seite der drei Momente je neu gruppiert und aufeinander bezogen sind, so bleiben sie doch alle drei in einer jeden der genannten Traditionen – wenn auch in einer neuen Stellung – gegenwärtig.

IV. Die antinomische Lage zwischen dem verstandesgebundenen Erfahrungswissen und der vernunftbezogenen Moralität und Freiheit Kant hat die apriorischen Formen von Anschauung, Verstand, Vernunft wie der diese drei Vermögen vermittelnden Urteilskraft, noch bezogen auf diejenigen invarianten Bedingungen unseres wissenden und wollenden Weltverhältnisses zur Sprache gebracht, und als apriorische Formbedingungen der Anschauung und des Denkens von dem je Gefühlten, Gewussten oder Gewollten, – den empirisch sich wandelnden Materialen oder Gehalten, in das sie eingelagert sind, – unterschieden. In diesen apriorischen Formen werden diejenigen transzendentalen Bedingungen zur Sprache gebracht, welche unser Erleben, Erkennen und auch das moralische Wollen allererst ermöglichen, ohne selbst auf dem Wege rationaler Verständigung zustande gekommen zu sein. Was hier nur aufgegriffen, aber nicht eigens gezeigt werden kann: Kant legt diejenigen apriorischen Formen unserer Erkenntnistätigkeit wie der Gesetze unserer moralischen Willensbestimmung frei, die unseren epistemischen wie praktisch-moralischen Selbst- und Weltbezügen bereits eingelagert sind, unabhängig davon, ob wir uns ihrer Apriorität bewusst sind oder nicht. Indem dann jedoch allein die theoretische Vernunft auf Wahrnehmung und Empfindung gründet, während die moralische Vernunft sich in freier Selbstgesetzgebung gegenüber der Empfindung zugleich als unabhängig begreifen kann, so bleibt es der Kunst und Kultur überantwortet, im freien Spiel der Einbildung auf beide zugleich bezogen zu sein: auf

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die Sphäre der Sinnlichkeit wie das übersinnliche Vermögen der ästhetischen Ideen. Darin aber, im freien Spiel seiner Kräfte, sollte der Mensch sowohl Teil der sinnengebundenen Welt als auch frei gegenüber ihren Gesetzen genannt werden können und schließlich im ›Symbol des sittlich Guten‹ auch den Aufschein einer moralischen Welt wahrnehmen können. 1. Die ästhetische Idee des Schönen gibt uns die Gewissheit, ›dass wir in die Welt passen‹. Diese Dimension der kantischen Erkenntniskritik, die Gewissheit, ›dass wir in die Welt passen‹ wie auch – in unserer praktischen Vernunft – die Herausforderung einer zu gestaltenden moralischen Welt, geben zugleich den Weg frei, in die Grundlagen wissenschaftlich-technischer Selbst- und Weltauslegung hineinzufragen und in diesen das ethische Fundament einer jeden Erkenntnistheorie freizulegen. Denn wenn gelten soll, dass die apriorischen Formen des erkennenden, wollenden und ästhetischen Bewusstseins als geistige Form des Empirischen und als Grund der Möglichkeit von Realitäts-bewusstsein nicht selbst mehr auf empirischem Wege zu gewinnen sind, sondern mit diesem bereits in Gebrauch genommen sind, unabhängig davon, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, dann wird unser philosophisches Wissen als Reflexionswissen das Vernunftwissen vom Erfahrungswissen zu unterscheiden haben und die mit dieser Unterscheidung verbundenen widerstreitenden Geltungsansprüche der Vernunft – die Vernunftidee freier Selbstgesetzgebung und die verstandesbezügliche Abhängigkeit unseres erfahrungsbezogenen Bewusstseins von den Phänomenen in Raum und Zeit – in einem integrierenden Theorietypus zu verbinden suchen, indem die ethischen und epistemischen Formen unseres Selbst- und Weltverhältnisses nur mehr der Ausdruck zweier entgegengesetzter, wenn auch stets notwendig aufeinander bezogener Artikulationsweisen unserer einigen menschlichen Vernunft sind. Dies war zugleich Kants Aufgabe einer Metaphysik als Wissenschaft: Als Wissenschaft sollte die Metaphysik in einem ihrer Teile, der Metaphysik der Natur, der Erfahrungsabhängigkeit allen Wissens Rechnung tragen, zugleich aber, im Rahmen der Metaphysik der Sitten, mit Blick auf die freie Selbstgesetzgebung des Menschen in einer aus Ideen möglichen Welt, – in der Welt unter moralischen Gesetzen – ein Übersinnliches und Unbedingtes als Fundament und Quelle unseres Handelns freilegen. Den damit gesetzten Widerstreit der Vernunft mit sich selbst löst Kant durch eine systematische Unterscheidung zweier Hinsichten, auf die wir im wissenden und wollenden Selbst- und Weltbezug je Bezug nehmen: auf die kausal-bezügliche Erscheinungsmannigfaltigkeit wie auch die Freiheit einer spontan-ursächlichen moralischen Welt. Die Irreduzibilität der beiden Gesetzesarten macht Kants Unterscheidung der phänomenalen von der noumenalen Welt somit unvermeidlich. Schelling nimmt in seiner mittleren Periode diese antinomische Lage zum Ausgangspunkt einer ästhetischen Vermittlung zwischen intelligibler Form und sinnlicher Materialität: Nur, so die Idee, in der Kunst, können Sinnliches und Übersinnliches zusammenfinden – ohne dabei entweder das Sinnliche auf rein intelligible Formen zu reduzieren (wie

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etwa in der späteren An-ästhetik der Moderne) oder aber das Übersinnliche der geistigen Formensprache zu naturalisieren (wie in der gegenwärtigen naturalisierenden Erkenntnistheorie). Dabei sucht Schellings Idee der Natur als ›unbewusster Poesie des Geistes‹ nach einer Realisierung des Poietischen, des gestaltbezogen Ästhetischen der aristotelischen Entelechie, während Hegel den Begriff des Geistes in seinen Manifestationen – in den Sphären des Natürlichen und Intelligiblen – am Maß der Nähe oder Ferne zur Freiheit der intelligiblen Gestalt des sich selbst bestimmenden Geistes in einer nur mehr graduell differenzierten Entäußerung des sich bestimmenden Geistes zur Sprache bringt. Beiden Systemen liegt Kants Idee einer äußeren und inneren Zweckordnung zugrunde: Demnach kann die natürliche Zweckordnung nur im Bilde eines in sich gefügten Ganzen ausgelegt werden, dessen mechanische Gesetze auf der kausal-determinierenden Funktion des Verstandes (in seinem Bezug zur raum-zeitlichen Welt) beruhen und dessen Zweckmäßigkeit auf teleologisch beschreibbaren, quasi-intelligiblen Kausalitäten beruht, die mit Freiheit kompatibel sind und in der freien Selbstgesetzgebung einer sittlichen Ordnung – durch Rechtsgründe – auf ein zureichendes Maß gebracht werden können.

2. Gegenwärtige Herausforderungen: Szientifische Selbstauslegung der westlichen Moderne in der Annäherung an traditionsbezogene Analysen des Neu-Konfuzianismus Während die westliche, säkulare Moderne sich in ihrem wissenschaftsbezogenen Selbstverständnis dann im 20. Jhdt. gegen die eigenen traditionsbezogenen Ideen letzter sinnstiftender Horizonte artikuliert, greift der Neu-Konfuzianismus –  in einer deutlichen Relativierung wissenschaftlicher Rationalität –  auf die buddhistisch-taoistischen und konfuzianischen Quellen zurück und dies – etwa bei Lik Kuen Tong oder Chung Ying Cheng – im Verbund mit Martin Heideggers Logos-Kritik der ›planetarischen Technik‹: In expliziter Abkehr vom szientifischen Selbstverständnis der Moderne wird der Verlust sinnbezüglicher Horizonte seitens der westlichen Philosophie somit nicht nur beklagt, sondern mit Bezug auf die eigenen Quellen und Urtexte ein Weg der Erneuerung und Kompensation gesucht: Wissenschaftsbezug und Traditionsverpflichtung sollen einander nicht widerstreiten, sondern einander wechselseitig befruchten können. Insbesondere die Spannung zwischen den beiden richtungsweisenden Formen der Metaphysikkritik im 20. Jh. – zwischen Martin Heideggers Fundamentalontologie einerseits und der Metaphysikkritik der wissenschaftstheoretischen Wende des Wiener Kreises andererseits – schärft den Blick auf die Rückwende des Neu-Konfuzianismus zu den eigenen Traditionen und Fundamenten sowie damit einhergehend die Art der Kritik an der gegenwärtigen westlichen – wissenschaftsbezüglichen – Selbst- und Weltauslegung.

Auf dem Umwege über eine Selbstreflexion und Selbstkritik eigener Traditionen kann nach bisher Gesagtem zugleich auch die Schwierigkeit deutlich werden, vor die sich die asiatischen Gegenwartsphilosophien gestellt sehen: Insofern sie nach einem Ort der Inte-

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gration von Natur und Kultur, Sinnlichkeit und Intelligibilität, Spiritualität und Rationalität suchen, stehen sie, näher bedacht, vor eben der Schwierigkeit, vor die sich auch die wissenschaftsbezogene Moderne in ihren Anfängen gestellt sah: Soll das ethische Fundament unserer Selbst- und Weltbeziehung nicht gefährdet werden, so kann, wie Kant dies sah, der Begriff des Endlichen in einer endlichen Welt nicht ein letzter sein. Ein Endliches ist nicht leitender Bezugspunkt der moralischen Welt. Die Selbstgesetzgebung der menschlichen Freiheit, ihre ethische Perspektive, macht vielmehr eine urbildliche Antizipation der Idee des Seinsganzen erforderlich, in die eine intelligible Kausalität wie die freie moralische Selbstgesetzgebung des Menschen auch integrierbar sein muss. Die Welt kann darum nicht als kausal geschlossen aufgefasst werden. In Kants ›Ideal der reinen Vernunft‹ werden in einer urbildlichen Antizipation der möglichen Einheit von sinnlichen und übersinnlichen Zwecken beide Sphären als grundsätzlich vereinbar aufgefasst. Im chinesischen Tian (Himmel) oder mit Bezug auf das alles umschließende Dao ist ein solcher Gedanke, wenn auch anders fundiert, erneut präsent. Indem neuere chinesische und japanische Philosophien die Dimension der Spiritualität darum explizit einklagen, ist auch die genannte Schwierigkeit unvermeidlich. Während die westliche, säkulare Moderne als Konsequenz dieser Schwierigkeit in ihrem wissenschaftsbezogenen Selbstverständnis mögliche leitende Horizonte aus epistemischen Gründen zurückzuweisen sucht, greifen sowohl der Neu-Konfuzianismus als auch die japanische Gegenwartsphilosophie in deutlicher Relativierung der wissenschaftlichen Rationalität auf die buddhistisch-taoistisch und konfuzianischen Letzthorizonte zum besseren Verständnis der eigenen kulturellen wie spirituellen Selbst- und Weltauslegungen zurück. Damit benennen sie ein mögliches Desiderat im Selbstverständnis einer möglichen Form des Philosophierens, der die Wissenschaftsorientierung zur letzten Bezugsquelle ihrer Selbstauslegung geworden ist. Soll dabei jedoch die antinomische Lage vermieden werden, in die Kant die menschliche Vernunft bei ihrem Versuch, in das Ganze des kosmischen Seinsgeschehens hineinzufragen, geraten sah, so wird begreiflich zu machen sein, wie der Begriff des ›Himmels‹ (tian) oder des ›Dao‹ mit den Phänomenen der natürlichen, der endlichen Welt zusammengedacht werden kann, ohne entweder die Idee des Unbedingten, die mit der menschlichen Freiheit unweigerlich verbunden ist und damit auch die Idee der Transzendenz, auf welche die Idee des Ganzen bezogen ist, zu verlieren, oder aber die natürlichen Phänomene zu intelligibilisieren. Man wird den Rückbezug zu Kant und der klassischen Philosophie des Idealismus bis Heidegger nicht teilen müssen, um gleichwohl auf diesem ›Um-Wege‹ über seine Systemarchitektur und die damit verbundene Signalwirkung für die integrativen Modelle der zweiten klassischen Periode der europäischen Philosophie ein besseres Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen der Bemühungen um die Entwicklung neuerer Kosmologien und Metaphysiken innerhalb der chinesischen und japanischen Gegenwartsphilosophie erreichen zu können.

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Kolloquium 3 · Claudia Bickmann

Literatur Bickmann, Claudia; Wirtz, Markus u. a. (Hg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, Amsterdam, New York 2006. – »Self-reflection of Thinking and Being: Is contradiction the essence of being?«, in: The International Conference in Commemoration 2565th Anniversary of Confucius & the 5th Congress of the International Confucian Association, Beijing 2014, S. 1685–1698. – »The Idea of a Highest Divine Principle — Founding Reason and Spirituality. A Necessary Concept of a Comparative Philosophy?«, in: Religions 3 (2012), no. 4: S. 1025–1040. – »In-sich-widersprüchliche Selbstidentität. Wege der Annäherung zwischen Ost und West. Platon, Schelling und Laotse«, in: Nils Weidtmann (Hg.): Identität und Differenz, Selbstheit und Fremdheit, Freiburg 2013, S. 211–231. – Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Hamburg 1996. Chan, Wing-Cheuk: »Mou Zongsan’s Transformation Of Kant’s Philosophy«, in: Journal of Chinese Philosophy 33.1 (2006), S. 125–139. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Hamburg 1956. – Kritik der praktischen Vernunft (1787), in: Kant’s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe =Ak.), Bd. V, S. 1–163. – Metaphysik der Sitten, Ak. VII, S. 203–549. – Kritik der Urteilskraft, in: Preussische Akademie der Wissenschaften u. a. (Hg.): in: Gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe = AK.) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: »Vom Ich als Prinzip der Philosophie«, in: K.F.A. Schelling (Hg.): Schellings »Sämtliche Werke«, Stuttgart (Cotta) 1856–1861 (= O[riginalausgabe]). Schmidt, Stefan: »›Der große Chinese von Königsberg‹ – Kants Rolle und Funktion im Kontext der Modernisierung konfuzianischen Denkens im 20. Jahrhundert«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 33/1. Tong, Lik Quen: »Dao und Logos: Prolegomena to a Quintessential Hermeneutics – With specific Reference to its Implications for Intercultural Philosophy«, in: Claudia Bickmann u. a. (Hg.): Tradition und Traditionsbruch zwischen Skepsis und Dogmatik, Amsterdam, New York 2006. Zongsan, Mou: Substance of Mind and Substance of Human Nature, Taipei 1969.

Receptivity and Creativity in Hermeneutics: Focusing on Gadamer with Reference to Onto-Hermeneutics Chung-ying Cheng (Shanghai Jiaotong University and University of Hawaii at Manao)

Abstract There are two aspects of the hermeneutic: the receptive and the creative. The receptive of the hermeneutic consists in coming to know and acknowledge what has happened, observing what there is as historically effected, foretelling what will happen as a matter of projection of future possibilities, and disclosing / discovering transcendental conditions, fore-structures or horizons of human understanding and interpretation; the creative of the hermeneutic, on the other hand, consists in realizing and demonstrating human sensibilities and human capabilities and needs, conceptualizing what is factual and real based on human cognitive and volitional faculties and experiences, developing values and pursuing regulative ideals of actions, and searching for best possible ways or methods to reach for individual and communal end-goals which will enhance human beings as autonomous entities and moral agents in the world. The receptive is represented by the phenomenological approach to Being and reality whereas the creative is conveyed by an ontology of reflection of human being for self-definition and self-cultivation of human faculties. This amounts to bringing out an existing distinction between ming ભ(what is imparted) and li ⨶ (the presupposed ground) on the one hand and xing ᙗ( human potentiality for being in oneself) and xin ᗳ (human understanding and interpretation toward action) on the other in the tradition of Confucian metaphysics. Next, I shall focus on Heidegger and Gadamer as taking ontological receptivity (as a matter of fore-structures of Being or Language of human understanding) as the source of meaning of existence and meaningfulness of texts. There are of course creative elements to be identified with forming investigative projects of the Dasein for disclosing truth of the Being, but the main tone is to realize the Being or Language as base structures of our hermeneutic consciousness or hermeneutic space of understanding. Because of spacelimitation, however, I shall leave to another occasion the discussion of the creative formation and positive projection of a transformative cosmological philosophy in the Yijing tradition as represented in my onto-hermeneutics which takes experiences of »comprehensive observation« (guan) and »feeling- reflection« (gan) as two avenues toward human understanding and hermeneutic enterprise of interpretation.

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Ontological receptivity and hermeneutical creativity In any hermeneutic understanding there are two aspects of the hermeneutic understanding which needs to be clarified. They are the ontological as the receptive and the epistemological and methodological as the creative. The receptive of the hermeneutic consists in acknowledging what has happened, observing what there is as historically effected, foretelling what will happen as a matter of future projection of possibilities, and disclosing / discovering conditions and fore-structures or horizons of human understanding; the creative of the hermeneutic, on the other hand, consists in reflecting on what human sensibilities and human desires and needs are, conceptualizing what is factual and real based on participations of human cognitive and volitional faculties and experiences, recognizing the end-goals and regulative ideals of our normative pursuits, and searching for best possible ways or methods for reaching our end-goals which will enhance human beings as autonomous entities and moral agents in the world. It seems clear that we may not always know what is receptive in our understanding and what is creative as we have taken many things for granted in seeking understanding. It is not until Kant that the idea of transcendental conditions for knowledge was suggested and its content analyzed. Peirce has tried to avoid the transcendental as a prior and developed his theory of triadic relations in terms of interpretation of a sign. But what makes interpretation possible can still be regarded as pre-conceived or pre-understood. In seeking to understand the human condition Heidegger worked out the idea of preunderstanding as a result from his theory of temporality which shows that we cannot understand the present and self without presupposing an effective past and an anticipated future. On the side of Chinese philosophy, knowledge can be seen as the working out of our understanding of ourselves and the reality by reflective experience which reveals what is self and the world through our experience of the world and active participation in changes of the world. There is always the interplay of the receptive which is presupposed or given and the creative in the human person who cultivates and constructs by learning and reflection. Reflection plays both the role of reception and the role of creation. Reality of the world which gives rise to the reality of the human person is the primordial model for understanding the person in this manner, as it is seen as an open process of the interplay of the receptive and the creative, respectively named kun and qian in the Yijing.1 In order to focus on the distinction and the functional relationship between the receptive and the creative in the hermeneutic, I shall mention the search for method and the search for theory as representing precisely the two aspects of inquiry into human understanding. Although we could trace the history of method-searching in the modern European philosophical development, what is important here is to recognize that in the development of philosophical hermeneutics in 19th to 20th century there are great efforts in identifying a method or methodology for hermeneutic experience which turns out to have But one must beware that the gun as translate by Richard Wilhelm does not have to assume a received past, for as a cosmic force or cosmic dimension of the creativity of the taiji it is primarily the nourishing and energy-supplying aspect of the ultimate. 1

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both receptive and creative elements as we could recognize in the works of Ast and Schleiermacher. Following these great efforts, when we come to the 20th century we also come to revolutionary consciousness focusing on language and reality or being, we may call the focus on language the linguistic turn and the focus on being the ontological turn. In the following I shall examine how both turns enable Heidegger and Gadamer to see truth apart from and beyond method and how his philosophical hermeneutics reveals the aspects of receptive and creative in light of my understanding of a full hermeneutic theory and method which embraces both the European tradition and the Chinese tradition of the Yijing.

Ontological Receptivity in Gadamer In speaking of Gadamer, we see that Gadamer has inherited the Heideggerian ontology of the Dasein and yet makes a great contribution in translating Being into language of human beings. In a way he has secularized Heidegger’s Aristotelian and Catholic philosophy of the human being. He has brought creativity to bear on Heidegger’s ontology and tried to explain change in terms of time. Although he acknowledges Heidegger’s fundamental ontology as basis for his hermeneutics2, he has transformed this presupposed Being in our living into concrete events of understanding in history and social sciences or even in dialogues in communal life. In this sense he has transformed the ontological receptivity of Heidegger into a form of hermeneutical creativity to be described as philosophical hermeneutics. The following passage from his Truth and Method is most striking in making this transformation: »That the structure of Dasein is thrown projection, that in realizing its own being Dasein is understanding, must also be true of the act of understanding in the human sciences. The general structure of understanding is concretized in historical understanding, in that the concrete bonds of custom and tradition and the corresponding possibilities of one’s own future become effective in understanding itself. Dasein that projects itself on its own potentiality-for-being has always ›been‹. This is the meaning of the existential of ›thrownness‹.«3 For Gadamer, what is significant is that Dasein is not submerged simply in the vulgar life of inauthenticity but strives and indeed has manifested itself in positive acts of self-understanding as shown in social sciences of art history and law. What is to be emphasized is that the being-in-the-world is actually engaged in the world and has worked out its potentiality in one way or another so that its original state of being thrown becomes purposeful and meaningful. In a deep sense Gadamer sees language as essence of human being in which all human activities and tradition are to be embedded. But the question is how we should understand language. He said this to me when we had our conversation on May 21, 2000. See Gadamer, Hans-Georg: Truth and Method (as translated from German into English by Joel Weinsheiner and Donald G. Marshall, London and New York 2004, p. 254). 2 3

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There are two crucial points to be made here: Language is being as understood and understanding is the forming of language from our being. In the first point we see how Gadamer has followed Heidegger in seeing language as the House of Being which is given to us so that we can find being in language. In this sense language is the medium of that in which everything is happing in terms of our human activities. It is in language that we come to understand ourselves. Here again we can see language as understanding which comes to understand itself and thus makes communication, dialogue, art evaluation, historical consciousness, and even reading and writing poetry possible. In this sense Gadamer is not talking about particular language but a language in which one could communicate one’s ideas and one can make one’s insight into reality available so that others could understand and become inspired or enlightened. In this sense language is the spirit of understanding which is embodied in a particular form of language. But the question is that language as form of our understanding can be sedimented in discourses in texts which require activation so that one can understand. This means that language has to be learned just as our mind has to be molded and cultivated. This leads to the fundamental question of whether the form of language or content of language is the key of understanding. The answer is of course both, and yet Gadamer does not make this distinction and insisted that language is the medium of understanding without seeing that language as mind or spirit could transform language as form so that it may use the form of language for understanding and creating another form and thus making interpretation and understanding in a new form of language possible. It is not clear why Gadamer would not make the distinction between language as medium and language as use or tool. What is baffling is that since we do use language as a tool to achieve a goal in diplomacy, ritual, commerce negotiation, and even philosophical debates, how could we disregard the use function of a language? The idea that language must be medium for our feelings and thoughts implies that language is used as a medium and hence serves the purpose of being used as a tool for expressing our feelings and thoughts. This means that language cannot stay with only being used expressively but must serve other purposes as well such as the purpose of calling attention, reference, and awakening others. No doubt even when language is used as a tool, it is still expressive and can be seen as a medium carrying a content. Hence there is no exclusion between the use function and medium function of the language as use of language. This implies that language needs not to be always a language but an object to be transcended. It must be pointed out that in our language intuitively and habitually we may forget that we are using language as a tool, namely as a thing as ready-at-hand as would be recognized by Heidegger. If language fails us, we start to treat language as an object present at hand. It is the language as an object that we are to use as a tool because if we are to know it as object it can be therefore used as a tool. 4

It is when language is used as a tool that we are able to extend and uplift our practical life to a higher level just like any use of invented tools. Of course we have to recognize also the dangers involved in using a tool the least of which is that we can become thralled or controlled by the tool. 4

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Gadamer is worried that we may use language to manipulate or control others. That however is no reason for refusing to see language as tool which can be used for a good purpose rather than for a bad purpose such as controlling or dominating others. This worry suggests a view that language can be made and explored for the good end of understanding but also for ill purpose or simply for ideological propaganda. Then the question is not about the nature of language as a tool, but about the neutrality of language as a tool. It is in this sense that we can speak of language as an icon, as an index or as a way of referring or symbolizing something as something and thus be studied as a symbolic system. Gadamer may disagree with this and insists that we have to see language as a medium of our existence only, but the question is that it is not a matter of our concept of medium or concept of tool which determines what language is, but rather it is the experience (Erfahrung) of something as the tool or as the medium that determines our understanding of something as the tool or as the medium. What makes language significant is that it manifests and engages our consciousness and feelings of our mind when it is used in a given situation. In a situation a language in use can manifest our horizon of seeing and feeling and thinking. For example, if I look up a moving cloud and tell my son that the cloud look like a horse, he can be directed to look up at the cloud and may not see what I see especially given the fact that the object we see is changing all the time. Yet he sees the cloud as a tiger and says so, I would recognize we have shared a horizon but with different contents in the horizon and this no doubt makes a common horizon possible. Different languages in a given situation or different situations bring out different vistas of things and we can see these as belonging to our common language if we acknowledge each other and communicate meaningfully (with overlapping consensus) and effectively. The horizon shared with different contents cannot be language at loose but language as manifesting an open and organizing mind. It is still to be said that language indeed enhances our understanding with understanding as a receiver of meaningfulness or significance of language discourse, spoken or written. This leads to the point that when we read a text, we read from my mind which is different from someone reading from his mind. My understanding based on my knowing the language enables me to understand the text just as I read it, and yet it is at the same time understood by others as others just read it, and in a way we may say we share the same understanding because we read the same text. This is the ontological receptivity of the hermeneutic consciousness: it is also how our common »prejudice« for understanding is formed. As we shall see, if we come to interpret the text with our preconceived ideas or with an adopted perspective, we shall reach a different understanding by interpretation. In this sense interpretation represents an active and creative aspect of hermeneutic consciousness which requires the reader to exercise himself or herself for understanding. Following Heidegger, Gadamer says that being understood is language.5 On this simple proposition we can see a useful representation of the relations between language and ontology (Being) on the one hand, and between language and understanding and between understanding and ontology on the other. 5

Being understood is language in Gadamer: Truth and Method, in Part 111.

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Being Language

Understanding

One can see from this that Being is related to understanding as mediated by language just as Being is related to understanding as mediated by language or Being is related to understanding as mediated by Being. In a simple fashion, one could claim that to understand Being is to understand Being in language and language plays the role of reason or rational cognition and yet reason is nothing but language of reason. But still we have to conceive being as the transcendental condition of understanding, which leads to linguistic manifestation. In this sense language can be seen as a complex of concrete composition of sound and form as determined and formed from the play of understanding where play (Spiel) as Gadamer conceives it is a matter of weighing how to express our feelings and thoughts properly in a factual situation. We see now that language is derived from interaction between Being and understanding so that Being becomes language and understanding at the same time. Perhaps, this will explain how a tradition of authoritative prejudices is formed as a result of the consolidation of understanding in language and fixation of language in understanding for language has to carry the weight and mark of understanding in a historical process. Not only »prejudices« are formed in the tradition, written texts could be written to embody those »prejudices« or pre-judgments. We have to see and acknowledge the presence of language as determinative of texts (as the hermeneutic object) as well as of understanding or interpretation of the texts (as the hermeneutic act). All can be said to be ultimately a manifestation of the Being in question. Although Gadamer did not proclaim to be a Hegelian, but there is a certain receptive sense of him as a Hegelian who is bound by a being of language so that that being becomes language through his understanding which presupposes that his understanding is made possible because of the being of language.6 In this sense we must conceive ourselves as beings-in-language just as Heidegger has conceived us as beings-in-the world. It is not to be denied that there is a relative activity which makes creativity possible which underlies hermeneutic experience of the role of understanding as interpretation for a particular purpose. Of course, the triangle of the above does not represent all the possible relationships between Being on the one hand and language and understanding on the other. In the formation of a yi-li (intention-principle) onto-hermeneutic approach to the interpretation of the Yijing text, Wang Bi has spoken of the desirable relationship of language to the world and the world to the understanding in the concepts of yan (language), xiang (world in image) and yi (intentional understanding) based on li (principle-reason) as follows: Once you obtain the xiang you should forget the yan, once you obtain the yi you should forget the xiang.7 This assertion amounts to making understanding to absorb and submerge the language or to make Being or the world absorb and submerge the language. Gadamer says that »being is language – i. e. self-presentation – as revealed to us by the hermeneutical experience of being«, in Truth and Method, p. 481. 7 Confer Wang Bi, Zhouyi Yueli (General Cases in Zhouyi). 6

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That is why the Being of world could subsist without language and the understanding of a person could be from the Being of the world because it is the source of the world when it is interpreted in the wu (void)-ontology of Laozi in Daodejing. In this manner whether the world must reveal Being in language and whether mind would reveal the world become speculative issues in metaphysics. To contrast, Gadamer must hold that the Being of the world must manifest language in both objective and subjective sense, for language in the subjective sense is human understanding where language in the objective sense is the world. This is the ontological receptivity we must recognize in the triadic relation among language, world (or Being) and understanding.

Hermeneutical Creativity in Gadamer It is interesting to note that for Gadamer the hermeneutic circle was not entertained conscientiously in his main writing Truth and Method but yet it exists implicitly in connection with his conceptions of the prejudices of a tradition and conscientiousness of historical effectiveness. Even his notion of fusion of horizons may require the hermeneutic circle as a determining factor. As »prejudices« are formed by our traditions, our »prejudices« or prejudgments have to be understood in terms of the tradition which should embody a forestructure of presuppositions. There is clearly a mutual implicature between the »prejudices« we have and the tradition underlying our understanding of the world. It can be said to be a reflective appropriation of the tradition. This idea seems to hark back to Schleiermacher in viewing understanding as derived from use of a language and for articulating what is being understood. Gadamer is worried about the question of objective interpretation. Whether we have direct access to the objective is not important. What is important is that Gadamer comes to conceive the goal of his hermeneutics as philosophical and phenomenological rather than as prescriptive and methodological. If understanding results from the conditioning of history, it is the historically effected consciousness as if the understanding has encompassed a history, for we cannot escape the effects of history in our claims of a new criterion of understanding, for the new criterion must also arise from an effective history or presuppose it as we are part of it. With regard to his idea of the fusion of horizons, the horizon is defined by one’s tradition and one can achieve a fusion of horizons with another because here comes the crossing of two traditions which are presented in a process of question and answer. But one could still say that the horizons are different and therefore a dialogue could produce a difference of horizons rather than their fusion. Again we have to assume a whole so that parts of the whole could preserve their individual identities even though they may share a larger tradition, which allows fission (difference) as well as fusion. In his characterization of the elements of a theory of hermeneutic experience we find that there are at least three areas where we can see Gadamer has brought out the creative aspect of hermeneutics in his understanding. In formulating a theory of hermeneutic experience Gadamer has made three major points. First, our understanding is a dialectical process in which what we experience is

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the negative of our ideas. We may see this negative as questioning and this would lead to a productive exchange between the hermeneutic understanding and the reality. Perhaps this point goes back to Socrates, who asked us to examine our life so as to see if it has hidden a vital reality of what we should genuinely aspire to but has in fact trampled on. We must raise questions and demand answers, and this constitutes a dialogue between myself and anyone who has an interest in truth, namely what is in fact true or ultimately true. It is in this dialogic spirit that Plato wrote his Republic in order to show his concern with justice and his insight on how justice is to be attained. Hermeneutic experience therefore must start with fundamental problems and issues of life. Socrates has recognized this: Any question we encounter must involve an answer by another person or just by oneself who has to respond to the question or another question will be posed and there is no end to this search. Nevertheless, Gadamer is opposed to Hegel in taking dialectics to lead to an infinite mind and absolute spirit. He takes our mind to be finite and we must continue to engage in dialectical process of dialogue with the other and this process must be itself infinite without end instead. This conforms to the Yijing notion of the incompletion of the change and transformation as there is no end point without something beyond the end point. But the real issue is whether we will come to a point of life where no question will be raised and no problem will be presented. What would be this point if not death? This issue should lead to a deep reflection on the ground and source of nature of reality and the human self so that we can come to see why new things will come forward and why we need to always engage experience for new knowledge and new adjustment. Of course, there is need to seek freedom from domination of existing structures and to project our ideal social goals which makes self-transcendence possible. In all these our hermeneutic experience must depend on questions we raise and problems we encounter. To pose a question is an act of creativity whereas to be able to receive an answer is a display of both receptivity and creativity of our understanding. Heidegger has raised very fundamental questions of reality and God: Is there a God? How do we speak of God? How do we live in a world without God? This reflects Heidegger᾽s insight into the nature of being of the human being which is presupposed in our understanding of the world. And this no doubt has inspired Gadamer in coming to see how language and historical consciousness (which he called »historically effected consciousness«) have to be presupposed for our understanding or interpretation in order to understand a question or an answer. The meaning of our language in terms of its concepts and structures is always a presupposition which is open to question. It is important that we should use our experience of the world to answer our questions about these concepts and structures and find a genuine way of addressing them. The principle is that we should not escape from our life and we should keep asking questions about life. This amounts to looking into our language as language is the medium for expression of our life. This also amounts to developing our language in terms of our experience of the world in order to discover more about our world and our selves. It is apparent that we must assume or presuppose that the world would allow us to do both so that our dialogical understanding will continue indefinitely. This dialogical process is

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where we keep our language engaged with reality and reality we experience engaged with language. Language must therefore stand for in Gadamer like what reason stands for in Kant. We must recognize that in treating dialectics in such a concrete way of dialogue in facing continually arising issues of life and understanding (specifically via language) is the creative contribution to the creativity in our hermeneutic experience. It is a form of hermeneutic creativity which I take to be highly different from the presupposed authority or prejudice one finds as characterizing another aspect of Gadamer’s understanding of tradition. Based on his understanding of art and history, Gadamer sees truth as a matter of play and treats historical consciences as a matter of discovery in our understanding of ourselves as a part of the tradition. Although he allows our experience to be open so that we may confront our situation and experience and raise our questions, we have to find a way out in our understanding of the experience as part of the process of the human understanding, but not make it an object or an absolute and see instead how it relates to a situation or how it arises from a historical process. But there are two areas in which Gadamer may not be clear as to how we may come to truth with ways of methodological understanding. First, there is ethics in which one can return to oneself in such a way that one can cultivate oneself into a personality and spiritual growth so that one would transform a local situation. On the other hand, in science one can seek objective reality without reference to oneself or one’s subjective view. There is always the question of value and truth to arise from a process of understanding and it cannot be simply settled in understanding in other forms or modes of action which change our understanding. That is, we have to recognize the self-transformation, but not simply the self-presentation of the human self. Language therefore is open to this process of transformation too for it has to face the future and to confront needs of the total, and thus not to confine oneself resp. itself to the past or the present. We must face the issue that language could not substitute our visions of being nor substitute the existence of our concerns for which language is a means of articulation.

How receptivity and creativity merge in historically effected consciousness One must see that the most important concept for Gadamer’s theory of hermeneutic experience is the »historically effected consciousness« which is the topic of the third element of his theory. I wish to argue that it is the source for all the elements of hermeneutic experience and thus without it neither hermeneutic circle, tradition as prejudice and fore-structure of understanding is possible. In this sense I wish to take Gadamer’s idea of »historically effect consciousness« (HEC) to be the keynote for his theory of hermeneutic experience. It is in fact equivalent to the experience of hermeneutical understanding. That is, without HEC there cannot be hermeneutic experience.8 We ask the question about Hence when Gadamer says that »Thus we will have to seek out in hermeneutical experience (his italics) those elements that we have found in our analysis of experience in general« (Truth and Method 8

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meaning and determine a text as meaningful because we see it as having a history and it is handed to us from history and we just wish to assess how we stand to it and how we identify its position relation to us after recognizing its position in history. It is for us to see and yet to make up the historical distance and bring the text to the present situation to give it meaning with our consideration of its historical position. We still have to read it in our present understanding which however is effected by history. The basic idea is that we belong to this history and I can be aware of the history and this fact makes it possible for me to understand what is historically handed. Our understanding is of a historical object and yet it is reflected in my understanding in awareness of its historical backing and source. This is like what I said about the benti (root-body) notion where I know the ben (source, root) and yet can measure and understand the ti (body, substance) in light of what ti could mean to me in the historical consciousness of the text and its origin. As we may see, we have to understand Gadamer’s basic concepts and theoretic claims by reference to their metaphysical foundations in Heidegger. The foundation for Gadamer’s HEC is historicity, namely the being of things happening in the past which are retained as presuppositions of our understanding. Apparently, Heidegger must take a realist posture in speaking of historicity for he speaks of the happening of events in time as past in our »being–with–one-another« which is »handed down to us« as effective in our being as Dasein. The fact is that historicity is a matter of temporality which constitutes us in the sense that we are thrown into a history and a future. This is simply to say that our being is shot through and through with time and things in time and hence experiences the movement from past to the present and projection into the future. Because of the fact that our existence is time-constituted, it is open to both past and future and it is for Dasein to work out the stretch from past to future by way of the present. This explains how Dasein is obsessed with its past and the past of other Dasein. This indicates for Heidegger that Dasein is in one way or another aware of the past by nature of temporality and is effected by such awareness. In a stronger sense the being of Dasein is already affected existentially in his way of knowing and action by its past and hence by whatever happened in the past in so far as Dasein is related to other Dasein. This should explain how we as Dasein is interested and is capable of being interested in knowing a past even not immediately related to us. The point is that it is not a mere matter of interest but a matter of knowing as knowing is a form of being so that any being could be said to be knowable if there is a way of knowing or a way of existence with which Dasein is concerned with. In essence I would interpret Heidegger as holding that Dasein is always historically situated and effected because of its temporality and thus to be able to have a consciousness of the past and concern with future. What Gadamer refers as »historically effected consciousness« is historical consciousness which gives us »prejudice« of the past and which enables us to do historical research for establishing our authority on what is handed to us as tradition. Besides these, as I like to explore, it will lead us to see how we could raise question about past and thus have a dialogue of question and answer between myself and (2004) S. 352, he is a little elliptical about what actually is about. It is in his HEC that we encounter hermeneutic experience which leads to hermeneutic problem of interpretation.

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any other person who is situated to raise question with us. What is important is that we can share a horizon with another person because each of us has a historical consciousness related to our present situation and as such consciousness is historically effected and effective we must share something in common as we look at things historically and yet we also could differ in our views of things because of the HEC we each have. This leads to questions and answers so that more historical consciousness and temporal openness will take place, pointing to a possibility of further sharing a common knowledge of the history and common vista of the future with all the differences in past and future acknowledged and seen. One could see that not only dialogue is possible but it is to be infinite because of the nature of HEC, not only consequently fusion of horizons is possible in a double sense which needs to be clarified, but also that a community and mutual concern is possible which would make ethics or phronesis possible. I must also point out that this is possible again because of the working out of the principle of onto-hermeneutic circle, a circle which is not limited to working out understanding of the whole and parts in a discourse but in our knowledge of being or reality which is historically effected and is capable of being known by our historically effected consciousness. To summarize, I like to claim the following: as we are time-constituted across past, present and future, we are open to an understanding of our own history or any history which could relate to our own history by existential presupposition. This is the thesis of HEC. With HEC we are able to raise questions as a matter of investigation of the past and present and even future and therefore make an infinite dialogue possible. This is of course occasioned by our situatedness which is both historically effected and historically effective. Our dialogues lead us to opening and stretching of our horizon as consciousness or awareness of the history, but awareness of the present as well as a projected view of the future. Between two persons or among a group of persons we could form a community of shared history and shared concern with the history and its future. In terms of our dialogue based on HEC, we come to a better knowledge of ourselves and others and thus have a fusion of horizons of such understanding. Gadamer has stressed the importance of practical reason which would generate, not merely recognize, a unity of past for us. It would also generate, not merely recognize, a unity of future for us. This means that practical reason makes us creative in our interpretation or vice versa. It is our creativity which enables us to protect our practical wisdom and develop our practical knowledge. This further means that we cannot just sit and wait for history to take its effect on us but could think and seek knowledge which leads to selfregulating norms for our action in light of our practical interests as a community or as a possible community in our projection from our reason and experience. This would make our hermeneutical experience possible because we can always raise questions pertaining to our past and questions pertaining to our future. It should be pointed out that hermeneutical experience is not merely a matter of consciousness of the possible but a matter of projection of the possible. Hence it is in this sense that we may argue for the universality of hermeneutical problem not only as a matter of hermeneutical experience but as a matter of hermeneutic projection which leads to questions of possible interpretations.

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There are two more observations to be made in connection with my holistic explanation of Gadamer’s theory of hermeneutical experience with their creative and receptive aspects accentuated. First, Gadamer has explained the hermeneutic experience as experience of human finitude. He says that: »Thus experience is experience of human finitude. The truly experienced person is one who has taken this to heart, who knows that he is master neither of time or the future. The experienced man knows that all foresight is limited and all plans uncertain. In him is realized the truth value of experience«.9 This is no doubt due to the fact that »[g]enuine experience is experience of one’s own historicity«.10 What Gadamer says is true, except that he appears to overstress the receptivity of our experience without bringing out the positive challenge of this experience which we have as human beings and which under normal circumstances leads to what I have called the creativity of the hermeneutical because we are able to creatively seek interpretation in a move to generative vision of unity of horizons with differences and practical wisdom for necessary action which is required for any practical ethics. The second observation has more directly to do with Heidegger than to do with Gadamer. We have to recognize that historicity takes place because of the happening of events (Geschehen). The question is what makes Geschehen possible and what the nature of Geschehen is. For Heidegger, we are just thrown out over here or there by some happening which in some way pre-determines our fate as a receptive existence. The question whether our being also includes an element of creativity which is part of the creativity of the original Geschehen is not even raised, not to say answered. As we shall see, this question is to be answered in the Chinese tradition of the Yijing hermeneutical thinking in which we recognized the self-creativity and continuous creativity or onto-creativity of the human and the hermeneutical. However, as I have shown, it is in Gadamer that we witness a tendency to speak out or bring out this inner creativity of Dasein and this makes a difference of Gadamer᾽s philosophical hermeneutics to Heidegger’s phenomenological hermeneutics. But there is neither explicit nor implicit explication of this inner creativity in Gadamer. In fact he has referred to thrownness (Geworfenheit) as a fact in which no creativity is assumed or recognized. Hence it is still an open problem for our understanding of the potential creativity of Dasein as we see in the onto-hermeneutics of the Yijing.

Question of Geworfenheit in Heidegger-Gadamer How does Heidegger characterize the state in which a Dasein finds itself in the world as being thrown? What then is »thrownness« (Geworfenheit)? Although Heidegger would like to disclose the limited future possibilities a Dasein find himself in his state of thrownness and how these may push its being forward in time, there is an implicit meaning of uncertain origin in the concept of thrownness, a meaning in suggesting as being born in helplessness and purposelessness and groundlessness. It also has an implicit suggestion of 9 10

See Gadamer: Truth and Method, p. 351 Ibid., p. 351.

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the meaning of knowing nowhere to go and thus a sense of wandering, subject to further contingencies. Whether Heidegger intends this implicature of the word »thrownness« or not, we have to understand it in an existential mood determined by our intuitive feeling which may be attributed to the fore-structure of our understanding. Heidegger has explicitly characterized thrownness as »[o]ntologically, we thus obtain the first essential characteristic of states of mind that they disclose Dasein in its thrownness and -proximately and for the most part – in the manner of an evasive turning away.«11 In other words, we can escape from our state of being thrown even though we can choose from limited possibilities which are inscribed in Dasein. Hence our understanding as a form of existence is seriously confined to the state of being as presented in the possibilities within one’s state of thrownness. We have to see that thrownness is a state which also determines what the Dasein is and what state of contingency the Dasein is in. Heidegger has not explained why this term thrownness is chosen. He is too concentrated on explicating our Being in the world as projecting possibilities in the world. As we are bound by our thrownness we are made to project ourselves in a certain way limited by our thrownness. Our thrownness eventually makes us aware of the possibilities we can appropriate so that we can resolve to make them my own. We can throw ourselves into the future and in doing so we not only come to understand ourselves but come to have an interpretation of ourselves so that we relate to the past and live ahead of ourselves. We come to see myself in the present as both thrown and projecting and will decide to make a meaning for myself for myself. The anxiety of Dasein becomes the care (Sorge) of myself and all these are possible and realizable because we come to see ourselves as temporal. Yet it is because of this temporality of our being we can master our possibilities and could transform our inauthenticity into authenticity by grasping the interpretative truth of Being. In other words, our existence could be turned into a Being which is the transcendental condition of our existence as indicated in Heidegger’s later work such as Being and Time of 1963. Heidegger came to have a different ontology for the Dasein from his early nihilistic view of Dasein in Being and Time. In this process of transformation we see that understanding could grow in seeking one’s future and interpretation is a kind of understanding which reflects the existential direction and change of the Dasein who understands and who is also capable of creating a new meaning in one’s new experience and existential being and life. In this sense Heidegger speaks of Dasein as »inheriting and taking over its own thrownness and be in the moment of vision for its time«.12 Throughout his fundamental ontology, Heidegger has shown a receptive attitude toward what the Dasein has disclosed in his own understanding and interpretation. There is the Dasein’s receptivity with regard to what is ontologically presupposed as the receptive, namely the thrownness of the Dasein. Our analysis has also shown that not only Heidegger’s disclosure approach on presuppositions of ontic structures of being reveals 11 12

See Heidegger: Being and Time, p. 175. Ibid, p. 437.

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Kolloquium 3 · Chung-ying Cheng

what is hidden in our understanding of our existence in different modes, we have to recognize what is disclosed makes a difference to our understanding and interpretation of our existence and life. Heidegger makes it possible for us to see that the Dasein eventually has to overcome its evasive inauthenticity and ›fallen‹ situation in order to retrieve his own authenticity in existence. The Dasein has to confront its own being–not and moves toward being-within in authenticity. This amounts to define its own ontological status and make it its own. This Heidegger has shown to be a matter of making resolution for self-transcendence into a future of possibilities. This takes the form of an »anticipatory resoluteness« and its repetition to reach for a height of one’s independence and achieves an overall freedom and authenticity of the Dasein in its individuality. This is what I refer to as the creative of the hermeneutic for it is only through such a creative effort of the individual being that it can be ontologically different and conscientiously independent from the Being which has determined and made its life possible. It is to share with the implicit and potential creativity of the ontology of Being and to make a meaningful life of a human being possible. This shows much creativity of the individual Dasein’s efforts to become its own and to realize this potentiality. But it needs not to be denied that for Heidegger ontological receptivity is still the primary concern for our hermeneutic experience as the ontological receptivity is inscribed in our being as being in the world. This is to strongly contrast with the ontological position of the Yijing in which one is born and generated with a nature as engaged with the creative being and capable of creativity at any moment if one comes to one’s own and participating in the formation and transformation of the world. As the Zhong Yong says under this spirit: »It is to become creative and participative of the creation and transformation of all things like heaven and earth«. It is not simply a state or moment of facing one’s fate and be loyal to oneself.13 I shall explore this position in a subsequent paper in connection with another project on the philosophy of hermeneutics in onto-hermeneutics (onto-generative hermeneutics).

Concluding Remarks The Western tradition of hermeneutics as marked by a development from textual exegesis to methodology of interpretation, and finally, to an ontology of understanding shows a dialectical process of unfolding text, world and man. It can be said to be a process of gradual development of human creativity through hermeneutic experience by way of receptively disclosing a world of being and language. This no doubt has deepened our understating of humanity as consisting in an ontology of understanding and interpretation. What we see is that as a natural being we belong to nature and as a cultural being we belong to a world of cultural tradition we have created. We are constantly involved in reading text, seeking methods for interpretation and reflecting on our ontological situatedness, all of which cannot be separated. Yet there are two problems of understanding in this development 13

Ibid., p. 443.

Receptivity and Creativity in Hermeneutics

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which are difficult to understand, namely how and why our being thrown in our origin leads to our understanding of our being which then leads to understanding of morality and art or even historical meaningfulness. We are also puzzled and worried about the ontological connection of ontology and methodology which exists also in the form of opposition between subjectivity in hermeneutics and objectivity in science. Perhaps, the answers have to come from another model or paradigm of hermeneutic understanding, namely that of onto-hermeneutics. For the first problem we have to see humanity as emerging from a meaningful world we see as meaningful. For the second, we have to recognize that subjectivity in interpretation and objectivity in knowledge have to be understood as ways of seeking to fulfill a human purpose or end in the world under the guide of our knowledge of the world. We have to recognize the onto-hermeneutic unity of the human mind and the world order for the purpose of creative development of humanity as part of the development of the world. There is receptivity in both just as there is creativity in both, we have to see the self and the world as given in language of nature and the language of culture, which must be constructed from our understanding. There cannot be any moral function and epistemic construction without an onto-generative source. Our language is not just a medium or a receptive platform to work our issues but a means for articulating our new thoughts and theoretical or technical insights. This is a new vision of hermeneutic understanding as we see in the Chinese tradition which stresses the relational interdependence and onto-generativity from fact to norm. We have to see how the world has taken two aspects of its existence and presentation: The receptive and the creative, which are intimately related. Whereas one is more a matter of observation or observing what naturally takes place, the other is more a matter of reflection which gives rise to norm and action. Heidegger᾽s and Gadamer᾽s ontologies seem to favor more ontological receptivity than hermeneutic creativity in morality and science. In a sense our receptive knowledge of the world will always pose problems and challenge our response from our understanding. It is the task of our understanding to resist dodging the issue but to enlarge it in order to accommodate whatever differences or different points there are in the world. This is the goal of the onto-hermeneutical understanding which would stress the creative in humanity as much as the receptive in the cosmic. This is indeed an issue comparative to understanding our health as explained by Gadamer. Our bodies are constantly exposed to problems and we need to take a stand for our integrity and seeking holistic body of knowledge – values of both our mind and body.* *Note of thanks: I wish to express my deepest thanks to Professor Claudia Bickmann of Cologne University for her encouragement and timely suggestions for a neater presentation.

Die Rezeptionsgeschichte des Personbegriffs in der Moderne Japans Hiroshi Goto (Hiroshima)

I. Die Etablierung des ›ே᱁‹ (Jin-Kaku) als Übersetzung von ›Person‹ bzw. ›personality‹ 1. Bestandsaufnahme vor der Modernisierung Japans Wie der Titel andeutet, ist ›Person‹ ein im Laufe der Modernisierung Japans neu eingeführter Begriff. Aus diesem Grund beginnt die Untersuchung mit der Bestandsaufnahme an seinem Ursprungsort. 1) Im stoischen Kontext wird der Personbegriff, der ursprünglich mit der zwischenmenschlichen Rolle im engen Zusammenhang stand, von dieser losgelöst und stellt den Menschen als universale Rolle dar. Im römischen Recht gilt ›persona‹ als Rechtssubjekt, das der bloßen Sache gegenübergestellt wird. Die sozialen Organisationen bzw. Institutionen wie Familie, Stand und Staat werden dadurch entsubstantialisiert, sodass sich die zwischenmenschliche Rolle entweder zu einem Aspekt der individuellen Persönlichkeit verwandelt oder samt den genannten Organisationen ausgeblendet wird. 2) Im christlichen Kontext, insbesondere in der Dreieinigkeitslehre, bedeutet ›persona‹ die individuelle Erscheinungsgestalt der einzigen Substanz, der jeweils eine unterschiedliche Rolle zugeteilt wird. Sie deutet zugleich auch auf den Rang bzw. Status hin (die japanische Übersetzung ›఩᱁‹ (I-Kaku) spiegelt u.a. den letzteren Zusammenhang wider). Auf dieser Basis entwickelt Boethius eine wichtige Definition des Personbegriffs: Persona est naturae rationalis individua substantia. 3) Es ist Kant, der die beiden Traditionen vereinigt. Die Personalität gilt dabei als Qualifikationskriterium. Jedes selbstbewusste, vernünftige und freie Individuum wird als ›Person überhaupt‹ klassifiziert, die einen selbständigen Rang gegenüber der Gottheit oder Tierheit bildet und einen speziellen moralischen Status erhält. 4) In der nachkantischen Periode nimmt der Historizismus bzw. der Partikularismus einen Aufstieg. Damit steht zugleich die Rehabilitierung der zwischenmenschlichen Rolle, sogar der überindividuellen Substanz (anders ausgedrückt: jedweder Art der Zwischenstufe zwischen Person überhaupt und individueller Person) vor der Tür. Aus dieser Geschichte lässt sich die Zweideutigkeit des Personbegriffs im heutigen Wortgebrauch erklären: Person ist ein Individuum, dem die Personalität als allgemeine Eigenschaft zugeschrieben wird. Wie konkret ihre Individualität zu deuten ist, kann dabei im Einzelfall unterschiedlich sein.

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Kolloquium 3 · Hiroshi Goto

2. Versuche vor der Etablierung von ›Jin-Kaku‹ Im von Tsuda ins Japanische übersetzten Englisch-Chinesischen Wörterbuch von Lobscheid, An English and Chinese dictionary wird »Person« (zuerst paraphrasiert zu »an individual human being«) ins chinesische Wort »୍ಶே« (vermutlich ein individueller Mensch) sowie »୍఩« (eine Person; hier geht es offensichtlich um die Zahl), dann weiter ins Japanische übersetzt: »Ichi-Nin«, »Hitori« (ein Mensch, eine Person). Demgemäß wird dem »Personal« vornehmlich das chinesische Wort »㌟« (Leib; davon abgeleitet, Selbst), bzw. »㌟ⓗ« (Adjektiv von ㌟), dann weiter das japanische Wort »Jibun-no« (mein, eigen) zugeteilt. Dagegen ist nicht klar, ob »personality« im Sinne des Qualifikationskriteriums für Person überhaupt oder im Sinne des individuellen Charakters verstanden wird. Denn, während die chinesische Übersetzung »Ⅽே« höchstwahrscheinlich den (angeborenen) individuellen Charakter der Person (kurz: Persönlichkeit) bedeutet, weist die japanische Übersetzung »Hitotarukoto«, zumindest nach der heutigen Wortnuance, vielmehr auf das Menschsein im Allgemeinen hin.1 Komplizierter ist die Sachlage, wenn ›Ⅽே‹ anders als bei Tsuda oft in ein anderes japanisches Wort ›Hitotonari‹ paraphrasiert wird und dieses vielmehr im Sinne vom individuellen Charakter verwendet wird. Dies hängt freilich von der Zweideutigkeit des englischen Wortes ›personality‹ ab. Die genannte Paraphrasierung von ›Person‹ zu ›an individual human being‹ deutet jedoch darauf hin, dass Tsuda unter ›Hitotarukoto‹ den individuellen Charakter versteht. Eine ähnliche Unklarheit ist auch bei Tetsujiro Inoue (1855–1944) zu finden. Inoue, der unter den ersten Absolventen der Universität Tokio als erster an derselben Universität eine Professur für Philosophie erhalten hat, benutzt in dem von ihm edierten Wörterbuch der Philosophie »ேရ« (Jin-Pin) als Übersetzung von »personality«. Während dieses Wort eigentlich den individuellen Charakter bedeutet, ist eine andere Bedeutung, der ›Status des Menschen‹, nicht auszuschließen.2 Das gilt auch für »Person«. Denn, Inoue teilt diesem Wort einerseits »ே« (Hito: Mensch), andererseits »ᮏ㌟« (Hon-Mi: Selbst) zu.3 Neben diesen Beispielen gab es bis zur Mitte der Meiji-Periode (von 1868 bis etwa 1896) dutzende Übersetzungsversuche von ›Person‹ bzw. ›personality‹, die je verschiedene Dimensionen des Personbegriffs widerspiegeln: -ேᛶ (Jin-Sei): ein personaler Gott im jüdischen Glauben, -㟋▱᭷ぬ (Reichi-Yukaku als Übersetzung von ›personality‹): ein unendliches Wesen, das über Selbstbewusstsein, Gefühl und Willen verfügt; Anfangsgrund des Universums, -ရ఩/ရ᱁ (Hin-I/Hin-Kaku als Übersetzung von ›personality‹): der Schöpfer der Welt, der über Wissen, Gefühl, Willen und Leben verfügt; Ursache aller Dinge,

1 2 3

Vgl. Sen Tsuda et. al.: Ei-Ka-Wa-yaku Jiten Kon, Tokio 1881, S. 557 ff. Vgl. Tetsuji Morohashi (Hg.): Daikanwa Jiten, Bd. 1, Tokio 2003 (Überarbeitete Auflage), S. 567. Vgl. Tetsujiro Inoue (Hg.): Tetsugaku-Jii, Tokio 1881, S. 65.

Die Rezeptionsgeschichte des Personbegriffs in der Moderne Japans

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-᭷ᚰ⪅ (Yu-Shin-Sha als Übersetzung von ›personality‹/›Person‹): ein Wesen, das den freien Willen besitzt; Gott, Menschheit, Engel, -ே఩ (Jin-I): kein Mittel, sondern Zweck; menschliche Person, -ே㌟ (Jin-Shin): (individuelle) menschliche Person im Gegensatz zur bloßen Sache, -ே≀ (Jin-Butsu als Übersetzung von ›Person‹)/ಶᛶ (Kosei als Übersetzung von ›personality‹): individuelle menschliche Person; individueller Charakter.4

3. Wechsel von ›Jin-I‹ zu ›Jin-Kaku‹ bei Nakajima Hier ist unter anderem der Wechsel von ›Jin-I‹ zu ›Jin-Kaku‹ bei Rikizo Nakajima (1858– 1918) hervorzuheben. Denn er hat damit zur Etablierung des letzteren Ausdrucks entscheidend beigetragen. 1890 benutzt Nakajima noch »Jin-I«, das aus zwei Zeichen ›Jin‹ (Mensch) und ›I‹ (Stelle, Rang) zusammengesetzt ist.5 Die ursprüngliche Bedeutung von ›Jin-I‹ ist je nach dem konfuzianischen Text zweifach: 1) Status des Menschen zwischen Himmel und Erde, 2) Rang der Untertanen.6 An der betreffenden Stelle bezieht sich Nakajima allerdings offensichtlich auf Kant. Er versteht nämlich unter ›Jin-I‹ die Personalität bzw. Menschlichkeit, die in jeder individuellen Person zu finden ist. Darüber hinaus begründet er ausgehend von der Würde des ›Jin-I‹ den Imperativ, dass man andere Menschen nicht als sein eigenes Mittel verwenden darf (und umgekehrt). Er betrachtet dabei die Verletzung von ›Hitotonari‹ als die Verletzung von ›Jin-I‹. Ob das Wort ›Hitotonari‹ an dieser Stelle die individuelle Persönlichkeit oder die Menschlichkeit überhaupt bedeutet, ist allerdings unklar. Im letzteren Fall, so lässt sich vom Kontext her vermuten, ist ›Hitotonari‹ mit ›Jin-I‹ (d. h. Personalität) gleichbedeutend. 1894 führt Nakajima, dem Rat seines Kollegen Tetsujiro Inoue folgend, statt des ›JinI‹ einen neu erfundenen Ausdruck ›Jin-Kaku‹ ein.7 Dieses Wort besteht aus zwei Zeichen: ›Jin‹ (Mensch) und ›Kaku‹ (Rang, Stand, Würde, Stelle, Regel, Kasus usw.). Auf der Ebene der einzelnen Zeichen ist insofern kein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ausdrücken festzustellen. Darüber hinaus scheinen sie auch als zusammengesetztes Wort beinahe identisch zu sein. Denn Inoue versteht unter »Jin-Kaku« (als Übersetzung von ›personality‹) »die Eigenschaft, die den Menschen dadurch zum Menschen macht«, dass er Wissen, Gefühl und Willen besitzt und diese drei Momente bewusst vereinigt. »Jin-Kaku« ist damit der Grund von »Würde bzw. Status des Menschen als Menschen«. Das ist das Kriterium dafür, den Menschen von einer bloßen Sache, Pflanze und Tier zu unterscheiden, während jeder Mensch hinsichtlich dieser Eigenschaft gleichberechtigt Vgl. Junichiro Sako: Kindai Nihonshisoshi niokeru Jinkaku-kannen no Seiritsu, Tokio 1995, S. 20 ff. Vgl. Rikizo Nakajima: »Rikoshugi to Ritashugi«, in: Tetsugakukaizasshi, Bd. 44, Tokio 1890. In dieser Abhandlung kritisiert Nakajima mit Hilfe dieses Begriffs den Egoismus. Dazu kommentiert Sako, dass es nicht feststellbar ist, ob das Originalwort ›personality‹ war. Nach Sako taucht ›Jin-Kaku‹ bei Nakajima erst in seiner Abhandlung »›James Seth‹-Shi Cho Rinrigaku«, in: Tetsugakuzasshi, Bd. 101, Tokio 1894, auf. Hierzu vgl. Sako: Jinkaku-kannen no Seiritsu, S. 24 f. 6 Vgl. Morohashi: Daikanwa Jiten, S. 556. 7 Hier ist zu bemerken, dass weder Inoue noch Nakajima der Erfinder dieses Wortes ist. 4 5

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ist.8 Inoue nennt diese Eigenschaft auch »Hitogara«.9 Dieses Wort bezeichnet im heutigen Gebrauch den individuellen Charakter eines Menschen. Im betreffenden Text unterscheidet Inoue jedoch ›Jin-Kaku‹ ausdrücklich von ›Hin-Kaku‹, mit dem er den individuellen Charakter meint. So liegt die Vermutung nahe, dass er sich mit ›Jin-Kaku‹ sowie ›Hitogara‹ auf die Menschlichkeit im Allgemeinen bezieht. Nakajima definiert »Jin-Kaku«, ebenso wie Inoue, als »Qualifikation des Menschen als Menschen«, die sich aus drei Aspekten zusammensetzt: dem physischen, dem psychischen und dem sozialen Aspekt. Der Mensch qualifiziert sich dadurch als Person, dass er einen Leib10 besitzt, über Wissen, Gefühl und Willen verfügt, diese drei Betätigungen bewusst vereinigt, sie durch Selbstbeherrschung zur Verwirklichung eines Zwecks bzw. Ideals verwendet und die Gesellschaft bildet, in der die Personen einander helfen.11 Hier soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass durch diese Transkription Gott und Engel nicht mehr zu den Personen gehören. Während dies bei einigen der oben genannten Übersetzungsversuche noch der Fall war, wird ›personality‹ nun mit der Menschlichkeit als Qualifikation des Menschen überhaupt oder sogar mit dem Menschsein als Gattung gleichgesetzt. Nakajima unterscheidet zwar den ethischen Kontext des Personbegriffs von dem theologischen und begründet die Beschränkung der Reichweite dieses Begriffs auf die menschliche Person durch den Sachverhalt, dass auf der ethischen Ebene weder Recht noch Pflicht verzichtbar sind und dass Gott im Gegensatz dazu keine Pflicht gegenüber den Menschen hat.12 Diese Säkularisierung hat aber zwei Folgen: Sie erleichterte einerseits den Asiaten, denen das Christentum fremd ist, das Verständnis des Begriffs ›Person‹; andererseits geht die theologische Basis für die Unantastbarkeit der Person verloren. Dies gilt sowohl für ›Jin-Kaku‹ als auch für ›Jin-I‹. Insofern ist zwischen den beiden Ausdrücken kein wesentlicher Unterschied auszumachen. Was hat Nakajima dazu geführt, statt des konfuzianischen Begriffs ›Jin-I‹ einen neuen Ausdruck ›Jin-Kaku‹ zu verwenden? Sollte damit etwas hinzugefügt oder abgeschafft werden (oder beides zugleich)? Um diese Frage zu beantworten, ist der folgende Hintergrund wichtig: Das Grundverständnis des Personbegriffs bei Inoue und Nakajima stützt sich auf der einen Seite auf den Kantischen Begriff; auf der anderen Seite überschreitet sowohl die Idee der Verwirklichung des (eigenen) Zwecks bzw. Ideals als auch die genuin soziale Dimension die formalistische, durch die negative Autonomie geprägte Individualethik Kants. Ausschlaggebend für den letzteren Aspekt war u.a. der Einfluss von T. H. Green (1836–1882), und zwar gerade in dem Zeitraum, in dem der Wechsel von ›Jin-I‹ zu ›Jin-Kaku‹ stattgefunden hat. Damit ergibt sich die Aufgabe, den Unterschied

Vgl. Tetsujiro Inoue: Chugaku Shushin Kyokasho, Bd. 5, Tokio 1902, S. 56 ff. sowie Tetsujiro Inoue: Jinkaku to Shuyo, Tokio 1915, S. 1 f. sowie S. 12 f. 9 Vgl. Inoue: Jinkaku to Shuyo, S. 2. 10 Der Staat, der keinen Leib im prägnanten Sinne hat, gilt damit nur in sekundärer Bedeutung als Person. 11 Vgl. Rikizo Nakajima: Rinri to Kyoiku, Osaka 1902, S. 81 ff. sowie Rikizo Nakajima: Kyoikusha no Jinkaku-Shuyo, Tokio 1911, S. 27–88. 12 Vgl. Nakajima: Kyoikusha no Jinkaku-Shuyo, S. 20 f. 8

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zwischen Kant und Green und den Unterschied zwischen Green einerseits und Inoue sowie Nakajima andererseits festzustellen, um die versteckte Absicht des terminologischen Wechsels zu erhellen.

II. Einführung von und Reaktion auf die Ethik von T. H. Green 1. Die philosophische Landschaft in der beginnenden Moderne Japans seit 1868 Bevor dieses Thema behandelt wird, soll zunächst kurz die damalige Geistesszene Japans geschildert werden. Dominant waren die englischen und die französischen Gedankenrichtungen wie 1) Empirismus, Utilitarismus, 2) naturwissenschaftliche Evolutionstheorie sowie sozialer Darwinismus als Selektionstheorie, und nicht zuletzt 3) Liberalismus, Demokratismus und Individualismus (um nur einen Namen zu nennen: bei J. S. Mill). Die zuletzt genannte politische Idee, die von der Opposition vertreten wurde, wurde 1889 nach einer heftigen Debatte in der neu verordneten Verfassung eingelöst, aufgrund derer 1890 die erste Sitzung des Reichstags eröffnet wurde. Gerade vor der Eröffnung wurde aber die »Kaiserliche Rede über Erziehung« proklamiert, die einen Stützpunkt gegen die liberal-demokratische Bewegung und den dadurch drohenden Verlust der traditionellen Moral errichten sollte. Zwei Jahre später hat Nakajima nach seiner Promotion an der Yale University mit seiner Dissertation »Kant’s Doctrine of the ›Thing in itself‹« (1889) die Stelle des Ethik-Professors an der Universität Tokyo übernommen und der japanischen Leserschaft das Prolegomena to ethics (1883) von T. H. Green vorgestellt.13 Green ist als ein führender Vertreter des Britischen Idealismus bekannt. Seine selfrealization-theory bietet der dortigen Liberal Party die Leitidee für den Wechsel vom ›Laissez-faire‹ zur institutionellen Gewährleistung der Freiheit. Und es war Greens Ethik, die Nakajima als Anhaltspunkt diente, als er, ebenso wie sein Kollege Inoue, später als einer der bedeutendsten Herausgeber des Lehrbuchs für Moral der Nation eindeutig auf der Regierungsseite stand. Im Folgenden wird die Ethik Greens pointierend charakterisiert, um dann in Nakajimas Reaktion auf sie das Motiv für den Wechsel zu ›Jin-Kaku‹ herauszufinden.

2. Pointen der Ethik von T. H. Green Den ontologischen und erkenntnistheoretischen Gedanken Greens zufolge, auf die sich seine Ethik stützt, ist die Welt nichts anderes als Erscheinungs- und Entwicklungsgeschichte des kosmischen Geistes.14 Als apriorisches Seins- und epistemologisches Prinzip

Vgl. Rikizo Nakajima: »Eikoku-Shin-Kantogakuha nituite«, in: Tetsugakuzasshi, Bd. 69–72, Tokio 1892–93. 14 Vgl. Thomas Hill Green: Prolegomena to Ethics, A. C. Bradley (Hg.), Oxford 1883, § 66. 13

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hat u.a. die Kategorie der »relations« den Vorrang.15 Darüber hinaus gilt diese apriorische Dimension als ›Sitz der Freiheit‹.16 Greens Ethik, die aufgrund ihrer Funktion für die moralische Begründung der sozialen Organisationen sowie des Staates eine politische Philosophie in sich schließt, besteht in der Selbstrealisationstheorie. 1) Nach dieser Theorie ist die Selbstrealisation (anders ausgedrückt: eine positive Version der Autonomie) Zweck und Pflicht jeder Person als individuelle Erscheinung des kosmischen Geistes.17 Sie ist in diesem Sinne das Gemeingut jeder Person,18 sodass diese zur gegenseitigen Förderung der Autonomie verpflichtet ist.19 Die Gesellschaft selbst basiert auf der gegenseitigen Anerkennung der gleichberechtigten Personen als Selbstzweck.20 2) Soziale Organisationen wie der Staat (als eine höhere Organisation) sind als Ergebnisse der Selbstrealisation der Menschheit anzusehen.21 Zugleich sind sie die Plätze sowohl der Konkretisierung als auch der Gewährleistung der personalen Selbstrealisation, weil, in Bezug auf den ersteren Punkt, das Erlernen der konkreten Ziele lediglich durch Identifikation mit Familie, Gesellschaft und Staat ermöglicht wird.22 Nicht nur das: Die dabei gewünschte Grundhaltung, der ›Respekt‹ gegenüber dem Subjekt der Selbstrealisation, wird erst auf Basis der Anerkennung durch andere Personen beigebracht.23 Auf der Grundlage dieses Sachverhalts lässt sich die Hervorhebung des konkreten ›Charakters‹, der nichts anderes als Gegenstand der Selbstverbesserung durch das geschichtlich-gesellschaftlich situierte Subjekt ist, begründen.24 3) Zu fragen ist, ob die individuelle Person oder die Gesellschaft, der Staat bzw. die Menschheit in diesem Gefüge den Primat hat. Wie erwähnt, ist die Selbstrealisation nur in der Gesellschaft möglich.25 Der Fortschritt der Gesellschaft, des Staates oder der Menschheit ist jedoch kein Selbstzweck, sondern soll gemäß dem Beitrag zum Fortschritt der individuellen Person als deren Mitglied bewertet werden. Gesellschaft, Staat oder Menschheit besitzen insofern keinen Primat vor der individuellen Person.26 So verstanden gehört der Gehorsam gegenüber dem staatlichen Gesetz vielmehr zur personalen Autonomie selbst.27

15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., § Ebd., §

66, § 77. 74, § 77. 99, § 324. 239, § 244. 190, § 234. 190. 112. 179, § 184, § 232, § 239. 190, § 215. 95. 190. 184, § 191. 324.

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2. Ein kantisches und ein hegelsches Moment bei Green In Greens Ethik sind, wie gezeigt, sowohl das kantische als auch das hegelsche Moment zu finden. Vor diesem Hintergrund lässt sich seine Ethik wie folgt zusammenfassen: 1) Der Anschluss an die kantische Aufklärung des entkontextualisierten Ich bildet auf der einen Seite den Ausgangspunkt seiner ganzen Ethik. Die ›Person‹ wird dabei als individuelles Glied der Gesellschaft, dem Staat oder der Menschheit gegenübergestellt und hat Vorrang vor diesen. Die Selbstrealisation jeder Person gilt somit als Selbstzweck. 2) Green erweitert auf der anderen Seite die kantische Idee der Aufklärung des Selbst bis auf die Aufklärung der anderen. Hierin kommt ein hegelsches Moment zum Tragen. Denn, die gegenseitige Förderung der Autonomie als Gemeingut ist ohne geschichtlichgesellschaftliche Konkretisierung in der Form des Rollenspiels auf verschiedenen sozialen Ebenen undenkbar. Sie erfordert darüber hinaus notwendigerweise die angemessene Charakterbildung des konkreten Subjekts. In diesem Aspekt wird ein genuin tugendethisches Moment ersichtlich. 3) Sein humanistisch-universalistischer ›Selbstismus‹ steht somit nicht nur im Gegensatz zum Egoismus, sondern auch zum Altruismus.28 Die Selbstrealisation verhindert in diesem Sinne keineswegs zugunsten des Egoismus die Vereinigung des Volkes.29 Gleichzeitig ist sie aber auch mit dem Totalitarismus, der den Staat als eine überindividuelle Person verabsolutiert, unvereinbar.

3. Vorteile von Greens Ethik – aus der Sicht von Nakajima Trotz der Anlehnung an die Autonomielehre Kants unterscheidet sich Greens Ethik in zwei Punkten von der formalistischen Ethik der negativen Selbstbeherrschung bei Kant: zum einen in der Lehre der positiven Autonomie, nämlich der Verwirklichung des persönlichen Zwecks, sowie zum anderen durch den Hinweis auf die soziale Dimension als für diese Art der Autonomie notwendige Bedingung. Dass diese Lehre der positiven Autonomie nicht mit dem kategorischen Imperativ, der die Universalisierbarkeit der Maxime fordert, sondern vielmehr mit dem kategorischen Imperativ, der die Behandlung der Person als Zweck befiehlt, im engen Zusammenhang steht, ist offenkundig. Die Bestimmung der Person, dass sie kein bloßes Mittel, sondern Zweck sei, ist in vielen japanischen Literaturen von damals sehr häufig zu finden. Shinichiro Nishi schreibt beispielsweise: »Eben darin besteht die Autonomie, die Kant unter anderen am stärksten vertritt«.30 Nishi war ein Schüler von Nakajima und hat 1902 die Prolegomena to ethics ins Japanische übersetzt. Im Weiteren soll vor diesem Hintergrund der Einfluss Greens auf Inoue und Nakajima näher betrachtet werden. 28 29 30

Ebd., § 208, § 215, § 232. Ebd., § 208. Vgl. Shinichiro Nishi: Green-Shi Rinrigaku Joron (Rinrigakusho-Gaisetsu 10), Tokio 1901, S. 137 f.

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Nakajima stellt, wie erwähnt, 1892 der japanischen Leserschaft die Prolegomena to ethics vor. Greens Ethik beherrschte so schon bald die philosophische Szene Japans, die auf dem Wendepunkt vom englischen bzw. französischen Liberalismus und Utilitarismus zum Deutschen Idealismus stand.31 Nach Aussage Nakajimas hat die Ethik Greens zwei Vorteile, die zu ihrer starken Verbreitung in Japan geführt haben. 1) Sie ist im Vergleich zum Hedonismus bei Spencer oder J. S. Mill profunder und milder. 2) Sie stimmt in einem Aspekt mit dem ›überlieferten‹ ethischen Gedankengut überein. Zu Punkt 1: Mit der Bezeichnung ›profund‹ bezieht sich Nakajima offenbar auf den Apriorismus, u.a. die teleologische Geistesevolutionslehre bei Green. Außerdem ist die Ethik Greens milder, weil die autonome Selbstrealisation der einzelnen Personen vorab im konkreten sozialen Verhältnis aufeinander abgestimmt sein muss. Die Selbstrealisation einer Person ist lediglich durch das Zusammenleben mit anderen Personen in einer bestimmten Gesellschaft möglich, sodass der Fortschritt jeder Person davon abhängt, wie sie zum Fortschritt der Gesellschaft beiträgt.32 Diese These besteht aus zwei Teilen. Auf der einen Seite ist der Staat, wie die »individualistisch orientierten Forscher« behaupten, keine bloße Kollektion der einzelnen Glieder (Kritik am Individualismus, u.a. Egoismus); auf der anderen Seite ist die einzelne Person kein Mittel des Staates (Kritik am Totalitarismus), sondern die Vervollkommnung des Staates setzt vielmehr die Vervollkommnung seiner Glieder voraus.33 Diese Idee, nämlich die geschichtlich-gesellschaftliche Konkretisierung des harmonischen Wechselspiels zwischen Teil und Ganzem, kristallisiert sich in Nakajimas Begriff »Honmu« (wörtlich übersetzt: die eigentliche Aufgabe). Honmu ist

Es war kein anderer als Inoue, der diesem Wechsel Vorschub geleistet hat. Kitaro Nishida, Gründer der Kioto-Schule, war einer der Schüler von Nakajima. Der Einfluss von Greens Ethik ist auch in seinem Hauptwerk Zen no Kenkyu (1911) deutlich zu sehen. Shintani untergliedert den Rezeptionsprozess der Ethik Greens in sechs Perioden: 1. Einführung (etwa 1887–1896): Ohnishi, Nakajima, Nishida 2. Höhepunkt (etwa 1897–1906): Der Wechsel vom englischen bzw. französischen Liberalismus und Utilitarismus zum Deutschen Idealismus 3. Umdeutung (etwa 1907–1912): Die nationalistische Verkleidung des Greenschen Liberalismus bei Nakajima 4. Rückgang (etwa 1912 ff.): Der Aufschwung des Deutschen Idealismus, u.a. des Personalismus Kants 5. Wiederbelebung (um 1926): Die Kritik von Eijiro Kawai (1891–1944) am Nationalismus mit Hilfe vom ›idealistischen‹ ›Individualismus‹ Greens und die dadurch erregte Kritik an Kawai sowohl von der rechten als auch von der linken Seite 6. Greens Ethik als politische Gegenmaßnahme gegen den marxistischen Materialismus (etwa 1935– 1945). Vgl. hierzu Kentaro Shintani: »Wagakuni niokeru T. H. Green no Rinrishiso no Tenkaikatei«, in: Bulletin of the Faculty of Education, Kanazawa University. Educational science, Bd. 10, Kanazawa 1962. 32 Vgl. Rikizo Nakajima: »Green-Shi Rinrigakusho«, in: Bankin no Rinrigakusho, Tokio 1896, S. 13 sowie Rikizo Nakajima: »Thomas Hill Green«, in: Retsudentai Seiyotetsugakushoshi Ge, Tokio 1898, S. 175. 33 Vgl. Rikizo Nakajima: Green-Shi Rinrigakusetsu (Bankin Rinrigakusetsu Sosho 2), Tokio 1909, S. 179 ff. 31

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die moralische Pflicht, die jede Person als Mensch gegenüber sich selbst, der anderen Person, ihrer Familie, der Gesellschaft oder auch dem Staat erfüllen soll (hier führt Nakajima auch Seth an), während der Inhalt der Pflicht je nach dem Stand, dem sozialen Status, der Stärke und Schwäche sowie der Begabung der individuellen Person variieren kann. Zugleich richtet sich dieser Begriff aus der Sicht von Nakajima gegen Kant, solange dieser die Pflicht gegenüber der überindividuellen Organisation wie »Gesellschaft« nicht anerkennt.34 Dieses Verständnis Nakajimas von Greens Ethik bleibt im Prinzip vom Höhepunkt der Green-Rezeption bis zur Periode der Erneuerung erhalten. In der Periode der Erneuerung klassifiziert Nakajima die Realisationstheorie in drei Arten: 1) Theorie der Selbstrealisation, 2) Theorie der gesellschaftlichen Realisation und 3) Theorie der personalen Realisation. Auf Basis dieser Unterscheidung kritisiert er die Theorie der Selbstrealisation dafür, dass sie der sozialen Dimension der Realisation nicht gerecht wird. Einen ähnlichen Mangel, aber in umgekehrter Richtung, enthält die Theorie der gesellschaftlichen Realisation. Diese Mängel werden durch die dritte Position beseitigt, die sowohl der individuellen als auch der sozialen Dimension Rechnung trägt.35 In Bezug auf diesen Sachverhalt kommentiert Inoue später, dass die zunehmende Unzufriedenheit mit der Selbstrealisationstheorie Greens Nakajima dazu veranlasst hat, seine eigene These der personalen Realisation aufzustellen. Inoue fügt hinzu, dass der Ausdruck ›Theorie der personalen Realisation‹ im Vergleich zum Ausdruck ›Theorie der Selbstrealisation‹ harmloser ist, weil das Wort »⮬ᡃ« (Jiga: Selbst bzw. Ego), wenn es überbetont wird, zu einer Verwechselung mit dem Individualismus führen kann.36 Nach der Aussage Nakajimas und der ersten Hälfte der Aussage Inoues scheinen die beiden in Green einen Vertreter der Selbstrealisationstheorie gesehen zu haben, die auf die soziale Dimension keine Rücksicht nimmt. Dass es sich in Wirklichkeit aber um einen heimlichen Austausch von Termini handelt, verrät die zweite Hälfte der Aussage Inoues. Seine Befürchtung lag vielmehr darin, dass die »Selbstrealisationstheorie« von Green trotz ihres »milden« Charakters, gegen ihre eigentliche Absicht, den Individualismus fördern könnte.37 Auch bei Nakajima scheint die Kritik an der »Selbstrealisationstheorie« ein terminologischer Trick gewesen zu sein. Er bestimmt in einem Buch aus demselben Zeitraum, in dem er die oben genannte Klassifizierung einführt, das ›Selbst‹ im Unterschied zur ›Person‹ als einen individualpsychologischen Begriff. Demnach ist der Begriff ›Selbst‹ »am Individuum orientiert«, während der Begriff der Person »am Staat orientiert« ist, wobei er die Rolle des Staates vorwiegend auf den Schutz der Rechte der Staatsbürger und die Pflege der Person durch das Erziehungswesen beschränkt.38 An einer anderen Stelle ergänzt er diese Klassifizierung durch in Klammern gesetzte Bemerkungen: 1) Theorie der Vgl. Rikizo Nakajima: Kyoikuteki-Rinrigaku-Kogi, Tokio 1912, S. 55 ff.; Rikizo Nakajima und Toshihide Shinoda: Shihangakko-yo Shushin Kyokasho, Bd. 4, Tokio 1901, S. 150 ff. 35 Vgl. Nakajima: Kyoikuteki-Rinrigaku-Kogi, S. 135 ff. 36 Vgl. Tetsujiro Inoue: »Onshi Nakajima Rikizo Hakase wo Tsuiokusu«, in: Teiyu Rinrikai Koenshu, Bd. 436, Tokio 1939, S. 81. 37 Vgl. Tetsujiro Inoue: Nihonseishin no Honshitsu, Tokio 1934, S. 354. 38 Vgl. Rikizo Nakajima: Jitsugyogakko Shushin Kyojushishin, Tokio 1912, S. 139 ff. 34

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Selbstrealisation (᏶ᕫ୺⩏: Doktrin der Vervollkommnung des Selbst), 2) Theorie der gesellschaftlichen Realisation (᏶ୡ୺⩏: Doktrin der Vervollkommnung der Welt bzw. der Allgemeinheit) und 3) Theorie der personalen Realisation (έၿ୺⩏: Doktrin des Gemeinguts).39 Bemerkenswert ist, dass Enryo Inoue (1858–1919) die »Selbstrealisationstheorie« von Green ins japanische Wort »έၿ୺⩏« paraphrasiert und darunter die Position versteht, die auf die Verwirklichung des idealen Selbst als sozialem Gemeingut Wert legt.40 Diese Tatsache stärkt die Interpretation, dass Nakajima, wie auch Tetsujiro Inoue, die Realisationstheorie Greens im Prinzip richtig verstanden haben, sie aber aus der oben genannten Befürchtung heraus als egoistische Realisationstheorie gelesen und dann in die angeblich eigene Position ›hineingeschmuggelt‹ haben. Als eine andere Interpretationsmöglichkeit ist freilich nicht auszuschließen, dass Inoue und Nakajima in der Tat nationalistischer als Green eingestellt waren. Dies scheint der Fall zu sein, wenn Nakajima die Rolle der individuellen Person darin sieht, den Staat zu schützen.41 Weniger hilft eine andere Klassifikation der Realisationstheorie, die Nakajima in einem Lehrbuch für Moral entwickelt, dem Verständnis der Lage: 1) die individuelle (᏶඲ㄝ: Theorie der Vervollkommnung), 2) die soziale Realisationstheorie (έၿㄝ: Theorie des Gemeinguts) und, als Synthese der beiden, 3) die Position, dass die Realisation der Person von der der Gesellschaft untrennbar sei. Dabei versteht er unter der sozialen Realisationstheorie diejenige Position, die »Green« »aufgrund der Hegelschen Lehre« »vertritt«.42 Die Frage, welche Klassifikation den Vorrang hat, steht mit der Frage, ob Green ein Kantianer oder eher ein Hegelianer war, im engen Zusammenhang. Die letztgenannte Frage hängt ihrerseits nicht nur vom Entwicklungsprozess des Greenschen Gedankens ab, worauf Nakajima selbst zu Recht hinweist,43 sondern auch von dem je nach Zeit und Situation wechselnden Stellenwert ab, den Nakajima der Ethik Greens zuweist. Diese Thematik, die für die Feststellung des nationalistischen Momentes bei Nakajima sowie Inoue, somit für die Unterscheidung zwischen ihnen und Green unverzichtbar sein könnte, ist im Rahmen dieser Untersuchung nicht mehr auszuführen.44 Vgl. Rikizo Nakajima: »Riso«, in: Kyoiku-Daijiten (Dainihonhyakkajisho-Series), Tokio 1918, S. 1951 f. Hierzu vgl. auch Hidekazu Sasaki: »Jikojitsugen-gainen wo Hokozukeru Rekisitekikiten nikansuru Oboegaki«, in: Departmental Bulletin Paper of the Faculty of Education Utsunomiya University Erster Teil, Bd. 57, Utsunomiya 2007. 40 Hidekazu Sasaki: »Jikojitsugen-Shiso niokeru Kojinshugi, Kokkashugi, Shinpishugi : Jinkaku-gainen no Tagensei nikansuru Shirontekikosatsu«, in: Departmental Bulletin Paper of the Faculty of Education Utsunomiya University Erster Teil, Bd. 58, Utsunomiya 2008. 41 Vgl. Nakajima: Kyoikuteki-Rinrigaku-Kogi, S. 140 f. 42 Vgl. Nakajima und Shinoda: Shihangakko-yo Shushin Kyokasho, S. 101–114. 43 Vgl. Nakajima: Green-Shi Rinrigakusetsu, S. 336. 44 Um kurz auf die Unterscheidung zwischen Individualismus und Egoismus aufmerksam zu machen: Nach Nakajima unterteilt sich die Ethik je nach dem, welchen Lebenszweck sie bevorzugt, in den Hedonismus, die Ethik der Selbstbeherrschung und die Ethik der Realisation. Nakajima unterscheidet den Hedonismus weiterhin in drei Arten: den individuellen Hedonismus (Egoismus), den Hedonismus der Öffentlichkeit bzw. Allgemeinheit (Utilitarismus) und den Hedonismus im evolutionären Sinne (Doktrin der Evolution). Daraus folgt, dass der Egoismus, anders als der Individualismus, nicht zur Realisationstheorie gehört. Der Individualismus dagegen lässt zwar die soziale Dimension der Realisation außer 39

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Zu Punkt 2: Nakajima sieht den Grund für die Verbreitung der Greenschen Ethik auch in ihrer Übereinstimmung mit dem ›überlieferten‹ ethischen Gedankengut Japans.45 Eine ähnliche Behauptung, dass die Theorie der Selbstrealisation bzw. personalen Realisation schon vor Green im Konfuzianismus und Buddhismus vertreten wurde (und sogar mit dem Shintoismus vereinbar ist), bringt auch Inoue vor.46 Hier soll vornehmlich der Konfuzianismus in Betracht gezogen werden, weil er unter anderem die dominanteste politische Ideologie in der Neuzeit Japans war. Die Grundidee des großen Konfuzianers Mengzi (B.C. 372?–B.C. 289) besteht darin, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch ist in der Lage, sich aufzuklären. Als erster ist der König verpflichtet, sich intellektuell und, davon untrennbar, moralisch zu kultivieren. Er ist aber auch dazu verpflichtet, den Beherrschten zur Aufklärung zu verhelfen. Eine ähnliche Asymmetrie besteht auch in der Beziehung ›Vater-Kind‹, ›Ehemann-Ehefrau‹ etc., sodass das angemessene Rollenspiel je auf verschiedenen sozialen Ebenen gefordert wird. Es ist sehr wohl zu vermuten, dass Nakajima und Inoue in der Greenschen These der geschichtlich-gesellschaftlich konkretisierten Autonomie und der wechselseitigen Anerkennung sowie Förderung der Personen untereinander das konfuzianische Ideal der Bildung des Selbst und der Aufklärung der anderen wiedergefunden haben, das auf der Vorstellung basiert, der Mensch sei von Natur und Geburt aus gut.

III. Neubildung der Nationalmoral – Rückkehr der Standesmoral? 1. Übereinstimmung mit oder Abweichung von der Ethik Greens? Hatte Nakajima aber die Rückkehr der konfuzianischen Standesmoral vor, die sich hauptsächlich auf das vertikale Prinzip stützt? Der Konfuzianismus erhebt an den Herrschenden einen ungleich höheren Anspruch auf Kultivierung gemäß dem konfuzianischen Komplex von Theorie und Praxis. Die Leitung der anderen setzt diese Asymmetrie voraus. Dagegen legt die Theorie der Selbstrealisation bei Green das Augenmerk auf ein horizontales Prinzip, d. h. auf die humanistische Gleichberechtigung der Personen. Auch wenn das Ziel der Selbstrealisation geschichtlich-gesellschaftlich konkretisiert sein muss, lässt sie, anders als die standesgemäß fixierte Moral, die Relativität der Ziele zu (auch individuell je nach der Person). Die einzige Bedingung ist, dass das gewählte Ziel dem Wert der Person nicht widerspricht und zur Evolution des kosmischen Geistes beiträgt. Insofern ist die Übereinstimmungsthese von Nakajima und Inoue nur schwer nachzuvollziehen. In der Tat ist die Bewertung des Konfuzianismus‘ bei beiden ambivalent. Nach Acht. Er richtet sich jedoch nicht auf das eigene Interesse im egoistischen Sinne, sondern vielmehr auf die Vervollkommnung des Selbst. Vgl. hierzu Nakajima und Shinoda: Shihangakko-yo Shushin Kyokasho, S. 64 f. In diesem Punkt bleibt Nakajima der Grundidee von Green treu. 45 Vgl. Nakajima: Green-Shi Rinrigakusetsu, S. 330. 46 Vgl. Inoue: »Onshi Nakajima Rikizo Hakase wo Tsuiokusu«, S. 81 f.; Tetsujiro Inoue: Nihon Shushigakuha no Tetsugaku, Tokio 1905, S. 2 f. des Vorworts.

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Nakajima ist die alte, überlieferte Moral auf die Beziehung unter individuellen Menschen beschränkt (z. B.: Anhänglichkeit an die Eltern, Freundschaftlichkeit unter den Geschwistern), sodass sich keine öffentliche Moral und kein Selbstbewusstsein als Nation entwickeln konnte.47 Inoue schätzt den Konfuzianismus einerseits darin hoch, dass dieser auf die »Erziehung der Person« Wert legt. Andererseits nennt er auch Nachteile, z. B., dass die Idee der »Klasse« (besser: des Standes) allzu prägend ist, der »Begriff des personalen Individuums« ungenügend artikuliert ist, sodass es am Gedanken des (gleichen) Rechts und einem Bewusstsein der öffentlichen Moral mangelt.48 In Asien fehlt es zwar nicht am Begriff der Person oder zumindest am Gedanken davon (wie z. B. »Mensch«), dieser Gedanke richtet sich aber tendenziell auf die negative Umsetzung; darüber hinaus besitzt der abendländische Gedanke der Person demgegenüber einen »neuen Aspekt«.49 Aus dieser ambivalenten Bewertung lässt sich ein entscheidender Grund dafür ablesen, warum Nakajima und Inoue letztlich vor dem konfuzianischen Begriff ›Jin-I‹ einen neuen Terminus ›Jin-Kaku‹ bevorzugten. Die Bemühung Nakajimas sowie Inoues lag nämlich darin, trotz der genannten Kluft, durch Revision der konfuzianischen Standesmoral eine moderne Nationalmoral zu begründen. Der oben angeführte Begriff ›Honmu‹ ist unter diesem Gesichtspunkt als die revidierte Tugend der Standesmoral zu deuten.

2. Konflikt zwischen Inoue und Nakajima Inoue als Vertreter des Totalitarismus? Wie erwähnt, haben Inoue und Nakajima als Herausgeber des Lehrbuchs für Moral lange unter der Regierung zusammengearbeitet und es war die Ethik Greens, die als wissenschaftliche Basis für die Moralerziehung der Nation zu Hilfe genommen wurde. Sie trennen sich jedoch anscheinend in der Beantwortung der Frage, womit die Form der Selbstrealisation ausgefüllt werden soll, anders formuliert: Welche Tugenden sollen für welche Rollen entscheidend sein? Nakajima scheint hinsichtlich dieser Frage weitgehend neutral und liberal zu sein. Dagegen gilt Inoue als Konservativer und kritisiert in der Tat, dass Nakajima auf einer abendländischen universalen Moral beharrt und zögert, sich an die in der »Kaiserlichen Rede über Erziehung« formulierten spezifischen Tugenden Japans anzulehnen.50 Er schätzt dabei unter den konfuzianischen Tugenden die Loyalität (ᛅ: Chu) hoch ein und integriert

Vgl. Nakajima: Jitsugyogakko Shushin Kyojushishin, S. 30–34. Vgl. Tetsujiro Inoue: »Jukyo no Chosho Tansho«, in: Inoue, Tetsujiro: Nihon Shushigakuha no Tetsugaku, 2. Auflage, Tokio 1915 (zuerst erschienen in: Tetsugakuzasshi, Bd. 23–24, Tokio 1908–09), S. 781 ff. sowie S. 789 f. 49 Vgl. Nakajima: Jitsugyogakko Shushin Kyojushishin, S. 119 ff., Inoue: »Jukyo no Chosho Tansho«, S. 1 f. des Vorworts sowie S. 1 f. 50 Vgl. Tetsujiro Inoue: »Meiji-Tetsugakukai no Kaiko«, in: Gendai Nihon Shisotaikei, Bd. 24, Tokio 1965 (zuerst erschienen 1932), S. 66; Inoue: Nihonseishin no Honshitsu, S. 354 ff. 47

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den Gehorsam gegen die Eltern (Ꮥ: Ko) in diese Tugend. So entsteht seine These vom ›Staat als große Familie‹. Er reduziert sogar die sonstigen Tugenden auf diese Tugend ›Chu-Ko‹. 1908 tritt Nakajima vom Ausschuss für das Lehrbuch im Kultusministerium zurück. Nach Shintani gab es im Hintergrund vermutlich einen Meinungsstreit innerhalb des Ausschusses zwischen der strikten und der milden Interpretation der integrierten Tugend ›Chu-Ko‹ (mild ist diejenige Interpretation, die die sonstigen Tugenden, wie die der Person als Individuum oder als Menschheit nicht auf ›Chu-Ko‹ reduziert). Shintani sucht hierin die Ursache des Konflikts zwischen Inoue und Nakajima. Er analysiert außerdem die terminologische Verschiebung von ›Selbstrealisation‹ zu ›personaler Realisation‹ als Verkleidung Nakajimas in seiner Not, sich gegen die durch den anschwellenden Nationalismus ermutigte Doktrin der Nationalmoral wehren zu müssen.51 Es ist aber zu beachten, dass ein ähnlicher Trick sich auch in der Kritik Inoues gegen Nakajima versteckt. Denn, bereits in der »Kaiserlichen Rede über Erziehung« ist die horizontale Umdeutung der ›überlieferten‹ Tugenden vollzogen. Beispielsweise wird in ihr (statt des Gehorsams der Ehefrau gegen den Ehemann) die Kooperation zwischen Ehemann und Ehefrau genannt. Darüber hinaus wird auch eine philanthropische Tugend gelobt. Diese letztere Tugend, die sogar auf die kosmopolitische Ebene hinauslaufen könnte, hält Inoue selbst neben der Tugend der Nation für notwendig.52 Umgekehrt akzeptiert auch Nakajima die »Kaiserliche Rede über Erziehung« als Moral für die japanische Nation schlechthin, die aber durchaus eine internationale Geltung haben kann.53 Die These Inoues vom ›Staat als große Familie‹, die wegen der unmöglichen Gleichsetzung von Loyalität als Standesmoral in der feudalistischen, somit privaten Beziehung und Loyalität der Nation in der öffentlichen Beziehung theoretisch unhaltbar ist, intendiert auch keine naive Aufbewahrung, sondern vielmehr die partielle Abschaffung und Revision des konfuzianischen vertikalen Prinzips sowie zugleich die Etablierung der horizontalen Nationalmoral. Der Unterschied zwischen beiden ist in Wirklichkeit also nicht allzu groß.

3. Green als vergessener Philosoph – die Folgezeit Die Ethik Greens (der Deutsche Idealismus in englischer Sprache) hat bei der Loslösung von der englischen und französischen Philosophie eine ausschlaggebende Rolle gespielt, nach dem vollständigen Wechsel zum Deutschen Idealismus (z. B. zur Ethik Kants) jedoch an Bedeutung verloren und wurde wegen seines ›idealistischen‹ ›Individualismus‹ sowohl von der linken als auch von der rechten Seite kritisiert. Sein Personalismus wurde am Ende in den totalitaristischen Personalismus eingesaugt und ist samt seinem Verdienst (wohl auch seinem negativen Einfluss) in völlige Vergessenheit geraten. Dennoch ist nicht zu vergessen, dass ohne diese Vorgeschichte die Demokratisierung Japans in der Vgl. Shintani: »Wagakuni niokeru T. H. Green no Rinrishiso no Tenkaikatei«. Vgl. Tetsujiro Inoue: »Kinji no Rinrimondai ni taisuru Iken«, in: Inoue, Tetsujiro: Sonken Kowashu, Bd. 2, Tokio 1903, S. 603 ff. 53 Vgl. Nakajima: Jitsugyogakko Shushin Kyojushishin, S. 158 f. 51 52

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Nachkriegszeit schwer zu realisieren gewesen wäre und dass der Personbegriff weiterhin seine kritische/präskriptive Geltung beibehalten wird.

Literatur Green, Thomas Hill: Prolegomena to Ethics, A. C. Bradley (Hg.), Oxford 1883. Inoue, Tetsujiro (Hg.): Tetsugaku-Jii, Tokio 1881. Inoue, Tetsujiro: Chugaku Shushin Kyokasho, Bd. 5, Tokio 1902. – »Kinji no Rinrimondai ni taisuru Iken«, in: Inoue, Tetsujiro: Sonken Kowashu, Bd. 2, Tokio 1903. – Nihon Shushigakuha no Tetsugaku, Tokio 1905. – »Jukyo no Chosho Tansho«, in: Inoue, Tetsujiro: Nihon Shushigakuha no Tetsugaku, 2. Auflage, Tokio 1915 (zuerst erschienen in: Tetsugakuzasshi, Bd. 23–24, Tokio 1908–09). – Jinkaku to Shuyo, Tokio 1915. – »Meiji-Tetsugakukai no Kaiko«, in: Gendai Nihon Shisotaikei, Bd. 24, Tokio 1965 (zuerst erschienen 1932). – Nihonseishin no Honshitsu, Tokio 1934. – »Onshi Nakajima Rikizo Hakase wo Tsuiokusu«, in: Teiyu Rinrikai Koenshu, Bd. 436, Tokio 1939. Lobscheid, William: An English and Chinese dictionary, with the Punti and Mandarin pronounciation, Part 1, Hongkong 1866–1869. Morohashi Tetsuji (Hg.): Daikanwa Jiten, Bd. 1, Tokio 2003 (revidierte Auflage). Nakajima, Rikizo: »Rikoshugi to Ritashugi«, in: Tetsugakukaizasshi, Bd. 44, Tokio 1890. – »Eikoku-Shin-Kantogakuha nituite«, in: Tetsugakuzasshi, Bd. 69–72, Tokio 1892–93. – »›James Seth‹-Shi Cho Rinrigaku«, in: Tetsugakuzasshi, Bd. 101, Tokio 1894. – »Green-Shi Rinrigakusho«, in: Bankin no Rinrigakusho, Tokio 1896. – »Thomas Hill Green«, in: Retsudentai Seiyotetsugakushoshi Ge, Tokio 1898. – Rinri to Kyoiku, Osaka 1902. – Green-Shi Rinrigakusetsu (Bankin Rinrigakusetsu Sosho 2), Tokio 1909. – Kyoikusha no Jinkaku-Shuyo, Tokio 1911. – Jitsugyogakko Shushin Kyojushishin, Tokio 1912. – Kyoikuteki-Rinrigaku-Kogi, Tokio 1912. – »Riso«, in: Kyoiku-Daijiten (Dainihonhyakkajisho-Series), Tokio 1918. Nakajima, Rikizo und Shinoda, Toshihide: Shihangakko-yo Shushin Kyokasho, Bd. 4, Tokio 1901. Nishi, Shinichiro: Green-Shi Rinrigaku Joron (Rinrigakusho-Gaisetsu 10), Tokio 1901. – Green-Shi Rinrigaku, Tokio 1902. Nishida, Kitaro: Zen no Kenkyu, Tokio 1911 (jetzt in: Nishida Kitaro Zenshu, Bd. 1, Tokio 2003). Sako, Junichiro: Kindai Nihonshisoshi niokeru Jinkaku-kannen no Seiritsu, Tokio 1995. Sasaki, Hidekazu: »Jikojitsugen-gainen wo Hokozukeru Rekisitekikiten nikansuru Oboegaki«, in: Departmental Bulletin Paper of the Faculty of Education Utsunomiya University part 1, Bd. 57, Utsunomiya 2007. – »Jikojitsugen-Shiso niokeru Kojinshugi, Kokkashugi, Shinpishugi : Jinkaku-gainen no Tagen-

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sei nikansuru Shirontekikosatsu«, in: Departmental Bulletin Paper of the Faculty of Education Utsunomiya University part 1, Bd. 58, Utsunomiya 2008. Shintani, Kentaro: »Wagakuni niokeru T. H. Green no Rinrishiso no Tenkaikatei«, in: Bulletin of the Faculty of Education, Kanazawa University. Educational science, Bd. 10, Kanazawa 1962. Tsuda, Sen et. al.: Ei-Ka-Wa-yaku Jiten Kon, Tokio 1881.

Methode des Subjekts und Subjekt der Methode Rainer Schäfer (Department of Foreign Philosophy, Peking University)

Einleitung Ich unterscheide zwischen Methode und Methodologie. Die Methode ist eine regelhafte, sequentielle, reproduzierbare, überprüfbare und kontextuell gerechtfertigte Vorgehensweise der Forschung, sie macht objektive, d. h. dem Einzelfall gegenüber invariante und von individuellen Gegebenheiten unabhängige Zusammenhänge deutlich und in Sprachspielen öffentlich zugänglich. Die Methode bringt unsere Erkenntnisse in Form, informiert uns und ermöglicht dadurch Wissenschaft. Die Methodologie stellt die Reflexion auf die von uns eingesetzte Vorgehensweise dar. Insofern ist die Methodologie immer reflexiv. Diese Reflexivität kann in Selbstbezüglichkeit übergehen, wenn es der die Methode Ausführende selbst ist, der auf die von ihm als Agent einer Wissenschaft eingesetzte Methode oder Mittel und deren Rechtfertigung reflektiert. Diese methodologische Reflexion kann aber ebenso von Außenstehenden betrieben werden, z. B. von Philosophen, die auf die Methoden der Physik oder der Geschichtswissenschaft reflektieren. Hier liegt dann ein interessanter Fall von Methodologie vor, wenn die philosophische Reflexion auf die Methode selbst auch wieder methodisch vorgeht. Es ist insofern kein fehlerhafter Zirkel, wenn die Methodologie selbst auch methodisch vorgeht, vielmehr macht erst dies die philosophische Methodologie wissenschaftlich, sonst bleibt sie eine Art Anekdotensammlung aus der Wissenschaftsgeschichte. Wenn ein Forscher selbst zunächst eine Methode anwendet und dann, durch Erfolge oder Probleme angeregt, methodologisch darauf reflektiert, was mit seiner Methode nicht stimmte oder weshalb sie erfolgreich war, dann reflektiert er auf seine eigene Struktur der Untersuchung. In diesem Fall hat die Methodologie des Wissenschaftlers die Methode des Subjekts zum Thema und macht das Subjekt methodisch erfassbar. Diesen Zusammenhang wiederum zu reflektieren und auf den Begriff zu bringen ist dann Aufgabe einer philosophischen Methodologie, denn derartige Bestimmungen liegen jenseits der Interessen der spezifischeren Wissenschaften und bilden einen genuinen Bereich philosophischen Fragens. Methodisches Vorgehen betrifft die Formung und Ordnung unserer Erkenntnisse; Methoden allein geben uns noch nicht den intendierten Erkenntnisinhalt, wenngleich die Methodologie zeigt, dass Methoden auch einen spezifischen Erkenntnisinhalt bilden können. Die methodische Vorgehensweise ist daran gebunden, dass es einen zu untersuchenden Sachverhalt gibt, insofern gibt es immer einen Gegenstand der Methode, also etwas, das der Methode unterworfen wird. Zugleich muss es einen Vorgehenden geben, insofern gibt es ebenfalls immer ein Subjekt der Methode, die empirische Person, die z. B. den Versuch durchführt. Das bedeutet nicht, dass alle Akte eines Akteurs immer metho-

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disch sein müssen, nur dort, wo eine methodische Vorgehensweise festgestellt werden kann, muss es auch einen methodischen Akteur oder ein Subjekt geben, das diese Methode durchführt, denn methodisches Vorgehen setzt zweckmäßiges Vorgehen voraus. Der Akteur muss also über ein Begriffsschema von Zwecken und Mitteln verfügen. Methodologisch gesehen sind dabei natürlich solche Fälle besonders interessant, in denen der Untersuchungsgegenstand, der der Methode unterworfen wird, das Subjekt selbst ist; das ist aus philosophischer Sicht z. B. in Erkenntnistheorie, Ethik oder in der Philosophie des Geistes der Fall. Das gilt auch für die Ontologie, sofern der untersuchende Philosoph eben auch eines der Dinge ist, die es in der Welt gibt. Fichte und Hegel haben die Systematik und Wissenschaftlichkeit der Philosophie dadurch auf die Spitze getrieben, dass sie die Methode ihrer Philosophien aus ihrem paradigmatischen Gegenstand abgeleitet haben: Aus Selbstbewusstsein, Geist, Ich oder Subjektivität haben beide die Methode des Philosophierens hergeleitet. Fichte leitet in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre mit den grundlegenden, thetisch-antithetischsynthetischen Akten des Ich seine thetisch-antithetisch-synthetische Methode ab; Hegel analysiert die Schritte seiner Dialektik als Selbstbewusstwerdung des Denkenden; logisch gesehen ist für Hegel der Begriff, also die Subjektivität, Methode. Methodologisch ist dies einleuchtend und lässt dem Skeptiker auf der Ebene der Methodologie keine Angriffsflächen, denn die skeptische Frage, ob eine Methode dem Gegenstand angemessen ist, macht hier keinen Sinn. Allerdings stellt sich natürlich nach dem Verlust der Subjektivität als Paradigma das Problem, dass man offenbar nicht einfach die Methode des Subjekts als allgemeingültige Methode bezeichnen kann, von der sich alle anderen Methoden herzuleiten haben. Daher besteht gegenwärtig in meinen Augen die Schwierigkeit darin, dass es zwar durchaus aus methodologischer Sicht in allen Methoden einen Anteil des Subjekts gibt, in dem Sinne dass Methoden Agenten implizieren, aber der Pluralismus der Methoden sowie die mannigfachen Gegenstände, die keine Subjekte sind, sowie die Unmöglichkeit, unter den Methoden einfach eine Hierarchie aufstellen zu können, die auf ein letztes Fundament aller Methoden hinausläuft, das die verschiedenen Methoden rechtfertigt, also die Unmöglichkeit – mit Kant zu reden – eine durchgängige Architektonik der Vernunft zu bilden, all dies lässt die Rolle der Subjektivität in der Methode eine veränderte Funktion übernehmen. Die in Methoden implizierte Subjektivität erscheint nun vielmehr in dem Lichte, dass der Agent einer Methode gegenüber neutral zu sein hat, nur Exekutivfunktion hat und die Ergebnisse der Methode gegenüber der ausführenden Subjektivität invariant zu sein haben. Diese Neutralität gilt auch bezüglich der Evaluation methodisch erzeugter Einsichten, also dann, wenn aus den erzielten Informationen Theorien gebildet werden sollen, wenn der Forscher nicht mehr nur Exekutivfunktion, sondern Beurteilungsfunktion übernimmt, indem er die verschiedenen Informationen auf einen Begriff oder in eine Formel bringen muss. Es wäre absurd, von einem Wissenschaftler zu sagen, dass eine bestimmte Theorie gilt, genau nur, weil er sie zusammengestellt hat; sie gilt vielmehr, weil sie die gefundenen Hinweise am besten erklären und in einen objektiven Zusammenhang bringen kann. Dennoch ist klar, dass auch zu diesem Moment methodischer Forschung, nämlich der eigentlichen Theoriebildung ein ausführendes Subjekt notwendig ist. Diese reduzierte Subjektivität der Methode bietet subjekti-

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vitätstheoretisch gesehen aber auch noch genügend interessante Einsichten. Sie ergeben sich, wenn man fragt, wie ein solches Subjekt beschaffen sein muss, damit es sich auf diese Weise selbst zurücknehmen kann. Wie vertragen sich Notwendigkeit und Neutralität des Subjekts miteinander? Das methodisch zurückgenommene Subjekt muss offenbar die Fähigkeit der Selbstnegation besitzen. Dies zu reflektieren ist eine der Aufgaben philosophischer Methodologie. In gewissem Sinne kann man, Hegel weiterführend, sagen, dass dieser Aspekt der Methodologie eine doppelte Negation darstellt: Nimmt sich das Subjekt in methodischem Forschen selbst zurück, so wird genau diese Negation nochmals negiert, wenn die philosophische Methodologie diese Fähigkeit der Zurücknahme als Leistung des Subjekts analysiert. Meine These besagt nun, dass die Neutralisierung der Subjektivität genau nur dann möglich ist, wenn es eine transzendentale Subjektivität gibt. Denn das, was zurückgenommen wird, ist eben die empirische Subjektivität, die individuelle, kontingente Persönlichkeit des Forschers wird ausgeschaltet. Diese Ausschaltung geschieht offenbar nicht durch die zu untersuchenden Objekte, sie geschieht vielmehr um derentwillen, um sie unverstellt in den Blick bekommen zu können, aber diese Gegenstände vollziehen die Ausschaltung nicht selbst. Insofern ist die Neutralisierung des (empirischen Forscher-) Subjekts weder durch die empirischen Subjekte noch durch die Untersuchungsgegenstände zu erklären, sondern nur durch eine beiden gegenüber neutrale Subjektivität, die an Objektivität und Invarianz interessiert ist, eben durch ein transzendentales Subjekt.

I. Methoden Eine Methode ist nicht einfach mit einer regelhaften Art und Weise des Denkens zu identifizieren, das bildet zwar eine notwendige Bedingung für eine Methode, bleibt aber zu unbestimmt, um schon vollständig bestimmen zu können, was eine Methode ist, denn nicht jede regelhafte gedankliche Verknüpfung ist zugleich eine von uns angewandte Methode. Z. B. ist der Begriff der Kausalität eine bestimmte Regel, Ursachen und Wirkungen in gedanklichem Nachvollzug miteinander verknüpft zu sehen. Der Unterschied zwischen diesem Begriff der Kausalität und der Methode der Induktion besteht darin, dass wir mit der Kausalität eine Verknüpfung innerhalb des Untersuchungsgegenstandes selbst bezeichnen, dagegen mit der Induktion eine Art und Weise, wie wir die Erkenntnis auch nicht aktuell vorliegender Zusammenhänge in Zukunft oder Vergangenheit hinzugewinnen können. Fällt Kausalität auf die Seite des Erkannten, so die Methode der Induktion auf die des Erkennenden. Dennoch spiegeln weder die Begriffsbestimmung der Kausalität noch die Methode der Induktion individuelle Vorlieben des Forschers wider, hier ist die Neutralisierung des empirischen Subjekts, das die Forschung betreibt, wirksam. Der Unterschied, ob ein Bestimmtheit fördernder Begriff auf die Seite des Gegenstandes oder auf die Seite des methodisch Erkennenden gehört, ist aber nicht immer so deutlich: Das ergibt sich z. B. bei den Einteilungsbestimmungen in klassifizierenden Wissenschaften, wie z. B. in der Biologie und Chemie. Die Klassifizierungen von Lebewesen nach verschiedenen Gattungen und Arten sollen sich nach den Merkmalen richten, die

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bestimmte Lebewesen haben. Insofern gehört dann der Einteilungsbegriff auf die Seite des Gegenstandes. Gleichwohl ist aber auch klar, dass ein anderes vom Forscher ebenfalls auswählbares Klassifizierungsmerkmal andere Gruppierungen und Klassen ergäbe. Insofern hängt dann die Methode der Klassifizierung auch vom Erkennenden ab, nämlich davon, welchen Bezugsrahmen er wählt. Jedenfalls gilt aber auch hier, dass sich ein veränderter Bezugsrahmen immer noch vom zu untersuchenden Gegenstand her legitimieren muss und nicht von individuellen Vorlieben des jeweiligen Forschers. Die Neutralisierung des (empirischen) Subjekts ist also auch hier am Werk. Darüber hinaus dient zur Differenzierung zwischen Methode und regelhafter gedanklicher Verknüpfung auch noch, dass Begriffe, Urteile und Schlüsse zwar Bausteine in methodischem Denken sein können, aber als Bestandteile der Methode nicht mit dieser identisch sind, denn sie stellt deren höherstufige Verknüpfung dar. Begreifen, Urteilen, Schließen bilden ebenfalls notwendige Bedingungen der Methode, definieren diese aber auch noch nicht vollständig. Man kann sagen, dass Begriffe, Urteile, Schlüsse und natürlich auch Sinnesdaten Elemente und Werkzeuge der Methode sind, die Methode jedoch – was ja auch der griechische Ursprung des Wortes besagt – einen Weg des Erkennenden darstellt, der sich dessen bewusst ist, dass er gerade zum Zwecke tieferer Erkenntnis Informationen miteinander verbindet. Jedes Mal wenn ein Forscher einen induktiven Schluss anstellt, muss er sich bewusst sein, dass er damit über das ihm tatsächlich Gegebene hinausgeht, er also zum Zwecke größerer Allgemeingültigkeit den gesicherten Rahmen des Gegebenen verlässt. Dass er diese Transzendierung des Einzelnen vornehmen darf, kann nicht durch den Gegenstand selbst legitimiert sein, denn die Erkenntnis des Gegenstandes soll ja erst durch die Induktion bewerkstelligt werden. Ebenso sind die individuellen Vorlieben des Forschers, also seine empirische Subjektivität, keine Rechtfertigung. Vielmehr ist er gerechtfertigt, weil unsere endliche Subjektivität mit Allgemeinbegriffen operieren muss, die immer schon über das Einzelne hinausgehen. Die endliche Subjektivität kann nur im Wechselspiel von Einzelfall und Allgemeinheit bzw. Allgemeingesetzlichkeit Erkenntnis gewinnen. Dabei hat sich Induktion als probates Mittel erwiesen, um zu größere Wahrscheinlichkeit besitzenden Voraussagen zu gelangen. Die Transzendenz gegenüber dem Einzelnen impliziert eine Voraussetzung der Homogenität und Gleichartigkeit vieler Einzelfälle derselben Art, die eine stillschweigende methodische Hypothese auf Seiten des methodisch vorgehenden Subjekts ist. In diesem Zusammenhang ist Hegels Einsicht aus seiner Logik relevant, dass man sich im Übergang vom Begriff zum Urteil und zum Schluss methodischem Denken immer mehr annähert. Hegel zieht daraus den methodologischen Schluss, dass die Methode in ihren Bausteinen bereits latent präsent ist. Die Bausteine und Werkzeuge der Methode stehen dieser nicht äußerlich gegenüber, sondern bilden eine gedankliche Einheit mit der Methode. Von dort her ist auch der Titel dieses Vortrages zu verstehen, denn Hegels Methodenkonzept weiterführend kann man sagen, dass Subjektivität die Ausführungsinstanz der Methode ist, und zugleich, dass die die Methode ausführende Subjektivität ihr nicht äußerlich gegenübersteht, sondern in der Methode die Struktur der Subjektivität selbst objektiv real wird. Bei dieser objektivierten Subjektivität kann es sich nicht um die em-

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pirisch-individuelle Subjektivität eines beliebigen Forschers handeln, denn diese wird in der auf Objektivität der Forschung gerichteten Erkenntnis neutralisiert. Methode ist die objektivierte Struktur einer auf objektive Erkenntnis ausgerichteten, allgemeinen Subjektivität. Diese Objektivierung durch Methoden setzt die Fähigkeit und die Intention voraus, etwas über den Gegenstand der Untersuchung selbst aussagen zu können. Diese Gegenstandsgerichtetheit basiert darauf, dass sich die Subjektivität als Ausführungsinstanz der Methode zurücknehmen kann, um eben den Gegenstand selbst in den Blick der Forschung zu bekommen. Die Objektivitätsgerichtetheit einer neutralen Subjektivität bleibt offenbar auch dann in Vollzug, wenn in den Einzelwissenschaften nicht eigens auf die Methode reflektiert wird. Auch eine weitergehende Reflexion muss nicht vollzogen werden, nämlich die Reflexion darauf, dass sich mit methodischem Vorgehen die Vorgehensweise transzendentaler Subjektivität in die gegenständliche Erkenntnis einprägt. Dieser Zusammenhang kann offenbar für den Fortschritt der Einzelwissenschaft unerkannt bleiben, aber seine Latenz bedeutet nicht, dass der Zusammenhang von Erkenntnismethode, -subjekt und -gegenstand immer irrelevant wäre, denn vielfach in der Wissenschaftsgeschichte beobachtbare Verwechselungen von Eigenschaften des Gegenstandes selbst und unserer Methode, ihn zu untersuchen, führen nicht nur zu Inkohärenzen der Wissenschaften, sondern sind überhaupt nur zu erklären, wenn es jenen Zusammenhang zwischen Methode, Erkenntnissubjekt und Untersuchungsgegenstand gibt, er aber falsch gedeutet wurde und es offenbar in einigen Fällen von zentraler Bedeutung ist, diese drei Elemente strenger auseinander zu halten. Wenn wir z. B. unsere Methode, teleologisch zu denken, unreflektiert auf biologische Entitäten oder die Historie übertragen, wird das Problem offenbar. In der notwendigen und gerechtfertigten Trennung von Gegenstand, Erkenntnissubjekt und Methode ist wiederum die Zurücknahme der Subjektivität zu sehen. Diese Zurücknahme ist eine (manchmal bewusste, manchmal unbewusste) Leistung des reflektierenden Subjekts, es negiert sich selbst und versucht, »die Sache selbst« sprechen zu lassen. Diese Selbstnegation kann aber nur dann eintreten, wenn das forschende Subjekt gelten lassen kann, dass seine Methode und der Untersuchungsgegenstand eben auch eine Einheit bilden, nur darf diese Einheit nicht ontologisch, sondern nur epistemologisch verstanden werden. Mit Kant kann man das so ausdrücken: Diese epistemische Einheit besteht darin, dass einige dem Denken des Subjekts notwendige Strukturen/ Bestimmungen sowie deren Verknüpfung die Bedingung der Möglichkeit für die Untersuchung des Forschungsgegenstandes bilden und insofern die Erkenntnis des Gegenstandes den Subjektstrukturen gemäß sein muss. Dass diese Einheit epistemischer und nicht ontologischer Natur ist, zeigt sich z. B. daran, dass einige Gegenstände der subatomaren Physik sowie der gegenwärtigen Kosmologie für uns gar nicht existierten, gäbe es nicht die Methoden der experimentellen und theoretischen Physik. Daraus folgt nicht, dass Strings, Photonen, Neutrinos, entfernte Galaxien, der Urknall etc. auch ontologisch nur deswegen existieren, weil wir bestimmte Methoden anwenden. Solches zu behaupten bedeutete, einen szientifischen Idealismus oder Psychologismus einführen zu wollen. Aus epistemischer Sicht ist jedoch klar, dass für uns diese Gegenstände überhaupt nur existieren, weil es entsprechende Methoden der Forschung gibt.

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Die Problemlage verschiebt sich zusätzlich etwas gegen Hegels methodenmonistische Intention, wenn man auch solche Methoden als wissenschaftlich respektiert, die Sinnesdaten und durch Experimente gegebene Wahrnehmungen oder »trial and error« oder wie die moderne Teilchenphysik statistische Probabilistik als Bestandteile der Methode zulässt. Des Weiteren verschiebt es sich gegen Hegel, wenn man annimmt, dass die Sinnesdaten nicht von sich selbst her schon begrifflich sind, sondern nur begrifflich bestimmbar, obgleich heterogen gegenüber unserem Begriffsapparat; es sich also um zwei grundsätzlich verschiedene Quellen unserer Erkenntnis handelt. Offenbar ist diese Annahme diverser Erkenntnisquellen und auch zumindest relativ ungesicherter Erkenntnisformen für einen Methodenpluralismus anschlussfähiger als eine ausschließlich auf reine Vernunft aufbauende rein begriffliche Dialektik. Hegels systematische Idee bezüglich der Methodenthematik, durchgeführt in Phänomenologie, Logik und Enzyklopädie, besteht zwar darin, dass sich letztlich alle diversen Methoden auf eine und dieselbe zurückführen lassen, eben auf Dialektik, doch dieser Methodenmonismus ist problematisch geworden. Hegels weitere Pointe jedoch, dass methodisches Denken Subjektivität impliziert und diese Selbstbezüglichkeit und Selbsterkenntnis des methodisch Erkennenden mitliefert, möchte ich im Folgenden weiterführen und behaupten, dass diese Elemente von Selbstbezüglichkeit und Selbsterkenntnis in jeder Methode – also auch für den gegenwärtigen, die Wissenschaften bestimmenden Methodenpluralismus gültig sind. Die Reproduzierbarkeit der verschiedenen Methoden lässt zwar nicht nur eine Abstraktion vom Einzelfall zu, sondern auch vom den Einzelfall untersuchenden individuellen Subjekt, entindividualisiert die Methode also und enthebt sie damit der unwissenschaftlichen Privatheit, doch diese Selbstnegation des Subjekts bedeutet natürlich nicht, dass Methoden ganz ohne sie ausführende Agenten auskommen. Insofern besteht ein gedanklicher Zusammenhang von Erkenntnisinhalt, Methode und Methodologie. Insbesondere im Schritt von der Methode zur Methodologie vollzieht sich die Reflexion und damit die Objektivierung der Methoden ausführenden allgemeinen (transzendentalen) Subjektivität, die zuvor schon bezeichnete doppelte Negation der Subjektivität. Mit unterschiedlichen Methoden ist zugleich auch ein Bezug zu verschiedenen Inhalten unserer Erkenntnisse gegeben, denn verschiedene Inhalte können unterschiedliche Methoden zulassen. Zwar ist nicht jede Methode jedem Forschungsgegenstand angemessen und manchmal können auch unterschiedliche Methoden denselben Gegenstand mit Erkenntnisgewinn beleuchten. Methodenpluralismus ist in der Forschung daher unumgänglich; nur eine einzige Methode anzunehmen ist auch von daher problematisch. Mit Anklang an Frege kann man sagen, dass sich die unterschiedlichen Methoden zum Untersuchungsgegenstand analog wie Sinn zu Bedeutung verhalten. Wenn es jedoch so ist, dass bestimmten Untersuchungsgegenständen einige Methoden angemessen sind und andere weniger oder gar nicht, dann möchte ich dafür plädieren, diese Korrelation nicht als bloßen Zufall zu nehmen, sondern auf einen Gedanken zu bringen, also einen objektiven Zusammenhang von Methode und Gegenstand anzunehmen. Das wendet sich auch gegen die in letzter Zeit ohnehin schon heftiger Kritik ausgesetzte Methodenanarchie à la Feyerabend, nach dem indianischer Regentanz genauso gut ist wie Meteorologie, As-

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trologie so gut wie Astronomie. Das war natürlich nur eine Provokation seinerseits und Feyerabend schlägt auch gemäßigtere Töne an, doch um meinen Punkt der Korrelation zu klären, möchte ich hier die radikalere Variante eines wirklichen »anything goes« als Kontrasttheorie wählen. Der Schluss von einem berechtigten Pluralismus der Methoden zur Anarchie der Methoden folgt nicht, denn dagegen steht, dass manche Methoden in Bezug auf einige Gegenstände eben zu gar keinen sinnvollen Ergebnissen führen, und dahinter steht wiederum die epistemische Einheit von Methode und Gegenstand. Nur wenn eine solche Einheit angenommen wird, bleibt das Faktum verständlich, dass es angemessenere, weniger angemessene und völlig unpassende Methoden für einen Gegenstand gibt. Eine Mathematik, die sich ausschließlich soziologischer Methoden bedient, führt notwendig dazu, dass es am Ende keine mathematischen Entitäten mehr gibt, also auch keine Mathematik mehr; eine Soziologie, die nur physikalische Methoden verwenden würde, wäre keine mehr. Eine Geschichtswissenschaft, die nur kausal argumentiert und nicht berücksichtigt, dass historische Akteure teleologischen Handlungsmustern folgen, wäre methodisch ebenso unangemessen. Insofern gibt es eine epistemische Einheit von Gegenstand und Methode. Bei empirischen Gegenständen gibt es natürlich auch das Phänomen der Abhängigkeit der Methode vom Gegenstand; Wissenschaftler entwickeln dann durch ihre Erfahrungen mit dem Untersuchungsgegenstand passendere Methoden. Generell und damit auch für letzteren Fall gilt aber, dass es Gegenstände, die einen bestimmten Komplexitätsgrad erreichen, ohne die wissenschaftlichen Methoden gar nicht für uns gäbe. Die hier angenommene Korrelation von Methode und Gegenstand lässt folgendes kontrafaktische Konditional zu: Wenn die methodische Anarchie gelten würde, wäre nicht nur die graduelle Angemessenheit von Methoden unmöglich, sondern es dürfte auch keine Gegenstände mehr geben, weil jeder Gegenstand durch irgendeine mögliche andere Methode eliminierbar wäre. Oder um das Dilemma eines radikalen Methodenpluralismus präziser zu formulieren: Eine Methode würde den Gegenstand erklären, andere Methoden höben ihn auf, somit würde der Gegenstand zugleich bestehen und nicht bestehen. Das ist aber nicht einleuchtend. Diese reductio ad absurdum zeigt, dass aus Methodenpluralismus keine Methodenanarchie folgt. Es kann festgehalten werden, dass sich die Unmöglichkeit einer Anwendung von jeder Methode auf jeden Gegenstand in den verschiedenen Zweigen der Wissenschaft besonders deutlich zeigt. – Das soll natürlich nicht gegen die berechtigte interdisziplinäre Forschung sprechen, sondern nur gegen willkürliche Applikation aller wissenschaftlichen Methoden auf alle beliebigen Gegenstände. – Musikwissenschaft ausschließlich mit experimentellen Methoden der Biologie zu behandeln, führt zu Absurditäten, die den spezifischen Gegenstand dieser Wissenschaft, die ästhetische Qualität der Musik, aufheben. Oder, was in letzter Zeit häufiger zu einem modischen Erklärungsschema avanciert ist: Die Schönheit eines Gedichts evolutionsbiologisch erklären zu wollen, z. B., dass die ästhetische Schönheit eines Gedichts letztlich auf selektive Vorteile schöner Artgenossen zurückgeht, führt zu meist formalistischen und wenig aufschlussreichen Trivialitäten. Insbesondere die Unbrauchbarkeit einer willkürlichen branchenübergreifenden Applikation von Methoden deutet also in die Richtung der hier namhaft gemachten epistemi-

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schen Korrelation von Gegenstand und Methode.1 Methodische Form und Inhalt stehen sich dann zwar nicht äußerlich gegenüber, sowenig wie die Bausteine und Werkzeuge der Methode dieser selbst äußerlich gegenüberstehen, beide sind aber auch nicht miteinander identisch oder nur zwei verschiedene Ansichten derselben Sache. Wenn man denselben Gegenstand auch mit unterschiedlichen Methoden sinnvoll untersuchen kann, muss beides distinkt sein. In methodologischer Hinsicht gibt es bekanntlich die Diskussion, insbesondere in der Wissenschaftstheorie geführt, ob man tatsächlich noch über denselben Gegenstand spricht, wenn man mit unterschiedlichen Methoden ganz unterschiedliche Eigenschaften des Gegenstandes aufweist, schließlich definieren Eigenschaften Gegenstände. Die Frage ist dann, ob nicht durch die Anwendung unterschiedlicher Methoden auch unterschiedliche Gegenstände gegeben sind. Wenn man den antiken Begriff des Atoms mit unserem heutigen vergleicht, ist das offensichtlich. Unsere heutigen Atome sind wohl ganz andere »Gegenstände« als die antiken Atome. Auch dies spricht meiner Meinung nach dafür, dass die Erkenntnismethoden und der Erkenntnisgegenstand korrelativ sind. Diese epistemische Methodensensitivität des Gegenstandes soll aber nicht einem völligen Relativismus oder einer Art höherer Methodenanarchie das Wort reden, denn auch dies höbe die von mir zuvor schon thematisierte größere oder geringere Angemessenheit einer jeweiligen Methode an den Gegenstand auf. Mein Argument dagegen, dass die Andersartigkeit des heutigen Atombegriffs gegenüber dem antiken in einen gleichgültigen Relativismus führt und man beliebig wählen könnte, ob einem der antike oder moderne Atombegriff oder antike oder moderne Untersuchungsmethoden sympathischer sind, besteht in dem objektiven Prozess eines geschichtlichen Werdens der von uns akzeptierten Geltungen, also in dem für uns Menschen notwendigen Prozess, dass Geltung und Genesis für uns miteinander verknüpft sind. Wenn sich ein gegenwärtiger Physiker dazu entschlösse, den antiken atomistischen Materiebegriff zu adoptieren, bei dem in den Intermundien die Götter wohnen, würde er einfach keine Gesprächspartner mehr finden. Zwar ist die geschichtliche Genesis nicht identisch mit der methodisch überprüfbaren, wissenschaftlichen Geltung, das wäre kruder relativistischer Historismus, aber es zeigt Das gilt auch für Gegenstände bzw. Themen der Philosophie, z. B. die Bedeutung von Geist, Begriffen, mit denen der Geist operiert, oder das alte Leib-Seele-Problem durch Methoden des neurowissenschaftlichen Brainmapping analysieren zu wollen ist unzureichend. Man kann damit wohl kausale Relationen aufzeigen, nämlich die triviale und von kaum einem noch so strikten Metaphysiker bezweifelte Tatsache, dass unsere kognitiven Prozesse Ursachen haben oder sich in Materie niederschlagen – z. B. auch der Metaphysiker Schopenhauer sagt schließlich, dass das Ich seinen Sitz im Gehirn hat –, aber das erklärt natürlich nicht die Bedeutung eines bestimmten geistigen Prozesses. Besonders der späte Wittgenstein hat in den Philosophischen Untersuchungen zu Recht darauf hingewiesen, dass Bedeutungsfragen keine Kausalfragen sind. Insofern verfallen einige gegenwärtige Neurophilosophen einer branchenübergreifenden Methodenunangemessenheit, die wenig befriedigende Einsichten liefert und die philosophische Methode der analysierenden, argumentativen Begriffsbestimmung nicht ersetzen kann. Das zeigt sich auch daran, dass dem das Gehirn Kartographierenden, wenn er bestimmte geistig-begriffliche Fähigkeiten bestimmten »Landstrichen« im Gehirn zuordnet, schon längst bekannt sein muss, was die Bedeutung des betreffenden geistigen Prozesses ist. Was Angst bedeutet, bleibt unbekannt, wenn man sie im Feuern von bestimmten Neuronengruppen verortet. 1

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sich hier eine Art objektiver Geist, der insofern objektiv ist, als offenbar für uns eine Ignoranz gegenüber der Genesis von Geltungen, also ein Überspringen des historischen Abstands zu einem früheren Forschungsstand unsere evidente Historizität willkürlich ausblendet. Diese Abtrennung der historischen Genese einer Geltung und der Wahrheit dieser Geltung selbst, stellt ebenfalls eine Zurücknahme einer auf Allgemeingültigkeit ausgerichteten Subjektivität dar, denn wie wir eine Einsicht generieren, kann nicht über deren Wahrheit entscheiden. Auch in der Differenz von Geltung und Genesis zeigt sich also die erste Negation der Subjektivität bei methodischem Wissen.

II. Philosophische Methodologie als doppelte Negation des Subjekts Philosophische methodologische Reflexion zeigt das Gemeinsame in den verschiedenen Methoden: Auch wenn man einen Methodenpluralismus annimmt, hat methodisches Vorgehen eine Gemeinsamkeit, es setzt immer schon eine Abstraktion vom betreffenden einzelnen Gegenstand sowie vom untersuchenden Individuum voraus. Zwar ist die Ausführung einer Methode auf den Gegenstand gerichtet, doch die Erkenntnis, dass dieser oder jener andere Gegenstand auch mit derselben Methode untersucht werden kann, impliziert eine Reflexion auf die Art und Weise, wie der Gegenstand zu untersuchen ist. Auch die Reflexion, dass eine Methode für bestimmte Gegenstände unangemessen ist, stellt eine Abstraktion vom Gegenstand selbst dar. Das Denken als eine spezifische Weise, Gegenstände zu untersuchen, richtet sich in beiden Fällen auch auf sich selbst, untersucht seine Angemessenheit oder Unangemessenheit gegenüber dem Gegenstand. Diese Angemessenheit der Methode impliziert zugleich eine Distanzierung vom empirischen Subjekt, das die Untersuchung durchführt; denn die Angemessenheit der Methode ergibt sich auch daraus, dass sie allgemeingültig auch von anderen untersuchenden Subjekten durchgeführt werden kann. Diese Abstraktion setzt, bewusst oder unbewusst vollzogen, eine allgemeine Forschungssubjektivität in die Position des Akteurs der Untersuchung. Die Expansion oder Restriktion einer Methode auf viele gleichartige Gegenstände impliziert daher eine gewisse Selbstbezüglichkeit des Denkens, das sich der Applizierbarkeit seiner Form auf verschiedene Gegenstände bewusst wird und dies zugleich einer allgemeinen Subjektivität zugänglich macht. Diese reflexive Abstraktion spricht auch dagegen, Erkenntnisinhalt und Erkenntnismethode miteinander schlechthin zu identifizieren. Mit diesem Schritt beginnt zugleich ein Übergang von der Exekution einer Methode zur Reflexion auf die Methode und damit beginnt Methodologie im engeren Sinne. Der Schritt in die Abstraktion, der sich vollzieht, wenn man nach einer Vielzahl von möglichen Gegenständen sucht, auf die eine Methode angewandt werden kann, setzt in gewissem Sinne einen epistemischen hypothetischen Platonismus voraus, denn man muss schon über eine, wenn auch noch vage und hypothetische Begrifflichkeit, ein tertium comparationis, verfügen, unter dem die einzelnen Gegenstände passend und zum Zwecke weiterführender Forschung subsumiert werden können. – Hinsichtlich der hermeneutischen Methode hat das natürlich Heidegger vorzüglich und präzise mit Vorsicht,

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Vorgriff und Vorhabe in Sein und Zeit analysiert. – Dieses Vorwegnehmen eines vereinheitlichenden Gesichtspunktes gilt auch, wenn dieser Vorbegriff Änderungen, Korrekturen oder Erweiterungen unterworfen oder gar ganz aufgegeben und durch ein anderes tertium comparationis ersetzt werden muss. Die abstrahierende Grundstruktur methodischen Denkens bleibt sich in den »Revolutionen der Wissenschaft« zumindest ähnlich und weist Invarianzen auf. Mit Nozick kann man solche Invarianzen als Anzeichen für Objektivität verstehen.2 So sind z. B. bei der Anwendung von naturwissenschaftlichen Methoden die Kriterien: Vorhersagbarkeit zukünftiger Ereignisse, Reproduzierbarkeit und Überprüfbarkeit schon immer entscheidend gewesen und es sind methodologische Überlegungen, die diese Merkmale der Methode herauskristallisieren. Manchmal klingt es zwar bei Wissenschaftstheoretikern – z. B. bei Hans Reichenbach – so, als hätte sich erst das 20. Jh. z. B. die Vorhersagbarkeit als methodisches Kriterium einfallen lassen, aber das ist ein zu kurzsichtiger, unhistorischer Verifikationismus, natürlich war auch ein antiker Astronom enttäuscht und fühlte sich zur Revision angehalten, wenn seine Vorhersagen nicht zutrafen. In der historischen Entwicklung der Wissenschaften wird deutlich, dass Methode und Methodologie ebenfalls eine epistemische Einheit bilden. In der wissenschaftlichen Anwendung von Methoden selbst steckt, wie gesehen, schon der mögliche Übergang zur Methodologie, denn Ausführung und Ausdehnung einer Methode auf verschiedene Gegenstände enthält bereits die Abstraktion vom Gegenstand selbst und die Reflexion auf die Art und Weise, mit der wir ihn traktieren. Dieser Übergang bildet die selbstbezügliche oder subjektive Komponente, die in der Methode steckt. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt bedeutet die Methode »über den Weg«, man befindet sich bei methodischem Vorgehen nicht mehr nur »geradehin« auf dem Weg, man ist in gewissem Sinne schon über ihm – mit Hogrebe gesagt: Man ist »surreal« – und daher eigentlich zumindest latent auch schon mit Fragen der Rechtfertigung der Methode beschäftigt, also mit methodologischen Problemen. Wissenschaftliche Revolutionen zeigen neben Paradigmenwechseln eben auch diese Einheit von Methode und Methodologie, denn oft sind es methodologische Überlegungen, die zur Restriktion oder gar Verwerfung einer Theorie und ihrer Methode führen. Trotz dieses Ineinanders sind Methode und Methodologie nicht dasselbe. Die Methodologie ist eine thematische theoretische Reflexion über die Methode, also über die Fragen, wodurch und wie Methoden gerechtfertigt sind. Die Methodologie ist die vernünftige Argumentation über die Methode und bildet damit einen zweiten Abstraktionsschritt gegenüber dem zu untersuchenden Gegenstand. Diese Reflexion verdeutlicht oft, z. B. wenn über methodische Fehlleistungen nachgedacht wird und sich so ein Paradigmenwechsel in einer Wissenschaft anbahnt, dass die erste Negation des Subjekts, sich aus der methodischen Untersuchung herauszuhalten, nicht weit genug ging. In einem solchen Fall liegt eine durch die methodologische Reflexion vollzogene zweite Negation des Subjekts vor, und sie besteht in einer Verstärkung jener ersten Zurücknahme des Subjekts. Hierbei liegt die methodologische Leistung des Subjekts darin, sich doppelt negieren zu 2

Vgl. Robert Nozick: Invariances: The Structure of the Objective World, Harvard 2001, S. 75 ff.

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können. Thomas Nagel hat diesen Prozess der Objektivierung dargelegt, indem er wissenschaftliche Objektivität darin sieht, dass eine neue Objektivitätsstufe nicht nur dazu in der Lage sein muss, den Gegenstand angemessener zu erklären, sondern ebenfalls die Fehler der vorangehenden Stufe mitzuerklären. Auch Nagel beschreibt diesen Prozess als eine Depotenzierung des subjektiven Faktors unseres Wissens.3 Ich möchte jedoch im Unterschied zu Nagel betonen, dass eben diese Zurücknahme des subjektiven Faktors eine Leistung des transzendentalen, d. h. Erkenntnis ermöglichenden Subjekts ist. Natürlich gibt es auch eine landläufige Verwendung des Wortes »methodologisch«, man liest dann oft, dass die und die Wissenschaftler »methodologisch« vorgehen. Das kann man natürlich einfach als ein Missverständnis oder eine sprachliche Ungenauigkeit bezeichnen, weil eigentlich in solchen Kontexten »methodisch« gemeint ist, aber nach meiner Interpretation liegt dieser Doppelbedeutung von »methodologisch« eine »List der Vernunft« zugrunde, denn darin alludiert die von mir herausgestellte übergängige Einheit von Methode und Methodologie, also dass in der bewussten Anwendung der Methode bereits die Reflexion auf die Methode, wenngleich zunächst und zumeist latent, inkludiert ist. Methode und Methodologie sind aber nicht nur durch den Grad der Abstraktion voneinander unterschieden, sondern auch durch Pluralität und Einheitlichkeit: Hinsichtlich der Methoden herrscht natürlich eine Pluralität – Induktion, Deduktion, Deskription, logische und sprachliche Analyse, mathematische Methode, axiomatisches oder hypothesengeleitetes Vorgehen, experimentelle, statistische und empirische Methoden, die Methode von »trial and error«, Kontextualisierung, Gedankenexperimente mittels hypothetischer oder kontrafaktischer Konditionale, Hermeneutik etc. Hinsichtlich der Methodologie kann aber nicht einfach dieselbe Pluralität vorausgesetzt werden, denn zumindest in der philosophischen Methodologie findet eine Metaüberlegung hinsichtlich der Rechtfertigungen der verschiedenen Methoden statt, und die Annahme, dass diese Metaüberlegung selbst auch schon wieder pluralistisch sein sollte, ist zumindest diskussionswürdig, vielleicht sogar problematisch, denn dann müsste es mehrere Methodologien geben, also auch Methoden höherer Ordnung, denn die verschiedenen Methodologien wären abtrennbar und selbst auch wieder durch unterschiedliche Methoden durchzuführen. Das würde jedoch wiederum die Frage der Rechtfertigung dieser Methoden höherer Ordnung aufwerfen sowie die Frage, wie die Interaktion der verschiedenen Methodologien geregelt oder gerechtfertigt ist, und dann droht offenbar ein unendlicher Regress, in dem sich Methoden, Methodologien und deren Rechtfertigungen ins Unendliche gehend abwechseln. Der Skeptiker kann hier ansetzen und eine Art Agrippasches Trilemma oder »Münchhausentrilemma« in Anschlag bringen: 1. Ist die Methodologie nicht selbst methodisch, ist sie als wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu rechtfertigen. 2. Hat die Methodologie aber eine Methode, führt das in einen Zirkel, bei dem sich Methodologie und Methode Vgl. Thomas Nagel: Die Grenzen der Objektivität. Philosophische Vorlesungen, Stuttgart 1991, darin Kap. II: »Das Subjektive und das Objektive«, S. 99-128, vgl. auch ders.: The View from Nowhere, Oxford 1986. 3

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wechselseitig immer wieder voraussetzen. 3. Hat der Methodologe keine Lust, sein eigenes Vorgehen weiter zu rechtfertigen und sagt einfach, seine Methodologie sei ein sich selbst setzendes Erstes, würgt er einfach dogmatisch die Rechtfertigungsfrage ab. In den großen und durchaus gegeneinander alternativen Methodologien von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, vielleicht auch noch in der ihre eigene Geschichtlichkeit reflektierenden hermeneutischen Methodologie von Heidegger, scheint mir dieses Trilemma auflösbar. Denn wenn Kant z. B. im Methodenkapitel der Kritik der reinen Vernunft darauf reflektiert, dass die Vernunft ihre eigene Methode autonom mit sich bringt, deutet das auf eine spezifische Unhintergehbarkeit, eine notwendige und nicht fehlerhafte Zirkularität hin, die freilich nur dann fehlerlos bleibt, wenn die methodischen Strukturen der Vernunft bei ihrer eigenen methodologischen Rechtfertigung bloß regulativ verstanden werden und nicht als konstitutiv bzw. als Organon der Wahrheit überschätzt werden, dann landet man in einer dialektischen Logik des Scheins. Die epistemische Unhintergehbarkeit, vernünftig zu argumentieren, wenn man methodologisch argumentiert, ist weder ein fehlerhafter Zirkel noch ein unendlicher Regress und auch keine dogmatische Setzung eines Ersten, denn gerade vernünftiges Argumentieren als Rechtfertigungsgrund anzunehmen ist überprüfungsoffen. Auch bei Fichte zeigt sich in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, dass bei ihm die Methode genetisch in den Akten des von ihm untersuchten sich setzenden Ich mitenthalten ist. Die dialektische Methode, die absolute Idee, war in Hegels Logik kopräsent in allen ihr vorangehenden Denkbestimmungen und expliziert sich am Ende der Logik selbst als Form aller möglichen Denkinhalte. Diese Methodologien zeugen von einer gewissen notwendigen Zirkularität oder Selbstbezüglichkeit, Subjektivität in der Rechtfertigung von methodischem Denken. Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine allgemeine, transzendentale Subjektivität zum Rechtfertigungsgrund methodischen Denkens haben. Wenngleich man heute nicht mehr so weit gehen würde, diese Subjektivität als alleiniges Prinzip und alleinigen Rechtfertigungsgrund anzunehmen oder sie als »absolut« zu bezeichnen, so ist die bescheidenere, hier in Vorschlag gebrachte, doppelte Selbstnegation als Leistung transzendentaler Subjektivität doch notwendig anzunehmen, denn da dieser Akt der Selbstnegation methodische Objektivität allererst ermöglicht, kann er nicht der Seite der Objekte zugeschlagen werden. Die Methodologie ist zwar eine typische Branche der Philosophie, methodologische Überlegungen finden sich zunächst und zumeist nicht in den Einzelwissenschaften, denn die Dynamik der Metareflexion und der Rechtfertigung weist über speziellere einzelwissenschaftliche Fragen hinaus. Wie man am Grundlagenstreit in der Mathematik jedoch sieht, können auch Einzelwissenschaften methodologische Problemfelder aufschließen; ob die Mathematik intuitionistisch oder inferentiell vorgeht, analytisch oder synthetisch, sind z. B. Fragen der Methodologie, die zugleich offenbar philosophischen Rang haben und insofern einen natürlichen Übergang von den Einzelwissenschaften in genuine Fragen der Philosophie bilden. Wie es einen Übergang von der Methode zur Methodologie gibt, so gibt es offenbar auch einen von der (einzelwissenschaftlichen) Methodologie zur philosophischen Methodologie. Wie man an Kants implizit in seiner ersten Kritik enthaltenen »Philosophie der Mathematik« lernen kann, ist es nämlich etwas ganz anderes, ob man mathematische Entitäten selbst bestimmt oder die Frage untersucht, wie wir diese

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erkennen. Und Kant hat mit den methodologischen Überlegungen zur Konstruktion als Methode der Mathematik – mögen diese nun aus mathematischer Sicht korrekt sein oder nicht – jedenfalls gezeigt, dass die Einsicht in die von uns verwendete Erkenntnismethode für mathematische Entitäten nicht zugleich eine Antwort darauf liefert, ob es solche mathematischen Entitäten auch tatsächlich gibt. Hier zeigt sich wiederum die doppelte Negation der Subjektivität in der Methodologie. Eine Methodologie der Mathematik vermag uns vielleicht zu zeigen, mit welchen gedanklichen Akten wir Zugang zu mathematischen Entitäten haben, doch ob diese auch ontologisch real sind, lässt sich damit noch nicht beantworten; aus der Einsicht in unsere subjektiven Leistungen folgt kein platonischer Zahlenrealismus. In dieser ontologischen Beschränktheit des Subjekts, liegt eine Kränkung des (empirischen) Subjekts, man kann es auch in der schon mehrfach von mir herangezogenen Hegelschen Terminologie als doppelte Negation des Subjekts bezeichnen. Welcher Methoden sich die Geschichtsforschung bedient und bedienen darf und auf welche Weise die Geschichtsforschung verschiedene Methoden gerechtfertigt kombinieren darf, ist ebenfalls eine Frage, die sich in der Geschichtswissenschaft selbst stellt und dann zu philosophischen Grundlagenfragen tendiert. Insofern gibt es einen stetigen Übergang von Einzelwissenschaften zu philosophischer Methodologie, weil implizit in den einzelwissenschaftlichen Methoden die philosophischen Grundfragen immer schon enthalten sind. Dennoch sind die beiden Ebenen unterscheidbar, denn die methodischen Probleme der Einzelwissenschaften sind »zunächst und zumeist« immer noch an deren spezifischem Gegenstand orientiert, seien dies nun mathematische Entitäten oder der Umgang mit historischen Fakten, an denen sich ein Methodenstreit entflammt, und oft sind die streitenden Parteien dann an der Einhaltung dieser oder jener Methode interessiert, weil sie ein bestimmtes Ergebnis rechtfertigen oder angreifen wollen; die philosophische Methodologie analysiert dagegen distanzierter, oder genauer müsste man es normativ ausdrücken: Sie sollte gegenstandsunabhängig und ergebnisoffen die begriffliche und argumentative Kohärenz der Methoden untersuchen. Hinsichtlich der philosophischen Methodologie, also der theoretischen Rechtfertigung von Methoden, unterscheide ich drei verschiedene Typen: 1. die partikuläre Methodologie, sie reflektiert einzelne Methoden, hierher gehören z. B. Francis Bacons, Humes oder Poppers Reflexionen zur Methode der Induktion oder auch Gadamers Überlegungen zur Hermeneutik sowie Poppers Überlegungen zur Falsifikation etc.; 2. die skeptische Methodologie, dabei handelt es sich um eine destruktive Reflexion auf Methoden, hierher gehören sicherlich die Pyrrhonischen Skeptiker und die oben beschriebene skeptische Argumentation mit dem Trilemma und 3. die systematische Methodologie, diese versucht in einer Systematik, also nach einem Grundgedanken oder einer Idee im weiteren Sinne organisiert, das Feld aller möglichen Methoden zu bestimmen und den jeweiligen Grad der Gerechtfertigtheit oder den unterschiedlichen Grad der Gewissheit einer jeweiligen Methode anzugeben. Die systematische Methodologie stellt sich insbesondere der Methodologie der Skeptiker und versucht, diese zu überwinden. Der partikulären Methodologie kann dies prinzipiell nicht gelingen, da sie dem skeptischen Generalangriff keine einheitliche Argumentation entgegensetzen kann, die auch auf andere methodische Rechtfertigungen

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ausweichen kann. Hinsichtlich partikulärer Verteidigungen von einzelnen Methoden kann die Skepsis immer wieder ein rekursives Argument anwenden, also z. B. dass die Rechtfertigung der induktiven Methode durch Induktion zirkulär ist oder die Rechtfertigung der Methode der Falsifikation durch deren eigene notwendige Falsifizierbarkeit in Aporien führt. Die systematische Methodologie findet sich in historischer Perspektive z. B. bei Descartes, Kant, Fichte, Hegel und Husserl. Sie macht sich die skeptische Methode selbst zunutze, um Unhintergehbarkeiten zu entwickeln, die in einer notwendigen, nicht fehlerhaften Zirkularität bestehen. Genau dann, wenn die Einsicht in diese Zirkularität oder Unhintergehbarkeit in einer Restriktion der Subjektivität besteht, also verdeutlicht, dass die Leistungen des (empirischen) Subjekts in der Ausführung von wissenschaftlichen Methoden für den Gegenstand nicht konstitutiv, sondern bloß regulativ sind, genau dann wird jene doppelte Negation des Subjekts vollzogen. Diese methodologische doppelte Negation hat aber nicht nur eine negative oder restriktive Seite, sondern auch eine positive, die darin besteht, dass die die Subjektivität essentiell definierende Selbstbezüglichkeit in ihrer kritischen Selbstbeschränkung eine offene Forschung ermöglicht. Sofern philosophische Methodologie die Reflexion der Methode des Subjekts und des Subjekts der Methode ist, zeigt sie die für Wissen notwendigen Zurücknahmen und Zurückhaltungen des Subjekts, die die Offenheit der Forschung für neue Wege bildet.

Literatur Nagel, Thomas: Die Grenzen der Objektivität. Philosophische Vorlesungen, Stuttgart 1991. – The View from Nowhere, Oxford 1986. Nozick, Robert: Invariances: The Structure of the Objective World, Harvard 2001.

KOLLO QUIUM 4 Sprachen des Denkens – Denken in Sprachen Kolloquiumsleitung: Tilman Borsche

Tilman Borsche Einleitung: Denken in Sprachen Günter Abel Das philosophische Problem des Übersetzens Andrzej Przylebski »Die aus dem Land der Denker«. Zu Übersetzungsproblemen deutscher Philosophieklassiker in Polen – Hegel, Nietzsche, Heidegger Tze-wan Kwan Die vierfache Wurzel des Gedankens von ›sein‹ in der chinesischen Sprache und Schrift Rolf Elberfeld Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen Texte des Zen-Meisters Dogen in Übersetzung

Einleitung: Denken in Sprachen Tilman Borsche (Hildesheim)

»Sprachen des Denkens – Denken in Sprachen.« Wie fügt sich das zu dem Rahmenthema des Kongresses? Thema dieses Kongresses ist die Dreiheit von »Geschichte, Gesellschaft, Geltung« oder die erlebten und im Denken gestalteten drei Modi der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Von hier aus ist der Übergang zum Thema unseres Kolloquiums naheliegend: Ohne Sprache gibt es keine Geschichte, keine Gesellschaft und keine Geltung. Das Kolloquium fragt nach spezifischen und konkreten Bedingungen der Möglichkeit für die durch die Leitworte des Kongresses benannten Themenfelder. Genauer geht es hier nicht primär um Sprache im Allgemeinen, sondern um besondere Sprachen. Denn Sprache ist nur im Plural von Sprachen wirklich. Die spezifische und konkrete Frage ist vertraut und einfach: Sind besondere Sprachen, Sprachen in ihrer jeweiligen Besonderheit, für bestimmte Geltungsansprüche und eine bestimmte Geschichtswahrnehmung verantwortlich, sind sie gesellschaftsbildende und gesellschaftsbindende Mächte? Wie weit reicht diese Macht und vor allem, wie ist sie zu erkennen und zu beschreiben? Dazu einige kurze einleitende Bemerkungen. Denken geschieht in Zeichen. Für bestimmtes Denken verwenden wir Sprachzeichen. Die Bedeutung von Sprachzeichen regelt sich grundsätzlich konventionell, gegebene Sprachzeichen könnten im Prinzip immer auch anders gedeutet werden, als es jeweils geschieht und allgemein erwartet wird. Die konventionellen Bedeutungsregeln der Sprachzeichen gewinnen eine notwendige, wenn auch immer bedingte und prekäre Stabilität im Rahmen von Sprachen, die ihrerseits eine notwendige, wenn auch immer bedingte und prekäre Stabilität interner Elemente und Verknüpfungsregeln aufweisen. In diesem Sinn ist bestimmtes Denken an Sprachen gebunden, und zwar allein schon dadurch, dass es in konventionellen Zeichen geschieht, die als solche nur im Bezugsrahmen eines Orientierung stiftenden Netzwerks von konventionellen Bedeutungsregeln verstanden werden können. Diese (knappe) Begriffsbestimmung wird durch die allgemeine Erfahrung bestätigt, dass verschiedene Sprachen dem Denken unterschiedliche Wege bahnen, es zu anderen Wahrnehmungen und Bestimmungen von etwas als etwas zwar nicht nötigen, aber doch einladen. Diese Feststellung ist ein Ergebnis jahrhundertelangen Nachdenkens über Denken und Sprechen und über die Unterscheidung zwischen beiden, die in den uns geläufigen europäischen Sprachen in Verbindung mit den Traditionsbeständen des europäischen Denkens unserem Denken vorgegeben sind. – Unsere sprachphilosophischen Traditionen sind wie alle Traditionsbestände nicht nur in dem, was ihre Entstehung betrifft, sondern auch in dem, was wir im jeweiligen Hier und Heute als gültig anzuerkennen in der Lage und bereit sind, tief in unserer Geschichte verwurzelt.

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Unzureichend bedacht in der reichen und vielstimmigen Geschichte der Sprachphilosophie, wenig erforscht und folglich weitgehend ungeklärt ist jedoch die naheliegende konkrete Anschlussfrage, was genau sich für das jeweilige Denken aus den durch die gegebenen Sprachen unterschiedlich gebahnten Wahrnehmungsweisen und Denkwegen entwickelt hat und wie aktuelles Denken von den Möglichkeiten gegebener Sprachen her mitbestimmt wird. Es war ein kurzer Irrweg aufkeimender Einsicht in die Sprachgebundenheit des Denkens, wenn angenommen wurde, eine bestimmte Sprachform nötige das Denken zu bestimmten Denkformen oder gar Gedanken bzw. mache anderes Denken unmöglich. Ein Irrweg sage ich, denn es kann in dieser Frage nicht um Kausalitätsverhältnisse gehen, weder um mechanische noch um biologische (genetische, neuronale) Kausalität, wiewohl sich gerade die genannte Vermutung leichter verstehen lässt, wenn man sie als Begleiterscheinung einer zu kausalem Denken einladenden Sprachform wahrnimmt. So ließen sich die aufwändigen Forschungsanstrengungen jüngerer Zeit, die in dieser Richtung weisen, wenigstens als (sprach)historisch motiviert verstehen. Man wird in diesem Feld nicht mit notwendigen Verbindungen operieren können. Im Gebiet des Geistigen ist nichts unmöglich, »im Prinzip« ist alles denkbar, auch bislang als unvorstellbar geltende kreativen Modifikationen bisher gültiger Verbindungen – selbst Evidenzen haben ihre Geschichte. Folglich sind die uns geläufigen Modalkategorien von Möglichkeit und Notwendigkeit hier wenig hilfreich. Man wird sich stattdessen wirklichen Beispielen aus der Geschichte des Sprechens und Denkens zuwenden müssen, wenn man mehr über die dynamischen Netzwerkstrukturen des menschlichen Geistes (nicht des Gehirns) und seine künftigen Wege erfahren möchte. Denn in der Sprache (und folglich im Denken) beruht alles auf Analogie (Humboldt), nicht auf Deduktion und Berechnung. Letztere haben sich als in Teilgebieten außerordentlich erfolgreiche Sonderformen des Denkens und Sprechens unter wohldefinierten Laborbedingungen entwickelt, bilden aber nicht den vollen Umfang der Bewegungen des menschlichen Geistes ab und sind deshalb für eine umfassende Selbstreflexion von Denken und Sprechen nur bedingt geeignet. Vor diesem begriffstheoretischen Hintergrund wird das geplante Kolloquium »Sprachen des Denkens – Denken in Sprachen« folgende alte Frage neu diskutieren: Was tragen besondere Sprachformen und das in ihrem Medium tradierte kulturelle Gedächtnis menschlicher Gemeinschaften zur Bildung des jeweils gegenwärtigen Denkens bei? Eine allgemeine Sprache des Denkens, in der diese Frage theoretisch verhandelt und zu einem Ergebnis geführt werden könnte, steht nicht zur Verfügung. Weder das Lateinische, noch das Englische, noch das Chinesische können diesen Mangel ersetzen. Einfacher und weniger spekulativ gesagt: Es gibt kein neutrales tertium comparationis des Sprach(en)vergleichs. Man wird also exemplarisch (in Einzeluntersuchungen) vorgehen und untersuchen müssen, welche Verbindungen Sprachformen und das in ihnen entwickelte Denken in concreto, d. h. in greifbaren Texten, eingegangen sind und wie sich damit exemplarische (vorbildliche) Denkformen herausgebildet haben. Erst dann kann man versuchen, die so geprägten und als solche identifizierten Formen anderen Sprachund Denkformen auf kontrastiv erhellende Weise gegenüberzustellen. Dies ist das For-

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schungsfeld, das seit einigen Jahrzehnten von Teruaki Takahashi exemplarisch erkundet wird.1 Der Ort, an dem Eigentümlichkeit, Widerständigkeit und Härte einer bestimmten Sprach- bzw. Denkform kontrastiv wohl am besten zum Ausdruck kommt, ist die Übersetzung. Jeder Übersetzer, auch schon jeder zweisprachige Leser von Übersetzungen fühlt und weiß, dass auch in den am besten gelungenen Versuchen von Übertragungen bedeutungsvoller Texte in eine andere Sprache (zu denen die üblichen linguistischen Beispielsammlungen explizit und dezidiert nicht gehören) (a) vieles verloren geht und (b) vieles andere hineingetragen wird, und zwar beides, damit der übersetzte Text lesbar und verständlich bleibt. Wie sieht hier in einem konkreten Fall die klar gefühlte Gewinn- und Verlustrechnung aus? Was lässt sich ausgehend von konkreten Fällen in welchem Sinn und in welchem Maß verallgemeinern? Doch das ist noch nicht alles. Ein Übersetzer wird bald zur nächst tieferen Ebene der Frage vorstoßen: Wie sieht die Gewinn- und Verlustrechnung bei verschiedenen Lesarten bzw. Interpretationen desselben Textes aus: (a) zu verschiedenen Zeiten (Platon gelesen – und damit übersetzt – mit den Augen der Neuplatoniker, der Sokratiker des 18. Jahrhunderts, Nietzsches?), (b) durch verschieden gebildete Hörer- bzw. LeserInnen, und schließlich (c) durch dasselbe Hörer- bzw. LeserIndividuum zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen? Ein grundsätzliches Problem für eine Beantwortung solcher Fragen, wenn sie im Geiste der Wissenschaft versucht wird, liegt darin, dass die Messinstrumente einer Untersuchung der Bedeutung von Worten selbst nichts anderes als Worte sind: das Reden in bestimmten Sprachformen (wie Deutsch, Englisch, Chinesisch) und in bestimmten Disziplinen, z. B. der Sprachwissenschaft, der Literaturwissenschaft oder der Philosophie mit ihren je eigenen konventionellen und immer wieder neu justierten Bedeutungs- und Akzeptanzregeln. In dieses immer zu große, niemals überschaubare Arbeitsfeld sollen die Vorträge unseres Kolloquiums exemplarische Einblicke vermitteln. Die Beiträge sind historisch, geographisch und disziplinär weit gestreut: Einleitend wird Günter Abel über das philosophische Problem des Übersetzens im Allgemeinen sprechen. Das Schwergewicht liegt auf dem Theorem der Unbestimmtheit der Übersetzung im Feld der natürlichen Sprachen. Diese konstitutive Unbestimmtheit stellt keinen Mangel dar, vielmehr ist sie Bedingung und Garant für die kommunikativen und kooperativen Potenzen natürlicher Sprachen. Dann wird Andrzej Przylebski aus Poznan, philosophischer Autor und Übersetzer philosophischer Werke, über die Erfahrung polnischer Leser mit Texten der klassischen deutschsprachigen Philosophie berichten, also die Perspektive von außen auf deutschsprachiges Denken reflektieren. Im letzten Vortrag wird Rolf Elberfeld in umgekehrter Perspektive die Probleme thematisieren, die sich ergeben, wenn man aus deutscher und allgemein europäischer Perspektive japanisch-buddhistisches Denken zu verstehen versucht. Das wird exemplarisch erläutert an den Schwierigkeiten, einen Text von Dôgen in verschiedenen europäischen Sprachen wiederzugeben. Im dritten Beitrag wechseln wir Teruaki Takahashi: Japanische Germanistik auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik. Geschichte, Theorie, Fallstudien, München 1996. 1

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nicht nur die historische und die geographische Perspektive, sondern auch die Disziplin. Der eigens zu unserem Kolloquium aus Hongkong angereiste Sprachforscher Tse-wan Kwan untersucht die Genesis semantischer Valenzen am Beispiel philosophischer Grundwörter des Chinesischen, indem er deren Etymologie auf der Ebene der schriftlichen Sprachzeichen zurückverfolgt. Denn diese Genesis legt Analogien und Gedankenverbindungen nahe, die die Aufmerksamkeit des Denkens der Leser auf eine für uns ganz ungewohnte Art und Weise binden und bereichern.

Literatur Takahashi, Teruaki: Japanische Germanistik auf dem Weg zu einer kontrastiven Kulturkomparatistik. Geschichte, Theorie, Fallstudien, München 1996.

Das philosophische Problem des Übersetzens Günter Abel (Institut für Philosophie der TU Berlin, Innovationszentrum Wissensforschung (IZW))

Gliederung: I. II. III. IV. V. VI.

Relevanz des Übersetzens Scheitern von Übersetzungsmaschinen und universaler Konvertierbarkeit Sprachliche Übersetzung Unbestimmtheit der Übersetzung Aufgaben des Übersetzers Grenzen der Übersetzbarkeit. Eigenes und Fremdes

I. Relevanz des Übersetzens Die Relevanz des Übersetzens ist offenkundig. Einige Beispiele mögen genügen, um dies zu verdeutlichen.1 (i) Übersetzungsprobleme treten auf, wenn man sich in fremden Ländern oder Texten bewegt, deren Sprache man nicht spricht. (ii) Übersetzungsfragen werden philosophisch zentral, sobald wir die Einengung auf Fragen der Übersetzungstheorie verlassen und einsehen, dass alle menschliche Kommunikation und Kooperation im weiten Sinne dieses Ausdrucks als ein Übersetzen angesehen werden können. Damit hängt zusammen, dass (iii) das Problem des Übersetzens nicht erst in Bezug auf ferne und weit entfernte fremde Kulturen, sondern bereits »at home« (Quine)2 beginnt, hinsichtlich der Äußerungen und Zeichen anderer Mitglieder der eigenen Sprach- und Zeichengemeinschaft, in Bezug also auf den Nachbarn von nebenan. Und Übersetzungsprobleme sind (iv) vornehmlich auch dort relevant, wo es um den Dialog zwischen unterschiedlichen Sprach-, Zeichen-, Denk- und Lebensformen geht. Kurzum: Übersetzung ist Kondition menschlichen Fremd- und Selbstverstehens, einschließlich des darin involvierten Weltund Handlungsbezugs. Übersetzung ist Grundvorgang.

Im vorliegenden Text greife ich in überarbeiteter Form, aber teils auch wörtlich auf Materialien zurück, die ich ausführlicher entwickelt habe in Günter Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999, Kap. 5 »Übersetzung als Interpretation«. 2 Willard V. O. Quine: Ontological Relativity and Other Essays, New York, S. 47. 1

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II. Scheitern von Übersetzungsmaschinen und universaler Konvertierbarkeit Eine Hoffnung der letzten Jahrzehnte in Sachen Übersetzung bestand darin, dass der Computer den Human-Übersetzer überflüssig machen könnte. Die Erarbeitung von Übersetzungsprogrammen wurde und wird intensiv vorangetrieben. Jedoch scheint das Ergebnis vorerst dies zu sein, dass eine akzeptable maschinelle Übersetzung natürlicher Sprachen und Zeichen nicht wirklich gelingt. Die Komplexität, die Kreativität, die Offenheit, die Indeterminiertheit, die Unabschließbarkeit, die Erfindungskraft, der figurative, der abweichende, der innovative und der metaphorische Charakter des tatsächlichen menschlichen Sprechens und Zeichengebrauchs übersteigen die Fähigkeiten der Computer der uns bislang bekannten Art. Man denke beispielsweise an die situative Punktlandung eines Witzes, an den ironischen Gebrauch sprachlicher Ausdrücke oder an die Kraft einer bis dato noch nie gehörten Metapher. Solchen Phänomenen gegenüber erscheinen Computer als hilf- und humorlose Maschinen. Der systematisch entscheidende Punkt ist jedoch nicht bloß einer der hohen Komplexität und Situationsgebundenheit natürlicher Sprachen und Zeichen. Vielmehr ist herauszustellen, dass es in Computer-Programmen des Übersetzens stets nur darum gehen kann, einen Algorithmus zu finden und diesen zur Anwendung zu bringen. Im Blick auf das Übersetzen setzt ein solches Programm die Annahme voraus, dass das Sprechen und Verstehen einer Sprache sowie das Übersetzen Vorgänge sind, die in einen Algorithmus gebracht und als das Abarbeiten von Schritten im Sinne effektiver Berechenbarkeit (letztlich nach dem Modell einer Turing-Maschine) angesehen werden können. Zugrunde liegt mithin die Vorstellung, dass es im Sprechen und Übersetzen darum gehe, diejenige Grundregel und dasjenige Herstellungs- und Bearbeitungsverfahren zu finden und anzuwenden, nach denen aus einer gegebenen Menge von Buchstaben und Zeichen nach bestimmten Regeln und Vorschriften die jeweilige Sprach- und Zeichenfigur hervorgebracht, verstanden und eben auch von einem System in ein anderes verlustfrei übersetzt werden könne. An genau dieser Stelle jedoch tritt ein doppeltes Missverständnis zutage. Zum einen (a) ist (wie vor allem Wittgenstein gezeigt hat) die Annahme irreführend, unser tatsächliches Sprechen, Verstehen und Übersetzen einer Sprache werde durch vorab feststehende Regeln determiniert. Zum anderen (b) berechtigt die Feststellung, dass wir Ausdrücke einer natürlichen Sprache verwenden, verstehen und übersetzen können, keineswegs zu dem Schluss, dass wir in diesen Prozessen dem Modell folgen, einen »Kalkül« zu betreiben »nach bestimmten Regeln«.3 Entsprechend lassen sich im strengen Sinne auch keine Algorithmen des verlustfreien Sprechens, Verstehens und Übersetzens natürlicher Sprachen sowie nicht-sprachlicher Zeichen (wie zum Beispiel von Gesten, Blicken, Bildern, Geräuschen, Körperbewegungen) formulieren. Die Reihe der semantischen Merkmale (das heißt: der Bedeutung, der Referenz und der Erfüllungs- oder Wahrheitsbedingungen) erfolgreich verwendeter natürlicher 3

Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen I, Ausgabe Frankfurt/M. 1977, Nr. 81.

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Sprachzeichen ist im Prinzip offen, variabel, indeterminiert, dynamisch, kontingent, temporal und jederzeit durch Alteritäten affizierbar, kurz: die Reihe ist nicht effektiv berechenbar und nicht definitiv abschließbar. Eine Turing-Maschine zum Beispiel würde in puncto semantische Merkmale nicht zu einem Abschluss effektiver Berechenbarkeit kommen, mithin nicht zu einem Output gelangen, sondern unbegrenzt weiterlaufen. Die Reihe der semantischen Merkmale ist in ihrer Anordnung und Hierarchisierung abhängig von einer Vielzahl pragmatischer Komponenten. Unter diesen Komponenten spielen vor allem die beteiligten Individuen (und etwa deren propositionale Einstellungen, Überzeugungen, Wünsche, Präferenzen, Relevanzen und Zwecksetzungen) sowie die Eingebundenheiten in Situation, Zeit, Kontext und Kultur eine besonders wichtige Rolle. Die Bedeutung natürlich-sprachlicher Zeichen ist nicht definitorisch (und schon gar nicht durch analytische Definitionen) festgelegt, wie dies im Bereich künstlicher und formaler Sprachen, in Mathematik und Logik der Fall ist (und dort zu den bekannt faszinierenden Leistungen führt). Zugleich ist (mit Wittgenstein) zu betonen, dass der gegenwärtige Gebrauch eines sprachlichen Ausdrucks sowie eines nicht-sprachlichen Zeichens nicht vorab durch eine Regel determiniert und nicht allgemein bestimmt ist. Diesem Befund korreliert, dass auch der zukünftige Gebrauch eines natürlich-sprachlichen Zeichens keineswegs vorab bereits festliegt, keineswegs einfach im Zuge einer kausalen oder logischen Determination bloß fortgeschrieben wird. In der natürlichen Sprache wie in den natürlichen nicht-sprachlichen Zeichenfolgen sind Anschlusszeichen nicht durch die ihnen jeweils vorausliegenden Zeichen kausal oder logisch oder anderswie determiniert. Im Zeichenverwenden und Zeichenverstehen flüssig und anschlussfähig fortsetzen zu können, lebt vom Andocken an offene und nicht-determinierte Valenzen des tatsächlichen Sprach- und Zeichengebrauchs. Angesichts der angeführten Befunde bestehen prinzipielle Grenzen für den Versuch, die semantischen und pragmatischen Merkmale sprachlicher wie nicht-sprachlicher Zeichen und deren Übersetzungen in andere Ausdrücke und Zeichen in Rechenbits und Rechenschritte zu zerlegen und diese dann im Sinne effektiver Berechenbarkeit verlustfrei in andere Sätze und Zeichen zu übersetzen. Dass dies nicht möglich ist, zeigt sich insbesondere an der in jede Übersetzung stets bereits und konstitutiv involvierten Interpretation. Diese Interpretation erstreckt sich sowohl auf die Ausdrücke der eigenen Sprache, aus der heraus, als auch auf die Ausdrücke der anderen Sprache, in die hinein übersetzt werden soll. Die Bedeutung eines zur Übersetzung anstehenden Zeichens anzugeben heißt, eine Interpretation dieses Zeichens zu geben.4 Die Verbindung zwischen einem Zeichen und seiner Interpretation – Voraussetzung für jede gelingende Übersetzung – ist jedoch nicht eine notwendige Verbindung (weder in einem kausalen noch in einem logischen oder in irgendeinem anderen deterministischen Sinne). Zu einem Zeichen gibt es jeweils nicht nur eine einzige richtige und eine einzig metaphysisch seriöse Interpretation. Vielmehr bleiben mehrere gleichermaVgl. dazu und zum Folgenden detaillierter Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 3.2.: »Bedeutung als angemessene Interpretation«. 4

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ßen legitime Interpretationen systematisch (und nicht nur kontingenterweise) jederzeit möglich. Anderes zu behaupten, hieße letztlich die These verteidigen zu müssen, dass das Gesamt unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten (welche die semantischen und pragmatischen Merkmale der erfolgreich verwendeten, verstandenen und übersetzten Ausdrücke und Zeichen umgrenzen und mitregieren) deterministisch verfasst sei und einer effektiven Berechenbarkeit zugeführt werden könne. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese These bislang niemand ernsthaft vertreten hat oder sie gar eingelöst hätte. Angesichts des skizzierten Charakters der bedeutungs-konstitutiven Interpretations-Prozesse kann es keinen Algorithmus der Interpretation, mithin auch keinen des erfolgreichen Verstehens und Verwendens natürlicher Zeichen und in der Folge auch keinen des erfolgreichen Übersetzens geben. Bereits mit der Frage, wie man die Bedeutung natürlich-sprachlicher Zeichen in die Maschine, in Computer (der uns bislang bekannten Art) bringen könne, bewegt man sich am Rande des skizzierten grundsätzlichen Missverständnisses. Zugleich sei an dieser Stelle die These formuliert, dass das Scheitern von Übersetzungsmaschinen mit dem Scheitern der Idee der universalen und verlustfreien Konvertierbarkeit zwischen unterschiedlichen Sprach-, Zeichen-, Handlungs- und Lebensformen Hand in Hand geht. Diese These kann ich hier jedoch nicht im Detail entfalten. Sie möge die Aufmerksamkeit lediglich auf den Punkt lenken, von welch grundlegender Brisanz die Frage des Übersetzens im Blick auch auf die Fundamente der abendländischen Metaphysik ist. Die traditionelle Metaphysik lebte nicht zuletzt von den beiden Annahmen, (a) dass alle Gedanken in einer Sprache artikulierbar sind und (b) dass die Gedanken und Ausdrücke unterschiedlicher Sprachen im Sinne einer universalen Grammatik verlustfrei ineinander konvertierbar sind. Die metaphysik-kritische Brisanz des Problems der Übersetzung tritt hier im Zuge der Einsicht zutage, dass wir sowohl von der effektiven Berechenbarkeit als auch von der universalen Konvertierbarkeit und auch von einem tertium comparationis ultimativen Übersetzens und Interpretierens nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten sind.

III. Sprachliche Übersetzung Spätestens in Bezug auf Texte der Literatur, der Philosophie, der Religionen, der Wissenschaft, der Politik, der Diplomatie und der Kultur, ja bereits in jedem über die FastfoodTerminologie hinausgehenden Gespräch mit Angehörigen einer anderen oder der eigenen Sprachgemeinschaft manifestieren sich die Probleme der Übersetzung auf eine nicht zu übersehende und vor allem auf eine nicht-eliminierbare Weise. Die diesbezüglichen Schwierigkeiten ergeben sich nicht nur unter dem Aspekt der Fremdheit und der Andersheit anderer Sprachen und Zeichen. Sie ergeben sich auch in Folge des Zeitenabstandes, d. h. im Zuge des zeitlichen Abstandes, der zwischen zum Beispiel der Entstehung eines Textes und seiner späteren Aneignung durch einen Rezipienten innerhalb ein und derselben Sprache und Kultur liegt, etwa zwischen dem Sprachund Zeichengebrauch im 18. Jahrhundert und dem heutigen. Sprachgrenzen sind stets

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auch Zeitgrenzen. Auch die Zeitgrenzen machen eine Übersetzung erforderlich, durch die der Transfer von Bedeutung und Sinn bewerkstelligt werden soll. Die Schwierigkeiten des Übersetzens gehen hier und prinzipiell vor allem darauf zurück, dass das komplexe und dichte Netz der Bedeutungen, des Sinns, der Relevanzen und der Formen zum Beispiel dichterischer und philosophischer Sprache stets bereits abhängig ist von den Eigentümlichkeiten und Widerständigkeiten derjenigen Sprach-, Zeichen- und Lebensform, in denen sie artikuliert werden. Und dieses Netz spezifischer Eigentümlichkeiten kann (wie der Übersetzer Michael Hamburger5 mit Recht betont) als Ganzes nicht in eine andere Sprache transportiert und dort nicht verlustfrei eins-zu-eins reproduziert werden – nicht einmal in die eigene spätere. Letztlich entscheidet der Übersetzer, was er für wichtig hält. Und das kann durchaus an Bedeutung, Sinn, Relevanz und Sachgehalt des Ausgangstextes vorbeigehen.

IV. Unbestimmtheit der Übersetzung Im Zusammenhang der Fragen der Übersetzung ist Quines These von der »Unbestimmtheit der Übersetzung« von grundlegender Bedeutung. Die These besagt, dass »manuals for translating one language into another can be set up in divergent ways, all compatible with the totality of speech dispositions, yet incompatible with one another«.6 Im Folgenden geht es mir nicht nur um die Ebene der syntaktischen Übersetzung, sondern von vornherein auch um die der semantischen Interpretation. Sprachen funktionieren jedoch nicht trotz, sondern vielmehr gerade unter Einräumung ihrer Unbestimmtheit kommunikativ und kooperativ. Die Ausdrücke einer natürlichen Sprache zeichnen sich durch die (in Abschnitt II bereits betonten) offenen semantischen und pragmatischen Valenzen aus, in deren Zuge der flüssige Gebrauch sowie die Anschlussfähigkeit und somit die für uns Menschen so grundlegende Kommunikabilität und Kooperativität zwischen Personen ermöglicht werden und gewahrt bleiben. Das ist ein überaus wichtiger Punkt. Die Unbestimmtheit der Übersetzung und Interpretation stellt mithin keineswegs ein Hindernis für die menschlichen Verständigungs- und Kooperationsverhältnisse dar. Vielmehr erweist sie sich als eine von deren Bedingungen, als eine Kondition von Verständigung, Gespräch, Dialog und Kooperation (einschließlich der jederzeit möglichen Nicht-Übereinstimmung, Uneinigkeit und des tiefen Disagreements). Entsprechend gilt, dass bei Übersetzungen und Interpretationen von innen her jederzeit und grundsätzlich Raum für alternative Übersetzungen und Interpretationen bleibt. Anderenfalls hätten wir es als Menschen, Computern gleich, bloß mit einem Austausch von exakt umgrenzten Datenmengen zu tun – was offenkundig nicht der Fall ist.

5 Michael Hamburger: »Erfahrungen eines Übersetzers«, in: ders.: Literarische Erfahrungen. Aufsätze, hg. von Harald Hartung, Darmstadt 1981, S. 15 f. 6 Willard V. O. Quine: Word and Object, Cambridge Mass., 13. Aufl. 1983, Kap. II, S. 27. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Günter Abel: »Unbestimmtheit der Interpretation«, in: Josef Simon (Hg.): Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt/M., 1995, S. 43–71.

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In Situationen »radikaler Übersetzung« (Quine) und »radikaler Interpretation« (Davidson) ist das Finden und Konstruieren von Übersetzungshypothesen kardinal. Das Bemerkenswerteste an den Übersetzungshypothesen ist, dass sie »exceed anything implicit in any native᾽s dispositions to speech behavior«.7 Mit Hilfe solcher Hypothesen konstruieren wir Analogien zwischen Sätzen, die bereits erfolgreich übersetzt worden sind, und solchen, bei denen dies noch nicht der Fall ist. Auf diese Weise werden die Grenzen der Übersetzungsarbeit erweitert »beyond where independent evidence can exist«. Der Übersetzer muss »guess«, muss »project conjectural interpretations« und verfährt »tinkering« mit seinem Übersetzungs- und Verständigungssystem, um dessen Effektivität zu steigern.8 In diesen Vorgehensweisen manifestiert sich der interpretative, der konstrukt-bildende Charakter der Übersetzungs- und Verständigungsverhältnisse. Daher können die Übersetzungshypothesen als kreativ-interpretatorische Konstruktbildungen angesehen werden. Freilich hebt selbst die bestmögliche Übersetzungshypothese nicht die grundsätzliche Unbestimmtheit der Übersetzung auf. Und an genau dieser Stelle kommt der entscheidende Punkt der These der Unbestimmtheit der Übersetzung ins Spiel: Man kann systematisch verschiedene und inkompatible Systeme von Übersetzungshypothesen bilden, die alle gleichermaßen gut alle Daten empirischer und behavioraler Evidenz interpretieren, und die gleichwohl zu »mutually incompatible translations of countless sentences insusceptible of independent control« führen.9 Vor allem der Umstand, dass kreativ-konstruktionale Übersetzungshypothesen erforderlich sind, führt zur Unbestimmtheit der Übersetzung und der Interpretation. Welche Übersetzungs- und Interpretationstheorie dann jeweils eingesetzt wird, hängt von den Zwecken ab, die mit der Übersetzung erfüllt werden sollen. Hervorzuheben ist auch, dass nicht nur die Bedeutung (mithin das, wovon ein Ausdruck handelt), sondern auch die Referenz (mithin das, worauf er sich bezieht) von der Unbestimmtheit betroffen ist. Die Unbestimmtheit »cuts across extension and intension alike.« Die Referenz selbst »proves behaviorally inscrutable«.10 Die Unbestimmtheit von Übersetzung und Interpretation kann Quine zufolge als eine Konsequenz auch der Unerforschlichkeit der Referenz angesehen werden. Der Erfolg einer Übersetzung und Interpretation bemisst sich, mit Quine gesprochen, an der »smoothness of conversation«, »effectiveness of negotiation«, »frequent predictability of verbal and non-verbal reactions« und an der »coherence and plausibility«.11 Selbstverständlich kann es dabei nicht um definitive und ein für alle Mal verbindliche Übersetzungen und Interpretationen gehen. Unter kritischem Vorzeichen kann es nicht länger mehr um ›Die Überhaupt Beste Prozedur‹ und ›Das Überhaupt Beste Handbuch der Übersetzung‹, sondern spezifisch und komparativisch stets nur um bessere oder Quine: Word and Object, S. 70. Willard V. O. Quine: Pursuit of Truth. Revised Edition, Cambridge Mass. 1992, S. 45. 9 Quine: Word and Object, S. 72. 10 Quine: Ontological Relativity, S. 35. 11 Quine: Three Indeterminacies, in: R. Barrett/R. Gisbon (Hg.): Perspectives on Quine, Oxford, Cambridge Mass. 1990, S. 4. 7 8

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schlechtere Übersetzungen gehen. Diese Einsicht wertet jedoch tatsächliche Übersetzungen nicht nur nicht ab. Ganz im Gegenteil lässt sie das Übersetzen in seiner humanen Rolle nur umso deutlicher hervortreten. Einen entscheidenden philosophischen Grund dafür, dass Unbestimmtheit der Übersetzung und der Interpretation nicht eliminierbar sind, möchte ich in den folgenden beiden Aspekten sehen (die zugleich zwei Grundannahmen einer diesbezüglich allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie12 ausmachen). Zum einen (a) setzt unsere Fähigkeit, uns in einer spezifischen Sprache zu bewegen, stets bereits voraus, dass wir uns auf die dieser Sprache zugehörige Praxis des Interpretierens der Ausdrücke und Zeichen dieser Sprache verstehen. Zum anderen (b) können alle Bedeutungs- und Referenzfunktionen sprachlicher sowie nicht-sprachlicher Zeichen als Zeichen- und Interpretationsfunktionen beschrieben, analysiert und modelliert werden. Es ist dieser zeichen-verkörperte und interpretativ-konstruktionale Charakter der Verständigungs- und Kooperationsverhältnisse selbst, der intern Unbestimmtheit der skizzierten Art mit sich führt. Dabei erstreckt sich die Unbestimmtheit nicht nur auf das Übersetzen von einer natürlichen Sprache in eine andere. Sie erstreckt sich ebenso auf die Prozesse des (bislang in seinen Mechanismen noch weitgehend unverstandenen) Übersetzens von Zeichen eines nicht-sprachlichen Symbolsystems (wie z. B. einer Geste oder Gebärde) entweder in einen sprachlichen Ausdruck oder in ein anderes nicht-sprachliches Zeichen (wie etwa im Falle der Übersetzung genuin bildlicher oder musikalischer Metaphern von einem Kunstwerk in ein anderes, oder einfach zum Beispiel einer Geste in einen musikalischen Klang).

V. Aufgaben des Übersetzers Die Aufgaben und Erfahrungen von Übersetzern (insbesondere von Übersetzern literarischer, philosophischer, diplomatischer, lyrischer oder religiöser Texte) lassen sich auf unterschiedliche Weise beschreiben. Jedes Mal jedoch ist im Übersetzen ein bestimmtes Verständnis der Sprache, der Verständigung und des Werkes mit vorausgesetzt. Im Folgenden beschränke ich mich auf Übersetzungen von sprachlichen Texten. Die Befunde gelten jedoch mutatis mutandis auch für alle anderen Situationen und Verhältnisse des Übersetzens. Einige der wichtigsten Aufgaben des Übersetzers sind die folgenden vier. Die Übersetzung von Texten sollte beitragen: (i) zum Weiterleben der Werke in unterschiedlichen Sprachen; (ii) zur Aufrechterhaltung von Verständigungsverhältnissen in den zugehörigen Bereichen und Hinsichten sowie über Zeiten hinweg; (iii) zur Aneignung fremden Sprechens und Denkens in den Grenzen und Möglichkeiten der eigenen Sprache und (iv) zur Freigabe der eigenen Sprache für die Andersheit der fremden Spra-

Zu deren Grundzügen und Prinzipien im Blick auch auf das Problem des Übersetzens vgl. im Einzelnen Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Kap. 3 und 4; und Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1995. Kap. 14 und 15; und Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004. 12

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che, einschließlich der Freigabe der Eigentümlichkeiten und auch Fremdheiten der eigenen Sprache. Vom Übersetzer wird mithin viel verlangt. Hans-Georg Gadamer erinnert an die geistreiche Charakterisierung, die Friedrich Schlegel vom verstehenden Interpreten eines Werkes gegeben hat, und wendet diese auf den Übersetzer an: »Um jemanden zu verstehen, muß man erstlich klüger sein als er, dann ebenso klug und dann auch ebenso dumm. Es ist nicht genug, daß man den eigentlichen Sinn eines konfusen Werkes besser versteht, als der Autor es verstanden hat. Man muß auch die Konfusion selbst bis auf die Prinzipien kennen, charakterisieren und konstruieren können.«13 Letzteres sei, wie Gadamer trefflich betont, das »allerschwerste«. Je stärker bei genauerem Sehen die Unterschiede, die Differenzen und Diskontinuitäten zwischen den Sprachen in den Blick treten, desto weniger ist es möglich, weiterhin an dem vereinheitlichenden und universalsprachlichen Bild vom Übersetzen festzuhalten. Die Differenzen der Sprachen sind konditional für das Übersetzen. Der Übersetzer hat im Brückenschlag zwischen Sprachen auch Fährmann von deren Differenzen und Diskontinuitäten zu sein.

VI. Grenzen der Übersetzbarkeit. Eigenes und Fremdes Übersetzen ist, wörtlich genommen, ein Über-setzen, ein Übertragen, ist, mit einer Wendung Michael Hamburgers gesprochen, ein »Hinübertragen« des Ausgangstextes »in eine andere Sprachwelt«. Und diese andere, neue Sprachwelt ist »zugleich auch eine andere Dingwelt, Um- und Innenwelt«. Die Änderungen, die der Übersetzer sich erlaubt, sollen dazu dienen, den Text in dieser anderen Sprach-, Erlebens- und Erfahrungswelt »lebensfähig« zu machen.14 Im Anschluss an diesen zentralen Aspekt möchte ich abschließend zwei Aspekte kurz ansprechen: (a) die Frage nach dem Verhältnis von Eigenem und Fremdem in der Übersetzung und (b) die Frage nach den Grenzen der Übersetzbarkeit und der Unübersetzbarkeit. Um das Eigene durch Fremdes bereichern zu können, muss zuvor bis an die Grenzen des Übersetzbaren gegangen worden sein. Diese Grenzen manifestieren sich in der Widerständigkeit fremder Sprachen sowie der Sprach- und Denkformen, sich nicht in den Grenzen der eigenen aneignen und verarbeiten zu lassen. Darin manifestiert sich die Individualität und die Nicht-Reduzierbarkeit der besonderen Sprachen aufeinander und/ oder auf ein gemeinsames Drittes. Spätestens im Zuge dieser Erfahrung muss sich auch die eigene Muttersprache und innerhalb dieser dann die zur Zeit geltende Sprachform von dem zunächst naheliegenden Eindruck befreien, sie sei die allgemeine Sprache. Grenzen der Übersetzbarkeit und des Unübersetzbaren zeigen sich vornehmlich an den folgenden Aspekten: (i) dass sich das Fremdartige sowie die Individualität der andeFriedrich Schlegel, zitiert nach Hans-Georg Gadamer: »Lesen ist wie Übersetzen«, in: ders.: Gesammelte Werke, Band 8, Tübingen 1993, S. 280. 14 Hamburger: »Erfahrungen eines Übersetzers«, S. 17. 13

Das philosophische Problem des Übersetzens

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ren besonderen Sprache als Widerständigkeit manifestiert; (ii) dass sich die Unbestimmtheit der Übersetzung als nicht-eliminierbar erweist; (iii) dass Sprechen, Verstehen und Übersetzen Vorgänge sind, die (wie in Abschnitt II dargelegt) nicht als die Anwendung eines Kalküls und nicht im Sinne eines Algorithmus verstanden werden können; (iv) dass die Individualität der fremden wie der eigenen Sprache auch darin besteht, es im jeweils tatsächlichen Gebrauch eines Ausdrucks mit unterschiedlichen, zumindest mit unterschiedlich nuancierten Anordnungen in der Reihe der semantischen und pragmatischen Merkmale, Relevanzen, Sinnannahmen und Präferenzen zu tun haben; und (v) dass das, was in einer Sprache zwar nicht Mitteilung, gleichwohl jedoch überaus wesentlich ist (wie etwa: Rhythmus, Tempo, Betonung, Klangfarbe), in der Übersetzung in eine andere Sprache nicht ohne weiteres und jedenfalls nicht verlustfrei transportiert werden kann. Erinnert sei hier etwa auch an die bereits erwähnten Beispiele des Witzes, der Ironie und der Metapher. Indem der Übersetzer die Widerständigkeit, die Irreduzibilität, die Andersheit, die Dynamik, die Temporalität, die Offenheit, die mögliche Alterität und in alledem die Individualität fremder Sprachen anerkennt, tritt in dem Vorgang des Übersetzens (der zunächst reine sich bemächtigende Aneignung zu sein scheint) ein neues Element hervor: im Übersetzen geht es stets auch darum, der anderen Sprache gerecht zu werden. Gelungene Übersetzung hat es im Kern mit dieser Art von Gerechtigkeit zu tun. In diesem Sinne ist Übersetzung Gerechtigkeit der Sprache und auch darin Ausdruck von Humanität. Die Übersetzer sind in besonderer Weise Humanisten. Indem ich hier wie subkutan im ganzen vorliegenden Text erklärtermaßen von gelungenen Übersetzungen spreche, tritt zugleich ein weiterer und überaus wichtiger Aspekt hervor. Die Betonung der hohen Herausforderungen, die für ein jedes gelingendes Übersetzen und Interpretieren zu bewältigen sind, führt natürlich keineswegs zu der gänzlich irrigen Vorstellung, dass Übersetzung zwar nötig, sich letztlich aber doch als unmöglich erweise. Eine solche Vorstellung triebe uns letztlich in die absurde Konsequenz, in Sprache und Übersetzung schließlich ein Hindernis für Verständigung sehen zu wollen. Vielmehrs ist und bleibt die Sprache, mit der schönen Formulierung Kants gesprochen, doch das »größte Mittel, sich selbst und andere zu verstehen«.15

Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Erster Teil, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1975, Bd. 10, S. 500. 15

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Kolloquium 4 · Günter Abel

Literatur Abel, Günter: »Unbestimmtheit der Interpretation«, in: Josef Simon (Hg.): Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt/M. 1995, S. 43–71. − Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt/M. 1999. − Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt/M., 2. Aufl. 1995. − Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2004. Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke, Band 8, Tübingen 1993. Hamburger, Michael: Literarische Erfahrungen. Aufsätze, hg. v. Harald Hartung, Darmstadt 1981. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Erster Teil, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10, Darmstadt 1975. Quine, Willard Van Orman: Ontological Relativity and Other Essays, New York 1969. − Word and Object, Cambridge Mass., 13. Aufl. 1983. − Pursuit of Truth. Revised Edition, Cambridge Mass. 1992. − »Three Indeterminacies«, in: R. Barrett / R. Gisbon (Hgg.): Perspectives on Quine, Oxford / Cambridge Mass. 1990, S. 1–16. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Ausgabe Frankfurt/M. 1977.

»Die aus dem Land der Denker«. Zu Übersetzungsproblemen deutscher Philosophieklassiker in Polen – Hegel, Nietzsche, Heidegger Andrzej Przylebski (Poznan, PL) Fangen wir an mit einer riskanten These: Wenn wir einen Blick auf die Geschichte der abendländischen Philosophie werfen, dann sehen wir, dass die Präsenz der Denker verschiedener Sprachbereiche ungleich verteilt ist. Die Lehrbücher der Philosophiegeschichte werden von Griechen, Franzosen, Engländern und neuerlich Amerikanern dominiert. Vor allem aber von Deutschen, die von Leibniz bis heute im philosophischen Diskurs den Ton angeben. Während meiner Vorlesung zur europäischen Philosophie der Neuzeit hatte ich manchmal sogar den Eindruck, dass Philosophie eigentlich zu einem rein deutschen Unternehmen wurde. Denn die Beiträge der Franzosen und der Angloamerikaner zur nachaufklärerischen Philosophie könnte man als Reaktion auf Konzeptionen der deutschen Philosophen betrachten. Die geistige Kultur anderer Völker drückte sich oft in anderer Form aus. Polen zum Beispiel betrachtete sich seit 200 Jahren als Land der Dichter, nicht der Denker; Dichter, die – wie Adam Mickiewicz – sowohl als philosophierende Propheten wie auch als Stifter der nationalen Kultur (und dadurch der nationalen Identität), aber deshalb eben auch als Denker galten; solche Denker aber, die die für sie bedeutsame Wirklichkeit dichterisch, d. h. nicht argumentativ, nicht logisch und diskursiv zum Ausdruck brachten. Mit Ausnahme von Maria Curie-Sklodowska kommen alle Nobelpreisträger Polens aus dem Bereich der Literatur, vor allem der Dichtung. In diesem Sinne schaute ein dichterisch verträumtes Polen oft auf Deutschland als ein Land der Dichter und Denker, d. h. der Philosophen. Spätestens seit Kants Triumph im nahen Königsberg galt Deutschland als der Ort, wo die beste Philosophie geschrieben wird. Beginnen wir mit Hegel. Infolge der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 verschwand eines der damals größten Länder Europas von der Landkarte. Ein großer Teil Polens, mit der Hauptstadt in Posen, wurde preußisch. Auβer den evident negativen Konsequenzen dieser Tatsache im Bereich der Politik, der Kultur und der Wirtschaft hatte dies aber auch zur Folge, dass die Bewohner vom Großpolen (so hieß die Region seit dem 10. Jahrhundert) geneigt waren, an deutschen Universitäten zu studieren. Und so studierten einige Polen bei Hegel in Berlin. Einer unter ihnen ragte deutlich heraus, nämlich Karol Libelt, nach dem heute eine Straße in Poznan benannt ist. Er soll ein besonders geschätzter Schüler Hegels gewesen sein, bei dem er seine Doktorarbeit schrieb. Libelt hat im Anschluss an Hegels Metaphysik des absoluten Geistes seine eigene Philosophie entwickelt, die hier nur erwähnt werden kann; eine messianische, die den slawischen Ländern die Rolle der Eröffnung einer neuen Epoche in der Weltgeschichte zuerkennt.1 Lassen wir den Inhalt 1

Ansätze zu so einem Denken gab Hegel selbst in seinen Bemerkungen zur möglichen künftigen Rol-

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Kolloquium 4 · Andrzej Przylebski

seiner Lehre aber beiseite. Wichtiger ist, dass er in Posen und in Großpolen eine intensive intellektuelle Wirkung entfaltete. Der zweite Posener aus der Hegel-Schule war August Graf Cieszkowski, der in Berlin bei Hegels Nachfolgern studierte, weil er zu jung war, um bei Hegel direkt studieren zu dürfen. Nach Berlin kam er im Jahre 1832. Sein Beitrag zur Weiterentwicklung der Hegelschen Schule ist hinreichend bekannt, daher werde ich hier darauf nicht eingehen.2 Trotz dieser lebendigen Kontakte musste das polnische Publikum auf Übersetzungen der Hegelschen Hauptwerke3 lange Zeit warten, denn sie erschienen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum so spät, durfte man fragen. Es gibt keine einfache Antwort, nur Hypothesen. Vielleicht war das der Zensurpolitik der preußischen, der russischen und der österreichischen Besatzer Polens »zu verdanken«. Vielleicht waren die Werke zu schwierig, angesichts der mangelnden philosophischen Terminologie im Polnischen. Vielleicht bevorzugten es die Interessierten, diese Werke im Original zu studieren, was für gebildete Schichten Großpolens und Kleinpolens (der Region um Krakau) keine Schwierigkeit bereitete. Nichtsdestotrotz schufen die beiden genannten Denker – Libelt und Cieszkowski, ergänzt durch Bronisław Trentowski, der zu ungefähr der gleichen Zeit in Heidelberg promoviert wurde4 – in eigenen theoretischen Schriften polnische Entsprechungen zu den Hauptbegriffen Hegels. Damit trugen sie zur Entwicklung der philosophischen Terminologie im Polnischen bei. Nach dem Ersten Weltkrieg erlangte Polen – nach 123 Jahren Fremdherrschaft – seine verdiente Unabhängigkeit. Es entstanden philosophische Lehrstühle an alten (z. B. in Lemberg, wo mit Twardowski die sog. Lemberger Schule begann) und neuen (z. B. in Poznan) polnischen Universitäten. Die Beherrschung der deutschen Sprache ist im Polen der Zwischenkriegszeit stark zurückgegangen. Und so wurden Übersetzungen der Hegelschen Werke nötig. Die für heute maßgeblichen Übersetzungen entstanden aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg.5 Erstaunlich ist, dass sie nicht von den bekannten Philosophen und Hegel-Forschern, sondern eher von Hegel-Enthusiasten gefertigt wurden. Denn die Autoren der Übersetzung der Phänomenologie des Geistes, der Wissenschaft der Logik le Russlands. Vgl. z. B. Hegels Brief an Boris v. Uexküll vom 28. Nov. 1821 (in: »Briefe von und an Hegel«, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1954, B. 2, S. 297 ff. und Hegel, »Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte«, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1968, S. 758 ff. 2 Cieszkowski (1814–1894) kritisierte den dialektischen Idealismus Hegels, indem er die Idee der Tat zum Prinzip des Seins im Werden (bzw. der Geschichte) machte. Während seines Aufenthalts in Paris beeinflusste er sowohl P. Proudhon als auch K. Marx. Zu seinen wichtigsten Werken gehören Prolegomena zur Historiosophie (Berlin 1838) und Gott und Palingenesie (Berlin 1842). 3 Von kleineren Schriften sehe ich hier ab. 4 Trentowski (1808–1869) nahm an dem Aufstand gegen Russland (1830) teil. Nach dessen Niederlage ging er nach Leipizg, Jena und schließlich nach Heidelberg, wo er bei dem Hegelianer K. Daub studierte. 1833 setzte er sein Studium in Freiburg fort, wo er mit der Dissertation Grundlage der universellen Philosophie promoviert wurde und sich mit der Abhandlung De vita hominis aeterna habilitierte. Verheiratet mit einer Deutschen kehrte er nie nach Polen zurück, verbreitete dennoch seine philosophische und erzieherische Theorien in Posener und Warschauer Zeitschriften, viele sprachliche Neuprägungen ins Polnische hineinbringend (u. a. das Wort »cybernetyka« oder »jazn« für »Ich/Ichheit«). 5 Ausnahme ist eine Übersetzung der Hegelschen Geschichtsphilosophie, die nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte.

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oder der Grundlinien der Philosophie des Rechts sind in der philosophischen Welt Polens kaum bekannt6, im Unterschied z. B. zu Roman Ingarden, der Kants Kritik der reinen Vernunft übersetzte. Nichtsdestotrotz sind die Übersetzungen von Hegel nicht schlecht. Wo lagen und liegen ihre größten Schwierigkeiten? Ich nenne nur zwei Beispiele: die Übertragung von »Knecht« im Kontext der Herr-Knecht-Dialektik (in Hegels Phänomenologie des Geistes) und die von »Sittlichkeit« im Kontext der Hegelschen Konzeption der modernen Gesellschaft. Wenn ich es richtig einschätze, kritisiert Hegel die Kantische Moralphilosophie, weil sie abgehoben und elitär wirkt, und damit wegen ihrer Abstraktion, ihrer Lebensferne. Er tut es im Namen der alltäglichen Moral, in der sich die Bürger eines Staates bzw. Mitglieder einer Gesellschaft ständig bewegen (bzw. mit ihr konfrontiert werden). Sie ist das Reich unserer täglichen Pflichten und Verpflichtungen, verbunden mit verschiedenen Rollen und Funktionen, die wir in der Gesellschaft spielen bzw. ausüben. Eben deswegen verwendet Hegel das Wort »Sitte« und erweitert es zum Begriff der »Sittlichkeit«: Agieren nach den sittlichen Regeln, die in einer Gesellschaft als etablierte Tradition, als Lebenserfahrung und Lebensmeisterung dieser historisch gebildeten Gemeinschaft gelten. Handeln unter dem kategorischen Imperativ, was immer eine Überlegung, und zwar meistens eine gar nicht einfache, impliziert, wäre in dieser Perspektive eine Verkürzung der Moral: ein Plädoyer fürs Handeln nach einer höheren Moral, die man eher mit der ethischen – u. d. h. auf philosophische Ethik bezogenen – Reflexion verbinden sollte. Daher ist es irreführend, wenn der Übersetzer der Hegelschen Rechtsphilosophie »Sittlichkeit« mit »etyczność«, d. h. wörtlich als »Ethizität«, überträgt. Durch die Platzierung im Werk selbst, nach dem Teil über die Moral, verstärkt das eine Deutung, nach der die Sittlichkeit bei Hegel den Kantischen kategorischen Imperativ überholt und obsolet macht, was meines Erachtens nicht der Fall ist. Die Verbindung der Sittlichkeit mit der Sitte (zu Polnisch »obyczaj«) geht jedenfalls in dieser Übersetzung verloren. Ein anderes Problem bereitet die Übersetzung der Herr-Knecht-Dialektik aus der Phänomenologie des Geistes. Das Wort »Knecht« bezieht sich meines Wissens auf das Verhältnis des Ritters zu seinem Diener. Die polnischen Übersetzer haben für »Knecht« das Wort »niewolnik« gewählt. Und »niewolnik« bedeutet einen »Un-freien«, einen Sklaven, was nicht den Intentionen Hegels entspricht. Deshalb protestierte der unlängst verstorbene Marek Siemek, einer der besten Kenner der klassischen deutschen Philosophie in Polen, gegen diese Übersetzung, indem er betonte, dass »Knecht« vielmehr mit »sługa«, der Dienende, übersetzt werden sollte.7 Aber auch dieser Vorschlag ist fraglich, denn er hat mit 6 Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1990), Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1958) und Phänomenologie des Geistes (2002) wurden von Swiatoslaw Florian Nowicki übersetzt; die Übersetzung der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1969) verdanken wir Adam Landman, der ebenfalls die Wissenschaft der Logik (1967) und die Phänomenologie des Geistes (die erste Übersetzung, 1963) übertragen hat. Alle diese Übersetzungen sind in Warschau erschienen. 7 Die italienische Übersetzung geht in die gleiche Richtung, indem sie Knecht mit »servo« und »Knechtschaft« als »servitù« überträgt. (Vgl. «Fenomenologia dello spirito”, übersetzt von E. De Negri, 2 Bände, Firenze 1960.)

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dem Kampf um Leben und Tod und mit der Bereitschaft zu sterben, die den Herrn auszeichnet, wenig zu tun. Also ein wirkliches Übersetzungsproblem.

So viel zu Hegel. Gehen wir zu Nietzsche über. In Polen ist Übersetzungskritik im Bereich der Philosophie eine Seltenheit, weshalb eine einmal gedruckte Übersetzung quasi als kanonisch gilt. Siemeks Kritik hat nicht viel gebracht; wir haben auch nicht, wie die Japaner, mehrere Übersetzungen von Sein und Zeit Heideggers. Dazu kommt, dass Übersetzungen üblicherweise erst viele Jahre nach der Publikation des Originals entstehen. Ganz anders war das nur in einem Fall – im Fall von Nietzsche. Mit seiner Philosophie geschah in Polen etwas Einmaliges und Merkwürdiges. Die Begeisterung für Nietzsche erfasste nicht nur Philosophen, sondern auch Künstler, Wissenschaftler und andere Intellektuelle. Die Schriftsteller des sog. »Jungen Polen«, die an der Schwelle zum 20. Jahrhundert die geistige Elite Polens bildeten, waren von Nietzsche einfach fasziniert. Sie fingen sofort an, seine Schriften ins Polnische zu übertragen. So sind zwischen 1905 und 1912, also noch unter der russischen Besatzung von Warschau, viele Bände von Nietzsche erschienen, und zwar in der Übersetzung ausgezeichneter Literaten: von Dichtern und Prosaikern, die auβer ihrer Sprachkunst im Polnischen auch gute Kenntnisse der deutschen Sprache und der Philosophie vorweisen konnten. Leopold Staff, einer der besten Poeten der polnischen Literatur, war einer von ihnen. Und so wurde das Gesamtwerk Nietzsches in nur sieben Jahren ins Polnische übertragen – etwas Einzigartiges, denke ich, in der Weltgeschichte der Philosophieübersetzungen.8 Durch die Beteiligung der Dichter sind einfühlsame und sprachlich schöne Übersetzungen entstanden, die den Einfluss Nietzsches verstärkten und beschleunigten. Nietzsches Schreibstil, seine gesuchte Poetizität, hat hier ohne Zweifel eine große Rolle gespielt, im deutlichen Unterschied zu der rein begrifflichen, rauhen Schreibweise Hegels. Nach dem Zweiten Weltkrieg, infolge der politischen Situation, wurde Nietzsche als Protofaschist abgestempelt, quasi als Vorläufer von Adolf Hitler. Man durfte keine neuen Auflagen seiner Werke mehr drucken, die alten verschwanden fast ganz im Chaos des Kriegs. Erst in den 80iger Jahren erhielt eine jugendliche Organisation, die sozialistisch gesinnt war, die Erlaubnis, diese alten Übersetzungen als sog. Reprints zu drucken, und zwar in einer sehr begrenzten Zahl von Exemplaren, damit die Verbreitung dieser Ideen kontrollierbar bliebe. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es war, an eines dieser vielleicht 150 Exemplare zu kommen. Das änderte sich nach dem Sieg der Solidarność-Bewegung. Viele Verlage brachten neue Auflagen der alten Ausgabe auf den Markt. Bald wurde aber klar, dass sich die polnische Sprache inzwischen so verändert hatte, dass die schönen Formulierungen von Anfang des 20. Jahrhunderts unverständlich bzw. missverständlich wurden. Deshalb entstanden und entstehen jetzt langsam neue, moderne, kommentierte Übersetzungen der Beeinflusst wurde es sicherlich durch das Buch von Stanislaw Przybyszewski: Zur Psychologie des Individuums. Chopin und Nietzsche, Berlin 1892, eines Guru der Berliner und Krakauer Boheme. 8

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Werke Nietzsches, der zur Zeit weder als Antisemit und Protofaschist noch als polnischer Sarmate – wie in einer von ihm selbst kreierten Legende – angesehen wird. Er wurde jetzt eher zu einem Schirmherrn der Künstler einerseits und der Postmodernisten andrerseits. Manche versuchen ihn auch zum ersten Vertreter der hermeneutischen Philosophie zu stilisieren, wogegen ich heftig protestierte. Der Grund für dieses Interesse ist einfach zu verstehen: der Kult des Individualismus bei Nietzsche, seine Verspottung der Demokratie, seine Moral- und Religionskritik. Neue Übersetzungen der Schriften Nietzsches – dies muss betont werden – sind weniger aufgrund von Problemen mit der Übertragung seinen Hauptkategorien oder Ideen entstanden, als vielmehr aufgrund von Problemen mit einem Sprachstil, der inzwischen obsolet geworden ist und nicht der Kraft der Formulierungen Nietzsches entspricht, die nach wie vor auf Deutsch frisch und gut verständlich zu sein scheinen. »Übermensch« (»Nadczłowiek«) oder »Wille zur Macht« (»Wola Mocy«) sind ins Polnische ohne Bedeutungsverlust übertragbar. Als ich aber kurz vor diesem Kongress einige meiner Fachkollegen fragte, welche Probleme sie in den alten Übersetzungen sehen, da hörte ich zu meiner Überraschung, dass viele von ihnen nach wie vor mit ihren Studenten lieber die alten als die neuen Versionen lesen.9 Wichtig ist auch zu bemerken, dass die Präsenz Nietzsches in der Gegenwartphilosophie meines Landes mehr mit der französischen als mit der deutschen Philosophie verbunden ist. Ich meine in erster Linie den Einfluss von Foucault, Derrida, Deleuze, Ricoeur, usw… Diese – sagen wir: »französische« – Linie der Nietzsche-Rezeption dominiert z. B. im postmodernen Lodz. Und zum Schluss Heidegger. Ich habe vor kurzem eine gute Doktorarbeit begutachtet, und zwar über die Musikphilosophie Gadamers und den Einfluss seiner Hermeneutik auf die gegenwärtige Musikologie. In der Dissertation wird viel Kritik an den polnischen Übersetzungen sowohl von Wahrheit und Methode als auch von Sein und Zeit geübt. Ähnliche Kritiken bezüglich des Hauptwerks Heideggers haben meine Schüler J. Duraj und M. Bonecki vor Jahren sogar veröffentlicht, was, wie ich schon sagte, selten ist. Ohne jegliche Wirkung. Alte Ausgaben werden nachgedruckt, ohne Veränderungen, die für eine richtige Auslegung des Werks nötig wären. Auch Heidegger galt im Nachkriegspolen als NS-Philosoph und war daher völlig kompromittiert. Es wundert also nicht, dass die ersten Diskussionen seiner Philosophie in den Kreisen der katholischen Kontra-Elite – konkret in Krakau, in der Zeitschrift ZNAK (zu dt. Zeichen) – stattfanden. Populär – vor allem unter den Philosophiestudenten und Hochschulassistenten – wurde Heidegger erst in den 70iger Jahren nach der Veröffentlichung einer Auswahl seiner Spätschriften, die durch die Aktivität des unlängst verstorbenen Rektors des IWM Wien, Krzysztof Michalski, zustande kam. Michalski veröffentlichte zur jener Zeit auch sein bestes Buch, Heidegger und die Gegenwartsphilosophie10, 9 Als jedoch der Nestor der polnischen Historiker der deutschen Philosophie, Zbigniew Kuderowicz, seine Monographie über Nietzsche mit Fragmenten aus dessen Schriften versehen wollte, ließ er alle Ausschnitte – auβer denen aus Tako rzecze Zaratustra (Also sprach Zarathustra) – neu übersetzen. Denn er sah, dass die alte Übersetzungen Nachdichtungen sind, die den Zugang zum originellen Gedanken Nietzsches eher versperren als öffnen. 10 Krzysztof Michalski: Heidegger i filozofia współczesna, Warszawa 1978.

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eine Analyse von Sein und Zeit. Heideggers Hauptwerk zu übersetzen wagte er nicht. Dies geschah fast zwanzig Jahre später, im Jahre 1995. Der Übersetzer ist Bogdan Baran, ein junger Krakauer Philosoph aus dem Kreis von Josef Tischner, dem Schüler Roman Ingardens. Die Übersetzung11 löste große Kontroversen aus, denn die Entscheidungen des Übersetzers sind oft sehr fraglich. Beginnen wir mit dem Titel. Das Wort »Sein« hat im philosophischen Polnisch eine längst etablierte Bedeutung: »byt«. So hat man diesen Begriff im Fall von Hegel, Kant, Fichte, Leibniz oder Schopenhauer übertragen. Im Fall von Heidegger, der ja der ganzen abendländischen Philosophie Seinsvergessenheit vorwirft, ging das aber kaum. Im Polnischen ist dies sogar evidenter als im Deutschen. Denn »byt« (das Sein) hat hier zwei Grundbedeutungen. Etwas »ma byt«, d. h. »hat ein Sein«, also »ist«. In dieser Bedeutung darf man »byt« nur im Singular anwenden. In der zweiten Bedeutung ist »byt« ein Wesen, ein Seiendes. In diesem Fall darf man über »byty«, also im Plural, reden. Und eben diese Verwechslung hat Heidegger scharf kritisiert. Dieser Umstand führte Bogdan Baran dazu, für »Sein« eine merkwürdige Entsprechung zu finden, nämlich »bycie«, ein Wort, das philosophisch nie benutzt wurde. Es drückt zwar sehr gut die prozesshafte, zeitbezogene Dimension aus, die Heidegger mit diesem Wort assoziierte, brach aber die Assoziationen zum gleichen Begriff in den Werken der philosophischen Klassiker ab, auf die sich Heidegger in seiner Kritik bezieht. Bei der Analyse seiner Kantkritik, etwa in dem Buch Kant und das Problem der Metaphysik, muss man daher immer berücksichtigen, dass Kants »byt« bei Heidegger »bycie« heißt. Noch problematischer erwies sich die Barans Übersetzung von »Dasein«. Auch Michalski hatte Probleme mit diesem Wort. In seinem bereits erwähnten Buch schlug er das Wort »przytomnosc« vor, und zwar nicht im gegenwärtigen Sprachgebrauch (wo es so viel wie »Bewusst-sein« bedeutet: man verliert Bewusstsein, wenn man in Ohnmacht fällt), sondern im mittelalterlichen Polnisch, wo dies eine Art Wach-Sein der Wirklichkeit gegenüber, offen sein für Erscheinendes bzw. sich in der Wirklichkeit orientieren, bedeutete. Darin darf man eine kluge Entscheidung sehen, auch deshalb, weil es einfach war, ein Seiendes, das »da-ist«, zu benennen, nämlich als »byt przytomny« (= ein der Welt erschlossenes Wesen). Es entschlüsselt quasi das Heidegger’sche Verständnis dieses Wortes: das Geworfensein des Menschen in eine Welt, ein solches aber, das immer SeinsEntwürfe beinhaltet und damit eine Offenheit für Auslegungen. Baran hat aber diesen Vorschlag nicht aufgenommen. Stattdessen schlug er vor, Dasein als »jestestwo« (von »jest«, zu Deutsch: ist, also ungefähr »Ist-heit«) zu übersetzen. Keiner der führenden Heidegger-Forscher in Polen hat diesen Vorschlag akzeptiert. Trotzdem wurde diese Übersetzung kanonisch, eben wegen der mangelnden oder schwachen Übersetzungskritik. So bleiben meine Kollegen (und oft ich selbst) in ihren Heidegger betreffenden Texten oft bei der Anwendung des deutschen Originalworts, was die Texte unnötig verkompliziert und vielen Lesern, die mit Heidegger nicht vertraut sind, verschließt. Barans Übersetzung lässt die Situiertheit des menschlichen Wesens, seine Wachheit der Wirklichkeit gegenüber, seine Zeitlichkeit und »Zeitigung«, unberücksichtigt. Sie be11

Martin Heidegger: Bycie i czas, übersetzt v. B. Baran, Warszawa 1995.

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tont lediglich, dass Dasein ein seiendes Wesen ist. Das »Da« dieser Seinsweise bleibt im Dunkel. Es verwundert also nicht, dass inzwischen Bücher erschienen sind, die nur die richtige Auslegung des Heideggerschen Daseins thematisieren.12 Etwas, was für jeden, der den Text im Original lesen kann, evident und daher unnötig ist. In Bezug auf andere Schwierigkeiten erwies sich das Polnische als ziemlich elastisch. Es ließ sich ohne Künstlichkeiten z. B. der Unterschied zwischen der »Vorhandenheit« (obecność) und der »Zuhandenheit« (poręczność) zum Ausdruck bringen, ebenso wie der zwischen Besorgen, Fürsorge und Sorge oder zwischen Angst und Furcht, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Auch die Vorstruktur des Verstehens samt ihrer Teile (Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff ) war kein Problem, denn die polnische Sprache operiert oft und gerne mit Prä- und Suffixen. Ein gewisses Problem – und zwar für Übersetzung in jede Fremdsprache – bereitet das Heideggersche »Man«. Aber auch hier wurde im Polnischen eine glückliche Lösung gefunden, indem – wie bei Heidegger – ein Wort substantiviert wurde, mit dessen Hilfe passive, subjektlose Konstruktionen gebildet werden. »Man macht, man liest, man denkt« wurde mit »Się robi, się czyta, się myśli« ganz trefflich übersetzt. Ähnliches gilt für »Zeitigung« (czasowanie), »Weltlichkeit« (światowość), »Geworfenheit« (rzucenie), »Jemeinigkeit« (każdorazowa mojość), »Lichtung« (prześwit) oder »Erschlossenheit« (otwartość). Gewisse Probleme bereitete die »Eigentlichkeit«, die durch die Michalski-Gruppe als »autentycznośc«, d. h. Authentizität (ähnlich wie in manchen amerikanischen Übersetzungen) übertragen wurde. Baran hat es korrigiert, indem er es als »właściwość« übertrug. Ohne Schwierigkeiten konnte man im Polnischen den Unterschied zwischen der Interpretation (interpretacja) und der Auslegung (wykładnia, »wy-kładnia«, die das »Aus-legen« fast wörtlich abbildet) wiedergeben. Inzwischen wurde eine ganze Reihe der Werke Heideggers ins Polnische übersetzt. Warschau trat hier in einen Wettbewerb mit Krakau. Nichtsdestoweniger stelle ich manchmal fest, dass diejenigen polnischen Philosophen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, sehr oft die Begriffe Heideggers oder auch ganze Passagen seiner Schriften falsch verstehen. Ein Einblick in die Bedeutung seines Vokabulars im normalen Sprachgebrauch – von dem Heidegger ja ausgeht – hilft sehr oft, um sich klar darüber zu werden, was Heidegger zu meinen scheint, welche Intentionen er mit einem gegebenen Wort verbindet. Diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, verfallen oft sehr einseitiger Lektüre. Deshalb bleibt – und dies ist die vielleicht zu erratende Konklusion meiner Ausführungen – jede Übersetzung immer nur die erste Hilfe im Verstehen eines philosophischen Meisterwerks. Denn trotz der universalistischen Ansprüche der »Literatursorte«, die Philosophie – laut Rorty oder Derrida – ist, bleibt das Denken auch der großen Philosophen in ihrer Muttersprache verankert. Und diese Sprache ist, phänomenologisch gesehen, durch die Erfahrungen einer Sprachgemeinschaft, ihre Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, bedingt. Daher ist sie einmalig. Es bestehen aber wenigstens zwei Brücken, die uns helfen, diese Werke zu dechiffrieren: erstens die interkulturelle Kommunikation, die in der abendländischen Welt seit dem Römischen Imperium praktiziert wird, und Als Beispiel kann man folgendes Buch nennen: Wawrzyniec Rymkiewicz: Ktoś i nikt. Wprowadzenie do lektury Heideggera, Wrocław 2002. 12

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Kolloquium 4 · Andrzej Przylebski

zweitens die Ähnlichkeiten der Wirklichkeiten, mit denen wir zu tun haben: der Natur in uns und außer uns. In einer philosophischen Schlussbemerkung, die auch meine eigene Übersetzungserfahrungen berücksichtigt – ich habe sechs philosophische Bücher und ca. hundert Artikel aus dem Deutschen und aus dem Englischen ins Polnische übertragen – möchte ich folgendes betonen: 1) Die Übersetzung eines philosophischen Werks muss sich geschickt zwischen der Scylla begrifflich-logischer Treue (mit Isomorphie als Idealziel) und der Charybdis guter Lesbarkeit des Textes bewegen. Bei einer Verletzung der fragilen Grenze, die von den beiden Kriterien markiert wird, droht einerseits eine Entfernung der Übersetzung von der begrifflichen und argumentativen Strenge des Originals (zugunsten einer Art »Nachdichtung«, wenn man den Text »fließen lässt«) und andererseits eine kaum lesbare »hölzerne« Darstellung der Gedanken, die sich wie eine völlig abstrakte, erfahrungsferne Begriffsmathematik liest. 2) Das Gelingen einer Übersetzung ist hauptsachlich von zwei Faktoren abhängig: (a) von den sprachlichen Möglichkeiten (im Sinne des Vorhandenseins eines ausgearbeiteten philosophischen Vokabulars) der Zielsprache. Und diese hängen ab von der kulturellen Entwicklung einer gegebenen Sprachgemeinschaft; und (b) von den philosophischen und rein sprachlichen Schwierigkeiten des Ausgangstextes. Dieser kann sprachlich klar verfasst und zugleich philosophisch schwierig sein: zu spekulativ (wie im Fall von Hegel) oder zu knapp formuliert (wie oft im Fall von Wittgenstein), was den Übersetzer zu riskanten, gewagten und nicht immer glücklichen Entscheidungen zwingt. 3) Übersetzungen der deutschen Philosophie bereichern – wegen ihres phänomenologischen und denkerischen Reichtums – eigentlich jede Sprache und damit – jede Kultur. Sie stehen dem Original dort am nächsten, wo die kulturelle Entfernung am geringsten ist, was oft zu sprachlichen Ähnlichkeiten führte, die – merkwürdigerweise – auch zwischen Sprachen ganz unterschiedlicher Ethnien (z. B. zwischen den benachbarten Germanen und Slawen) vorkommen. 4) Wegen ihrer historisch und literarisch ausgearbeiteten Mittel verfügt die deutsche Sprache über unglaubliche philosophische Ausdrucksmöglichkeiten. Solche Suffixe wie »-heit«, »-keit« oder »-ung« (»das Werden, die Werdung, das Gewordensein, die Gewordenheit«, nur als abstrakte Beispiele genannt) oder die Möglichkeiten der Bildung von Substantiven aus Verben (denken => das Denken; sein => das Sein) sind bei der Artikulation der subtilen Unterschiede, die denkerisch wichtig zu sein scheinen, sehr hilfreich. Manchmal verführen sie einen Denker aber auch, indem er Wirklichkeiten benennt, die in der Erfahrung nicht gegeben sind und derer Feststellung zu Scheinproblemen führen kann. Auf solche Hypostasen haben uns aber sowohl die britischen (z. B. G. Ryle) wie auch die polnischen (z. B. T. Kotarbinski) Vertreter der analytischen Philosophie aufmerksam gemacht.

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Literatur Hegel, G.W.F.: Fenomenologia dello spirito, übersetzt von E. De Negri, 2 Bände, Firenze 1960. – »Hegels Brief an Boris v. Uexküll vom 28. Nov. 1821«, in: Briefe von und an Hegel, hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1954. – Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1968. Heidegger, Martin: Bycie i czas, übersetzt v. B. Baran, Warszawa 1995. Michalski, Krzysztof: Heidegger i filozofia współczesna, Warszawa 1978. Przybyszewski, Stanislaw: Zur Psychologie des Individuums. Chopin und Nietzsche, Berlin 1892. Rymkiewicz, Wawrzyniec: Ktoś i nikt. Wprowadzenie do lektury Heideggera, Wrocław 2002.

Die vierfache Wurzel des Gedankens von ›sein‹ in der chinesischen Sprache und Schrift Tze-wan Kwan (Hong Kong)

»China ist nicht ganz anders …« – Elmar Holenstein

I. Einleitung »Das Sein wird auf mannigfache Weise ausgesagt«.1 Dieser Spruch des Aristoteles scheint nicht allein für das Griechische oder gar für die indo-europäischen Sprachen zu gelten, sondern für Sprachen im Allgemeinen, und deshalb, wie ich in diesem Vortrag argumentieren werde, auch für das Chinesische. Angesichts der großen typologischen Unterschiede zwischen dem Chinesischen und den europäischen Sprachen sind viele Gelehrte der Meinung, dass das europäische Zeitwort »sein« kein Gegenstück im Altchinesischen findet, und auch die später entstandene Kopula im Neuchinesischen in keiner Weise vergleichbar sei mit dem entsprechenden europäischen Zeitwort im Hinblick auf Komplexität und Genauigkeit. Plausibel wie es sein mag, muss dieses Problem näher untersucht werden. Wenn man etwa denkt, ein chinesisches Gegenstück zum deutschen Zeitwort »sein« oder zum englischen »to be« mit all ihren Konjugations-Eigenschaften wie Person, Zahl, Tempus, Modus, usw. finden zu können, wird ein solcher Versuch wohl vergeblich bleiben. Aber die Aussichtlosigkeit, ein Gegenstück von »sein« im Altchinesischen zu finden, soll uns nicht daran hindern, zu behaupten, dass der Begriff von »sein« in gewissem Sinne für die Chinesen doch irgendwie denkbar ist. Ich bin der Auffassung, dass der Gedanke, ja das Phänomen von »Sein«, wie der von »Zeit« oder »Raum«, zu einer Gruppe von Universalien gehört, die den Menschen gemeinsam sind und mit denen sie sich in gewisser Weise und in unterschiedlichem Ausmaß schon immer haben befassen müssen. In diesem Zusammenhang habe ich mit Absicht das Wort »Gedanke« statt des Wortes »Begriff« benutzt, um klar zu machen, dass das, was ich hier »sein« nenne, nicht verstanden und festgelegt wird durch den Sprachhorizont von irgendeiner Sprache im Besonderen, obwohl ein erster Zugang zu diesem Problem durch linguistische Mittel methodologisch unvermeidbar zu sein scheint. Für eine besondere Sprache wie das Chinesische kann es nicht darum gehen, das Wort »sein« im westlichen Sinne zu reproduzieren, sondern zu zeigen, wie die Chinesen den Gedanken »sein« in ihrer eigenen Art und Weise und durch ihre eigenen Mittel zu Wort kommen lassen.

1

Aristoteles, Met. XIII, 2. 1077b17.

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Kolloquium 4 · Tze-wan Kwan

II. Heidegger zu »Grammatik und Etymologie des Wortes ›sein‹« Bevor wir unsere Hauptaufgabe in Angriff nehmen, müssen wir kurz darauf hinweisen, dass die Bedeutung von »sein« unter den westlichen Philosophen und Linguisten selbst auch nicht allzu einfach und überschaubar ist. Während man oft meint, dass »sein« grundsätzlich nur der grammatischen Funktion der Kopula dient, hält Heidegger dieses Verständnis für eine Vereinfachung des Problems. Heidegger nimmt an, dass »sein« als Kopula nur anscheinend bedeutungsleer sei. Er experimentiert wiederholt mit Sätzen, um zu zeigen, dass das Wort »sein« als Kopula mannigfaltig gelesen und gedeutet werden kann, und daraus verschiedene Bedeutungen gewonnen werden können. Um das Experiment von Heidegger kurz nachzuvollziehen, wollen wir uns mit folgenden Beispielen behelfen:2 i. ii. iii. iv. v. vi. vii. viii. ix. x. xi. xii. xiii. xiv.

»dieser Mann ist aus dem Schwäbischen«. »das Buch ist dir«. »der Feind ist im Rückzug«. »Rot ist backbord«. »der Gott ist«. »in China ist eine Überschwemmung«. »der Becher ist aus Silber«. »die Erde ist«. »der Bauer ist (mundartlich gesprochen) aufs Feld«. »auf den Ackern ist der Kartoffelkäfer«. »der Vortrag ist im Hörsaal 5«. »der Hund ist im Garten«. »dieser Mensch ist des Teufels«. »Über allen Gipfeln / Ist Ruh«.

Wenn man die Sätze auf dieser Liste versteht, nimmt man vielleicht in erster Linie zur Kenntnis, dass das Zeitwort »sein« eintönig wiederholt wird. Heidegger denkt aber anders. Er meint, dass man das Wort »sein« in diesen Sätzen jeweils immer durch eine andere Redewendung ersetzen kann, so dass die jeweils verschiedenen Bedeutungen des Wortes »sein« sich zeigen lassen: i. ii. iii. iv. v. vi. vii.

Der Mann ist aus dem Schwäbischen – er stammt daher; Das Buch ist dir – gehört dir; Der Feind ist im Rückzug – er hat den Rückzug angetreten; Rot ist backbord – die Farbe bedeutet; Der Gott ist – wir erfahren ihn als wirklich gegenwärtig; In China ist eine Überschwemmung – dort herrscht; Der Becher ist aus Silber – er besteht aus;

Diese Liste habe ich aus den folgenden drei Büchern Heideggers zusammengestellt: 1) Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe, Band 40, Frankfurt/M. 1983, S. 95 f.; 2) Grundbegriffe, Gesamtausgabe, Band 51, Frankfurt/M. 1991, S. 28–32; 3) Nietzsche II, Gesamtausgabe, Band 6.2, Frankfurt/M. 1997, S. 246 f. 2

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viii. ix. x. xi. xii. xiii. xiv.

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Die Erde ist – ständig vorhanden; Der Bauer ist aufs Feld – hat seinen Aufenthalt dorthin verlegt; Auf den Ackern ist der Kartoffelkäfer – hat sich dort ausgebreitet; Der Vortrag ist in Hörsaal 5 – findet statt; Der Hund ist im Garten – treibt sich herum; Dieser Mensch ist des Teufels – benimmt sich wie vom Teufel besessen; Über allen Gipfeln / Ist Ruh… – »befindet sich« Ruh? »findet statt«? »hält sich auf«? »herrscht«? oder »liegt«? – oder »waltet«?

Indem Heidegger diese Sätze umschreibt, ist es ihm gelungen, zu zeigen, dass es hinter dem anscheinend trockenen und langweiligen Wort »sein« eine wundersame Bedeutungsvielfalt gibt. Dies erklärt, warum Heidegger so gern über »das Sein als die Leere und der Reichtum« spricht.3 In seinem Buch Einführung in die Metaphysik, und zwar im Kapitel »Zur Grammatik und Etymologie des Wortes ›sein‹«, legt Heidegger nahe, dass die Grundform (der Infinitiv, modus infinitivus) eines Verbs an sich linguistisch-historisch gesehen gar nicht die prototypische Form ist, wie gemeinhin verstanden wird. Die historische Sprachwissenschaft zeigt gerade das Gegenteil, nämlich, dass der Infinitiv eines Verbs, im Vergleich zu den sogenannten »gebeugten« oder konjugierten Formen, die späteste Phase in der Entwicklung repräsentiert. Da der Infinitiv nur eine abstrakte Verallgemeinerung der verschiedenen gebeugten Verbformen darstellt, und Infinitiv buchstäblich ohne »Begrenzung« oder »Bestimmtheit« (Bestimmungen wie etwa Person, Zahl, Modus, usw.) heißt, stellt sich die gesamte Bedeutung des Infinitivs unvermeidlich als eine sehr magere und mangelhafte dar. Aus diesem Grunde sagt und behauptet Heidegger, dass jeder Versuch, aus dem Infinitiv die ursprüngliche und volle Bedeutung des griechischen Zeitworts einai abzuleiten, unvermeidlich scheitern wird. An dieser Stelle schlägt Heidegger seinen Weg in die Etymologie des Wortes »sein« ein, und versucht dabei festzustellen, dass inmitten aller möglichen Konjugationsformen des Zeitworts »sein« verschiedener indogermanischen Sprachen drei Wurzeln hervorzuheben sind, die nicht nur in der griechischen, sondern auch in fast allen anderen indogermanischen Sprachen vorkommen. Diese drei Wurzeln und ihre Grundbedeutungen sind: 1) es- [das Leben, das Lebende, das was von ihm selbst her in sich steht und geht und ruht …] 2) bhu- [aufgehen, walten, von ihm selbst her zu Stande kommen und im Stande bleiben …] 3) wes- [wohnen, verweilen, sich aufhalten …]4 Wozu diese Aufzählung der drei Grundbedeutungen von »sein«? Ist das Problem des »Seins«, wie es in Heideggers anderen Werken dargelegt wird, nicht schon rätselhaft genug? Doch ich war schon immer der Meinung, dass dieses Kapitel über »Grammatik und 3 4

Heidegger, Nietzsche II, S. 246 ff; Grundbegriffe, S. 28. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 75–77.

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Etymologie« gerade wegen seines linguistischen ›touch‹ einen für uns viel plausibleren und nachvollziehbareren Ansatz bietet, um Heideggers ansonsten abstruser Frage nach dem Sinn von Sein nachzugehen. Bezüglich der drei Grundbedeutungen von »sein« lässt sich Folgendes sagen: Aufgrund der Art und Weise, wie sie willkürlich ertastet werden, kann man kaum behaupten, dass sie zur Erhellung des Sinns von »sein« exklusiv und vollständig sind, wie Heidegger selbst auch zugegeben hat. Aber die drei Grundbedeutungen von »Sein« legen doch gemeinsam nahe, wie im menschlichen Bewusstsein das Universum, das Lebensphänomen und alle weltlichen Begebenheiten um uns herum sich entfalten. Kurzum, die drei Grundbedeutungen des Wortes »sein«, so meine ich, decken sich ganz grob betrachtet mit dem, was der späte Heidegger mit »Sein als Ereignis« beschrieben hat. In diesem Sinne wird leicht verständlich, warum für Heidegger das Wort »sein« nicht nur eine Kopula ist. An dieser Stelle kann man aber hinzufügen, dass das Wort »sein«, auch wenn nur als Kopula verwendet, nicht nur die logische Funktion der Verknüpfung des Subjekts mit dem Prädikat erfüllt, sondern auch die Rolle eines universellen Platzhalters (Wildcard) spielen kann, die alle möglichen Aspekte der phänomenalen Existenz andeutet und zu Bewusstsein bringt. Ganz ähnlich wie der frühe Heidegger, der »ursprüngliche Zeit« als »unthematische Hinblicknahme«5 definierte, so kann man »sein« als Kopula auch für unthematisch aber universell einsetzbar halten.

III. Benvenistes Versuch über den Nominalsatz und seine These über die Ableitung des Verbs »haben« von »sein« Unabhängig von Heidegger aber weitgehend im Einklang mit ihm bietet der französische Sprachwissenschaftler Émile Benveniste uns in seinem bahnbrechenden Werk Problèmes de Linguistique Générale eine Reihe von wichtigen Hinweisen zum Thema. Auch Benveniste legt nahe, dass »sein« viel mehr ist als eine Kopula. Benveniste erinnert uns daran, dass man, wenn von »sein« die Rede ist, leicht zwei verwandte aber unterschiedliche Begriffe verwechselt, »sein« als »Kopula« oder als »Verb mit all seinen Funktionen«.6 Während »sein« als Kopula grundsätzlich nur ein »grammatisches Merkmal der Identität« ist, gilt »sein« für Benveniste in der Tat auch als ein »lexikalische[r] Begriff, dessen verbaler Ausdruck ebenso authentisch, ebenso alt ist wie jeder beliebige andere und der alle Funktionen ausüben kann, ohne jemals die Funktion der ›Kopula‹ zu beeinträchtigen.«7 »Sein« als Kopula, so meinte Benveniste, hat ohne Zweifel eine wichtige Rolle zu spielen in den Verbalsätzen, nämlich Sätzen, die ein Verb in der Prädikatposition enthalten. Jedoch weist Benveniste darauf hin, dass in vielen Sprachen die sogenannten Nominal5 Heidegger, Logik: Die Frage nach der Wahrheit, Gesamtausgabe, Band 21, Frankfurt/M. 1976, S. 277 f., 286 f., 340 f. 6 Émile Benveniste: »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: ders. (Hg.): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. von Wilhelm Bolle, München 1974, S. 210. 7 Ebd., S. 211.

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sätze sehr verbreitet sind, nämlich, Sätze ohne ein Verb. Die typische Struktur des Nominalsatzes lässt sich zeigen, wenn zwei Nomen hintereinander stehen, oder wenn eine Adjektivphrase einer Nominalphrase folgt, jeweils bloß durch eine Pause oder andere vergleichbare Synkategoremata getrennt. Benveniste hält es für möglich, dass im Nominalsatz, wie im Verbalsatz, die grammatische Identität von Subjekt und Prädikat behauptet wird und deshalb über die Sachlage ein Urteil getroffen wird, ohne den Einsatz eines Verbs. Benveniste weist auch darauf hin, dass der Nominalsatz in einer ganzen Menge von Sprachen sehr üblich ist, einschließlich vieler indo-europäischer Sprachen8, und auch in Semitisch, Finno-Ugrisch, Bantu, und weiteren Sprachen wie Sumerisch, Ägyptisch, Kaukasisch, Altaisch, Dravidisch, Indonesisch, Sibirisch (?), usw.9 Er meinte, der Nominalsatz sei so verbreitet, dass es leichter ist, jene Sprachen zu nennen, die ihn nicht haben. Das Faktum, dass die westlichen Sprachen der Moderne, die in den vergangenen Jahrhunderten immer einflussreicher geworden sind, ausgerechnet zu dieser »Minderheitsgruppe« gehören, erklärt, warum heutzutage die meisten Leute den Eindruck haben, dass Verbalsätze, besonders diejenigen, die mit dem Verb »sein« ausgestattet sind, unentbehrlich und von ausschlaggebender Bedeutung sind. Dies ist für Benveniste eine völlig unbegründete Illusion. Nachdem dargestellt wurde, dass »sein« als Kopula »nicht im Zeichen einer sprachlichen Unabänderlichkeit [geschah]«10, verschiebt sich Benvenistes Schwerpunkt, ganz wie bei Heidegger, von dem grammatischen Aspekt auf den lexikalischen. Als Antwort auf die Frage nach der lexikalischen Bedeutung von »sein« erklärt Benveniste mit der Autorität eines Sprachwissenschaftlers, dass im Indogermanischen dieses Lexem durch »*es-« dargestellt wird, das man möglichst vermeiden sollte, direkt als »sein« zu übersetzen, sondern eben lexikalisch definieren als »›existieren, in der Realität vorhanden sein‹…als das Authentische, Feste, Wahre…«11 Anders als Nietzsche und Heidegger, die beide den »esStamm« im Hinblick auf das Phänomen des Lebens deuteten12, konzentriert sich die Interpretation Benvenistes generell auf »Existenz« im allgemeinen. Aber Existenz schließt für ihn offenkundig das Lebensphänomen als zur Existenz gehörig nicht aus. Wir sehen also, dass Benvenistes historisch-linguistische Darstellung des Wortes »sein« im Großen und Ganzen mit der viel »spekulativeren« Fassung Heideggers, wie er sie im zweiten Kapitel von Einführung in die Metaphysik dargelegt hat, übereinstimmt. Dies ist natürlich schon interessant genug. Aber wenn wir schon hier mit unserer Lektüre von Benveniste aufhören, lassen wir die wichtigsten Dinge zur Klärung unserer Probleme außer Acht.

Ebd.: »Der Nominalsatz«. Im Griechischen, zum Beispiel, sind Nominalsätze und Verbalsätze nahezu gleich verbreitet und gleich verteilt. S. 181–183. 9 Ebd., S. 169. 10 Ebd., S. 212. 11 Ebd., S. 211. 12 Nietzsche legte nahe, dass ›esse‹ in Latein das Atmen andeutet. Vgl. Nietzsche: »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen«. In: KSG, Band 1, Berlin 1980, S. 847. 8

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Für mich als linguistischen Laien ist Benvenistes wichtigste Botschaft diejenige, dass »haben« in letzter Analyse eine Ableitung von »sein« ist. Um dies nachzuweisen versucht Benveniste zuerst zu zeigen, dass es zwischen »sein« und »haben« im Französischen viele Gemeinsamkeiten gibt: 1) Être und avoir besitzen beide den formalen Status temporaler Hilfsverben. 2) Weder être noch avoir können eine passive Form erhalten. 3) Être und avoir gelten beide als temporale Hilfsverben derselben Verben, je nachdem, ob Subjekt und Objekt dieselbe Person bezeichnen… 4) Ansonsten verteilen sich die Hilfsverben être und avoir auf komplementäre Art, d. h. alle Verben besitzen notwendigerweise das eine oder das andere…13 Darüber hinaus können die zwei Verben »sein« und »haben« nicht nur als temporale Hilfsverben, sondern auch als freie Verben benutzt werden, im Falle von »sein«, eben als Kopula und zum Ausdruck der Existenz, und im Falle von »haben« zum Ausdruck des Besitzes. Benveniste betont auch, dass »haben« historisch gesehen eine noch spätere Konstruktion ist als »sein«. Aber in welchem Sinne ist »haben« eine Ableitung von »sein«? Etymologisch nimmt Benveniste das französische Verb avoir als Beispiel und behauptet, dass die durch avoir ausgedrückte Beziehung des »Besitzes« umgekehrt formuliert werden kann als être à, was man ins Deutsche übersetzen kann als »jemandem sein«, also eine Ausdrucksweise, die Benveniste in vielen Sprachen für möglich hält.14 Avoir oder »Haben«, so verstanden, stellt sich heraus als buchstäblich definierbar in Bezug auf »sein«. Lexikalisch sind »sein« und »haben« auch insoweit einander ergänzend: »Sie zeigen zwar beide den Zustand an, aber nicht denselben Zustand. Sein ist der Zustand des Seienden, von dem, was etwas ist: haben ist der Zustand des Habenden, desjenigen, dem etwas gehört.«15 Für Benveniste ist »haben« der Standpunkt des Besitzers, während »jemandem sein« der des Seienden, das besessen wird im Hinblick auf den Besitz. Daher hält Benveniste »haben« (avoir) für ein umgekehrtes »jemandem sein« (être à).16 Wenn man von hier aus noch einen Schritt weiter geht, kann man sogar behaupten, dass »haben« in gewissem Sinne auch ein umgekehrtes »sein« ist, oder einfacher ausgedrückt, »sein« aus einem anderen Winkel betrachtet, nämlich aus dem des Besitzers. Während »sein« als freies Verb prädikativ ist und kein Objekt hat, hält man »haben« normalerweise für ein transitives Verb, das ein Objekt trägt. Hier verdanken wir Benveniste die weitere Einsicht, dass solch ein Verständnis von »haben« schon wieder ein Missverständnis ist. Für Benveniste ist »haben« nur grammatisch anscheinend transitiv, in Wirklichkeit aber nicht. Höchstens kann es als »pseudo-transitiv«17 bezeichnet werden, weil zwischen dem Subjekt und Objekt des Satzes mit »haben« kein transitives Verhältnis vorkommt, sondern eben nur ein »Zustand des Habens« für das Subjekt. Das sogenannte »Objekt« eines Satzes mit »haben« ist überhaupt kein Objekt der Transition, und deshalb ein »Pseudo-Objekt«. In prä13 Benveniste: »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: ders. (Hg.): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 218. 14 Ebd., S. 219. 15 Ebd., S. 223. 16 Ebd., S. 223. 17 Ebd., S. 219.

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gnanter Weise lässt sich das folgendermaßen erklären: Wenn ich etwas habe, habe ich an sich etwas, das »ist«, und dieses Etwas, abgesehen davon, dass es in meinem Besitz ist, hat doch seine eigene Existenz, die überhaupt kein Resultat ist von meinem Besitz. Noch einfacher ausgedrückt: Was ich habe oder besitze, hat in erster Linie sein eigenes Sein. Dies zeigt uns wieder, wie eng »sein« und »haben« miteinander verwandt sind, und warum »haben« als eine Ableitung von »sein« betrachtet werden kann, im Sinne von »ein[em] umgekehrte[n] ›jemandem sein‹«18. Diese ganze Analyse von »haben« als eine Ableitung von »sein« lässt sich in einem entscheidenden Punkt zusammenfassen: Das »Sein« eines Seienden kann in erster Linie rein von sich her betrachtet werden, aber auch aus der Sicht des Subjekts, das es »hat« oder »besitzt«. Das Wort »besitzt« muss hier nicht unbedingt im materiellen Sinne verstanden werden, sondern möglicherweise auch im »kognitiven« oder »kontemplativen« Sinne. Ich vermute, dass das, was Benveniste hier darlegt, vergleichbar ist mit der These des späten Heideggers, dass »Sein« als »Anwesen« oder als »Ereignis« stets durch das »Vernehmen« seitens des Menschen als des Daseins ergänzt werden soll.19

IV. Die vierfache Wurzel des Gedankens von »sein« im Chinesischen Mit der obigen vorbereitenden Diskussion können wir damit beginnen, uns der vierfachen Wurzel des Gedankens von »sein« im Chinesischen zuzuwenden. Der Begriff »vierfache Wurzel« ist natürlich eine Anspielung auf Schopenhauers Ausdruck. Was wir aber hier tatsächlich anstreben werden, ist in erster Linie das Nachdenken über einige chinesische Wörter, die zum Ausdruck des Gedankens von »sein« von den Chinesen verwendet wurden. Unbeschadet unserer These, dass der Gedanke von »sein« allen Menschen gemeinsam ist, halte ich es für methodologisch sinnvoll, dass wir unseren Versuch über den Ausdruck dieses Gedankens im Chinesischen so machen, dass wir danach fragen, welche Wörter die Chinesen benutzt haben, um den westlichen Begriff von »sein« zu übersetzen. Unter den vielen möglichen Übersetzungen sind shi 㗗, cun ⬀, za ⛐, und you 㚱 am maßgeblichsten.

IJįġ㗗 (shi)

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als Kopula und das Nullmorphem vor deren Einführung

Im heutigen Chinesisch wird das Zeichen shi (㗗) weithin als ein Gegenstück des Verbs Ebd., S. 223. Siehe dazu unter anderen: »Das Selbe nämlich ist Vernehmen (Denken) sowohl als auch Sein.« Heidegger: Identität und Differenz, Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt/M. 2006, S. 36. 20 Siehe 㗗-»Guojizibai Pan« 嘊⬋⫸䘥䚌 aus der späten West-Zhou Dynastie (CHANT 10173). Alle Schrifttoken, die in diesem Aufsatz benutzt werden, sind den folgenden zwei Quellen entnommen: 1) CHANT=CHinese ANcient Texts Database: https://www.chant.org/.; 2) Multi-Function Chinese Character Database: http://humanum.arts.cuhk.edu.hk/Lexis/lexi-mf/. 21 Siehe 㗗-楔䌳➮ⷃ㚠Ʉ⋩⓷ĮĵĹį 18

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»sein« im Sinne der Kopula verstanden und verwendet, obwohl die ursprüngliche Bedeutung dieses Zeichens eine andere war. Während die kombinatorische Bedeutung des Schriftzeichens shi etymologisch noch umstritten ist, steht es aber text-kritisch außer Frage, dass shi in Bronzeinschriften größtenteils als ein Demonstrativpronomen benutzt worden ist, etwa gleichwertig mit »dies« auf Deutsch.22 Aus diesem Grunde ist unter den chinesischen Gelehrten die Frage sehr umstritten: Wann hat das chinesische Zeichen shi (㗗) die heutige Bedeutung der Kopula oder von »sein« überhaupt erworben? Was die überlieferten Texte angeht, findet man in Mengzis (Das Buch von Mencius) Spruch »jun shi ren ye« (懆㗗Ṣḇ)23 wohl das älteste Beispiel dieses Gebrauchs, der aber im chinesischen Altertum gar nicht üblich war. Bis in die letzten Jahrzehnte galt die allgemeine Ansicht, dass die Popularisierung des Zeichens shi als Kopula möglicherweise erst Ende der östlichen Han-Dynastie stattfand wegen des Zustroms des Buddhismus und, zusammen damit, der westlichen Syntax nach China. Neuere Forschungen neigen dazu, den Prozess noch weiter zurück zu verlegen, nämlich zu den Orakelknocheninschriften, doch bleibt diese Annahme strittig. Während diese Debatten für die chinesische Etymologie sicher einen Sinn haben, scheint es mir, dass es auf einer mehr philosophischen Ebene gleichgültig wäre, wann genau die Chinesen angefangen haben, shi als Kopula zu verwenden. Was für uns von Belang ist, ist zu wissen, ob die Funktion der Kopula als des »grammatischen Merkmal[s] der Identität« im Sinne von Benveniste im archaischen Chinesisch verfügbar ist oder nicht. Oder soll man lieber noch direkter fragen: Wie lässt sich dieses »grammatische Merkmal der Identität« im archaischen Chinesisch ohne den Einsatz der Kopula ausdrücken? Ich denke, dass die Chinesen doch gleich von Anfang an irgendwie diese grammatische Funktion haben erfüllen müssen, wenn nicht mit einer Kopula, dann in ihrer eigenen Art und Weise. An diesem Punkt sieht man die Relevanz des Nominalsatzes, wie sie uns Benveniste vermittelt hat. Im Altchinesischen erfüllt der schlichte Satzbau »x 侭ġy ḇ«, der in den Werken der Klassiker so verbreitet ist, gerade diese grammatische Funktion der Identität (wo 侭ġund ḇ nichts anderes als Modalpartikel oder Abtönungspartikel sind). Zum Beispiel:24 1) ˬ⛶侭炻㯜ḇ˭(␐㖻Ʉ婒⌎) 2) ˬ㖻侭炻尉ḇɃɃ⻾侭炻㛸ḇ˭(␐㖻Ʉ专录ᶳ) 3) ˬ䘦慴⤂炻嘆Ṣḇ˭ (⬇⫸Ʉ叔䪈ᶲ) 4) ˬ⮬侭炽ṩᷳ忻ḇˤ˭ (䥖姀Ʉ⮬佑) Beziehungsweise kann diese grammatische Identität noch einfacher durch die Form »x, y ḇ«25 dargestellt werden. Im alten lexikalischen Werk Er Ja (䇦晭) sind hunderte von solchen Konstruktionen zu finden. Benveniste erwǥhnt oft den Gebrauch eines »NullIn Guangya˪⺋晭炽慳妨˫findet man die Definition: ˬ㗗炻㬌ḇˤ˭ ˪⬇⫸炽⏲⫸ᶲ˫烉ˬ℔悥⫸⓷㚘烉ˮ懆㗗Ṣḇ炻ㆾ䁢⣏Ṣ炻ㆾ䁢⮷Ṣ炻ỽḇ烎˯˭ 24 Der Einfachheit halber werden Quellen von Beispielen (Texte-Kapitel, Bronzeobjekte, Nummerierungen, usw.) im Klammern gesetzt. 25 Darüber hinaus sind viele Gelehrten der Meinung, dass im Altchinesischen weitere sprachlichen Mittel zu finden sind, die der gleichen Funktion dienen, wie zum Beispiel: »䵕/ⓗ/ょƬġ. ˬ晡炷ⓗ炸⋩⍰ Ḵ⸜㬋㚰⇅⎱ᶩṍ˭ġ(CHANT 10173); ˬ䵕⣑ᷳ␥˭(㮃娑Ʉ␐枴Ʉ㶭⺇ᷳṨ). 22 23

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morphems« (d. h. der »Pause«) in Russisch und Ungarisch, und behauptet, dass die Pause allein »die Verbindung zwischen den beiden Begriffen sicherstellt und deren Identität aussagt.«26 Dieser Mechanismus, die grammatische Identität durch die Pause auszudrücken, kann auch in vielen archaischen chinesischen Redewendungen belegt werden. Wenn Benveniste Beispiele von Sprachen aufzählt, die Nominalsätze benutzen, hat er gerade das Chinesische nicht erwähnt, was mich überrascht hat. In der Sache aber ist der Nominalsatz den Chinesen gar nicht fremd. Im Altchinesischen ist der Nominalsatz sogar ausgesprochen wichtig, obwohl dies im Neuchinesischen nicht mehr der Fall ist wegen der Einführung der Kopula. Wenn unsere These richtig ist, können wir behaupten, dass, mit oder ohne den grammatischen Marker von shi als Kopula, der Gedanke von grammatischer Identität den Benutzern der chinesischen Sprache schon immer zur Verfügung gestanden hat. 2. ⛐ (zai)

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als Ausdruck der Existenz

Unter den modernen Übersetzungen von »Sein« sind die Schriftzeichen cun ⬀ und zai ⛐ am häufigsten verwendet worden, und ihre Beziehung ist so eng, dass sie hintereinander behandelt werden müssen, als ob sie ein und dasselbe Problem beträfen. Es gibt zwei Gründe dafür: 1) In alten chinesischen Lexika werden cun und zai, die damals dieselbe oder ähnliche Aussprache gehabt haben müssen, als gegenseitig erklärend (Ḻ妻) betrachtet.29 2) Etymologisch enthalten die zwei Zeichen cun and zai dieselbe Schriftkomponente cai ㇵ, die wir gleich diskutieren werden. 3) Lexikalisch gesehen tragen cun and zai beide die Bedeutung von »Existenz« und zusammen damit eine Reihe von verwandten Konnotationen wie das Anwesen und Fortdauern, die Bewahrung des Lebens, das Überleben, usw. Der lexikalisch-semantische Inhalt von cun und zai erweist sich damit sowohl mit den drei Wurzelbedeutungen von Heidegger als auch mit der Deutung Benvenistes von »*es-« als größtenteils übereinstimmend. Im mittelalterlichen bis zum zeitgenössischen Chinesisch, wo Wörter aus zwei Zeichen statt aus einem bevorzugt werden, können cun und zai auch kombiniert werden als cunzaiġ ⬀⛐. Existentialismus, zum Beispiel, wird übersetzt als cunzai zuyi (⬀⛐ᷣ佑). Dieser kombinierte Gebrauch der beiden Zeichen zeigt uns wieder, dass cun und zai geradezu Synonyme sind, denn sie tragen beide die Konnotation der Existenz im Allgemeinen. Also gilt es nun zu fragen: Gibt es eine Begründung, warum diese beiden Zeichen so verwendet werden? In Beantwortung dieser Frage haben wir Glück, weil, im Gegensatz zu shi, die ursprüngliche Struktur und Bedeutung der beiden Zeichen cun und zai sich leicht zurückverfolgen lassen. Cun und zai enthalten, wie oben schon angedeutet wurde, ein Benveniste, »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: ders. (Hg.): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 212. 27 Siehe ⛐-»Dayu Ding« ⣏䙪溶ġaus der frühen West-Zhou Dynastie (CHANT 2837). 28 Siehe ⛐-»Zhong Fang Ding«ġᷕ㕡溶ġaus der frühen West-Zhou Dynastie (CHANT 2752). 29 ˪婒㔯˫ ˬ⬀ 「⓷ḇ Ṷ⫸ ㇵ倚 ˭㭝䌱塩㲐 ˬṶ⫸ ⛐䚩 ⛐ Ṏ⬀ḇ˭ 烉 烉 烊 炻 ˤ 炻 炻 炻 炻 ˪婒㔯˫烉ˬ⛐炻⬀ḇˤṶ⛇炻ㇵ倚ˤ˭(Anmerkung: Xu Shen verwechselte ⢓ġmit ⛇) ˬ⬀⬀厴厴炻⛐ḇˤ˭(䇦晭Ʉ慳妻). 26

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gemeinsames graphisches Element, nǥmlich die Komponente cai (ㇵ).30 In der Tat stellen neue etymologische Forschungen übereinstimmend fest, dass es genau diese gemeinsame Komponente cai ㇵ ist, die den Sinn der »Existenz« wirklich ausmacht.

2.1 ㇵ (cai)

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32

33,

zwei konkurrierende Deutungen

Im Neuchinesischen wird das geläufige Zeichen caiġㇵ entweder als »Talent« oder als eine Variante des Funktionswortes »soeben« (auch geschrieben als 丼) benutzt. Aber diese Verwendungen sind nur das Ergebnis von phonetischer Anleihe (oder Rebus), und nur selten wurde erkannt, dass caiġㇵġursprünglich das Zeichen für zaiġ⛐ġwar. In fast allen Bronzeinschriften und auf vielen Bambustafeln wurde, was heute als zai ⛐verstanden wird, immer caiġㇵgeschrieben. Im Folgenden wird eine Liste von Beispielen gezeigt: 1) ˬ⺼炷⍼炸㮷ㇵ炷⛐炸⣏⺇˭ (Ni zhong 微揀 CHANT 0060) 2) ˬ⃰䌳℞♜ㇵ炷⛐炸ⷅⶎ⎛˭ (Bi di zhong ખ䉬揀 CHANT 0049) 3) ˬ晡炷ⓗ炸䌳㬋㚰炻彘⛐ᶩṍ˭ (Zhu gong sun ban bo 恦℔⬓䎕捃 CHANT 00140) 4) ˬ䌳ㇵ炷⛐炸␐⹟⇴⭖˭ (Ke zhong ⃳揀 CHANT 00206) 5) ˬ䘯侫♜ㇵ炷⛐炸ᶲˣ䔘ㇵ炷⛐炸ᶳ˭(Zhong yi zhong ᷕ佑揀 CHANT 00241) 6) ˬ炷䚱炸⢥䃉䔮炻䔗䔸ㇵ炷⛐炸䩳炷ỵ炸˭(Qin gong bo 䦎℔捃 CHANT 00270) 7) ˬㇵ炷⛐炸ⷅ㇨炻ٍ炷⮫炸⍿⣑␥˭ (Shu shi bo ⍼⯠捃 CHANT 00285) 8) ˬ䧮枛ᷳㇵ炷⛐炸㤂䁢䧮揀炻℞ㇵ炷⛐炸␐䁢⇴枛˭(Zeng hou yi zhong 㚦ὗ ġ ḁ揀CHANT 00290) 9) ˬ℔忽䚩冒㜙炻ㇵ炷⛐炸㕘怹˭ (Chen qing ding 冋⌧溶 CHANT 02595) 10) ˬⓗㆸ䌳⣏୯炷䥙炸炻ㇵ炷⛐炸⬿␐˭ (Xian hou ding 䌣ὗ溶 CHANT 02627) 11) ˬṯṢㇵ炷⛐炸⼟炷㕩炸˭(Zhong shan wang ding ᷕⰙ䌳溶 CHANT 2840) 12) ˬ册炷岊炸Ṣᶵㇵ炷⛐炸㖫炷“炸˭ (悕⸿㤂䯉Ʉ婆⎊⚃ġ12) 13) ˬ㖼ㇵ炷⛐炸ᶲⷅ˭ (悕⸿㤂䯉Ʉ䵯堋ġ37) 14) ˬ⋹炷嬔炸忻ᷳㇵ炷⛐炸⣑ᶳḇ炻䋟炷䋞炸⮹炷⮷炸㴜炷察炸ᷳ冯㰇炷㴟炸 ġ ġ˭(悕⸿㤂䯉Ʉ侩⫸䓚20) Hier sehen wir deutlich, dass zai, wie cai geschrieben, hauptsächlich verwendet wurde, um räumlich-zeitliche Begebenheiten von Personen und Dingen, oder Existenz im Allgemeinen, zu behaupten. Damit sind wir aber sofort auf unsere früher gestellte Frage zurück gebracht: Bezüglich des Zeichens caiġㇵ, worauf beruht seine Bedeutung von »Existenz«? Eine mögliche Antwort ist: Wenn man die Orakelknochenschrift- bzw. Bronzeschrifttoken, wie sie oben gezeigt und zitiert wurden, betrachtet, kann man leicht erkennen, dass 30 Laut Xu Shen trägt cai ㇵġder Aussprache der beiden Zeichen cun und zai Rechnung, obwohl jeder von den beiden ein eigenes Phonogramm besitzt, nämlich, zhi ⫸ġund shi ⢓, die ganz ähnlich ausgesprochen wurden im Altertum. 31 Siehe ㇵ-Orakelknochenschrift (CHANT 3332A). 32 Siehe ㇵ-»Xian Pan«ġ歖䚌aus der mittleren West-Zhou Dynastie (CHANT 10166). 33 Siehe ㇵ-Mawangduei Seidenschrift 楔䌳➮ⷃ㚠Ʉ侩⫸䓚㛔138.

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caiġㇵġin der Tat das Phänomen des Aufkeimens eines Samens durch den Boden darstellt. Genau so hat Xu Shen dieses Zeichen vor zwei tausend Jahren verstanden, obwohl ihm die archaischen Schriftformen nicht zur Verfügung standen: »ㇵcai bezieht sich auf das anfängliche Wachstum von Pflanzen.«ġ ˪婒㔯˫烉ˬㇵ炻勱㛐ᷳ⇅䓇ḇˤ˭34 Durch die Annahme dieser alten Definition können wir vorsichtig behaupten, dass caiġ ㇵdas Aufgehen oder das Ins-Leben-kommen der Existenz im Allgemeinen besagt, was sowohl Heidegger wie auch Benveniste als eine Grundbedeutung von »sein« betonen. Während die Definition von Xu äußerst aufschlussreich bleibt, neigen neue Forschungen dazu, das Zeichen anders zu interpretieren, nämlich dass cai ㇵ und yi ⺳ (Pfahl), die sehr ähnlich geschrieben und (früher) ähnlich ausgesprochen wurden, ursprünglich dasselbe Zeichen waren, das eher den Vorgang beschreibt, eine Stange in den Boden zu schlagen.35 Obwohl diese neue Interpretation gut rezipiert wird, denke ich persönlich nicht, dass die Debatte schon abgeschlossen ist. Gleichgültig welche der Interpretationen wir zugrunde legen, müssen wir zugeben, dass sie wenigstens in einem Punkt übereinstimmen, nämlich, dass es sich hier immer um einen festen Ort handelt, an dem sich die Existenz irgendeiner Art manifestiert oder registriert wird, sei es ein aufkeimender Samen, oder eine in den Boden geschlagene Stange.36 So oder so können wir feststellen, dass in Bezug auf das Zeichen caiġㇵ, das etymologisch und lexikalisch sowohl cunġ⬀ġals auch zaiġ⛐ konstituiert, die Grundbedeutung von »Existenz« unanfechtbar ist. 3. ⬀ (cun)

37

38

und das Lebensphänomen

Von den beiden Zeichen cun ⬀ und zai ⛐ erweist sich das letztere als historisch älter, zurückführbar, wie früher dargestellt wurde, auf die Bronzeinschriften, während das Zeichen cun ⬀ viel später auftrat und nur in überlieferten Texten zu finden ist. Aber auch in diesen Texten finden wir klare Evidenz dafür, wie umfangreich cun ⬀ġals ein Ausdruck des Phänomens des Lebens verwendet wurde: 1) ˬ䇞㭵⬀炻ᶵ姙⍳ẍ㬣ˤ˭ (䥖姀Ʉ㚚䥖ᶲ) 2) ˬ⏃ẍ㮹⬀炻Ṏẍ㮹ṉˤ˭ (䥖姀Ʉ䵯堋) 3) ˬᶲ⢓倆忻 炻 ⊌侴埴ᷳ 烊 ᷕ⢓倆忻 炻 劍⬀劍ṉ 烊 ᶳ⢓倆忻 炻 ⣏䪹ᷳ ˤ ˭(侩 ⫸Ʉ41 䪈) 4) ˬ枮⣑侭⬀炻微⣑侭ṉˤ˭ġ(⬇⫸Ʉ暊⧩ᶲ) 5) ˬ⬀℞⽫炻梲℞⿏炻㇨ẍḳ⣑ḇˤ˭ġ(⬇⫸Ʉ䚉⽫ᶲ) 34 Xu Shen: Shuowen (楁㷗烉ᷕ厗㚠⯨, 1989), p. 126. Diese Definition Xus vor zwei tausend Jahren wird heutzutage auch von bedeutenden Gelehrten akzeptiert und wiedergegeben. Siehe Li Xueqin 㛶⬠ ⊌ᷣ䶐烉˪⫿㸸˫炻(⣑㳍烉⣑㳍⎌䯵↢䇰䣦ˣ㾳春烉怤⮏Ṣ㮹↢䇰䣦炻 2012)炻pp. 546–547. 35 Siehe Chen Jian 昛∵ ˨慳忈˩ ˪䓚橐慹㔯侫慳婾普˫ ⊿Ṕ 䵓墅㚠⯨ 2007 pp. 烉 烉 炻 炻 炻 炻 140-141. Siehe auch Qiu Xigui 墀拓⛕烉˨慳㞚炽旬慳⺳˩炻˪墀拓⛕⬠埻㔯普˫䫔ᶨ⌟䓚橐㔯 ⌟炻ᶲ㴟烉⽑㖎⣏⬠↢䇰䣦炻2012炻pp. 51–71. 36 Siehe ⼸ᷕ冺˪䓚橐㔯⫿℠˫ 炻 p. 673.烉ˬ堐䣢埴䁢㇨㴱⍲䘬嗽㇨ˣ㗪攻ˣ䭬⚵炻ẍ⍲⮵尉 䫱ˤ˭ 37 Siehe ⬀-Mawangduei Seidenschrift, 楔䌳➮ⷃ㚠Ʉ⎰昘春. 38 Siehe⬀-Siegelschrift aus Kangxi Zidian ⮷䭮 (⹟䅁⫿℠⚾).

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6) ˬ㨇⽫⬀㕤傠ᷕ炻⇯䲼䘥ᶵ⁁ɃɃ˭ġ(匲⫸Ʉ⣑⛘) 7) ˬ⣑埴㚱ⷠ炻ᶵ䁢⟗⬀炻ᶵ䁢㟨ṉˤ˭ġ(勨⫸Ʉ⣑婾) 8) ˬ㓭⭂䎮㚱⬀ṉ炻㚱㬣䓇炻㚱䚃堘ˤ˭(杻朆⫸Ʉ妋侩) 9) ˬ㬌婈⌙⿍⬀ṉᷳ䥳ḇ炰˭ (媠吃ṖɄ↢ⷓ堐) 10) ˬ忻ᷳ㇨⬀炻ⷓᷳ㇨s⬀ḇ˭ġ(杻グɄⷓ婒) Hier sehen wir deutlich, dass das Zeichen cun ⬀ġsehr oft verwendet wird im Sinne von Leben im Allgemeinen, und darüber hinaus von Existenz abstrakter Gegenstände, wie das ǝberleben der menschlichen Person, die Existenz eines Regimes, das Vorhandensein von Absicht, die Vorherrschaft eines Prinzips usw. Besonders aufschlussreich ist es, dass cun ⬀ġsehr hǥufig benutzt wird im Gegensatz zu wang ṉ (Tod), was die eigene Bedeutung von cunġ⬀ als »Leben« noch unbestreitbarer aufzeigt. Wenn man vergleicht, wie cun and zai verwendet werden, sehen wir, dass sie weitgehend synonym sind. Dennoch zeigt sich ein leichter Unterschied in den Schwerpunkten ihrer Bedeutungen. Während cun ⬀ġ vor allem Existenz im Sinne von Leben, Überleben bzw. von abstrakten Gegenständen besagt, bedeutet zai ⛐ġhauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, Existenz im Sinne von raumzeitlichem Vorhandensein von Personen (Kaiser und Untertanen) wie auch von Dingen (Imperium, oder tianxia usw).39 Angesichts des Umstandes, dass cun und zai etymologisch aus dem gleichen prototypischen Zeichen cai abgeleitet werden, sollte uns dieser Unterschied in Schwerpunkten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die beiden Zeichen an sich nur aus verschiedenen Blickwinkeln das allgemeine Phänomen der Existenz und des Zustandekommens von Leben und Weltbegebenheiten überhaupt beschreiben.

4. 㚱 (you)

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// ⍰ (you)

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und die Rolle der Hand

Unter den vielen modernen chinesischen Übersetzungen des Begriffs »Sein« war das Zeichen youġ 㚱ġ schon immer eine bevorzugte Wahl. Im Altchinesischen bedeutet wanyouġ 叔㚱ġwörtlich »unzählige Dinge«. Darüber hinaus kann you zusammen mit cun benutzt werden als cunyouġ⬀㚱, und im modernen Chinesisch war cunyoulunġ⬀㚱ġ婾ġfür eine Weile eine geläufige Übersetzung von »Ontologie«. Auf der anderen Seite wird you 㚱ġviel üblicher als »haben« oder »besitzen« verstanden. Laufen wir mit diesen parallelen Verwendungen des Zeichens nicht Gefahr, die Verben »sein« und »haben« zu vermischen? Bevor uns diese angebliche Verwirrung in Verlegenheit bringt, wollen wir uns an das erinnern, was Benveniste herausgestellt hat, nämlich, dass »haben« nicht nur eng ver-

39 40 41

Siehe auch Wang Fengyang ⋤㬅㝧, Gu Ci Bianࠓྂ㎫㎪ࠔ, (໭ி㸸୰⳹᭩ᒁ, 2011), S. 485. Siehe 㚱-»Dayu Ding« ⣏䙪溶ġaus der frühen West-Zhou Dynastie (CHANT 2837). Siehe 㚱-»Qingong Bo« 䦎℔捃 aus der frühen Zeit der Frühlings- und Herbstannalen (CHANT

267). 42 43

Siehe ⍰-䓚橐㔯⎰普 (CHANT 0905). Siehe ⍰-»You Fang Yi« ⍰㕡⼅ aus Shang-Dynastie (CHANT 9831).

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wandt ist mit »sein«, sondern als dessen Ableitung gilt. Doch auch unabhängig von Benveniste kann darauf hingewiesen werden, dass in überlieferten Texten bzw. Lexika you 㚱 wiederholt als lexikalisch gleichwertig erklärt wird mit cun ⬀. Darüber hinaus wird das Zeichen you, ganz wie es bei cun ⬀ der Fall ist, immer benutzt neben wang/wu ṉ/㖈/䃉, das Aussterben oder Nichts bedeutet, als dessen Gegenteil. Daran lässt sich leicht ersehen, dass you㚱selber tatsächlich »Leben« und »sein« bedeutet. Folgendes sind einige Beispiele: ˬ⬀炻㚱ḇˤ˭ (䌱䭯Ʉ⫸悐) ˬ㚱炻ᶵ䃉ḇˤ˭(䌱䭯Ʉ㚱悐) ˬ㚱炻⮵䃉ᷳ䧙ˤ˭(㬋⫿忂Ʉ㚰悐) ˬ⣑ᶳ叔䈑䓇Ḷ㚱炻㚱䓇Ḷ㖈ˤ˭ ˪侩⫸Ʉ40 䪈˫ ˬ劍⬀劍ṉ᷶烎˭ ㆸ䌬劙䔷烉ˬ⬀炻㚱ḇ炻ṉ炻䃉ḇˤ˭ (匲⫸Ʉ⇯春) ˬ䝥侭ẘ夾侴ᶵ夳㗇炻Ṣᶵẍ⭂㚱䃉ˤ˭ (勨⫸Ʉ妋哥䭯䫔Ḵ⋩ᶨ) ˬ㚱嬶侴䛦炻ᶵ劍䃉㚱ɃɃ㚱䃉ᷳ婾炻ᶵ⎗ᶵ䅇ˤ˭ġ (⏪㮷㗍䥳Ʉ奥悐Ʉ⌟ ⋩ḅ) 8) ˬ㪲㚱䃉炻⛯屏⭴Ƀ˭(㗷⫸㗍䥳Ʉ⌟ᶱɄℏ䭯⓷ᶲ) 9) ˬ⎌ᷳ䩳⚳⭞侭炻攳㛔㛓ᷳ徼炻忂㚱䃉ᷳ䓐ˤ˭(㟻⮃Ʉ渥揝婾Ʉ⌟ᶨ/㛔嬘 䫔ᶨ) 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Mit der Verknüpfung von cunġ⬀ġmit youġ㚱ġund zusammen mit unserem früheren Ergebnis, dass cunġ⬀ġund zaiġ⛐ġlexikalisch ähnlich sind, können wir mit Recht behaupten, dass youġ㚱, genau wie cunġ⬀ġund zaiġ⛐, auch die Bedeutung von Existenz mitteilt, die Benveniste als zentral für den Begriff von »sein« hält. Um uns davon zu überzeugen, dass youġ㚱 tatsächlich eine solche Funktion hat, betrachten wir noch die folgenden Beispiele: ˬ㚱⣑⛘炻䃞⼴叔䈑䓇䂱˭ (␐㖻Ʉ⸷⌎) ˬ㚱⣑⛘炻䃞⼴㚱叔䈑烊㚱叔䈑炻䃞⼴㚱䓟⤛ɃɃ˭(␐㖻Ʉ⸷⌎) ˬ⣑䓇䂅㮹炽㚱䈑㚱⇯˭ (㮃娑Ʉ⣏晭Ʉ唑ᷳṨɄ䂅㮹) ˬ㚱䈑㶟ㆸ炻⃰⣑⛘䓇˭ (侩⫸Ʉ25 䪈) ˬ⍰炷㚱炸⣑⍰炷㚱炸␥ 炻 ⍰炷㚱炸徙˨⛘˩⍰炷㚱炸✳炷⼊炸˭(悕⸿㤂 䯉Ʉ婆⎊ᶨ12) 6) ˬ⍰炷㚱炸⣑⍰炷㚱炸␥炷␥炸 炻 ⍰炷㚱炸⊧炷䈑炸⍰炷㚱炸⎵˭(悕⸿㤂 䯉Ʉ婆⎊ᶨ2) 7) ˬ⍰炷㚱炸⣑⍰炷㚱炸Ṣ炻⣑Ṣ⍰炷㚱炸↮ˤ⮇⣑Ṣᷳ↮炻侴䞍㇨埴䞋ˤ⍰ 炷㚱炸℞Ṣ炻 8) 䃉℞ᶾ炻晾岊⺿埴䞋烉劇⍰炷㚱炸℞ᶾ炻㇨暋ᷳ⍰炷㚱炸⑱ˤ˭ġ ĩ悕⸿㤂 䯉Ʉ䩖忼ẍ㗪ɄIJȸijĪ 1) 2) 3) 4) 5)

In den oben zitierten Texten wird das Zeichen you 㚱 ohne Umschweife benutzt zum Ausdruck der Anwesenheit oder Existenz von Himmel und Erde, von unzähligen Dingen, von Menschen männlichen und weiblichen Geschlechts, von der Anwesenheit von Prinzipien im Weltall oder dem Vorrang der Pflicht für das Leben der Menschheit usw. You 㚱, auf diese Weise verwendet, ist in seiner Bedeutung dem deutschen Ausdruck »es gibt« sehr ähnlich. Durch diese Verwendungen können wir nochmals feststellen, dass sich you 㚱, ebenso wie cun und zai, auch auf Existenz bezieht.

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Wenn wir aber jetzt die archaische Schriftform von you 㚱ġnäher betrachten, müssen wir darauf hinweisen, dass im Gegensatz zu cun und zai (die beide die entscheidende Skriptkomponente caiġㇵ enthalten) das Zeichen youġ㚱ġeine ganz andere Struktur hat. In Bronzeschriften wird das Zeichen you 㚱( ) geschrieben als eine Hand, die ein Stück Fleisch hält, was klar und deutlich auf den Besitz von etwas von jemandem hindeutet. Was man besitzt, so hat Benveniste uns gelehrt, ist in erster Linie etwas Vorhandenes, etwas »Existierendes«, nur ist »Existenz« in diesem Zusammenhang aus der Perspektive des Besitzers zu betrachten. Für den Gebrauch von you 㚱ġin überlieferten Texten als Besitz, wie etwa den typischen Ausdruck you tianxia (㚱⣑ᶳ) oder wortwörtlich »das Imperium (das Reich unter dem Himmel) besitzen«, lassen sich die folgenden Beispiele nennen: 1) ˬɃɃ㗗㓭⍚Ⱉ㮷ᷳ有天下ḇˤ˭ (䥖姀Ʉ䤕㱽) 2) ˬ凄䥡ᷳ有天下ḇ˭ (婾婆Ʉ㲘ỗ) 3) ˬ凄 有天下 炻 怠㕤䛦 炻 冱䘳昞 炻 ᶵṩ侭 炻 怈䞋 烊 㸗 有天下 炻 怠㕤䛦 炻 冱Ẳ ⯡炻ᶵṩ侭炻怈䞋ˤ˭(婾婆Ʉ柷㶝) 4) ˬ㬎ᶩ㛅媠ὗ有天下炻䋞忳ᷳ㌴ḇˤ˭(⬇⫸Ʉ℔⬓ᶹᶲ) In den oben zitierten Texten sind ausschließlich diejenigen Persönlichkeiten als Satzsubjekte erwähnt, die Herrscher (Kaiser) des Reiches waren. Deshalb ist es durchaus gerechtfertigt zu sagen, dass sie als Machthaber das Reich »besessen« hatten, also buchstäblich »das Reich unter dem Himmel in der Hand haben« (you tianxia 㚱⣑ᶳ). Interessanterweise lässt sich weiterhin bemerken, dass in ausgegrabenen Materialien das Zeichen you 㚱 einfach als eine rechte Hand geschrieben wurde, was die menschliche Perspektive noch deutlicher herausbringt. Beiläufig sei hier noch angemerkt, dass Benveniste in seiner Erklärung der Bedeutung von »haben« das Beispiel aus der Ewe (Togo) Sprache genommen hat, wo »haben« ausgerechnet »in der Hand«44 bedeutet, was dem altchinesischen you (㚱/⍰) vom Sinn her genau entspricht: 1) ˬ⢂䔊㗗炷㮷炸ᷳ⍰炷㚱炸⣑ᶳḇ炻䘮ᶵ⍿炷㌰炸ᶴ炷℞炸⫸侴⍿炷㌰炸册 炷岊炸ˤ(ᶲ㴟⌂䈑棐啷㇘⚳㤂䪡㚠炽⭡ㆸġ01) 2) ˬˎ㗗炷㮷炸ᷳ⍰炷㚱炸⣑ᶳ炻⍂ࣷ炷ッ炸侴㱲炷唬炸ⁱ炷㔪炸⬱炷䂱炸炻 幓≃ẍ⊆䘦䛂炷⥻炸ˤ˭ (ᶲ㴟⌂䈑棐啷㇘⚳㤂䪡㚠Ʉ⭡ㆸġ35B) Anders als Benveniste, der »haben« etymologisch als eine Ableitung von »sein« erklären kann, könnten wir dergleichen für das Chinesische wohl nicht sofort behaupten, weil, was die graphische Form betrifft, you 㚱ġ und zaiġ ⛐ġ usw. völlig unverwandt sind. Wir sind aber im Stande zu behaupten, dass you 㚱ġund zai lexikalisch-funktionell gesehen einander ergänzen als alternative Weisen, Existenzanspruch auszudrücken. Die Anwesenheit der Hand als Schriftkomponente innerhalb des Zeichens you 㚱 legt die Perspektive des Menschen im Hinblick auf das Seiende oder die Weltbegebenheiten dar, von deren Existenz die Rede sein soll. Kein Wunder, dass man auf Altchinesisch von you tiandi 㚱⣑⛘, you wanwu 㚱叔䈑, und you namnü 㚱䓟⤛ġreden kann. Damit soll you natürlich nicht Benveniste: »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: ders. (Hg.): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 220. 44

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verbatim als »besitzen« gedeutet werden. (Was soll das denn sein, wenn man vom Besitzen des Himmels reden möchte). Ausgerechnet für Phänomene wie »Himmel und Erde« (tiandi ⣑⛘) , wie »Weltbegebenheiten« (wanwu 叔䈑), und wie »das männliche und das weibliche Geschlecht« (namnü 䓟⤛), deren Existenz, deren Sein wir nie bezweifeln, erweist sich das darauf angewandte Verb you 㚱, das normalerweise »haben« im Sinne von »besitzen« bedeutet, hier vielmehr als Sein, als Existenz oder als Präsenz überhaupt, und zwar Präsenz in den Augen des Menschen. Aus diesem Grunde kann man mit Recht das Zeichen youġ㚱sowohl im Sinne von Existenz als auch im Sinne von Besitz benutzen, ohne den angeblichen Irrtum begangen zu haben, die zwei Sachlagen von »sein« und »haben« zu verwirren. Damit zeigen wir auch endgültig, dass das Zeichen you 㚱 auch »sein« andeutet, und dass es, zusammen mit shi 㗗, zai⛐, und cun ⬀, zur vierfachen Wurzel des Gedankens von »sein« im Chinesischen gerechnet werden kann.

V. Schlusswort Wir haben mit der Frage begonnen, ob der Gedanke von »sein« der alten bzw. modernen chinesischen Sprache zugänglich ist oder nicht. Bevor wir auf diese Frage eingingen, betrachteten wir kurz Heidegger, den Philosophen, und Benveniste, den Linguisten, um uns zu überzeugen, dass »sein«, »être« oder »to be« usw. für den europäischen Geist gar nicht so eindeutig sind, wie man es mitunter glaubt. Heideggers Erörterung der Grammatik und Etymologie von »sein« ist besonders aufschlussreich. Einerseits erlaubt sie uns zu verstehen, warum die Bedeutung von »sein«, wenn sie bloß als Kopula verstanden wird, so anscheinend »blutlos« und leer aussieht. Andererseits gelingt es Heidegger uns zu zeigen, dass durch die parallele Betrachtung der »Konjugationsformen« des Verbs »sein« dessen drei ursprüngliche Bedeutungen (Leben, Aufgehen und Verweilen) ans Licht gebracht werden. »Sein« für Heidegger ist wie ein Platzhalter, der allen möglichen Weltbegebenheiten ihre jeweilige Präsenz einräumt. Durch die Diskussion des Nominalsatzes befreit Benveniste uns von der Voreingenommenheit, dass die Kopula als Grundstruktur des Satzes unerlässlich sei. Darüber hinaus zeigt Benveniste uns, dass »haben« in gewissem Sinne als eine »Ableitung« des Verbs »sein« gilt. Nach diesen Vorbereitungen wandten wir uns den vier geläufigen chinesischen Schriftzeichen shi 㗗, cun ⬀, zai ⛐, und you 㚱 zu, die weitgehend unter den Chinesen als konkurrierende Übersetzungen des westlichen Begriffs von »sein« benutzt werden. Durch Schrift- bzw. Textanalysen entdeckten wir, dass diese vier Zeichen dazu dienen, den mannigfaltigen Gedanken von »sein« als Existenz von verschiedenen Blickwinkeln her zu bestimmen und zu Wort kommen zu lassen. Nochmals kurz zusammengefasst: 1) Das Zeichen shiġ 㗗ġ gilt gemeinhin als das chinesische Gegenstück der westlichen Kopula. Bezüglich der Frage, wann dieses Zeichen die Funktion als Kopula angenommen hat, ist die Debatte noch nicht abgeschlossen. Davon abgesehen sind wir aber der Ansicht, dass unabhängig von der Einführung der Kopula die chinesische Sprache, wie zahllose Sprachen der Welt, schon vom ersten Tag an in der Lage war, die grammatische »Identität« von Satzsubjekt und Satzaussage durch eigene Mittel, d. h. ganz unabhängig

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von dem Einsatz einer Kopula, auszudrücken. Aus diesem Grunde ist das Zeichen shi 㗗 als Kopula für die chinesische Sprache, vor allem für ihre heutigen Benutzer, zwar eine gewinnbringende Bereicherung, aber sachlich durchaus nicht unentbehrlich. 2) und 3) Die beiden Zeichen cunġ ⬀ġ und zaiġ ⛐ġ enthalten den gemeinsamen Bestandteil caiġㇵ, der ursprünglich wohl Existenz im Allgemeinen andeutet, entweder im Sinne von Ins-Leben-kommen (keimende Samen) oder von der Fixierung einer Stange im Boden. Während wir die wahre Bedeutung von cai ㇵġdahingestellt sein lassen, ist es hochinteressant für uns zu bemerken, dass cun ⬀ġspäter hauptsächlich benutzt wird als ein Ausdruck des Lebensphänomens, wie etwa des Überlebens der Eltern oder des Gedeihens des Regimes, wohingegen zai ⛐ġspäter die raumzeitliche Vorhandenheit der Dinge oder Vorkommnisse der Weltbegebenheiten zum Ausdruck bringt. Sie teilen unter sich sozusagen die beiden konkurrierenden Bedeutungen von cai ㇵ. Aber ganz gleichgültig in welcher Richtung das Grundelement cai ㇵġweiter entwickelt wird, ist es keine Frage, dass die Zeichen cun und zai immer Existenz beinhalten. 4) Das Zeichen you 㚱ġ wurde auch von alters her zum Ausdruck eines Existenzanspruchs verwendet. Wenn man davon ausgeht, dass dieses Zeichen you 㚱ġ durch eine Hand (mit oder ohne Fleisch) dargestellt wird, kann argumentiert werden, dass die Art von Existenz, die hier gemeint ist, immer aus der Perspektive des Menschen zu verstehen ist. In diesem Punkt sind wir mit Benveniste über das intime Verhältnis von »sein« und »haben« einig. In einem früheren Aufsatz über Humboldt habe ich sein Verständnis der chinesischen Grammatik mit seinen eigenen Worten wie folgt zusammengefasst, nämlich, dass »das Chinesische […] den grammatischen Modifikationen keine Laute als äußere Zeichen anfügt, sondern dem Leser vielmehr die Sorge überlässt, diese Modifikationen aus der Stellung der Wörter, ihrer Bedeutung sowie aus dem Zusammenhang zu erschließen.«45 Für Humboldt unterscheidet das Chinesische intern doch zwischen den hauptsächlichen grammatischen Kategorien und Wortklassen, wie etwa Substantiven, Adjektiven, Verben usw. Mit anderen Worten: Obwohl die chinesische Sprache keine flektierende Grammatik entwickelt hat, soll man ihr die Fähigkeit, mit grammatischen Formen im weitesten Sinne operieren zu können, nicht absprechen. Wenn von der Grammatik die Rede ist, meint Humboldt: »Als inneres, sprachbestimmendes Gesetz, liegt sie unerkannt in der Seele jedes Menschen.«46 Nach Humboldt gilt: »Die Grammatik ist mehr, als irgend ein anderer Theil der Sprache, unsichtbar in der Denkweise des Sprechenden vorhanden.«47

Humboldt: »Brief an M. Abel-Rémusat über die Natur grammatischer Formen im allgemeinen und über den Geist der chinesischen Sprache im besonderen«. Nach der Ausgabe 1827 ins Deutsche übertragen, mit einer Einführung versehen von Christoph Harbsmeier; in: Harbsmeier (Hg.): Zur philosophischen Grammatik des Altchinesischen im Anschluß an Humboldts Brief an Abel-Rémusat. (Grammatica Universalis, 17.) Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, S. 68–69. 46 Humboldt: »Über den grammatischen Bau der chinesischen Sprache«, in: Leitzmann (Hg.): Wilhelm von Humboldts Werke, Band V, Berlin 1906, S. 310 f. 47 Ebd., S. 311. 45

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In seinem oben mehrfach zitierten Buch Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft schloss Benveniste die Diskussion des Kapitels über »Kategorien des Denkens und Kategorien der Sprache« mit den folgenden Worten: »Das chinesische Denken kann sehr wohl so spezifische Kategorien wie tao, yin oder yang erfunden haben, deshalb ist es nicht weniger in der Lage, die Begriffe der materialistischen Dialektik oder der Quantenmechanik zu assimilieren, ohne dass die Struktur der chinesischen Sprache demgegenüber ein Hindernis darstellte. Kein Sprachtypus kann aus sich heraus und für sich allein die Tätigkeit des Geistes begünstigen oder verhindern.«48 Aufgrund der obigen Beobachtungen können wir sicher sein, dass die Frage nach der Angemessenheit der chinesischen Sprache zum Ausdruck des Verbs »sein« wahrscheinlich nur eine Pseudofrage ist. Diese Frage erweist sich als falsch gestellt, weil die chinesische Sprache überhaupt kein Bedürfnis hat, sich nach der Grammatik des Westens zu richten. Die richtige Fragestellung sollte lauten: Wie hat die chinesische Sprache (und Schrift) es geschafft, gewisse »Universalien«, wie zum Beispiel das, was wir von Anfang an als den Gedanken von »sein« beschrieben haben, aus eigenen Mitteln zu artikulieren? Erst nach Beantwortung dieser Frage können wir der weiteren Frage nachgehen: Wie kann die chinesische Lösung mit anderen Lösungen, wie z. B. denen der indo-europäischen Sprachen, verglichen werden? Mit dieser Analyse können die chinesischen Wissenschaftler schon jetzt aufhören, weiter darüber zu streiten, ob es shi 㗗, cun ⬀, zai ⛐ oder you 㚱ġsei, das die wahrhafteste Bedeutung von »sein« darstellt. Wie eine vierfache Wurzel, tragen die vier oben dargelegten Schriftzeichen in der einen oder der anderen Weise dem allgemeinen Phänomen des »Seins« Rechnung, und sie alle repräsentieren bestimmte Aspekte dieses allumfassenden Phänomens, das tatsächlich mannigfaltig zu Wort kommen kann.

Benveniste: »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: ders. (Hg.): Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 90. (Deutsche Übersetzung dieses Satzes nach dem französischen Text umformuliert.) 48

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Literatur Aristoteles, Metaphysik. Benveniste, Émile: »›Sein‹ und ›haben‹ in ihren sprachlichen Funktionen«, in: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, übers. von Wilhelm Bolle, München 1974. Heidegger, Martin: Einführung in die Metaphysik, Gesamtausgabe, Band 40, Frankfurt/M. 1983. – Grundbegriffe, Gesamtausgabe, Band 51, Frankfurt/M. 1991. – Nietzsche II, Gesamtausgabe, Band 6.2, Frankfurt/M. 1997. – Logik: Die Frage nach der Wahrheit, Gesamtausgabe, Band 21, Frankfurt/M. 1976. – Identität und Differenz , Gesamtausgabe, Band 11, Frankfurt/M. 2006 .´ Li Xueqin㛶⬠⊌ (Hg.): ˪⫿㸸˫炻(⣑㳍烉⣑㳍⎌䯵↢䇰䣦ˣ㾳春烉怤⮏Ṣ㮹↢䇰䣦炻ġ 2012)炻S. 546–547. Nietzsche, Friedrich: »Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen.« In: KSG, Band 1, Berlin, 1980. Von Humboldt, Wilhelm: »Brief an M. Abel-Rémusat über die Natur grammatischer Formen im allgemeinen und über den Geist der chinesischen Sprache im besonderen«. Nach der Ausgabe 1827 ins Deutsche übertragen, mit einer Einführung versehen von Christoph Harbsmeier; in: Harbsmeier (Hg.): Zur philosophischen Grammatik des Altchinesischen im Anschluß an Humboldts Brief an Abel-Rémusat. (Grammatica Universalis, 17.) Stuttgart-Bad Cannstatt 1979, S. 68–69. – »Über den grammatischen Bau der chinesischen Sprache«, in Leitzmann (Hg.): Wilhelm von Humboldts Werke, Band V, (1906), Berlin: B. Behr’s Verlag, 1906, S. 310 f. Wang Fengyang 䌳沛春, Gu Ci Bian ˪⎌录彐˫, (⊿Ṕ烉ᷕ厗㚠⯨, 2011). Xu Shen: Shuowen (楁㷗烉ᷕ厗㚠⯨, 1989). Schrifttoken: CHANT=CHinese ANcient Texts Database, D. C. Lau Research Centre for Chinese Ancient Texts, Institute of Chinese Studies, The Chinese University of Hong Kong: https://www. chant.org/. Multi-Function Chinese Character Database, Research Centre for Humanities Computing, The Chinese University of Hong Kong: http://humanum.arts.cuhk.edu.hk/Lexis/lexi-mf/.

Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen Texte des Zen-Meisters Dogen in Übersetzung Rolf Elberfeld (Hildesheim)

I. Vielfalt der Sprachen im Philosophieren Philosophieren im klassischen Sinne ist seit alters angewiesen auf Sprache bzw. – genauer und zutreffender gesagt – auf eine bestimmte Sprache. Als Menschen im Altertum in verschiedenen Gegenden der Welt begannen, über den Zusammenhang von Welt, Mensch und Natur nachzudenken, taten sie dies immer in einer bestimmten Sprache. Dieser Tatsache jedoch wurde bei diesem sprachlichen Nachdenken gar keine oder nur sehr wenig Bedeutung zugewiesen. In alten philosophischen Ansätzen sind zwar Reflexionen zur Sprache zu finden, aber die Tatsache der Vielheit der Sprachen spielte dabei keine Rolle. In Europa wurde außerordentlich wirkmächtig – spätestens mit Aristoteles – die konkrete Äußerung in einer bestimmten Sprache als etwas für das Denken Nebensächliches aus dem Zentrum des Philosophierens ausgeschlossen. Erst im 16. Jahrhundert entwickelte sich in Europa, gleichzeitig mit der Entstehung der europäischen Nationalsprachen als Sprachen des Philosophierens, ein Bewusstsein für die grundlegende philosophische Bedeutung der Vielfalt der Sprachen. Es war Sperone Speroni (1500–1588), der in seinem Dialogo delle lingue die toskanische Sprache – d. h. das heutige Italienisch – einerseits gegen das Altgriechische und Lateinische als den einzig vollkommenen Sprachen und andererseits gegen die aristotelische Position, dass die Verschiedenheit der Sprachen keine Bedeutung für das Denken besitze, als ein besonderes und innovatives Medium des Denkens verteidigte. Mit Sperone Speroni beginnt in Europa eine sich zunehmend vertiefende Reflexion der Verschiedenheit der Sprachen in ihrer Bedeutung für das Denken und Philosophieren. In diese Reihe gehören philosophische Denker wie Leibniz, Herder, Humboldt, Nietzsche und Heidegger.1 Die philosophische Frage, die hier zutage tritt, ist selbst mit einer sprachlichen bzw. grammatischen Form verbunden. Ausgehend von der deutschen Sprache, scheint es selbstverständlich zu sein, dass es den Singular Sprache und den Plural Sprachen gibt. Bei genauerer Betrachtung dieser Unterscheidung fällt aber auf, dass der Singular Sprache zwei verschiedene Begriffe in sich enthält. Zum einen kann der Singular Sprache im Sinne eines Singularetantum aufgefasst werden, zu dem sich kein Plural bilden lässt. In diesem Sinne bezeichnet »die Sprache« – im Zusammenhang mit dem bestimmten Artikel – die allgemeine Dimension von Sprache überhaupt. Genau dies war und ist das Thema vieler Reflexionen zur Sprache in der Philosophie, wobei dann die Vielfalt der Sprachen keine Vgl. Jürgen Trabant: Mithridates im Paradies: Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003 und Rolf Elberfeld: Sprache und Sprache. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg i. B. 2012. 1

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oder eine nur untergeordnete Rolle spielen kann, da es ja um Sprache im allgemeinsten Sinne geht. Zum anderen kann sich aber der Singular Sprache auf den Plural Sprachen beziehen im Sinne »einer bestimmten natürlichen Sprache« – im Zusammenhang mit dem unbestimmten Artikel – im Gegensatz zu einer anderen Sprache. Dass diese grammatische Unterscheidung, die auch philosophisch einen bestimmten Gedanken in Bezug auf das Nachdenken über Sprache und Sprachen nahelegt, gar nicht selbstverständlich ist, lässt sich erst durch den Blick in andere Sprachen verstehen, die diese Unterscheidung nicht in gleicher Weise treffen. Das Chinesische und Japanische beispielsweise weisen diese Unterscheidung auf grammatischer Ebene nicht auf. Es existiert weder ein bestimmter oder unbestimmter Artikel, noch wird auf der Ebene der Nomen zwischen Singular und Plural grammatisch unterschieden. An diesem Beispiel lässt sich bereits erkennen, dass die Reflexion über Sprache und Sprachen selbst nicht unabhängig von einem bestimmten grammatischen Rahmen vollzogen werden kann, der dem Denken immer wieder bestimmte Unterscheidungen nahelegt und als natürlich gegeben suggeriert. Denn es ist immer eine bestimmte Sprache notwendig, auch um über Sprache im Allgemeinen nachzudenken. Dabei werden dann die Strukturen der jeweiligen Sprache im Denken wirksam, die man als selbstverständlich voraussetzen muss, um überhaupt sprechen und denken zu können. Ohne den Kontrast zu anderen Sprachen bleiben diese vorausgesetzten Strukturen aber zumeist unbemerkt. Ein klassisch-europäisch in der Philosophie ausgebildeter Mensch kann dann Sprachen wie Altgriechisch und Latein als Vergleich heranziehen. Bei diesem Vergleichsrahmen bleibt aber unbemerkt, dass unterschiedliche Sprachfamilien unterschieden werden können, die nicht den indoeuropäischen Grammatik- und Sprachmustern folgen. Es liegt dann aus philosophischen Gründen nahe, Sprachen anderer Sprachfamilien für den Vergleich heranzuziehen, um die Differenz in den sprachlichen Voraussetzungen des Denkens noch grundsätzlicher reflektieren zu können. Mit dem bisherigen Gedankengang ist philosophisch noch nicht entschieden, ob die Vielfalt der Sprachen für das Denken von grundsätzlicher Bedeutung ist oder nicht. Was aber sehr wohl aus philosophisch gewichtigen Gründen gesagt werden kann ist, dass Philosophierende sich um die Vielfalt der Sprachen zu kümmern haben, da bereits die grammatischen und semantischen Unterscheidungen, die in einer Sprache alternativlos zu sein scheinen, nicht in jeder Sprache gleich sind, sondern erhebliche Unterschiede aufweisen. Die verschiedenen Voraussetzungen legen das Denken natürlich nicht fest, aber legen ausgehend von den einzelnen Strukturen bestimmte grammatisch oder semantisch basierte Denkfiguren nahe, die ausgehend von einer anderen Sprache gar nicht in gleicher Weise naheliegen. So legt die Existenz des bestimmten Artikels – die Wahrheit, das Gute, das Schöne – in einer Sprache bestimmte Formen begrifflicher und sprachlicher Abstraktion nahe. In Sprachen, in denen kein bestimmter Artikel zur Verfügung steht, müssen andere und oft kompliziertere Ersatzformen gefunden werden, die sich aber von der Sprache selbst nicht nahelegen. So hat beispielsweise Cicero den altgriechischen Zentralbegriff »to on« mit »id quod est« wiedergegeben, da im Lateinischen kein bestimmter Artikel zur Verfügung stand. Cicero griff auf das Demonstrativpronomen im Zusammenhang mit einer Relativsatzkonstruktion zurück, um die gleiche Form von Allgemeinheit auszudrü-

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cken.2 Es könnte sich bei Vergleichen mit weitaus fremderen Sprachen herausstellen, dass die Form und Weise von Allgemeinheit, als einer Dimension des Philosophierens, sich in verschiedenen Sprachen unterschiedlich konstituiert. Dies kann aber erst im Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen, die jeweils möglichst verschiedenen Sprachfamilien angehören, bemerkt und reflektiert werden. Erst im Philosophischen zwischen möglichst verschiedenen Sprachen kann somit die Bedeutung dieser sprachlichen Verschiedenheiten für das Denken grundsätzlich genug reflektiert werden. Denken zwischen verschiedenen Sprachen bedeutet, Denken verbunden mit Akten der Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen zu vollziehen. Im Denken zwischen verschiedenen Sprachen wird die jeweilige Andersheit der verschiedenen Sprachen für das Denken fruchtbar gemacht. Im ständigen Vergleich mit anderen Sprachen werden im Denken Möglichkeiten des Anderssagens eröffnet, die sich in der eigenen Sprache nicht nahelegen. Auf diese Weise erweitern sich die Spielräume des Denkens zwischen den Sprachen, ohne dabei jeweils auf eine einzelne Sprache festgelegt zu sein. Gerade das Phänomen des Übersetzens gibt die Möglichkeit für ein philosophisches Gespräch zwischen verschiedenen Sprachen, bei dem bisher Ungesagtes in einer Sprache entstehen und in den Ausdruck gelangen kann. Akte des Übersetzens begleiten das Philosophieren heute mehr denn je. Dieser Tatsache steht die sträflich vernachlässigte philosophische Reflexion des Übersetzens zwischen verschiedenen Sprachen entgegen. Auch wenn das Englische in bestimmten Diskursen die Alleinherrschaft zugunsten sprachlicher Vielfalt übernommen hat, so wird gerade hierdurch die Tatsache verdeckt, dass viele Menschen zumindest in zwei Sprachen reflektieren: in ihrer Muttersprache und auf Englisch. Wenn beispielsweise in der Türkei Philosophierende nur anhand der englischen Sprache in der Philosophie ausgebildet werden, so verschafft ihnen dies sicher ökonomische Vorteile, die türkische Sprache hingegen bleibt für das Philosophieren ungenutzt. Hier zeichnet sich im Verhältnis der Sprachen untereinander ein mehr oder weniger offener Machtkampf ab, der politisch und ökonomisch motiviert ist, aber philosophisch gesehen katastrophale Folgen hat. Sprachenpolitisch scheinen mir derzeit zwei große Konkurrenten in der Philosophie einander gegenüber zu stehen: Englisch und Chinesisch. Strategisch sehe ich derzeit einen gewissen Vorteil für die chinesischsprachige Welt, da seit langem eine enorme Übersetzungstätigkeit im Gange ist, durch die alle wichtigen geistigen Erzeugnisse anderer Sprachen – nicht nur der europäischen – ins Chinesische übersetzt werden. Ähnliches kann auch für die japanische und koreanische Sprache gesagt werden. Dieser seit über hundert Jahre andauernde geistige Import, wird vermutlich erst in ein oder zwei Jahrhunderten seine volle Wirkung entfalten, dies legen Vergleiche mit anderen weltgeschichtlich bedeutsamen Übersetzungsprozessen nahe. Ein ähnlich intensiver Import bzw. eine ähnlich intensive Auseinandersetzung mit den jeweils anderen Denk- und Sprachtraditionen in der Philosophie ist umgekehrt weder in Europa noch in Nordamerika festzustellen. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen ist man in Europa und in Nordamerika weiterhin Vgl. Mario Puelma: »Die Rezeption der Fachsprache griechischer Philosophie im Lateinischen«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33 (1986), S. 45–69. 2

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im Mainstream fest von der eigenen philosophischen Überlegenheit überzeugt, und man fühlt sich zudem in dieser Überzeugung bestätigt, da man ja von den Ostasiaten intensiv rezipiert wird. Man rechnet schlichtweg nicht damit, dass es in diesen Traditionen etwas philosophisch Bedeutsames zu lernen gibt. Ein weiterer Grund für den nur geringen Import beispielsweise aus ostasiatischen Denktraditionen liegt darin, dass Übersetzen und Übersetzungen nicht als eigenständige Forschungsleistung anerkannt sind, so dass diese Tätigkeit im Bereich der Philosophie und den Geisteswissenschaften insgesamt finanziell nicht gefördert werden kann. Ohne diesen, durch Übersetzungen ermöglichten geistigen Zufluss können wir aber noch nicht einmal wahrnehmen, was uns entgeht. Denn in Bezug auf die Kenntnis philosophischer Texte können nur die Texte bekannt werden, die im Rahmen unserer Sprachenkenntnisse vorliegen und damit rezipierbar sind. Dabei ist es unmöglich für jeden einzelnen, alle Sprachen zu lernen, so dass wir immer auch auf Übersetzungen angewiesen bleiben. In diesem Kontext ist es philosophisch gesehen eine unangemessene Forderung, dass es ausreichen würde, alle Texte nur in englischer Sprache zugänglich zu haben. Bei dieser Forderung wird die philosophische Produktivität von Übersetzungen massiv unterschätzt. Denn jede einzelne Sprache kann in einem übersetzten Text Bedeutungsebenen lebendig werden lassen, die möglicherweise verdeckt im Ausgangstext gelegen haben, aber erst durch die Struktur und die semantischen Möglichkeiten der Zielsprache in den Vordergrund rücken. Es ist daher auch keinesfalls unsinnig die Texte von Immanuel Kant auf Japanisch, Chinesisch, Türkisch oder Englisch zu lesen. Kantische Texte zeigen sich in einer anderen Sprache anders und lösen möglicherweise andere philosophische Möglichkeiten aus. Vielleicht ist auch Heidegger produktiver auf Englisch oder Japanisch zu lesen, da dann die philosophischen Gehalte im Zusammenhang mit den sprachlichen Idiosynkrasien Heideggers besser hervortreten. Wendet man den Gedanken der Übersetzung philosophischer Texte in diese Richtung, so muss gesagt werden, dass nicht nur der Originaltext philosophisch wichtig ist, sondern auch philosophisch produktive Übersetzungen einen hohen Wert besitzen. So können neben dem Originaltext philosophisch wertvolle Übersetzungen in die Interpretation und die Arbeit am Text einbezogen werden. Auf diese Weise wird allein durch die philosophisch reflektiere Übersetzung ein Forschungsbeitrag zu einem bestimmten Text geleistet. Hier zeichnet sich ein philosophisches Forschungspotential ab, das auch die hegemoniale Machtstellung großer Sprachen insgesamt relativiert. Angesichts dieser Perspektiven wird das je eigene Philosophieren bescheidener sein müssen, da der einzelne nur im begrenzten Maße verschiedene Sprachen lernen kann. Philosophieren in einer globalisierten Welt wird durch diesen Gedanken jedoch perspektivenreicher und möglicherweise ein wenig postkolonialer.

II. Altjapanische Textbeispiele Auf die Frage, ob alte Texte, die außerhalb Europas entstanden sind, zur Geschichte der Philosophie gezählt werden können, möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Ich möchte nur festhalten, dass ich aufgrund vielfältiger Überlegungen zu der Überzeugung

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gelangt bin, dass diese Frage zu bejahen ist.3 Die Texte des Zen-Meisters Dōgen (1200– 1253), aus denen ich im Folgenden einige sprachliche Beispiele vorstellen und analysieren möchte, sind in hohem Maße als philosophisch relevant zu betrachten. Um die philosophischen Impulse dieser Texte aufzunehmen, ist jedoch ein erheblicher hermeneutischer Aufwand notwendig. Die Texte Dōgens sind nicht nur inhaltlich gesehen schwierig, sondern auch ihre Sprachform ist außergewöhnlich komplex. Sprachlich gesehen kombiniert Dōgen Ausdrucksmöglichkeiten der alten japanischen und chinesischen Sprache. Obwohl das Japanische und das Chinesische verschiedenen Sprachfamilien angehören und grammatisch gesehen einen sehr unterschiedlichen Bau aufweisen – das Japanische ist agglutinierend und das Chinesisch isolierend –, sind sie dennoch in einem wesentlichen Element verbunden und zwar durch die Schrift. Die Japaner hatten bereits im 6. Jahrhundert damit begonnen, die viel ältere und voll entwickelte chinesische Schrift zu übernehmen. Aus dieser Schrift entwickelten sie dann zwei Silbenalphabete. In den Texten Dōgens findet man somit grundlegend verschiedene Schriftsysteme. Dōgen nutzt diese Tatsache aus, um seine Gedanken zu formen.

1. Die Wendung uji In Dōgens Werk gibt es einen Text, der den Titel uji 㚱㗪ġträgt.4 Er besteht aus zwei chinesischen Zeichen und ist ohne weitere Zusätze mehrdeutig. Das erste Zeichen bedeutet annähernd »haben, vorhanden sein, es gibt«. Das zweite Zeichen bedeutet annähernd »Zeit, Jahreszeit, Gelegenheit, derzeit, zeitig, zur Zeit«. Die Kombination der beiden Zeichen bedeutet im Altchinesischen häufig »es gibt eine bestimmte Zeit« bzw. »zu einer Zeit«. Diese Wendung wird z. B. in einem Satz verwendet wie: »Für Bäume gibt es eine bestimmte Zeit, um neue Blätter zu bekommen«. Im Altchinesischen wird durch diese zunächst wenig auffällige Wendung zum Ausdruck gebracht, dass alles seine Zeit hat und somit bestimmte Zeiten bestimmte Qualitäten besitzen. Hier zeigt sich insbesondere eine ackerbaukultürliche Erfahrung, nach der der Anbau von Pflanzen einem zeitlichen Rhythmus zu folgen hat. Es gibt demnach eine Zeit für die Aussaat und eine Zeit für die Ernte. Meines Wissens wurde diese Wendung in der Altchinesischen Philosophie jedoch nicht, wie es bei Dōgen der Fall ist, zu einem philosophischen Terminus geformt. Dōgen greift nun zunächst die gewöhnliche Bedeutung der altchinesischen Wendung auf, um sie dann in seinem Text zu einem philosophischen Terminus zu formen. In der Wendung steckt bereits die Bedeutung, dass alles seine Zeit hat. Für alles gibt es eine Zeit und alles ist in der Zeit. Sein Text beginnt zunächst damit, sehr Verschiedenes in poetischer Form anzuführen jeweils anfangend mit der Wendung uji »zu einer bestimm3 Für eine ausführlichere Diskussion dieser Frage vgl. Rolf Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, 2. Auflage 2010, S. 33–56. 4 Zum Werk Dōgens vgl. Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), übers. u. hg. v. R. Ōhashi u. R. Elberfeld, Tōkyō, Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, S. 211–278.

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ten Zeit«. Nach der poetischen Einführung folgt dann aber ein philosophischer Kernsatz, der die Wendung in einen philosophischen Terminus verwandelt: »Genanntes Zu-einerZeit besagt: Zeit ist [immer] schon [ein bestimmtes] Gegebenes, alles Gegebene ist [bestimmte] Zeit.«5 Und kurz darauf heißt es: »[…] jede einzelne Sache dieser gesamten Welt ist jeweils als Zeit einzusehen.«6 Spätestens jetzt werden sich einige an Heideggers Sein und Zeit erinnert fühlen, und das nicht zu unrecht. Der Text wurde inzwischen häufiger in eine westliche Sprache übersetzt und dabei wurde diese Parallele durchaus genutzt. Der Titel wurde demgemäß übersetzt mit: Sein=Zeit (Tsujimura), Being Time (Abe/Waddell), Sein-Zeit (Ōhasi), Living Time (Wright) usw. Der Titel könnte allerdings auch einfach mit »Zu einer Zeit« übersetzt werden. Die beiden chinesischen Zeichen lassen es zu, dass man sie zum einen als etwas höchst Konkretes und Bestimmtes versteht und zum anderen gerade dies höchst Konkrete und Bestimmte als ihr Allgemeinstes denkt. Denn alles was ist, ist immer hier und jetzt eine bestimmte »Sein-Zeit«. In Dōgens Sprachgebrauch durchdringen sich Konkretes und Allgemeines in einer Weise, die durch die chinesische Schrift und ihre Möglichkeiten nahegelegt werden. Dies philosophisch genutzt zu haben für die Auslegung des Seienden im Horizont der Zeit, ist das Verdienst Dōgens und seines Textes Uji. Mit diesem Terminus liegt eine besondere Weise der Abstraktion vor, die nicht durch eine begriffliche Definition erzeugt wird, sondern inmitten der Erfahrungen einen sprachlichen Ausdruck findet, der dieses Erfahren selbst in grundlegender Weise bezeichnet und auslegt. Im Text selbst sind dann auch nicht nur die Dinge gemeint, sondern auch ich selbst, der darüber nachdenkt, ist eine bestimmte »Sein-Zeit«. Als jeweiliges uji ist somit alles in der Welt verbunden. Bei Dōgen geht es darum, dieses auch im Denken, das zugleich grundsätzlich an das Erfahren angebunden bleibt, zu reflektieren und zu realisieren.7

2. Verhindern verhindert verhindern In dem Text Uji treibt Dōgen die Sprache immer wieder an ihre Grenzen. Mit seinen Reflexionen zur Zeit untergräbt er laufend ein sich als stabil und überzeitlich erfahrendes Ich. Er denkt zurück in ein universales wechselseitiges Bestimmungsgeschehen, das in seiner Allgemeinheit nur dann realisiert werden kann, wenn man selbst ganz in dieses Bestimmungsgeschehen eingeht und mitgeht. Sein Denken ist eine radikale Verendlichung des Denkens, das in der tiefsten Endlichkeit selbst die höchste Allgemeinheit erkennt. Dies kommt in einem Satz zum Ausdruck, der in Übersetzung wie folgt lautet: »Verhindern verhindert Verhindern – dies ist Zeit.«8 In der japanischen Fassung verwendet Dōgen drei Mal das gleiche chinesische Zeichen in Verbindung mit weiteren Funktionszeichen, die in japanischer Silbenschrift geschrieben sind:ġ䣁̰䣁͓䣁̫͌͋̚ˣ̔ Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. 7 Für eine Satz-für-Satz Interpretation vgl. Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, S. 221–334. 8 Dōgen: Shōbōgenzō, S. 112. 5 6

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͍㗪̫͋ˤDas erste chinesische Zeichen ist mit einem Themapartikel kombiniert, das zweite mit einem Objektanzeiger und das dritte wird durch den Zusatz »suru« zu einem Verb. Der zweite Satzteil setzt ein Demonstrativpronomen vor das chinesischen Zeichen für Zeit. Indem drei Mal das gleiche chinesische Zeichen verwendet wird, wird der Vollzug des Verhinderns auf sehr eindringliche Weise auf sich selbst angewendet. Denn genau indem jedes einzelne das ist, was es ist, verhindert es, dass es etwas anderes ist. Dieses Verhindern bestimmt das andere aber zugleich auch dazu, genau dieses andere zu sein. Indem alles sich in seiner Endlichkeit gegenseitig behindert, das jeweils andere zu sein, ist alles das, was es ist. Auf diese Weise wird die Negation zugleich auf sich selbst angewendet und wird zur absoluten Bejahung der eigenen Endlichkeit. In diesem Satz liegt aber nicht nur eine begriffliche Bestimmung vor, sondern es handelt sich um einen Satz, der aus der konkreten Erfahrung aufgestiegen ist. Somit ist das Allgemeine nie ohne die konkrete Erfahrung zu denken. Das Allgemeine löst sich nicht ab von der Erfahrung, sondern führt noch tiefer in die Erfahrung hinein. Dies wird sprachlich auch dadurch nahegelegt, dass das erste Zeichen im Satz mit einem Thema-Partikel versehen ist, so dass das erste Verhindern nicht einfach als Subjekt des Satzes aufgefasst werden kann, sondern das Thema des Satzes ist, das durch das Folgende weiter ausgelegt wird. Um dieses Thema-Partikel in seiner sprachlichen Wirkweise noch weiter zu thematisieren, möchte ich noch eine kleine Passage aus einem anderen Text heranziehen, in der verschiedene Sätze über eine ThemaRhema Konstruktion miteinander verbunden sind.

3. Thema-Partikel Die gerade erwähnte Passage lautet: »Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz meiner selbst sowie Leib und Herz des Anderen abfallen zu lassen.«9 Dort, wo in der deutschen Übersetzung das Wort »heißt« gewählt wurde, steht im Japanischen das Thema-Partikel wa. So lautet der erste Satz auf Japanisch: butsudō wo narau to iu no wa, jiko wo narau nari. Durch das Thema-Partikel wird die Phrase »den BuddhaWeg erlernen« zum Thema des Satzes. Der nachfolgende Teil ist dann die inhaltliche Auslegung und Erweiterung des Themas. Die zitierte Passage zeichnet sich dadurch aus, dass die inhaltliche Auslegung des vorhergehenden Satzes jeweils zum Thema des nächsten Satzes wird. Auf diese Weise wird eine kettenartige Bestimmung der inhaltlichen Abfolge erzeugt, durch die alle genannten Ebenen in ihrer gegenseitigen Durchdringung erscheinen. Nichts kann unabhängig von dem anderen gesagt werden. Es ist hier gerade kein Syllogismus am Werk, sondern eine Form der verknüpfenden Bestimmung, die vor allem durch das japanische Thema-Partikel nahegelegt wird. Ausgehend von der deutschen 9

Dōgen: Shōbōgenzō, S. 39.

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Grammatik müsste man sagen, dass die Wendung »den Buddha-Weg erlernen« das Subjekt des Satzes ist. Aber es ist leicht zu sehen, dass diese Bezeichnung eigentlich nicht zutreffend ist, da es sich in philosophischer Hinsicht nicht um ein gewöhnliches Subjekt handelt, das dann als einzelner Begriff näher bestimmt werden kann. Denn »den BuddhaWeg erlernen« ist kein Begriff, sondern ein konkreter Handlungsvollzug, der in dem Satz näher bestimmt wird. Auch hier ermöglicht die japanische Sprache einen Bezug auf konkrete Situationen und Vollzüge, die dann sprachlich in allgemeiner Weise weiter ausgelegt werden. Statt des bestimmten Artikels, der im Altgriechischen und im Deutschen sehr spezifische Abstraktionsmöglichkeiten erzeugt, die sich durch die grammatische Struktur vor allem auf einzelne Substantive und Begriffe beziehen, wird im Japanischen durch das Thema-Partikel nahegelegt, Situationen und Vollzüge als komplexe Einheiten denkerisch zu entfalten und auszulegen. Es wird somit weniger ausgehend von definierten Begriffen gedacht als ausgehend von situativen Vollzügen. Diese situativen Vollzüge können dann in höchst abstrakter Weise in ihrer Struktur analysiert werden. Dies kann, wie in dem angeführten Beispiel von Dōgen, in kettenhaft ineinandergreifenden Auslegungsreihen geschehen, wodurch der situative Vollzug immer wieder von einer anderen Seite beleuchtet wird. Das Thema-Partikel begünstigt somit einen Auslegungsperspektivismus, der durch den bestimmten Artikel und einzelne, zu definierende Begriffe nicht nahegelegt wird. Die angeführten Beispiele konnten nur einen ersten Eindruck vermitteln von den Möglichkeiten, die durch ein Denken zwischen verschiedenen Sprachen sichtbar werden können. Meines Erachtens stehen wir erst am Anfang, die möglichen Fragen zu erahnen, die durch die Verschiedenheit der Sprachen für das Denken entstehen. Der Weg des Denkens zwischen verschiedenen Sprachen bleibt dabei immer begrenzt und endlich. Gleichwohl lohnt es sich aus philosophisch gewichtigen Gründen, immer wieder neue Sprachen für das Denken zu entdecken. Im möchte mit einem Zitat von Wilhelm von Humboldt enden, der das Gesagte auf seine Weise unterstreicht: »Wenn, wie es bei der Wissbegierde unsrer Zeit schwerlich fehlen kann, Indische Literatur und Sprache unter uns so bekannt werden, als es die Griechischen sind, so wird der Charakter beider einestheils Spuren in der Behandlung unsrer Sprache, unsrem Denken und Dichten hinterlassen, anderntheils aber ein mächtiges Hilfsmittel abgeben, das Gebiet der Ideen zu erweitern, und die mannigfaltigen Wege auszuspähen, auf welchen der Mensch mit demselben vertraut wird. Von dieser Seite gewinnt die Verschiedenheit der Sprachen eine welthistorische Ansicht. Das Zusammentreten verschiedenartiger Eigenthümlichkeiten leiht dem Denken neue Formen, auf die nachfolgenden Geschlechter überzugehen«.10

Wilhelm von Humboldt: »Über den Nationalcharakter der Sprachen, in: Schriften zur Sprache«, in: ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 3, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, 8. Auflage, Darmstadt 1996, S. 71 f. 10

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Literatur Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), übers. u. hg. v. R. Ōhashi u. R. Elberfeld, Tōkyō, Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. – Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung, Freiburg i. B. 2012. Humboldt, Wilhelm von: »Über den Nationalcharakter der Sprachen«, in: ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 3, hg. v. A. Flitner u. K. Giel, 8. Auflage, Darmstadt 1996, S. 64–81. Puelma, Mario: »Die Rezeption der Fachsprache griechischer Philosophie im Lateinischen«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33 (1986), S. 45–69. Trabant, Jürgen: Mithridates im Paradies: Kleine Geschichte des Sprachdenkens, München 2003.

KOLLO QUIUM 5 Hans Jonas. Verantwortungsphilosophische Aktualität oder ontologisch-metaphysische Vergangenheit? Kolloquiumsleitung: Holger Burckhart

Michael Bongardt Dekor oder Fundament? Zur Bedeutung des Schöpfungsglaubens für die Grundlegung der Ethik bei Hans Jonas Holger Burckhart Verantwortungsethik – ist VE ohne Hans Jonas Metaphysik aber mit seinem universalen Anspruch heute verteidigbar? Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus Jürgen Nielsen-Sikora Ist das »Prinzip Verantwortung« noch aktuell?

Dekor oder Fundament? Zur Bedeutung des Schöpfungsglaubens für die Grundlegung der Ethik bei Hans Jonas Michael Bongardt (Berlin)

I. Ein Schöpfungsmythos »Jetzt ist es am Menschen…«.1 Bevor Hans Jonas den Verantwortlichen für die Welt und deren Zukunft derart prägnant benennt, hat er den von ihm entworfenen Mythos zur Entstehung der Welt und der Entwicklung des Lebens erzählt und interpretiert.2 Biblische und gnostische, vor allem aber kabbalistische und evolutionstheoretische Motive nimmt Jonas auf, um erzählend seine Grundthese zu entfalten. Ihr gemäß impliziert der Entschluss Gottes, eine nicht göttliche Welt zu wollen und zu erschaffen, eine radikale Selbstbeschränkung des Schöpfers. Die von ihm einmal angestoßene Welt folgt ihren eigenen Gesetzen, ihrer eigenen Dynamik. Daraus entstehen die Elemente und das Weltall. Auf der Erde kommt es zu einem großen Sprung, sobald und indem das Leben entsteht. Dieses entwickelt sich, bis mit dem Lebewesen »Mensch« ein weiterer qualitativer Sprung vollzogen wird, hin zu einer Freiheit, die um Gut und Böse weiß und sich zwischen beiden zu entscheiden hat. Die Menschheitsgeschichte zeugt davon, wozu der Mensch im Guten wie im Bösen fähig ist. Sie hat in der Gegenwart einen fragwürdigen Höhepunkt erreicht, weil der Mensch nun in der Lage ist, alles Leben, zumindest das menschliche Leben und Hans Jonas: »Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme«, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Dietrich Böhler u. a. (=KGA), Bd. III/1, S. 407–426, hier S. 425. 2 Im deutschsprachigen Raum ist »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« erst bekannt geworden, nachdem Jonas ihn als Dankesrede für die Verleihung des Leopold Lucas-Preises 1984 an der Universität Tübingen vorgetragen hatte. Der Text aber ist – selbstverständlich mit Ausnahme der Bezugnahmen auf die Preisverleihung 1984 – bereits 1965 entstanden. Unter dem Titel: Theology on the Suffering God (Implications of Ingersoll Lecture). Talk to Rabbis in New York (Jonas Archiv der Universität Konstanz, Archiv-Nummer HJ 1–8–29), hielt Jonas eine Vorlesung, die dann 1968 als: »The Concept of God after Auschwitz« erstmals veröffentlicht wurde in: A.H. Friedländer (Hg.): Out oft he Whirlwind, New York 1968, S. 465–476. Der in diesem Text enthaltene Mythos stand ursprünglich in einem anderen Zusammenhang: Hans Jonas: Unsterblichkeit und heutige Existenz, in: KGA III/1, S. 323–366, dort S. 357–361 (ursprünglich als Immortality and Modern Temper, Harvard 1962). In diesem Text zu einem heute noch möglichen Glauben an die Unsterblichkeit des Menschen nutzt Jonas den Mythos, um die Vorstellung von einem Gott zu illustrieren, der eine von ihm unabhängige Welt und einen freien Menschen erschafft. Die selbständige Geschichte dieser Welt und in ihr vor allem die folgenreichen Taten der Menschen wirken auf Gott zurück und verändern ihn. Gott wird hier gedacht als eine »werdende Gottheit« (Jonas: Unsterblichkeit, S. 356), deren endgültige Gestalt vom Handeln der Menschen abhängig ist. Indem Jonas den Mythos angesichts der Gräuel von Auschwitz erneut bemüht, stellt er ihn in den Horizont der Theodizeefrage. Doch auch diese beantwortet er mit dem Hinweis auf die Verantwortung des Menschen, dessen Handeln Gott selbst betrifft. 1

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seine Grundlagen auf der Erde endgültig zu zerstören. Gott, dem die Welt ihr Dasein verdankt, kann, so Jonas, in die Gesetze und die Entwicklung der Welt nicht mehr eingreifen, ohne dass er sich selbst und seinem Entschluss zur Freilassung der Schöpfung untreu würde. Doch er begleitet die Erd-, Lebens- und Menschheitsgeschichte in der Hoffnung, sich selbst von dieser Welt »zurückzuempfangen«3. Dieses Ziel bestünde im Dank des und der Geschaffenen an Gott für dessen Schöpfung, vor allem aber in der Übernahme der Verantwortung dafür, dass das entstandene Leben auf Zukunft hin bewahrt und möglich bleibt. Jonas betont, dass diese Verantwortung allein der Mensch übernehmen, ihr gerecht oder auch nicht gerecht werden kann. Denn nur er verfügt über die dafür notwendige selbstbewusste Freiheit. »Nachdem er sich ganz in die Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben. Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.«4 Dieser Entwurf einer – von Jonas selbst so genannten – »spekulativen Theologie«5 hat in der christlichen Theologie, aber auch in jüdischem Denken und Religionsphilosophie heftige Kontroversen ausgelöst. Nicht nur den Begriff der Allmacht, die in der Regel als eine der notwendigen Eigenschaften Gottes angesehen wird, verabschiedet Jonas. Auch die für das biblische Gotteszeugnis so zentrale Überzeugung, dass Gott sich als Gott erweist, indem er rettend in die Geschichte eingreift, hat im Konzept von Jonas keinen Raum mehr.6 Doch diese theologischen Fragen sollen hier nicht weiter verfolgt werden.

II. Begründungsfragen Statt der gerade nur angedeuteten theologischen Fragen an den Text von Jonas soll im Folgenden untersucht werden, welche Bedeutung der Glaube, dass die Welt von Gott geschaffen ist, im Denken von Hans Jonas für die Grundlegung der Ethik hat. Anders gefragt: Inwieweit ist der Schöpfungsglaube, der von einer Verantwortung des Menschen vor Gott und für die Welt spricht, von Bedeutung, wenn es Jonas um die Begründung einer »Ethik für die technologische Zivilisation«7 geht? Jonas: Gottesbegriff, S. 411. Ebd., S. 425. 5 Ebd., S. 407. 6 Zur theologischen Kritik an der Vorstellung eines Gottes, der, auf seine Macht verzichtend, nicht mehr in das Weltgeschehen eingreift, vgl. z. B. Wolfgang Baum: Gott nach Auschwitz. Reflexionen zum Theodizeeproblem im Anschluss an Hans Jonas, Paderborn u. a. 2004; Eberhard Jüngel: »Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ›Gottesbegriff nach Auschwitz‹«, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, S. 151–162; Günther Schiwy: Abschied vom allmächtigen Gott, München 1995; Franz J. Wetz: »Abschied von Gott. Anmerkungen zu Hans Jonas und Hans Blumenberg«, in: Peter Koslwoski, Friedrich Hermanni (Hg.): Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München 2001, S. 135–147; Thomas Pröpper: »Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee«, in: ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u. a. 2001, S. 266–275. 7 So der Untertitel des Hauptwerks von Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 2003 (Erstausgabe: Frankfurt 1979). Die Erarbeitung einer Ethik, die die Zukunft menschlichen Lebens auf der Erde zum Maßstab der Legitimität menschlichen 3 4

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II.1. Der begrenzte Glaube Die Argumentation im »Gottesbegriff nach Auschwitz« scheint einen direkten Begründungszusammenhang zu implizieren: Der Mensch verdankt wie die gesamte Schöpfung, deren Teil er ist, sein Dasein dem göttlichen Schöpfer. Als von Gott geschaffenes ist dieses Dasein gut. Der Mensch als einzig moralisches und damit auch schuldfähiges Geschöpf hat sein Handeln an diesem Gut auszurichten: Er ist für den Bestand des Lebens vor Gott verantwortlich. Dies gilt nicht nur für das gegenwärtige Leben, sondern auch für die Zukunft des Lebens insgesamt – weil Gott seine eigene Zukunft an dieses von ihm gewollte Leben und dessen Antwort an ihn gebunden hat. Ein weiteres Indiz scheint diese Interpretation zu stärken: Nicht nur spricht Jonas auch in seinen explizit philosophischen Texten regelmäßig von der »Schöpfung« und den »Geschöpfen« eines göttlichen Urgrunds und Geistes.8 Sogar im Schlussabschnitt von »Das Prinzip Verantwortung« fordert er die »Hütung des ›Ebenbildes‹«9 – und greift damit am Zielpunkt seiner philosophischen Ethik auf einen zentralen Begriff des ersten biblischen Schöpfungsberichts zurück. Auf den ersten Blick scheint dieser Begründungszusammenhang auch durchaus plausibel: Die von einem guten Gott geschaffene Welt muss gut sein, weil sie von ihm geschaffen und – nach dem biblischen Zeugnis – von Gott ausdrücklich als gut angesehen wurde.10 Das Sein ist also nicht gut, weil es ist. Vielmehr vermag der Schöpfungsglaube einem solchen naturalistischen Fehlschluss entgehen, weil er auf den Ursprung des Seins in einem moralischen Gott, der nur Gutes wollen kann, verweisen kann. Doch Jonas selbst ist sich der sehr begrenzten Tragfähigkeit einer solchen Argumentation bewusst. Er deckt an ihr eine faktische und eine prinzipielle Grenze auf.11 Faktisch endet die moralische Überzeugungskraft des Schöpfungsglaubens an der Grenze der Gemeinschaft der Menschen, die an die Welt als Schöpfung eines guten Gottes glauben. Für jene, die diesen Glauben nicht teilen, sind die aus ihm abgeleiteten Forderungen Handelns macht, steht im Zentrum des Spätwerks von Hans Jonas. Für die Entfaltung und Begründung dieser Ethik greift er sowohl auf seine religionsphilosophischen und theologischen Arbeiten wie auf die von ihm entfaltete »philosophische Biologie« zurück, von der noch die Rede sein wird. Deshalb ist die Frage nach der letzten Begründung für den von Jonas aufgestellten Imperativ auch nur im Rückgriff auf sein Gesamtwerk angemessen zu beantworten. 8 Vgl. dazu nur die zahlreichen Registerverweise zu Hans Jonas, Organismus und Freiheit, in: KGA I/1, S. 301–359, Registereintrag Schöpfer / schöpferisch / Schöpfung: S. 746; zu KGA II/2 (Ontologische und wissenschaftliche Revolution) den Registereintrag creation / Creator / creature; S. 375; zu KGA III/2 (Herausforderungen und Profile. Jüdisch-deutscher Geist in der Zeit – gegen die Zeit), den Registereintrag Schöpfer / Schöpfung / creation / Creator: S. 516. 9 Jonas: Prinzip, S. 392. 10 Vgl. Die Bibel, Genesis 1, 10 und nachfolgend; im Blick auf die gesamte Schöpfung wird in Genesis 1,31 sogar gesagt: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut.« 11 Zentral für die folgenden Darstellungen ist Hans Jonas: »Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?«, in: Dietrich Böhler, Jens Peter Brune (Hg.): Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004, S. 71–84; Erstveröffentlichung in: Zentralkomitee der Deutschen Katholiken (Hg.): Dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt. 88. Katholikentag, München 4.–8. Juni 1984. Dokumentation, Paderborn 1984, S. 934–945.

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schlicht irrelevant.12 Es sei denn, es gelänge, sie auf ein anderes Fundament zu gründen. Im Verweis auf eine solche Notwendigkeit nimmt Jonas vorweg, was Jürgen Habermas deutlich später als Übersetzung religiöser Bedeutungs- und Verpflichtungspotentiale in eine säkulare Sprache fordert.13 Die prinzipielle Grenze einer schöpfungstheologischen Begründung einer moralischen Verantwortung aber ist auch für die Glaubenden selbst eine Herausforderung. Soll nämlich, so Jonas, die Begründung der Güte des Seins durch den Verweis auf ihren guten Schöpfer keine rein dezisionistische Ausflucht sein, muss es möglich sein, mit Mitteln der Vernunft die Güte des Seins und der Welt zu erweisen.14 Die von Jonas hier benannte Notwendigkeit ist bereits von Platon herausgestellt worden. So suchen im Dialog Eutryphon Sokrates und dessen Gesprächspartner die Frage zu klären, in welchem Verhältnis das »Fromme«, »Angemessene« im zum von den Göttern Geliebten, dem »Gottgefälligen« steht. Indem Sokrates herausstellt, dass das Fromme nicht fromm ist, weil es die Götter lieben, sondern die Götter das Fromme lieben, weil es fromm ist, weist seine Forderung in die gleiche Richtung wie die von Jonas gestellte Aufgabe: Das Gute muss unabhängig vom Willen Gottes bestimmt werden, weil es Maßstab auch für den Willen eines guten Gottes sein muss.15 Ex negativo lässt sich die Notwendigkeit einer glaubensexternen Begründung für die Güte der Schöpfung und ihres Schöpfers schließlich durch das religionsgeschichtliche Faktum erweisen, dass es Schöpfungsvorstellungen gibt, die gerade die Defizienz der irdischen Wirklichkeit betonen. Dies gilt etwa für die – von Jonas ausführlich erforschten – gnostischen Anschauungen der Antike.16 In ihnen findet sich die Überzeugung, dass ein von der göttlichen Wahrheit abgefallener Gott die Erde als eine gottwidrige Wirklichkeit erschaffen hat.17 Jonas interpretiert diese dualistische Anschauung als Resultat einer veränderten Alltagserfahrung. Der Übergang von der griechischen Polis, in der die Ordnung unmittelbar erfahrbar gewesen sei, in das hellenistische Großreich habe dazu geführt, dass der Einzelne die Welt nicht mehr alltäglich als gut geordneten »Kosmos« erlebt habe. Vielmehr habe er sich im Kampf zwischen Ordnung und Unordnung, Gut und Böse auf sich selbst zurückgeworfen erlebt und nach einem Ausweg aus diesem Widerstreit geVgl. Jonas: Pflicht, S. 74. Vgl. Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt 2001, S. 20–25. 14 Vgl. Jonas: Pflicht, S. 74 f. 15 Vgl. Platon: »Eutryphon«, in: ders.: Werke, Bd. 1, hg. v. Gunther Eigler, Sonderausgabe, Darmstadt 1990, S. 351–397, hier: 10d. 16 Über Jahrzehnte hat sich Jonas intensiv mit dem Phänomen gnostischen Denkens in der Antike befasst. Angefangen von seiner 1930 teilweise publizierten Dissertation: Der Begriff der Gnosis, Göttingen 1930, über zwei voluminöse Bände: Gnosis und spätantiker Geist, 2 Bde., Bd. 1: Göttingen 1934, Bd. 2 Göttingen 1954, bis hin zu seiner aktualisierenden und an ein breiteres Publikum adressierten Darstellung: The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, 2nd Ed., Boston 1992 (1. Aufl., Boston 1958; dt. Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt 1999). 17 So etwa in der Lehre des Marcion, die eine gnostische Interpretation des Christentums war. Vgl. dazu Jonas: Botschaft, S. 164–182, und Christoph Markschies: Die Gnosis, München 2001, S. 86–89. Eine der ersten ausführlichen und zugleich bis heute umstrittensten Darstellungen der Gnosis ist das Spätwerk von Adolf von Harnack: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 1921. 12 13

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sucht. Beides – der erlebte Konflikt wie die ersehnte Erlösung – habe zu einem dualistischen Denken geführt, in dem die erfahrbare Welt und ihr Schöpfer eindeutig auf die Seite des Bösen gestellt sei.18 Folgerichtig, so Jonas, kenne das gnostische Denken keine Verantwortung des Menschen für das Leben auf der Erde. Vielmehr führe sein Nihilismus entweder in einen weltverachtenden Asketismus oder in einen rücksichtslosen Libertinismus.19 So bleibt als erstes Ergebnis festzuhalten: Zwar können der »Gottesbegriff nach Auschwitz« und ihm verwandte Schriften den Eindruck erwecken, Jonas ziele auf eine schöpfungstheologische Begründung der Ethik. Doch Jonas selbst betont nicht nur, dass ein solches Fundament die Forderung nach einer universalen Zukunftsethik nicht tragen kann; er erhebt auch den Anspruch, in seiner Philosophie die umfassende Gültigkeit des »Prinzips Verantwortung« begründet zu haben. Wie und ob der diesem von ihm selbst erhobenen Anspruch gerecht geworden ist, gilt es nun zu prüfen.

II.2. Ontologische Einsicht: Die Selbstbejahung des Lebens Jonas’ Bemühen, das Sein als wertvoll und damit als Gegenstand ethischer Verantwortung zu erweisen, ist eng verbunden mit seiner so genannten philosophischen Biologie. Deren vorrangiges Anliegen besteht darin, die Kosmogonie und die Evolutionslehre philosophisch so zu rekonstruieren, dass der Cartesische Dualismus von Materie und Geist, res extensa und res cogitans überwunden wird.20 Darauf wird zurückzukommen sein. Zunächst aber ist in ethischem Interesse ein anderes Motiv hervorzuheben: Jonas plädiert dafür, für das Verständnis der Entwicklung von Welt und Leben nicht allein nach Wirkursachen, den causae efficientes zu forschen, deren Folge der jeweils nächste Entwicklungsschritt war. Er möchte darüber hinaus das Modell der causa finalis, der Zielursache neu zur Geltung bringen.21 In der Regel – »Der Gottesbegriff nach Auschwitz« ist die Ausnahme davon – verzichtet Jonas darauf, der Entwicklungsgeschichte prognostisch ein Endziel vorauszusetzen. Seine Argumentation setzt, weit vorsichtiger, post factum – und damit im Blick auf die noch künftige Entwicklung vorläufig an: Jeder Punkt der Evolution von Kosmos und Leben kann als Ziel des ihm vorausgegangenen Prozesses verVgl. Jonas: Botschaft S. 296–301. Diese Interpretation der Gnosis ist ein besonders anschauliches Beispiel für die Hermeneutik, mit der Hans Jonas religionsgeschichtliche Texte aufzuschließen versucht. Er versteht sie als die in ein Bild- und Denksystem gegossene Selbst- und Welterfahrung von Menschen einer bestimmten Epoche und Kultur. Dieser These folgend, sieht es Jonas als seine Interpretationsaufgabe, die in diesen Texten geronnene Lebenserfahrung zu ergründen. Zu dieser in Auseinandersetzung mit seinen Lehrern Heidegger und Bultmann entwickelten Methode vgl. als prägnante Zusammenfassung: Hans Jonas: Zur hermeneutischen Struktur des Dogmas, in: KGA III/1, S. 150–160. 19 Vgl. Hans Jonas: »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, in: ders.: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, 2. Aufl., Göttingen 1987, S. 5–25 (amerikan. Original: Gnosticism and Modern Nihilism, in: Social Research 19 [1952]). 20 Vgl. Jonas: Organismus, S. 19–49. 21 Vgl. ebd., S. 64–71. 18

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standen werden. Von allem zuvor Geschehenen kann damit rein formal gesagt werden, dass es auf dieses Ziel hingeführt hat, dieses Ziel zum Zweck hatte. So argumentiert Jonas explizit im Blick auf den Menschen als die in bestimmter Hinsicht bisher höchste Stufe des biologischen Entwicklungsprozesses, als dessen Zweck es deshalb bezeichnet werden kann, den Menschen hervorgebracht zu haben.22 Doch diese Argumentation leistet nicht mehr, als die gegenwärtige Faktizität und die zu ihr führende Entwicklung zu konstatieren. Von einer ethischen Qualität ist diese Rekonstruktion noch nicht, weil ja über den Wert oder Unwert des Lebens überhaupt oder seiner Hervorbringung menschlichen Lebens die reine Faktizität keine Auskunft gibt.23 Mit einer zunächst sehr abstrakten transzendentallogischen Überlegung vollzieht Jonas den nächsten Argumentationsschritt: Erst mit der Entwicklung des menschlichen, vernunftbegabten und urteilsfähigen Geistes besteht überhaupt die Möglichkeit einer ethischen Zwecksetzung und damit eines Wertes.24 Selbstverständlich ist mit dieser Möglichkeit allein dieser ethische qualifizierte Zweck der Evolution oder des menschlichen Geistes nicht schon gesetzt. Gleichwohl sieht Jonas sich zu einer ersten Wertung berechtigt: »In der Fähigkeit, überhaupt Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist.«25 Diese zunächst nur »intuitive« Gewissheit sucht Jonas unter Rückgriff auf die ontologischen Überlegungen seiner »philosophischen Biologie« argumentativ zu untermauern. Als einen qualitativen Sprung in der Entwicklungsgeschichte der Erde und des Kosmos bezeichnet Jonas die Entstehung von Leben. Das Leben ist untrennbar an die zu ihm führenden Veränderungen der Materie gebunden, weil Leben nur materiell, als lebendige Materie denkbar ist. Als eindeutiges Unterscheidungsmerkmal zwischen lebloser und lebendiger Materie benennt Jonas den Stoffwechsel. Dieser wird für ihn zum Gegenstand weitreichender ontologischer Zuschreibungen. Jedem lebenden Organismus kommen, so Jonas, drei Eigenschaften zu, die der leblosen Materie fehlen: »Innerlichkeit«, weil der Organismus durch die Unterscheidung seiner selbst von seiner Umwelt sich als Innen von seinem Außen abgrenzt; »Transzendenz«, weil der Stoffwechsel der ständigen Überschreitung dieser Grenze bedarf, um Stoffe von außen aufzunehmen und nach außen abzugeben; »Freiheit«, weil Leben stets vor der grundsätzlichen Alternative steht, sich durch den Vollzug des Stoffwechsels zu bewahren oder durch den Abbruch des Stoffwechsels

Vgl. Hans Jonas: Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, in: KGA III/1, S. 241–285, hier: S. 252–255. 23 Vgl. Jonas: Pflicht, S. 76: »Insoweit also Ziele tatsächlich in der Natur, einschließlich der unsrigen, angelegt sind, scheinen sie keine andere Würde als die der Tatsächlichkeit zu genießen«. Ausführlich dazu: Jonas: Prinzip, S. 107–150. 24 An dieser Stelle seiner Argumentation ist Jonas Kant näher als er es explizit zu erkennen gibt. Ist doch die Selbstzwecklichkeit des Menschen, auf die die dritte Fassung des kategorischen Imperativs zielt, der Bestimmungsgrund einer auf sich selbst verpflichteten Freiheit. Vgl. Immanuel Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., Werke, Bd. 6, hg. v. Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe, Darmstadt 1983, hier: BA 62–67. 25 Jonas: Pflicht 76. 22

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zu sterben.26 Das Leben, so Jonas, stellt eine einzigartige Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit dar: Es ist notwendig auf den Stoffwechsel angewiesen, dessen Zustandekommen aber kontingent ist, also auch in Freiheit abgebrochen werden kann. Mit Hilfe der so eingeführten Begrifflichkeit kann Jonas zu seiner in ethischer Hinsicht grundlegenden Aussage kommen: Leben ist, solange es besteht, eine sich stets neu bestätigende Selbstaffirmation. Leben qualifiziert sich, indem es lebendig bleibt, als des Lebens Wert, als Selbstzweck. »In der Zielstrebigkeit als solcher, deren Wirklichkeit und Wirksamkeit durch das Leben bezeugt ist, können wir eine grundsätzliche Selbstbejahung des Seins sehen, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein setzt.«27 Jonas ist sich durchaus bewusst, dass die Anwendung der Begriffe »Innerlichkeit«, »Transzendenz« und vor allem »Freiheit« auf schon primitivste Formen des Lebens ungewöhnlich ist. Denn er muss Konnotationen, die bei der Anwendung dieser Begriffe auf den Menschen selbstverständlich sind, ausblenden – allen voran die Zuschreibung von Bewusstsein, gar Selbstbewusstsein, die für einen gehaltvollen Begriff von Freiheit als unverzichtbar gilt. Diesen weitreichenden Unterschieden trägt Jonas Rechnung, indem er den Evolutionsschritt zum menschlichen Bewusstsein und Selbstbewusstsein nochmals eigens hervorhebt und von der Entwicklung, die zu ihm führte, explizit unterscheidet. Erst der Mensch kann bewusst seine Freiheit nutzen, den Wert des Lebens nicht nur anzuerkennen, sondern auch als Orientierung seines Handelns zu wählen. Erst der Mensch ist zu Verantwortung und Schuld fähig.28 Doch gerade von diesem Verständnis des Menschen aus wird sichtbar, mit welchem Ziel Jonas schon in den ersten Formen des Lebens von Innerlichkeit, Transzendenz und Freiheit spricht. So wie das Leben nicht von der Materie zu trennen ist, so ist der menschliche Geist nicht von seinem lebendigen Körper und dessen hoch entwickeltem Gehirn zu trennen. Mag die Entwicklungsgeschichte auch Sprünge aufweisen, die zu qualitativen Veränderungen führen: Die in ihr waltende Kontinuität ist so groß, dass kein dualistischer Gegensatz zwischen dem Ergebnis einer Entwicklung und ihren Vorstufen konstruiert und behauptet werden darf. Im hier interessierenden Zusammenhang bedeutet das für Jonas: Im Phänomen des sich selbst affirmierenden Lebens, das in ihm selbst wie in allen anderen Lebewesen gegeben ist, begegnet der Mensch der Forderung, diese Affirmation bewusst mitzuvollziehen, sich von ihr in die Pflicht nehmen zu lassen und die Verantwortung für das Leben zu übernehmen.29 Vgl. Jonas: Organismus, S. 159–166; ausführlicher: Hans Jonas: Evolution und Freiheit, in: KGA III/1, S. 209–226, und Jonas: Prinzip, S. 153–171. 27 Jonas: Pflicht, S 77. 28 Vgl. Jonas: Pflicht, S. 78; ders.: Gottesbegriff, S. 413: »Die Heraufkunft des Menschen bedeutet die Heraufkunft von Wissen und Freiheit, und mit dieser höchst zweischneidigen Gabe macht die Unschuld des bloßen Subjekts sich selbst erfüllenden Lebens Platz für die Aufgabe der Verantwortung unter der Disjunktion von Gut und Böse«. 29 Im Schlussabschnitt seiner philosophischen Biologie erhebt Jonas den Anspruch, die ursprüngliche Einheit von Ontologie und Ethik durch die Überwindung eines dualistischen Denkens wiederhergestellt zu haben. Jonas: Organismus, S. 358: »Ontologie als Grundlage der Ethik war der ursprüngliche Standpunkt der Philosophie. Die Scheidung der beiden, welche die Scheidung des ›objektiven‹ und des ›subjektiven‹ Reiches ist, ist das moderne Schicksal. Ihre Wiedervereinigung kann, wenn überhaupt, nur von der ›objektiven‹ Seite her bewerkstelligt werden; das heißt: durch eine Revision der Idee der Natur. 26

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»Da in ihm [dem Menschen, M.B.] das Prinzip der Zweckhaftigkeit durch die Freiheit, sich Zwecke zu setzen, und die Macht, sie auszuführen, seine höchste und zugleich selbstbedrohende Spitze erreicht hat, so wird im Namen des Prinzips er sich selber erst zum Gegenstand des Sollens, nämlich des Gebotes, nicht das in ihm Erreichte, wie er auch kann, durch die Art seiner Nutzung zu verderben.«30 Hans Jonas erhebt den Anspruch, mit dieser Argumentation seiner selbstauferlegten Begründungspflicht genüge getan zu haben. Im sich immer schon selbstbejahenden Leben begegnet dem Menschen die Pflicht, für das Leben und die Sicherstellung seiner Möglichkeit die Verantwortung zu übernehmen, die nur der lebendige Mensch übernehmen kann. II.3. Macht und Mitleid Zwei über diese Grundlegung des Prinzips Verantwortung hinausgehende Gedankengänge seien nur kurz erwähnt: Zum einen geht es Jonas um Begründung, warum die Verantwortung des Menschen sich nicht nur auf die jeweilige Gegenwart, sondern vor allem auf die künftige Möglichkeit bezieht. Denn seiner Auffassung nach nehmen die überkommenen Grundlegungen der Ethik sich dieser Aufgabe nicht an. Jonas rekurriert zu diesem Zweck auf ein Argument, das in den vertrauten ethischen Diskursen die Verantwortung des Menschen eher limitiert als ausweitet. Es besagt, dass die Verantwortung des Menschen nur so weit reicht wie seine Macht, etwas zu tun und zu bewirken.31 Im so genannten technologischen Zeitalter aber, so Jonas, hat diese Wirkmacht in einem zuvor ungeahnten und noch heute nur schwer vorstellbaren Maße zugenommen. Erstmals ist der Mensch in der Lage, das ökologische System der Erde so massiv und nachhaltig zu zerstören, das künftiges Leben unmöglich wird. Im Blick auf diesen sich erschreckend öffnenden Horizont formuliert Jonas seinen zukunftsethisch gewendeten kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.«32 Zum anderen weiß Jonas bei all seinen Bemühungen um eine rationale Begründung des Prinzips Verantwortung um die wenig ermutigende Tatsache, dass Menschen allzu Und es ist die werdende viel mehr als die bleibende Natur, die eine derartige Aussicht bietet. Aus der inneren Richtung ihrer totalen Evolution läßt sich vielleicht eine Bestimmung des Menschen ermitteln, gemäß der die Person im Akt der Selbsterfüllung zugleich ein Anliegen der ursprünglichen Substanz verwirklichen würde«. 30 Jonas: Pflicht, S. 83. 31 Vgl. ebd., S. 81–83. 32 Jonas: Prinzip, S. 36. Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt 2011, geht einen vergleichbaren Weg. Seiner Auffassung können die wichtigen, aber prinzipiell unmöglichen Versuche, die Menschenrechte auf eine Letztbegründung zurückzuführen, nicht erklären, warum diese Rechte überhaupt entstanden sind und heute zunehmende Akzeptanz erfahren. Dies wird, so Joas in seiner »affirmativen Genealogie« (ebd., S. 15), nur verständlich wenn man die »subjektive Evidenz und affektive Intensität« berücksichtigt, die mit dem Erleben von Menschenrechtsverletzungen verbunden sind. Diese führen, so Joas in Anknüpfung an Emile Durkheim, zu einer »Sakralisierung der Person«, auf deren Grundlage die Formulierung und Akzeptanz von Menschenrechten ihre Kraft gewinnen.

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selten bereit und in der Lage sind, sich von einer Begründung ihrer ethischen Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, überzeugen zu lassen – und ihr noch seltener in ihrem Handeln auch folgen. Es bedarf dazu offenbar einer Motivation, die der gleichwohl unverzichtbare philosophische Diskurs nur selten zu wecken vermag. Jonas nennt das Mitleid, das ethische Weisungen nicht begründen, aber Menschen motivieren kann, solchen Weisungen zu folgen.33 Und als ein in die Zukunft gewendetes Mitleid empfiehlt Jonas in Entscheidungssituationen eine »Heuristik der Furcht«34: Die Imagination denkbar fürchterlicher Folgen heutiger Entscheidungen und Handlungen kann das Mitleid mit den Nachgeborenen wecken, die unter diesen Folgen leiden würden – und dazu motivieren, dem von Jonas formulierten kategorischen Imperativ zu folgen.

III. Begründete Pflicht und legitimer Glaube An den Hinweis auf das Mitleid als Motivation, die Pflicht zur Verantwortung zu übernehmen, darf man sicher auch – nicht zuletzt im Blick auf Jonas selbst – einen Verweis auf den biblisch gegründeten Schöpfungsglauben anschließen. Menschen, die an einen Gott glauben, der die Welt aus Liebe geschaffen und freigelassen hat, werden sich von diesem Gott in die Pflicht genommen wissen, Verantwortung für diese Schöpfung zu übernehmen. Indem sie diese Pflicht übernehmen erweisen sie sich als die »Ebenbilder Gottes«, als die sie geschaffen wurden – und geben Gott kraft ihrer Freiheit die Anerkennung, die er ihnen zuerst schenkte. Insofern ist der Schöpfungsglaube weit mehr als ein »Dekor« im Denken von Hans Jonas. Er ist eine Kraft, von der Jonas in seinem Denken angetrieben wurde, und die durch seine Schriften zumindest die Leserinnen und Leser erreicht, die diesen Glauben teilen. Doch als argumentatives Fundament der von ihm entwickelten Ethik nutzt Jonas diesen Glauben nicht, denn er weiß, dass dieser dazu nicht taugt. Deshalb erarbeitet Jonas eine von den Voraussetzungen des Glaubens unabhängige Ethik, die mit allein philosophischen Argumenten erweisen soll, dass dem Sein, in dem sich nicht zuletzt das Leben entwickeln konnte, ein Wert zukommt, der den Menschen in die Verantwortung für dieses Leben nimmt.35 Der Weg, den Jonas mit diesem Ziel einschlägt, ist gangbar, wenn und insofern man mit Jonas den Mut teilt, »metaphysische Vermutungen«36 anzustellen. Denn schon seine für die Grundlegung der Ethik herangezogene »philosophische Biologie« trägt als Ontologie unverkennbar metaphysische Züge – und nicht erst seine »Vermutungen« über den göttlichen Urheber des Seins.37 Dass es Jonas gelungen ist, den biblischen Vgl. Jonas: Pflicht, S. 81; ausführlicher Jonas: Prinzip, S. 192–195, 234–250. Ebd., S. 391. 35 Vgl. Jonas: Organismus, S. 359: Es »bleibt die Tatsache, daß eine Ethik, die sich nicht mehr auf göttliche Autorität gründet, durch ein in der Natur der Dinge entdeckbares Prinzip begründet werden muß, soll sie nicht dem Subjektivismus oder anderen Formen des Relativismus zum Opfer fallen«. 36 Vgl. den Titel der letzten von Jonas selbst redigierten Sammlung einiger seiner zentralen Texte: Hans Jonas: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt / Leipzig 1992. 37 Solche spekulativen Ansätze, von der Gegebenheit des Geistes auf einen schöpferischen Geist zu 33 34

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Schöpfungsglauben in eine solche Ontologie zu übersetzen, konnte die hier vorgelegte Darstellung erweisen. Damit hat er nicht zuletzt den Glauben an einen guten Gott und die Güte der von ihm geschaffenen Welt philosophisch als legitim erwiesen. Ob aber die von Jonas vorgelegte Argumentation in einer Gegenwart, die noch einmal anders als die Jahre, in denen »Das Prinzip Verantwortung« entstand, als nachmetaphysische Zeit gelten kann, noch trägt, muss hier nicht entschieden werden. Aus der Einschätzung, dass der Übersetzer Jonas heute selbst noch einmal übersetzt werden muss,38 ist nicht zuletzt der im folgenden Beitrag39 dargestellte Begründungsversuch entwickelt worden.

schließen, finden sich etwa in Jonas: Materie, S. 264–82, oder in ders.: Vergangenheit und Wahrheit, in: KGA III/1, S. 445–457. 38 Unter den Autoren, die konstruktiv an das philosophische Denken von Hans Jonas anknüpfen, nimmt Dietrich Böhler wegen seiner umfassenden Kenntnis von dessen Gesamtwerk und seiner zahlreichen weiterführenden Schriften eine herausragende Stellung ein. Indem Böhler im Werk von Hans Jonas Ansätze einer nicht mehr ontologischen, sondern diskurspragmatischen Fundierung einer Zukunftsethik aufspürt und diese weiterführt, zählt sicher auch er zu den »Übersetzern« von Hans Jonas in einen veränderten philosophischen Kontext. Vgl. dazu exemplarisch Dietrich Böhler: »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil: Begründung. Zwischen Metaphysik und Reflexion im Dialog«, in: ders./ Jens Peter Brune (Hg.): Orientierung, S. 97–159; vor allem aber ders.: Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München 2013. 39 Vgl. den Beitrag von Holger Burckhart in diesem Band.

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Literatur Baum, Wolfgang: Gott nach Auschwitz. Reflexionen zum Theodizeeproblem im Anschluss an Hans Jonas, Paderborn u. a. 2004. Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, hg. v. der Katholischen Bibelanstalt u. a., Stuttgart 1983. – Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der sprachpragmatischen Wende, Freiburg/München 2013. Böhler, Dietrich: »Ethik der Zukunfts- und Lebensverantwortung. Erster Teil: Begründung. Zwischen Metaphysik und Reflexion im Dialog«, in: ders./Brune (Hg.): Orientierung, S. 97–159. – /Brune, Jens Peter (Hg.): Orientierung und Verantwortung. Begegnungen und Auseinandersetzungen mit Hans Jonas, Würzburg 2004. Burckhart, Holger: »Verantwortungsethik«, in diesem Band. Habermas, Jürgen: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, Frankfurt 2001. Harnack, Adolf von: Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche, Leipzig 1921. Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt 2011. Jonas, Hans: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Dietrich Böhler u. a. (=KGA), Freiburg/Berlin/ Wien 2010 ff. (Texte von Hans Jonas werden, soweit sie dort schon erschienen sind, nach dieser Ausgabe zitiert. Frühere Versionen zitierter Texte sind in den Fußnoten nachgewiesen, in dieses Literaturverzeichnis aber nicht mehr aufgenommen). – Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt 1999. – Evolution und Freiheit, in: KGA III/1, S. 209–226. – »Gnosis, Existentialismus und Nihilismus«, in: ders.: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, 2. Aufl., Göttingen 1987, S. 5–25. – Der Begriff der Gnosis (Teildruck der Dissertation), Göttingen 1930. – Gnosis und spätantiker Geist, 2 Bde., Bd. 1: Göttingen 1934, Bd. 2 Göttingen 1954. – Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, in: KGA III/1, S. 407–426. – Materie, Geist und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, in: KGA III/1, S. 241–285. – Organismus und Freiheit, in: KGA I/1, S. 301–359. – »Wie können wir unsere Pflicht gegen die Nachwelt und die Erde unabhängig vom Glauben begründen?«, in: Böhler/Brune: Orientierung, S. 71–84. – Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 2003. – Zur hermeneutischen Struktur des Dogmas, in: KGA III/1, S. 150–160. – Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt / Leipzig 1992. – Vergangenheit und Wahrheit, in: KGA III/1, S. 445–457. Jüngel, Eberhard: »Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung. Ein Beitrag zum Gespräch mit Hans Jonas über den ›Gottesbegriff nach Auschwitz‹«, in: ders.: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, S. 151–162.

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Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: ders., Werke, Bd. 6, hg. v. Wilhelm Weischedel, Sonderausgabe, Darmstadt 1983, S. 9–102. Markschies, Christoph: Die Gnosis, München 2001. Platon: »Eutryphon«, in: ders.: Werke, Bd. 1, hg. v. Gunther Eigler, Sonderausgabe, Darmstadt 1990, S. 351–397. Pröpper, Thomas: »Fragende und Gefragte zugleich. Notizen zur Theodizee«, in: ders.: Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg u. a. 2001, S. 266–275. Schiwy, Günther: Abschied vom allmächtigen Gott, München 1995. Wetz, Franz J.: »Abschied von Gott. Anmerkungen zu Hans Jonas und Hans Blumenberg«, in: Peter Koslwoski, Friedrich Hermanni (Hg.): Der leidende Gott. Eine philosophische und theologische Kritik, München 2001, S. 135–147.

Verantwortungsethik – ist VE ohne Hans Jonas Metaphysik aber mit seinem universalen Anspruch heute verteidigbar? Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus Holger Burckhart (Siegen)

I. Einige Vorbemerkungen zu ›Verantwortung‹ als Thema der Praktischen Philosophie/ Ethik II. Hans Jonas: ›Du trägst Verantwortung, weil Du kannst‹ 1. Spekulative Theologie. Gnosis und spätantiker Geist 2. Organismus und Freiheit. Grundspannung einer ›Philosophischen Biologie‹ 3. ›Prinzip Verantwortung‹ 4. Organische Natur als Schutzbedürftige und ihre advokatorische Vertretung III. Überwindung der metaphysisch-heuristischen Grundlegung der Verantwortungsethik zu einer dialogisch-diskursiven Zukunftsethik der Mitverantwortung 1. Kritische Anmerkungen zum metaphysischen Hintergrund der Jonasschen Ethik 2. Mitverantwortung als Prinzip einer dialogisch-diskursiven Zukunftsethik Schlusswort mit Hans Jonas. ›Fatalismus wäre Todsünde‹ Anhang. Hans Jonas. Biografie und Bibliografie

I Einige Vorbemerkungen zu ›Verantwortung‹ als Thema der Praktischen Philosophie/Ethik ›Verantwortung‹ als Problemtitel der Praktischen Philosophie/Ethik terminiert traditionell in Kontexten individuell zuschreibbaren, kausal herbeigeführten menschlichen Handelns. Gleichgültig dagegen, ob es sich auf Kosubjekte, Sachverhalte oder Gegenstände bezieht1, reklamieren wir bei der Zuschreibung von ›Verantwortung‹, dass ein Agens (Handlungssubjekt), dessen willentliches, autonomes Handeln wir präsupponieren, gegenüber sich selbst und uns sein Handeln und gegebenenfalls dessen Wirkung ›vertreten‹ kann, dass heißt ›Rechenschaft ablegen kann‹ über motivationale und/oder sachbezogene Gründe seines Handelns.

In der naturrechtlichen Tradition sprach man darüber hinaus bekanntlich sowohl nichtmenschlichen Lebewesen ›Verantwortung‹ im Sinne von Schuldfähigkeit zu, als auch nichtlebenden, ökosphärischen Elementen, wie beispielsweise den Wetterbedingungen, die man personifizierte und ›ihnen‹ opferte. 1

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Diese Erwartung wird gespeist aus der uns selbst zugeschriebenen Freiheit zum Handeln, welche wir uns – zumindest seit Kant – als Vernunftsubjekte gegenseitig unterstellen. Ohne eine solche Unterstellung wäre die Rede von ›Verantwortung‹ zumindest in moralischem Sinne sinnlos und beschränkte sich auf moralneutrale Kausalität.2 ›Verantwortung‹ erscheint in diesem ersten Zugriff als Teilaspekt unserer moralischen Kompetenz und deren Entwicklung resp. Herausbildung und nicht als etwas, das uns im Laufe unserer onto- und phylogenetischen Entwicklung ›zuwächst‹, oder als etwas, was uns quasi biologisch-natürlich ›zu Eigen‹ ist. Zunächst formuliert ›Verantwortung‹ – als Folgegedanke der Kant’schen Freiheitsidee – wohl am ehesten eine reziproke Erwartungshaltung, dergestalt, dass wir von uns und reziprok von jedem anderen ›Vernunftsubjekt‹ erwarten, dass wir/es für unser/sein Handeln und Denken, sowie insbesondere gegenüber den Konsequenzen des Handelns und Denkens, uns/sich zu rechtfertigen, in der Lage sind/ist, dass heißt, mit Gründen unser/sein Handeln und Denken ›vertreten‹ können/ kann. ›Verantwortung‹ schreiben wir hier eine erste moralische Qualität zu, da wir mit ihr sowohl Handlungsfreiheit als auch Begründen-können unterstellen. Mit anderen Worten: Wir erwarten von einem Individuum, dass es als Person, also als ein um sich wissendes, exzentrisch-positionales Lebewesen unter Bezug auf sich selbst, sein Handeln und Denken nicht nur theoretisch-formalistisch zum Thema macht, sondern für es ›verantwortlich‹ zeichnet. Zuschreibungen von ›Verantwortung‹ setzen damit schon beim einfachen Behaupten von etwas, bei Aussagen zu/über etwas ein, als und insofern ich mich nämlich mit einem derartigen Äußerungsakt bereits verpflichte, sie in die Verantwortung nehme, ihn selbst, meine Motive ihn zu vollziehen etc., zu begründen. Eine erste Stufe der Ausbuchstabierung prinzipieller Begründungsverpflichtung wäre sicherlich das Thematisieren (reden über), wesentlich qualitätsvoller ist aber eine aktual begründende Vertretung für das jeweilige Denken und Handeln (›reden über‹).3 Verantwortung terminiert dann in der individuellen Zuschreibung von Kausalität aus Freiheit: Ich unterstelle dem Anderen und reklamiere für mich selbst, dass Handlungsund/oder Denkakte dergestalt ›verursacht‹ sind, dass es Alternativen gegeben hätte und ich entsprechend Gründe angeben und/oder einklagen kann, warum X und nicht Y gehandelt oder gedacht wurde. Dergestalt versteht sich ›Verantwortung‹ primär als persönlich-individuell zurechenbare Entscheidungs- und daraus abgeleitete, zumindest bedingte Folgenverantwortung.4 Eine zweite Ebene moralischer Qualität ist damit beschritten. Vgl. auch Alan Gerwirth: Reason and Morality. Chicago 1978. Karl Steigleder: Grundlegung der normativen Ethik. Freiburg 1999. Marcus Düwell: »Die Bedeutung ethischer Diskurse in einer wertpluralen Welt«, in: Angewandte Ethik als Politikum, hg. v. Matthias Kettner. Frankfurt/M. 2000. 3 Ein interessanter Zirkel ergibt sich einerseits aus der Situation des Verantwortens des ›Verantwortens‹ (können wir verantworten, dass wir ›Verantworten‹ verantwortlich unterstellen oder einklagen, andererseits aus den Modi des Rechtfertigens: Gefühle neben Argumenten, Sprachäußerungen neben Bildern und Metaphorik, mit denen wir zugleich uns selbst und gegebenenfalls unsere Idee von ›Verantworten‹ oder sich ›Verantwortlich zeigen (Mitverantwortung einklagende Bilder (Guernica)‹ darstellen und uns rechtfertigen für den jeweiligen Modus, den wir wählen, um ›Verantwortungsübernahme‹ auszudrücken, mit anderen Worten: Das Medium des Verantwortens ist identisch mit dem Medium der Begründung der Wahl des Mediums des Verantwortens. 4 Vgl. v. Verf. Erfahrung des Moralischen. Hamburg 2000. Im Rahmen von Forschungsverantwortung 2

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Beugen wir uns noch radikaler zurück. Wir tragen ›Verantwortung‹, aber wie ist es uns möglich, Verantwortung zu tragen? Was sind die Sinnbedingungen, die wir unterstellen und antizipativ immer schon eingelöst haben müssen, sodass wir Verantwortung tragen können?5 Aus dem Vorigen können wir bereits ausschließen, dass wir sinnvoll von ›Verantwortung‹ reden können, wenn wir sie als Teil der biologischen Verfasstheit des Menschen fassen, ebenso können wir sie nicht auf einen spezifischen moralischen Aspekt wie ›Wohlergehen‹, ›Gerechtigkeit‹ reduzieren, schließlich ist es aber auch problematisch, sie als Moment einer normativen Idee vom Menschen resp. seiner Würde anzusehen6, denn dies hätte, jedenfalls wenn wir ein metaphysisch-ontologisches Konzept von Menschenwürde vertreten, die unliebsame Konsequenz, dass ich nicht aufweisen könnte, warum es eine Handlungspflicht, d. i. eine Pflicht zur Verantwortungswahrnehmung, gibt. Jedenfalls kann ich eine solche Pflicht nicht nachweisen, ohne zu unterstellen, dass die Verantwortung im Gegebensein vom Menschen schon mit-gegeben ist. Dies wäre nur auf Kosten einer petitio principii möglich. 7 Als Ausweg erscheint einzig der sinnkritisch-dialogische Ausweis, dass ›Verantworten‹ unverzichtbares und unhintergehbares Moment eines sinnund geltungshaften Vollzuges und Bezuges des Menschen ist. Der Mensch wird hierbei gedacht als Exemplar derjenigen Gattung, der wir Vernunft in dem Sinne zusprechen, dass es auf Andere/s und sich selbst Bezug nehmen kann und eben dies reflektieren, d. i. sich auf eben dieses Bezugnehmen ›zurückbeugen‹ kann. Auf diese Möglichkeit komme ich zurück. Wohl ist eine dritte Stufe moralischer Qualität erreicht. Zunächst sind zur weiteren Klärung der Dimensionen des Problemtitels ›Verantwortung‹ weitere Differenzierungen von Nöten. In Übereinstimmung mit Kurt Bayertz scheide ich grundsätzlich synchron und diachron ein Zurechnungs- von einem Kausalitäts- und einem Prinzipverständnis von Verantwortung. 8 Verantwortung als Zurechnung stellt die erste Phase der (Ideen-)Geschichte von ›Verantwortung‹ in der abendländischen Ethik dar. Sie ergibt sich für Bayertz aus dem Verhältnis des Menschen zur Natur, genauer: seiner Eingelassenheit in Natur. Der Ursache für etwas – einem Naturereignis, wie menschlichem oder tierischem Handeln – wird ›Schuld gegeben‹. Verantwortung wird in dieser Form auch in der Natur gesehen und

führt dies zu dem von der Wissenschaft beklagten, von der Ethik zurückgewiesenen Dilemma zwischen Nutzung von Wissen und Forschen als vorgeblich ›gesellschaftlich neutrales‹ Handeln. Folgenverantwortung wird aus Forschungsverantwortung ausgeblendet oder kommissionsdelegiert dem Forschungsprozess entäußert. 5 Diese Fragen verstehe ich analog den Kantischen Einleitungsfragen in seine theoretische Philosophie. Sie sind gerichtet auf Transzendentalität. 6 Vgl. Dietrich Böhler: »Verantwortung, Dialog und Menschenwürde«, in: Erlanger Studien zur Ethik in der Medizin. Erlangen/Jena 1998; des Weiteren vom Verf. Erfahrung des Moralischen, Hamburg 2000. 7 Vgl. Karl-Otto Apel: »First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung«, in: Ethik als Politikum, hg. v. Matthias Kettner, Frankfurt/M. 2000 (bes. Kap. II, S. 27–38). 8 Kurt Bayertz: Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995.

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ihr gegenüber reklamiert9, was einer soziomorphen resp. anthropomorphen Deutung der Natur entspricht.10 Die in der Geschichte der Philosophie auftretende Vertiefung der Reflexion von Kausalität führt bekanntlich zu deren Verselbstständigung als ›Denkgesetz‹ oder Prinzip. Kausalität gewinnt eigene Dignität und ist nicht mehr Deutungsmuster des moralgetränkten Vergeltungsgedankens. Dies hatte u. a. die Konsequenz der Trennung von Natur und Gesellschaft, Norm und Naturgesetz. Verantwortung wird auf den autonom handlungsfähigen, verursachungsfähigen Menschen begrenzt. Herausragendes Beispiel ist Kants dritte Antinomie, also das Problem von ›Kausalität aus Notwendigkeit‹ versus ›Kausalität aus Freiheit‹. Ein solcher Gedanke war erst mit der Emanzipation des Menschen von der Naturgeprägtheit möglich, durch welche Verantwortung transzendentalanthropologisch ›gekehrt‹ wurde. Die dritte Phase urbanisiert und radikalisiert den transzendentalen Autonomiegedanken. Nicht mehr das Vernunftsubjekt schlechthin ist Thema von Schuld und damit Verantwortung, sondern das Individuum wird Träger der Verantwortung und dies als Handlungssubjekt. Verantwortung wird zum Prinzip menschlichen Handelns und wir erreichen die oben systematisch bereits angedeutete dritte Stufe moralischer Qualität. Verantwortung lässt sich dementsprechend in der Frühphase der Moralentwicklung als Kollektivverantwortung unabhängig von individueller Selbstständigkeit erfassen, in der zweiten Phase wird der Mensch als individueller Handlungsträger identifiziert und ihm transzendentalphilosophisch qua Autonomie Schuld resp. Verantwortung überhaupt erst personal möglich, dies erfordert einerseits konsequent den kategorischen Imperativ und die Tathandlung, andererseits fordert der kategorische Imperativ genau dieses individuelle Verantworten gegenüber dem Sittengesetz. Erst in der dritten Phase tritt das personale Individuum als soziales, intentionales Handlungssubjekt in den Blick. Das Individuum vollzieht sich dann nicht mehr als bloßer Bestandteil eines prästabilisierten cosmos, nicht mehr nur als autonomes, kategorial verfasstes Subjekt, sondern als Teil einer Sozialgemeinschaft, welche ihm gegenüber und der gegenüber es verantwortlich zeichnen können muss. Diesen metaphorischen Gebrauch des Begriffs Verantwortung verwenden wir auch heute noch. Es ist der aktuelle Stand einer Entwicklung, die mit der aristotelisch-christlichen Normenethik gemäß eines vorgeordneten cosmos ansetzte, sich in einer jüdischchristlich-protestantischen Überantwortungsethik fortsetzte, gemäß der Gott uns die Welt überlassen hat und die vorläufig in der Kant’schen Pflichtethik zur vernunftgemäßen Nutzung unserer Freiheit mündet. Erst die qualitativ völlig neue Situation einer Kollektivverantwortung, nicht mehr der Sippe o.ä., sondern gegenüber dem (Über-)Leben der Welt resp. des Weltalls hat die Perspektive auf Verantwortung verändert. Hans Jonas’ Konzept, Verantwortung als Menschenprinzip zu fassen, liefert eine neue Qualität der Verantwortung.11 9 Vgl. die bereits erwähnten Tierprozesse. Der hier aufscheinende Gedanke der Kausalität muss als Deutungsmuster und nicht als Denkkategorie verstanden werden (dazu: Bayertz 1995, S. 6 f.). 10 Ebd. 11 Dass zu dieser Entwicklung auf die Frage nach Auschwitz, die Frage nach individueller und kollektiver Schuld eines Volkes geführt hat, ist nur ein empirischer Beleg; der philosophisch neue Gedanke liegt

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Hans Jonas bindet Verantwortung an unsere ›Macht‹ (Kompetenz) zu handeln und versteht darunter auch unsere ›Macht‹ mit Handlung Verantwortung zu übernehmen, d. i. sich für die Folgen seiner Handlung verantwortlich fühlen und zeigen (im Sinne von rechtfertigen) und dies wiederum dergestalt, dass wir uns für die Konsequenzen, die sich aus der Bewertung der Handlung und ihrer Folgen ergeben, verantwortlich zeigen. Höffe formuliert diese Dreischichtigkeit als Zurechnungs-, Rechenschafts- und Handlungsverantwortung.12 Da es in unserer ›Macht‹ steht, zu handeln, da es in unserer ›Macht‹ steht, Verantwortung zu tragen – so Jonas –, müssen wir dies auch: ›Es ist uns gegeben, Verantwortung zu tragen‹, also ist es integraler Bestandteil unserer selbst. Ein solch metaphysisch-ontologisches Konzept wirft uns begründungsperspektivisch zurück auf Aristoteles. Dies sieht Jonas selbst, auch wenn sein Begründungsweg über Theologie, Biologie, Moralphilosophie sich von Aristoteles’ Bestimmung der Verantwortung deutlich abhebt, bleiben metaphysische Teleologie und Entelechie des Menschen ebenso erhalten wie ein reduktionistischer personalisierter Verantwortungsbegriff. Letzteres wird in Jonas’ Auszeichnung der Eltern-Kind- und Politiker-Bürger-Situation als archetypische Verantwortungsbeziehungen deutlich. Entsprechend musste es Jonas auch verwehrt bleiben, den personalisierten, gegenständlichen Verantwortungsbegriff zu überwinden.13 Er versperrt sich durch die metaphysisch-ontologische Fundierung einerseits, sowie durch die Reduktion von Verantworten auf eine zweistellige und sogar hierarchische Relation andererseits den Blick darauf, dass Verantworten immer auch ein ›Mit‹ in sich trägt. Ich trage Verantwortung für mein Handeln beispielsweise in und gegenüber Familie, Staat, Gesellschaft, Natur, ich muss auch ihre Perspektiven mit-berücksichtigen, muss mein Handeln demgemäß auch mit-verantwortlich in diese Perspektive stellen.14 Exakter formuliert: Ich muss mir als Individuum klar darüber werden, dass meine Verantwortung als Mitverantwortung die individuelle Zuschreibung von Verantwortungsträger und Verantwortungsbetroffenen überschreiten muss zur Ausrichtung auf ›Welt‹ – das Ganze. Dies meint nicht Kollektivverantwortung, sondern Kontextverantwortung gegenüber der ›Welt‹ als jener Sphäre, in der -, gegenüber der – und mit der ich überhaupt so etwas wie Sinn- und Geltungsansprüche stellen kann und die mir dies auch erst sinnvoll ermöglicht. Gemeint ist das so genannte Diskursuniversum, welches ausdrücklich auch die Interessen nicht-menschlicher, wie nichtlebender Bestände der Ökosphäre einschließt und deren Berücksichtigung erfordert. In diese eingebettet bleibt meine personale Verantwortung, ja, sie gewinnt jetzt erst einen moralischen, weil einklagbaren Sinn. Mitverantwortung ist insofern – wie Karl-Otto Apel sagt – primordial.15 in der Wende vom Individuum und seiner Autonomie zur Intersubjektivität, in der das Individuum als solches überhaupt erst ›auftreten‹ kann. 12 Vgl. Otfried Höffe: Moral als Preis der Moderne, Frankfurt/M. 1993. 13 Vgl. Dietrich Böhler. 14 Vgl. dazu: Karl-Otto Apel/Holger Burckhart (Hg.): Prinzip ›Mitverantwortung‹, Würzburg 2000/2001. 15 Ebd.

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Bezüglich einer verantwortungsethischen Grundhaltung können wir somit beruhigt zwischenresümmieren, dass die Ethik keineswegs am Ende ist, sondern am Ende – zumindest nahe am faktischen ›bösen Ende‹ (Jonas) – die Ethik, geltungs- und sinnbezogen immer schon dem Faktischen vorweg, erneut beweist, dass und wie sie wirkt und etwas bewirken kann.

II Hans Jonas: ›Du trägst Verantwortung, weil Du kannst‹16 Hans Jonas’ Gedanken haben wesentlich zu der im Vorigen beschriebenen Weiterentwicklung der Verantwortungsidee beigetragen. Jenseits der leidigen Debatte um Gesinnungs- und Verantwortungsethik hat er eine Ethik für die Zukunft aus der Idee der Verantwortungskompetenz des Menschen entwickelt.17 Drei Schritte markieren hierbei sein Denken. Einer philosophisch-theologischen Gnosis, in der er die Welt für den Menschen in dessen Zugriff bringt, über eine philosophische Biologie, in der das Freiheitsproblem, welches sich posttheologisch stellt, nun philosophisch-biologisch mittels einer Stoffwechsellehre erarbeitet wird, bis hin zu seiner Fassung von ›Verantwortung‹ als Prinzip, was prima facie gegen Blochs ›Prinzip Hoffnung‹ den Menschen als Handlungskompetenten – theologisch und biologisch fundiert – für sein Handeln verantwortbar fasst und auf Grund seiner Kompetenz auch in die ›Pflicht‹ zum Handeln und zwar zum verantwortbaren Handeln stellt. Als verantwortbar erscheint dasjenige, was es (eher) zu richten vermag, dass ›auch in Zukunft eine Menschheit sei‹. An dieser Stelle könnte man davon sprechen, dass Hans Jonas den Gedanken der oben mit Karl-Otto Apel angesprochenen Mitverantwortung formuliert, nämlich die Verantwortung des Individuums für die Möglichkeit von Zukunft für alle, d. i. Menschheit wie Ökosphäre schlechthin. Jonas antwortet somit auf die globale Selbstzerstörungssituation des Menschen mit einer ›globalen‹ Ethik. Hier liegt er nahe an diskursethischen Konzepten. Dabei sind es fünf Aspekte, die das Denken von Hans Jonas durchziehen: Erstens spiegelt sich darin sein Bemühen, auf die globale Selbstgefährdung der menschlichen Gattung mit einer autonomen Zukunftsethik zu antworten, und hinsichtlich des Ausmaßes der Gefahr die Dringlichkeit einer Umkehr mittels religiöser Chiffren empfindlich zu machen. Die von ›Furcht und Zittern‹ begleitete Anstrengung18, eine Ethik der Zukunftsverantwortung zu denken und dabei auch die einschneidenden Folgen einer entsprechenden Umkehrmoral zu gewärtigen, zeigt zweitens Spuren einer spekulativen Theologie. Der Verantwortungsethiker weiß, dass die Diesseitigkeit und Immanenz der menschlichen Existenz und ihres Umgangs mit der Erde unhintergehbar ist, sodass es ebenso sinnlos wie unverantwortlich wäre, auf einen allmächtigen Gott zu setzen. Unwiderruflich Dietrich Böhler danke ich, dass er die Folgenden von ihm in ihrem Duktus wesentlich beeinflussten und bereits formulierten Aspekte, mir zur freien Verfügung stellte. Vgl. D. Böhler (Hg. 1994). 17 Grundsätzlich vgl. die Arbeiten von Dietrich Böhler (1994) und Jürgen Sikora (1999). 18 Hans Jonas in: Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen 1987 (zit. Wissenschaft), S. 29 f. 16

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gehört es drittens zum Selbstbewusstsein des menschlichen Geistes, dass ihm ›kein rettender Gott die Pflicht [abnimmt], die seine Stellung in der Ordnung der Dinge ihm auferlegt‹. Auch der Gedanke, dass allein ein Gott uns retten könne, ginge ins Sinnlose über: entweder er wäre verborgener Ausdruck von Resignation, Fatalismus bzw. einer anderen Stimmung des Flüchtens vor der Weltverantwortung, oder es läge die verkappte Behauptung zu Grunde, dass ein Allmächtiger die Schöpfung in der Hand hielte – die Rede von einem allmächtigen Gott ist jedoch sinnvoll nicht möglich. Zwar besagt die spekulative Theologie von Hans Jonas, es gäbe einen Gott, mit ihm verbindet Jonas aber keinen Anspruch auf ein substanzielles Orientierungswissen noch gar auf eine Dogmatik; auch nicht, wenn er den freiheits- und liebesmystischen Gedanken eines, aller Eingriffsmacht entsagenden Schöpfergeistes und mitleidenden Gottes hegt, oder wenn er die Chiffre ›Schöpfung‹ – sein letztes öffentliches Wort – verwendet.19 Als Denker nach Kant wie auch nach Jaspers, der in den religiösen Offenbarungen von uns hervorgebrachte ›Chiffren‹ der Transzendenz sieht, weiß Jonas viertens, dass es keinen eindeutigen und schon gar keinen definiten positiven Inhalt, also kein positives praktisches Orientierungswissen, das feststehend und konkret zugleich wäre, geben kann – weder im Sinne eines naturgemäßen eigentlichen Wollens, um das es der teleologischen Glücks– und Wertethik seit Aristoteles geht, noch im Sinne eines vernunftgemäßen verbindlichen Sollens, um dessen Aufweis es der normativen Prinzipien- und Pflichtethik seit Kant zu tun ist. In beiden Hinsichten ist das Negative dem Positiven bzw. dem Affirmativen voraus; darin zeigt sich, sprachanalytisch betrachtet, eine grundlegende Asymmetrie unseres möglichen praktischen Wissens respektive unserer sinnvollen ethischen Redeweisen. ›Was wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen. Darum muss die Moralphilosophie unser Fürchten vor unserm Wünschen konsultieren, um zu ermitteln, was wir wirklich schätzen.‹ Ebenso können wir das, wozu uns der Blick in einen Abgrund der Menschheitszukunft motivieren kann, nur in ein negatives Sollen übersetzen, in ein ›Du sollst nicht weitermachen wie bisher‹ (S. 64). Und das gleichsam aus dem Blick in den Abgrund gewonnene theoretische Einsichtswissen bleibt fünftens auf die schwebende Form der Frage verwiesen. Prinzipiell und ganz konkret bleiben uns die Fragen, wie es mit der Menschheitsgeschichte weitergehe, und wenn es weitergehe, wie dann ein Ausgleich zwischen der Menschheit und ihrer Umwelt möglich ist und welche – vielleicht grauenhaften? – Lasten und Freiheitsentbehrungen – selbst einen Dispens der Demokratie? – solch ein Friedensschluss mit der Natur für eine künftige Existenz von Menschen mit sich bringen mag. Wir haben damit einige der wesentlichen Aspekte und Intentionen des Jonasschen Denkens beisammen: Zukunftsverantwortung (1) aus dem Gefühl der persönlichen Verantwortbarkeit im Rahmen einer spekulativen Theologie (2), in der creation (Schöpfung) mit Freiheit in Selbstverantwortung (grund)gelegt wird (3), ohne dass Jonas uns Inhalte der Zukunft, resp. unseres Verhaltens vorgibt, wohl aber zur Aufgabe erhebt, das Fürchten vor dem Wünschen zu bedenken (4), und so die Menschheit für die Zukunft offen zu halten und ihren Weg stets neu zu befragen, um sie selbst und die umgebende Natur zu bewahren (5). 19

Mit dem Wort ›creation‹ beschloss er seine Ansprache in Udine (1993).

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Wie entfaltet sich nun dieses vielschichtige philosophisch-theologische Gebäude einer Ethik für die Zukunft, einer so genannten Verantwortungsethik? Hans Jonas ist der nüchterne Ethiker, der weiß, dass die Menschen alles andere als von Natur gut sind und dass sie auch in Zukunft nicht ›gut‹ sein werden, dass es sich aber trotzdem um den Menschen, der dem bösen Ende zwar näher rückt, aber dies nur in den Exponaten negativer, verantwortungsloser Machtausübung, dass es sich um diesen Menschen lohnt. Gegen Ernst Blochs überschwängliches, über die Grenzen möglicher Erfahrung bzw. sinnvoller Rede und verantwortbarer ethischer Orientierung hinausspekulierendes Opus Das Prinzip Hoffnung hat Jonas sein Spätwerk Das Prinzip Verantwortung gestellt, jedenfalls dessen umfängliches Schlusskapitel. Nicht dass Hans Jonas ein Feind jeder Utopie gewesen wäre; aber eben ein Sinnkritiker des Utopismus und zumal des futuristischen, die Gegenwart entwertenden ›Fanatismus der Utopie‹, welcher einer Ethik der Perfektibilität, der Vervollkommnung des Menschen innewohne. Nicht die Hervorbringung des vollkommenen Menschen galt ihm als sinnvolles Endziel und als vernünftiges Postulat, sondern die Bewahrung des von Natur und in Natur lebenden moralfähigen Wesens Mensch und die Förderung seiner Moralfähigkeit, insbesondere seiner, seit dem technologischen Zeitalter überlebensnotwendig gewordenen, Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortungspflichten. Diese nüchterne Orientierung an den Verantwortungspflichten der heutigen und der künftigen Menschen als Vertreter der Menschheit mache heute, angesichts der technologisch-ökologischen Krise und der Überbevölkerungskrise, einen tief greifenden Wandel der Ethik erforderlich. Die Erweiterung ihres Problembereichs um die Dimension der Verantwortung für eine menschliche Zukunft und damit für den Schutz der Natur. Dass überhaupt eine Menschheit sei, dass sie durch die Zukunft bleiben könne und solle, werde heute zum ersten Thema wie auch zum ersten Imperativ der Ethik.20 Die geforderte Abkehr von einer utopistischen Ethik und die Hinwendung zu und Inangriffnahme von einer ›Ethik der Bescheidung‹ setzen anthropologisch voraus, dass das Wesen des Menschen ›schon da ist‹; praktisch setzen sie voraus, ›dass es sich um den Menschen lohnt, so wie er ist, nicht wie er gemäß einer schlackenlosen Idealvorstellung sein könnte, […], dass es sich schlicht um die Weiterführung des ständigen menschlichen Versuches lohnt.‹ Ambivalent, unter Umständen die Natur und sich selbst gefährdend, werde der menschliche Versuch stets bleiben. Moralisch ambivalent sei er von Anbeginn gewesen, weil es die Lebensform des Menschen ist, in Freiheit zu existieren. Was das bedeutet, legt Jonas in Kierkegaard‹schem Sinne aus: Existieren heißt nicht bloß, vorhanden zu sein, sondern sich in seinem Leben zu sich selbst zu verhalten.21

Hans Jonas: PV 36, S. 80 ff., 90 f., 249. Im Hintergrund steht Kierkegaards Definition des Selbst, mit der er seine Schrift Sygdommen til Doden (1849) bzw. Die Krankheit zum Tode eröffnet: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.« (S. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Gesammelte Werke, 24. und 25. Abteilung, Düsseldorf 1954, S. 8.) 20 21

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Daraus folgt, dass Menschen eigentlich – bzw. nur um den Preis eines praktischen Selbstwiderspruchs, der auf Selbsttäuschung hinausläuft – nicht umhin können, sich auch als frei und moralisch autonom zu verstehen; das schließt die Wahlfreiheit zwischen dem moralisch Unrechtmäßigen und Rechtmäßigen ein, also auch die Möglichkeit zum Bösen. Dies ist gleichsam die existenzialistische Seite seiner anthropologischen Grundeinsicht, die Jonas in der Marburger Zeit erwirbt und zunächst in seiner Augustinus-Schrift und in dem Werk über den spätantiken Geist der Gnosis fruchtbar anwendet. Jene frühe Einsicht ist ihm stets geblieben, nur hat er die existenzial anthropologische Sichtweise ergänzt durch den Blick auf die menschliche Leiblichkeit und auf die gesamte organische Natur. Diese Blickrichtung lässt ihn das menschliche Leben einschließlich der menschlichen Freiheit nunmehr in evolutionärem Zusammenhang mit dem übrigen organischen Leben sehen.

1. Spekulative Theologie. Gnosis und spätantiker Geist Gnosis und spätantiker Geist thematisiert das Phänomen des dualistisch geprägten und Selbsterlösung suchenden Zeitgeistes der spätantiken Welt, der im Hintergrund der neutestamentlichen Überlieferung, zumal des Johannes-Evangeliums steht, und die frühchristliche Theologie ebenso wie die neuplatonische Philosophie, vor allem die des Plotin, durchdrungen hat. Jonas’ Mythosforschung hat insbesondere den Zweck einer Grundlegung seiner spekulativen Theologie. In der nachhegelschen Entwicklungsperspektive eines Zu-sich-selbst-Kommens des Symbole gebrauchenden und zunächst ihrer objektivierenden Tendenz erliegenden, menschlichen Geistes interpretiert Jonas hier zunächst die Gnosis mit Hilfe der ›hermeneutischen Kategorien‹ von Heideggers Existenzialanalyse. So kann er ›das Mythologische als eine Form der Objektivation‹ abtrennen von dem dahinter verborgenen existenzialen Problemgehalt als dem ›Wesen der Gnosis‹. Von Heidegger und auch von Hegel belehrt, zeigt er in seiner Frühschrift Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen 1930, dass der Geist nur über den Umweg des Symbols ›zu sich selbst‹ kommen könne; genauer gesagt, über eine Veranschaulichung und Verdinglichung seiner Daseinsprobleme und Daseinserfahrungen. Diese liegen eigentlich in seinem Selbstverhältnis. Aber in seiner Kindheit, einer unreflektierten Entwicklungsphase, neigt der Geist dazu, sich innere Daseinsprobleme und -erfahrungen zu erklären, indem er sie projiziert auf angeblich objektive Ereignisse oder Mächte außer sich. Indem Hans Jonas die Lehre von der Erbsünde als Mythos, nämlich als Erzeugnis der veranschaulichenden Objektivierung eines inneren existenzialen Dilemmas enthüllt, wird exemplarisch dreierlei geleistet: (1) rationale Kritik an einem Mythos, (2) Rettung des zu Grunde liegenden Dilemmas als eines Phänomens menschlichen Selbstverhältnisses, (3) den Ansatz zu einer Entwicklungslogik des durch Symbolgebrauch vermittelten menschlichen Selbstverständnisses, in der es um die Schwelle zu einer gleichermaßen moralischen wie metaphysischen Autonomie bzw. Diskursfähigkeit der menschlichen Exis-

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tenz22 geht. Seinen im Vorigen knapp dargestellten Begriff des Mythos (symbolische Objektivität existenzieller Anliegen) verwertet Jonas insbesondere in seiner bereits erwähnten Trilogie zum Gottesbegriff, die in eine spekulative Theologie mündet.23 Dies ist neben seiner philosophischen Biologie der andere wesentliche Bestandteil seiner philosophischen Reflexionen. Auch wenn Jonas verschiedentlich eine beabsichtigte innere Systematik seines Denkens zurückweist, so lässt sich ein klarer Begründungs- und Verweisungszusammenhang werkimmanent rekonstruieren: aus der spekulativen Theologie erwächst die Frage nach Freiheit, aus der Freiheit, die sich in der philosophischen Biologie begründet, erwächst die Frage nach Verantwortung.

Mythos ›Gott‹ oder: Zum Gottesbegriff nach Auschwitz (1987/1992)24 Zentral für seine spekulative Theologie scheint mir seine Schrift zum Gottesbegriff nach Auschwitz zu sein. Hier nutzt er seine früher gewonnenen Analysen zum Mythosbegriff als Ausgangspunkt. Gleich zu Beginn räumt Jonas ein, dass es sich bei seiner spekulativen Theologie um ein Stück transzendentaler Dialektik handelt. Ganz kantisch insistiert er aber darauf, dass es durchaus möglich und – vor allem – sinnvoll ist, am Gottesbegriff zu arbeiten, »auch wenn es keinen Gottesbeweis gibt; und eine solche Arbeit ist philosophisch, wenn sie sich an die Strenge des Begriffs – und das heißt auch: an seinen Zusammenhang mit dem All der Begriffe – hält.« (S. 191) Auschwitz nun habe die Gottesfrage verändert. Nicht die Hiob‹sche Frage der Verletzung von »Treue oder Untreue, Glaube oder Unglaube, nicht Schuld und Strafe, nicht Prüfung, Zeugnis und Erlösungshoffnung, nicht einmal Stärke oder Schwäche, Heldentum oder Feigheit, Trotz oder Ergebung haben da einen Platz. Von alledem wusste Auschwitz nichts, das auch die unmündigen Kinder verschlang, zu nichts davon bot es auch nur Gelegenheit. Nicht um des Glaubens willen starben jene dort (wie immerhin noch die Zeugen Jehovas), und nicht wegen ihres Glaubens oder irgendeiner Willensrichtung ihres Personseins wurden sie gemordet (…). Und Gott ließ es geschehen. Was für ein Gott konnte es geschehen lassen?« (S. 192 f.) Jonas verweist im Folgenden auf die theologisch unterschiedliche Begründungslage, in der Christentum und Judentum sich hier befinden: Erlösungs- und Belohnungsreligion gepaart mit Misstrauen gegen eine von der Erbsünde belasteten Welt dort, Schöpfung, Gerechtigkeit, Erlösung in der Welt hier. Gott als »Herr der Geschichte … da stellt ›Auschwitz‹ selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage.« (ebd.) 22 In diesem Zusammenhang wäre es interessant, Hans Jonas’ Rezeption von E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, insbes. von Teil II >Das mythische DenkenGeist und Natur< der Stiftung Niedersachsen in Hannover; wiederabgedr. In: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt/M., 1992.

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– Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen. Frankfurt/M. 1992. – Dem bösen Ende näher: Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Hg. Wolfgang Schneider, Frankfurt/M. 1993. – Gnosis und spätantiker Geist. Zweiter Teil. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie: erste und zweite Hälfte. Hg. v. Kurt Rudolph. Göttingen 1993. Schriften zu Hans Jonas in Auswahl: G. Altner/S. Heiland: Naturverständnis, Darmstadt 1992. Böhler, Dietrich in Verbindung mit Ingrid Hoppe: Ethik für die Zukunft. Im Dialog mit Hans Jonas, München 1994. Böhler, Dietrich und Rudi Neuberth (Hg.): Herausforderung Zukunftsverantwortung: Hans Jonas zu Ehren. Münster und Hamburg 1992. Erweiterte Zweitauflage 1993. Gethmann-Siefert, A.: »Ethos und metaphysisches Erbe. Zu den Grundlagen von Hans Jonas’ Ethik der Verantwortung«, in: H. Schnädelbach/G. Keil (Hg.). Philosophie der Gegenwart. Gegenwart der Philosophie, Hamburg 1993. Kettner, M.: »Verantwortung als Moralprinzip? Eine kritische Betrachtung der Verantwortungsethik von Hans Jonas«, in: Bijdragen, tijdschrift voor filosofie en theologie 51(1990), S. 418–439. Schwemmer, O. (Hg.): »Über Natur«. Ffm 1987; darin: L. Schäfer: Selbstbestimmung und Naturverhältnis des Menschen (zum naturalistischen Fehlschluss bei Hans Jonas). Sikora, J.: Mit-Verantwortung. Hans Jonas, Vittorio Hösle und die Grundlagen normativer Pädagogik, Eitorf 1999 (mit einem Geleitwort von Holger Burckhart). Wetz, Franz Josef: Hans Jonas – Zur Einführung. Hamburg 1994.

Ist das »Prinzip Verantwortung« noch aktuell? Jürgen Nielsen-Sikora (Siegen)

Der deutsch-jüdische Philosoph Hans Jonas (1903–1993)1 zählt zu den bedeutenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Beeinflusst von seinen Lehrern Edmund Husserl, Martin Heidegger und Rudolf Bultmann, gelangte er als Begründer einer Ethik der Verantwortung für die technologische Zivilisation (1979) zu Weltruhm. Seine Ethik verbindet er mit lebensweltlichen Intuitionen und normativen Gehalten der hebräisch-biblischen, der jüdischen und der christlichen Überlieferung. Motive und Denkfiguren der mittelalterlich-aristotelischen und anderer metaphysischer Traditionen aufgreifend, stellt seine Philosophie kritische Fragen an die technologischen Errungenschaften der Gegenwart. Der Begriff der Verantwortung wird in seiner Philosophie zum Synonym einer neu hervorgetretenen Pflicht im Antlitz der Drohungen der Moderne und ihrer kausalen Reichweite in die Zukunft.2 Im Folgenden wird seine Philosophie in den Kontext der gesellschaftspolitischen Diskussionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestellt und gefragt, ob und inwiefern seine moralphilosophisch begründete Forderung, so zu handeln, dass die Wirkungen des Handelns zukünftiges Leben nicht gefährden, in Bezug auf die Begründungskraft als auch mit Blick auf die gesellschaftspolitische Situation der Gegenwart noch aktuell ist. Zu diesem Zweck wird zunächst Jonas’ Philosophie in die Debatte über die Aufarbeitung der Vergangenheit nach 1950 eingebettet (I). Parallel hierzu entwickelte sich die Futurologie als wissenschaftliche Disziplin. Jonas’ Zukunftsethik ist hierzu ebenfalls in Bezug zu setzen. Es soll gezeigt werden, dass das Prinzip Verantwortung nur vor der Folie dieser beiden Debatten angemessen zu würdigen ist (II). Anschließend folgt eine knappe Skizze seiner Idee der »Rettung des unsichtbaren Reichs«, um zu zeigen, inwiefern Jonas’ Gottesbegriff seinen Verantwortungsbegriff präfiguriert. Der Gottesbegriff wiederum steht in der Tradition der kabbalistischen Mystik, grenzt sich gleichwohl entscheidend von ihr ab (III). Viertens wird nach dem Geltungsbereich der Ethik von Hans Jonas geZur Familienbiographie sieh die von Christian Wiese herausgegebenen Erinnerungen, Frankfurt/M. 2003; Günter Erckens: Juden in Mönchengladbach, 2 Bände plus Registerband, Mönchengladbach 1988– 1990, insbes. Bd. 1, S. 246 ff. sowie Bd. 2, S. 443 ff.; Roman Seidel: »Biographie«, in: Ralf und Roman Seidel: Zeugen städtischer Vergangenheit. Hans Jonas, hg. von der Gladbacher Bank, Mönchengladbach 1997, S. 6–53; Holger Hintzen: Paul Raphaelson und Hans Jonas. Ein jüdischer Kapo und ein bewaffneter Philosoph im Holocaust, Köln 2012. 2 Bereits der Abituraufsatz im Fach Deutsch vom 24.1.1921 zeichnet sein ethisches Verständnis vor, wenn er an Kant anknüpfend eine »Kultivierung der Persönlichkeit« fordert und betont, eine urteilende (»begutachtende«) Persönlichkeit habe eine »ungeheure Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit«. Es gelte, diese Persönlichkeit »zu ihrem schweren und verantwortungsvollen Beruf« auszubilden und zu erziehen. Zitiert nach Stadtarchiv Mönchengladbach, NL Hans Jonas, 14/3490 Familiengeschichte resp. 17/607 Reifeprüfung. Ich danke Dr. Christian Wolfsberger für die Erlaubnis in die Einsichtnahme. 1

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fragt. Wie er selbst erläutert, ist seine Ethik als Ergänzungsprinzip bisheriger Ethik angelegt (IV). Fünftens wird die Kritik an Ernst Bloch aufgegriffen. Meines Erachtens ist auch sie stark beeinflusst von dem seinerzeit vorherrschenden Ost-West-Gegensatz (V). Das Fazit kommt zu dem Schluss, dass Jonas’ Verantwortungsbegriff, obwohl er Begründungsprobleme mit sich bringt und von zeithistorischen Diskussionen stark beeinflusst ist, immer noch hochaktuell ist (VI). Grund für diese Einschätzung ist die Tatsache, dass der von Jonas thematisierte Problemhorizont auch in Zukunft virulent bleiben wird, ganz gleich, welche Antworten die Praktische Philosophie konkret auf die Krisen ihrer Zeit geben wird: Verantwortung als Themenfeld menschlichen Handelns und diskursiver Praxis ist und bleibt ein konstitutives Moment philosophischer Reflexion.

I Aufarbeitung der Vergangenheit An zentraler Stelle seines philosophischen Klassikers »Das Prinzip Verantwortung«3, misst Hans Jonas der Unheilsprophezeiung ein besonderes ethisches Gewicht bei. In dubio pro malo lautet die prägnanteste Formel seines Imperativs, der auf das Wohl künftiger Generationen abzielt.4 In einer Zeit, in der viele, einmal begonnene, technische Prozesse irreversibel sind, sollten mögliche negative Folgen mitberücksichtigt werden. Denn qualitativ neue Unsicherheiten, Ungewissheiten und Gefahren bedrohten, so Jonas, das Erbe der Evolution.5 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien es erstmals möglich, das gesamte Leben auf der Erde durch Waffentechnologie und fortschreitende Umweltzerstörung auszulöschen. Deshalb müsse auch der Ethik eine neue Dimension hinzugefügt werden.6 Keinesfalls möchte Jonas die Ethik im Ganzen erneuern. Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stellt er nicht zur Disposition. Vielmehr skizziert er ein neues Verhältnis von Naturwissenschaft und Ethik, das »das Naturwissen in unsere ethischen Überlegungen«7 einbezieht. Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften spielten für die Ethik lange Zeit kaum eine Rolle. Diese Zeit ist für Hans Jonas unwiderruflich vorüber, weil jede naturwissenschaftlich-technische Innovation weitreichende gesamtgesellschaftliche Konsequenzen hat. Diese können positiver Natur sein, wie etwa die Entdeckung von Arzneimitteln ge-

3 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1984, S. 70 ff. Im Folgenden PV. Die Erstausgabe erschien 1979. Da die Kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas noch nicht abgeschlossen ist, nutze ich hier die Einzelbände. 4 Hans Jonas: Technik Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/M. 1987, S. 67. Im Folgenden TME. 5 Vgl. PV, S. 72. 6 Hans Jonas: Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt/M. 1993, S. 24 ff. 7 Ebd., S. 35.

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gen bis dahin tödliche Krankheiten. Sie können aber auch negativer Art sein, so etwa bei der Verschmutzung der Umwelt und der modernen Kriegsführung. Schon die europäischen Diktaturen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten es offenbart: Im Angesicht des Zerstörungspotentials moderner Waffen galt es, über die Pflege von Feindseligkeiten neu nachzudenken. Die Einbeziehung moderner Technologien und der Naturwissenschaften in ethische Überlegungen ist nicht zuletzt eine Reaktion auf drohende Gefahren, die durch wissenschaftliche Forschung in der Zukunft möglich sind. Über allem schwebte die Sorge, eine ganze Zivilisation könne vernichtet werden. Der innovative Charakter dieser Gedanken tritt hervor, betrachtet man einmal die lange Liste all der politischen Reaktionen auf reale Krisen, Kriege und Katastrophen: Von der Antike bis in die Neuzeit lautete das oberste politische Gebot im öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit me mnesikakein:8 Das Schlechte und Böse sollte nicht erinnert werden, um Vergeltungen zu vermeiden. Man wollte gemeinsam und unbelastet gegenwärtige wie künftige Aufgaben angehen. Rache und harte Strafen, so die Auffassung, standen diesen Aufgaben mehr im Wege als dass sie nutzen konnten. Das Gebot des Vergessens setzte sich in Mittelalter und Neuzeit in der damnatio memoriae fort. Christian Meier betont, dass diesem Gebot drei Prinzipien zugrunde lagen: abolitio, oblivio und remissio.9 Die Amnestie, das Vergessen und die Vergebung bzw. das Verzeihen besaßen deshalb oberste Priorität, weil man glaubte, anders ließe sich eine bessere Zukunft nicht gestalten. Mit dem Friedensschluss war jegliches Ansinnen auf Vergeltung zunichte gemacht: »Nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen ist in der Geschichte bis 1918 und zum Teil darüber hinaus (…) regelmäßig beschlossen worden, das Geschehene zu vergessen« resümiert Meier, gibt jedoch zu bedenken: »Während die Straflosigkeit in der Regel durchgesetzt werden konnte, verhielt es sich mit dem Vergessen schwieriger.«10 Denn Vergessen lässt sich nicht verordnen. Alte Feindschaften und Kalamitäten gediehen unter dem Diktum des Vergessens umso besser. Die deutsch-französische Fehde zum Beispiel hielt die gesamte Neuzeit über an und schlug sich in mehreren Kriegen nieder. Die damnatio memoriae erlangte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen unrühmlichen Stellenwert. Denn die Tabuisierung der Kriegsverbrechen und das Schweigen über Fragen der Mitschuld zogen sich über viele Jahre und begleiteten implizit den Aufbau einer neuen demokratischen Gesellschaft, die ihre Vergangenheit nur unzureichend erinnerte, um wirklich offen in die Zukunft blicken zu können. Erst ab Ende der 1950er Jahre entwickelte sich eine öffentliche Debatte, unter anderem forciert von Hermann Heimpel und Theodor W. Adorno, über die Aufarbeitung der Vergangenheit: »Man will«, so Adorno in seinem Vortrag aus dem Jahr 1959, »von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, Christian Meier: Das Gebot zu vergessen. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010, S. 18. 9 Ebd., S. 40. 10 Ebd., S. 44. 8

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der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.«11 Das allzu lebendige Weiterwirken des »Monströsen« erschwerte zweifellos eine angemessene Aufarbeitung der Vergangenheit. Aufarbeitung meinte in erster Linie das Bemühen, auf Gewissensfragen nach Mitschuld und Mitverantwortung nicht nur politische, sondern auch moralphilosophische Antworten zu finden. So vertrat beispielsweise Hannah Arendt die Auffassung, Ethik nach Auschwitz sei nur durch Erinnerungsarbeit möglich. Ohne Reflexion auf schlimme Vergangenheit lasse sich, so Arendt, keine Zukunft menschlich gestalten.12 Freilich bedeutete dies gerade angesichts von Barbarei und Diktatur eine hermeneutische Herkulesaufgabe. Arendt hat das bei ihrer Interpretation von Adolf Eichmann selbst deutlich zu spüren bekommen.13 Doch wie konnte Aufarbeitung der Vergangenheit überhaupt möglich sein? Abseits von strafrechtlichen Prozessen und politischer Aussöhnung begann die wissenschaftliche Erforschung und Aufarbeitung der Jahre zwischen 1933 und 1945 recht spät. Nach dem epochalen Einschnitt des Jahres 1968 intensivierte sich diese Auseinandersetzung jedoch. Hans Jonas selbst reflektiert nicht bloß diese Vergangenheit, er behandelt die historische Katastrophe als Menetekel und weist eindrucksvoll nach, dass im Zuge der fortschreitenden Technisierung vergleichbare Katastrophen möglich sind. Sein Fazit: »Ich habe eine gewisse Hoffnung auf die Erziehung durch Katastrophen. Solche Ereignisse werden eventuell rechtzeitig noch eine heilsame Wirkung haben.«14 An diesem Punkt setzt seine Ethik mit der Forderung nach einer die Interessen zukünftiger Generationen berücksichtigenden Kollektivverantwortung als Antwort auf vergangene Katastrophen als auch auf die neue gesellschaftspolitische Situation an. Blickt man auf die Wahrnehmung von Verantwortung in der Geschichte des Menschen, so wird die von Jonas eingeführte neue Dimension von Verantwortung virulent. Denn traditionell spielte Verantwortung allein im engen Kreis der Familie und der Stadt eine tragende Rolle. Der Staat hingegen blieb lange außen vor, ehe sich im Nachgang der Französischen Revolution die politische Idee durchsetzte, Staat und Nation als organische Einheit zu betrachten; eine Einheit, in der sowohl das Individuum als auch die Politik füreinander Verantwortung übernehmen sollten.15 Dieses Verständnis der Verschränkung von individueller und kollektiver Verantwortung ist bis heute ungebrochen.

Hermann Heimpel: »Gegenwartsaufgaben der Geschichtswissenschaft«, in: ders.: Kapitulation vor der Geschichte? Göttingen 1960, S. 45–67.; Theodor W. Adorno: »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt a.M. 1977, S. 555–572, hier S. 555. 12 Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006. 13 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem, München 2014. 14 Jonas: Dem bösen Ende näher, a. a.O., S. 14. 15 Eine Ausnahme bildete freilich das jüdische Volk, weil den Juden bis zur Gründung Israels 1948 kein eigener Staat zur Verfügung stand. 11

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II Zukunftsforschung Hans Jonas zeigt in seiner Ethik, dass Handlungen eines Kollektivs eines Bezugspunktes zu dem tatsächlichen Ausmaß ihrer Wirksamkeit bedürfen.16 Er plädiert diesbezüglich für eine vergleichende Futurologie: Das vorgestellte Übel solle wie ein echtes Übel behandelt werden. Die damit einhergehende Pflicht sei die Beschaffung ausreichender Informationen über mögliche Fernwirkungen. Mit Eva Horn ließe sich behaupten, die künftige Katastrophe zu entziffern heißt, eine Geschichte zu Ende zu erzählen, die sich erst noch ereignet: »Die Katastrophe ist ein Ende, ein Abschluss, etwas, das gekommen sein wird. Dabei muss das nicht notwendig (…) ein schlechtes Ende sein, sondern vor allem eine Auflösung (…) jener Verworrenheit, die eine Dramenhandlung ebenso kennzeichnet wie eine komplizierte Situation, solange sie gegenwärtig ist. Erst vom Ende her überschaut man sie.«17 Jonas bewegt sich mit seinen Gedanken über die Zukunft durchaus im Rahmen des Zeitgeistes. Denn seit den 1960er und 1970er Jahren entwickelte sich in rasantem Tempo eine akademische Disziplin, die ihre Ursprünge in den letzten Kriegsjahren hatte und Zukunftsfragen der Menschheit diskutierte. Diese als Futurologie bekannt gewordene neue Forschungsrichtung war verbunden mit Namen wie Hermann Kahn und Ossip K. Flechtheim. Daneben sind John Herz, Robert Jungk und Daniel Bell als Vertreter der Futurologie zu nennen.18 Während Flechtheim, wie später auch der Club of Rome, ein eher düsteres Bild der Zukunft des Planeten malten, gaben sich insbesondere Kahn und sein Mitstreiter John B. Phelps vom Hudson-Institut als Zweckoptimisten und stellten vor allem die Chancen des gesellschaftlichen Wandels heraus. Gemeinsam war allen die systematische und kritische Diskussion von Zukunftsfragen, die sich am Objektivitätsideal der Naturwissenschaften orientierte. Die Diskussion kreiste damals um Fragen über Zukunftstechnologien wie die Nutzung der Atomenergie, die elektronische Informationsverarbeitung, den Strukturwandel der Gesellschaft und die Raumfahrt. Letztere befeuerte vor allem Juri Gagarins erster bemannter Flug ins Weltall. In den 1970er Jahren institutionalisierte sich die Zukunftsforschung, blieb aber dennoch stark umstritten, zumal Kahn Prognosen für die kommenden 200 Jahre abgab. Kein Datenmaterial der Welt schien einen solch weitreichenden Fernblick zu rechtfertigen, zumal sich nicht einmal die historischen Ereignisse vor 200 Jahren exakt rekonstruieren lassen. Kahn arbeitete vielmehr mit Narrativen, die eher an das Orakel von Delphi als an strenge wissenschaftliche Forschung erinnerten. Vgl. PV, S. 37. Eva Horn: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt/M. 2014, S. 15. 18 Siehe beispielhaft Hermann Kahn: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Wien/München/Zürich 1968; Interfutures: Facing the Future. Mastering the Probable and Managing the Impredictable, Paris OECD 1979; Prognos Euro-Report, Basel 1979; Annual Report on the Economics and Demographic Trends in the Industrial Countries of Western Europe and USA up to 1990; Wassily Leontief: Zukunft der Weltwirtschaft. UNO-Studie, Stuttgart 1977; Paul Ehrlich: The Population Bomb, New York 1968; Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Stuttgart 1952; Daniel Bell: The coming of post-industrial Society. A venture in Social Forecasting, London 1974. 16 17

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Wie auch immer: Im Zentrum der interdisziplinär angelegten Zukunftsforschung standen die drei P´s: Prognostik, Planung und Philosophie. Georg Picht brachte es 1969 auf den Punkt, als er schrieb, der Prozess der wissenschaftlichen Zivilisation versetze die Menschheit in die Zwangslage, »in einem qualitativen Sprung ihres Bewusstseins die Verantwortung für ihre zukünftige Geschichte zu übernehmen.«19 Zukunftsforschung galt in erster Linie als Friedensforschung. Ein Meilenstein war die Gründung des Münchner Max-Planck-Instituts für Zukunftsforschung 1970 durch Carl Friedrich von Weizsäcker, das auf die Gründung des Berliner Zentrums für Zukunftsforschung 1968 folgte. Angesiedelt war der Forschungszweig zwischen Industrie, Wissenschaft und Gewerkschaft. Die Erforschung der Zukunft galt als Bedingung der Möglichkeit geregelter und vernünftiger gesellschaftlicher Weiterentwicklung im Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolutionen. Insgesamt zeichneten ihre Vertreter ein erschreckend düsteres Bild. Eva Horn bemerkt dazu kritisch, dass im Atomzeitalter die Vorstellung einer bevorstehenden Katastrophe »als Option menschlichen Handelns greif- und machbar« wurde: »Das Ende ist nicht mehr von außen hereinbrechende Dunkelheit, sondern ein Schicksal, das die Menschheit sich selbst bereitet. Es ist nicht mehr fernes Zeitende, sondern Naherwartung; nicht mehr erhabene Fiktion, sondern »reale Möglichkeit«; nicht mehr kosmisches Ereignis, sondern menschliche Entscheidung.«20 In den 1960er und 1970er Jahren erhielt mithin nicht nur die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern gleichzeitig der Blick in die Zukunft eine gesellschaftspolitische Bedeutung ungekannten Ausmaßes. Einerseits galt es, die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs zu erinnern, um eine humane Zukunft gewährleisten zu können. Andererseits blickten Futurologen bis ins Jahr 2030 und darüber hinaus, um der Politik die Möglichkeit zu geben, in der Gegenwart jene Weichen zu stellen, die in Zukunft Relevanz haben sollten. Paradigmatisch für diese Haltung war der 1972 erschienene Bericht »The Limits to Growth«21, in welchem dem bedingungslosen Glauben an Fortschritt und Technik selbst ein weltzerstörerisches Potenzial unterstellt wurde. Letztlich war dieser viel diskutierte Bericht nur der Auftakt eines allmählich wachsenden kritischen bis skeptischen Bewusstseins über die zusehends bedenkliche weltpolitische Entwicklung, die unter dem Dach des Kalten Krieges voranschritt. Die Gegenwart schien zwischen Erinnerungskultur und Prognose, Aufarbeitung und Demoskopie so breit und aufgebläht wie nie zuvor.22 Hans Jonas, zu dieser Zeit an der New School for Social Research in New York tätig, ist von den Debatten der damaligen Zeit in den USA und Europa inspiriert. Die öffentlichen Diskussionen hält er für sehr populär. Ihm fehlt eine starke Philosophie, die die Debatten begleitet. Seine These, dass die neuen Arten und Formen des technologischen und wirtschaftlichen Handelns einer kommensurablen Ethik der Voraussicht und Verant19 20 21 22

Georg Picht: »Was fordert die Zukunft von uns?«, in: Merkur 1, Januar 1969, S. 1–19, hier S. 1. Horn: Zukunft, a. a.O., S. 81. Dennis Meadows et alii: The Limits to Growth, Universe Books 1972. Dazu auch Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010.

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wortung bedürften, welche so neu ist wie die Eventualitäten, mit denen sie zu tun habe, ist nicht zuletzt die moralphilosophische Reaktion auf die veränderten Bedingungen des Handelns globalen Ausmaßes.23

III Rettung des unsichtbaren Reiches Die heutige Welt, so schreibt er, verlange sowohl Wiedergutmachung als auch »Rettung des Friedens des unsichtbaren Reiches.«24 Von den heute Lebenden sei eine große Anstrengung verlangt, »den Schatten von unserer Stirn zu lüften und denen, die nach uns kommen, eine neue Möglichkeit der Seelenheiterkeit dadurch zu verschaffen, dass wir sie, die Gemordeten, der unsichtbaren Welt zurückgeben. Und wir tun dies, wenn wir im Angesicht der Bombe und all dessen, was sie symbolisiert, das göttliche Abenteuer auf Erden nicht im Stich lassen.«25 So verklammert Hans Jonas Erinnerung und Zukunftsgestaltung aufs Engste miteinander. Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft. Ohne Geschichte bleibt die Gegenwart leer, der Blick in die Zukunft blind. Und ohne Sorge um die Zukunft des Menschen wären Geschichte und Gegenwart ohne Sinn. In diesem Verständnis beginnt Jonas sein Buch »Zwischen Nichts und Ewigkeit«. Gleich zu Beginn des Buches heißt es: »Die Suche nach dem Menschen muß ihren Weg über die Begegnungen des Menschen mit dem Sein nehmen. In solchen Begegnungen kommt dies Wesen nicht nur zum Vorschein, sondern überhaupt zustande, indem es sich jeweils darin entscheidet. Das Vermögen zur Begegnung selber aber ist das Grundwesen des Menschen: dieses also ist die Freiheit, und ihr Ort ist die Geschichte, die ihrerseits nur durch jenes transhistorische Grundwesen des Subjekts möglich ist. Jedes aus geschichtlicher Begegnung entstehende Bild der Wirklichkeit schließt ein Bild des Ich ein, und diesem gemäß existiert der Mensch, solange das Bild seine Wahrheit ist. Die im Menschen gelegene Bedingung der Möglichkeit von Geschichte aber – eben seine Freiheit – ist selber nicht geschichtlich, sondern ontologisch; und sie wird selber, wenn entdeckt, zum zentralen Faktum in der Evidenz, aus der jede Seinslehre schöpfen muss.«26 Es steckt ein ganz zentraler Aspekt seiner Philosophie in diesen Aussagen. Wenn Jonas von der Rettung des unsichtbaren Reiches spricht, geht es ihm um nichts weniger als die Bewahrung der Schöpfung und die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen. Wir Vgl. PV, S. 47 sowie S. 62 ff. In seinem 1976 publizierten Artikel »Responsibility Today: The Ethics of Endangered Future« (Social Research 43.1, Cambden 1976, S. 77–97) bezieht er sich explizit auf Robert Heilbroner: An Inquiry into the Human Prospect, Norton 1974. Die wesentlichen Aspekte seines Verantwortungsbegriffs sind in diesem Aufsatz abgehandelt und setzen die Überlegungen aus »Technology and Responsibility: Reflections on the new tasks of Ethics« (Social Research 40.1, Cambden 1973, S. 31–54) fort. Am PV arbeitete Jonas seit etwa April 1972. 24 Vgl. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1987: Hans Jonas: Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Laudatio Robert Spaemann, Frankfurt/M., S. 7. 25 Hans Jonas: Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987, S. 61. 26 Ebd., S. 3. 23

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müssen uns nach Jonas wieder bewusst werden, was wir auf keinen Fall zerstören möchten. Wir müssen uns darüber verständigen, was uns so heilig ist, dass wir es unter keinen Umständen anrühren dürfen, um letztlich unsere Freiheit nicht komplett aufzugeben. »Das göttliche Abenteuer« spielt in der Philosophie von Hans Jonas also eine ganz besondere Rolle, sowohl in seinen Studien zur Gnosis als auch in den drei Aufsätzen zur Lehre des Menschen von 196327 sowie schließlich in dem populär gewordenen Vortrag über den »Gottesbegriff nach Auschwitz«.28 Thema dieser von Jonas so genannten spekulativen Theologie ist die Irritation des Menschen angesichts eines auch in Auschwitz stumm gebliebenen Gottes. Für die Juden war Gott seit jeher der Herr der Geschichte. Da stelle Auschwitz »selbst für den Gläubigen den ganzen überlieferten Gottesbegriff in Frage.«29 Wer Gott nicht ganz aufgeben möchte, müsse den Gottesbegriff zumindest neu überdenken und fragen, welcher Gott Auschwitz geschehen lassen konnte. Jonas greift zur Veranschaulichung eines neuen Gottesverständnisses auf einen Grundbegriff der jüdischen Kabbala zurück: Der Zimzum, den er in seinem Vortrag anfangs noch »Mythos« nennt. Gott habe sich seiner Gottheit entkleidet, um das Werden der Welt, um Leben und Tod zu ermöglichen. Mit dem Menschen entstanden Wissen und Freiheit, Gut und Böse und die Aufgabe, sich der Verantwortung für die Schöpfung zu stellen.30 Jonas rekurriert hier auf die Zusammenziehung Gottes vor Erschaffung der Welt, seinen Rückzug und seine Selbstbeschränkung zwecks Schöpfung der Welt, wie sie im Zimzum seit Isaak Luria im 16. Jahrhundert zunächst als jüdische Geheimlehre überliefert wurde. Hierzu bemerkt Christoph Schulte: »Der vor der Schöpfung allgegenwärtige und unendliche Gott muss sich im Zimzum von sich selbst in sich selbst zurückziehen und begrenzen, um allererst für die Erschaffung der Welt in seiner eigenen Mitte Platz zu machen. (…) Dabei schränkt Gott im Zimzum auch seine Allmacht ein, so dass überhaupt Endliches entstehen kann. Ohne Zimzum keine Schöpfung.«31 Isaak Luria (1534–1572), in Kairo geboren, lehrte in Safed im heutigen Israel. Seine theosophische Lehre von der Selbstverbannung Gottes ist eine kabbalistische Ursprungsmetapher, die zu einer Zeit entstand, in der die Juden selbst ins Exil getrieben wurden. Die Kabbalisten in der Nachfolge Lurias standen vor dem Problem, wie aus etwas Unveränderlichem, Ewigem (En-sof) etwas Endliches hervorgehen kann bzw. wie etwas aus Nichts entstehen kann.32 Die Formel vom Ursprung aus dem Nichts entspringt laut Gershom Scholem genuin der jüdischen Theologie und Philosophie.33 Das Paradoxon wird in der Kabbala darauf zurückgeführt, dass die menschliche Sprache begrenzt ist. Sie kann den numinosen Vorgang nicht anders beschreiben als auf die Metapher von der Selbstbegrenzung Gottes zurückzugreifen. Durch die Selbstbegren27 28 29 30 31 32 33

Ebd. Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M. 1984. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 22. Christoph Schulte: Zimzum. Gott und Weltursprung, Frankfurt/M. 2014, S. 9. Vgl. ebd., S. 44. Gershom Scholem: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970, S. 55.

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zung Gottes sei ein leerer, von Gott geträumter Raum entstanden. Über diesen leeren Raum existierten auch in der Kabbala unterschiedliche Auffassungen. Einige Interpreten konstatierten, dieser Urraum befinde sich immer noch in Gott selbst, denn der Raum sei immerfort und von allen Seiten von göttlichem Licht umgeben.34 Gegen die Emanationsthese stand offensichtlich der Glaube, die leere Mitte sei der einzige freie Ort überhaupt, denn nur dort, wo Gott abwesend und nicht herrschend ist, sei Freiheit allererst möglich. Allen Interpretationen jedoch gilt der Rückzug Gottes als Bedingung der Möglichkeit der Entstehung von etwas, das nicht Gott ist und dem sich folglich Gott offenbaren muss. Ohne Zimzum keine Offenbarung, weil Gott sich nicht sich selbst offenbaren muss.35 Laut den Kabbalisten handelt es sich beim Zimzum nicht um einen einmaligen Akt. Vielmehr sei der Zimzum eine permanente Handlung Gottes.36 Solange es also außer Gott noch etwas anderes geben soll, solange ist der Zimzum Gottes unabdingbare Voraussetzung. Weil Gott sich zusammenzieht, zurückzieht und einen leeren Raum (Pleroma) hinterlässt, entsteht etwas Anderes, eine Differenz, eine Vielfalt (Nicht-Gott), die das Eine und Unendliche zwar nicht verändere, wohl aber seine Effekte und Folgen. Das irdische Verhalten, so die Kabbalisten weiter, übe Einfluss auf die göttlichen Kräfte aus. Weil Gott sein Antlitz in diesem leeren Raum aber verbirgt (Hester Panim), entstehen auch Leid und Katastrophen.37 In den leeren Raum dringen allenthalben göttliche Lichtstrahlen, die auch jene Gefäße zerbrechen, die ursprünglich dazu dienen sollten, die Lichtfluten aufzunehmen. Nach dem Bruch der Gefäße ist nichts mehr an seinem Ort: »Alles steht irgendwo anders. Ein Sein aber, das nicht an seinem Orte ist, ist im Exil. Und so ist denn alles Sein von jenem Urakt an ein Sein im Exil und bedarf der Rückführung und Erlösung.«38 Denn alles ist zerbrochen und bleibt unvollendet. Im 20. Jahrhundert wird die jüdische Mystik und die lurianische Kabbala, die in ihrer Lehre vom Zimzum Gemeinsamkeiten mit der Gnosis aufweist, wiederentdeckt. Neben Franz Rosenzweig und Martin Buber ist es insbesondere Gershom Scholem, der den Zimzum in seinen Schriften thematisiert. Er ist es auch, der Hans Jonas auf den sich in sich selbst zurückziehenden Gott aufmerksam macht.39 Bei Scholem wird der vorgeschichtliche Zimzum allerdings zu einem innergeschichtlichen Zimzum: Gott zieht sich ein zweites Mal zurück. Nicht nur begrenzt er sich selbst vor Erschaffung der Welt um etwas anderes möglich zu machen. Er zieht sich abermals in der bereits geschaffenen Welt zurück. Dieser erneute Rückzug ist das die Moderne prägende Phänomen.40

Schulte: Zimzum, a. a.O., S. 68. Ebd., S. 72. 36 Ebd., S. 74. 37 Ebd., S. 269. 38 Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Darmstadt 1965, S. 151. 39 Vgl. Schulte: Zimzum, S. 16. 40 Ebd., S. 388. Vgl. auch Gershom Scholem: Zur Kabbala, a. a.O. Scholem nutzt dieses Bild bei seiner Trauerrede auf Franz Rosenzweig. 34 35

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Hans Jonas greift die Interpretation Scholems 1963 und dann in seinem Vortrag von 1984 auf. Bei ihm ist der innerweltliche Rückzug Gottes noch radikaler und absolut. Gott hat die Herrschaft über die Geschichte endgültig preisgegeben. Gott leidet durch den Schöpfungsakt an dem, was durch ihn entstanden ist. Jonas interpretiert ihn durch dieses Leiden als werdenden, sich verändernden, aber auch sorgenden Gott. Doch dieser sorgende Gott ist kein Zauberer. Seine Sorge bedeutet keineswegs, dass er fähig ist, die Welt positiv zu gestalten.41 Die Welt, unvollkommen und unvollendet, gehorcht fortan eigenen Gesetzen. Gott hat als der Eine im Hinblick auf den Gegenstand der Sorge etwas Anderem »einen Spielraum und eine Mitbestimmung überlassen.«42 Gottes Allmacht gibt es nicht mehr. Der Schöpfungsakt hat diese Allmacht zunichte gemacht. In Auschwitz schwieg Gott, so Jonas, nicht etwa deshalb, weil er nicht eingreifen wollte, sondern weil er auf Grund seiner eingeschränkten Macht nicht eingreifen konnte. »Im bloßen Zulassen menschlicher Freiheit liegt ein Verzicht göttlicher Macht.«43 Gottes Machtverzicht ist zugleich Machtgewinn und damit Verantwortungspflicht des Menschen. Ohne Zweifel stellt dieser Machtgewinn des Menschen hohe Ansprüche an eine zeitgemäße Ethik. Denn sie muss des Weiteren auf die Tatsache reagieren, dass das Wesen des Menschen selbst im Wandel begriffen ist und einen Wandel des Politischen nach sich zieht; sie muss ferner eine Antwort finden auf die Tatsache, dass das menschlich Gute nicht länger klar definierbar ist; und sie muss eine Lösung für die Tatsache finden, dass die Reichweite menschlichen Handelns nicht eindeutig umgrenzt ist. Nichtsdestotrotz stellt Jonas zugleich klar, das Prinzip Verantwortung sei eine Ergänzung bisheriger Ethik. In der Tat bleibt sein Imperativ: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«44 auf ganz bestimmte Handlungen beschränkt, solche nämlich, die die Permanenz des Lebens bedrohen. Das Prinzip Verantwortung ist insofern als Ethik angelegt, die jenes Handeln verurteilt, das schlimme Folgen nach sich zieht. Es bedeutet in der Konsequenz, dass zu prüfen ist, welche Handlungen überhaupt für die Permanenz des Lebens relevant sind.

IV Geltungsbereich des Prinzips Verantwortung Nicht alle unsere Handlungen sind für das Überleben der Menschheit und die Bewahrung der Schöpfung entscheidend. Nicht alle Handlungen haben langfristige Folgen, die es zu bedenken gilt, obwohl wir Verantwortung für sie tragen, solange wir sie ausführen. So trägt ein Pilot Verantwortung für die Fluggäste, die er sicher von A nach B bringen soll. Dort angelangt, erlischt seine Verantwortung. Ist die Maschine sicher gelandet, ist nicht nur die Handlung beendet, es sind auch keine Wirkungen der Handlungen des Piloten mehr zu erwarten.45 41 42 43 44 45

Vgl. Jonas: Gottesbegriff, a. a.O., S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 43. PV, S. 36. Vgl. Jonas, TME, a. a.O.

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Jonas’ Handlungsmaxime zielt insofern nicht auf den alltäglichen Gebrauch wie etwa Kants kategorischer Imperativ. Denn die wenigsten Dinge, die ich täglich vollrichte, sind für die Bewahrung der Schöpfung von Bedeutung. Jonas versteht seinen Imperativ deshalb als Ergänzungsprinzip zur traditionellen Ethik. Allerdings beansprucht er, dass diese Ergänzung von fundamentaler Bedeutung ist und von der bisherigen Ethik nicht ausreichend berücksichtigt wurde. Es bedarf dieser Ergänzung auch nur, weil sich die Welt und die menschlichen Möglichkeiten so grundlegend gewandelt haben und alle gebräuchlichen Maximen unzureichend auf diesen Sachverhalt anwendbar sind. Doch in genau diesem Geltungsbereich geht das Prinzip Verantwortung aufs Ganze: Bewahrung der Schöpfung und Fortbestand menschlichen Lebens auf der Erde. Es ist ein offensichtlicher Widerspruch, wenn Jonas von einem »kategorischen« Imperativ des Handlungsprinzips spricht, dieses aber nur auf ganz bestimmte Handlungen angewendet wissen will, von denen nicht einmal genau klar ist, welche Handlungen überhaupt darunter fallen. Doch deutet er eine Lösung an, wenn er von der Kasuistik der Verantwortung spricht. Es gilt, den Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, ob diese oder jene Handlung moralisch vertretbar ist. Das heißt zu entscheiden, ob sie das Wohl und Weh der Menschheit als Ganze betrifft. Nie ganz zu klären ist jedoch, ob eine vorsorglich getroffene Entscheidung und die daraus resultierenden Handlungen tatsächlich langfristig erhoffte positive Wirkungen nach sich ziehen. Darüber hinaus bleibt ebenso offen, wer im Zweifel über den ethischen Gehalt einer konkreten Entscheidung bestimmt. Jonas übergibt die Lösung dieses Problems gewissermaßen in die Hände all derer, die qua Amt Verantwortung tragen. Das ist auf der einen Seite der »Staatsmann«, sagen wir: der (demokratisch legitimierte) Regierungsapparat in Bezug auf die Belange der Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind das die Eltern, die Verantwortung für ihre Kinder tragen. Qua Übernahme eines politischen Amtes wächst dem Menschen ein besonderer Einfluss auf Andere zu. Herrschaft über das Volk und Macht über die Menschen, die der Politiker qua Amt innehat, werden – insbesondere dann, wenn sich die Art der Politik zu parlamentarisch-demokratischen Grundsätzen bekennt – zu einer Verantwortung des Menschen für den Menschen. Als Manifestationen von Macht erstarren politische Institutionen ohne die Unterstützung des Volkes.46 Durch die gewollte Übernahme von Kollektivinteressen haftet der Ausübung politischer Ämter eine gewisse Künstlichkeit der Sache an. Das Spannungsfeld von natürlicher und künstlicher Verantwortung macht Jonas deutlich am Beispiel Eltern-Staatsmann: »Die Aufzucht des Kindes schließt die Einführung in die Welt der Menschen ein, beginnend mit der Sprache und fortgehend in der Übermittlung des ganzen Kodex gesellschaftlicher Überzeugungen und Normen, durch deren Aneignung das Individuum Mitglied der weiteren Gemeinschaft wird. Das Private öffnet sich wesenhaft zum Öffentlichen und schließt es, als zum Sein der Person gehörig, in seine eigene Vollständigkeit ein. Mit anderen Worten, der »Bürger« ist ein immanentes Ziel der Erziehung, somit Teil der elterlichen Verantwortung, und dies nicht erst kraft Auferlegung durch den Staat. Andererseits, 46

Vgl. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München 1970, S. 42.

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wie die Eltern ihre Kinder »für den Staat« erziehen (wenn auch für manches mehr), so übernimmt der Staat von sich her Verantwortung für die Erziehung der Kinder.«47 In beiden Sphären sieht Jonas eine Art Urbild aller Verantwortung (des Menschen für den Menschen) verwirklicht: »Für irgendwen irgendwann irgendwelche Verantwortung de facto zu haben (nicht darum auch, sie zu erfüllen, selbst nur zu fühlen) gehört so untrennbar zum Sein des Menschen, wie daß er der Verantwortung generell fähig ist.«48 Galten die archaischen Herrscher demgegenüber noch als Väter ihrer Untertanen und bedeutete dies eine Form der Entmündigung der Bürger, die für Jonas nicht zum Wesen des Politischen gehört, so deutet er stattdessen politische Verantwortung als Verantwortung »für das Lebensganze des Gemeinwesens.«49 Der Staatsmann, selber Geschöpf der Gemeinschaft, trägt aufgrund dieser Qualität seiner Verantwortung Sorge für das Ganze der Gemeinschaft. Als Bürger eines gesellschaftlichen Sozialisierungsprozesses, in dessen Rahmen er selbst erzogen worden ist, obliegt es ihm auf Grund der ihm aufgetragenen und mitgegebenen machtpolitischen Befugnis im Staat und über den Staat hinaus, eine besondere Verantwortung für all diejenigen zu übernehmen, die ebenso Teil des Ganzen der Gemeinschaft sind. Diese Art der Verantwortung »muß »geschichtlich« verfahren, ihren Gegenstand in seiner Geschichtlichkeit umgreifen.«50 Insofern gehen hier die historisch gewachsene Gemeinschaft und die Ansprüche an eine Zukunft des Gemeinwesens Hand in Hand. Das bedeutet, dass das Innehaben von Verantwortung zugleich das moralische Komplement unseres Zeitlichseins darstellt. Verantwortung wird also virulent, wenn es darum geht, zwischen dem Diktat der Wirtschaft, welches mit dem Globalisierungsprozess einhergeht und die Gefahren hochtechnologischer wie auch hochtechnokratischer Zivilisationen in sich birgt, und der damit ebenso wachsenden Notwendigkeit einer auf den Ideen der Aufklärung – nämlich Freiheit, Reziprozität und Solidarität – beruhenden Bildung mittels einer Politik der Vernunft zu vermitteln. Dies schließt dann notwendigerweise ein, Zustände herzustellen, die das reziproke Tragen von Verantwortung überhaupt erst ermöglichen und deren Permanenz zu bewahren, sowie umgekehrt Zustände, die dies nicht ermöglichen, zu kritisieren und zu verändern. Im positiven Fall sind dies Zustände gegenseitigen Respekts der Andersartigkeit und Individualität, gegenseitige Transparenz der Motive, gegenseitiger Solidarität zur Überwindung von Nachteilen – basierend auf gegenseitiger, strikt reziproker Rechtfertigung und Ernsthaftigkeit. Verantwortung zu übernehmen bedeutet dann, dass ich für eine Person, Sache, Situation etc. Verantwortung in der Form dreistelliger reziproker intersubjektiver Mitverantwortung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trage. Politik und Erziehung sind insofern die beiden Instanzen, denen Jonas die Entscheidungskompetenz überträgt. Sie tragen deshalb auch Verantwortung dafür, sich entsprechendes Wissen über die Wirkungen und die Folgen ihres Tuns zu besorgen. Bloß wie? 47 48 49 50

PV, S. 191. Ebd., S. 185. Ebd., S. 190. Ebd., S. 196.

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Hier greift Jonas auf ein anthropologisches Moment zurück, das er bereits in seinen philosophisch-biologischen Studien skizziert hat.51 Es ist die Idee des Homo pictor, der sich seiner Fähigkeiten und der Freiheit seiner Imagination bewusst werden muss. So heißt es im Prinzip Verantwortung: »Sieh hin und du weißt!«52 Das Sehen, die Imagination, wird zum idealen Fernsinn und somit auch zur Bedingung der Möglichkeit der Verantwortungsübernahme. Denn der Mensch kann sich ein Bild machen über die möglichen Folgen seiner Handlung. Er kann sich vorstellen, was passiert, wenn diese oder jene Handlung durchgeführt wird. Jonas geht es darum, die biologischen Phänomene des gesamten Lebens ontologisch auszulegen und so die anthropologischen Schranken idealistischer und existentialistischer Philosophie zu durchbrechen. Dazu entwickelt er eine Stufenfolge des Lebens, in der Erfindungs- und Einfallsgabe, Repräsentationsvermögen und Glaube zu den Grundmomenten einer wachsenden Freiheit des Menschen werden. Ziel seiner philosophischen Biologie ist es, die durch die cartesische Philosophie zerschlagene, psychophysische Einheit des Lebens zu rehabilitieren. Kerngedanke ist, dass bereits in der primitivsten Form des Lebens durch den Stoffwechselprozess keimhaft Freiheit, Autonomie, Beziehungsfähigkeit, Sterblichkeit etc. angelegt seien. Diese Distinktion des einfachen Organismus gipfelt im menschlichen Denken, und damit letztlich in Wissen und Macht. Jonas’ aristotelisch inspirierte Stufenfolge des Lebens ist insofern Philosophie des Organismus und des Geistes. Denn das Organische präfiguriert in diesem Modell schon auf der niedrigsten Entwicklungsstufe das Geistige und somit die Freiheit. Andererseits bleibt auch in der höchsten Form der Geist stets Teil des Organischen. Dabei hebt er die Weltoffenheit des Menschen hervor: Durch die Schaffung von Werkzeug, Bild und Grab übersteigt menschliches Handeln alles Tierische und macht ihn zugleich auch offen für Gut und Böse. Schließlich verlangt Jonas’ Lehre der Zukunftsverantwortung, vorgezeichnet in seiner Anthropologie, von uns Menschen angesichts der durch Umweltverschmutzung und Biomedizin hervorgerufenen Probleme, aber auch angesichts des Machtraumes, in dem der Mensch mittels neuer Technologien handelnd die Welt verändert, eine neue Form der Demut – insbesondere gegenüber der Natur – und ethische Regulierung seiner Macht. Für Hans Jonas gilt, uns das Fürchten vor der Gefahr der hochtechnologischen Zivilisation und das Fürchten vor der immensen Produktion von Risiken zu lehren. Furcht erwächst aus dem Wissen über das Schicksal des Lebens als Ganzes. Sie ist positiv zu bewerten, weil es dem Menschen durch sie allererst möglich wird, bewusst und verantwortungsvoll mit dem umzugehen, was ihm widerfährt. Die Furcht vor Gefahr und Risiko tritt hierbei an den Ort erfahrener Gefahren und bereits produzierter Risiken. Das Lernen aus Erfahrung im Hinblick auf die Zukunft präferiert die Unheilsprophezeiung und gesteht der Heilsprophezeiung nur sekundäre Bedeutung zu. Logische Konsequenz dessen ist der Ausdruck des Dubio, und zwar contra Hans Jonas: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973. Später veröffentlicht als: Das Prinzip Leben, Frankfurt/M. und Leipzig 1994. 52 PV, S. 234. 51

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projectum, wenn ernsthafte Zweifel an der Werthaftigkeit des Handelns bestehen. Der Zweifel umschreibt jene imaginative Kasuistik, die eine angemessene Reaktion auf die gesellschaftliche Situation darstellen soll. Jonas verwendet dazu ein quasi anticartesianisches Argument: »Um das unzweifelhaft Wahre festzustellen, sollen wir nach Descartes alles irgendwie Bezweifelbare dem erwiesen Falschen gleichstellen. Hier sollen wir uns umgekehrt das zwar Bezweifelbare, aber Mögliche (…) für Zwecke der Entscheidung wie Gewissheit behandeln.«53 Somit ist angesichts der Möglichkeiten unserer Handlungen Vorsicht geboten. Wir müssen von nun an Sorge für unser Tun tragen. Das Phänomen der Sorge zeigt sich nach Jonas archetypisch ausgeprägt in der Verantwortung gegenüber den (eigenen) Nachkommen: »Da spätere Menschen auf jeden Fall da sein werden, gibt ihnen, wenn es so weit ist, ihr unerbetenes Dasein das Recht, uns Frühere als Urheber ihres Unglückes zu verklagen (…) Also besteht für uns Heutige aus dem Recht des zwar noch nicht vorhandenen, aber zu antizipierenden Daseins Späterer eine antwortende Pflicht der Urheber, kraft deren wir ihnen mit solchen unseren Taten, die in die Dimension solcher Wirkungen hineinreichen, verantwortlich sind.«54 Dabei sieht Jonas die mögliche Vereitelung eines künftigen Sollens als das eigentlich moralische Übel an. Sein ontologisch grundgelegter Imperativ lautet, dass eine Menschheit auch in Zukunft sein soll. Seine Idee des Menschen ist eingebettet in seine metaphysische Lehre des Seins: Da der Mensch ein zur Verwaltung der Dinge »berufenes« Subjekt ist, trägt er grundsätzlich die Verantwortung für sein Handeln. Durch weitsichtiges und wohlüberlegtes, die Gefahren durchdenkendes und abwägendes Handeln angesichts des Fernhorizonts moderner Menschenmacht wird er der Aufgabe einer Zukunftsverantwortung gerecht.

V Kritik am marxistischen »Als-ob-Getue« Hans Jonas legt mit seinem Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation in erster Linie eine politische Theorie vor. Dabei geht er von einer Schicksalsgemeinschaft zwischen Mensch und Natur aus. In dieser Gemeinschaft gibt es keine Freiheit ohne Notwendigkeit. Diese Freiheit impliziert, dass das Sein zweckbezogen und wertvoll ist: Es existieren moralische Grenzen der menschlichen Schöpferrolle. Und es gibt Grenzen von Forschung und Wissenschaft. Gleichwohl betont er die Pflicht, sich Wissen anzueignen. Dieses Wissen müsse aber zuvorderst der Einübung in Demut, Bedächtigkeit und Behutsamkeit dienen: In dubio pro malo. Methodisch wird diese Forderung begleitet von der imaginativen Kasuistik, der Einbeziehung des Anderen und der Rechenschaftspflicht des Handelnden. Aber auch die Herausbildung von Furcht und das Schuldbewusstsein bilden wichtige erzieherische Momente seiner Philosophie. Das Prinzip Verantwortung will eine »Ethik ohne Engel« sein, so Jonas im Vorwort seines Klassikers. Es verzichtet auf Predigten und Gesinnungen und argumentiert syste53 54

PV, S. 81. Ebd., S. 87.

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matisch und mit guten Gründen. Zudem übt es scharfe Kritik an einer abstrakten Prinzipienethik. Jonas stellt demgegenüber seine realistisch-pragmatische Interpretation des Sittengesetzes. Er leitet es aus ontologischen Prämissen ab: Stets ist es der Anspruch und der Anruf von Seiendem, der uns einsichtig werden lassen soll. Das Fundament seiner Verantwortung bildet die zweistellige Dimension von Verantwortungsgegenstand und des von diesem Gegenstand Affizierten. Jonas reduziert Verantwortung schließlich auf ein strukturell hierarchisches, zwischenmenschliches Machtgefüge. Er beschließt seinen Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation mit einer ausführlichen Kritik des marxistischen Utopismus. Abermals zeigt er sich in dieser Kritik als Kind seiner Zeit. Zunächst argumentiert er aus der Logik des Marxismus heraus, dessen eigener Anspruch daran bestünde, die Bedürfnisse Aller zu befriedigen. Dies, so interpretiert Jonas den Blickwinkel marxistischer Ideologie, kann nur mittels Technik und enormer Maschinenhilfe gelingen. Ziel sei die bessere Lenkung der Richtung technischen Fortschritts und die gerechte Verteilung der Güter. Jonas’ eigene Frage an diesen Anspruch lautet hingegen, was die Natur noch zu ertragen imstande ist.55 Hierbei fokussiert er den demographischen Wandel ebenso wie den Einsatz chemischer Mittel zwecks Ernährung der Weltbevölkerung. Er spricht an dieser Stelle von »agrarischen Maximierungstechniken«56, die bereits Wirkungen zeigen: Bodenversalzung, Erosion, Klimawandel, Entwaldung etc. Das utopische Ideal des Marxismus verkennt in seiner politischen Lesart die gewaltigen Probleme, die mit der Befriedigung der Bedürfnisse Aller einhergehen. Allem voran nennt Jonas das Rohstoff- und Energieproblem und die planetarisch-biosphärischen Folgen der Verwendung von Rohstoffen und Energie. Sein Hauptkritikpunkt ist weniger der politische Anspruch des Marxismus als vielmehr die Blindheit, mit der er diesen Anspruch umzusetzen gedenkt. Lange bevor weltweit die Diskussion über Ressourcenknappheit, Klimawandel und Treibhauseffekt richtig beginnt, diskutiert Jonas entlang seiner Marxismuskritik Vor- und Nachteile von Sonnen- und Kernenergie in beinahe schon visionärer Eindringlichkeit. Keinesfalls will er als Mahner vor jeglichem technischen Fortschritt gelten. Zugleich betont er jedoch, dass für die Gläubigen der Utopie »auch das Äußerste erwägbar werden« könnte, und das hieße zum Wohle des Kommenden, Besseren das Bestehende zu opfern, »umso mehr, als die für die Herbeiführen der Utopie ohnehin vorgesehene und bejahte Diktatur von sich her zu extremen Mitteln verleitet.«57 Der Utopieglaube impliziere, so Jonas scharfsinnig, Fanatismus und Erbarmungslosigkeit, ohne dass er den »Greuelkatalog der Geschichte«58 zitieren möchte. Es nimmt allerdings nicht wunder, dass Hans Jonas in der Hochphase des Kalten Krieges die geistige Auseinandersetzung mit einem der prominentesten philosophischen Vertreter der marxistischen Utopie, Ernst Bloch, sucht, zumal dieser mit der Veröffent-

55 56 57 58

Vgl. PV, S. 327 ff. PV, S. 331. PV, S. 340. Ebd.

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lichung seines »Prinzip Hoffnung«59 in den 1950er Jahren im Ostblock und später auch in der linken Studentenschaft für Träume von einem besseren Leben gesorgt hatte. Jonas zielt hierbei insbesondere auf Blochs Idee der tätigen Muße, die im »Prinzip Hoffnung« als »Steckenpferd« aufscheint. In seiner sehr lesenswerten Analyse, in der er die Widersprüchlichkeiten in Blochs Philosophie deutlich macht, stellt er in der Konsequenz einen Verlust der Spontaneität und Freiheit fest. Sodann geht er hart ins Gericht mit Blochs marxistischer Utopie, denn niemand könne sich darüber hinwegtäuschen, dass sich »die Gespenstischkeit der Irrealität« über »das ganze Als-Ob-Getue« senke, »und mit ihr ein unvorstellbares taedium vitae, deren erstes Opfer die Freude sogar am erwähnten Steckenpferd ist. Kein Ernsthafter kann im steten und so leicht durchschauten Scheine glücklich sein. Auf die kommt es dann vielleicht nicht mehr an, wenn nur die Meisten, in Selbstachtung weniger Anspruchsvollen dabei zufrieden sind. Aber demoralisierend muss das Fiktive der Existenz auf alle wirken, denn mit der Wirklichkeit nimmt es dem Menschen auch seine Würde weg und die Zufriedenheit wäre so die der Würdelosigkeit. Wem heute an der Würde des Menschen liegt, sollte den Künftigen solche Zufriedenheit nicht wünschen, sondern sie ihrethalben befürchten.«60 Blochs Utopie der tätigen Muße sowie seiner Lehre vom Noch-nicht des eigentlichen Menschen setzt Jonas den Eigenwert der Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen, Freundschaft und sorgende Liebe entgegen. Kritisch fragt er zum Schluss in diesem Zusammenhang, ob in der Geschichte tatsächlich der Mensch »noch nicht« erschienen ist und insofern alle Geschichte ebenso »noch nicht« vollendet ist. Weiter fragt er, wie es sein kann, dass jemand der Auffassung ist, der Mensch müsse erst noch kommen. Denn für die marxistische Utopie habe es ihn bislang nur als Traum gegeben,61 so auch in Blochs Ontologie des Noch-Nicht-Seins im »Prinzip Hoffnung«. Bloch meint Noch-nicht keinesfalls Veränderung und Aktualisierung menschlicher Potenzialität. Er entwirft auch keine Teleologie oder eine regulative Idee des Menschen. Auch geht es ihm nicht um den Daseinsanspruch zukünftiger Generationen. Es geht Bloch, so Jonas, allein um den »Vor-Schein des Rechten«.62 Dieses Ziel aber trete »erst in der Rückschau der klassenlosen Zukunft«63 hervor. Alles Vergangene wird in die Rolle eines solchen Vor-Scheins gepresst und seines Eigenwertes und seiner wahren Bestimmung beraubt. Jonas hält dem entgegen, der eigentliche Mensch war seit jeher da, »in seinen Höhen und Tiefen, in seiner Größe und Erbärmlichkeit, seinem Glück und seiner Qual, seiner Rechtfertigung und seiner Schuld.«64 Blochs Ideal vom Menschen aber, nämlich der »eindeutig gewordene, utopische Mensch kann nur der schmählich zum Wohlverhalten und Wohlbefinden konditionierte, bis ins Innerste auf Regelechtheit abgerichtete Homunculus sozialtechnischer Futurologie sein.«65 Es gelte stattdessen, so Jonas, von der 59 60 61 62 63 64 65

Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1985. PV, S. 363. PV, S. 376. PV, S. 378. PV, S. 379. PV, S. 382. Ebd.

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Vergangenheit zu lernen, was der Mensch ist und was er sein kann: »Alles ist Übergang im Lichte des Nachher, manches Erfüllung im Lichte des Vorher, manches auch Vereitelung, aber nicht bloßer Vor-Schein des Eigentlichen, das erst kommt.«66 Deshalb lautet das Fazit von Hans Jonas: Offenheit für die Zukunft statt »Vor-Schein des Eigentlichen.«

VI Fazit Mit der Veröffentlichung des Prinzips Verantwortung trifft Hans Jonas Ende der 1970er Jahre den Nerv der Zeit. Die Menschen sehen sich in der Hochphase des Kalten Krieges vielen, teils nicht näher zu bestimmenden Gefahren ausgesetzt. Phasenweise herrscht zu dieser Zeit eine regelrecht apokalyptische Stimmung vor. Die Ost-West-Konfrontation prägt das politische Bewusstsein, die technischen Entwicklungen und das Gefährdungspotenzial der atomaren Aufrüstung tragen erheblich dazu bei, dass sich eine generationenübergreifende Verunsicherung breit macht. Niemand weiß genau, was die Zukunft bringen wird. Untergangsszenarien sind an der Tagesordnung, der Störfall wirkt als heuristisches Moment zukünftiger Technologien. Der die Fiktion einer Katastrophe konstituierende Kalte Krieg mit seinem Paradigma des Gleichgewichts des Schreckens ist omnipräsent. Das nahe bevor stehende neue Millenium wirkt wie ein Fanal der immer bedrohlicher werdenden Zukunft. Atomzeitalter und Risikogesellschaft werden zu Schlagworten der gesellschaftspolitischen Situation. Hans Jonas’ Philosophie spiegelt nicht zuletzt die Zukunftsängste der Menschen. Zugleich zeichnet er einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma von Fortschritt und Bedrohung vor: Wenn die Menschheit auch in Zukunft weiter unter menschenwürdigen Bedingungen existieren soll, dann müssen alle umdenken. Politik und Erziehung müssen global denken und auf die neuen realen Parameter des Zusammenlebens reagieren. Sie müssen Maßnahmen ergreifen, die verhindern, dass sich die Menschheit als Ganze in Gefahr bringt. Seine Antwort auf die veränderte gesellschaftliche Situation scheint äußerst einfach: Es gilt, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Die Rechtfertigung seines Prinzips erweist sich jedoch als höchst komplex. In sie fließen sowohl zeithistorische Debatten wie religionsphilosophische und biologische Überlegungen mit ein. Keineswegs muss man all diese Prämissen im Einzelnen teilen, um zu erkennen, wie bedeutsam das Thema Verantwortung auch für die Gegenwart menschlichen Handelns ist. So stehen wir gegenwärtig weltweit vor weiteren gravierenden Problemen wie wachsende Armut, Arbeitslosigkeit, Alterung und Klimawandel. Wir kennen die Schneeballeffekte des technologischen Fortschritts und wissen, dass der Mensch immer neue Präzedenzfälle schafft. Nicht erst seit Tschernobyl und Fukushima kennen wir darüber hinaus die Folgeprobleme atomarer Energie. Wir wissen um die Seuchen, die jede Generation heimsucht, Krankheitserreger und elektronische Viren. Ganz zu schweigen von den Naturkatastrophen der Gegenwart, den wieder erstarkten Feinden der Demokratie und den neuartigen Kriegen, die nicht mehr nur von Staaten ausgeführt werden, son-

66

PV, S. 387.

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dern auch über kleine Terroreinheiten und Drohneneinsätze.67 Hans Jonas hat vor über 30 Jahren gefordert, dass die neuen Arten und Abmaße des Handelns einer kommensurablen Ethik der Voraussicht und Verantwortung bedürften, eine Ethik, die so neu wäre wie die Eventualitäten, mit denen sie zu tun hat. Hierbei fand seine Ethik ihre Grundstruktur vor der Folie der kommenden Katastrophe, in der die zahllosen Zukünfte kulminierten. Ohne in Fatalismus zu verfallen,68 ist die Jonassche Philosophie nichtsdestotrotz geprägt von einem prinzipiell besorgten Unterton, den heute anzuschlagen trotz der vielen (bildungs-)politischen Herausforderungen nicht mehr ganz angebracht scheint. Dennoch verlangen neue Eventualitäten von uns, dass wir einen permanenten Diskurs darüber führen, wie wir in Zukunft leben wollen. Wir sind stets angehalten, Antworten auf neue gesellschaftspolitische Situationen zu geben, gefordert, Rechenschaft über unser Handeln und die ihm zugrunde gelegten Entscheidungen abzulegen. Kurz, wir haben nicht weniger als vor über 30 Jahren unser Tun vor Anderen zu verantworten. Auf diese Anderen als unsere Dialogpartner über eine gemeinsame Zukunft sind wir unweigerlich angewiesen. Es gilt, Verschiedenheit zu artikulieren, um überleben zu können und menschenwürdige, friedliche Zustände zu gewährleisten. Vonnöten ist hierzu das, was Kant »Vorsehungsvermögen« genannt hat: Ein Rückblick auf das Vergangene, »um das Voraussehen des Künftigen dadurch möglich zu machen: indem wir im Standpunkte der Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen oder worauf gefaßt zu sein.«69 Dies bleibt bei allen Schwierigkeiten der realistischen Prognose über Trends und Permanenzen die Bedingung aller möglichen Praxis: »Der Mensch als weltoffenes Wesen, genötigt, sein Leben zu führen, bleibt auf Zukunftssicht verwiesen, um existieren zu können. Die empirische Unerfahrenheit seiner Zukunft muß er, um handeln zu können, einplanen. Er muß sie, ob zutreffend oder nicht, voraussehen.«70 Die vermeintlichen Ansprüche zukünftiger Generationen in diesem Diskurs sind nach wie vor virulent. Wir werden sie jetzt und in Zukunft zu diskutieren und somit zu berücksichtigen haben.

Siehe etwa Armin Krishnan: Gezielte Tötung. Die Individualisierung des Krieges, Berlin 2014. Vgl. Dietrich Böhler: Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster 2005. Sieh dazu auch die Beiträge in Holger Burckhart/Horst Gronke: Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002. 69 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht, Teil 1 § 32, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 490. 70 Reinhart Koselleck: »Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose«, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003, S. 203–224, hier S. 205. 67 68

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Literatur Adorno, Theodor W.: »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 10.2, Frankfurt/M. 1977. Annual Report on the Economics and Demographic Trends in the Industrial Countries of Western Europe and USA up to 1990. Arendt ,Hannah: Macht und Gewalt, München 1970. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem, München 2014. Arendt, Hannah: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2006. Bell, Daniel: The coming of post-industrial Society. A venture in Social Forecasting, London 1974. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1985. Böhler, Dietrich: Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster 2005. Burckhart, Holger/Horst Gronke: Philosophieren aus dem Diskurs. Beiträge zur Diskurspragmatik, Würzburg 2002. Ehrlich, Paul: The Population Bomb, New York 1968; Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht, Stuttgart 1952. Erckens, Günter: Juden in Mönchengladbach, 2 Bände plus Registerband, Mönchengladbach 1988–1990. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Hans Jonas: Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Laudatio Robert Spaemann, Frankfurt/M. 1987. Georg Picht: »Was fordert die Zukunft von uns?«, in: Merkur 1, Januar 1969. Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt/M. 2010. Heilbroner, Robert: An Inquiry into the Human Prospect, Norton 1974. Heimpel, Hermann: »Gegenwartsaufgaben der Geschichtswissenschaft«, in: ders.: Kapitulation vor der Geschichte? Göttingen 1960. Hintzen, Holger: Paul Raphaelson und Hans Jonas. Ein jüdischer Kapo und ein bewaffneter Philosoph im Holocaust, Köln 2012. Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe, Frankfurt/M. 2014. Interfutures: Facing the Future. Mastering the Probable and Managing the Impredictable, Paris OECD 1979. Jonas, Hans: Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen 1973. – »Technology and Responsibility: Reflections on the new tasks of Ethics«, in: Social Research 40.1, Cambden 1973. – »Responsibility Today: The Ethics of Endangered Future«, in: Social Research 43.1, 1976. – Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1984. – Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt/M. 1984. – Technik Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt/M. 1987. – Zwischen Nichts und Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen, Göttingen 1987. Jonas, Hans: Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt/M. 1993.

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– Erinnerungen, hg. von Christian Wiese, Frankfurt/M. 2003. Kahn, Hermann: Ihr werdet es erleben. Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, Wien/ München/Zürich 1968. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Absicht, Teil 1 § 32, in: Werke VI, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964. Koselleck, Reinhart: »Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose«, in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/M. 2003. Krishnan, Armin: Gezielte Tötung. Die Individualisierung des Krieges, Berlin 2014. Leontief, Wassily: Zukunft der Weltwirtschaft, UNO-Studie, Stuttgart 1977. Meadows, Dennis et alii: The Limits to Growth, Universe Books 1972. Meier, Christian: Das Gebot zu vergessen. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010. Prognos Euro-Report, Basel 1979. Seidel, Roman: »Biographie«, in: Ralf und Roman Seidel: Zeugen städtischer Vergangenheit. Hans Jonas, hg. von der Gladbacher Bank, Mönchengladbach 1997. Scholem, Gershom: Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970. G Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Darmstadt 1965. Schulte, Christoph: Zimzum. Gott und Weltursprung, Frankfurt/M. 2014. Stadtarchiv Mönchengladbach: Nachlass Hans Jonas, 14/3490 und 17/607.

KOLLO QUIUM 8 Pragmatistische Ethik Kolloquiumsleitung: Andrea Marlen Esser

Andrea Marlen Esser Zusammenfassung

Kolloquium Pragmatistische Ethik. Leitung und Einleitung: Andrea Marlen Esser (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Das Thema des Kolloquiums – Pragmatistische Ethik – sollte in Anbetracht der bisherigen Theorieentwicklung wohl am besten in Form einer Frage formuliert werden, denn es handelt sich bei dem Gegenstand dieses Kolloquiums eher um ein Projekt als um eine bereits fest etablierte Richtung in der Ethik. Die Beiträge werden sich daher mit der Frage beschäftigen: »Gibt es eine Pragmatistische Ethik?« oder auch: »Lässt sich auf der Grundlage pragmatistischer Überzeugungen auch eine Ethik entwickeln? Und falls ja: Was würde diese Ethik dann auszeichnen?«. Unter Umständen haben wir durchaus eine vage Vorstellung davon, was unter einer pragmatistisch begründeten Ethik verstanden werden könnte, beim gegenwärtigen Stand der Diskussion gibt es jedoch noch einige grundlegende Fragen zu klären, bis tatsächlich von einem elaborierten Konzept zu sprechen wäre. Mit ziemlicher Sicherheit stellen sich bei dem Versuch diese grundlegenden Fragen zu klären, auch noch Kontroversen ein, die bei der Konkretisierung des Projekts hilfreich sein könnten. Bei allen möglichen Differenzen lässt sich vielleicht aber ein grundlegendes Anliegen des klassischen Pragmatismus formulieren, wonach es darum geht, das philosophische Denken wieder an die zentralen Probleme des Lebens anzubinden. Das, »was greifbar und […] praktisch ist«1, sollte die »Wurzel jeder realen Unterscheidung des Denkens«2 bilden, so fordert es etwa Ch. S. Peirce. Und dazu muss, wie es seine Pragmatische Maxime3 verlangt, die Vorstellung denkbarer praktischer Folgen schon in die Bedeutungsbestimmung eines Begriffs integriert werden. Dieser Bezug auf die Praxis entscheidet darüber, welche Gedanken und welche begrifflichen Differenzierungen der jeweils verhandelten Sache angemessen und gerechtfertigt sind – und welche etwa als bloßes Beiwerk, als Reduktionen oder als Illusionen vernachlässigt werden können. Mit dieser Überlegung zur Bedeutungsbestimmung kommt noch ein weiteres grundlegendes Anliegen des klassischen Pragmatismus in Blick, das gerade für ethische Überlegungen wichtig sein könnte: dass nämlich erkenntnistheoretische Fragen und normative Fragen in bestimmten Zusammenhängen (zum Beispiel im Rahmen einer theoretischen Charles S. Peirce: »How to make our ideas clear«, in: Collected Papers of Charles Sander Peirce, Bd. 5, hrsg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Cambridge MA, The Belknap Press of Harvard University Press 1998 (1878), CP 5.400 bzw. »Wie unsere Ideen zu klären sind«, in: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. Suhrkamp 1991 (1878), S. 193, CP 5.400. 2 Ebd., S. 193. 3 Ebd. S. 258, CP 5.402: »Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object. « 1

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Analyse) begrifflich zwar unterschieden werden müssen, dass sie aber deshalb nicht auch schon als grundsätzlich voneinander getrennt und nicht miteinander zu verbinden verstanden werden sollten. Will man ernst machen mit der Anbindung der Philosophie an das Leben, so muss es auch in einer Theorie darum gehen, zumindest zwei wesentliche Dimensionen des menschlichen Lebens – Theorie und Praxis – in ihrer spezifischen Verbindung und ihrem Zusammenhang zu bestimmen. Theorien, die sich diesem methodischen Vorgehen verpflichten, scheinen mir durchaus fruchtbare Beiträge etwa zur aktuellen Diskussion in der Ethik leisten zu können. Zum einen, weil sie durch die Forderung nach einer spezifischen Verbindung von Denken und Handeln deutlich machen können, dass es allein mit der Aufstellung und Begründung allgemeiner Normen in der Ethik nicht getan ist. Vielmehr sieht man unter dieser Perspektive schnell ein, dass das konkrete Handeln und der Modus des Handlungsvollzugs als originäre Momente der ethischen Überlegung mitberücksichtigt werden müssen. Das bedeutet: Auch die jeweiligen Haltungen, die in den Handlungen gleichsam verkörpert sind, müssen bei der Darstellung des Handelns beachtet und zur Artikulation gebracht werden. Diesem Anspruch kann aber nur entsprochen werden, wenn menschliches Handeln im Kern als ein produktiver und kreativer Prozess begriffen wird, der im interpersonalen, gesellschaftlichen Zusammenhang vollzogen wird und der auch erst in diesem Zusammenhang eine konkrete Bedeutung erlangt. Zum anderen scheint mir die Stärke eines Ansatzes, der diese pragmatistische Herangehensweise wählt, darin zu liegen, dass allgemeine Normen und Orientierungen von Anbeginn nicht kontextlos und abstrakt entworfen werden, sondern dass die tatsächliche Verflechtung von deskriptiven und normativen Elementen in der Wirklichkeit den Ausgang für weitere Analysen und Bestimmungen bildet. Wie es dennoch gelingen kann, einen kritischen Standpunkt auf die Wirklichkeit zu etablieren, ist gegenwärtig durchaus ein Gegenstand von Kontroversen. In dieser Frage erscheint mir der Vorschlag von Ch. S. Peirce recht überzeugend: Gerade wenn allgemeine Überzeugungen auf ihre möglichen Konsequenzen in der konkreten Praxis befragt werden, können auch dialektische Verhältnisse in den Blick kommen welche sich einstellen, wenn einerseits die allgemein propagierten Ideale, Werte und Ansprüche und andererseits das tatsächliche Handeln inhaltlich voneinander abweichen, in eine Spannung geraten oder sogar in einem Gegensatz auseinandertreten. Die Erfahrung einer solchen Dialektik kann zum Anlass genommen werden, um nicht nur die eigenen Überzeugungen, sondern auch die ihnen zugrundeliegenden Orientierungen und Vorgehensweisen in Zweifel zu ziehen, da sie es sind, die solche Diskrepanzerfahrungen erzeugen. Peirce hat diese Dialektik in seiner Schrift Fixation of Belief4 sehr anschaulich an vier weit verbreiteten Methoden – mithilfe derer mit aufbrechendem Zweifel umgegangen werden kann – demonstriert und sie daraufhin getestet, wie produktiv sie Zweifel und Diskrepanzerfahrungen jeweils bewältigen können.5 Wenn man sich auf dieser Grundlage nun auch 4 Charles S. Peirce: »The fixation of belief«, in: Collected Papers of Charles Sander Peirce, Bd. 5, hrsg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Cambridge MA, The Belknap Press of Harvard University Press 1998 (1877), 223–247 (CP 5.358-387). 5 Die vier Methoden bezeichnet Peirce als Method of Authority, Method of Tenacity, A priori Method und Method of Science, vgl. Peirce: «The Fixation of Belief«, CP 5.358–87.

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über die Leistungsfähigkeit ethischer Konzepte Gedanken macht, so könnte die Leitfrage lauten: »Welche ethischen Grundorientierungen und Methoden bringen Erfahrungen hervor, durch die sie bzw. die Überzeugungen, die auf ihrer Grundlage gebildet werden, in der Anwendung bestärkt werden?« Mit bestärken ist allerdings auch gemeint, dass Diskrepanzerfahrungen und Zweifel, die auf ihrer Grundlage auftreten, zur Selbstkritik genutzt und damit produktiv integriert werden können, sodass sie am Ende neue Einsichten, neue Handlungsoptionen und vielleicht auch glückende Kooperationserfahrungen ermöglichen. Dieses Vorgehen könnte zu einer Variante ethischer Theorie führen, in der die Korrektur von bereits angenommenen Überzeugungen, also eine kritische Selbstkontrolle, den Status eines Prinzips erhält. In dieser Ethikkonzeption würde die Selbstkorrektur weniger einen bestehenden Makel der Grundstruktur anzeigen, sondern vielmehr als Ausdruck einer gelungenen Selbstbestimmung gewertet werden können. In der Konsequenz eines solchen Ansatzes wäre auch die Vorstellug oder der Begriff des Guten immer nur eine leitende Idee. Aber diese Idee könnten wir in unseren konkreten Handlungen niemals direkt umsetzen, weil wir darin immer die Besonderheiten der jeweiligen Handlungssituation berücksichtigen müssten. Jedoch würden wir durch unsere konkreten Handlungen den Inhalt dieser Idee indirekt bestimmen, sodass in der Kontinuität unseres Handelns deutlich werden könnte, was wir unter dem Guten tatsächlich verstehen (und es nicht nur abstrakt behaupten). Diese Herangehensweise mündet freilich nicht in Handlungen und Haltungen, die man in einem absoluten Sinne als gut bezeichnen kann, sondern nur in einen Prozess, der mit Peirce als Meliorismus bezeichnet werden kann. Diesem entsprechend können wir nur versuchen (und das sollten wir auch), die jeweils konkreten Umstände nach Kräften und nach Stand unserer Überzeugungen durch unser Handeln ein wenig zu verbessern. Soweit wären die allgemeinen Überlegungen zu der Konzeption des Kolloquiums formuliert, in dessen Rahmen Beiträge von Katrin Wille (Universität Hildesheim), Matthias Jung (Universität Koblenz-Landau) und Martin Hartmann (Universität Luzern) gehalten und diskutiert wurden.

Abstract: Ethik der Veränderung. Überlegungen im Ausgang von John Dewey Katrin Wille (Universität Hildesheim) Die Philosophie des Pragmatismus ist nicht für ihre Beiträge zur Ethik bekannt. Im Gegenteil, es ist eine offene Frage, was es bedeuten kann, von einer pragmatistischen Ethik zu sprechen und vor allem, warum es sich lohnt, nach einer solchen zu fragen. Meine Antwort auf diese Fragen setzt bei den Beobachtungen an, dass viele der pragmatistischen Grundbegriffe eigentümlich zwischen deskriptiven und normativen Begriffen schillern und dass Analysen und ethische Appelle sich in vielen Texten auffällig durchkreuzen. Ich will dieser Verschränkung zwischen theoretischem und praktischem Vokabular am Beispiel von John Deweys Zentralbegriff der Erfahrung nachgehen und seine Überlegungen sowohl fokussieren als auch zu dem ethischen Imperativ weiterentwickeln: Halte Dich veränderlich!

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Dafür werden im ersten Schritt unter dem Stichwort einer Logik der Erfahrung die Grundstrukturen von Erfahrung skizziert, diese in einem zweiten Schritt als Ästhetik der Erfahrung genauer beschrieben und an einer konkreten Situation entfaltet. Im dritten Schritt, der Ethik der Erfahrung bzw. Ethik der Veränderung, werden die ethischen Implikationen eigens herausgearbeitet. Den Zielpunkt bildet der Vorschlag, den beständigen Appell an die Offenheit und Veränderlichkeit von Erfahrungen zu einem ethischen Prinzip weiterzuentwickeln und dadurch einen möglichen Grundriss für eine pragmatistische normative Ethik zu skizzieren.

Abstract: Die Natur der Werte – eine pragmatistische Perspektive Matthias Jung (Universität Koblenz-Landau) Werden Werte entdeckt oder gemacht? Die Aktualität des pragmatistischen Wertdenkens zeigt sich darin, dass es sich dieser Alternative erfolgreich entzieht. Pragmatisten müssen sich nicht zwischen Max Scheler und John Mackie entscheiden, und sie haben gerade deshalb eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Stellung von Werten im Ganzen der Natur. Diese Antwort wird in drei Schritten entwickelt: erstens geht es um eine Neubestimmung des Begriffs Naturalismus, zweitens um eine Neufassung der Beziehung zwischen natürlichen Handlungsimpulsen und intersubjektiv vermittelter Reflexivität und drittens um die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Guten und dem Richtigen. Obgleich nicht alle klassischen Pragmatisten Naturalisten waren, ist der Naturalismus von Dewey für die Frage nach Werten besonders aufschlussreich, da er eine profilierte Alternative zum szientifischen Naturalismus darstellt. Für Dewey sind Werte unverdächtige Bestandteile der natürlichen Welt, wie sie sich uns in gewöhnlicher Erfahrung darstellt. Erfahrung ist mehr als Wissen und Science eine zwar mächtige und auf ihrem Feld autoritative, keineswegs aber die einzige Form der Wirklichkeitserschließung. Für diese Auffassung zentral ist, dass der Interaktionszusammenhang von Organismus und Umwelt als primär und der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt vorgängig betrachtet wird. Indem Dewey Werte als Qualitäten dieses Zusammenhangs betrachtet, entzieht er sie der misslichen Alternative von Subjektivierung vs. Platonisierung. Natürlicherweise erfahren Menschen in ihrem gewöhnlichen Umgang mit den Dingen die Realität in einer Weise, die Wertschätzungen einschließt. Letztere deutet Dewey als Erfahrungen realer Qualitäten, die noch unbestimmt sind und in einem falliblen Lernprozess artikuliert werden müssen, der letztlich mit der Menschheitsgeschichte zusammenfällt. Erlebte Qualitäten sind für alle bewussten Organismen charakteristisch und steuern ihr situatives Verhalten, aber nur Menschen bestimmen solche Situationen, indem sie zwischen dem primär Gewünschten und dem reflexiv Wünschenswerten unterscheiden. Dabei bilden sie in einem sozialen Prozess, dem eine idealisierende, verallgemeinernde Komponente wesentlich ist, nämlich Wünsche zweiter Stufe (Werte im Unterschied zu bloßen Präferenzen), die für ihre Identität konstitutiv sind. Solche Werte sind immer par-

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tikular, weil sie sich einer reflexiven Verarbeitung von kontingenten Erfahrungen verdanken, und sich darin von Kants universalistischer Menschheit in meiner Person unterscheiden. Andererseits lassen sie sich nicht präferenzutilitaristisch beschreiben, weil sie eben nicht nur Mittel maximieren, sondern auch Zwecke reflexiv neu artikulieren. Nicht Normen und Prinzipien, sondern die so verstandenen emotional, attraktiven und zugleich reflexiv korrigierten Werte, fungieren aus pragmatistischer Perspektive als unsere zentralen Handlungsorientierungen. Werte sind aber natürlich keineswegs intrinsisch gut und Wertorientierungen können partikularistisch entgleisen. Eine in Werten zentrierte Moralphilosophie kann daher nicht alleine stehen, sie bedarf der Ergänzung durch einen normativen Rahmen, der von divergierenden Werthaltungen unabhängig ist. So kommt das Rechte im Sinne universalistischer, normativer Prinzipien ins Spiel: als eine unumgängliche Prüfinstanz (Hans Joas) für das in Werthaltungen als gut erkannte. Der globale Diskurs um Menschenrechte ist in den letzten Jahrzehnten zu einer solchen Prüfinstanz aufgestiegen – was wiederum nicht denkbar wäre, wenn Menschenrechte nicht vielen Menschen als gültiger Ausdruck ihrer Werthaltungen erschienen wären. Auch ein universalistischer, normativer Rahmen bedarf ihn stützender Werthaltungen der Bürger. Das ist gewissermaßen die säkularistische Minimaldeutung des berühmten BöckenfördeDiktums. Wertkonflikte brauchen Normen, aber Werte bleiben die primären Handlungsorientierungen. Sie existieren weder in einer platonischen Ideenwelt noch allein im subjektiven Geist. Als wirkliche Qualitäten unserer Interaktionen mit der Umwelt sind sie für den antireduktionistischen Naturalismus Deweys ebenso real wie Atome und ihre Wechselwirkungen.

Abstract: Gibt es eine Pragmatistische Ethik? Martin Hartmann (Universität Luzern) Viele aktuelle Interpretationen der ethischen Implikationen des Pragmatismus betonen die prozeduralen Tugenden dieser Implikationen und folgen dabei William James, der den Pragmatismus als Methode bezeichnet hat, die auf verschiedene Forschungsfelder angewendet werden kann. Elizabeth Anderson spricht sogar von einem pragmatischen Test, der von uns verlangt, den Wert einer ethischen Theorie daran zu messen, ob sie in unserem Leben verkörpert werden kann. Der Beitrag artikuliert Zweifel an diesen Interpretationen. Er stellt zunächst prozedurale Entwürfe der Deweyschen Ethik vor, die als Hintergrund für die weiteren Überlegungen dienen. Anschließend werden einige der substantielleren Annahmen dieser Ethik verhandelt, insbesondere ihre synkretistische Aufnahme einzelner Aspekte zentraler ethischer Theorien der Vergangenheit. Im Mittelpunkt stehen dabei der Utilitarismus, die Ethik Kants und die Tugendethik. Abschließend wird gezeigt, wie scheinbar rein prozedurale oder methodisch orientierte Elemente einer pragmatistischen Ethik mehr Gewicht tragen, als häufig angenommen wird, sodass sie als substantielle Annahmen einer typischen pragmatistischen Ethik erscheinen. Vor diesem Hintergrund verliert eine pragmatistische Ethik zwar ein wenig von der Flexibilität,

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die es möglich zu machen schien, sie auf verschiedene praktische Probleme anzuwenden; gleichzeitig aber gewinnt sie an ethischer Substanz und wird als ernsthafter Kandidat im Raum konkurrierender ethischer Theorien sichtbar.

Literatur Peirce, Charles S.: Wie unsere Ideen zu klären sind, in: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1991 (1878), S. 182–215. – »How to make our ideas clear«, in: Collected Papers of Charles Sander Peirce, Bd. 5, hrsg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Cambridge MA 1998 (1878), S. 248–271. – »The fixation of belief«, in: Collected Papers of Charles Sander Peirce, Bd. 5, hrsg. v. Charles Hartshorne und Paul Weiss, Cambridge MA 1998 (1877), S. 223–247.

KOLLO QUIUM 9 Das Geschlecht der Philosophie Kolloquiumsleitung: Andrea Marlen Esser / Eva von Redecker

Andrea Marlen Esser Einleitung Eva von Redecker Report Mari Mikkola Die Andere der Philosophie: Warum mangelt es in der deutschen Philosophie noch an Gender-Gerechtigkeit? Susanne Lettow Geschlechterungleichheit in der Philosophie. Drei Thesen

Einleitung Andrea Marlen Esser (Friedrich Schiller Universität Jena)

Die Gleichberechtigung oder Gleichstellung von Frauen in der Gesellschaft und so auch in der Wissenschaft scheint in Anbetracht der rechtlichen und politischen Maßnahmen in den letzten Jahrzehnten kein drängendes Thema mehr zu sein. Und wenn trotz gut etablierter Rechte und vielfacher Fördermaßnahmen tatsächlich noch Nachbesserungsbedarf bestünde, dann wären die Vorschläge wohl direkt an die Politik zu richten, vielleicht noch an die Soziologie, gewiss aber nicht, so könnte man meinen, an die Philosophie. Diese – insbesondere in der Philosophie – weit verbreitete Meinung, dass ›das Genderthema‹ insgesamt und damit verbundene Fragen im Besonderen kein philosophisches Thema sei, wurde im Rahmen des Deutschen Kongresses für Philosophie in verschiedenen Veranstaltungen durchaus kritisch diskutiert. Außer einem Treffen der Mitglieder der frauenfördernden Gesellschaften (SWIP, DGPhil, IAPH) hat eine gut besuchte Podiumsdiskussion stattgefunden. Unter der Moderation von Eva von Redecker (HU Berlin) haben Sally Haslanger (Massachusetts), Mari Mikkola (HU Berlin) und Susanne Lettow (FU Berlin) über das sowohl in den USA als auch in Deutschland bekannte Phänomen diskutiert, dass trotz nahezu gleicher Geschlechterverteilung zum Studienbeginn in der Philosophie viele weibliche Studierenden die Universität schon nach der ersten Qualifikation verlassen. Der Schwund weiblicher Studierender nimmt dann auf dem Weg zu einer möglichen wissenschaftlichen Karriere immer weiter zu (auch bekannt unter der Bezeichnung ›leaky pipeline‹). Während es in den USA durchaus schon institutionalisierte Formen gibt, sich der Frage nach den Gründen für diese Entwicklung anzunehmen, kommt die Diskussion in Deutschland gegenwärtig überhaupt erst ins Rollen. Was in einer solchen Diskussion aber deutlich werden könnte, konnte schon die Podiumsdiskussion zeigen: dass die Auseinandersetzung mit dem Thema auch zu einer grundsätzlichen kritischen Selbstreflexion des Faches anregen würde. Gut etablierte, aber möglicherweise gar nicht so wünschenswerte Strukturen, Kommunikationsformen und Beurteilungsmaßstäbe kämen auf diese Weise in den Blick und könnten zu Veränderungen und neuen Sichtweisen anregen. Handlungs- und Urteilsgepflogenheiten, die als fachspezifische Besonderheiten und vielleicht sogar als zur philosophischen Arbeit notwendig angesehen werden, wären daraufhin zu prüfen, inwiefern sie nicht bloße Habitusformen darstellten. Und von diesen wäre wiederum zu fragen, ob sie tatsächlich angenommen werden müssen, um kritisches Denken zu vollziehen und begriffliche Klarheit zu erreichen, oder ob sie nicht vielmehr der Selbstbehauptung dienen und damit aber andere, möglicherweise integrativere und produktivere Arbeitsformen in der Philosophie verhindern. So gesehen scheint eine kritische Selbstreflexion auf die Formen der philosophischen – sei es individuellen sei es institutionellen – Arbeitsweise durchaus ein Thema für die Philosophie und bedarf auch

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eines philosophischen und nicht allein eines gesellschaftswissenschaftlichen Instrumentariums. Um das Thema nicht vorschnell nur einer bestimmten Gruppe innerhalb der Philosophie aufzuhalsen, würde auch die Frage, der wir in dieser Diskussion nachgehen sollten, nicht primär lauten: welche Fähigkeiten und Kompetenzen müssen junge Frauen erwerben, damit sie in der akademischen Philosophie Karriere machen können? Sondern vielmehr: wie müsste man die institutionellen Bedingungen der akademischen Philosophie gestalten, damit eine wissenschaftliche Karriere auch für den weiblichen Nachwuchs attraktiv wird? Es könnte sich darüber hinaus auch zeigen, dass diese kritische Selbstreflexion für uns alle, die wir in der Philosophie arbeiten, mindestens aber für den gesamten wissenschaftlichen Nachwuchs förderlich sein könnte, sofern die Unzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen keineswegs nur ›frauenspezifisch‹ sein muss. Sollte dies der Fall sein – und dafür sprach die große Zahl männlicher Besucher der Veranstaltung − dann wäre es umso wichtiger zu erfahren, welche Üblichkeiten in der Philosophie begabte, kreative, engagierte junge Leute abhalten, ihre Karriere in der Philosophie fortzusetzen und sich höher zu qualifizieren. Die folgenden Kurzfassungen der Diskussionsbeiträge sollen einen Eindruck geben von den bereits vorliegenden Studien in diesem Feld und den Vorschlägen, wie eine solche Diskussion weiter zu führen wäre und nicht zuletzt auch: welche Maßnahmen zur Verbesserung sinnvollerweise ergriffen werden könnten.

Das Geschlecht der Philosophie Eva von Redecker

In unserer Veranstaltung ging es um Frauen in der Philosophie – zudem wurde sie, als einzige des gesamten Kongresses, auf dem Podium auch ausschließlich von in der Philosophie tätigen Frauen bestritten. Betitelt haben wir sie dennoch mit einigem Nachdruck als »das Geschlecht der Philosophie«, um von Anfang an den Anspruch zu unterstreichen – dessen Resonanz besonders die Anwesenheit auch vieler (überwiegend junger) Männer unseres Faches im Publikum bewies – dass wir nicht vorhatten, über Probleme ›von Frauen‹ zu reden, sondern über ein Problem der Philosophie. Der deutsche Begriff des Geschlechts lässt sich wie der englische Terminus ›Gender‹ verwenden, nämlich so, dass damit die sozial geprägte Geschlechterrolle gemeint ist, aber dies (anders als in der gängigen englischen Gegenüberstellung von sex und gender), ohne dabei zu suggerieren, es mit einer entkörperten Dimension zu tun zu haben.1 Soziale Geschlechterrollen manifestieren sich immer leiblich (was nicht heisst, dass sie mit dem angeborenen Geschlecht ›übereinstimmen‹ müssten). Wenn wir uns fragen, auf welche Weise ein Gebilde wie ›die Philosophie‹ über geschlechtlich kodierte Attribute konstituiert wird, dann richtet sich diese Frage ebenso wenig auf die Männlichkeit oder Weiblichkeit einer abstrakten Idee oder auf das Genus eines Begriffs, sondern betrifft die Dynamik eines komplexen Praxiszusammenhangs. Eines Praxiszusammenhangs, in dem wir uns bewegen und den wir mit herstellen. ›Geschlecht‹, in einer antiquierteren, genealogischen Bedeutung, muss sich zudem gar nicht auf die Differenz zwischen Männlichkeit, Weiblichkeit und etwaigen anderen Geschlechterrollen beziehen, sondern kann auch die familiare Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe markieren. Das Geschlecht der Hohenzollern unterscheidet sich in diesem Sinne von dem der Habsburger, und auch die angebliche Königsdisziplin kann als Zusammenhang gesehen werden, die sich durch spezielle Reproduktionsmechanismen von denen anderer Disziplinen abgrenzt. Unser Titel sollte also nahe legen, solche Reproduktionsmechanismen zu untersuchen. Dass diese Reproduktionsmechanismen auf eine Weise verfasst sind, die insbesondere Frauen, und insbesondere im deutschsprachigen Raum, aus der Philosophie herausführen, lässt sich statistisch illustrieren. So hat Heike Guthoff jüngst gezeigt, dass Philosophie als akademisches Fach nicht nur mit Physik, Maschinenbau und Informatik zu den Fächern mit dem geringsten Frauenanteil unter den Professor_innen gehört (nämlich 2008 auf W3/C4 Niveau knapp 10%), sondern dass es sogar von allen Fächern dasjenige ist, in dem sich dieser Befund in den letzten Jahrzehnten am langsamsten verbessert hat.2 1 2

Vgl. hierzu: Andrea Maihofer: Geschlecht als Existenzweise, Sulzbach 1995. Heike Guthoff: Kritik des Habitus, Bielefeld 2013, S. 320.

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Dem beschwichtigenden »Optimismus« derjenigen, die denken, die Veränderung dieser Dinge sei nur noch eine Frage der Zeit, entzieht dies jede Grundlage. Das Faktum der Transformationszähigkeit ist umso bemerkenswerter als die Philosophie, anders als die Fächer der Vergleichsgruppe, schon lange mit einer geschlechterparitätischen Kohorte von Studienanfänger_innen beginnt. Im Unterschied etwa zur Informatik besteht unsere Aufgabe also nicht vorrangig darin, in Schulen und breiter Gesellschaft ein anderes Bild unseres Fachs zu vermitteln, sondern darin, innerhalb der philosophischen Disziplin dafür zu sorgen, dass strukturell nicht weiterhin stets die Frauen auf der Strecke bleiben. Zumal angesichts des (Selbst-)Bildes von Philosoph_innen als persönlich reflektiert, kritisch und unparteiisch mag man verlockt sein, dass Problem im Herzen des Fachs anzusiedeln. Verschiedene radikale Denker_innen haben in den 1980er Jahren eine Debatte darüber angestoßen, ob nicht etwas im Kern der philosophischen Materie, nämlich die Rationalität als solche (oder das Abstraktionsniveau, oder die dialektische Streitlust) so verfasst sei, dass sie immer schon voraussetzten, dass das Weibliche einen anderen Ort besetze: den des Irrationalen, den des »Lebensvollen«, den der versöhnenden Schlichtung.3 Solche Vorschläge sind oft allein schon aufgrund ihrer Pauschalisierung und der extremen Spiegelung von Geschlechterstereotypen zurückgewiesen worden. Darüber hinaus hat aber insbesondere Michèle LeDoeuff, die ihre Teilnahme an unserer Veranstaltung leider kurzfristig aus Gesundheitsgründen absagen musste, in ihrer Arbeit beharrlich nachgewiesen, dass eine solche Diagnose nicht nur falsch sei, sondern auch den Fokus verzerre. Im Kern von Vernunft, Logik, Wissen und Philosophie eine Inkompatibilität mit Weiblichkeit ausmachen zu wollen, verewigt nicht nur die Exklusion, sondern verdeckt auch, wo tatsächlich den Frauen, denen die Philosophie kostbar und verfolgenswert erscheint, unaufhörlich das Leben schwer gemacht wird: an den ›Rändern‹ des Fachs, im institutionellen Alltag. Sally Haslanger ist nun eine derjenigen Philosoph_innen der Gegenwart, die sich nicht nur politisch und praktisch unermüdlich für bessere Bedingungen für Frauen in der Philosophie einsetzt, sondern auch sozialphilosophisch daran arbeitet, die Analysierbarkeit der Missstände begrifflich fassbar machen zu können. Ihrem Vortrag in Münster lag eine Präsentation zugrunde, die sie über ihre Website öffentlich zugänglich hält. Die slides unter dem Titel »Are We Cracking the Ivory Ceiling« sind unter www.http://sallyhaslanger. weebly.com/cracking-the-ivory-ceiling.html einzusehen. Haslanger basiert ihre Analyse der Hürden, mit denen Frauen in der Philosophie konfrontiert werden, auf einem von Anthony Giddens und William R. Sewell adaptierten praxistheoretischen Verständnis der Reproduktion sozialer Strukturen, welches in ihrer Aufsatzsammlung Resisting Reality systematisch ausarbeitet wird.4 Strukturen werden hier als rekursive Perpetuierungsschleifen von Praktiken verstanden, die sich wiederum aus Schemata und Ressourcen zusammensetzen. Während Ressourcen die materielle Grundlage darstellen, ist mit den Schemata das Repertoire kultureller Deutungsschemata, also gewissermaßen die FormVgl.: Genevieve Lloyd: Man of Reason, London 1984; Julia Kristeva: Revolution of Poetic language, New York 1984; Luce Irigaray: This Sex which is Not One, New York 1985. 4 Sally Haslanger: Resisting Reality, Oxford 2012. 3

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Seite von Praktiken angesprochen. Haslanger bringt diese Kategorie mit dem sozialpsychologischen Phänomen der impliziten Vorurteile zur Deckung, das in letzter Zeit besonders intensiv als locus diskriminierender Strukturen in den Blick gerückt wurde (vgl. hierzu auch den nachfolgenden Beitrag von Mari Mikkola). Solche unbewusste Befangenheit wird besonders in Evaluationssituationen – deren Signifikanz für Karriereverläufe auf der Hand liegt – virulent. Oft auch wider besserer bewusster Intentionen greifen bestimmte habitualisierte Deutungsmuster gerade dann, wenn die Urteilsbildung eilig, unkonzentriert und ohne Rechenschaftspflicht geschähe. Gerade im Bezug auf die Einschätzung von Angehörigen von Gruppen, die der oder dem Urteilenden weniger vertraut sind, operieren solche Schemata auf immunisierte Weise: es gibt zu wenig Anhaltspunkte dazu, dass die Muster zur Korrektur gezwungen würden. Dieser sozialpsychologisch inzwischen intensiv erforschte Mechanismus kann so eklatante Phänomene erklären wie den Befund einer von Haslanger zitierten schwedischen Studie, die (allerdings für PostDoc-Fellowships in der Medizin und nicht der Philosophie) belegte, dass bei gleicher Erfolgschance eine weibliche Bewerbung 2,5 mal so viele Publikationen aufweisen musste wie eine männliche.5 Sie schlagen sich aber auch in ganz alltäglichen und oft unter der bewussten Wahrnehmungsschwelle liegenden Situationen nieder. Mit wem wird in einer Diskussion nickend Blickkontakt gehalten? Wer wird ausreden gelassen? Wessen Punkt aufgegriffen? Sozialisationsbedingt wird von Frauen zudem oft die Sicherstellung eines angenehmen sozialen Klimas verlangt. Wie Haslanger unumwunden konstatiert, seien philosophische Institute und Lehrstühle oft »hyper masculine« und »socially defunct spaces«. Wer hier dafür zuständig ist, an Geburtstage zu denken, bei Erkältungen Taschentücher zu verteilen, Neulingen die Wege zu zeigen, Kaffee nachzukaufen und Gäste zu integrieren kommt oft genug zu nichts anderem mehr. Und wer sich nur in Situationen, in denen menschliche Bedürfnisse und Befindlichkeiten halbwegs versorgt und respektiert werden, auf die »eigene« Arbeit konzentrieren kann, kann lange warten. Haslangers Überlegungen mündeten in diverse Vorschläge, wie sich die benannten Probleme im philosophischen Alltag selbst mildern ließen. Strategien für die von Stereotypisierung Betroffenen bestünden etwa darin, sich ganz bewusst auf Identitätsteile zu konzentrieren, die nicht erst zu beweisen haben, mit philosophischer Kompetenz verträglich zu sein. Zudem ließen sich Aufgaben, die einem als »Tests« der eigenen Fähigkeiten erscheinen, manchmal umformulieren: Handelt es sich nicht viel mehr um eine Hilfestellung an die Zuhörer_innen, um einen Dienst an die Wissenschaftsgemeinschaft? Von Seiten der beteiligten Mehrheit sind Mikro-Affirmationen entscheidend, sowie der Versuch, Bewertungs-Situationen zu vermeiden, in denen unbewusste Schemata greifen können. Ob eine Bewusstmachung und reflektierte Überwindung von impliziten Vorurteilen überhaupt praktikabel sei, wenn einmal zugegeben ist, dass sie sich in gesellschaftlich tief verankerten Praktiken reproduzieren, wurde auch in der Diskussion skeptisch nachgefragt. Das kann aber sicher kein Aufruf dafür sein, zu resignieren, bevor die kleinen, 5

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Christine Wenneras/Agnes Wold: Nepotism and sexism in peer-review. Nature 387 (1997), S. 341–

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in jedem Institut und Seminar möglichen Veränderungen getroffen sind. In Haslangers Definition der Schemata spielte aber in der Tat eine Rolle, dass sie, als erfahrungskategorisierende Motive, oft immun gegen einfache Gegenbeispiele seien. Erfahrungen, die sich den Schemata nicht zu fügen scheinen, werden »neutralisiert«, indem sie entweder übergangen, zu Ausnahmen erklärt oder umdefiniert werden (»Sie ist zwar eine erfolgreiche Philosophin, aber sie ist ja auch gar keine »richtige Frau.«; »Sie hat großen Erfolg, aber was sie macht ist ja eigentlich keine Philosophie.«). Eine Diskutandin hob besonders hervor, dass Verbesserungen im Arbeitsklima zwar eine gute Sache seien, aber auch nur dann wirklich effektiv, wenn Nachwuchswissenschaftlerinnen auch tatsächlich Stellen erhielten und weiter gefördert würden. Dies ließe sich als Appell auffassen, die Transformation zugleich auf der ›Ressourcen‹-Seite der die Philosophie reproduzierenden Praktiken zu avisieren. Wenn genügend Philosophinnen eingestellt würden, dann werden die die Philosophie reproduzierenden Schemata schon irgendwann hinterherkommen. Den vielen begeisterten Rückmeldungen auf das Kolloquium nach zu schließen, eröffnete aber bereits ein so vereinzelter ambitionierter und prominenter Vortrag wie der Haslangers viele neue Perspektiven oder gar Hoffnungen, dass sich das Philosophieren auch auf frauenfreundlichere Weise reproduzieren ließe.

Literatur Heike Guthoff: Kritik des Habitus, Bielefeld 2013. Sally Haslanger: Resisting Reality, Oxford 2012. Luce Irigaray: This Sex which is Not One, New York 1985. Julia Kristeva: Revolution of Poetic language, New York 1984. Genevieve Lloyd: Man of Reason, London 1984. Andrea Maihofer: Geschlecht als Existenzweise, Sulzbach 1995. Christine Wenneras/Agnes Wold: »Nepotism and sexism in peer-review«, in: Nature 387 (1997), S. 341–343.

Die Andere der Philosophie: Warum mangelt es in der deutschen Philosophie noch an Gender-Gerechtigkeit? Mari Mikkola (Berlin)

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2013 in Deutschland knapp 12 Prozent der C4-Professuren mit Frauen besetzt. Der Frauenanteil unter den Studierenden lag dagegen bei rund 51 Prozent, für Promotionen bei 44,2 Prozent und für Habilitationen bei rund 27 Prozent.1 Diese Statistik bezieht sich auf alle Fächer, und obwohl für das Fach Philosophie keine vergleichbare Statistik vorliegt, scheint die Situation ähnlich zu sein. Die Karriere-»Pipeline« leckt: obwohl Frauen genügend Möglichkeiten haben, in die Pipeline hineinzukommen und obwohl es keinen signifikanten Gender-Unterschied im Studium gibt, fehlen Frauen »an der Spitze« der Philosophie. Trotz Parität am Anfang erzeugt die philosophische Karriere-Pipeline gerade Gender-Disparität. Was verursacht und erklärt dann den Mangel an Frauen in der Philosophie? Und wie können wir die Gender-Disparität bekämpfen, um Gerechtigkeit zu fördern? Ich werde zunächst mögliche Gründe für die geringe Präsenz von Frauen thematisieren und danach einige Handlungsmöglichkeiten vorstellen. Deutschland ist jedenfalls nicht allein: Die Situation für Frauen im angloamerikanischen Raum ist ähnlich, die geringe Zahl an Frauen wurde dort aber während den letzten Jahren viel stärker diskutiert und untersucht.2 Weil entsprechende Forschung in Bezug auf die deutsche Philosophie noch fehlt, sind die unten thematisierten Gründe lediglich Indizien. Allerdings tauchen sie häufig auf und sollten uns daher auch hier in Deutschland zu denken geben. 1. Strukturelle Maßnahmen spielen höchstwahrscheinlich eine große Rolle. Wer eine Familie gründen will, trifft auf nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten in Hinblick auf fehlende Familienfreundlichkeit am Arbeitsplatz und fehlendes Verständnis im Kollegenkreis. Diese Schwierigkeiten sind natürlich nicht universell und mehrere Universitäten haben sich Familienfreundlichkeit zum Leitbild gemacht. Dennoch scheint die Absichtserklärung, wissenschaftliche Arbeit familienfreundlich zu machen, manchmal eher bloßes Lippenbekenntnis zu sein. Die Hürde, um in der akademischen Philosophie zu bleiben, ist für diejenigen mit familiären Verpflichtungen einfach höher. Aufgrund prekärer Zukunftsaussichten scheinen Frauen, die Familien gründen wollen, häufiger früh auszusteigen.

https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/BildungForschungKultur/Hochschulen/Tabellen/FrauenanteileAkademischeLaufbahn.html 2 Vgl. Katrina Hutchison und Fiona Jenkins (Hg.): Women in Philosophy. What Needs to Change?, Oxford 2013. 1

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2. In Deutschland existieren noch viele Netzwerke, die Frauen gegenüber nicht einladend sind. Bei großen Tagungen dürfen etablierte Professoren (sic) häufiger oder gar ausschließlich Fragen stellen, und Frauen werden manchmal systematisch ignoriert. Mehrere Workshops und Tagungen haben rein männliche Referentenlisten. Zum Beispiel waren während der DKPhil rund 27 Prozent der Vortragenden weiblich (d. h. Vortragende aus dem Programmheft, die für Kolloquiums-, Sektions-, Plenar- oder Abendvorträge eingeteilt waren). Mehrere Sektionen und Kolloquien bestanden nur aus männlichen Vortragenden und nur einige Kolloquien und Sektionen boten eine Mehrheit weiblicher Referentinnen. Obwohl dies nicht bewusst oder absichtlich geschieht, schaffen solche Veranstaltungen implizit ein gegendertes Bild unseres Faches: Philosophieren ist nichts für Frauen! 3. Mangelnde Vorbilder und das Fehlen von effektiven Mentoring-Strukturen sind nicht zu unterschätzen. Indizien aus den USA deuten darauf hin, dass Texte von Philosophinnen häufiger ignoriert und in Seminaren weniger gelesen werden. Dafür, dass die Situation in Deutschland radikal anders ist, spricht nicht viel. Ferner wollen oder können viele Mittelbau-Philosophinnen Probleme nicht offen diskutieren – sei es mit ihren »Chefs« oder wegen ihrer »Chefs« … Fehlendes Mentoring und ausbleibende Ermutigungen sind besonders problematisch im Sinne sogenannter Mikro-Ungerechtigkeiten: Dabei handelt es sich um an sich unwichtige, subtile und unscheinbare Einzelfälle bzw. Ereignisse, die sich schwer nachweisen lassen, oft unbewusst passieren und von den Täter_innen nicht als problematisch erkannt werden.3 Beispiele sind (u. a.): von Kolleg_innen Gastreferent_ innen nicht vorgestellt zu werden, von informellen Netzwerken/Treffen ausgeschlossen zu werden, kleine »Witze« oder grenzüberschreitende Anmerkungen zu hören zu bekommen, kein oder kaum positives Feedback zu erhalten, und nicht zuletzt öffentliche Diskussionen darüber, wer »schlau« ist und wer nicht. Isoliert sind solche Erfahrungen unwichtig und wirkungslos, aber laut sozialwissenschaftlicher Forschung haben sie kumulativ eine große Auswirkung auf die Zukunftsperspektiven von Individuen aus strukturell benachteiligten Gruppen. 4. Gewisse Formen von ›Micro-Messaging‹ scheinen Mikro-Ungerechtigkeiten zu untermauern. In diesem Zusammenhang sind zwei weitere Phänomene signifikant. Erstens: implizite Vorurteile.4 Diese speisen sich aus größtenteils unbewussten Sets von Annahmen, Assoziationen, Vorurteilen und Erwartungen, die wir haben, um die Welt zu organisieren. Zunächst einmal sind solche Assoziationen nichts Schlechtes, möglicherweise sind sie sogar notwendig. Es gibt allerdings mit Gender assoziierte Schemata, die viel Schaden anrichten, indem sie z. B. beeinflussen, wie wir Personen und deren Leistungen bewerten und evaluieren. Mehrere Studien zu Lebenslaufbewertungen verdeutlichen diesen Punkt: 3 Vgl. Mary Rowe: »Micro-Affirmations and Micro-Inequities«, in: Journal of the International Ombudsman Association 1 (2008), S. 45–48. 4 Vgl. J. Jost, L. Rudman, I. Blair, D. Carney, N. Dasgupta, J. Glaser und C. Hardin: »The Existence of Implicit Bias is Beyond Reasonable Doubt: A Refutation of Ideological and Methodological Objections and Executive Summary of Ten Studies that No Manager Should Ignore«, in Research in Organizational Behavior 29 (2009), S. 39–69.

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Gleichwertige Bewerbungen werden ungleich eingeschätzt aufgrund des Geschlechts der Bewerber_innen. Lebensläufe männlicher Kandidaten werden öfter als hochwertig eingestuft, obwohl kein Unterschied zwischen den Qualifikationen von männlichen und weiblichen Bewerber_innen existiert. Das heißt: unsere unbewussten Vorannahmen verursachen unfaire und ungleiche Leistungsbewertungen, was vielleicht in der Philosophie besonders Frauen benachteiligt, weil ihre philosophischen Beiträge womöglich unbewusst als schlechter bewertet werden. Zweitens: Bedrohung durch Stereotype (stereotype threat).5 Hierbei handelt es sich um eine Beeinflussung unserer eigenen Leistung. Wird ein Mitglied einer mit Vorurteilen belegten Gruppe vor bestimmten Aufgaben an seine Gruppenzugehörigkeit erinnert, so erbringt diese Person schlechtere Leistungen. Zum Beispiel wird die Mathe-Prüfungsleistung von Frauen schlechter, wenn sie auf Gender ›geprimed‹ sind (vor einem Test an ihre Gender-Gruppenzugehörigkeit erinnert werden). Eine mögliche Erklärung ist die Bedrohung durch Stereotype: Frauen werden auf negative Vorurteile über ihre Gruppenzugehörigkeit aufmerksam gemacht, was eine Art Angst, das Vorurteil zu bestätigen, kreiert. Diese Angst hat dann einen negativen Effekt auf die Leistung von Frauen, weil sie sich weniger selbstsicher fühlen und viele ihrer kognitiven Ressourcen verbrauchen, um diese Unsicherheit zu überwinden. 5. Es wird gelegentlich behauptet, dass das dominierende argumentative Modell des Philosophierens eher auf Männer zugeschnitten sei. Ist es dann womöglich die aggressive Art des Diskutierens und der Argumentation, die zum Mangel an Frauen führt? Ich bin nicht überzeugt, dass Frauen keine rigorose philosophische Argumentation mögen oder einfach eine andere »sensiblere« Art zu diskutieren bevorzugen. Es geht eher darum, welche Beiträge im Seminar von Dozierenden und bei Tagungen von Fachkolleg_innen als wichtig betrachtet werden. Zum Beispiel haben wir an der HU Berlin vor kurzem eine KlimaUmfrage durchgeführt. Die Bewertung der Seminarbeiträge der männlichen Studierenden durch die weiblichen Studierenden lässt sich so zusammenfassen: lange Rede, kurzer Sinn. Und weibliche Studierende haben öfter das Gefühl, im Seminar nicht ernstgenommen zu werden. Solch ein Gefühl ist nicht nur unter weiblichen Studierenden verbreitet, sondern auch unter Philosophinnen in der Promotionsphase und noch später. Hier spielt sicherlich die oben erwähnte Bedrohung durch Stereotype eine Rolle. Was diese Stereotype jeweils erklärt, ist eine komplexe Sache und kann hier nicht grundsätzlich erläutert werden. Allerdings scheint besonders in der Philosophie der sogenannte Dweck-Effekt einen Einfluss zu haben. Carol Dweck, eine Psychologin aus Kalifornien, fand heraus, dass es verschiedene Arten gibt, über die Fähigkeiten und Faktoren nachzudenken, die man braucht, um Erfolg in Mathematik zu haben.6 Grob gesagt glauben Viele, dass mathematische Fähigkeiten ein angeborenes Talent, also wie eine Gabe, seien, an dem man nicht viel verändern kann. Wenn man an diese ›Gabe‹-Sichtweise in Bezug auf Vgl. Claude Steele: »A Threat in the Air: How Stereotypes Shape Intellectual Identity and Performance«, in: American Psychologist 52 (1997), S. 613–629. 6 Mehr zu Dwecks Arbeit und Online-Artikel unter: http://www.stanford.edu/dept/psychology/cgibin/drupalm/cdweck. 5

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Mathematik glaubt und Schwierigkeiten mit Mathe hat, dann fühlt man sich bestätigt in dem Glauben, dass man die notwendigen Mathefähigkeiten einfach nicht besitzt. Wenn man jedoch im Gegensatz dazu denkt, dass Matheerfolg in erster Linie Anstrengung erfordert, dann bleibt man eher dran. Mädchen, die an das Talent-Modell glauben, sind also am Ende oft schlechter in Mathe und geben mit höherer Wahrscheinlichkeit auf. Und außerdem tendieren Mädchen eher als Jungen dazu, solch ein Modell zu vertreten. Die neuste Forschung der Princeton-Professorin Sarah-Jane Leslie und ihrer Kolleg_innen bestätigt, dass so ein Gabe-Modell auch in der Philosophie häufig auftaucht: Entweder besitzt man die Philosophie-Fähigkeiten oder nicht.7 Doch wer das glaubt und Philosophie schwierig findet (was sie auch ist), der hängt die Philosophie auch eher an den Nagel. Wir sollten daher unsere Denkweise ändern und unseren Studierenden erklären: Es gibt kein angeborenes Philosophie-Talent, gutes Philosophieren erfordert einfach viel Arbeit. 6. Der Stellenwert feministischer Fragestellungen innerhalb der deutschen Philosophie ist leider noch gering. Während feministische Philosophie im deutschsprachigen Raum kaum zu finden ist, wurde sie in den letzten zwei Jahrzehnten im englischsprachigen Raum als eigenständiger Philosophiebereich etabliert und anerkannt. Dort ist feministische Philosophie mittlerweile vom Nischenthema zu einem Standardbereich geworden. Jede große englischsprachige Philosophie-Tagung (wie die American Philosophical Association-Tagungen und die Joint Session in Großbritannien) hat ausgewiesene Sitzungen zu Feminismus und Gender-Themen. Hier sind wir allerdings noch nicht so weit in der Entwicklung: In Deutschland begegnet man noch oft der Denkweise, dass feministische Philosophie gar keine Philosophie sei. Wer gegenwärtig feministische Themen philosophisch bearbeiten will, sieht sich oft mit schlechten Forschungsmöglichkeiten und fehlender Akzeptanz für solche Forschungsvorhaben konfrontiert. Daher verzichten viele Philosophinnen auf feministische und Gender-Themen: sie werden als karriereschädigend betrachtet. Leider ist diese Befürchtung nicht unbegründet. 7. Schließlich findet leider noch explizite Diskriminierung und sexuelle Belästigung statt. Alltagssexismus und -rassismus existieren und die Philosophie als Fach ist von solchen Phänomenen nicht isoliert. Für sich genommen sind kleine Witze oder grenzüberschreitende Anmerkungen nicht entscheidend. Doch in Zusammenwirkung mit Mikro-Ungerechtigkeiten, Micro-Messaging, fehlenden Vorbildern bzw. Mentoring und strukturellen Maßnahmen kommt es zu einer drastischen Verschlechterung der Situation innerhalb der Philosophie für Mitglieder strukturell benachteiligter Gruppen.8 Die obigen Erklärungen sind höchstwahrscheinlich nicht vollständig. Die Ursachen und Gründe sind plausiblerweise vielfältig und komplex. Mangelnde Inklusivität liegt nicht Vgl. S. J. Leslie, A. Cimpian, M. Meyer, und E. Freeland: »Expectations of brilliance underlie gender distributions across academic disciplines«, in: Science 347 (2015), S. 262–265. 8 Vgl. Louise Antony: »Different Voices or Perfect Storm: Why are There so Few Women in Philosophy?«, in: Journal of Social Philosophy 43 (2012), S. 227–255. 7

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(nur oder allein) in tadelnswerten Absichten begründet. Da systematische strukturelle Faktoren so einflussreich sind, ist der Weg zu Ungerechtigkeiten manchmal mit guten Vorsätzen gepflastert. Allerdings lehne ich die Idee kategorisch ab, dass Frauen für die Philosophie irgendwie ungeeignet sind. Für diese Auffassung existieren einfach zu wenig Belege und zu viele Gegenbeispiele. Wenn wir also akzeptieren, dass die Situation andere Ursachen hat, was für Handlungsmöglichkeiten gibt es dann, um die Probleme anzugehen? Erstens brauchen wir in Deutschland neue strukturelle Maßnahmen. Das ist aber keine Aufgabe für einzelne Institute und Seminare, sondern erfordert eine ganz andere Hochschulpolitik (unter anderem). Das heißt allerdings nicht, dass wir am Institut oder Seminar gar keine Verbesserungsmöglichkeiten haben. In Bezug auf Micro-Messaging brauchen wir Aufklärung über die Probleme und Phänomene, wie z. B. implizite Vorurteile und Bedrohung durch Stereotype. Ferner gibt es Maßnahmen, die wir ergreifen können, um den Einfluss dieser Phänomene zu minimieren bzw. abzuschwächen. Im Folgenden seien nur einige Beispiele genannt. Zunächst: Anonymisierung von Hausarbeiten und Tagungsbeiträgen. Das blockiert den Einfluss impliziter Vorurteile und wirkt gegen Über-Kompetenz-Bias (over-confidence bias): die Tendenz, die eigene Kompetenz und »Objektivität« zu überschätzen. Zweitens: Nicht vor Klausuren nach den Informationen fragen, die als Auslöser für Stereotypisierung wirken können. Das wirkt der Bedrohung durch Stereotype entgegen. Drittens: Weibliche Vorbilder bekanntmachen, unter dem Motto »Mehr Philosophinnen an den Wänden, im Seminarraum und bei Tagungen!«. Konkret heißt das, mehr Texte weiblicher Philosophinnen sowohl im Unterricht zu lesen und zu diskutieren als auch in unseren wissenschaftlichen Beiträgen zu zitieren, nicht immer wieder Bilder und Büsten von toten »großen« Philosophen (sic) im Institut aufzuhängen und auszustellen, und bei Vorträgen und Tagungen transparente Verfahren einzurichten: zum Beispiel Regeln wie dass die oder der Moderator_in darauf achtet, wer sich meldet, und Frauen aufruft, wenn bisher nur Männer gesprochen haben. Solche Regeln sollten auch für unterschiedliche Statusgruppen gelten, um Inklusivität zu fördern. Darüber hinaus brauchen wir Mentoring-Programme (oder Ähnliches) für Mitglieder strukturell benachteiligter Gruppen. Ein relativ einfaches Mittel zur Ermutigung wäre, Studierenden einfach am Anfang jedes Seminars zu erklären, dass Philosophie schwierig ist und sorgfältige Arbeit erfordert. Es wäre einfach, den Dweck-Effekt zu erklären und zu betonen, dass Philosophie-Fähigkeit kein angeborenes Talent ist, sondern etwas, das wir nach vielen Stunden sorgfältiger und vielleicht anstrengender Arbeit erreichen. Eine vollständige Veränderung der Situation erfordert Vieles, und wird nur als kollektive Anstrengung gelingen. Trotzdem gibt es Dinge, die wir individuell tun können und die leicht zu implementieren sind. Meines Erachtens würde das nicht nur die Gerechtigkeit in der Philosophie fördern. Es würde auch sicherstellen, dass gute Philosophinnen und Philosophen im Fach Philosophie bleiben und hochwertige Arbeit leisten. Interessantes Philosophieren bringt uns als Fach Vorteile – es entwickelt das philosophische Denken, was unser Hauptanliegen ist.

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Literatur Antony, Louise: »Different Voices or Perfect Storm: Why are There so Few Women in Philosophy?«, in: Journal of Social Philosophy 43 (2012), S. 227–255. Hutchison, Katrina und Fiona Jenkins (Hg.): Women in Philosophy. What Needs to Change?, Oxford 2013. Jost, J./Rudman, L./Blair, I./Carney, D./Dasgupta, N./Glaser, J./Hardin, C.: »The Existence of Implicit Bias is Beyond Reasonable Doubt: A Refutation of Ideological and Methodological Objections and Executive Summary of Ten Studies that No Manager Should Ignore«, in: Research in Organizational Behavior 29 (2009), S. 39–69. Leslie, S. J., Cimpian, A., Meyer, M. und Freeland, E.: »Expectations of brilliance underlie gender distributions across academic disciplines«, in: Science 347 (2015), S. 262–265. Rowe, Mary: »Micro-Affirmations and Micro-Inequities«, in: Journal of the International Ombudsman Association 1 (2008), S. 45–48. Steele, Claude: »A Threat in the Air: How Stereotypes Shape Intellectual Identity and Performance«, in: American Psychologist 52 (1997), S. 613–629.

Geschlechterungleichheit in der Philosophie. Drei Thesen Susanne Lettow

Im Folgenden formuliere ich drei Thesen, die Ansatzpunkte für eine Überwindung der Geschlechterungleichheit in der Philosophie herausstellen.

1. Die ›Hartnäckigkeit‹ der Disziplin befragen Wie die vorhandenen Daten belegen, ist die Disziplin der Philosophie »Hartnäckigkeitsspitzenreiterin« in Hinblick auf die fortbestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und die Benachteiligung von Frauen. So jedenfalls hat es Heike Guthoff in ihrer bahnbrechenden Studie Kritik des Habitus. Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie, die 2013 im transcript-Verlag erschienen ist1, formuliert. Guthoff hat die verfügbaren Daten über Frauen in der Philosophie mit denen anderer Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften aber auch der Natur- und Technikwissenschaften verglichen – mit niederschmetterndem Ergebnis. Denn während die notorisch männerdominierten Natur- und Technikwissenschaften in den letzten Jahren – flankiert durch eine Reihe von bildungspolitischen Maßnahmen zur Integration von Mädchen und Frauen in die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Natur-, und Technikwissenschaften) und entsprechende Berufe – zumindest aufholen und prozentual z. B. eine beachtliche Zunahme an Professorinnen verzeichnen, haben sich die Verhältnisse in der Philosophie kaum geändert. Die Disziplin reproduziert beharrlich die überkommene Männerdominanz. Diesem Tatbestand kann und sollte man dadurch begegnen, dass Gleichstellungsmaßnahmen, die sich in anderen Disziplinen als wirkungsvoll erwiesen haben, endlich auch in der Philosophie verstärkt werden (vgl. hierzu den Beitrag von Mari Mikkola). Darüber hinaus aber scheint es mir wichtig, eine Auseinandersetzung über die Spezifik der Disziplin zu führen, also darüber warum ausgerechnet die Philosophie sich bisher gegenüber Veränderungen in Sachen Geschlechtergerechtigkeit derart immun erwiesen hat. Denn sicherlich ist es nicht so, dass es an Anstrengungen von Philosophinnen Veränderungen anzustoßen mangelt. Bereits 1976 gründete sich die Internationale Assoziation von Philosophinnen (IAPh), die zunächst in erster Linie von Frauen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz getragen wurde und seither für die Gleichstellung von Frauen in der Disziplin und gegen die Ausgrenzung von feministischer Philosophie und philosophischer Geschlechterforschung aus dem Fach eintritt.2 Auch in anderen sozialHeike Guthoff: Kritik des Habitus, Bielefeld 2013. Für weitere Informationen siehe: http://www.women-philosophy.org/portfolio/symposiumiaph-2016-3/. 1 2

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und geisteswissenschaftlichen Fächern begann die kritische Auseinandersetzung mit dem Gender-Bias im akademischen Alltag, den Strategien der Ressourcenverteilung sowie in den Inhalten von Forschung und Lehre in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, angestoßen zumeist durch ähnliche Initiativen.3 Inzwischen gibt es in der Literarturwissenschaft, in den Kulturwissenschaften, in Soziologie und Politikwissenschaften zwar nicht viele aber doch immerhin einige Lehrstühle für Geschlechterforschung, die deutlich machen, dass es sich um einen anerkannten Lehr- und Forschungsbereich handelt. In der Philosophie ist dies nicht der Fall, mit allen negativen Konsequenzen, die das Fehlen eines ganzen Forschungsbereichs für Studierende und den wissenschaftlichen Nachwuchs hat. Geklärt werden muss also, aus welchen disziplinspezifischen Gründen die Philosophie bisher derart ›hartnäckig‹ ist. Heike Guthoff hat dazu Thesen formuliert und auf einen spezifischen Habitus des »Doing Philosophie« und »Doing Klarheit« verwiesen, der sich in einer spezifischen Rigidität manifestiert. Darüber hinaus aber benötigen wir meines Erachtens eine kritische Reflexion der Disziplingeschichte bzw. der Disziplinwerdung der Philosophie im 19. Jahrhundert und insbesondere der Legitimations- und Abgrenzungsstrategien, die sich seither entwickelt haben. Der Legitimationsdruck, dem sich die Philosophie nach der Ab- und Auswanderung erst der Naturwissenschaften und dann auch der Sozial- und Geisteswissenschaften aus ihrem Einzugsbereich ausgesetzt sah und immer wieder sieht, hat, so ist zu vermuten, zu besonders starren Grenzziehungen zwischen, ›legitimen‹ und ›illegitimen‹ Gegenständen der Disziplin, zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹ geführt. Die daraus resultierende Begrenzung anerkannter Themen, Fragestellungen und Traditionen aber wirkt sich extrem nachteilig für diejenigen aus, die sich mit Philosophinnen und Geschlechterthemen befassen, oder habituell der wissenschaftlichen Persona4 des ›Philosophen‹ nicht ganz entsprechen.

2. Gender und Diversity – Multiple Ungleichheiten berücksichtigen Für eine wirkungsvolle Gleichstellungspolitik und die thematische Einbeziehung von Geschlechterfragen in die philosophische Forschung und Lehre, sind zwei konzeptionelle Entwicklungen, die in den vergangen Jahren innerhalb der Gender Studies und der Debatten um Gleichstellungspolitik stattgefunden haben von zentraler Bedeutung. Die erste besteht im Perspektivwechsel von der Frauen- zur Geschlechterforschung (bzw. -politik). Damit ist sowohl die Abkehr von einem Defizitmodell, dem zufolge Frauen einer permanenten ›Förderung‹ bedürfen, weil sie auf Grund eigener Defizite ‹nicht mithalten‹ können gemeint, als auch die Einsicht, dass Ungleichheit eine Relation ist, die, wenn sie Vgl. hierzu Sabine Hark: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt/M. 2005. 4 Loraine Daston bezeichnet mit dem Begriff der wissenschaftlichen Persona »eine kollektive Identität (…), die nicht unbedingt mit der eines Individuums übereinstimmen muß, die aber dennoch die Aspirationen, Eigenarten, Lebensweisen und sogar körperliche Fähigkeiten und Dispositionen einer Gruppe formt, die sich zu dieser Identität bekennt, und von der Öffentlichkeit auch so wahrgenommen wird« (Daston 2003, 110). 3

Geschlechterungleichheit in der Philosophie. Drei Thesen

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egalitär gewendet werden soll, die Veränderung aller, Männer wie Frauen, erforderlich macht. Um, wie Sally Haslanger es formuliert hat, eine »echte Meritokratie« herzustellen, ist es also notwendig, dass Veränderungsstrategien sich nicht nur auf Frauen richten, sondern dass transformative Strategien einen Abbau von Privilegien einschließen. Dabei kann es nicht nur um bürokratische Maßnahmen gehen. Wie Gayatri Chakravortry Spivak in ihrem viel diskutieren Aufsatz »Can the Subaltern Speak?« herausgestellt hat,5 bedeutet der Abbau von Privilegien immer auch ein »Verlernen« von Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen. Die kolonialisierten, »subaltern« Frauen, so Spivak, können zwar ihren Ansichten Ausdruck verleihen. Doch damit sie auf eine Weise sprechen, durch die sie sich Gehör verschaffen, reicht es nicht aus, dass sie ihre Stimme erheben. Es reicht zudem auch nicht, dass diejenigen, die Privilegien genießen, zuhören wollen, sondern sie müssen anders hören – also ihre etablierten Hör-, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata verlernen. Der zweite wichtige Perspektivwechsel, der in den vergangenen Jahren in den Gender Studies breit diskutiert wurde, ist der Perspektivwechsel von Analysen, die isoliert auf die Geschlechterverhältnisse fokussieren, zu intersektionalen Analysen. Damit ist gemeint, dass Geschlechterverhältnisse immer in Zusammenhang mit anderen, multiplen Ungleichheitsverhältnissen betrachtet werden müssen. Schließlich gibt es weder ›Frauen an sich‹ noch ›Männer an sich‹, sondern wir existieren immer schon in einem komplexen Geflecht gesellschaftlicher Verhältnisse. Macht und Ungleichheit in den Geschlechterverhältnissen sind insbesondere eng mit Ungleichheitsverhältnissen verflochten, die aus sozioökonomischen Verwerfungen resultieren sowie mit rassistischen und postkolonialen Formen der Macht. Das bedeutet, dass auch zwischen Männern und zwischen Frauen erhebliche Machtunterschiede bestehen, die eine wirkungsvolle Gleichstellungspolitik ebenso wie wissenschaftliche Analysen von Geschlechterverhältnissen berücksichtigen müssen. Statt den Blick allein auf Frauen, ihre Benachteiligungen und vermeintlichen Defizite zu lenken, müssten daher Machtverhältnisse in einem umfassenden Sinn thematisiert werden.

3. Feministische Philosophie diskutieren Die eingangs skizzierte ›Hartnäckigkeit‹ der Philosophie manifestiert sich nicht nur in der geringen Anzahl von Frauen, insbesondere auf der Ebene der Professuren, sondern auch in einer Art Kommunikationsverweigerung gegenüber allen Ansätzen der Geschlechterforschung, die sich deutlich von anderen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern unterscheidet – am deutlichsten sicherlich von der Literaturwissenschaft, die im Übrigen ja auch eine textbasierte und kanon-orientierte Wissenschaft ist. Der Kanon und die Lehr- und Forschungsinhalte der Philosophie sind bislang von einer strukturellen Ausblendung der Arbeit von Philosophinnen in Geschichte und Gegenwart und der Debatten Gayatri Chakravortry Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subaltern Artikulation. Wien 2007. 5

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und Forschungen der internationalen feministischen Philosophie und philosophischen Geschlechterforschung geprägt. Dieser inhaltliche Maskulinismus der Disziplin aber trägt zur Exklusion von Frauen, die oft schon sehr früh als Entmutigung, sich mit eigenen Themen und Fragen in die Disziplin einzubringen, erfahren wird, ebenso bei wie institutionelle Benachteiligungen. Über gleichstellungspolitische Maßnahmen und die Diskussion über Kommunikations- und Umgangsformen hinaus ist daher eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschlechtsblindheit der Inhalte von Lehre und Forschung wichtig. Dabei kann im Prinzip auf reichhaltiges Material zurückgegriffen werden. Denn trotz institutioneller Hürden hat sich ›Feministische Philosophie‹ international betrachtet in den vergangenen Jahrzehnten zu einem dynamischen Forschungsfeld entwickelt, mit renommierten Fachzeitschriften, Tagungen, Kongressen, Debatten und teilweise einem eigenen Kanon.6 Zu so gut wie allen klassischen Philosophen der europäischen Tradition gibt es eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten, die deren implizite oder explizite Geschlechterkonstruktionen beleuchten; die Geschichte der Philosophinnen wurde und wird aufgearbeitet und dokumentiert; Publikationen im Bereich der feministischen Philosophie beziehen sich auf so gut wie alle Gebiete der Theoretischen und Praktischen Philosophie und sind im Standardprogramm vieler renommierter englischsprachiger Verlage fest verankert. Diese ›vergessenen‹ Inhalte gilt es verstärkt in die Disziplin einzubeziehen. Dies würde nicht nur Geschlechtergerechtigkeit in der Philosophie, sondern insgesamt eine lebendige Diskussion über die Zukunft der Disziplin befördern.

Literatur Daston, Lorraine: »Die wissenschaftliche Persona. Arbeit und Berufung«, in: Theresa Wobbe (Hg.): Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2003, S. 109– 136, zugleich: (http://edoc.bbaw.de/volltexte/2007/385/pdf/27HFFCDtnNdWY_385.pdf, letzter Zugriff: 5.5.2015). Guthoff, Heike: Kritik des Habitus. Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie, Bielefeld 2013. Hark, Sabine: Dissidente Partizipation. Eine Diskursgeschichte des Feminismus. Frankfurt/M. 2005. Kley, Christine/Hilge Landweer/Simone Miller/Catherine Newmark (Hg.): Peripherie und Zentrum. Geschlechterforschung und die Potenziale der Philosophie. Bielefeld 2012. Spivak, Gayatri Chakravortry: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien 2007.

Zum Stand der philosophischen Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum vgl. Christine Kley/Hilge Landweer/Simone Miller/Catherine Newmark (Hg.): Peripherie und Zentrum. Geschlechterforschung und die Potenziale der Philosophie. Bielefeld 2012. 6

KOLLO QUIUM 10 Fortschritt und Gerechtigkeit Kolloquiumsleitung: Rainer Forst / Stefan Gosepath

Amy Allen Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts Rainer Forst Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts? Kommentar zu Amy Allen, »Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts« Lea Ypi Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit Stefan Gosepath Gegen die Matrjoschka-Puppen Theorie des Fortschritts Kommentar zu Lea Ypis »Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit«

Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts1 Amy Allen (The Pennsylvania State University)

Der Titel dieses Aufsatzes ist von Theodor Adornos Vorträgen über Fortschritt inspiriert, in denen die Behauptung, dass Fortschritt nur dort erfolgt, wo er zu einem Ende kommt, ein wiederkehrendes Motiv ist. Obwohl die speziellen Interessen Adornos an Forderungen nach Fortschritt etwas von meinen abweichen – was mit dem Schrecken von Auschwitz und der Gefahr eines Nuklearkrieges zu tun hat – bin ich nichtsdestotrotz im Wesentlichen dem zugeneigt, was ich als Kernidee seines Vorschlags verstehe: dass es notwendig ist, falsche, ideologische Lesarten der Geschichte als Fortschritt über Bord zu werfen, wenn wir moralischen und politischen Fortschritt in der Zukunft erzielen möchten. Der Hauptgedanke ist, in anderen Worten, Behauptungen über die Möglichkeit von zukünftigem Fortschritt – was ich Fortschritt als Imperativ nenne – von Lesarten der Geschichte als Fortschrittsgeschichte – was ich Fortschritt als »Tatsache« nenne – zu entkoppeln. Aus meiner Perspektive bietet diese Art über Fortschritt nachzudenken ein wichtiges Korrektiv zu der Rolle, die Fortschritt in der zeitgenössischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule spielt, die dazu neigt, eine grob neohegelianische Strategie als Begründung für Normativität zu verfolgen. Dabei geht ihre Vorstellung von Fortschritt als moralischem oder politischem Imperativ von der Konzeption von Fortschritt als Tatsache aus. Gegen diese Strategie gibt es stichhaltige konzeptuelle und politische Einwände, die ich unten diskutieren werde. Ausschlaggebend aber ist, dass Adornos alternative Sicht es darüberhinaus vermeidet, sich auf trans- oder nicht-historische Behauptungen über normative Validität zu berufen oder einen Letztbegründungsanspruch zu stellen, um die zukunftsorientierte Konzeption von moralischem oder politischem Fortschritt zu begründen. Somit bietet sie gleichzeitig eine Alternative zu neokantianischen Strategien der Begründung von Normativität, welche Fortschritt als einen normativ abhängigen Begriff verstehen, der von einem fundamentalen moralischen Recht abgeleitet ist. Dadurch bleibt Adornos Idee vom Ende des Fortschritts den methodologischen Zielen der Kritischen Theorie treu und ist besser darin, die konzeptionellen, politischen und methodologischen Probleme zu vermeiden, die alternative kritisch-theoretische Darstellungen von Normativität und Fortschritt plagen.

Dieser Aufsatz fasst Ideen und Argumente, die in meiner bald erscheinenden Monographie viel detailreicher entwickelt werden, zusammen: The End of Progress: Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory, New York 2016. 1

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1. Fortschritt in der Kritischen Theorie (Überblick) Die erste Generation Kritischer Theoretiker der Frankfurter Schule, insbesondere Walter Benjamin und Adorno, war bekanntermaßen extrem skeptisch gegenüber dem Fortschritts-Diskurs. In seiner neunten These über die Philosophie der Geschichte beschreibt Benjamin das, was wir Fortschritt nennen, bloß als eine einzige Katastrophe, die dem Engel der Geschichte Trümmer vor die Füße schleudert.2 Ähnlich bemerkt Adorno in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, dass die Katastrophe von Auschwitz die Rede von »Fortschritt zur Freiheit zu etwas Läppischem macht« und den »affirmative[n] Sinn«, der sich hier zeigt, aussehen lässt wie die »bloße[] Behauptung eines Bewußtseins, das nicht vermag, dem Schrecklichen ins Auge zu sehen, und das damit das Schreckliche perpetuiert.«3 Adornos und Benjamins Skepsis gegenüber dem Fortschrittsdiskurs schlossen sich zwei weitere bedeutende politische Denker des 20. Jahrhunderts an, die es beide verdienen, kritische Theoretiker im weiteren Sinne des Begriffs genannt zu werden, Hannah Arendt und Michel Foucault. Diese theoretischen Kritiken des Fortschritts konzentrierten sich auf die metaphysische Natur der Philosophie der Geschichte und verbanden sich mit der politischen Fortschrittskritik in den Arbeiten der post- und dekolonialistischen Theoretiker wie Frantz Fanon, CLR James, Aime Cesaire und anderen, die die hoch ideologische Rolle aufgedeckt haben, die Behauptungen über Fortschritt und Entwicklung in der Rechtfertigung von Projekten des Imperialismus und Kolonialismus gespielt haben. Tatsächlich war und ist der Chor kritischer Stimmen zur Idee des Fortschritts so stark, dass man hätte denken können, dass das Konzept bereits in den Mülleimer der Geschichte verbannt worden wäre. Nichtsdestotrotz erlebt die Idee des Fortschritts ein stilles Comeback in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Angefangen mit Jürgen Habermas haben Kritische Theoretiker das Konzept des Fortschritts post-metaphysisch, deflationiert, differenzierter und pragmatischer reformuliert, in dem Bestreben es von der traditionellen Philosophie der Geschichte, in welche es zuvor eingebettet war, loszulösen. Sie haben auch versucht auf die politische Kritik am Fortschritt, die den Begriff als inhärent eurozentrisch oder imperialistisch brandmarkt, einzugehen.4 In diesem Aufsatz überprüfe ich einige dieser Hauptstrategien und argumentiere, dass sie die konzeptionellen und politischen Einwände nicht ganz abwenden können und skizziere danach eine Adorno’sche Alternative. Neuere Reformulierungen des Fortschrittsbegriffs werden, zumindest in Teilen, von der Überlegung getragen, dass die Kritische Theorie auf irgendeine Art und Weise entscheidend von der Idee des Fortschritts abhängig ist; dass man nicht Kritischer Theoretiker sein kann, ohne einer Vorstellung von Fortschritt verpflichtet zu sein. Bevor ich jüngere Reformulierungen von Fortschritt in der Kritischen Theorie untersuche, möchte ich Walter Benjamin: Illuminationen: Ausgewählte Schriften, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1980, S. 255. Theodor Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit: 1964–1965, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2006, S. 14. 4 Besonders Thomas McCarthy: Race and the Idea of Human Development, Cambridge 2009. 2 3

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kurz die generellen Gründe, die zur Unterstützung dieser Behauptung gegeben wurden, darstellen und etwas mehr darüber sagen, was mit Fortschritt in diesem Kontext gemeint ist. Zuerst, was mit Fortschritt gemeint ist. Man kann über Fortschritt in Bezug auf viele verschiedene Ziele oder Maßstäbe reden; abhängig von irgendeinem meiner Ziele kann ich mich als näher an dieses herankommend oder mich als davon entfernend verstehen. In diesem Sinne kann ich über einen Fortschritt bei meinem Training für einen Marathon oder dem Fertiglesen eines Buchmanuskripts reden, und alles, was ich brauche, um sinnvoll solche Aussagen zu machen, ist ein klares Verständnis des Maßstabs, mit dem Fortschritt gemessen wird. Der traditionelle Diskurs des historischen Fortschritts, wie er aus der Tradition der Europäischen Aufklärung hervorgegangen ist, neigte dazu, viel allgemeinere Behauptungen über das gesamte Vorwärtskommen der Menschheit von einer primitiven oder barbarischen Verfassung zu einer weiter entwickelten, aufgeklärteren oder zivilisierteren zu machen. Koselleck erinnert uns daran, dass der Begriff Fortschritt, wie er von Kant benutzt wurde, »kurz und griffig die Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen, technischen, industriellen, schließlich auch der gesellschaftlich-moralischen oder gar der gesamtgeschichtlichen Fortschrittsdeutungen auf einen gemeinsamen Begriff brachte.«5 Solche traditionellen Verständnisse von Fortschritt hängen dementsprechend von einer robusten metaphysischen Vorstellung von der Gesamtheit der Geschichte ab und postulieren zumindest eine Perspektive, von der aus sie verstanden werden kann. Jüngere Reformulierungen des Fortschrittsbegriffs sind viel weniger metaphysisch anspruchsvoll und viel differenzierter. Obwohl einige Verteidiger des Fortschrittsbegriffs immer noch die Vorstellung verteidigen wollen, dass es nicht nur in technisch-wissenschaftlichen, sondern auch in moral-politischen Bereichen nachweislichen Fortschritt gegeben hat6, sehen sie diese nichtsdestotrotz als getrennte Phänomene: es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der technisch-wissenschaftliche Fortschritt zu moralisch-politischem Fortschritt führen sollte (noch weniger zu menschlichem Glück), oder andersherum, und selbst innerhalb des moralisch-politischen Bereichs ist wirtschaftlicher Fortschritt nicht unbedingt von moralischem Fortschritt begleitet, und so weiter. Durch die postmetaphysische Perspektive wird Fortschritt außerdem in allen Bereichen als historisch bedingte Errungenschaft verstanden, als Ergebnis menschlichen Handelns, welches somit für Rückschläge und Rückschritte anfällig ist. Zwei unterschiedliche Arten von Argumenten wurden für die Behauptung geliefert, dass die Kritische Theorie einen Begriff des Fortschritts benötigt, um genuin kritisch zu sein. Das erste Argument ist, dass wir einen Begriff von Fortschritt hin zu einem Ziel brauchen, um uns etwas zu geben, nach dem wir politisch streben und um unsere Politik genuin fortschrittlich zu machen.7 Fortschritt, der auf diese Art verstanden wird, ist mit 5 Reinhart Koselleck: »›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹: Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe«, in: Reinhart Koselleck/Paul Widmer (Hg.): Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, Stuttgart 1980, S. 224. 6 Besonders Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bd., Frankfurt/M. 1995. Vgl. auch McCarthy: Race, Empire, and the Idea of Human Development. 7 McCarthy: Race, Empire and the Idea of Human Development, S. 240.

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Kants berühmter dritter Frage »Was darf ich hoffen?« verbunden. Damit eine Theorie kritisch sein kann, muss sie mit der Hoffnung auf eine signifikant bessere – gerechtere oder zumindest weniger unterdrückende – Gesellschaft, verbunden sein. Solche Hoffnungen dienen der Orientierung unserer politischen Bestrebungen, und um als genuine Hoffnungen zu zählen, müssen sie auf dem Glauben an die Möglichkeit von Fortschritt beruhen. Man könnte das als eine Art transzendentales Argument aufziehen: wann auch immer eine Theoretikerin kritisch gegenüber einem bestehenden Merkmal der sozialen oder politischen Welt ist, muss sie notwendigerweise ein Ideal voraussetzen, angesichts dessen sie die Kritik äußert und sich darüber hinaus der Behauptung verpflichtet fühlen, dass das Erreichen dieses Ideals einen moralischen oder politischen (oder vielleicht einfach nur normativen; nichts bestimmtes hängt an diesen Unterscheidungen, zumindest nicht im Moment) Fortschritt begründen würde. Der zweite Grund, warum davon ausgegangen wird, dass die Kritische Theorie sich auf ein Verständnis von Fortschritt stützt, beinhaltet eine eigene aber verwandte Art von transzendentalem Argument. Der Gedanke ist hier, dass sich Kritische Theoretiker, insoweit sie bestimmte politische Ereignisse in ihrer eigenen Zeit begrüßen – Kants Haltung zur Französischen Revolution dient als Paradebeispiel –, notwendigerweise selbst dazu verpflichten, diese Begebenheiten als besser zu betrachten, als das, was davor kam; und dadurch verpflichten sie sich dazu, zu denken, dass zumindest bestimmte Merkmale ihrer sozialen und politischen Welt das Resultat eines fortschreitenden, sich entwickelnden oder historischen Lernprozesses sind. Diese zwei Argumente sind oft eng miteinander verflochten. Die verschiedenen Arten, sie zu verbinden, diskutiere ich weiter unten. Zunächst möchte ich betonen, dass es zwei unterschiedliche Konzeptionen von Fortschritt gibt, die in diesen Argumenten implizit sind. Die erste Konzeption ist vorausblickend, in die Zukunft gerichtet. Fortschritt ist aus dieser Perspektive ein moralisch-politischer Imperativ, ein normatives Ziel, um dessen Erreichen wir uns bemühen, ein Ziel, das als die Idee der guten oder zumindest gerechteren Gesellschaft gefasst werden kann. Die zweite Konzeption ist rückwärtsgewandt, in die Vergangenheit gerichtet; Fortschritt ist aus dieser Perspektive ein Urteil über den Entwicklungsprozess, der zu »uns« geführt hat, ein Urteil, das »unsere« Konzeption von Vernunft, »unsere« moralisch-politischen Institutionen, »unsere« sozialen Praktiken, »unsere« Lebensform als das Resultat eines Prozesses sozio-kultureller Entwicklung oder historischen Lernens begreift. Ich werde die vorausblickende Konzeption von Fortschritt »Fortschritt als Imperativ« und die rückwärtsgewandte »Fortschritt als Tatsache« nennen. Beide Konzeptionen von Fortschritt sind offensichtlich zutiefst mit Thesen über Normativität und die Möglichkeit von Maßstäben oder Prinzipien, die transhistorische normative Urteile ermöglichen, verbunden. In diesem Sinne konvergieren beide Konzeptionen notwendigerweise. Beide Argumente dafür, dass die Kritische Theorie einer Konzeption von Fortschritt bedarf, beziehen sich auf die Möglichkeit oder Tatsache einer spezifischen Art von Fortschritt, nämlich moralisch-politischem Fortschritt, anstatt auf technisch-wissenschaftlichen Fortschritt oder Fortschritt überhaupt; deshalb werde ich mich von jetzt an darauf konzentrieren.

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2. Fortschritt und die Normativität Kritischer Theorie: zwei Strategien In vielen Werken neuerer Kritischer Theorie spielt die hier rückwärtsgewandt genannte Konzeption von Fortschritt als »Tatsache« eine entscheidende, wenn auch implizite Rolle bei der Begründung der Normativität Kritischer Theorie und rechtfertigt deshalb Auffassungen von Fortschritt als Imperativ. Das folgt mehr oder weniger direkt aus der Kombination zweier Verpflichtungen: erstens, dass die normative Perspektive der Kritischen Theorie immanent begründet werden muss, innerhalb der realen sozialen Welt; und, zweitens, der Wunsch die Zwillingsübel eines unhaltbaren Letztbegründungsanspruchs und des Relativismus zu vermeiden. Diese zwei Verpflichtungen stehen insofern in einem Spannungsverhältnis zueinander, als dass das Vorhaben, die normative Perspektive der Kritischen Theorie innerhalb der existierenden sozialen Welt zu begründen, Bedenken des Konventionalismus und der ideologischen Verzerrung weckt. Die von Habermas und Honneth bevorzugte, grob gesagt, neohegelianische Strategie, Normativität zu begründen, stellt einen Versuch dar, dieses Spannungsverhältnis zu lösen. Die grundlegende Idee ist, dass die normativen Prinzipien, die wir in unserer sozialen Welt finden – als Erben des Projekts der Europäischen Aufklärung oder des Vermächtnisses der Europäischen Moderne, deren Kern eine bestimmte Konzeption rationaler Autonomie (Habermas) oder sozialer Freiheit (Honneth) ist –, selbst insofern gerechtfertigt sind – zumindest teilweise8–, als dass sie als das Ergebnis eines Prozesses progressiver sozialer Evolution oder sozio-kulturellen Lernens verstanden werden können.9 Deshalb ermöglicht diese Konzeption normativen Fortschritts der Kritischen Theorie die normativen Maßstäbe, die sie in der existierenden sozialen Welt vorfindet, nicht nur als rein zufällige oder willkürliche, für einen bestimmten Bezugsrahmen geltende Maßstäbe zu verstehen, sondern vielmehr insofern als gerechtfertigte, als dass sie Resultate eines Prozesses historischer Entwicklung oder historischen Lernens sind. Aber wenn die immanente Begründung der normativen Prinzipien Kritischer Theorie innerhalb der sozialen Welt letztendlich auf der Behauptung über soziale Evolution oder sozio-kulturellen Lernprozessen ruht, dann bedeutet das, dass die normativen Maßstäbe, die es uns ermöglichen, eine gute oder gerechtere Gesellschaft vorzustellen – das Diskurs8 Es gibt wichtige Unterschiede zwischen den Strategien von Habermas und Honneth und auch viele Nuancen innerhalb ihrer Strategien, über die ich aus Platzgründen hinweggehe. Die Gesamtstrategie von Habermas verbindet eine Geschichte über soziale Evolution und Moderne mit einer rationalen Rekonstruktion der Normativität, die moralisch-politischen Diskursen inhärent ist. Deshalb stellt die universelle, formal-pragmatische Analyse der Sprache (welche später zu seiner neokantischen Diskursethik gedeiht) ein wichtiges Element in der Normativitätsbegründung von Habermas dar. Die Strategie von Honneth ist hegelianischer, obwohl auch er sich manchmal auf eine abstrakte, universelle philosophische Anthropologie beruft, um Bedenken des Konventionalismus zu vermeiden. Für meine Zwecke ist der zentrale Punkt, dass die Vorstellungen von historischem Lernen oder Fortschritt im normativen Bereich insoweit ein entscheidendes Element ihrer Normativitätskonzeptionen sind, als dass letztere untergraben werden, sobald erstere Vorstellungen untergraben werden. 9 Vgl. David S. Owen: Between Reason and History: Habermas and the Idea of Progress, Albany, NY 2002; Mattias Iser: Empörung und Fortschritt: Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2008.

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prinzip beispielsweise oder die Vorstellung sozialer Freiheit – selbst gerechtfertigt sind – wieder zumindest teilweise – insofern, als dass sie das Ergebnis eines Prozesses sozio-kultureller Entwicklung oder Lernens sind. In anderen Worten, die zwei oben dargestellten Konzeptionen von Fortschritt sind verbunden, da Fortschritt als moralisch-politischer Imperativ, für Habermas und Honneth, auf der grundlegenden normativen Ausrichtung basiert, die durch die Konzeption von Fortschritt als einer historischen »Tatsache« untermauert wird. Die normative Perspektive, die als Orientierung für die vorausblickende Konzeption von Fortschritt dient, ist durch die rückwärtsgewandte Geschichte darüber, wie »unsere« modernen, europäischen, aufgeklärten, moralischen Vokabulare und politischen Ideale das Ergebnis eines Lernprozesses sind und deshalb weder bloß konventionell noch in einer apriorischen, transzendentalen Konzeption reiner Vernunft begründet sind, gerechtfertigt. Diese normative Ausrichtung liefert uns wiederum eine Konzeption der »guten« oder »gerechteren« Gesellschaft, die uns als Basis für unser moralisch-politisches Streben dient. Das legt, zumindest in Bezug darauf, wie die Vorstellung von Fortschritt in Habermas’ und Honneths Arbeiten verwendet wird, nahe, dass diese zwei Konzeptionen von Fortschritt – der vorausschauende Sinn von Fortschritt als ein moral-politischer Imperativ und die rückwärtsgewandte Vorstellung von Fortschritt als »Tatsache« über die Prozesse historischen Lernens und sozio-kultureller Evolution, die bis zu »uns« geführt haben – nicht so einfach voneinander getrennt werden können. In anderen Worten ist es für diese Version der Kritischen Theorie nicht möglich, Fortschritt als einen moralisch-politischen Imperativ zu begreifen, ohne gleichzeitig an Fortschritt als »Tatsache« zu glauben, solange die Normativität der Kritischen Theorie über die These sozio-kultureller Evolution oder historischen Lernens gesichert wird. Deshalb kann zeitgenössische Kritische Theorie, wie Habermas und Honneth sie verstehen, ihren Fortschrittsglauben nur aufgeben, wenn auch ihr Verständnis von Normativität überdacht wird. Aber warum sollte der Fortschrittsglaube aufgegeben werden? Was ist überhaupt problematisch an der Vorstellung von Fortschritt als »Tatsache« und der Rolle, die diese Vorstellung bei der Begründung von Normativität in der Kritischen Theorie spielt? Zwei Arten von Einwänden stechen hervor: konzeptionelle und politische. Der konzeptionelle Einwand widmet sich der folgenden Art von Fragen: auf welcher Basis behaupten wir zu wissen, was als Fortschritt gilt, wenn wir Geschichte interpretieren? Setzt ein Urteil über normativen Fortschritt nicht Wissen darüber voraus, was als Endpunkt oder Ziel der historischen Entwicklung zählt? Setzen in diesem Sinn nicht alle Urteile über normativen Fortschritt entweder einen unabhängigen, nicht-historischen, kontext-transzendenten, normativen Maßstab voraus, oder brechen ansonsten in genau dem Konventionalismus zusammen, den sie eigentlich vermeiden wollen? Das Bedenken dabei ist, dass ohne solch einen unabhängigen Maßstab Urteile über normativen Fortschritt, wie Charles Larmore es formuliert hat, »hoffnungslos engstirnig«, werden und nicht viel mehr als »ein Instrument der Selbst-Beglückwünschung.«10

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Charles Larmore: »History and Truth«, in: Daedalus 133/3 (2004), S. 46–55, hier: S. 47.

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Der politische Einwand betrachtet die Verflechtung der Vorstellung von Fortschritt als »Tatsache« mit den Vermächtnissen von Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus und ihren zeitgenössischen informellen imperialistischen oder neo-kolonialen Formen. Die Vorstellung, dass die normativen Ideale der Europäischen Aufklärung das Resultat eines progressiven, sich entwickelnden Lernprozesses sind, durch die die Moderne aus traditionellen Lebensformen entstanden ist, ist der eurozentrischen Logik unbehaglich nah, mit der der Kolonialismus und die sogenannten zivilisierenden Missionen gerechtfertigt wurden. Wie James Tully treffend formuliert hat, ist die Sprache des Fortschritts und der Entwicklung für zwei Drittel der Weltbevölkerung die Sprache der Unterdrückung.11 In anderen Worten, der Begriff von historischem Fortschritt als »Tatsache« ist mit komplexen Beziehungen der Beherrschung, Exklusion und Ruhigstellung von kolonisierten und subalternen Subjekten verbunden. Diese zwei Arten von Einwänden können zusammen kommen und tun dies auch oft, gerade bei postkolonialen Kritiken von Fortschritt, die von Foucault die Vorstellung der Verknüpfung von Macht und Wissen nehmen.12 Tatsächlich könnte der zweite Einwand als weitere Spezifikation des ersten angesehen werden, also als besondere Form der Selbst-Beglückwünschung, die europäischen Konzeptionen von Fortschritt eigen ist. (Die Frage, ob die Vorstellung von Fortschritt selbst modernen, europäischen Ursprungs ist, wie beispielsweise Koselleck argumentiert, verkompliziert die Diskussion weiter; diese Problematik werde ich beiseiteschieben). Angesichts dieser Einwände könnte man eine zweite Strategie favorisieren, um die Beziehung zwischen Fortschritt und Normativität zu verstehen. Die neokantianische konstruktivistische Strategie, die von Rainer Forst entwickelt wurde, hält an dem Gedanken von Fortschritt als Imperativ fest, aber ohne sich gleichzeitig auf eine rückwärtsgewandte neohegelianische Konzeption von Fortschritt als »Tatsache« zu verlassen. Forst artikuliert im Gegenteil einen universalen moralisch-politischen Maßstab – das grundlegende Recht auf Rechtfertigung –, das nicht auf einer rückwärtsgewandten Konzeption von historischem Fortschritt basiert, sondern stattdessen auf einer freistehenden Vorstellung praktischer Vernunft.13 Weiter argumentiert Forst, dass Fortschritt in dem Sinn ein normativ abhängiges Konzept ist, als dass es abhängig von einem universalen normativen Maßstab ist, der einen klaren Bezugspunkt für Behauptungen über historischen Fortschritt bietet.14 Deshalb ermöglicht Forsts neokantische Strategie Behauptungen über Fortschritt als »Tatsache« – erzwingt sie vielleicht sogar in dem Sinn, dass in dem Moment, in dem jemand einen universellen normativen Maßstab artikuliert hat, bestimmte Urteile über

James Tully, persönliche Kommunikation. Vgl., zum Beispiel: Dipesh Chakrabarty: Habitations of Modernity: Essays in the Wake of Subaltern Studies, Chicago 2002; Walter Mignolo: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011; Edward Said: Orientalismus, Frankfurt/M. 1981. 13 Vgl. Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung: Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2010. 14 Forst: »Zum Begriff des Fortschritts«, in: Hans Joas (Hg.): Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne Frankfurt/M. 2012, jetzt in Forst: Normativität und Macht, Berlin 2015. 11 12

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Fortschritt und Rückschritt folgen –, aber sie verlässt sich bei der Rechtfertigung ihrer Maßstäbe nicht darauf. Diese Art die Beziehung zwischen Normativität und historischem Fortschritt zu verstehen vermeidet die Verflechtung der vorausschauenden und der rückwärtsgewandten Vorstellung von historischem Fortschritt, die die Theorien von Habermas und Honneth plagen. Dementsprechend vermeidet sie den oben ausführlich aufgeführten konzeptionellen Einwand. Aber sie öffnet sich dadurch für eine andere Version des politischen Einwands, eine, die in der Befürchtung begründet ist, dass alle vermeintlichen universellen, kontext-transzendenten normativen Maßstäbe oder Konzeptionen praktischer Vernunft in Wirklichkeit verdeckte dichte, substantielle Konzeptionen des Guten sind. Aus Zeitgründen hier nur schematisch ausgedrückt ist die Sorge, dass eine abstrakte kantische Moral und praktische Vernunft tatsächlich nur versteckter Eurozentrismus sind, ein wesentlicher Bestandteil der Tendenz des Westens sich selbst als universal zu sehen, wie Linda Alcoff 2012 mit Nachdruck in ihrer Ansprache anlässlich des APA Vorsitzes argumentierte.15 (Ohne Zweifel wird Forst Antworten auf diesen Einwand haben und ich bin mir sicher, dass wir sie in Kürze zu hören bekommen). Eine etwas anspruchsvollere Version dieses Einwands besagt, dass hier viel von der Konzeption praktischer Vernunft abhängt, und dass Urteile darüber, wer vernünftig ist oder nicht – wer fähig ist, ein diskursiver Gesprächspartner zu sein – politische Urteile im Interesse der Mächtigen sind. Wenn der Sinn praktischer Vernunft dicht und substantiell genug sein soll, um die normative Arbeit zu leisten, die sie für Forst leisten muss, exkludiert sie wahrscheinlich »subalterne Personen wie Frauen, Orientale, Schwarze und andere ›Einheimische‹«, die unangemessen viel Lärm machen mussten, bevor sie als wert angesehen wurden, der Gemeinschaft derjenigen beizutreten, die argumentieren;16 wenn sie genuin universell sein soll, dann wird sie zu dünn und abstrakt sein, um die normative Arbeit zu leisten, die sie für Forst leisten muss. Ein zweiter, eher methodologischer Einwand besagt, dass Forsts Ansatz die Besonderheit Kritischer Theorie als methodologischer Herangehensweise opfert, indem er ihre Verpflichtung aufgibt, dass unsere normativen Prinzipien in der existierenden sozialen Realität gefunden werden und stattdessen einen fundamentalen Ansatz über Normativität annimmt, der im Gegensatz zu den Gründen, warum Kritische Theoretiker sich überhaupt dem Diskurs über Fortschritt als »Tatsache« zugewandt haben, steht. Diese zwei Einwände sind unterschiedlich, aber wurzeln in einer gemeinsamen Einsicht: dass der Versuch, eine Sichtweise außerhalb von Machtbeziehungen zu artikulieren – sozusagen eine noumenale Sichtweise oder auch eine Sichtweise über praktische Vernunft »als solche« –, nicht nur methodologisch problematisch für die Kritische Theorie ist, sondern auch potentiell als eine List der Mächtigen verstanden werden muss.17

15 Linda Martín Alcoff: »Philosophy’s Civil Wars«. Online einsehbar unter: http://www.alcoff.com/ articles/presidential-adress-apa-eastern-2012. Letzter Zugriff: 11. Februar 2015. 16 Edward Said: »Representing the Colonized: Anthropology’s Interlocutors«, in: Critical Inquiry 15/2 (1989), S. 205–225, hier: S. 210. 17 Zu diesem Punkt, vgl. Judith Butler: »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der

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3. Die Adorno’sche Alternative Angesichts dieser Einwände argumentiere ich dafür, Fortschritt als moralisch-politischen Imperativ auf eine andere Weise von Fortschritt als »Tatsache« zu entflechten. Ich nenne dies eine Adorno’sche Strategie, nicht nur, weil sie von seiner Vorstellung inspiriert ist, dass Fortschritt da auftritt, wo er endet, aber auch, weil sie sich auf seinen Versuch bezieht, eine Philosophie der Geschichte zu entwickeln, die weder progressiv ist noch eine regressive Verfallsgeschichte darstellt und auf seinen Versuch, dieses Verständnis von Geschichte ohne Letztbegründungsanspruch, mit einem historisch situierten Ansatz von Normativität zu begründen. In diesen letzten zwei Punkten finde ich Adornos Arbeit ziemlich kompatibel mit Foucaults Konzeption von Geschichte und Normativität; deshalb könnte meine Strategie auch eine Adorno-Foucault’sche genannt werden. Meine Strategie versucht mit einer kontextualistischeren Konzeption ohne Letztbegründungsanspruch von Normativität auszukommen. Solch eine Konzeption ermöglicht immer noch vorausblickende Bestrebungen von moralischem und politischem Fortschritt, versteht alle Behauptungen über Fortschritt aber auch als höchst provisorisch, in einer kontextuellen meta-normativen Position verwurzelt, und somit immer in Bedarf einer andauernden genealogischen Problematisierung. Diese Ansicht könnte also das transzendentale Argument akzeptieren, dass man nur gegen Fortschritt sein kann, indem man dafür ist18 – in anderen Worten, dass sogar die postkoloniale Kritik der ideologischen Konzeption von Fortschritt als »Tatsache« implizit der Behauptung verpflichtet ist, dass es besser wäre, wenn wir uns von dieser Konzeption entwöhnten, also von einer Vorstellung von Fortschritt – aber würde dennoch betonen, dass alle dieser vorausblickenden Behauptungen über das, was als Fortschritt zählen würde, ständig problematisiert werden müssten.19 Wenn wir akzeptieren, dass die Kritische Theorie ein immanentes und rekonstruktives Projekt ist, das seinen normativen Gehalt aus der existierenden sozialen Realität bezieht, und wenn wir die neohegelianische Strategie zur Affirmation dieser Haltung ablehnen und gleichzeitig einen unhaltbaren Letztbegründungsanspruch vermeiden, dann drängt uns das auf der meta-ethischen oder meta-normativen Ebene notwendigerweise in die Richtung einer kontextualisierteren Vorstellung von Normativität. Offensichtlich könnte und sollte hier mehr darüber gesagt werden, ob und wie so eine Vorstellung von Normativität es vermeiden kann, in einen Relativismus erster Ordnung oder in einen Konventionalismus zu kollabieren. Ich denke, dass man hier achtsam sein muss, der Verschmelzung von normativer Theorie erster Ordnung und Metaethik, die in der Literatur der Kritischen Theorie über Normativität überwiegt, zu widerstehen; universelle normative Prinzipien können auf einer Vielzahl metaethischer Positionen basieren, kontextuelle und kohärente miteinbegriffen. Dennoch, wenn man aus anderer ›Postmoderne‹«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Nancy Fraser/Drucilla Cornell (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/M. 1993. 18 Vgl. Forst, Zum Begriff des Fortschritts. 19 Also ist Kritik immer in der Lage neu zu beginnen, wie es Foucault in »Was ist Aufklärung?« behauptet. Vgl. Michel Foucault, »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M., New York 1990, S. 46.

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Richtung argumentiert, könnte man sagen, dass die Verpflichtungen erster normativer Ordnung der Kritischen Theorie zu gleichem moralischen Respekt, Inklusion und so weiter tatsächlich mehr in die Richtung einer moderateren und zurückhaltenden Metaethik drängen als die neohegelianischen oder neokantischen Strategien, die oben diskutiert wurden.20 Der Gedanke ist hier, dass wenn man mit einer vorläufigen normativen Verpflichtung zu gleichem moralischen Respekt, Inklusion und Offenheit gegenüber dem Anderen anfängt, und dann von da aus zu der Art meta-normativer Position zurückgeht, die am besten mit diesen Verpflichtungen und unserem Verständnis von ihnen als vorläufig vereinbar ist, dann wird man zu einer kontextualisierten und epistemisch bescheidenen metanormativen Position kommen. Solch eine Position würde anerkennen, wie es Judith Butler formuliert hat, indem sie Adorno glossiert, dass »wenn das Menschliche irgendetwas ist, dann scheint es eine Doppelbewegung zu sein, in der wir moralische Normen geltend machen und zugleich die Autorität in Frage stellen, mit welcher wir diese Normen geltend machen«.21 Diese metanormative Position verlangt eine Art epistemischer Demut, die über reinen Fallibilismus hinausgeht – das Bewusstsein über die Tatsache, dass sich herausstellen könnte, dass wir falsch liegen –, weil es im Namen der besseren Realisierung der Ideale der Freiheit, des gleichen Respekts, der Offenheit und Inklusion eine aktive und andauernde kritische Problematisierung unserer eigenen Sichtweise geben muss. Was die Vorstellung von Fortschritt als »Tatsache« betrifft, obwohl eine kontextualisierte Darstellung von Normativität ohne Letztbegründungsanspruch rückwärtsgewandte Behauptungen über Fortschritt als »Tatsache« zulassen könnte, wären diese notwendigerweise gemäßigte Behauptungen über Fortschritt »aus unserer Sicht« oder »für uns«, das heißt, angesichts bestimmter normativer Maßstäbe, denen wir verpflichtet sind. Obwohl solche Behauptungen durchaus konzeptionell kohärent sein können, sind sie immer noch angreifbar durch die Arten von Einwänden gegen die Tendenz zu konservativer SelbstBeglückwünschung und sogar dem oben diskutierten Eurozentrismus. Das richtige Gegenmittel zu so einer Tendenz zur Selbst-Beglückwünschung ist ein anderes Verständnis von Genealogie und ihrer Rolle innerhalb der Kritischen Theorie. In dieser Konzeption zielt Genealogie weder auf die direkte Zerstörung oder die Entlarvung unserer normativen Konzepte oder Prinzipien ab, noch auf die direkte Rechtfertigung.22 Die Genealogie zielt eher auf das ab, was ich die kritische Problematisierung Zu diesem Punkt vgl. Anthony Simon Laden: »Constructivism as Rhetoric«, in: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): A Companion to Rawls, London 2013. 21 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt. Adorno Vorlesungen, Frankfurt/M. 2007, S.139. 22 Für die Unterscheidung zwischen rechtfertigenden, subversiven und problematisierenden Formen der Genealogie, vgl. Colin Koopman: Genealogy as Critique: Foucault and the Problems of Modernity, Bloomington 2013, Kapitel 2. Für Koopman ist Nietzsche der Musterfall für subversive Genealogie; Bernard Williams ist der Musterfall für rechtfertigende Genealogie. Ich würde hier hinzufügen, dass die rationale Rekonstruktion von Habermas und die normative Rekonstruktion von Honneth für mich in ihren Zielen rechtfertigend zu sein scheinen: obwohl beide Rückschritte und Fehlentwicklungen anerkennen, ist das Ziel der rationalen/normativen Rekonstruktion die normativen Maßstäbe zu rechtfertigen, die wir in unserer sozialen Welt wiederfinden (im Falle von Habermas rationale Autonomie, im Falle Honneths soziale Freiheit). Entgegen Koopman, der die Problematisierung als dritte Alternative anbie20

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unserer normativen Ansichten genannt habe, wobei diese Problematisierung eine Kombination von rechtfertigenden und subversiven, oder progressiven und regressiven Interpretationen von Geschichte verlangt.23 Auf Foucault und Adorno Bezug nehmend, argumentiere ich weiter, dass der richtige Umfang, Genealogie zu problematisieren, nicht nur die empirischen Umschreibungen unserer normativen Vorstellungen und Konzeptionen der Vernunft einbezieht, sondern auch die Arten epistemischer Gewalt, die in diesen normativen Idealen und Konzeptionen von Vernunft selbst enthalten ist.24 Dennoch behaupte ich in einer weiteren reflexiven Wendung, dass dieses Problematisierungsverfahren von Genealogie eine wichtige Rolle dabei spielt, die Art von genuinem Respekt und Offenheit für den anderen zu verwirklichen, die wohl zentral für das normative Erbe der Aufklärung sind. Etwas paradox argumentiere ich dann, dass diese Problematisierung jeder und aller Behauptungen über Fortschritt als »Tatsache« tatsächlich der einzige Weg ist, dem normativen Erbe der Moderne gerecht zu werden, besonders ihrer Vorstellung von Freiheit, Inklusion und gleichem moralischen Respekt. Angenommen, dass der politische Einwand gegen den Diskurs über Fortschritt als »Tatsache«, wie oben diskutiert, überzeugend ist, ist die entwicklungsorientierte, progressive Vorstellung von Fortschritt als »Tatsache« unvereinbar mit der Verkörperung des Werts von gleichem moralischem Respekt, weil sie uns dazu verpflichtet, einige unserer globalen Mitbürger als unreif und unterentwickelt zu betrachten, und deshalb noch nicht zu autonomer Selbstbestimmung imstande. Genuiner Respekt und Offenheit für den Anderen erfordern deshalb eine andauernde kritisch-genealogische Problematisierung unseres Selbstverständnisses als Erben des normativen Projekts der Aufklärung. Es verlangt, was Gayatri Spivak die andauernde, wachsame, und beharrliche »Kritik dessen, was wir nicht wollen können« genannt hat.25 Aus dem Amerikanischen von

Esther Neuhann und Susanne Schlee

Literatur Adorno, Theodor: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit: 1964–1965, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 2006. tet, in Abgrenzung von subversiver und rechtfertigender Genealogie, verstehe ich Problematisierung als Durcharbeitung einer Gegenüberstellung von subversiven und rechtfertigenden Maßstäben. 23 Entgegen Koopman, der die Problematisierung als dritte Alternative nennt, die sich von der subversiven und rechtfertigenden Genealogie dadurch unterscheidet, dass sie keine normativen Ziele verfolgt. 24 Entgegen Honneth und McCarthy, die dazu neigen, Genealogie mit subversiver Genealogie gleichzusetzen und zu behaupten, dass der meta-kritische Punkt von Genealogie darin besteht, uns zu zeigen, wie unsere normativen Prinzipien in der Praxis falsch laufen können. Vgl. McCarthy: Race, Empire and the Idea of Human Development, und Honneth: »Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der Kritik in der Frankfurter Schule«, in: Pathologien der Vernunft: Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007. 25 Gayatri Spivak: Kritik der postkolonialen Vernunft: hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Stuttgart 2014, S. 110.

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Alcoff, Linda Martín: »Philosophy’s Civil Wars«. Online einsehbar unter: http://www.alcoff. com/articles/presidential-adress-apa-eastern-2012. Letzter Zugriff: 11. Februar 2015. Allen, Amy: The End of Progress: Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory, New York 2016. Benjamin, Walter: Illuminationen: Ausgewählte Schriften, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1980. Butler, Judith: »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Nancy Fraser/Drucilla Cornell (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart Frankfurt/M. 1993. − Kritik der ethischen Gewalt. Adorno Vorlesungen, Frankfurt/M. 2007. Chakrabarty, Dipesh: Habitations of Modernity: Essays in the Wake of Subaltern Studies, Chicago 2002. Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung: Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2010. − »Zum Begriff des Fortschritts«, in: Hans Joas (Hg.): Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne Frankfurt/M. 2012, jetzt in Forst: Normativität und Macht, Berlin 2015. Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M., New York 1990, S. 35–54. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bd., Frankfurt/M. 1995. Honneth, Axel: »Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der Kritik in der Frankfurter Schule«, in: Pathologien der Vernunft: Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007. Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt: Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2008. Larmore, Charles: »History and Truth«, in: Daedalus 133/3 (2004), S. 46–55. McCarthy, Thomas: Race and the Idea of Human Development, Cambridge 2009. Mignolo, Walter: The Darker Side of Western Modernity: Global Futures, Decolonial Options, Durham 2011. Koopman, Colin: Genealogy as Critique: Foucault and the Problems of Modernity, Bloomington 2013. Koselleck, Reinhart: »›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹: Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe«, in: Reinhart Koselleck/Paul Widmer (Hg.): Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema, Stuttgart 1980. Laden, Anthony Simon: »Constructivism as Rhetoric«, in: Jon Mandle/David A. Reidy (Hg.): A Companion to Rawls, London 2013. Owen, David S.: Between Reason and History: Habermas and the Idea of Progress, Albany, NY 2002. Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt/M. 1981. − »Representing the Colonized: Anthropology’s Interlocutors«, in: Critical Inquiry 15/2 (1989), S. 205–225. Spivak, Gayatri: Kritik der postkolonialen Vernunft: hin zu einer Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Stuttgart 2014.

Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts? Kommentar zu Amy Allen, »Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts« Rainer Forst

Es ist eine willkommene Herausforderung, den Vortrag von Amy Allen zu kommentieren, da ich ihre Arbeit generell sehr schätze und im Besonderen ihren Versuch – umfassend ausgeführt in ihrem Buch The End of Progress1 (das auch ihrem Aufsatz seinen ambivalenten Titel verleiht) –, eine sozusagen super-kritische Theorie vorzulegen, also eine kritische Theorie kritischer Theorien. Dies zwingt mich dazu, in meinen Bemerkungen super-super-kritisch zu sein, da ich mit einer Reihe ihrer Argumente nicht einverstanden bin. Bei dem Ziel jedoch sind wir uns einig, denn es ist von größter Bedeutung, auch kritische Theorien auf versteckte Eurozentrismen zu befragen und zu entprovinzialisieren, um Chakrabartys2 Ausdruck zu verwenden. Dabei spielt der Dialog mit postkolonialen Theorien eine wichtige Rolle.

1. Die Dialektik des Fortschritts Der Text von Amy Allen berührt zu viele wichtige Fragen, um sie alle in einem kurzen Kommentar behandeln zu können. Allgemein gesagt, versucht sie zwar eine dialektische Position zu entwickeln, die Fortschritt als »Tatsache« negiert, dabei aber Fortschritt als »Imperativ« beibehält. Dies aber ist im Lichte der klassischen kritischen Theorie noch immer zu undialektisch gedacht, denn Adorno und Horkheimer gingen zwar in der Dialektik der Aufklärung davon aus, dass technologischer Fortschritt und zivilisatorischer Verfall einhergingen, gaben aber niemals eine differenzierte Sicht auf gesellschaftliche Fort- und Rückschritte (als Tatsachen) auf und auch nicht die Hoffnung auf eine menschliche oder zumindest menschlichere Gesellschaft. »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben«, wie Benjamin3 schrieb, dem Adorno beipflichtete: »Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.«4 In einer wirklich dialektischen Fortschrittsbetrachtung muss man sehen, dass der Anspruch, den Fortschritt zu bringen oder zu verkörpern, eine große ideologische Rolle bei der Rechtfertigung von Kolonialismus und Unterdrückung (bis heute) gespielt hat, aber ebenso muss man einen Begriff davon haben, dass die Kritik daran selbst im Namen eines Fortschritts Amy Allen: The End of Progress, New York 2016. Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz, Frankfurt/M. 2010. 3 Walter Benjamin: »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, S. 135. 4 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, S. 370. Direkt im Anschluss wird Benjamins Satz zitiert. 1 2

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spricht, der Dekolonisierung oder andere Formen gesellschaftlicher Befreiung anstrebt und solche Befreiungen, sofern sie stattgefunden haben, als Fortschritte ansieht.5 Diese, wenn man es adornitisch ausdrücken will, Solidarität mit dem Fortschrittsgedanken im Augenblick seiner radikalen Kritik sehe ich bei Amy Allen nicht ganz beherzigt. Wir müssen bei einer hinreichend dialektischen Betrachtung sehen, dass wir die Etablierung demokratischer Verhältnisse und die Einhaltung der Menschenrechte sehr wohl als Fortschritte begreifen können, ohne dabei die Fortexistenz alter oder das Heraufziehen neuer Machtverhältnisse beschönigen zu müssen. Das wäre eine erpresserische Alternative zwischen Schwarz und Weiß, der man sich entziehen muss. Fortschritt und Regression fallen bei komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen oft zusammen – und manchmal auch bei Theorien, die einen kritischen Anspruch haben. Wer die Ethnozentrismen oder Rassismen aufspürt, die in manchen Vorstellungen der aufgeklärten Menschheit oder der Menschenrechte schlummern mögen, muss damit noch nicht den ganzen Begriff der Menschenrechte verabschieden, denn das hieße, den Rassismen allzu sehr nachzugeben. Die Gefahr einer zu einseitigen Kritik sehe ich bei Amy Allen. Dabei stimme ich ihr in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung des Fortschritts zu, denke aber, sie vernachlässigt (explizit zumindest) eine andere, die sie implizit selbst verwendet. Allen stellt sich Fortschritt als teleologischen Begriff vor, was bedeutet, dass es ein festes, vorgegebenes Endziel der Menschheitsentwicklung gibt, das den Standard für die Beurteilung des Fortschritts abgibt. Zu Recht sagt sie, dass dies hierarchische und reifizierte Vorstellungen von Fortschritt bedingt und entsprechende Herrschaftsbeziehungen gegenüber den »Unterentwickelten« mit sich brachte und bringen kann. Davon aber können wir ein anderes Verständnis von Fortschritt unterscheiden, das nicht Telos-zentriert, sondern prozeduraler Art ist und auf einer Konzeption sozialer Autonomie beruht. Danach gibt es kein festes Endziel, das anzustreben wäre, sondern Kriterien dafür, wie gesellschaftlicher Fortschritt, um als emanzipatorisch zu gelten, zu gestalten ist, nämlich vermittels von Prozessen kollektiver Selbstbestimmung im Modus der Kritik und der Überwindung von Beherrschung, sei es eine von innen durch eine Diktatur etwa oder von außen durch eine äußere Macht. Nur autonom kann der Fortschritt vollzogen werden, der nach sozialer Selbstbestimmung strebt, und zwar weniger als festes Ziel denn als gelebte Praxis. Hier ist keine Teleologie vorausgesetzt, wohl aber Kriterien dafür, wann eine gesellschaftliche Entwicklung autonomer Art ist und eine demokratische Form hat. Ich sehe nicht, wie Amy Allens Beibehaltung von Fortschritt als »Imperativ« solch einen Begriff des Fortschritts als Praxis des wechselseitigen Respekts (ein von ihr selbst gebrauchtes Prinzip) vermeiden kann.

Vgl. dazu meinen Aufsatz »Der Begriff des Fortschritts« in: Rainer Forst: Normativität und Macht, Berlin 2015. 5

Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts?

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2. Immanenz und Transzendenz Nun einige Bemerkungen zu der wichtigen Frage nach der Methode einer kritischen Theorie, die Allen aufwirft. Sie reproduziert ein bestimmtes Dogma in Bezug auf diese Methode, nämlich die Idee, dass die normative, kritische Perspektive »immanent begründet werden muss, innerhalb der realen sozialen Welt«.6 Ich denke nicht, dass die Methode einer Kritischen Theorie damit recht beschrieben ist, weder die der ursprünglichen »Frankfurter Schule« noch die von Habermas oder Honneth. Ich kann dies hier nicht detailliert ausführen,7 aber wenigstens andeuten. In der hegelianisch-marxistischen Tradition verfährt die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft zwar immanent, indem sie deren Widersprüche aufzeigt und ihre Realität mit ihren Idealen konfrontiert, aber das heißt nicht, dass in dieser Tradition jemand auf die Idee gekommen wäre, diese Ideale seien kontingenter oder konventioneller historischer Natur und somit als Tatsache unseres Gewordenseins hinzunehmen. Die Auffassung war eher, dass der Klassengegensatz in seiner jeweiligen Form »das Unrecht schlechthin« ist, wie Marx8 es ausdrückt, und dass der Mensch zu einem nicht-entfremdeten Sein als »Gattungswesen« finden muss. Bei Hegel wie bei Marx ging es um die Frage der Erlangung wahrer menschlicher Freiheit in einer menschlichen Gesellschaft – und wie auch immer dies genau verstanden wurde, heißt das immanente Verfahren der Kritik nicht, dass sie immanent begründet ist. Die erste Generation kritischer Theorie nahm dies auf, was in all ihren Schriften zu belegen ist, etwa bei Horkheimer in der Bestimmung des Unterschieds zu einem traditionellen Theorietyp: »Im Übergang von der gegenwärtigen zu einer künftigen Gesellschaftsform soll die Menschheit sich jedoch erstmals zum bewussten Subjekt konstituieren und aktiv ihre eigenen Lebensformen bestimmen.«9 Die »Aufhebung der Klassenherrschaft«10 war keine historisch kontingente Aufgabe oder, in Amy Allens Worten, eine »vorläufige normative Verpflichtung«.11 Hier wird der Versuch einer Rortyanisierung kritischer Theorie unternommen, der mit dieser Tradition des Denkens wenig zu tun hat. Auch nach der Dialektik der Aufklärung hat Adorno, auf den Allen sich beruft, keine in ihrem Sinne immanentistische Position entwickelt. Dem antihegelianischen Diktum »Das Ganze ist das Unwahre«12 folgend, argumentierte er für eine radikale Kritik der konventionellen Formen des Denkens und Lebens, die keinen Raum für ein Nichtidentisches ließen und alles Sein unter eine Logik der ökonomischen Äquivalenz subsumierten.

Vgl. Allen S. 419 in diesem Band. Mehr dazu findet sich in der Einleitung zu Forst: Normativität und Macht. 8 Karl Marx: »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 222. Vgl. auch Michael Quante: »Das gegenständliche Gattungswesen«, in: R. Jaeggi/ D. Loick (Hg.): Nach Marx, Berlin 2013. 9 Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6, 1937, S. 284. 10 Ebd., S. 292. 11 Vgl. S. 424 in diesem Band. (im Original »provisional normative commitment«). 12 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt/M. 1989, S. 57. 6 7

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Wieder ging die Kritik immanent vor, war dabei aber nicht immanent begründet, denn in der sozialen Wirklichkeit gab es, anders als Allen meint, keinen begründenden Anhaltspunkt für sie. Allein die radikale Transzendierung der Wirklichkeit im Namen des Nichtidentischen, das in Werken moderner Kunst vorscheint, schien den kritischen Impuls zu bewahren. Allen weist zu Recht darauf hin, dass Habermas and Honneth dieses negativistische Programm verabschiedet haben und jeweils eine stärker dialektische Fortschrittsauffassung vertreten – als Geschichte, die Rückschritte enthält, aber auch Lernprozesse. In Allens Charakterisierung dieser Ansätze bleibt es allerdings etwas rätselhaft, wie dieses Lernen verstanden werden soll, wenn es rein immanent gedacht wird. Es braucht zwar keinen metaphysischen Grund oder Anker, aber Immanenz und Transzendenz müssen austariert sein, und man kann Habermas’ Werk nicht verstehen, wenn man die Versuche übersieht, eine immanente Transzendenz zu denken, sei es in Bezug auf anthropologische Interessen, Stufen des moralischen Bewusstseins, der Analyse von Geltungsdimensionen usw.13 Ohne diese Theoriebestandteile, die eine Logik des Fortschritts denkbar machen, wäre die Theorie in der Tat rein zirkulär (wie es bei Allen wirkt), da sie nur das als Fortschritt ansehen könnte, was sich historisch durchgesetzt hat. Solch eine Theorie wäre aber nicht kritisch, sondern darwinistisch: Ihr würde die Sklaverei etwa erst dann als ungerechtfertigt erscheinen, wenn sie erfolgreich abgeschafft worden wäre – und die Sieger würden die Geschichte und ihre Bewertung schreiben. Dies ist von Habermas’ Vorstellung historischen Fortschritts weit entfernt. Ich kann an dieser Stelle nicht auf Honneths Versuch eingehen, die schlechte Wirklichkeit zu transzendieren, die er mit dem Begriff der sozialen Pathologie bezeichnet. Erlaubt sei aber der Hinweis, dass auch in seiner post-anthropologischen Theoriephase ein bestimmter Begriff »reflexiver Freiheit« dazu verwendet wird, konventionelle Formen der Sittlichkeit zu hinterfragen und über sich hinaus zu entwickeln hin zu größerer Partizipation, Inklusion und sozialer und politischer Gleichberechtigung.14 Hier liegt der eigentliche normative Grund der Theorie, der dieser eine gewisse Dynamik verleiht, und er weist über bloße historische Immanenz weit hinaus, auch wenn die explizit methodischen Überlegungen bei Honneth dies nahelegen.

3. Fortschritt und Rechtfertigung Mein eigener Beitrag dazu bewegt sich ebenfalls auf einer normativen Ebene, die Immanenz und Transzendenz verbindet, wenn auch mit anderen theoretischen Mitteln. In meinen Arbeiten über Toleranz15 oder Menschenrechte16 habe ich versucht zu zeigen, wie das Verlangen nach Rechtfertigungen für soziale und politische Verhältnisse, die unter Vgl. dazu jetzt Kenneth Baynes: Habermas, London, New York 2016. Vgl. etwa Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011, S. 115–117. 15 Rainer Forst: Toleranz im Konflikt, Frankfurt/M. 2003. 16 Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M. 2007, Kap. 9; ders.: Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Berlin 2011, Kap. 2. 13 14

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freien und gleichen Rechtfertigungsautoritäten bestehen könnten, stets zugleich historisch konkret und situiert ist und doch über diese Situationen hinausgreift, indem jede konkrete Rechtfertigung weiterer Kritik unterzogen werden kann und auf ihre möglicherweise ideologischen Gehalte hin befragt wird. Die Dynamik der Rechtfertigung übersteigt konkrete Rechtfertigungskontexte und -narrative, bleibt aber »immanent« auf sie bezogen. Und das Prinzip, dem zufolge Normen, die reziprok-allgemeine Geltung beanspruchen, reziprok-allgemein zu rechtfertigen sind, ein Prinzip der praktischen Vernunft zu nennen, ist keine metaphysische Zauberei, sondern eine rationale Rekonstruktion und Reflexion auf unser basales Vernunftvermögen. Zugleich ist dies aber auch ein historisch wirksames Prinzip der Kritik, also keine rein transzendentale Vorstellung. Diese Auffassung praktischer Vernunft ist vielmehr »freistehend« und »geschichtlich«: In jeder sozialen Rechtfertigungsordnung ist das Einfordern von Rechtfertigungen und des Rechts auf Rechtfertigung sozial operativ und ebenso konkret wie ins Allgemeine fragend. Und es gibt kein historisches oder sittliches Apriori, das diesen kritischen Prozess begrenzen könnte. Radikale Kritik, die das Bestehende transzendiert, darf nicht aus der kritischen Theorie entfernt werden. Das Rechtfertigungsprinzip, dem zufolge eine jede Person das Recht hat, als gleichgestellte Rechtfertigungsautorität zu gelten, ist nicht, wie Allen befürchtet, eine ethnozentrische Vorstellung des Guten, die sich universalistisch verkleidet. Vielmehr ist es das Prinzip, das bei der Kritik einseitiger Vorstellungen des Guten oder ethnozentrischer Exklusionen gebraucht und radikalisiert wird. Das Recht auf Rechtfertigung ist das Recht auf Nichtbeherrschung durch normative Ordnungen, die die Rechtfertigungsgemeinschaft willkürlich begrenzen – und ich gestehe, dass es mir unerfindlich ist, wie man gerade dieses Prinzip als eines ansehen kann, das »im Interesse der Mächtigen«17 bestimmte Gruppen zum Schweigen bringt.18 Das Recht auf Rechtfertigung ist genau das Recht, das »subalterne« Gruppen beanspruchen, um nicht länger aus dem Rechtfertigungsdiskurs ausgeschlossen zu werden und falsche Rechtfertigungen dafür zurückzuweisen. Sie grundsätzlich als Gruppen anzusehen, die dazu nicht in der Lage sind, wäre ein »Orientalismus« schlimmster Art. Und so fürchte ich, dass Allen die kritische Intention meines Ansatzes in sein Gegenteil verkehrt; sie verwechselt eine kritische Einforderung der Änderung der Rechtfertigungsverhältnisse mit der Verteidigung reifizierter und einseitiger, exkludierender Diskursformen. Und wie meine Konzeption von Macht19 deutlich macht, vertrete ich gerade nicht die Position, dass es »eine Sichtweise außerhalb von Machtbeziehungen«20 gibt, worin ich mit Allen übereinstimme – was aber im Unterschied zu dem Rortyschen Relativismus, den sie vertritt, nicht heißt, dass alle Positionen innerhalb des Raums der Macht gleich gut begründet sind.

Vgl. S. 422 in diesem Band.. Ich gehe in meiner Replik (»Justifying Justification: Reply to my Critics«) auf Allens Kritik (»The Power of Justification«) in Rainer Forst: Justice, Democracy and the Right to Justification. Rainer Forst in Dialogue, London 2014, ausführlicher auf diese Problematik ein. 19 Vgl. Forst: Normativität und Macht, Kap. 2. 20 Vgl. S. 422 in diesem Band. 17 18

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Die kritische Theorie wäre am Ende, wenn sie eine solche relativistische Position bezöge und ihre Maßstäbe der Kritik als »höchst provisorisch«21 betrachtete. Gerade wer solche Theorien wie auch die soziale Realität so kritisch betrachtet, wie Allen es tut, täte gut daran, sich des eigenen Standpunkts besser zu versichern, auch und gerade im Modus der Selbstkritik.

Literatur Adorno Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975. − Minima Moralia, Frankfurt/M. 1989. Allen, Amy: The End of Progress, New York 2016. – »Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts«, in diesem Band, S. 425–426. Baynes, Kenneth: Habermas, London, New York 2016. Benjamin, Walter: »Goethes Wahlverwandtschaften«, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 1977, S. 63–135. Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz, Frankfurt/M. 2010. Forst, Rainer: Toleranz im Konflikt, Frankfurt/M. 2003. − Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M. 2007. − Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Berlin 2011. − Justice, Democracy and the Right to Justification. Rainer Forst in Dialogue, London 2014. − Normativität und Macht, Berlin 2015. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011. Horkheimer, Max: »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6, 1937, S. 245–294. Marx, Karl: »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, in: Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, Stuttgart 1971, S. 207–224. Quante, Michael: »Das gegenständliche Gattungswesen«, in: R. Jaeggi/D. Loick (Hg.): Nach Marx, Berlin 2013.

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Ebd. S. 423.

Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit Lea Ypi (London School of Economics and Political Science)

In diesem Aufsatz verteidige ich eine Vorstellung von Gerechtigkeit, in der Gerechtigkeit als ein moralischer Begriff, der fortschreitender, funktionaler Verfeinerung unterliegt, verstanden wird. Zunächst untersuche ich die Anwendung von Funktionsaussagen auf moralische Begriffe im Allgemeinen und schlage dann vor, die grundlegende Funktion der Gerechtigkeit als Regulierung der Ausübung von Zwangsgewalt zu verstehen. Allerdings werden Beziehungen zwischen menschlichen Akteuren zeit- und ortsabhängig durch unterschiedliche normative Prinzipien vermittelt, was in der Art und Weise reflektiert wird, wie wesentliche soziale Institutionen Zwangsgewalt ausüben. Diese Institutionen prägen wiederum unterschiedliche Verständnisse davon, wie Macht ausgeübt werden sollte, von wem und mit welchen Mitteln. Deshalb könnte man, ganz grob, sagen: Fortschritt in Bezug auf Gerechtigkeitsnormen ist das Resultat kumulativer Verfeinerungsprozesse, durch die verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien normative Auffassungen darüber beeinflussen, wie Macht ausgeübt werden sollte. Im zweiten Schritt untersuche ich einige methodologische Kriterien, die dabei helfen könnten, zwischen besseren und schlechteren Verfeinerungen von Gerechtigkeitsnormen zu unterscheiden. Zudem prüfe ich, welche Rolle politische Akteure und Institutionen bei diesen Verfeinerungen spielen. Schließlich diskutiere ich einige Einwände gegen meine Ausführungen.

1. Moralischer und politischer Fortschritt Die Ansicht, dass Menschen bei dem Versuch, Probleme zu lösen, moralischen Fortschritt machen könnten, ist aus der pragmatistischen Literatur bekannt.1 Auf den folgenden Seiten werde ich nicht versuchen, den Pragmatismus zu verteidigen (weder generell noch in irgendeiner speziellen Version), sondern vielmehr über die Beziehung zwischen der Art, in der Pragmatisten die Möglichkeit von moralischem Fortschritt artikulieren und verteidigen, und einem Thema, das viel weniger Aufmerksamkeit erhalten hat, nachdenken: das des politischen Fortschritts. Mein Ziel ist es, die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Begriffen des moralischen und politischen Fortschritts zu erklären und für eine Vorstellung von politischem Fortschritt zu argumentieren, welche die Entwicklung von Gerechtigkeitsnormen in den Mittelpunkt stellt. Zudem werde ich erläutern, welche Art von Kriterien wir nutzen könnten, um fortschrittliche politische Veränderungen zu Vgl. zur Diskussion Amanda Roth: »Ethical Progress as Problem-Resolving«, in: Journal of Political Philosophy, 20/4 (2012), S. 384–406; Michele Moody-Adams: »The Idea of Moral Progress«, in: Metaphilosophy, 30/3 (1999), S. 168–185; Philip Kitcher: The Ethical Project, Cambridge, MA 2011. 1

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erkennen. Zuletzt antworte ich auf einige Einwände, welche eine Verteidigung von politischem Fortschritt hervorzurufen neigt. Ich beginne mit der Idee von moralischem Fortschritt, sodass ich danach die Parallelen und die Unterschiede zu der Art und Weise, wie ich über politischen Fortschritt nachdenke, deutlich machen kann. Eine wenig plausible Art, diese Idee zu verstehen, ist, sich auf zweifelhafte teleologische Annahmen zu berufen, die sich auf die menschliche Geschichte als Fortschrittsgeschichte stützen. Obwohl dieser Gedanke oft als notwendig dafür angesehen wurde, zukünftige moralische Handlungen zu motivieren, ist er auch ein gefährlicher. Allzu oft hat er zu Fällen von Paternalismus, kolonialer Beherrschung und Narrativen zivilisatorischer Überlegenheit geführt. Eine andere Art, über moralischen Fortschritt nachzudenken, der ich mich anschließe, ist, ihn als einen funktionalen Verfeinerungsprozess moralischer Normen zu betrachten.2 In der Evolutionsbiologie sind Funktionsaussagen geläufig. Dort ist es ganz gewöhnlich, die Entwicklung eines Organs hinsichtlich seines Beitrags zur Erfüllung einer speziellen Funktion zu diskutieren (z. B. »Menschen haben Herzen, damit sie Blut pumpen können«). Eine Funktion wird als eine Eigenschaft oder als ein Set von Eigenschaften beschrieben, die das Vorhandensein und den Erhalt von bestimmten Merkmalen in einer bestimmten Bevölkerung durch Evolutionsmechanismen erklärt.3 Mehrere Autoren haben sich bemüht, diese Beschreibung auf den sozialen und politischen Bereich auszuweiten, indem sie Moral als eine Form »sozialer Technologie« (obwohl ich dem Ausdruck gegenüber abgeneigt bin) verstehen, die dem Imperativ funktionaler Verfeinerung unterliegt. Dieser Vorstellung nach ist die Funktion von Ethik, Abhilfe in Fällen des Scheiterns von Altruismus zu schaffen. Ein Gefüge moralischer Normen gilt dann als fortschrittlich, wenn es zu einem funktionalen Verfeinerungsprozess von Verhaltensregeln beiträgt, der die Fälle des Scheiterns von Altruismus zu verringern hilft und überkulturell und -zeitlich wirksam ist.4 Es gibt natürlich viele Einwände gegen dieses Verständnis von Fortschritt in der Ethik. Aber da mein Ziel hier ein begrenztes ist, nämlich den Begriff fortschrittlicher funktionaler Verfeinerung in Bezug auf seine Anwendung im politischen Bereich zu untersuchen, werde ich sowohl die Plausibilität funktionaler Aussagen im Allgemeinen (einschließlich der Plausibilität ihrer Anwendung auf ethische Fragen) als auch die Plausibilität der Bestimmung der grundlegenden Funktion von Ethik als Abhilfe in Fällen des Scheiterns von Altruismus zu bestimmen, voraussetzen. Mich interessiert die Art und Weise, wie sich moralische und politische Normen beim Probleme-Lösen zueinander verhalten. Wir sind es gewohnt, Politische Theorie als ein abgegrenztes (aber der Ethik verwandtes) Forschungsfeld wie folgt zu bestimmen: Selbst wenn wir annehmen, dass es Menschen bis zu einem gewissen Maß geschafft haben, Instanzen altruistischen Scheiterns zu überwinden – 2 Kitcher: The Ethical Project. Zur Diskussion des Funktionalismus in den Sozialwissenschaften, vgl. auch G. A. Cohen: Karl Marx’s Theory of History: A Defence, Princeton 2001 und Philippe Van Parijs: Evolutionary Explanations in the Social Sciences, Lanham 1981. 3 Zu einigen bahnbrechenden Diskussionen über Funktionen vgl. die Aufsätze von Wight, Cummins and Kitcher in: David Buller (Hg.): Function, Selection, and Design Albany, NY 1999. 4 Kitcher: The Ethical Project.

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durch grundlegende moralische Neigungen und ein Normengefüge, das ihnen erlaubt, Probleme des Neids, des Egoismus oder unkooperativen Verhaltens zu überwinden und das fortschrittlichem Wandel unterliegt –, könnte es noch zwei weitere, davon unterschiedene Arten von Problemen geben. Eines hat mit dem Mangel an Sicherheit zu tun, also dass auch wenn man selbst moralischen Vorschriften folgt, andere es vielleicht nicht tun. Das nenne ich das Koordinationsproblem. Das zweite hat mit der Frage zu tun, ob ein wie auch immer entstandenes moralisches Normengefüge bewahrt werden kann, ohne dabei gerade die Vorteile zu verlieren, die es gewähren soll. Das nenne ich das Kontinuitätsproblem.5 Die bekannte Geschichte, die aus all dem folgt (wie wir es von Platon bis Machiavelli und Hobbes, von Rousseau bis Kant, Hegel und Rawls kennen), ist die Forderung nach politischen Institutionen, die durch eine kollektive Autorität eine koordinierte und kontinuierliche Form der menschlichen Kooperation gewährleisten. Diese Art kollektiver Autorität ist effektiv, wenn sie die Entwicklung menschlicher Praktiken durch eine Kombination strafender Sanktionen und Regeln, die Handlungen disziplinieren, gestaltet; kurz: durch »Macht«. Die Ausübung politischer Macht ist notwendig, um die Grenzen altruistischer Normen und Dispositionen zu überwinden, selbst wenn wir eingestehen, dass altruistische Normen und Dispositionen essentiell sind, um die Notwendigkeit von Macht zu erkennen. Aber die Bildung und Reproduktion politischer Herrschaft durch Machtausübung ist etwas anderes als die Bildung moralischer Normen durch freiwilliges Bestreben. Wenn wir also über moralischen Fortschritt als eine Art Fortschritt nachdenken, der durch die funktionale Verfeinerung altruistischer Dispositionen gefasst wird, könnte es plausibel sein, an ein politisches Gegenstück zu der Idee von moralischem Fortschritt zu denken. Im nächsten Abschnitt mache ich einige kurze Bemerkungen darüber, wie man versuchen könnte, dies begrifflich zu fassen.

2. Die Rolle der Gerechtigkeit Es wird oft behauptet, dass Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen sei. Ob das schon immer der Fall war oder ob ihre Wichtigkeit in unseren Wertesystemen mit der historisch bedingten Einschätzung der Rolle der Gerechtigkeit in der generellen Hierarchie solcher Werte zu tun hat, ist für unsere Zwecke nicht allzu sehr von Bedeutung. Gerechtigkeit scheint wichtig, weil uns Gerechtigkeitsnormen helfen darüber nachzudenken, auf welche Art Machtausübung reguliert werden sollte, und uns ermöglichen zu fragen, wer Macht ausübt, wie, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln. Deshalb scheinen Gerechtigkeitsnormen im politischen Bereich eine analoge Rolle zu moralischen Normen im zwischenmenschlichen Bereich zu spielen. Letztere zielen darauf ab, festzuIch habe die Zentralität dieser Begriffe für Fragen des Fortschritts in der Geschichte (mit besonderem Bezug auf die Überlegungen von Kant) diskutiert in Lea Ypi: »Natura Daedala Rerum? On the Justification of Historical Progress in Kant’s ›Guarantee of Perpetual Peace‹«, in: Kantian Review, 14/2 (2010), S. 118–148. 5

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schreiben, wie Menschen zueinander in Beziehung stehen sollten. Erstere zielen darauf ab, zu regeln, wie Menschen in Kontexten zueinander in Beziehung stehen sollten, in denen moralische Normen nicht zuverlässig genug sind und eine Form kollektiver Autorität benötigt wird, um die Schaffung und Aufrechterhaltung politischer Kontrolle durch Machtausübungsmechanismen zu gewährleisten. Wenn es die Funktion von Ethik ist, für Abhilfe im Falle altruistischen Scheiterns zu sorgen, könnte es die Funktion der Gerechtigkeit sein, die Art und Weise zu regulieren, in der kollektive Autoritäten Macht in Anbetracht sozialer Konflikte ausüben, die auf die obengenannten Koordinations- und Kontinuitätsprobleme zurückzuführen sind. Wenn wir also ethischen Fortschritt als einen Prozess ethischer Verfeinerung verstehen, der die Entstehung und Festigung immer angemessenerer Hilfsmittel gegen altruistisches Scheitern beinhaltet, könnten wir politischen Fortschritt als einen Verfeinerungsprozess gerechtigkeitsbasierter Normen verstehen. Das soll heißen, dass Menschen im Zuge der Kooperation zur Lösung politischer Probleme Prinzipien und Schemata zur Regulierung sozialer Kooperation und Beseitigung sozialer Konflikte entwickeln, die mehr oder weniger angemessen sind, um auf solche Probleme zu reagieren. Die Beschaffenheit von Problemen wird offensichtlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschieden sein, darüber hinaus ist es plausibel anzunehmen, dass Menschen im Verlauf ihres Umgangs mit solchen Problemen unterschiedliche Interpretationen darüber ausbilden, was Macht ist, wer sie ausüben kann, mit welchen Gründen und mit welchen Mitteln. Aber was bedeutet es, über fortschrittliche Verfeinerung bei der Funktionserfüllung von Gerechtigkeit zu sprechen? Eine mögliche Antwort könnte sein, den Entwicklungsprozess gerechtigkeitsbasierter Normen als den Entdeckungsprozess von angemessenen politischen und institutionellen Reaktionen auf die Belange und Verpflichtungen derer zu verstehen, die der Macht politischer Institutionen unterliegen. Man muss diesen Prozess nicht als einen verstehen, der durch Gründe-Geben oder die friedliche Befürwortung prinzipiengeleiteter Alternativen gelenkt ist. Man muss ihn auch nicht als linearen Prozess verstehen, der ohne Fehltritte in rückschrittliche Formen politischer Herrschaft verläuft, auch wenn fortschrittlichere zugänglich sind. Die Entstehung unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien und die Pluralität der Muster, anhand derer politische Autorität gerechtfertigt werden könnte, wird von einer Reihe von Faktoren bestimmt: Die brutale Auferlegung eines zwingenden Regelwerks von Seiten der mächtigen Eliten, die erfolgreiche Abschaffung von vorher unterdrückenden und ausbeuterischen Institutionen durch eine Mehrheit unzufriedener sozialer Gruppen, die fortschrittliche und friedliche Errichtung eines Ethos der Herausforderung herrschender Diskurse durch eine Kombination von intellektueller Arbeit und politischem Kampf und so weiter. Die Genealogie bestimmter Formen politischer Herrschaft ist mannigfaltig. Aber der Grund, über politischen Fortschritt als Verfeinerungsprozess gerechtigkeitsbasierter Normen zu reflektieren, ist, dass wir eine ähnliche Genealogie nutzen können, um kritisch über existierende Herrschaftsformen zu reflektieren und den Lernprozess aufgrund von Prüfungen, Scheitern und den Erfolgen der Vergangenheit weiterzuentwickeln. Wie kann das gehen?

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3. Fortschritt ausfindig machen An anderer Stelle habe ich eine fallibilistische Methode vorgeschlagen, um über die unterschiedlichen Interpretationen der Art und Weise, wie politische Institutionen auf die Belange und Verpflichtungen derer reagieren, die ihnen unterliegen, nachzudenken.6 Demzufolge wird über den Beitrag bestimmter Auffassungen oder Familien von Auffassungen zu dem Verfeinerungsprozess gerechtigkeitsbasierter Normen mit Hilfe dreier Kriterien nachgedacht, die ich diagnostisch, innovativ und heuristisch genannt habe.7 Um kurz zusammenzufassen: Was das Erste angeht, habe ich argumentiert, dass eine Auffassung (oder eine Familie von Auffassungen) darüber, wie politische Institutionen auf die Belange und Verpflichtungen derer reagieren, die ihnen unterliegen, überzeugender ist als ihre Konkurrenten, wenn sie Begründungen und die Reichweite eines speziellen Konflikts auf dem angemessenen Analyselevel bestimmt. Was das Zweite angeht, habe ich argumentiert, dass »eine Theorie (oder eine Familie von Theorien) bezüglich bestehendem Gedankengut innovativ ist, wenn sie Prinzipien bestimmen kann, die die normativen Vorteile ihrer Vorgänger erhält, während sie ihre Nachteile vermeidet«.8 Und was das Dritte angeht, habe ich argumentiert, dass eine Theorie (oder Familie von Theorien) heuristisches Potential besitzt, wenn »die Kombination von Innovation hervorrufenden Prinzipien mit bereits verfügbaren konzeptuellen Kategorien auch einige Richtlinien zur Antizipation neuer, unvorhergesehener Fragen und Herausforderungen beinhaltet«.9 Wenn man diesen generellen Gedanken in einem speziellen Kontext der Rechtfertigung politischer Normen folgt, kann man die Prinzipien bestimmen, die es ermöglichen, diese grundlegenden (und andere, nicht-grundlegende) Funktionen abzuändern, indem über die Struktur sozialer Rollen und die Stellung unterschiedlicher Akteure in der Gesellschaft im Verhältnis zum System von Regeln, das ihre Leben regiert, nachgedacht wird. Man kann das machen, indem man Fälle des Infragestellens solcher Systeme beobachtet, mit Blick darauf, ob man die bestehenden Interpretationen ihrer Funktionen und Zwecke aufrechterhalten oder ob man sie zurückweisen, verbessern oder durch angemessenere ersetzen sollte. Die These ist, dass eine fortschrittliche normative Auffassung (oder eine Familie von Auffassungen) eine ist, die zur Überprüfung und Veränderung dieser Prinzipien beiträgt, sodass die Funktion von bestimmten moralischen und politischen Normen von Institutionen abgeändert oder abgeschafft wird, wobei die Vorteile ihrer Konkurrenten erhalten bleiben, aber ihre Nachteile vermieden werden. Eine normative Position ist rückschrittlich, wenn ihr dies nicht gelingt. All das, hoffe ich, hilft zu verdeutlichen, wie man aus einer methodologischen Perspektive darüber nachdenken kann, wie (1) bestimmte soziale und politische Institutionen bestimmte normative Funktionen aufgeben, (2) die Angemessenheit von verschiedenen Interpretationen hinsichtlich ihres Beitrags zur funktionalen Verfeinerung überprüft 6 Lea Ypi: Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford (2012) und Lea Ypi: »The Owl of Minerva only flies at dusk, but to where?«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 117–134. 7 Meine Darstellung darüber, was daraus folgt, siehe Ypi: The Owl of Minerva. 8 Ypi: The Owl of Minerva, S. 118 (Übersetzung E.N. und S.S.). 9 Ebd. (Übersetzung E.N. und S.S.).

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werden kann, und wie (3) die Herausforderungen, denen sie begegnen, und die Prinzipien, die sie verursachen, zu bewerten sind. Man könnte sich hier fragen, wie man genau diese Prüfungen, Misserfolge und Erfolge bestimmen soll. Da ich über normativen Fortschritt als Probleme-lösend nachdenke, hängt die genaue Dimension, hinsichtlich derer gefragt wird, wann es angemessen ist, dass eine Gerechtigkeitskonzeption eine einzelne Funktion aufgibt, von der Beschaffenheit des relevanten Problems ab. Sehen wir uns die jüngere Debatte zu globaler Gerechtigkeit an, um dieses Beispiel lebendiger zu machen. Hier ist man daran interessiert, wie ein spezielles normatives Merkmal, namentlich Gerechtigkeit, in den unterschiedlichen Interpretationen der Funktion und des Zwecks politischer Institutionen, die versuchen sie zu realisieren, reflektiert wird. Wir fangen mit zwei potentiellen Interpretationen des grundlegenden Problems an, einer, die das Problem nur als einen Mangel an Zugriff auf eine ausreichende Reihe von Gütern (was auch immer wir für den Maßstab dafür halten) betrachtet und einer, die es auch als ein Problem relativen Mangels auf einer globalen Skala ansieht. Dann kann man fragen, welche der beiden Interpretationen geeigneter ist, die Konfliktursachen zu bestimmen und Lösungen zu bieten, die die Vorteile der konkurrierenden Alternativen bewahrt, während sie ihre Fallstricke vermeidet. Nach der Überprüfung der Umstände, unter denen der Bedarf nach globaler Gerechtigkeit entsteht, der Akteure, die von solchen Konflikten betroffen sind, und der Beschaffenheit der Beziehung zwischen absolutem und relativem Mangel, kommen wir zu dem Schluss, dass ein egalitaristisches Set an Prinzipien von einer angemesseneren Auffassung über Funktion und Zweck bestehender Institutionen ausgeht und deshalb vorzuziehen ist. Die Art und Weise, in der wir bei der Bewertung vorgehen, muss berücksichtigen, wie philosophische Reflektion mit realen Prozessen des Infragestellens und Anfechtens auf Seiten derer, über die Macht ausgeübt wird, verbunden ist. Wir müssen evaluieren, wer für wessen Vorteil solche Ansprüche stellt, auf welche Art sie mit in der Vergangenheit gestellten Ansprüchen verbunden sind und wie wahrscheinlich es ist, dass sie zu politischen Institutionen führen, die effektiv auf die Belange und Verpflichtungen derer, die ihnen unterliegen, antworten. Dieser Prozess ist historisch und politisch und im Voraus kann nur wenig über seinen Ausgang gesagt werden. Lediglich kann gesagt werden, dass Ansprüche und Sichtweisen ausgeschlossen werden müssen, die bereits diskreditierte Interpretationen zu reproduzieren scheinen. In einigen Fällen und trotz bester Bestrebungen werden sich diese bereits diskreditierten Interpretationen durchsetzen, und die zu leistende Arbeit wird eher die sein, Verlorengegangenes wiederherzustellen, als bei Null zu beginnen. Man mag sich fragen, warum ich den Akzent gerade auf Gerechtigkeit als angemessensten Begriff setze, dessen funktionale Verfeinerung weiter untersucht werden sollte. Hier bestehe ich darauf, dass der Grund, aus dem ich »Gerechtigkeit« als das relevante normative Merkmal und den Mangel an Gerechtigkeit als das Problem, das gelöst werden muss, auswähle, nicht ist, dass ich von einem Ideal über die Art von Merkmal (d. h. Gerechtigkeit) geleitet bin, das normativer Überprüfung bedarf und selbst durch soziale Praxis unvermittelt ist. Das Verhältnis ist hier dialektisch. In meiner Auffassung ist unser Fokus auf Gerechtigkeit das Ergebnis eines Lernprozesses, durch den Menschen

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historisch einen begrifflichen Rahmen entdeckt haben, der es ihnen ermöglicht, politische Autorität auszuüben und verständliche politische Forderungen aufzustellen, Handlungsgründe zu geben und Machtausübung durch die Gestaltung von Institutionen zu regulieren, die solche Forderungen in ihrer Organisationsform reflektieren. Gerechtigkeit ist eine funktionale Reaktion auf ein grundlegendes Problem. In meiner Konzeption sind normative Eigenschaften durch Probleme motiviert. Sie behalten ihre Relevanz so lange, wie sie dazu beitragen, bestimmte Funktionen zu verbessern, und sie bilden die Grundlage, auf der Bestrebungen, sie zu verbessern, Orientierung suchen. Aber obwohl sich die funktionale Normenverfeinerung historisch entwickelt hat, ist sie Teil eines kumulativen Prozesses, der dazu neigt, durch einen zuverlässigen Prozess von Prüfungen, Misserfolgen und Erfolgen gerechtfertigte Überzeugungen zu produzieren. Wahrheit wird deshalb als das verstanden, dem wir uns im Laufe fortschrittlicher Entwicklungen annähern, ein Set an Überzeugungen, das seine objektive Geltung »im Prozess des zur Geltung Kommens« erhält. Ein Set an Überzeugungen behält diese Geltung, solange es nicht herausgefordert wird, und es wird so lange nicht herausgefordert, wie diejenigen, die es unterhalten, sich über die Wichtigkeit der Thesen, die das Set gerechtfertigter Überzeugungen konstituieren, weiterhin aufrechtzuerhalten einig sind. Um als zuverlässiger Indikator für fortschrittliche Übergänge zu fungieren, muss man annehmen, dass dieser Prozess bestimmten rationalen Beschränkungen bezüglich der Bedingungen, unter denen Akteure normativ relevante Entscheidungen fällen, unterliegt – ein Punkt, auf den ich später zurückkomme. Was jetzt wichtig ist, ist die Tatsache, dass das Ergebnis unserer fortschrittlichen Übergänge nicht nur für uns, hier und jetzt, wichtig ist, sondern Teil eines Reservoirs normativer Ressourcen wird, auf die sich nachfolgende Menschheitsgenerationen zur Orientierung ihrer Handlungen berufen können. Aber es gibt kein einziges Prinzip (oder Set an Prinzipen), das unabhängig von der Rolle, die es in zwischenmenschlichen Beziehungen spielt, als richtig oder falsch erachtet werden könnte. Deswegen ist ein Prinzip oder eine Kombination von Prinzipien wünschenswert, wenn durch Berufung darauf die Entwicklung von Institutionen darauf zielt, besser auf die Belange und Verpflichtungen der betroffenen Akteure zu antworten als konkurrierende Prinzipien. Das bedeutet, dass das Prinzip zu einer Familie von Theorien gehört, die, verglichen mit ihren konkurrierenden Alternativen, angemessener diagnostizieren, innovationsfähiger sind und mehr heuristisches Potential besitzen. Wichtig ist, dass die Behauptung, dass ein Prinzip auf die Belange und Verpflichtungen vorhandener Akteure antworten sollte, nicht gleichzeitig heißt, dass diese Akteure sich schon dieser Prinzipien bewusst sein müssen, oder dass man nur passiv ihre Aktivitäten beobachten muss, um normative Richtlinien von ihnen abzuleiten. Die Art von Untersuchung, die sich an dieser Methode orientiert, ist auf unterschiedliche Stufen verteilt, und obwohl wir an der moralischen Wünschenswertigkeit bestimmter Prinzipien interessiert sind, sind die Kriterien dafür, was als moralisch wünschenswert zählt, intersubjektiv und historisch konstruiert. Deshalb ist es zwar plausibel, aber aus meiner Sicht absolut irrelevant zu fragen, ob ein Prinzip wahr oder falsch ist, wenn es absolut keine Verbindung zwischen diesem Prinzip und den Belangen und den Verpflichtungen der Akteure in der Gesellschaft gibt.

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4. Einige Einwände Ich habe argumentiert, dass die Interpretation der Funktion und des Zwecks politischer Institutionen sensibel für den historischen Prozess funktionaler Verfeinerung einzelner Normen sein sollte. Je mehr diese Normen intersubjektiv von Akteuren befürwortet werden und in den sozialen und politischen Institutionen reflektiert werden, die sie gemeinsam errichten, desto gerechtfertigter sind sie. Je gerechtfertigter sie sind, desto größer ist ihr Beitrag zu moralischem und politischem Fortschritt. Je größer der Fortschritt, desto näher kommt man an einen Begriff von Wahrheit, als schrittweise errichtet durch Prüfung, Scheitern und Erfolg, heran. An dieser Stelle kommt ein offensichtlicher Einwand auf: man weiß nicht, ob eine einzelne Praxis fortschrittlich ist, ohne die Richtung ihrer Bewegung zu wissen, und man kann nur wissen, ob eine bestimmte Richtung richtig oder falsch ist, wenn man Zugang zu einem unabhängigen Maßstab hat, der sagt, wo man hin soll. Aber wenn man dabei bleiben möchte, dass politischer Fortschritt eher durch die Verbesserung von Fehlern der Vergangenheit gemacht wird als durch die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, muss man darauf vertrauen können, dass reale historische Praktiken einen wichtigen Beitrag zum Vorantreiben funktionaler Normenverfeinerung leisten. Aber es scheint, dass ein fallibilistisches Vorgehen, das ernst nimmt, was man von der Geschichte über die Befürwortung und das Infragestellen einer bestimmten Interpretation der Funktion und des Zwecks gewisser Institutionen lernt, eine weitere Schwierigkeit erzeugt. Ist das historische Überleben einer bestimmten moralischen Anschauung genug Beweis für die Plausibilität der Normen, die sie untermauern? Hätte sich ein bestimmtes Set an Normen nicht einfach aufgrund einer Bezwingung seiner Adressaten durch eine andere mächtige Gruppe oder durch die Manipulation ihrer Präferenzen und Wünsche oder die bloße Beseitigung von Alternativen durchsetzen können? Und würden unsere gegenwärtigen Überzeugungen und Praktiken dann nicht einfach das Ergebnis dieses Machtkampfes widerspiegeln als irgendetwas aus normativer Perspektive Würdevolleres? Man kann das den »Arroganz der Gegenwart«-Einwand nennen. Der »Arroganz der Gegenwart«-Einwand wäre überzeugend, wenn man bereit wäre, irgendein Kriterium für die Bewertung der Umstände, unter denen Akteure eine bestimmte Interpretation der Funktion und des Zwecks ihrer Institutionen aufrechterhalten, als gültig anzuerkennen. Aber man muss in der Auslegung dieses Punkts nicht so großzügig sein. Man könnte sagen, dass die Funktion von Gerechtigkeit nur dann verbessert wird, wenn nachkommende Generationen bereit sind, die Prinzipien anzunehmen, die sie generiert, auch unter Umständen, die nicht den Einschränkungen der ursprünglichen Bedingungen unterliegen, unter denen die Norm entstanden ist. Um dieses Argument zu erklären, möchte ich ein Beispiel geben, das auf die Idee von Fortschritt als Verfeinerungsprozess grundlegender Funktionen zurückgeht. Ich habe gesagt, dass es eine der fundamentalen Funktionen von Gerechtigkeit sein könnte, Zwangsgewalt zu rechtfertigen, indem der Zugang zu den Vorteilen und den Lasten von Kooperation auf eine Art reguliert wird, die Konflikt vermeidet und Einverständnis sichert. Dieser Funktion wird durch unterschiedliche soziale und politische Regelungen gedient, die auf unterschiedlichen Steuerungsprinzipien basieren, auch abhängig vom jeweiligen Zeitpunkt. Nehmen

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wir an, dass so ein Set von Institutionen Achtung von Autorität, basierend auf dem Geburtsrang, generiert. Nehmen wir weiter an, dass das die zu diesem Zeitpunkt einzige denkbare Norm ist. Dank der Macht und den Zwangsmitteln derer, die den höheren Rängen angehören (nennen wir sie Herren), nehmen die, die dem niedrigeren Rang angehören (nennen wir sie Sklaven) die Norm an. Die Sklaven könnten unzufrieden sein, aber wir haben angenommen, dass ihnen alternative Vorstellungen noch nicht epistemisch zugänglich sind und dass sie nicht die Mittel haben, damit zu experimentieren, die Normen einfach zu untergraben. Nehmen wir jetzt an, dass die Gesellschaft der Sklaven – aus was für Gründen auch immer (Naturkatastrophe, Kriege, Feindschaft mit ihren Nachbarn) – herausgefordert wird und eine Krise ausbricht. Menschen fangen an, die Art und Weise, wie sie ihre grundlegenden sozialen Institutionen organisiert haben, zu hinterfragen und lassen sich alternative Modelle einfallen. Angesichts dieser Alternativen stellt sich die Frage, ob die nächste Generation von Mitgliedern dieser Gesellschaft weiterhin Normen der Achtung von Autorität basierend auf Geburtsrang annehmen würde. Oder, um den Punkt etwas anders darzustellen, würde die Norm trotz des Verschwindens von externen Einschränkungen (Unterwerfung gegenüber Herrschaft, epistemische Unwissenheit über alternative Auffassungen, Unfähigkeit zu handeln) der Handlungen der vorangegangenen Generationen von Sklaven weiter aufrechterhalten werden? Wenn die Antwort nein ist, bedeutet das, dass ein Normengefüge nicht länger seiner historischen Rolle zuträglich ist, das zu einem vergangenen Zeitpunkt zur funktionalen Verfeinerung eines ethischen Kodex beigetragen hat. Deshalb schränkt dieser Test die Bedingungen ein, auf deren Basis man unterschiedliche Interpretationen der Funktion und des Zweckes bestimmter Institutionen bewertet, wenn man die Methode der Prüfung, des Scheiterns und des Erfolgs benutzt, um die Tragfähigkeit solcher Interpretationen und der Prinzipien, auf denen sie basieren, zu untersuchen. Aber dieses Argument bringt eine andere wichtige Frage auf: Es scheint uns nur post factum Rekonstruktionen von Lernprozessen zu erlauben, die wir jetzt anscheinend verinnerlicht haben, aber es ist unfähig, kritische Einsichten zu generieren, die auf die Zukunft anwendbar sind. Wie können wir Normen entwickeln, indem wir einfach die Geschichte von politischem Fortschritt in der Vergangenheit erzählen? Diesem Einwand möchte ich begegnen, indem ich auf einen Fall zurückkomme, den ich oben angesprochen habe: das Problem globaler Gerechtigkeit und die Rolle avantgardistischen politischen Handelns bei der Verteidigung einer egalitaristischen Vorstellung der Funktion und des Zwecks globaler Institutionen. In der Darstellung, die ich verteidige, beobachten wir das Infragestellen der Funktion und des Zweckes sozialer und politischer Institutionen vonseiten verschiedener politischer Akteure. Wir versuchen die Belange und Verpflichtungen solcher Akteure zu verstehen, die Gründe hinter den Ansprüchen, die sie stellen, und wie (wenn überhaupt) diese Gründe mit den Kernnormen in Verbindung stehen, die durch vergangene Lernprozesse gefestigt wurden. Ein Ergebnis dieser prä-interpretativen Beobachtung wird es sein, einige Bewegungen und Gruppen von normativer Beachtung auszuschließen, typischerweise nur die, die Ansichten gutheißen, die wir als unumstritten falsch wahrnehmen (z. B. diejenigen, die rassistische Prinzipien und Reformen befürworten). Zu sagen, dass solche Akteure von normativer

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Beachtung ausgeschlossen sind, bedeutet, dass sie in Bezug darauf, einige ihrer Ansprüche in eine verbesserte Vorstellung der Funktion und des Zweckes der wichtigen sozialen Institutionen einzubringen, keine Rolle in der Innovationsphase des Prozesses zu spielen haben. Das lässt noch viel Spielraum, um die Aufmerksamkeit auf eine breite Reihe an Akteuren zu richten, die (mehr oder weniger bewusst) den bestehenden Status quo infragestellen könnten und die (aus unterschiedlichen Gründen) selbst von globaler Ungerechtigkeit betroffen sind. In meinem Buch habe ich solche Akteure Avantgarde-Akteure genannt, aber dieser Ausdruck könnte zu stark sein. Obwohl es wichtig ist, die vorhandenen Termini politischen Handelns zu berücksichtigen, hängt es von der Ausgewogenheit der Ansprüche einer normativen Position ab, welche Akteure man Avantgarde-Akteure im eigentlichen Sinne nennt. Die Ausgewogenheit hängt signifikant von politischen Praktiken in der diagnostischen Untersuchungsphase ab, unterliegt ihnen aber im Hinblick auf die Formulierung von Prinzipen in der Innovationsphase auch nicht völlig. Man sollte in einer prä-interpretativen Phase entschieden alle plausiblen Bewegungen ernst nehmen, die den Status quo infragestellen. Sobald angemessene Prinzipien, die notwendig sind, um die Fehler in bestehenden politischen Institutionen zu beseitigen, bestimmt wurden, kann man den Anwendungsbereich solcher Prinzipien weiter einschränken, indem die Akteure bestimmt werden, die für ihre weitere Förderung zuständig sind (und dafür, sie politisch durchführbar und andauernd motivierend zu machen). Selbst in dieser Phase wäre es töricht zu bestreiten, dass sich Personen begründeter Weise darüber uneinig sein könnten, welche Akteure die Bezeichnung »avant-garde« verdienen und welche nicht. Wenn diese Uneinigkeit besteht, kann das Problem nur durch demokratischen Beschluss geklärt werden und normative Theorien werden nicht viel dazu zu sagen haben. Und wenn keine Einigkeit über den Inhalt absehbar ist, vielleicht weil die fundamentalen Überzeugungen der Akteure über die Rangfolge unterschiedlicher Werte miteinander unvereinbar sind, können wir nur auf eine Einigung bezüglich der besten Methode zur Klärung widerstreitender Ansprüche hoffen (d. h. die Form der angemessensten Entscheidungsfindungsprozesse, um eine Aushandlung über die Uneinigkeit zwischen einer Vielzahl an Akteuren zu erreichen). Deshalb richten Instanziierungen politischer Praktiken unsere Aufmerksamkeit auf die Art von Problemen, die gelöst werden müssen (Diagnose), Theoretiker entwickeln Prinzipien, die zu der funktionalen Verfeinerung der Normen beitragen, die solche Praktiken untermauern (Innovation), Trägerschaft und Prinzipen werden dann verbunden, um die Form der sozialen und politischen Institutionen zu gestalten, die neu artikulierte Normen widerspiegeln und zu neuen Entwicklungen führen (heuristisches Potential). All das bedeutet nicht, dass es eine hierarchische Arbeitsteilung gibt, die die Ausarbeitung von Prinzipien normativen Theoretikern überlässt und echte politische Akteure auf die Rolle des »Fußsoldaten im Projekt des normativen Theoretikers« verweist.10 Das Projekt wird im Gespräch mit den Belangen solcher Akteure entwickelt und beide Phasen, die Für eine ähnliche Kritik meiner Position vgl. Rahul Rao: »Listening to the avant-garde«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 101–107. 10

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Prinzipienbestimmung und die Verbreitung, sind gleich wichtig. Natürlich wird man sich fortwährend darüber sorgen, ob die Akteure, die zu unserer Diagnose dysfunktionaler politischer Institutionen beitragen, auch in der Innovationsphase angemessen berücksichtigt werden. Aber diese Bedenken können leicht überbewertet werden, und es ist schwierig zu sehen, wie man die Frage anders angehen kann als durch den Versuch, sicherzustellen, dass unsere Darstellung von Geschichte nicht einseitig ist (wie ich es oben angedeutet habe). Natürlich kann man argumentieren, dass wir einige dieser Probleme vermeiden können, indem wir auf eine Darstellung von Fortschritt abzielen, die eher wiederbeschreibend als handlungsleitend ist, die auf normative Vorschriften verzichtet und sich stattdessen darauf konzentriert, Akteure über Beispiele erfolgreicher und gescheiterter transformativer politischer Handlungen aufzuklären und dabei die wichtigsten Gefahren ihrer eigenen Handlungsweisen zu verdeutlichen.11 Aber insofern die Erfüllung dieser Rolle auch erfordert, dass bestimmte Kernprinzipien als Basis für die Unterscheidungen von, sagen wir, erfolgreichem oder gescheitertem emanzipatorischem politischen Handeln akzeptiert werden, stoßen wiederbeschreibende (oder genealogische) Darstellungen von Fortschritt in der Geschichte auf Schwierigkeiten, die denen ihres normativen Gegenparts ähnlich sind. Man könnte hier argumentieren, dass wir den alten naturalistischen Fehlschluss begehen, Sollen von Sein abzuleiten, wenn wir mit Hilfe der Geschichte von politischem Fortschritt normative Vorschriften darüber machen, wie wir Machtausübung in der Zukunft regulieren sollten. Ohne hier an der Kontroverse teilzunehmen, ob der naturalistische Fehlschluss entweder überhaupt naturalistisch oder ein Fehlschluss ist, möchte ich darauf hinweisen, dass ich daran interessiert bin, über verbesserte »Sollens«-Sätze für die politische Sphäre auf Basis der »Sollens«-Sätze, die wir schon haben, nachzudenken, darüber, welche beibehalten und welche aufgegeben werden sollten. Wie ich zu Beginn erwähnt habe, kann man sich auch dann mit dieser Frage beschäftigen, wenn man der Antwort auf die Frage, wo das primitive »Sollen« herkommt, neutral gegenübersteht. Stattdessen halte ich es für wichtig zu betonen, dass ungeachtet dessen, wo das erste »Sollen« herkommt, man sich, sobald man über politischen Fortschritt als Ergebnis der Funktionsverfeinerung von Gerechtigkeit nachdenkt, in der Reflexion über die Beziehung zwischen verschiedenen »Sollens«-Sätzen mit verschiedenem Inhalt befindet, abhängig von den historischen Umständen, in denen sie Anwendung finden und von ihrer Beziehung zu den Belangen und Verpflichtungen der Akteure, die sie befürworten.

Schlussfolgerung Moralischer und politischer Fortschritt sind von zentraler Bedeutung für jede Vorstellung von menschlichem Handeln, die an ihrer Entwicklung und an ihrem transformativen Potential interessiert ist. Obwohl es möglich ist, über sowohl moralischen als auch poliDiesen Vorschlag hat David Owen gemacht: »Activist political theory and the question of power«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 85–99. 11

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tischen Fortschritt aus einer pragmatistischen Sichtweise nachzudenken, die den Fortschritt fallibilistisch, auf Problemlösungen bezogen, versteht, habe ich in diesem Aufsatz versucht, die Besonderheit vom politischen Prozess hinsichtlich der funktionalen Verfeinerung von Gerechtigkeitsnormen zu verteidigen. Meine Anmerkungen waren zwangsläufig allgemein, und um ihnen spezifischeren Inhalt zu geben, habe ich ihren Einfluss nur auf eine einflussreiche Debatte in der Politischen Theorie diskutiert: die Gründe für und die Reichweite von globaler Gerechtigkeit. Zwar wären zur Bestätigung meiner Behauptungen viel mehr Anwendungen auf konkrete Fälle erforderlich, dennoch hoffe ich, dass das Argument, das ich vorgebracht habe, ausreichend plausibel ist, um zu weiterer Forschung anzuregen. Aus dem Englischen von

Esther Neuhann und Susanne Schlee

Literatur Buller, David (Hg.): Function, Selection, and Design, Albany, NY 1999. Cohen, G. A.: Karl Marx’s Theory of History: A Defence, Princeton 2001. Kitcher, Philip: The Ethical Project, Cambridge MA 2011. Moody-Adams, Michele: »The Idea of Moral Progress«, in: Metaphilosophy, 30/3 (1999), S. 168– 185. Owen, David: »Activist political theory and the question of power«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 85–99. Rao, Rahul: »Listening to the avant-garde«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 101–107. Roth, Amanda: »Ethical Progress as Problem-Resolving«, in: Journal of Political Philosophy, 20/4 (2012), S. 384–406. Van Parijs, Philippe: Evolutionary Explanations in the Social Sciences, Lanham 1981. Ypi, Lea: »Natura Daedala Rerum? On the Justification of Historical Progress in Kant’s ›Guarantee of Perpetual Peace‹«, in: Kantian Review, 14/2 (2010), S. 118–148. − Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford (2012). − »The Owl of Minerva only flies at dusk, but to where?«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 117–134.

Gegen die Matrjoschka-Puppen-Theorie des Fortschritts Kommentar zu Lea Ypis »Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit« Stefan Gosepath

Ausgehend von der unhinterfragten Annahme der allgemeinen Plausibilität von funktionalen Erklärungen und deren Angemessenheit auch für die Moralphilosophie geht Lea Ypi der Frage nach, wie sich Normen der Moral und politische Normen der Gerechtigkeit beim Problemlösen zueinander verhalten und somit Fortschritt bewirken.1 Funktionale Erklärungen beanspruchen die Entwicklung eines X (z. B. eines Körperteils oder Verhaltens in der Evolution) zu erklären mit Bezug auf den Beitrag, den X bei der Erfüllung einer bestimmten wichtigen Funktion leistet. Die generelle Funktion von Moral besteht aus einer solchen funktionalistischen, evolutionsbiologischen Sicht in dem Ausgleich eines Mangels an Altruismus bei uns Menschen. Menschliches Handeln kann zwar auch durch Altruismus motiviert sein, aber bekanntermaßen kommt es auch sehr oft durch Neid oder Egoismus zu unkooperativem Verhalten. Wenn man des Weiteren davon ausgeht, dass unkooperatives Verhalten langfristig kollektiv schädlich ist (für die Entwicklung der Gattung), dann gilt es unkooperatives Verhalten zu überwinden, was – so die funktionalistische, evolutionsbiologische Auffassung – mittels Moral gelingt. Je nach Auffassung könnte die notwendige Kompensation durch die bewusste menschliche ›Erfindung‹ der Institution der Moral oder die Ausbildung moralischer bzw. altruistischer Neigungen erfolgt sein. Diese zweite Auffassung der evolutionären Erklärung der Funktion der Moral übernimmt Ypi für ihren Aufsatz als Prämisse, die sie nicht weiter hinterfragen möchte (während ich, wenn überhaupt, eher die erste Auffassung akzeptieren würde). Wenn das also die Funktion der Moral sein soll, dann besteht Fortschritt in dieser Hinsicht in einer Verfeinerung moralischer Normen bei der Erfüllung dieser generellen Aufgabe. Ypi vertritt nun in diesem Aufsatz die These, dass sich entsprechend auch eine Funktion der Gerechtigkeit ausmachen und damit auch eine Auffassung von Fortschritt der Gerechtigkeit als Verfeinerung von Gerechtigkeitsnormen vertreten lässt. Lea Ypis pragmatistische Sichtweise, über sowohl Moral als auch politische Philosophie bzw. Gerechtigkeit so nachzudenken, dass sie fallibilistisch auf Problemlösungen bezogen werden,2 teile ich, wie ich im ersten Abschnitt mit weiteren Überlegungen zur Natur des Problems unterstreichen möchte.3 Meine Zweifel beziehen sich auf die Frage, ob sich die bestimmten Probleme, die Moral und die Gerechtigkeit nach Ypis Auffassung lösen Siehe Ypi, Lea: »Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit«, in diesem Band. Vgl. auch Lea Ypi: Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford 2012. 3 Wie Lea Ypi verbinde ich damit keine These zur evolutionsbiologischen Erklärung von Moral, die oben als Beispiel angeführt wird. 1 2

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sollen, abstrakt, allgemein und universell bestimmen lassen. Das scheint mir, wie ich im zweiten Abschnitt zeigen möchte, der richtigen pragmatistischen Auffassung von Problemen zu widersprechen. Aus pragmatistischer Perspektive liegt es vielmehr nahe, von einer gewissen Kontext- und Pfadabhängigkeit von Problemen auszugehen. Wenn diese Analyse überzeugend ist, dann lässt sich – wie ich im dritten Abschnitt kurz ausführe – die Bestimmung der Konzepte und Konzeptionen von Moral und Gerechtigkeit nicht so einfach menschheitsuniversell vornehmen. Schließlich wird – so die Ausführungen des vierten Abschnitts – das, was als Fortschritt angesehen werden kann, davon abhängen, was man in welchem Kontext vor dem Hintergrund welcher Entwicklung als Problem sieht. Einen einheitlichen universellen Fortschritt und ein einheitliches Fortschrittskriterium im Bereich der Moral und Gerechtigkeit wird es dann vermutlich kaum geben.

1. Ein problemorientierter Ansatz Im täglichen Leben trifft man unter den verschiedensten Umständen, in den  verschiedensten Lebensbereichen auf Probleme. Sie stellen sich meist dann ein, wenn durch äußere Umstände ein Handlungs- und Entscheidungsdruck entsteht, auf den man normalerweise nicht vorbereitet ist. Probleme entstehen aber auch, wenn bestimmte Erwartungen, die jemand hegt, enttäuscht werden. Die Momente des Unerwarteten, der Enttäuschung und der Bewältigung gehören in unserem Alltag zu dem, was ein Problem ausmacht. Nach pragmatistischer Auffassung sind Theorien bzw. Konzeptionen Problemlösungsinstanzen; so auch normative Theorien und Konzeptionen in der praktischen Philosophie. Sie reagieren auf Probleme, die sich der menschlichen Gattung in Bezug auf die Gestaltung ihres Lebens, also nicht nur mit Bezug auf das bloße Überleben, stellen. Theorien und Konzeptionen machen (implizit oder explizit) geltend, dass sie die jeweils angemessene Lösung für das Problem sind, das sich (mit) ihnen stelle. Die Richtigkeit oder Falschheit von Theorien und Konzeptionen sollte sich entsprechend daran messen lassen, ob sie diesen Anspruch erfüllen oder nicht. Es mag dann mehrere angemessene Lösungen geben, bessere und schlechtere, aber umgekehrt gibt es auch unangemessene Problemlösungsversuche. Und: es gibt dann keine wahren oder falschen Theorien, allein gemessen an menschenunabhängigen objektiven Tatsachen (obwohl deren Berücksichtigung Teil der Problemlösung sein muss), sondern bessere und schlechtere, soll heißen: dem Problem und der gesuchten Lösung angemessenere bzw. unangemessenere Konzeptionen. Theorien wären nach dieser Auffassung in dieser Hinsicht wie Definitionen oder Begriffe: nicht wahr oder falsch, sondern angemessen oder unangemessen, sinnvoll oder nicht. Diese Sicht passt zu der konstruktivistischen Auffassung praktischer Philosophie (der ich mich anschließe). Konstruktivisten beanspruchen eine nicht-willkürliche normative Konzeption praktischer Vernunft (oder eines eingeschränkten Bereichs davon) zu geben. Diese Konzeption beansprucht nicht objektive Wahrheiten oder Werte, die unabhängig von uns Menschen ›da draußen‹ existieren mögen oder nicht, korrekt widerzuspiegeln. Vielmehr haben sie (zunächst und zumeist) ein bescheideneres Ziel: die konstruierten

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praktisch-philosophischen Theorien bzw. Konzeptionen sollen vielmehr die grundlegendsten Probleme unserer menschlichen Interaktion lösen.

2. Die problematische relative Relativität des Problems Wenn praktische Philosophie also unter anderem als eine theoretische Antwort auf das Problem des Umgangs miteinander im öffentlichen Raum unter bestimmten, noch näher zu bestimmenden und einzugrenzenden Bedingungen verstanden werden kann, dann stellt sich das als Problem, zum einen nur, weil und wenn wir bestimmte Ziele damit erreichen wollen, z. B. im öffentlichen Raum friedlich in Einigkeit leben zu wollen/sollen und ein gutes Leben für alle Beteiligten zu ermöglichen, sowie zweitens, weil wir bestimmte Vorstellungen davon haben, wie das Ziel erreicht werden soll. Das Problem stellt sich damit nicht bloß als solches, nicht einfach so, d. h. ohne normative Kontamination bzw. Konnotation, sondern immer nur vor dem Hintergrund schon akzeptierter Werte (seien sie ethische, moralische, rechtliche, pragmatische oder funktionale etc.). Probleme stellen also nicht einfach Behinderungen oder Störquellen eines bestimmten Vollzugs per se dar, sondern sind immer schon als das Problematischwerden in Bezug auf eine normativ vordefinierte Problembeschreibung zu verstehen. Funktionale Probleme stellen sich immer nur vor dem Hintergrund bestimmter Ziele und Werte, deren Gültigkeit vorausgesetzt wird, wenn etwas als Problem gesehen wird. Probleme sind damit kulturell spezifisch und historisch wie sozial formiert. Sie treten nur im Kontext einer immer schon gestalteten und je bestimmten, historisch situierten und sozial instituierten Praxis auf, denn sie entstehen aus einer bereits gestalteten und interpretierten Situation heraus. Probleme haben einen doppelten Charakter: 4 Die Probleme stellen sich eher unerwartet aus der von uns unabhängigen Welt oder Situation heraus, sind aber gleichzeitig nicht konzeptionell unabhängig von uns. Man stellt sich die Probleme nicht selbst. Probleme stellen sich. Wir erfinden die Probleme nicht, sondern reagieren auf diese. Probleme stellen sich jedoch nicht von ganz allein. Sie müssen vielmehr als solche identifiziert werden. Erst indem die Situation auf eine bestimmte Weise identifiziert wird, wird sie als Problem interpretiert. Ein Problem lässt sich andererseits aber auch nicht aus dem Nichts konstruieren, sondern wird aus dem gemacht, was von uns unbeeinflusst da ist und sich gegebenenfalls störend bemerkbar macht. Problembewusstsein ist damit oftmals pfadabhängig. Je nach Pfad treten andere Probleme auf und werden andere Lösungen dieser anderen Probleme als angemessen angesehen. Wenn diese Sicht der ineinander verschachtelten Probleme stimmt, dann sollte man den Prozess der Entwicklung von moralischen und politischen Normen nicht schlicht Wie Rahel Jaeggi anhand von Dewey herausstellt. Überhaupt verdankt diese Sichtweise viel den Gesprächen mit Rahel Jaeggi und der Lektüre ihres Buches Kritik von Lebensformen, Berlin 2014 sowie eines Workshops »Wo ist das moralische Problem?« 27./28. März 2014, Kolleg-Forschergruppe Normenbegründung, Universität Münster. 4

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als das Finden angemessener Lösungen von entsprechenden universellen Problemen in einem (einzigen) Lernprozess der Menschheitsgeschichte verstehen. So klingt es meines Erachtens jedoch in Lea Ypis Aufsatz überwiegend, insbesondere, weil sie einen der Evolutionsbiologie vergleichbaren funktionalen Erklärungsrahmen sucht und anzubieten scheint. Lea Ypis Annahme eines einzigen menschlichen Lernprozesses, der auf einen bestimmten Gerechtigkeitsbegriff hinausläuft, entspricht der Unterstellung eines abstrakten, allgemeinen und universellen Gerechtigkeitsbegriffs. Ein solcher zu undifferenzierter problemorientierter Ansatz verführt dazu, Probleme als zu allgemein, zu universell, zu konstant und losgelöst von der unterschiedlichen Entwicklung zu verstehen.

3. Bestimmung von Moral und Gerechtigkeit So scheint mir auch Lea Ypis Rekonstruktion von Moral und Gerechtigkeit und ihres Unterschieds sehr spezifisch, obwohl sie es als universell darstellt. Will man jedoch wie Ypi praktische Normativität und ihre Untergruppen der Moral und Gerechtigkeit so allgemein unter Absehung historischer und kultureller Spezifika verstehen, sollte man die ins Auge gefassten Probleme als ineinander wie Matrjoschka-Puppen verschachtelt ansehen. Die größte Puppe, die die Außenhülle formt und damit das allgemeinste Problem symbolisiert, hat es mit Prinzipien und Schemata der Koordination sozialer Kooperation und sozialer Konflikte zwischen Menschen überhaupt zu tun. So gesehen kann man das Problem der praktischen Philosophie als die Suche nach der besten Antwort auf die Frage verstehen, was man angesichts der Pluralität von handelnden Personen tun soll, die sich notwendig gegenseitig beeinflussen (also nicht dauerhaft aus dem Weg gehen können) und durch die Handlungen anderer letztlich immer verwundbar sind (sich also nie alleine effektiv davor schützen können), die Erde als Aufenthaltsort und deren natürliche wie die daraus erschaffenen künstlichen Ressourcen teilen müssen (also letztlich nicht autark ihre Subsistenz generieren können). Angesichts dieser persistenten Ausgangslage stellt sich die Frage, wie man miteinander umgehen soll, wenn jeder nach seinem eigenen guten Leben strebt. Die innerliegenden Probleme können es dann ggf. mit der Unterscheidung von moralischen und politischen Konflikten zu tun haben. Auch diese Unterscheidung kann man selbst wieder mit Ypi als eine Lösung, hier eines Klassifikationsproblems verschiedener konkreter Probleme verstehen. Nicht jedem stellt sich dieses theoretische Problem gleichermaßen, sondern abhängig von seinen Interessen, Erwartungen und Werten. Die von Lea Ypi vorgeschlagenen (Re)Konstruktionen des Problems der Moral und des politischen Problems der Gerechtigkeit zeigen, wie verschränkt Probleme sein können. Denn nach ihrer Auffassung reagiert die Gerechtigkeit auf Probleme der Moral, die diese übrig gelassen hat. Selbst wenn wir annehmen, dass es Menschen zu einem gewissem Maß mittels der menschlichen Konstruktion der Moral geschafft haben sollten, den Mangel an natürlichem Altruismus zu überwinden, werden – so Ypi – mindestens zwei verwandte Probleme bestehen bleiben: Zum einen ein Koordinationsproblem, weil man nicht sicher sein kann, ob sich alle an die moralischen Normen halten. Zum anderen

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ein Kontinuitätsproblem, weil sichergestellt werden muss, dass das moralische Normensystem stabil und dauerhaft bestehen bleibt. Die gängige Antwort auf solche Probleme ist die Einführung von politischen Institutionen, die mittels einer kollektiven Autorität eine koordinierte und kontinuierliche Form der menschlichen Kooperation gewährleisten. Diese Institutionen ihrerseits kreieren wiederum politische Probleme, die dadurch entstehen, dass sich Menschen wechselseitig durch Machtausübung, Herrschaft und politische Autorität in Institutionen und durch die Gestaltung von Institutionen miteinander koordinieren. Gerechtigkeit soll in neo-republikanischer Manier die Lösung dieser Art von Problem heißen. Nach Lea Ypis Auffassung ist ›Gerechtigkeit‹ das Ergebnis eines Lernprozesses, durch den Menschen historisch einen begrifflichen Rahmen entdeckt haben, der es ihnen ermöglicht, politische Autorität auszuüben und verständliche politische Forderungen aufzustellen, Handlungsgründe zu geben und Machtausübung durch die Gestaltung von Institutionen zu regulieren, die solche Forderungen in ihrer Organisationsform reflektieren. Das ist allerdings eine sehr spezifische historische Rekonstruktion der Probleme aus neo-republikanischer Sicht, zu der viele Alternativen in der einschlägigen Literatur vorgetragen werden. Um nur eine gegenwärtig auch immer noch prominente Problembeschreibung zu nennen: Danach offeriert die politische Philosophie, insbesondere die Gerechtigkeitstheorie, eine angemessene Lösung für das Problem, wie wir angesichts der von Hume so genannten Umstände der Gerechtigkeit und des von Rawls so genannten Faktums des Pluralismus, also der unvermeidlichen Uneinigkeit über Fragen des guten Lebens, miteinander umgehen können. ›Beschränkte‹ Konstruktivisten sehen dabei das Problem als eines der menschlichen Interaktion unter den genannten Bedingungen, wenn wir uns zusätzlich wechselseitig als Freie und Gleiche anerkennen. Mit Hilfe dieser moralischen Ideale entwerfen sie dann Prozeduren, in denen ideale Handelnde eine Einigung erzielen können, denen echte Handelnde nun Grund haben zu folgen. ›Unbeschränkte‹ Konstruktivisten sehen das Problem breiter als das, nämlich: wie eine Einigung unter Personen unter den genannten Bedingungen möglich ist, wenn auch der Status von Personen und nicht personalen Akteuren de facto strittig ist. Man darf die Rede von Problemlösungen zudem nicht instrumentalistisch verkürzt verstehen. Dass Theorien und Konzeptionen Problemlösungen sind, dass sie Probleme lösen, die sich mit ihnen stellen, bedeutet nicht, dass sie lediglich Mittel zur Erreichung eines vorgegeben Zwecks sind und von den Beteiligten nur unter dieser Beschreibung akzeptiert und gelebt werden. Wenn (z. B. moralische oder politische) Theorien und Konzeptionen ein Problem lösen, so ist das nicht zu jedem Zeitpunkt transparent und auch nicht immer auf direktem Wege intendiert. Man sieht manchmal eher von außen, dass es sich bei bestimmten Praktiken effektiv um Problemlösungen handelt. Dass etwas eine Problemlösung ist, ist also eine Interpretation. Aus einer pragmatistischen Sicht kann es vermutlich weder die eine richtige Begriffsbestimmung, noch eine einzig richtige Auffassung z. B. von Moral und Gerechtigkeit geben, wenn sie als Lösung von Problemen aus Sicht der Betroffenen gesehen werden, die – wie ich zu argumentieren versucht habe – je nach Umständen und historisch-sozialenkulturellen Pfaden unterschiedlich sein können.

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4. Fortschritt Mit der von Lea Ypi konzipierten Arbeitsteilung zwischen Moral und Gerechtigkeit kann Ypi ein politisches Gegenstück zu der Idee von moralischem Fortschritt entwickeln: Wenn es die Funktion von Moral ist, altruistisches Scheitern zu beseitigen, ist es entsprechend die Funktion der Gerechtigkeit, die Art und Weise zu regulieren, in der kollektive Autoritäten Macht in Anbetracht sozialer Konflikte ausüben, die auf die obengenannten Koordinations- und Kontinuitätsprobleme zurückzuführen sind. Ein Gefüge moralischer Normen gilt ihr zufolge dann als fortschrittlich, wenn es zum funktionalen Verfeinerungsprozess von moralischen Verhaltensregeln beiträgt. Entsprechend besteht der Fortschritt in der Gerechtigkeit nach Ypi ebenso in einer Verfeinerung der Funktion der Gerechtigkeit. Lea Ypi gibt – ähnlich wie in der Wissenschaftstheorie für Theorien üblich – drei Kriterien für eine bessere Lösung an:5 Etwas ist nach Ypi die bessere, also auch fortschrittlichere Lösung eines Problems (z. B. der Gerechtigkeit oder Moral) wenn die vorgeschlagene Lösung erstens überzeugender die Begründungen und Reichweite eines speziellen Konflikts auf dem angemessenen Analyselevel bestimmt, wenn sie zweitens innovativer die normativen Vorteile der vorgängigen Lösung erhalten, während sie ihre Nachteile vermeiden kann, und wenn sie drittens heuristisch neue, unvorhergesehene Fragen und Herausforderungen antizipieren kann. So plausibel diese Kriterien erscheinen, so ergeben sie doch noch keine einheitliche Auffassung von Fortschritt. Denn wenn stimmt, was ich oben zu Problemen geschrieben habe, so sind Probleme, genauer die Auffassungen von ihnen und die entsprechenden Lösungsansätze, kontext- und pfadrelativ. Was in einem Kontext als Lösung entsprechend der drei Kriterien gelten könnte, mag in einem anderen Kontext als Stillstand oder Rückschritt erscheinen. Noch einmal zusammenfassend: Ich habe Zweifel geäußert, ob sich eine allgemeine, abstrakte Auffassung von Fortschritt geben lässt, wenn man den pragmatistischen Ansatz vertritt. Aus pragmatistischer Perspektive liegt es vielmehr nahe, von einer gewissen Kontext- und Pfadabhängigkeit von Problemen auszugehen. Dann wird, was als Fortschritt angesehen wird, davon abhängen, was man in welchem Kontext vor dem Hintergrund welcher Entwicklung als Problem sieht. Das wird Lea Ypi vermutlich auch so sehen und ihren Begriff von Gerechtigkeit als genau das Ergebnis eines solchen spezifisch historischen Lernprozesses verstehen. Damit müsste sie aber unterstellen, dass es nur einen solchen historischen Lernprozess in der Weltgeschichte gegeben hat, der auf die neorepublikanische Auffassung von Gerechtigkeit hinausläuft. Das fände ich angesichts der unterschiedlichen Gerechtigkeitsbegriffe und -auffassungen in der Philosophiegeschichte eine merkwürdige Vorstellung. Denn einen einheitlichen universellen Fortschritt im Bereich der Moral und Gerechtigkeit wird es nach pragmatistischer Auffassung vermutlich kaum geben können. Auf jeden Fall würde ich zur Verteidigung dieser Auffassung von Lea Ypi gerne mehr lesen. Als eine Interpretation in pragmatistischer Perspektive, warum Vgl. Lea Ypi: Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford 2012 und Lea Ypi: »The Owl of Minerva only flies at dusk, but to where?«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 117–134. 5

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der neorepublikanische Gerechtigkeitsbegriff Vorteile mit sich bringt, ist Ypis Deutung hingegen eine gewisse Plausibilität zuzugestehen. Aber es bleibt eine Deutung unter anderen.

Literatur Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Berlin 2014. Ypi, Lea: Global Justice and Avant-Garde Political Agency, Oxford 2012. − »The Owl of Minerva only flies at dusk, but to where?«, in: Ethics and Global Politics, 6/2 (2013), S. 117–134.

KOLLO QUIUM 11 Die historische Pfadabhängigkeit ethischer Rechtfertigungen Kolloquiumsleitung: Carl Friedrich Gethmann

Carl Friedrich Gethmann Einleitung Armin Grunwald Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie auf ihre ethische Beurteilung? Dieter Birnbacher Ethische Überlegungen zu den neuen Formen der Pränataldiagnostik – mit Blick auf die Geschichte der Eugenik Erzsébet Rózsa Historische Innovation, kulturelle Transformationen und historische Erfahrungen am Beispiel der ›subjektiven Freiheit‹ ›im europäischen Sinne‹

Einleitung Carl Friedrich Gethmann (Siegen)

Das Kolloquium befasst sich mit einem Aspekt des Zusammenhangs von Geschichte und Geltung im Bereich der praktischen Philosophie, der von der Beobachtung ausgeht, dass nicht nur kontextuell gebundene moralische Intuitionen und Einstellungen, sondern auch die Verallgemeinerbarkeit beanspruchenden ethischen Rechtfertigungen von historischen Erfahrungen und darauf beruhenden sozialen und historischen Handlungskontexten abhängen. Diese Abhängigkeit hat deutliche Ähnlichkeiten mit dynamischen Prozessen, die in der Ökonomie als ›pfadabhängig‹ bezeichnet werden. Unter bestimmten Bedingungen der Vorgeschichte einer Handlungssituation sind jedenfalls nicht mehr alle Handlungsoptionen verfügbar, die man möglicherweise für ›gesollt‹ hält, wenn nicht sogar die Zahl der Handlungsoptionen auf genau eine (uno numero) (oder sogar keine) ›zusammenschrumpft‹. In solchen Fällen können Akteure nicht einfach das deliberativ ermittelte ›Gesollte‹ realisieren bzw. zu seiner Realisierung auffordern. Die einfache Gegenüberstellung von Universalismus und Kontextualismus in der Ethik verliert durch die Rekonstruktion derartiger sozialer und historischer Konstellationen ihre Trennschärfe. Die grundsätzliche Frage soll in den Beiträgen des Kolloquiums an inhaltlich unterschiedlich erscheinenden Beispielen aus den Bereichen der Technikethik (Energietechnik) und der Medizinethik (Pränataldiagnostik, ärztlicher Paternalismus) untersucht werden.

Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie auf ihre ethische Beurteilung? Armin Grunwald (Karlsruhe)

1. Fragestellung und Überblick Die Geschichte der gesellschaftlichen Akzeptanz der Kernenergie in Deutschland, aber nicht nur dort, ist stark durch die großen Havarien geprägt worden.1 Dieser Einfluss war vielleicht noch am geringsten in der Folge des schweren Störfalls in Three Miles Island in den USA 1979, aber massiv nach den Katastrophen von Tschernobyl in der Ukraine 1986 und im japanischen Fukushima 2011. Die letztgenannte Havarie hat den 2010 politisch durchgesetzten ›sanften‹ Wiedereinstieg in die Kernenergie im Rahmen des deutschen Beschlusses zur Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke obsolet gemacht und direkt zum Gegenteil, zum beschleunigten Ausstieg geführt. Die Havarien haben deutlich vor Augen geführt, was das Wort »Restrisiko« bedeuten kann. In 2022 sollen die letzten Atommeiler vom deutschen Netz gehen. Nicht nur im Feld der Kernenergie, sondern generell führten und führen der technische Fortschritt und seine Nutzung nicht nur zu vielen erwarteten und erwünschten Folgen, sondern immer wieder und oft simultan auch zu nicht erwarteten und nicht intendierten Folgen.2 Diese bringen Zumutungen und Risiken mit sich, die häufig die Akzeptanz von spezifischen Technologien oder auch von Technik generell verringern, wie dies mit empirischen Verfahren der quantitativen oder qualitativen Sozialforschung erhoben werden kann, z. B. mit Mitteln der Demoskopie. Eine Frage von Ethik und Philosophie ist die Akzeptanz von Technik jedoch nicht. Weder zu ihrer Messung noch zur Untersuchung der Frage, von welchen Faktoren sie abhängt, kann Philosophie beitragen. In ethischer Hinsicht interessiert vielmehr die Frage, unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien Technikakzeptanz normativ erwartet werden könne. Hier geht es nicht um die empirisch messbare Akzeptanz, sondern um die normativ erwartbare Akzeptabilität.3 In kaum einem anderen Feld sind die politischen und gesellschaftlichen Kontroversen so hart ausgefochten worden wie in der Kernenergie. Die Alternative, ob Kernenergie im oben genannten Sinne akzeptabel sei, hat die westdeutsche Gesellschaft lange Zeit zutiefst gespalten. Die Anti-Atomkraftbewegung in den 1970er und 80er Jahren hat immer wieder Hunderttausende für Proteste mobilisiert und eine ganze Epoche geprägt. Joachim Radkau, Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013. Armin Grunwald: Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, Berlin 2010, 2. Aufl. 3 Carl Friedrich Gethmann, Jürgen Mittelstraß: »Umweltstandards«, in: GAIA 1(1992), S. 16–25; Armin Grunwald, »Akzeptanz und Akzeptabilität«, in: ders. (Hg.): Technik und Politikberatung, Frankfurt 2008, S. 287–301. 1 2

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In diesem Beitrag wird die Rolle der großen Havarien in den Blick genommen, zunächst mit Blick auf die faktische Akzeptanz, aber sodann auf ihre Relevanz in normativer Hinsicht. Die Frage ist letztlich, welche Relevanz die Havarien für eine ethisch rechtfertigbare Akzeptabilität der Kernenergie haben. Nach einer kurzen Darstellung der wichtigsten Stationen der Akzeptanzgeschichte der Kernenergie in Deutschland (Kap. 2), einer begrifflichen Präzisierung der Unterscheidung von Akzeptanz und Akzeptabilität (Kap. 3) und ihrer unterschiedlichen Funktionen in politischen Prozessen (Kap. 4) wird die Frage verfolgt, ob und ggf. was die real geschehenen Havarien in ethischer Hinsicht bedeuten. Das Ergebnis ist ein Lehrstück über das Verhältnis zwischen normativen und empirischen Elementen in der Entstehung und Beurteilung von Akzeptanz und Akzeptabilität und macht auf die Diskrepanz zwischen dem abstrakten ethischen Diskurs und dem »wirklichen Gespräch« aufmerksam.

2. Kurze Geschichte der Akzeptanz der Kernenergie Am Beginn der menschlichen Nutzung der Kernenergie standen die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Rahmen des Manhattan-Projekts4 waren die Bomben unter hohem Ressourceneinsatz in kurzer Zeit entwickelt worden. Die Zerstörungsmacht dieser Bomben stellte eine historische Zäsur dar, die – verstärkt durch die Entwicklung der Wasserstoffbombe einige Jahre später – den Eintritt in ein nukleares Zeitalter markierte. Die Zerstörungsmacht dieser Waffensysteme dominierte den Kalten Krieg und zog vielfältige Ängste vor einem nuklearen Selbstmord der Menschheit nach sich. In Absetzung von diesem Teil der Geschichte der Kernenergie begann kurz nach den Atombombenabwürfen, verstärkt seit den 1950er Jahren, die Debatte über die »friedliche Nutzung der Kernenergie«. Vielfach wurde sie getragen von Physikern, die angesichts der Rolle ihrer Disziplin bei der Ermöglichung der Atombombe eine Art »moralische Wiedergutmachung« und damit eine Korrektur ihrer Wahrnehmung anstrebten, indem sie der Menschheit mit der Kernenergie eine technisch kontrollierbare und nach ihrer Überzeugung unerschöpfliche Energiequelle zur Verfügung stellen wollten. Bei vielen Akteuren jener Zeit lässt sich ein entsprechend hohes Sendungsbewusstsein feststellen.5 Es wurden große Hoffnungen auf ein unerschöpfliches Energiereservoir geweckt und von manchen gar eine Energieüberflussgesellschaft erwartet. Energie im Überfluss galt als Garant und Fundament für wünschenswerte Entwicklungen auf allen Gebieten. So sagte Ernst Bloch einmal in einem Zeitungsinterview, man könne »mit wenigen hundert Pfund Uranium oder Thorium« z. B. aus der Wüste Sahara blühendes Land machen. Diese Euphorie fiel nicht zufällig mit dem Wirtschaftswunder und dem wissenschaftlichen Aufbruch der 1950er und 1960er Jahre zusammen und zeigte sich in vielen AnWolfgang Liebert: »Entwicklung und Einsatz der Atombombe«, in: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Technikethik, Stuttgart, S. 55–61. 5 Radkau/Hahn: Atomwirtschaft. 4

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wendungsbereichen. Der Frachter »Otto Hahn« wurde mit einem Atomreaktor ausgestattet, Atom-U-Boote wurden in Dienst gestellt und nukleare Satellitenantriebe genutzt. Aber auch für alltags- und lebensweltnahe Bereiche wurde ernsthaft über die Nutzung der Kernenergie nachgedacht. Atomautos, Atomlokomotiven, Atomflugzeuge und sogar Atomheizungen wurden thematisiert. Die »friedliche Nutzung der Kernenergie« wurde zum Synonym für die Moderne, das Atomium in Brüssel, aufgestellt für die Weltausstellung 1958, zum Sinnbild des Zeitgeistes. In Deutschland ging es den Eliten nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Ende des Naziregimes und der damit verbundenen Bekanntwerdung der ungeheuren moralischen Katastrophe, aber auch konkret angesichts der faktischen Zerstörung der Volkswirtschaft darum, durch eine wieder zu erringende Position in Wissenschaft und Technik zu neuem Selbstbewusstsein und externer Anerkennung zu gelangen. Die Begeisterung für Kernenergie als Mittel zu diesem Zweck kam vor allem aus Politik und Wissenschaft. Sie zeigte sich deutlich in der Gründung eines eigenen Atomministeriums und großer, mit öffentlichen Mitteln finanzierter Forschungszentren zur Nutzbarmachung der Kernenergie. Die Industrie war angesichts günstiger fossiler Energieträger und der mangelnden Vertrautheit mit den technischen Herausforderungen der Kernenergie hingegen anfangs sehr zurückhaltend. Mit dem Ende der Wirtschaftswunderzeit und der Infragestellung traditioneller Autoritäten in der 1968er Bewegung geriet die Kernenergie allmählich in eine Akzeptanzkrise, die seitdem – jedenfalls in Deutschland – nicht zu einem Ende gekommen ist. Die beginnende Risikodebatte zur Kernenergie zeigte sich in den 1970ern und 1980ern vor allem in Form des Widerstands gegen einzelne und symbolträchtige Bauvorhaben wie Wyhl, Brokdorf, Wackersdorf, Gorleben und Kalkar. Der Widerstand richtete sich dabei einerseits gegen die Technologie selbst. Früh wurden kritische Fragen nach Risiken und nach der Art der Risikobewertung gestellt. Die ingenieurtechnische, an quantitativen Wahrscheinlichkeitsschätzungen orientierte Berechnung wurde als nicht hinreichend kritisiert. Auch der ungeklärte Umgang mit abgebrannten Kernbrennstäben, dem Hauptanteil am hoch radioaktiven Abfall, wurde als Gegenargument verwendet.6 Andererseits jedoch, und dieser Anteil am Akzeptanzverlust wird häufig unterschätzt, ging es der Widerstandsbewegung auch um Widerstand gegen staatliches Vorgehen generell, für die teils die Kernenergie nur geeignetes Symbol war. Munitioniert z. B. durch das Buch »Der Atomstaat«7 mit der These, dass die mit der technischen Kontrolle der Kernenergie notwendigerweise verbundenen Maßnahmen letztendlich zu einem Polizeistaat führen müssten, aber auch durch vielfältige Statements von Befürwortern der Kernenergie aus Wissenschaft, Politik und dann auch Wirtschaft, in denen die Sorgen der Bevölkerung nicht ernst genommen, sondern arrogant weggebügelt wurden, wurde die Kernenergie zum Symbol einer höchstens formal-, eigentlich aber undemokratischen Staatsmacht.

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Robert Spaemann: Nach uns die Kernschmelze, Stuttgart 2011. Robert Jungk: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977.

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Die schweren Unfälle in den Reaktoren Three Miles Island (1979) und vor allem Tschernobyl (1986) führten zu einer neuen Lage. Sie zogen auch bei vielen bisherigen Befürwortern eine Meinungsänderung nach sich. Während die Anti-AKW Bewegung bis dahin sich eher aus Umwelt- und Friedensbewegung speiste und damit zwar sehr aktive, aber gesellschaftlich eher randständige Gruppen umfasste, führte die Tschernobyl-Havarie dazu, dass die Kernenergie auch in der Mitte der Gesellschaft massiv an Akzeptanz verlor. Seit Tschernobyl gibt es in den Umfragen stabile wenn auch meist knappe Mehrheiten in Deutschland gegen die Nutzung der Kernenergie.8 Die allmähliche Distanzierung der Politik von der Kernenergie war gegenüber dem Akzeptanzverlust in Umfragen deutlich zeitverzögert. Der Ausstiegsbeschluss im Rahmen des rot-grünen Atomkonsenses mit der Energiewirtschaft wurde 2001 verabschiedet. Parallel führte die veränderte Diskussionslage im Kontext der Debatte um den Klimawandel zu Hoffnungen der Befürworter auf ein ›Kippen‹ der Anti-AKW-Stimmung. Dennoch konnte die Laufzeitverlängerung 2010 nur mit einem großen politischen Kraftakt durchgesetzt werden. Die Reaktionen auf die durch die Kombination eines starken Erdbebens mit einem gewaltigen Tsunami ausgelöste Katastrophe in Fukushima waren sehr unterschiedlich. Während es in Deutschland eine hohe Medienresonanz mit der weitgehend konvergenten Forderung nach einem raschen Ausstieg aus der Kernenergie gab, fand das Ereignis in vielen Ländern einen deutlich geringeren Widerhall. Auch in Anti-AKW geprägten Ländern wie den Niederlanden gab es erheblich weniger Diskussionen und kaum politische Konsequenzen. Die in Japan zunächst aufkommende starke gesellschaftliche Kritik an der Kernenergie führt zunächst zu Ausstiegswünschen, die aber mittlerweile auf der politischen Ebene kaum noch eine Rolle spielen. Planungen neuer AKW in Schwellenländern gehen weiter, wobei Hindernisse oft eher ökonomischer Art als die mangelnde Akzeptanz in der Bevölkerung sind. Kulturelle oder zeitgeschichtlich bedingte Unterschiede kennzeichnen also die Akzeptanz der Kernenergie und die Reaktion auf die Havarien. Diese Unterschiede entsprechen aber nicht immer gängigen Klischees. So ist es überraschend, dem Eurobarometer 2010, einer groß angelegten repräsentativen Umfrage in den Ländern der Europäischen Union, zu entnehmen, dass Deutschland im Konzert der Mitgliedsstaaten der EU bei fast allen Fragen zur Kernenergie keineswegs die rote Laterne der größten Akzeptanzverweigerung trägt, sondern sich im Mittelfeld befindet. Und die zweite Überraschung ist, dass Deutschland bei fast allen Fragen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Frankreich liegt, dem sonst eine besonders kernenergiefreundliche Haltung unterstellt wird. Scheinbar ist die Akzeptanz der Kernenergie in Frankreich eher eine Akzeptanz in den politisch-wirtschaftlichen Eliten als in der Bevölkerung. Freilich - so interessant dies alles sein mag, es sind empirische Erhebungen, die für sich keinen philosophischen Gehalt haben.

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Radkau/Hahn: Atomwirtschaft.

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3. Akzeptanz und Akzeptabilität – die Debatte der 1990er Jahre Dass wissenschaftlicher Fortschritt und technische Innovationen zur Sicherung von Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit, aber auch für mehr Nachhaltigkeit, Gesundheit und Lebensqualität erforderlich sind, ist weitgehend Konsens. Sie haben jedoch nicht ausschließlich positive Seiten. Nicht intendierte Nebenfolgen von Technik wie vor allem Risiken neuer Technologien wie der Kernenergie und ihre Hinterlassenschaften, z. B. radioaktive Abfälle, gehören zu den gesellschaftlichen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte. Dass Technikakzeptanz in den meisten Industrieländern zu einem Thema der öffentlichen Debatte geworden ist, liegt zu einem Teil – sicher nicht ausschließlich – an derartigen Erfahrungen. Sobald der technische Fortschritt zumindest partiell als riskant oder subjektiv nachteilig empfunden wird, sinkt – wenig überraschend – die Zustimmung. Dann wird auch die gesellschaftliche Verteilung von Vorteilen und Nachteilen der betreffenden Technik zum Thema der Verteilungsgerechtigkeit.9 Zur Akzeptanz von Technikrisiken gab es in den 1990er Jahren eine lebhafte Diskussion10 zwischen der philosophischen Ethik, die basierend auf einem normativen, von Rationalitätsstandards geprägten Umgang mit Technikrisiken das Konzept der Akzeptabilität entwickelte,11 und sozialwissenschaftlichen Ansätzen, welche auf eine empirische Akzeptanz der Technikrisiken setzten und zu diesem Ziel eine sozialverträgliche Technikgestaltung12 forderten:13 Die Idee akzeptanzorientierter Technikgestaltung besteht darin, die empirisch gemessene Technikakzeptanz bereits in der Technikentwicklung zu berücksichtigen. Ingenieure sollen Technik im Rahmen von Leitplanken der Sozialverträglichkeit entwickeln.14 Dahinter steht die Überlegung, dass wenn Technik nach Prinzipien der Verträglichkeit mit faktischen Werten und Akzeptanzmustern entwickelt werde, mögliche spätere Technikkonflikte präventiv an der Wurzel vermieden werden könnten, weil sich Akzeptanz dann wie von selbst einstellen müsse. Erfahrungen mit der mangelnden Prognostizieroder Extrapolierbarkeit des empirisch bestimmten Akzeptanzverhaltens sowie Probleme

Carl Friedrich Gethmann: »Ethische Probleme der Verteilungsgerechtigkeit beim Handeln unter Risiko«, in: Anne-Marie Gethmann-Siefert/Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Philosophie und Technik, München, S. 61–74. 10 Vgl. zu dieser Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Soziologie: Armin Grunwald, Hartmut Sax (Hg.): Technikbeurteilung der bemannten Raumfahrt. Berlin 1994; sowie aus philosophischer Perspektive Carl Friedrich Gethmann, Torsten Sander: »Rechtfertigungsdiskurse«, in: Armin Grunwald, Stephan Saupe (Hg.): Ethik in der Technikgestaltung. Praktische Relevanz und Legitimation, Berlin 1999, S. 117–151. 11 Gethmann/Mittelstrass: Umweltstandards. 12 Ulrich Alemann, Heribert Schatz: Mensch und Technik. Grundlage und Perspektiven einer sozialverträglichen Technikgestaltung, Opladen 1986. 13 Dieses Kapitel folgt der Argumentation, die in Grundzügen bereits in Grunwald: Akzeptanz und Akzeptabilität, vorgelegt wurde. 14 Dieter Jaufmann: »Technikakzeptanzforschung«, in: Stephan Bröchler/Georg Simonis/Karsten Sundermann (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung, Berlin 1999, S. 205–226. 9

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der Interpretation des Akzeptanzverhaltens als einer komplexen Größe15 führten zu der Verschiebung, die von der Technikentwicklung Betroffenen (Konsumenten, Bürger, politische Parteien, Behörden, Verbände, soziale Bewegungen etc.) in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.16 Die philosophische Ethik hat dagegen eingewandt, dass einerseits faktische Technikakzeptanz nichts über die ethische Rechtfertigbarkeit der Technik aussage, und dass andererseits Nichtakzeptanz nicht notwendigerweise ein zwingender Grund sei, nicht doch Technik zu implementieren. Vom Faktischen auf das Gesollte zu schließen, sei ein naturalistischer Fehlschluss.17 Daher sei in Technikkonflikten nicht das Konzept der faktischen Akzeptanz, sondern dass der normativen Akzeptabilität grundlegend: »Akzeptabilität ist ein normativer Begriff, der die Akzeptanz von risikobehafteten Optionen mittels rationaler Kriterien des Handelns unter Risikobedingungen festlegt«.18 Auf diese Weise wird die Zumutbarkeit von Risiken und Nebenfolgen technischer Entwicklungen in den konzeptionellen Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und gefragt, wie durch Grenzwerte wie Umwelt- oder Sicherheitsstandards ein ethisch rechtfertigbarer Umgang gewährleistet werden könne.19 Zur operativen Umsetzung werden Konsistenzüberlegungen als Bedingung praktischer Rationalität in Anschlag gebracht. Neue (z. B. technikbedingte) Risiken sollen durch Konsistenzüberlegungen in Beziehung zu bereits – z. B. in der Lebenswelt – etablierten Risiken gesetzt und vergleichbar gemacht werden. Das resultierende Prinzip der pragmatischen Konsistenz lautet: »Hat jemand durch die Wahl einer Lebensform den Grad eines Risikos akzeptiert, so darf dieser auch für eine zur Debatte stehende Handlung unterstellt werden«.20 Die Konsequenzen dieser Kontroverse sind weitreichend. Je nachdem, ob gefragt wird »Wird die Technik A akzeptiert werden?« oder »Soll die Technik A akzeptiert werden?« wird die gesellschaftliche Diskussion über Technik und ihre Risiken in einen anderen Rahmen gestellt. Im Folgenden wird die These vertreten, dass beide Ansätze zwar auf zutreffende Sachverhalte aufmerksam machen, jedoch für sich keine adäquate Konzeptualisierung der Risikothematik darstellen. Die Argumente dafür gehen über die bekannten Frontstellungen hinaus, wie sie sich im Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses oder umgekehrt in der Behauptung zeigen, dass normative Aussagen bloß subjektiv und nicht argumentationszugänglich seien. Die Akzeptanzforschung zu Technikrisiken gibt Einsichten in Verhaltensweisen und in »Befindlichkeiten« in der Bevölkerung, ihre zeitliche Entwicklung und ihre wesentlichen Einflussfaktoren und stellt somit wichtige Informationen für politische Handlungsweisen

Fritz Gloede: »Vom Technikfeind zum gespaltenen Ich. Thesen zur Technikakzeptanz«, in: Klaus Lompe (Hg.): Techniktheorie, Technikforschung, Technikgestaltung. Opladen 1987, S. 233–261. 16 Georg Simonis: »Sozialverträglichkeit«, in: Stephan Bröchler/Georg Simonis/Karsten Sundermann (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung, Berlin 1999, S. 105–118. 17 Gethmann/Sander: Rechtfertigungsdiskurse. 18 Ebd., S. 146 19 Gethmann/Mittelstrass: Umweltstandards. 20 Gethmann/Sander: Rechtfertigungsdiskurse, S. 146 f. 15

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bereit.21 Die Akzeptanzorientierung kann aber das grundlegende Problem des demokratischen Umgangs mit technischen Risiken und sich daraus ergebenden Zumutungs- und Akzeptanzproblemen vor allem aufgrund zweier Probleme nicht lösen:22 (1) Extrapolationsproblem: Es kann immer nur die jeweils gegenwärtige Akzeptanzsituation empirisch erfasst und in der betreffenden technikrelevanten Entscheidung berücksichtigt werden. Weil Technikakzeptanz zeitlich stark schwanken kann (z. B. in Abhängigkeit von Havarien), schließt die Berücksichtigung des gegenwärtigen Akzeptanzverhaltens zukünftige Technikkonflikte um Akzeptanz keineswegs aus. Aufgrund der zeitlichen Instabilität der Technikakzeptanz kann von einem akzeptanzgetriebenen Ansatz weder die Vermeidung von Technikkonflikten und Akzeptanzproblemen noch die Schaffung von Planungssicherheit für Investoren oder Techniknutzer erwartet werden. (2) Aggregationsproblem: Das Arrow-Theorem aus der Entscheidungstheorie23 zeigt, dass unter sehr allgemeinen Voraussetzungen individuelle Präferenzen nicht widerspruchsfrei zu einer wohl definierten Gesamtnutzenfunktion aggregiert werden können. Damit besteht jedoch kaum Aussicht, die für Technikakzeptanz entscheidenden individuellen Präferenzen in einer pluralistischen, von Wertekonflikten durchzogenen Gesellschaft widerspruchsfrei zu befriedigen – und dann jedoch stünde die Gesellschaft wieder vor den Technikkonflikten, die gerade durch den Akzeptanzansatz vermieden werden sollten. Auf der anderen Seite führt auch der Akzeptabilitätsansatz zu Problemen, auch wenn er von der zutreffenden Beobachtung ausgeht, dass das Gelingen von Kommunikation und Kooperation unzweifelhaft die Einhaltung bestimmter Rationalitätsstandards einschließlich eines gewissen Maßes an Konsistenz erfordert: (1) Messproblem: Der Akzeptabilitätsansatz basiert auf Risikovergleichen. Vergleiche jedoch bedürfen der möglichst quantitativen Messung der Risiken auf einer einheitlichen Skala. Dies gilt nicht nur für das erwähnte Prinzip der pragmatischen Konsistenz,24 sondern auch für andere risikoethische Positionen wie z. B. den Utilitarismus.25 Die Projektion unterschiedlicher Risiken auf eine einheitliche Skala ist jedoch normativ voraussetzungsreich, ebenso wie die Frage, welche Risiken als abwägbar und vergleichbar angesehen werden und welche nicht. Dies führt üblicherweise zu Konflikten, die die Anwendung des Akzeptabilitätsansatzes eingrenzen, erschweren oder unmöglich machen können. (2) Verlust der sozialen Dimension: Außerdem gerät bei der Projektion von Risikokonstellationen auf Skalen, die man für Vergleiche von Risiken üblicherweise benötigt, aus dem Blick, dass Risiken immer Risiken für jemanden sind und dass Risikozumutungen

Vgl., die Beiträge im Schwerpunktheft der Technikfolgenabschätzung. Theorie und Praxis, Technikakzeptanz als Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Diskussion, Heft 14 (2005) 3. 22 Grunwald: Akzeptanz und Akzeptabilität. 23 Kenneth D. Arrow: Social Choice and Individual Values. London 1963. 24 Gethmann/Sander: Rechtfertigungsdiskurse. 25 Dieter Birnbacher: »Utilitarismus«, in: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Technikethik, Stuttgart, S. 153–158. 21

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eine soziale Dimension mit Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblemen haben.26 Quantifizierungen von Risiken sind Reduktionsprogramme, in denen insbesondere die Differenz zwischen Entscheidern und Betroffenen verschwindet.27 Die Schwierigkeiten beider Ansätze, zur Lösung des Problems des gesellschaftlichen Umgangs mit variabler Technikakzeptanz umzugehen, sind freilich unterschiedlicher Art. Die Orientierung auf die empirisch messbare oder für die Zukunft erwartete Technikakzeptanz löst jedenfalls das Problem nicht. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist der Begriff der Akzeptabilität weiterführend, da Entscheidungen in einer pluralistischen Gesellschaft kaum jemals ohne Zumutungen getroffen werden können, auch nicht über die Zumutbarkeit von Risiken. Auf dieser Schiene geht es im Folgenden darum, den Begriff der Akzeptabilität nicht nur, wie bislang dargestellt, rationalitätstheoretisch zu verstehen, sondern ihn demokratietheoretisch zu erweitern.

4. Perspektivwechsel: die politische Entscheidung über Zumutbarkeit Ohne »dunkle Seiten« der jeweiligen Technik und entsprechende Zumutungen für Individuen, Gruppen der Gesellschaft oder zukünftige Generationen bestünde kein Bedarf, über Technikakzeptanz oder Akzeptabilität nachzudenken. Aber auch ohne die »helle Seite«, die Versprechungen der Technik, gäbe es diesen Bedarf nicht, denn dann wäre die Frage nach Akzeptanz und Akzeptabilität evidenter Weise negativ zu beantworten. Es ist die simultane Präsenz von Vor- und Nachteilen, Chancen und Risiken, Kosten und Nutzen, die die Frage nach Akzeptanz und Akzeptabilität spannend und schwierig macht. Denn dadurch wird die soziale Dimension von Abwägungen von Vor- und Nachteilen der technischen Entwicklung zum Thema: um welche Vor- und Nachteile für wen geht es? Um der Frage nach dem Umgang mit entsprechenden Konflikten nachzugehen, wird folgende Unterscheidung vorgeschlagen:28 – Zumutungen, die vollständig individuell kontrolliert werden können wie Motorradfahren, Risikosportarten oder vielleicht zukünftig eine Urlaubsreise in den Weltraum: hier halten Betroffene selbst die Entscheidung darüber in den Händen, ob und welche Risiken oder Nachteile sie hinzunehmen bereit sind. Über die individuelle Ebene hinaus gehende Aspekte kommen erst dann hinein, wenn die Übernahme der Kosten im Schadensfalle zu klären ist, z. B. regelmäßig wiederkehrend in der Frage, ob Krankenkassen Verletzungen erstatten sollten, die in der Ausübung von Risikosportarten entstehen. – Zumutungen mit einfachen Ausweichmöglichkeiten, zu denen es also einfach zugängliche Alternativen gibt. Hierzu würden mögliche gesundheitliche Risiken von Nah26 Armin Grunwald: »Gesellschaftliche Risikokonstellation für Autonomes Fahren. Analyse, Einordnung und Bewertung«, in: M. Maurer/J.C. Gerdes/B. Lenz/H. Winner (Hg.) Autonomes Fahren. Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Heidelberg 2015, S. 661–685. 27 Gotthard Bechmann: »Die Beschreibung der Zukunft als Chance oder Risiko?«, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 16 (2007) 1, S. 24–31. 28 Nach Grunwald: Akzeptanz und Akzeptabilität.

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rungsmitteln mit Nanopartikeln gehören, wenn es eine Kennzeichnungspflicht für Nanopartikel in Lebensmitteln gäbe. Diese würde Kunden die Möglichkeit eröffnen, auf andere Produkte auszuweichen. Unter diesen Voraussetzungen wird niemandem alternativlos etwas zugemutet. – Zumutungen mit beschwerlichen Ausweichmöglichkeiten: Manchen Zumutungen kann man zwar »prinzipiell«, aber nur unter erheblichen Opfern ausweichen. Klassisch sind hier Standortprobleme von Müllverbrennungsanlagen, radioaktiven Endlagern, Chemiefabriken oder in früheren Zeiten auch von Kernkraftwerken zu nennen. Prinzipiell besteht hier zwar eine Ausweichmöglichkeit – man kann ja wegziehen – aber doch nur in der Regel mit erheblichen sozialen und ökonomischen Belastungen. – Zumutungen ohne Ausweichmöglichkeit: Einige Techniken führen zu diffus verteilten Zumutungen: Ozonloch, Klimaerwärmung, schleichende Grundwasserverschmutzung, Degradierung von Böden, Akkumulation von Schadstoffen in der Nahrungsmittelkette, Lärm, Ultrafeinstaubbelastung etc. In diesen Fällen hilft weder eine Kennzeichnung noch die Verlagerung des Standortes. Diesen Zumutungen kann man nicht entgehen. Dieses Raster ist nur in seinen Extremen »volle/keine individuelle Ausweichmöglichkeit« analytisch gut beschreibbar. Dazwischen liegt ein Kontinuum, in dem Grenzziehungen wie hier durch die Begriffs »einfach/beschwerliche Ausweichmöglichkeiten« versucht, nur einen illustrierenden Charakter haben können. Der Grad der individuellen Einflussmöglichkeit auf die Exposition gegenüber den Zumutungen des technischen Fortschritts dominiert die ethische Konstellation. Der hier interessierende Fall, vorgegeben durch die Konstellation der Kernenergie, ist die Situation, dass Zumutungen von außen an Betroffene herangetragen werden, dass also die Entscheider über die Zumutungen und die von den Zumutungen Betroffenen auseinanderfallen.29 Die ethisch relevante Frage in dieser Situation lautet letztlich, warum und unter welchen Bedingungen jemand von außen an ihn/sie herangetragene Zumutungen akzeptieren soll (nicht, ob er/sie akzeptiert): wem darf gerechtfertigter Weise unter welchen Bedingungen und mit welchen Argumenten was zugemutet werden? Die Betroffenen sollen bereit sein, etwas zu akzeptieren, das von Anderen entschieden wurde. Hier zeigt sich der Kern des Problems als Rechtfertigungsproblem von Zumutungen. Es geht im Kern der Debatte um Technikakzeptanz um die Akzeptanz der unfreiwillig aufgebürdeten Zumutungen und ihrer gesellschaftlichen Verteilung, die der – im Prinzip nicht in Frage gestellte – technische Fortschritt mit sich bringt. Die Herausforderung ist eine gesellschaftsweit verbindliche Regelung dieser Zumutungen und Zumutbarkeiten auf eine ethische rechtfertigbare und friedliche Weise. Dieses Problem kann nur auf der Ebene gelöst werden, wo wir kollektive Verbindlichkeiten regeln: auf der Ebene demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Daraus ergibt sich die Aufgabe, legitime und verbindliche Entscheidungen über Technik und ihre Zumutungen zu treffen in der Erwartung, dass diese akzeptiert werden. Die 29

Bechmann: Zukunft als Chance.

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Perspektivverschiebung gegenüber z. B. dem Prinzip der pragmatischen Konsistenz (Kap. 3) besteht darin, dass es hier nicht um eine Akzeptabilität unter Rationalitätsstandards geht, die an ein individuelles Handeln gerichtet werden, sondern um eine Akzeptabilität, die ihre Basis in demokratisch legitimierten Entscheidungen und Verfahren hat – eine demokratietheoretische und keine rationalitätstheoretische Akzeptabilität. Gemeinsam ist beiden die Tatsache, dass es sich um den Umgang und die Regelung von Akzeptanzzumutungen handelt; verschieden ist jedoch die argumentative Basis, auf der sie aufruhen. Mit Hilfe demokratisch legitimierter Entscheidungsverfahren definiert die Gesellschaft, bis zu welchem Maß die Akzeptanz bestimmter Zumutungen unter »öffentlichem Interesse« erwartet werden kann, bis hin zu der Situation, dass bestimmten Personen oder Gruppen die Lasten solcher Entscheidungen aufgebürdet werden können. Diese Verfahren klären auch, was »Verlierern« zugemutet werden darf und ob Kompensationen vorgesehen sind. Der Kern von Demokratie als Entscheidungssystem besteht nicht darin, dass jede demokratisch legitime Entscheidung verträglich mit den Präferenzen und Interessen aller Betroffenen sein soll. Demokratische Entscheidungen müssen Probleme mit Gewinnern und Verlierern und einer entsprechenden Zumutungsproblematik bewältigen können. Entscheidend ist – und dies ist Teil des demokratischen Selbstverständnisses30 –, dass Resultate legitimer Entscheidungsprozesse auch dann akzeptiert werden »sollen«, wenn sie unter den individuellen Präferenzen unwillkommen sind. Dass diesen Akzeptanzzumutungen dann auch faktische Akzeptanz folgt, wird zwar erwartet, ist aber weder logisch noch pragmatisch garantiert. Akzeptanz kann verweigert werden, und die Geschichte der Kernenergie und des Umgangs mit radioaktiven Abfällen zeigt solche Verweigerungen.31 Ob Akzeptanz faktisch eintritt, dürfte vor allem von folgenden Punkten abhängen: (a) die Akzeptanz der Entscheidungsprozeduren ist eine notwendige Bedingung für die Akzeptanz ihrer Ergebnisse (wenn man von zufälligen Konstellationen absieht, dass z. B. das Ergebnis eines nicht akzeptierten Verfahrens einer Interessengruppe so entgegenkommt, dass es dann gerne ›opportunistisch‹ akzeptiert wird) (b) über die abstrakte Akzeptanz der Verfahren hinaus muss Vertrauen bestehen, dass die Verfahrensregeln in den konkreten Entscheidungsprozessen auch eingehalten wurden, also z. B. nach den Maßstäben deliberativer Demokratie32 die Einhaltung von Fairnessregeln und die Repräsentativität der Beteiligten realisiert wurden, (c) die in den Entscheidungsprozessen und den dafür erforderlichen Beratungs- und Abwägungsschritten verwendeten Argumente müssen belastbar sein, d. h. einen »Diskurstest« bestehen33 Diese Bedingungen sind nicht immer erfüllt. Die endlosen und bislang fruchtlosen Diskussionen um eine Endlagerung radioaktiver Abfälle in vielen Ländern sind ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass auch formal demokratisch legitimierte Beschlüsse derart Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 1983, S. 29. Radkau/Hahn: Atomwirtschaft. 32 Jürgen Habermas: »Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik«, in: Herfried Münkler (Hg.): Die Chancen der Freiheit. München 1992, S. 11–124. 33 Gethmann/Sander: Rechtfertigungsdiskurse. 30 31

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massiv auf Ablehnung stoßen können, dass ihre Umsetzung verhindert wird. Der Durchsetzungsmacht des Staates mit hoheitlichen, letztlich polizeilichen Mitteln sind Grenzen gesetzt, sowohl hinsichtlich der Kosten als auch hinsichtlich der Glaubwürdigkeit. Entsprechend der Ursachendiagnose mangelnder Akzeptanz (a) – (c) kann entsprechend gehandelt werden, bis hin dazu, die Prozeduren selbst in einem gesellschaftlichen Lernprozess zu ändern (die Endlagerkommission des Deutschen Bundestages kann als Versuch betrachtet werden, neue und stärker beteiligungsorientierte Verfahren zu erproben). Dieser Lernprozess sollte als Resultat neue oder modifizierte, wiederum akzeptierte Prozeduren als neue Basis legitimierter Entscheidungen hervorbringen. Bislang wurde noch nichts gesagt zu der Rolle philosophischer Überlegungen zur Akzeptabilität, wie sie in Kap. 3 kurz erwähnt wurden. Sie haben ihren Platz in den demokratischen Entscheidungsprozessen selbst, wo vor dem Hintergrund normativ gehaltvoller Demokratietheorien34 argumentativ um die beste Lösung gerungen werden muss. Insofern die Akzeptanz der Verfahren nicht zur Akzeptanz der Ergebnisse führt, kann dies auch an der mangelnden Belastbarkeit der vorgebrachten Argumente liegen (Punkt (b) der obigen Liste). Die kritische Prüfung von Argumenten hat also ihren Platz auch in einem demokratietheoretischen Verständnis von Akzeptabilität.

5. Haben die Havarien Folgen für die Akzeptabilität der Kernenergie? Nun können wir uns der eingangs gestellten Frage zuwenden, ob die großen Havarien der Kernenergie Einfluss auf deren Akzeptabilität haben. Dass sie massive Folgen für die Akzeptanz hatten, ist evident (Kap. 2). Wie ist es aber um die Argumentationslage zur Akzeptabilität bestellt? Genauer: was könnte sich durch die Ereignisse von Tschernobyl und Fukushima in der Beurteilung der Zumutbarkeit von Kernenergie argumentativ begründet geändert haben? In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass kurz vor Fukushima die Laufzeitverlängerung für deutsche Kernkraftwerke mit dem Argument geführt wurde, diese seien so sicher, dass sie auch 20 Jahre über ihre ursprünglich geplante Laufzeit hinaus sicher betrieben werden können. Nur sechs Monate später wurden sieben Kraftwerke umgehend und auf Dauer mit dem Argument abgeschaltet, ihr weiterer Betrieb sei wegen Sicherheitsbedenken nicht zumutbar. Es ist leicht, hinter dieser Kehrtwendung politische Pragmatik wenn nicht reine Taktik zu vermuten. Das ist hier aber nicht die Frage, sondern ich möchte möglichen akzeptabilitätsbeeinflussenden Argumenten nachspüren und damit klären, ob die Kehrtwende eben nicht nur in politischer Taktik besteht, sondern möglicherweise auch durch rationale Argumentation gestützt wird. In Deutschland ist kein Erdbeben der Stärke 9.0 und kein Tsunami der Höhe von 10 Metern zu erwarten, auch nicht kleinere Tsunamis. Eine direkte Änderung der Argumentationslage nach Fukushima, und dies ist oft bemerkt worden, ist daher nicht erkennbar. Dennoch bekundete Angela Merkel öffentlich ihren Wandel in der Einschät34

Nach Habermas: normative Modelle.

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zung der Kernenergie gerade aufgrund von Fukushima: »Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert«. Die Ereignisse in Japan seien ein Einschnitt für die Welt, aber auch »ein Einschnitt für mich ganz persönlich«. Sie habe zur Kenntnis nehmen müssen, dass »selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können« (Regierungserklärung vom 9.6.2011). Einen ähnlichen Wandel hat Carl Friedrich von Weizsäcker 1986 nach der Katastrophe von Tschernobyl bekundet. Tschernobyl und Fukushima zeigen auf den ersten Blick eine doppelte Kontingenz und scheinen damit Schlussfolgerungen auf die Akzeptabilität grundsätzlich unmöglich zu machen: – kontingente Verursachungsketten: beide sind kontingent dahingehend, dass es hätte auch anders kommen können. Im Fall Tschernobyl sind es kontingente Verkettungen von menschlichen Handlungen mit technischem Versagen, im Fall Fukushima das kontingente Auftreten eines Naturereignisses. Die Geschichte der Akzeptanz der Kernenergie in Deutschland wäre anders verlaufen ohne diese Ereignisse. Aus kontingenten Ereignissen kann man jedoch keine systematischen Schlüsse ziehen. – kontingente Rezeption: die Debatten zu und Schlussfolgerungen aus den Havarien sind in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich verlaufen. Daher scheint es empirisch so zu sein, dass die Schlussfolgerungen aus den Havarien von kontingenten politischen Konstellationen oder kulturellen Befindlichkeiten abhängen. Wenn aber aus den gleichen Ereignissen unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden, ist es schwer sich vorzustellen, dass die Havarien argumentativ überhaupt etwas bedeuten können. Die Frage, ob kontingente Ereignisse wie Tschernobyl oder Fukushima Folgen für die Akzeptabilität der Kernenergie haben, scheint damit in eine negative Antwort zu führen. Vielmehr scheint sich alles in Medieneffekten, Sozialpsychologie oder Wahrnehmungseffekten aufzulösen. Dennoch werde ich im Folgenden die These vertreten, dass diese Frage in ›schwacher Weise‹ mit ja beantwortet werden kann. Diese These beruht auf der Prämisse, dass die Havarien entgegen dem ersten Anschein nicht bloß kontingente Ereignisse sind, sondern dass sie auf bestimmte für Akzeptabilität der Risiken durchaus signifikante Aspekte hinweisen. Dies sind im Wesentlichen drei Aspekte: – die Tatsache, dass es überhaupt Havarien mit Katastrophencharakter gab, steht in Widerspruch zu früheren Verlautbarungen, dass »Restrisiko« bedeutet, dass der Schadensfall nach »menschlichem Ermessen« nicht eintreten wird – der Schadensfall ist nunmehr bereits mehrfach eingetreten. Dies ist zwar keine streng logische Falsifikation der Behauptung, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit extrem klein sei, da von statistischen Aussagen nicht auf Einzelfälle geschlossen werden kann. Die empirische Erfahrung mehrerer Kernschmelzen in wenigen Jahrzehnten lässt jedoch alle früheren Wahrscheinlichkeitsangaben als problematisch erscheinen. Damit erscheint die Annahme extrem geringer Eintrittswahrscheinlichkeiten von Havarien größeren Ausmaßes empirisch widerlegt, auch wenn sie es formallogisch nicht ist. – zwar war der in der Tat kontingente Tsunami der Auslöser der Katastrophe von Fukushima, er war aber nicht ihre Ursache. Die Ursachenforschung führt zurück zu den

Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie

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vor Jahrzehnten getroffenen Entscheidungen und Abwägungen in der Auslegung der Kraftwerke von Fukushima. Es wären (zu höheren Kosten) Auslegungen möglich gewesen, so dass der Tsunami von 2011 nicht die nukleare Katastrophe nach sich gezogen hätte. Hinzu kommt, dass Erdbeben und Tsunami von 2011 durchaus nicht ohne ähnlich starke Vorgänger sind, sodass man also wusste oder hätte wissen können, dass sich etwas Derartiges ereignen kann. Nicht das kontingente Naturereignis, sondern die von Menschen betriebene Auslegung der Kraftwerke war die Ursache der Katastrophe. Betreiber und Aufsichtsbehörden haben das Risiko in Kauf genommen bzw. den Anwohnern zugemutet. Dies wirft die Frage auf, ob und ggf. welche Risiken in Deutschland möglicherweise in Kauf genommen wurden. – es stellt sich die Frage, was die Aussagen von 2010 bedeuten, deutsche Kernkraftwerke seien sicher. Sicher kann hier nur bedeuten: ›sicher relativ zu allen vorgestellten Schadensszenarien‹. Sicher war vermutlich der ukrainische Reaktor in Tschernobyl auch relativ zu den Versagens- und Fehlermöglichkeiten, die die dortigen Ingenieure bedacht hatten. An die Kombination bestimmter technischer Fehler mit Bedienungsfehlern war vermutlich nicht gedacht worden. Tschernobyl und Fukushima leuchten wie ein Scheinwerfer auf mögliche Bereiche des »nicht gewussten Nichtwissens«, deren Existenz vielfach, so z. B. noch sechs Monate vor Fukushima, abgestritten wurde. Ich bezeichne die Folgen dieser durch die Havarien nahegelegten oder zumindest ins öffentliche Bewusstsein gerufenen Erkenntnisse als ›schwach‹ im Hinblick auf die Argumentationslage zur Akzeptabilität, weil auch dadurch letztlich keine neuen Argumente aufgebracht wurden. Alle Argumente waren in unterschiedlicher Form bereits Teil vorangegangener Debatten. Insbesondere die mögliche Relevanz des ›nicht gewussten Nichtwissens‹ zu erkennen war auch ohne eine Havarie möglich gewesen, und darauf wurde in den Debatten in der Tat auch immer wieder hingewiesen. Wenn man es extrem schwach formulieren wollte, könnte man nun sagen, Fukushima hat ›nur‹ die Wahrnehmung verändert, nicht aber die Argumentationslage. Dies würde aus einer abstrakt philosophischen Sicht wohl zutreffen. Jedoch werden Akzeptabilitätsbeurteilungen und -entscheidungen nicht durch die Philosophie getroffen (s.u.), sondern durch gesellschaftliche Prozesse, entweder informell (z. B. durch Massenmedien) oder formalisiert in demokratischen Entscheidungsprozessen. Für letztere haben die Havarien dann doch eben nicht nur dadurch Bedeutung, dass sich mit ihnen Akzeptanzverhältnisse ändern, sondern weil die oben genannten drei Argumentationstypen in den Havarien eine konkrete Relevanz erhalten, während sie ansonsten bloß abstrakt blieben. Ethische Fragen wie die der Risikobeurteilung der Kernenergie sind nicht bloß abstrakte Argumente in einem handlungsentlasteten Raum, sondern es geht in ihnen immer auch um das »wirkliche Gespräch«.35 Und für dieses haben die Havarien erkennbar argumentative Relevanz, ohne dass sie neue Argumente auf den Tisch bringen, aber weil sie ansonsten bloß abstrakte Argumentationen mit der Relevanz des konkret Möglichen versehen. 35

1986.

Oswald Schwemmer: Ethische Untersuchungen. Rückfragen zu einigen Grundbegriffen, Frankfurt

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Nicht alle Philosophen werden diesem Gedanken folgen wollen. Eine Stärke der Philosophie liegt ja unbestritten auch darin, von den empirisch-kontingenten Gegebenheiten abstrahieren zu können und die Argumente in Reinform analysieren zu können. In einer derart abstrahierten Welt hätten die Havarien keinerlei argumentative Kraft. Insofern Philosophie sich aber nicht auf die Analyse abstrakter Welten beschränken, sondern für die reale Welt Orientierung erbringen will, wird sie anerkennen müssen, dass in einer realen Welt, in der in »wirklichen Gesprächen« Orientierung für das Sollen gesucht wird, auch Havarien argumentative Bedeutung haben – allerdings nur deswegen, weil sie sich nicht allein kontingenten Ereignissen verdanken, sondern die Havarie den Blick auf möglicherweise involvierte und für die Akzeptabilität problematische Aspekte lenkt.

Literatur Alemann, Ulrich/Schatz, Heribert: Mensch und Technik. Grundlage und Perspektiven einer sozialverträglichen Technikgestaltung, Opladen 1986. Arrow, Kenneth D.: Social Choice and Individual Values. London 1963 Bechmann, Gotthard: »Die Beschreibung der Zukunft als Chance oder Risiko?«, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 16(2007)1, S. 24–31. Birnbacher, Dieter: »Utilitarismus«, in: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Technikethik, Stuttgart, S. 153–158. Gethmann, Carl Friedrich: »Ethische Probleme der Verteilungsgerechtigkeit beim Handeln unter Risiko«, in: Anne-Marie Gethmann-Siefert, Carl Friedrich Gethmann (Hg.): Philosophie und Technik, München, S. 61–74. Gethmann Carl Friedrich/Mittelstraß, Jürgen: »Umweltstandards«, in: GAIA 1(1992), S. 16–25. Gethmann, Carl Friedrich/Sander, Torsten: »Rechtfertigungsdiskurse«, in: Armin Grunwald, Stephan Saupe (Hg.): Ethik in der Technikgestaltung. Praktische Relevanz und Legitimation, Berlin 1999, S. 117–151. Gloede, Fritz: »Vom Technikfeind zum gespaltenen Ich. Thesen zur Technikakzeptanz«, in: Klaus Lompe (Hg.): Techniktheorie, Technikforschung, Technikgestaltung. Opladen 1987, S. 233–261. Armin Grunwald: »Akzeptanz und Akzeptabilität«, in: ders. (Hg.): Technik und Politikberatung, Frankfurt 2008, S. 287–301. – Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, Berlin 2010, 2. Aufl. – »Gesellschaftliche Risikokonstellation für Autonomes Fahren. Analyse, Einordnung und Bewertung«, in: Maurer, M., Gerdes, J.C., Lenz, B., Winner, H. (Hg.) Autonomes Fahren. Technische, rechtliche und gesellschaftliche Aspekte. Heidelberg 2015, S. 661–685. Grunwald Armin/Sax, Hartmut (Hg.): Technikbeurteilung der bemannten Raumfahrt. Berlin 1994. Habermas, Jürgen: »Drei normative Modelle der Demokratie: Zum Begriff deliberativer Politik«, in: Herfried Münkler (Hg.): Die Chancen der Freiheit. München 1992, S. 11–124. Jaufmann, Dieter: »Technikakzeptanzforschung«, in: Stephan Bröchler, Georg Simonis, Karsten Sundermann (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung, Berlin 1999, S. 205–226.

Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie

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Jungk, Robert: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, München 1977 Liebert, Wolfgang: »Entwicklung und Einsatz der Atombombe«, in: Armin Grunwald (Hg.): Handbuch Technikethik, Stuttgart, S. 55–61. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 1983. Radkau, Joachim, Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013. Schwemmer, Oswald: Ethische Untersuchungen. Rückfragen zu einigen Grundbegriffen, Frankfurt 1986. Simonis, Georg: »Sozialverträglichkeit«, in: Stephan Bröchler, Georg Simonis, Karsten Sundermann (Hg.): Handbuch Technikfolgenabschätzung, Berlin 1999, S. 105–118. Spaemann, Robert: Nach uns die Kernschmelze, Stuttgart 2011. TATuP – Technikfolgenabschätzung. Theorie und Praxis, Technikakzeptanz als Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Diskussion, Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 14(2005)3.

Ethische Überlegungen zu den neuen Formen der Pränataldiagnostik – mit Blick auf die Geschichte der Eugenik Dieter Birnbacher

1. Die Historizität der Bioethik Philosophische Problemgeschichte ist eine Geschichte historisch verortbarer Problemstellungen. Sie sind zeitgebunden und zeitabhängig. Nicht nur die ›Halbwertszeiten‹ philosophischer Einsichten sind sehr unterschiedlich lang, auch die Fragen, auf die sie die Antworten zu geben versuchen, haben einen Zeitindex. Sokrates’ Fragen nach den Bestimmungsstücken von Tugend- und anderen ethischen Leitbegriffen sind überzeitlicher und haben mehr ›Ewigkeitswert‹ als die Fragen nach den Konkretionen einer stark zeitgebundenen spekulativen Konstruktion wie etwa die Fragen Schellings. Sokrates’ Fragen haben, wenn man so will, eine unbegrenzte Lebensdauer, wie immer begrenzt die seiner Antworten gewesen sein mag. Dagegen sind die Fragen Schellings keine, die heute noch viele bewegen. Die Bioethik kann als paradigmatischer Fall einer historisch verorteten Form von Philosophie gelten. Von allen Bereichen der Philosophie hat die Bioethik am wenigsten den Charakter einer philosophia perennis. Ihre Fragen sind in eklatanter Weise kurzlebig – aus mehreren Gründen. Erstens ist die Bioethik von ihrer Idee her ein Beispiel dafür, was man Problemorientierung nennt: Sie ist primär auf Fragen gerichtet, die sich in der realen Praxis stellen, weniger an Fragen, die sich im Rahmen überlieferter Problembestände der Philosophie stellen. Zweitens stellen sich diese Fragen auf dem Hintergrund historisch variabler Faktoren wie insbesondere kultureller und religiöser Überzeugungssysteme. Viele bioethische Probleme, die sich etwa innerhalb der katholischen Moraltheologie stellen, sind nur für denjenigen als Probleme erkennbar, der grundlegende Prämissen der katholischen Moraltheologie teilt. Für einen Außenstehenden, der sich an diese Tradition nicht gebunden fühlt, muten diese Fragestellungen teilweise befremdlich an. Er fühlt sich etwa bei der Kontroverse um den ›Stichtag‹ im Zusammenhang mit der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen an Tristram Shandy erinnert und an die in diesem Roman breit entfaltete scholastische Debatte, ob ein Fötus bei Lebensgefahr in utero getauft werden muss, um in den Himmel zu kommen. Wer von vornherein die Prämisse nicht teilt, dass bereits der befruchteten Eizelle ein substanzielles Lebensrecht zukommt, wird darüber, dass diese Frage nicht nur in Priesterseminaren, sondern sogar im Bundestag verhandelt worden ist, nur staunen können. Entsprechend wird er erstaunt sein über die in Israel übliche Praxis, Automaten zum Behandlungsabbruch bei Schwerkranken am Lebensende einzusetzen, die sich nach einer vorprogrammierten Zeitspanne selbst abstellen, um den Anschein einer aktiven Sterbehilfe zu vermeiden. In diesem letzteren Fall führt die Loyalität gegenüber einer religiösen Doktrin sogar zu einem genuinen sacrifi-

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cium intellectus. Denn natürlich ist die Programmierung eines Beatmungsgeräts in der Weise, dass dieses sich zu einem bestimmten Zeitpunkt selbsttätig abstellt, ganz ebenso ein aktives und darüber hinaus vorsätzliches Tun wie es das Abstellen der Maschine zum gegebenen Zeitpunkt wäre. Lediglich die – Kausalität nahelegende – enge zeitliche Abfolge von Handeln und Todeseintritt ist umgangen, nicht die Kausalität selbst. Zu den historisch wechselnden Hintergrundfaktoren, von denen bioethische Fragen und Antworten bestimmt sind, gehören u. a. auch die wechselnden nationalen und ständischen Ethostraditionen. Im Bereich der Sterbehilfe hat das zu der eigentümlichen Lage geführt, dass in benachbarten und kulturell weitgehend homogenen Ländern wie Deutschland, der Schweiz und den Benelux-Ländern weit auseinandergehende normative Voraussetzungen die Diskussion bestimmen. Nationale Ethostraditionen spiegeln dabei des Öfteren nationale Ethiktraditionen. So ist etwa die Diskussion in Großbritannien um die ›gerechte‹ Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen deutlich stärker als in Deutschland durch utilitaristische Prämissen bestimmt, während hier kantisch-menschenrechtliche Ansätze vorherrschen. Die Frage, welche bioethischen Diskussionen überhaupt geführt werden, hängt darüber hinaus vom Entwicklungsstand des jeweiligen Medizinsystems ab. So vollziehen die Länder des früheren Ostblocks mit dem Aufbau von ökonomisch anspruchsvollen Behandlungsformen wie Dialyse oder Organtransplantation auch in der Bioethik einen Prozess des ›Aufholens‹: Viele der Probleme sind dort hochaktuell, die im technisch und ökonomisch avancierteren Westen als bereits ›abgehakt‹ gelten. Ein Zeitindex kommt der Bioethik aber vor allem aufgrund der sich beschleunigenden Entwicklung und der begrenzten Prognostizierbarkeit der technischen Möglichkeiten der Medizin zu. Der technische Fortschritt hat in der Medizin stärker als in anderen Anwendungsbereichen seine Überraschungsqualität bewahrt und eröffnet nur in engen Grenzen der Bioethik eine proaktive Rolle. Eine Ausnahme stellt das humane Klonen dar, das lange vor seiner technischen Realisierbarkeit Gegenstand vorwegnehmender ethischer Problematisierungen (wie auch der Gesetzgebung) war; dies war erklärbar durch die mediale Präsenz gerade dieses spektakulären Verfahrens in der Science Fiction. Einer der ersten Beiträge zu den ethischen und rechtlichen Aspekten der Humanklonierung stammt von 1979 (Kliemt 1979). Andere Entwicklungen gehen ihrer bioethischen Aufarbeitung um eine beträchtliche Zeitspanne voran, etwa die im letzten Jahr medial kurzfristig entfachte Kontroverse um das Anlegen einer Fertilitätsreserve aus nicht-medizinischen Gründen (›Social Freezing‹), zu der sich zumindest in der deutschsprachigen Bioethik nur sehr wenige Beiträge finden. Die enorme Geschwindigkeit des technischen Fortschritts in der Medizin erklärt darüber hinaus auch die eher geringe ›Lebensdauer‹ bioethischer Argumentationen und Positionierungen: Die faktische Entwicklung ›überholt‹ einmal vorgenommene Wertungen (die dann in der Tat als ›überholt‹ erscheinen), indem sie diese mit Verfahrensweisen konfrontiert, an die die Bioethiker bei der Formulierung ihrer zu ihrer Zeit wohlbegründet erscheinenden Aussagen nicht gedacht haben, auf deren Hintergrund diese aber revisionsbedürftig werden. Ein Beispiel ist die Relativierung des bioethischen Verdikts über die Keimbahnintervention durch IVONT (in vitro ovum nuclear transplantation), der Trans-

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plantation des Zellkerns der Eizelle in die Eizelle einer Frau mit dem Risiko der Weitergabe einer über die mitochondriale DNA vererbten genetischen Erkrankung. Die mütterliche mitochondriale DNA wird ausgetauscht, so dass das Kind einen kleinen, nämlich den die genetische Erkrankung auslösenden Teil seines Genoms nicht von seinen Eltern, sondern von einer fremden Eispenderin erhält. Diese Methode war zu dem Zeitpunkt, zu dem in vielen Ländern die Keimbahnintervention verboten wurde, noch nicht bekannt. Im nachhinein erwies sich das in der Bioethik vorherrschende Verdikt über die Keimbahnintervention als zu grobkörnig: Da die Korrektur des an die Nachkommen weitergegebenen Genoms in diesem Fall nicht auf gentechnische, sondern auf reproduktionsmedizinische Mittel zurückgreift, liegt zwar eine Intervention in die Keimbahn vor, es entfallen aber die für eine Intervention in das Genom des Zellkerns spezifischen und gravierenden Risiken einer möglicherweise vererbbaren und irreversiblen genetischen Schädigung. Diese Beispiele könnten nahelegen, dass die Kausalität zwischen Biomedizin und Bioethik ausschließlich in einer Richtung verläuft, nämlich von der ersteren zu letzterer. Dies ist jedoch nicht durchweg der Fall. Gelegentlich verläuft sie auch in umgekehrter Richtung, vor allem dann, wenn technische Lösungen gesucht werden, mit denen bestimmte ethische Probleme umgangen werden können. Ein Beispiel ist das Verfahren des ANT (altered nuclear transfer) in der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen. Bei diesem Verfahren werden die Gameten, bzw. einer der beteiligten Gameten so manipuliert, dass der aus ihrer Vereinigung resultierende Embryo seine Entwicklungsfähigkeit einbüßt und – auf dem Hintergrund der (auch in Deutschland geltenden) Begründung der Schutzwürdigkeit des menschlichen Embryos aufgrund seines Potenzials (und nicht seiner Spezieszugehörigkeit) – zu Forschungs- und therapeutischen Zwecken verwendet werden kann. Da der Embryo von vornherein nicht mehr entwicklungsfähig ist (wenn auch nur in Folge eines technischen Eingriffs) verliert er seine Schutzwürdigkeit und steht für Zwecke, die nicht seiner Entwicklung dienen, zur Verfügung.

2. Eine aktuelle Problematik: NIPD Die nicht-invasive pränatale Diagnostik (NIPD) ist ein Beispiel dafür, wie weit die aktuelle Bioethik zumindest ein Stück weit ihrer eigenen Geschichte verpflichtet ist und insofern einer ›Pfadabhängigkeit‹ unterliegt. Mit der NIPD werden sich in den nächsten Jahren die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik beträchtlich erweitern, in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Mit der Methode der Pränataldiagnostik ›aus dem mütterlichen Blut‹ werden mehr Krankheiten, Leiden, Behinderungen bzw. die entsprechenden Dispositionen als heute vorgeburtlich diagnostizierbar; und die Diagnostik wird sich in mehreren Hinsichten qualitativ verbessern. Sie wird valider sein und sie wird ohne viele der heute mit der Pränataldiagnostik verbundene Risiken und Belastungen auskommen. Vor allem wird sie in einem so frühen Stadium der Schwangerschaft angewendet werden können, dass die psychischen Belastungen der Schwangeren durch einen auf einen positiven Befund möglicherweise folgenden Abbruch der Schwangerschaft erheblich geringer sein werden als bei den heute verfügbaren Verfahren.

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Seit 2012 ist der erste genetische Test zur Bestimmung der Trisomie 21 aus dem Blut der Schwangeren in Deutschland auf dem Markt. Er kommt zwischen der 12. und 14. Schwangerschaftswoche zur Anwendung und basiert auf der Identifikation und der Analyse kindlicher Chromosomenfragmente im Blut der Mutter. Es wird erwartet, dass dieser Test in Zukunft stark nachgefragt werden wird, vor allem auf dem Hintergrund des wahrscheinlich weiteren Anstiegs des Erstgebärendenalters. Das Verfahren ist valider als die bisherigen – sehr viel später ansetzenden – Tests, und es hat den Vorteil, für die Schwangere und den Fötus risikolos zu sein, während man bei den bisherigen Verfahren mit einem Risiko des Abbruchs der Schwangerschaft durch die Diagnostik von 1% rechnen musste. In der deutschsprachigen Bioethik trifft diese Entwicklung verbreitet auf Vorbehalte. So wünschenswert die Verbesserungen der Treffsicherheit der Pränataldiagnostik scheinen, so bedenklicher erscheint die Perspektive eines stark erweiterten Spielraums für selektive Entscheidungen über die eigenen Nachkommen, einer ›Eugenik von unten‹. Dabei ist vor allem ausschlaggebend, dass dieses Verfahren mit verhältnismäßig unaufwendigen Mitteln Selektionen nicht nur in negativ-eugenischer, sondern auch in positiv-eugenischer Hinsicht eröffnen könnte, d. h. eine Auswahl von Nachkommen mit bestimmten erwünschten Eigenschaften. Dass sich die bioethische Diskussion bei der Erweiterung der Möglichkeiten einer Nachkommensselektion primär auf die dadurch neu geschaffenen Risiken statt auf die Vorteile richtet, scheint dabei u. a. dadurch bedingt, dass nicht nur der Begriff ›Selektion‹ negativ konnotiert ist, insofern er an Programme einer wie immer gearteten staatlich angestrebten und durchgesetzten biologischen ›Verbesserung‹ des Menschen erinnert, an Eugenik, ›Rassenhygiene‹ und Menschenzüchtungsversuche, sondern dass auch die Sache selbst und dabei vor allem die Rolle der Medizin bedenklich erscheint. Die Befürchtung scheint nicht ganz ohne Berechtigung, dass die Medizin u. a. durch die neuen Möglichkeiten zunehmend zu einem lukrativen Dienstleistungsunternehmen zur Wunscherfüllung wird und sich immer weniger ihrer angestammten Aufgaben erinnert. Statt Leben zu erhalten, wird die Medizin zum gate-keeper zweckentfremdet, der das Tor des Lebens für die einen öffnet, für die anderen verschließt. Darüber hinaus ist sowohl der Ausdruck ›Selektion‹ als auch die Sache historisch belastet: der Ausdruck durch die Erinnerung an Auschwitz, die Sache durch die Züchtungsprogramme der NS-Ideologie.

3. Historische Erfahrung als Quelle normativer Beurteilungen Historische Erfahrungen übernehmen sowohl in der Bioethik als auch in der Alltagsbewertung innovativer medizinischer Verfahren eine wichtige Rolle, einerseits als Quelle von Wert- und Normüberzeugungen, andererseits als Erfahrungsgrundlagen für Folgenabschätzungen im Rahmen konsequenzialistisch angelegter Beurteilungen. Nicht nur individuelle, auch kollektive moralische Erfahrungen fungieren als Quelle von Wert- und Normüberzeugungen. In beiden Fällen lassen sich moralische Erfahrungen dadurch charakterisieren, dass sie 1. mit starken positiven oder negativ getönten

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Emotionen einhergehen und 2. moralische Überzeugungen, Einstellungen und Handlungsbereitschaften nachhaltig verändern bzw. verstärken (vgl. Mieth 2006). Innerhalb der Ästhetik sind analoge Erfahrungen am umfassendsten von John Dewey beschrieben worden (Dewey 1988, Düwell 1999), in der Naturethik im Zusammenhang mit den so genannten transformative values von Bryan Norton (Norton 1987). Jedes Mal wirkt die Erfahrung ›transformativ‹, indem sie einen Wertwandel und eine Neuorientierung im Denken, Fühlen und Handeln herbeiführt. Moralische Erfahrungen sind hauptsächlich bei Individuen beschrieben worden, etwa als charakterprägende ›Bildungserlebnisse‹. Aber es erscheint gut motiviert, auch kollektive Erfahrungen als Grundlage von Prozessen des Wert- und Normwandels zu betrachten. Viel spricht z. B. dafür, dass die Kodifizierung der Menschenrechte in Gestalt der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 u. a. bedingt war durch die kollektiven Dehumanisierungserfahrungen im 2. Weltkrieg und in den daran beteiligten totalitären Systemen, vor allem dem NS-Staat. Zu vermuten ist, dass die Vorbehalte gegen eine Selektion von Nachkommen u. a durch die kollektiven Erfahrung mit der Eugenikbewegung bedingt sind. Die Eugenikbewegung erreichte in der NS-Ideologie gewissermaßen ihren Kulminationspunkt, und die Distanzierung von dieser Ideologie war von Anfang konstitutiv für die Identität der Bundesrepublik. Zwar verfolgten viele Exponenten der Eugenikbewegung primär soziale Motive. Aber bereits bei ihrem Begründer Galton war die Eugenik eng verknüpft mit ausgeprägt rassistischen und nationalistischen Vorstellungen. Erklärbar werden die Vorbehalte gegen eine Nachkommensselektion auf genetischer Grundlage auch aus ihrer assoziativen Verknüpfung mit totalitaristischen Staats- und Gesellschaftssystemen. Eine ›Qualitätskontrolle‹ trägt auch dann, wenn sie nicht ›von oben‹, sondern aufgrund der Präferenzen der jeweils individuellen Eltern vorgenommen wird, unweigerlich Züge des Totalitären, einerseits durch die Totalität der Bemächtigung des natürlichen Zufallsgeschehens durch normative Vorgaben, andererseits durch den inhärent inegalitären Charakter des Ausleseverfahrens. Historische Erfahrungen gehen zweitens als Folgenerfahrungen in bioethische Einschätzungen ein, etwa bei der Abschätzung des Risikos eines ›Dammbruchs‹ oder einer ›schiefen Ebene‹. Folgenerfahrungen sind in der Bioethik um so wichtiger geworden, als sich in den letzten Jahren ein Trend zur Umkehr der Argumentionsformen auf Seiten der Befürworter und Gegner umstrittener biomedizinischer Innovationen abzeichnet. Die Befürworter argumentieren zunehmend mit deontologischen Prinzipien wie Freiheitsund Selbstbestimmungsrechten, die Gegner und Skeptiker zunehmend mit konsequenzialistischen Überlegungen. Während die Befürworter von in Deutschland umstrittenen Methoden der Reproduktionsmedizin wie Eizellenspende oder Leihmutterschaft mit dem deontologischen Prinzip der reproduktiven Freiheit argumentieren, bedienen sich die Gegner hauptsächlich folgenorientierter Argumente wie dem Risiko einer Ausbeutung wirtschaftlich schlechtgestellter Frauen, die versucht sein könnten, sich mit entsprechenden Angeboten ein Zubrot zu verdienen. Ähnliches gilt für die neuen Selektionsmöglichkeiten. Befürworter argumentieren im Wesentlichen mit dem Recht, die verfügbaren Verfahren auf dem neuesten Stand nutzen zu können, während die Gegner und Skeptiker auf das mögliche Umsichgreifen einer ›Selektionsmentalität‹ in Bezug auf den eigenen

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Nachwuchs verweisen, die eine bedingungslose Bereitschaft, die eigenen Kinder wertzuschätzen und verlässlich für sie sorgen, nicht mehr zulasse. Was die Skeptiker betrifft, ist allerdings vielfach nicht klar, ob sich hinter einigen Risikoargumenten nicht letztlich doch deontologische Prinzipien verbergen. Viele in der öffentlichen Debatte um die Reproduktionsmedizin vorgetragene Risiko- und Dammbruchargumente scheinen zu wenig plausibel, um nicht den Gedanken nahezulegen, dass sie eher als (allerdings missverständliche) Ausdrucksformen kategorischer Ablehnungshaltungen verstanden werden müssen. So war etwa das Argument der Gegner der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik von vornherein zweifelhaft, nach dem es durch dieses Verfahren in unserer Gesellschaft zu einem allgemeinen Verfall des Lebensschutzes kommen könnte, etwa in Form einer Zwangseuthanasie bei pflegebedürftigen Alten. Ähnliche Befürchtungen wurden bereits in der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch vorgetragen. In den meisten Fällen dürften hinter derartigen Argumenten kategorische deontologische Positionen stehen. Eine Konsequenz der zunehmenden Dominanz konsequenzialistischer Argumente ist die zunehmende Bedeutung empirisch begründeter Folgenabschätzungen. Während deontologische moralische Normen zu ihrer Anwendung lediglich in einem semantischen Sinn interpretationsbedürftig sind, bedürfen konsequenzialistische Normen sowohl einer semantischen als auch einer empirischen Interpretation. Sobald die Bedeutung eines deontologischen Prinzips feststeht, steht auch fest, wie sie in Situationen, auf die es zutrifft, anzuwenden ist. Bei einem konsequenzialistischen Prinzip muss die Anwendung zusätzlich auf empirisch begründete Abschätzungen zurückgreifen, insbesondere auf Abschätzungen der Chancen, die von dem Prinzip formulierten Ziele unter den gegebenen Umständen zu realisieren. Ich meine, dass beide Formen historischer Argumente beachtlich sind und in der Argumentation ernst genommen werden müssen. Die durch individuelle und kollektive historische Erfahrung geschärften Sensibilitäten gegen Unrecht und Normwidrigkeiten sind zu respektieren. Und ebenso selbstverständlich sollte sein, historische Erfahrungen bei der Folgenabschätzung umstrittener Verfahren zu berücksichtigen. Beide Arten von Erfahrung sind wichtig angesichts des unverkennbaren Vorherrschens pragmatischer Beurteilungstendenzen in der Medizin mit ihrer primären Orientierung an den Bedürfnissen der Patienten bzw. Ratsuchenden. Auf der anderen Seite dürfen historische Erfahrungen aber auch nicht zu Tabuierungshaltungen führen, die den historischen Kontext, in dem die jeweils prägenden Erfahrungen gemacht worden sind, vernachlässigt und diese mit einer verfehlten ›Ewigkeitsgarantie‹ ausstattet – so als könnten einmal gemachte Erfahrungen nicht auch durch neue Erfahrungen korrigiert werden. Die Einsicht in die historische Bedingtheit der moralischen Sensibilitäten legt vielmehr nahe, unsere moralischen Vorstellungen nicht vorschnell für zukünftige Generationen zum Dogma zu machen und damit neue Erfahrungen abzuschneiden. Jede Gesellschaft und jede Generation sollte das Recht haben, ihre moralischen Grundpositionen aufgrund ihrer eigenen Erfahrung neu zu definieren – ohne Geschichtsvergessenheit, aber auch ohne Geschichtsfixierung.

Ethische Überlegungen zu den neuen Formen der Pränataldiagnostik

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4. Noch einmal NIPD Ich schließe mit einer ethischen Einschätzung der NIPD – einer höchstpersönlichen, weil aus einer Perspektive vorgenommen, die Schutzwürdigkeit und Lebensrecht des frühen ungeborenen menschlichen Lebens graduell nach dem Entwicklungsstadium abstuft. Auf diesem Hintergrund fällt meine Bewertung überwiegend positiv aus: Durch die Nichtinvasivität der Diagnostik werden die Belastungen und die Risiken für die Schwangere sowie das Risiko für die Schwangerschaft erheblich gemindert, auch wenn bei positivem Befund weiterhin das konventionelle Verfahren unverzichtbar ist. Vor allem wird aufgrund des frühen Zeitpunkts der Diagnostik die psychische Belastung für die Beteiligten gemindert, einesteils durch die frühzeitige Beruhigung der Eltern hinsichtlich befürchteter schwerwiegender genetisch bedingter Belastungen des Kinds, andererseits, bei einem Abbruch der Schwangerschaft, durch die zeitliche Vorverlagerung des Abbruchs, der angesichts der geringer ausgeprägten Bindung an das entstehende Kind besser zu verkraften ist. Eine frühzeitig vorgenommene Pränataldiagnostik erlaubt es den Eltern, bei einer therapierbaren genetisch bedingten Erkrankung des Kinds eventuell verfügbare Chancen einer pränatalen Therapie wahrzunehmen, bei einer nicht therapierbaren Erkrankung oder einem nicht behebbaren Krankheitsrisiko von Anfang an optimale Bedingungen für die Versorgung des kranken oder mit einem Krankheitsrisiko behafteten Kindes herzustellen bzw. sich innerlich auf die Geburt eines kranken Kinds einzustellen. Die Erweiterung der Möglichkeiten, sich durch den Ausschluss schwerer genetisch bedingter Anomalien Belastungen zu ersparen, die möglicherweise das gesamte weitere Leben prägen, muss nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich als ein hohes Gut gesehen werden. Zur reproduktiven Freiheit gehört nicht nur die Freiheit, über das Ob, Wann und Wie des Nachwuchses selbst zu bestimmen, sondern auch die Freiheit, bestimmte dadurch bedingte schwere Belastungen auszuschließen, in Kauf zu nehmen oder zu akzeptieren. Schon die prinzipielle Verfügbarkeit der Möglichkeit einer frühen Auswahl ist ein gesellschaftlich hohes Gut, auch für diejenigen, die nicht in die Situation geraten, davon Gebrauch zu machen. Freilich gilt diese Einschätzung nur bei einem vorausgesetzten Gradualismus der Schützwürdigkeit des Embryos oder Fötus. Aus einer absolutistischen Sicht, nach der das Entwicklungsstadium des Fötus für einen Abbruch ethisch ohne Bedeutung ist, muss die Verfügbarkeit der NIPD das ethische Problem des Abbruchs zwangsläufig verschärfen.

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Literatur Dewey, John: Kunst als Erfahrung. Frankfurt/M. 1988. Düwell, Marcus: Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen für die Handlungsspielräume des Menschen. Freiburg/München 1999. Kliemt, Hartmut: »Normative Probleme der künstlichen Geschlechtsbestimmung und des ›Klonens‹«, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 7/1979, S. 165–169. Mieth, Dietmar: »Erfahrung«, in: Marcus Düwell (Hg.): Handbuch Ethik. 2. Auflage. Stuttgart 2006, S. 342–347. Norton, Bryan: Why preserve natural variety? Princeton NJ 1987.

Historische Innovation, kulturelle Transformationen und historische Erfahrungen am Beispiel der ›subjektiven Freiheit‹ ›im europäischen Sinne‹ Erzsébet Rózsa (Debrecen/Münster)

»Diese subjektive oder moralische Freiheit ist es vornehmlich, welche im europäischen Sinne Freiheit heißt. Vermöge des Rechts derselben muß der Mensch eine Kenntnis vom Unterschiede des Guten und Bösen überhaupt eigens besitzen; die sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn machen, vom ihm befolgt zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung, Anerkennung oder selbst Begründung haben.«1

Auftakt Im Folgenden wird, so wie es auch durch Hegels Gedanken nahegelegt wird, nicht nach der theoretischen Begründung von moralischen Handlungen gefragt. Nicht Rortys Überlegungen motivieren mich dabei, der die theoretische Begründung von Praktiken überhaupt als veraltet ansieht.2 Mir geht es vielmehr um die Einsicht, dass die Frage nach der theoretischen Begründung von normativen Handlungen – aus der Perspektive einer Wissenschaftlerin wie mir, die biographisch, historisch, teils auch kulturell-wissenschaftlich mit einem ehemaligen Ostblockland eng und tief verbunden ist – zunächst ein ›Luxusproblem‹ ist: Wir sind noch nicht so weit. Was das bedeuten soll, wird im Vortrag erläutert werden. Hier nur einige kurze Vorbemerkungen dazu: 1. Es geht mir nur teilweise darum, dass die theoretische Begründung von moralischen Handlungen und der Normativität von Praktiken überhaupt ihre Ansprüche nicht erfüllen kann, worauf auch Hegel im Zitat verweist. 2. Vielmehr geht es um historisch und strukturell tief wurzelnde Besonderheiten der im Osten Europas mehrfach gebrochenen Modernisierung, die die ›große‹ historische Innovation des Westens Europas war. 3. Es stellt sich die Frage, ob das mehrfache Brechen des ›Projekts der Moderne‹ im Osten Europas ausschließlich als Scheitern und Verlust zu verstehen ist, das dort dann zur Deformation der Leitdee der historischen Innovation der Freiheit als Leitmotiv der Modernisierung führte? Oder handelt es sich darüber hinaus auch um etwas anderes, um etwas Positives, das – mindestens in der heutigen Form – nicht oder nicht ganz zum Kompetenzbereich der Europäischen Union gehört, 1 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), III. Teil: Die Philosophie des Geistes, in: ders.: Werke, Bd. 10, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel, Frankfurt/M. 1970, § 503 Anm., S. 312–313 (Hervorhebung im letzten Satz von mir, E.R.). 2 Richard Rorty: »Menschenrechte, Rationalität und Gefühl«, in: Stephen Shute/Susan Hurley (Hg.): Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996, S. 144–170, hier: S. 149.

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dem man sich aber u. a. mit dem Instrumentarium der praktischen Philosophie annähern könnte? Es bietet sich eine philosophisch attraktive Art der Reflexion an, die nicht dem »theoretischen Design«,3 sondern einer plausiblen Klärung von historischen Innovationen und ihren kulturellen Transformationen4 den Vorrang gibt. Diese Art der Reflexion wird im Folgenden für die Erläuterung der Problematik der historischen Innovationen des Ideals der Freiheit5 und seiner kulturellen Transformationen verwendet. Und zwar im Vergleich der primär westeuropäischen historischen Innovation des Ideals der Freiheit als leitenden Norm der Modernisierung mit ihrer zeitlich mehrfach verschobenen kulturellen Transformation im Osten Europas. Keine Frage: Es gibt historisch eine klare Trennung in dieser Innovation und vor allem in ihrer Transformation bzw. auch eine damit zusammenhängende ›Zeitverschiebung‹ (oder ›verspätete Modernisierung‹ als übliche Redeweise) zwischen den zwei großen Regionen Europas. (Die übrigen, aus anderen Gründen vergleichbaren Regionen Europas werden hier nicht untersucht.) Das bringt erhebliche Schwierigkeiten auch für das heutige Europa mit sich, deren Lösung man in erster Linie nicht von der Europäischen Union erwarten kann. Eine gewünschte oder zumindest annehmbare Lösung sollte sich nämlich auf die uns bindenden, gemeinsamen Elemente des ›Projekts der Moderne‹ fokussieren, so auf dessen mehr oder weniger universelle Normen, zugleich auf die politisch-geschichtliche Doppelung als eine positive, affektiv intensiv motivierende Umformulierung der Trennung.6 Das Bedeutungspotential der Umformulierung bzw. ihrer Konnotation, dass der Universalismus der historischen Innovation der Freiheit in der Form der Doppelung des gemeinsamen Projekts die Vielfalt der europäischen Kulturen ab ovo nicht ausschließt, bietet einen unübersehbaren theoretischen und praktischen Gewinn. Dazu kommt noch: Mit dem Ausdruck bzw. der Konnotation der Doppelung, abweichend von der Trennung oder dem Verspätet-Sein, werden bindende und nicht (nur) trennende Elemente akzentuiert. Zu einer solchen Annäherung gibt das Ideal der »subjektiven Freiheit im europäischen Sinne« (Hegel) einen umfassenden, universell-normativen Interpretationshorizont an, in dem positiv-intensiv motivierende Konnotationen der vorliegenden Doppelung aufzuzeigen und plausibel zu deuten sind.7 Michael Quante: Pragmatistische Anthropologie, Manuskript. Hans Joas: Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 18: Sakralisierung heißt »subjektive Evidenz und affektive Intensität«. 5 Zur Erhellung der Natur von Idealen soll an Joas’ Überlegung erinnert werden: »Diese Ideale werden nicht gewählt oder beschlossen. Für sie ist vielmehr […] ein Gefühl der subjektiven Evidenz bei affektiver Intensität typisch. Nicht Begründungen sind bei intensiven Wertbindungen konstitutiv, sondern Erfahrungen.« Joas, Sakralität, S. 163. 6 Das Positive bzw. die positive Motivierung ist mit dem Enthusiasmus und mit »enthusiasmierenden Erfahrungen« nicht identisch. Das letztere hat Joas im Anschluss an Rorty in den Mittelpunkt gestellt. Vgl. Joas: Sakralität, S. 108. – Das Positive ist hier nicht nur affektiv oder normativ zu verstehen, sondern als eine Dimension der menschlichen Existenz. Hegel hat es als das Affirmative im Gegensatz zum Negativen gekennzeichnet. 7 Im Ideal der subjektiven Freiheit im europäischen Sinne ist ein umfassender, universell-normativer Horizont angegeben, in dem man für eine plausible Klärung von historischer Innovation und kultureller 3 4

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Die Fragestellung des Vortrages ist konzentriert auf die Merkmale der kulturellen Transformation des universell-normativen Leitideals der angesprochenen historischen Innovation. Es wird untersucht, 1. welche grundlegenden Kennzeichen die kulturellen Transformationen dieses Ideals im Westen Europas aufzeigen (dazu wird Hegels Modell in Anspruch genommen) und 2. welche vom Westen wesentlich abweichenden Züge die osteuropäischen Transformationen dieser Innovation auszeichnen, die zugleich als Spezifika dieser Region auszulegen sind? Die theoretischen Mittel einer plausiblen Klärung signalisieren zunächst die im Titel angegebenen Begriffe8 bzw. ihre Konstellation. Die skizzierte Problematik wird in drei Schritten erörtert. Erstens wird die entsprechende Bedeutung der zu verwendenden Begrifflichkeit erläutert. Zweitens wird am Leitideal der historischen Innovation der Moderne, an der »Freiheit im europäischen Sinne« aufgezeigt, dass historische Innovation und kulturelle Transformation nicht nur in einer ›historisch orientierten soziologischen‹ Rekonstruktion etwa der Genealogie der Menschenrechte einer Plausibilisierung und angemessenen Darstellung zugeführt werden können, was Hans Joas ins Zentrum stellt.9 Auch die Problematik der historischen Innovation des Ideals der subjektiven Freiheit ist geeignet, mit dem Instrumentarium der praktischen Philosophie angemessen erörtert zu werden. In diesem Zusammenhang wird die Wiederholung als erläuternder Aspekt der Doppelung der historischen Innovation und kulturellen Transformation des Ideals der Freiheit skizziert.10 Im dritten Schritt werden einige spezifische Züge der historischen Innovation und kulturellen Transformation im Osten Europas erörtert. In dieser Region ist eine besondere Art von historischen Erfahrungen zu erkennen, die im Vergleich nicht nur mit dem Westen, sondern auch innerhalb der ehemaligen Ostblockländer wichtige Spezifika der einzelnen Länder aufweist. Das spricht nicht für die formell-abstrakte Universalisierung der vorliegenden Innovation, sondern vielmehr für die jeweils soziokulturell, sprachlich, emotionell usw. geprägten Spezifika als partikulare Transformation.11 Deren Transformation auch der von Joas hervorgehobenen Menschenrechte ein weiteres Potential finden kann. Die Entwicklung und der Erfolg der kulturellen Transformation von Menschenrechten sind durch die Einbeziehung dieser Idee der Freiheit im europäischen Sinne plausibler zu machen. 8 Diese Begriffe habe ich von Joas entliehen, aber nicht im historisch-soziologischen Sinne verwendet. Sie erhalten andere, dem Thema angemessene Bedeutungen in der folgenden Ausführung. 9 Vgl. Joas: Sakralität, S. 12–63. 10 Von Michael Walzer habe ich den Terminus »Wiederholung« übernommen, aber in einem anderen Sinne verwendet. Er stellt das Konzept des »wiederholenden Universalismus« auf, den er von dem umfassenden Universalismus unterscheidet. Durch den wiederholenden Universalismus versucht er, die Attraktivität des moralischen Partikularismus zu verstehen. Vgl. Michael Walzer: Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996, S. 140–142. – Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Pluralität, die »den Menschen gemeinsam ist« und die eine »schöpferische Kraft« ist. Es ist »nicht die Kraft, dasselbe auf gleiche Weise zu tun, sondern die Kraft, viele verschiedene Dinge auf verschiedene Weise zu tun.« Ebd., S. 149. – Diese kulturanthropologische Überlegung ist für die vorliegende Umdeutung und Ausweitung des Ausdrucks der Wiederholung von besonderer Bedeutung. 11 Partikularismus ist ein Begriff, der nicht ab ovo zu verwerfende Bedeutung hat. Die Unterscheidung zwischen partikular und partikularistisch ist entscheidend, worauf Joas verweist: Partikular bedeutet eben nicht partikularistisch. Vgl. Joas: Sakralität, S. 159.

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Umdeutung etwa in der häufig anzutreffenden Form von nationalistisch-partikularistischen Bestrebungen würde den Osten endgültig in die Peripherie der großen historischen Innovation Europas schieben – einer Innovation, die mittlerweile ihre Reichweite nicht nur bewahrt, sondern auch räumlich wesentlich ausgedehnt hat. Nationale Identität als partikulare Kennzeichnung würde dagegen eine annehmbare Formulierung des je konkreten Umfeldes für die jeweils spezifische kulturelle Transformation der gemeinsamen historischen Innovation innerhalb Europas anbieten. Diese Unterscheidung zwischen partikular und partikularistisch scheint mindestens in dem heutigen politischen, sozialen und kulturellen Zustand Europas verwendbar zu sein. Ob die (nationale oder andersartige) Partikularität der kulturellen Transformationen von historischen Ideen wie Freiheit zu überwinden ist und inwieweit, wann und wie dies geschehen könnte, sind noch offene Fragen, über welche nicht nur Politiker Entscheidungen treffen oder sich darüber so oder anders äußern, sondern über die die Bürger Europas mitdiskutieren sollten. Das setzt die Stärkung der Zivilgesellschaft im Osten Europas voraus, die aber ein langwieriger Prozess sein kann bzw. wird. Darum ist es alles andere als egal, wie die Spezifika dieser Region erkannt, geklärt und anerkannt werden.12 Eine Möglichkeit ist, dass man in den Abweichungen nicht nur Verluste und Defizite sieht, sondern auch Eigentümlichkeiten und Chancen. In diesem Sinne ist die Spezifizierung13 ein angemessenes Verfahren für die Klärung der Abweichungen und Eigentümlichkeiten. Sie sind als Besonderungen und Besonderheiten zu beschreiben.14 Dieses Verfahren ermöglicht, die geschichtlich mehrfach gebrochene Transformation der großen historischen Innovation Europas nicht nur als defizitäres Geschehnis, sondern auch als Besonderheit und Spezifikum der osteuropäischen Region im Vergleich mit dem

12 Zur Unterscheidung zwischen der universellen und der partikularen Sichtweise vgl. die Überlegungen von Michael Walzer: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990, S. 13–15. 13 Walzer ist der Meinung, dass moralisches Argumentieren am besten nach der Art der Interpretation verstanden werden kann. Vorausgesetzt, dass wir annehmen: Alle unsere moralischen Kategorien sind von der existierenden Moral geformt und in ihrem Vokabular formuliert. Vgl. Walzer: Kritik und Gemeinsinn, S. 30. – In diesem Zusammenhang redet er über die Spezifizierung als angemessene Zugangsweise. Er stellt fest: »während eine Ableitung ein einzig richtiges Verständnis von Moral und Recht hervorbringen würde, sind die Spezifizierungen, Ausarbeitungen und Varianten notwendigerweise vielfältiger Natur.« Ebd., S. 35 (Meine Hervorhebung, E.R.). – Auch Joas betont den Abschied von der rationalen Letztbegründung. Sein Vorschlag ist die Verbindung von Genesis und Geltung. »Dann kann nämlich die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung von Werten selbst so angelegt werden, daß sich in ihr Erzählung und Begründung in spezifischer Weise verschränken.« Joas: Sakralität, S. 14. 14 Die Spezifizierung hat Hegel in seiner Denkfigur der Besonderung bzw. Besonderheit ausgearbeitet, die auch für die vorliegende Thematik eine angemessene Zugangsweise darstellt. Abweichend von Walzers Stellungnahme, in der die Spezifika der Spezifizierung durch die synonyme Bedeutung von Spezifizierung, Ausarbeitung und Varianten bestimmt wird. Abweichend auch von Joas’ Deutung, der die Spezifikation mit der Erzählung und der Kontingenz verknüpft. Daraus ergibt sich eine Verengung des Inhalts und der Reichweite der Spezifikation, die sie in Hegels Konzept hat. Darum ist dieses Konzept für den Zugang zu den hier thematisierten Problemen angemessen. Vgl. Erzsébet Rózsa: »Besonderheit, ›besondere Existenz‹ und das Problem der praktischen Individualität beim Berliner Hegel«, in: dies.: Hegels Konzeption praktischer Individualität. Von der »Phänomenologie des Geistes« zum enzyklopädischen System, hg. v. Kristina Engelhard u. Michael Quante, Paderborn 2007, S. 121–181.

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Westen aufzufassen und – aus der zumindest idealtypisch gemeinsamen Perspektive der Moderne – zu klären. Die Verbindung der Spezifizierung mit der oben angesprochenen Begrifflichkeit bietet einen nur schwer gangbaren Pfad für philosophische Annäherungen, die auf eine plausible Klärung abzielen. Aus dem Gesagten folgt auch, dass die gegenwärtige Transformation der vorliegenden historischen Innovation im Osten keine bloße Nachahmung sein kann und darf – was heute in politischen Debatten in der EU nicht selten aus den Augen verloren wird.

I. Grundbegriffe und ihre Konstellation 1. Historische Innovation Unter historischer Innovation kann man nicht nur die Innovation der Menschenrechte verstehen, die Hans Joas in den Mittelpunkt stellt. Bei der historischen Innovation der Freiheit geht es auch um die im soziokulturellen Hintergrund stehenden, weiteren Ideale, Normen und Werte wie Autonomie (Kant) bzw. Selbstbestimmung (Hegel) als Aspekte des umfassenden Begriffs der Freiheit.15 Diese weiteren Ideale, ebenso wie auch die Menschenrechte können resp. konnten in einem langen, widersprüchlichen, konfliktvollen historischen Prozess durchgesetzt bzw. verwirklicht werden. In diesem Prozess können bzw. konnten sie ebenso scheitern, marginalisiert und sogar vergessen werden, um dann im gegebenen Fall wieder aufzutauchen und sogar aufzublühen.16

2. Kulturelle Transformation Kulturelle Transformation ist der verwirklichende Prozess der historischen Innovation, der an Idealen der Innovation so oder so orientiert ist. In diesem Prozess entwickelt, rezipiert und importiert eine Gesellschaft soziokulturelle Inhalte, die meistens höhere normative Geltungsansprüche haben als die bisher gültigen, kodifizierten und kanonisierten normativen Inhalte hatten. In dem Transformationsprozess bilden sich neue, dem neuen Ideal mehr oder weniger angemessene politische, rechtliche und kulturelle Institutionen, entsprechende Verhaltensweisen, Handlungstypen, Gesinnungen usw. aus. Fraglich ist immer, inwieweit die Institutionalisierung mit verinnerlichten Idealen und Normen (ggf. der subjektiven Freiheit eines jeden) in verschiedenen Subjekten (Individuen und Gemeinschaften, Verlierer und Gewinner usw.) und in den Lebenswelten bzw. Verhaltenswei15 Die Idealbildung hat ihre Wurzeln in unserer aktiv-tätigen Natur. Wir müssen »unser Handeln als Streben zu Idealen interpretieren […] und es als solches auf den Erfolg dieses Strebens hin bewerten.« – So formuliert Joas, im Anschluss an Charles Taylor. Vgl. Joas: Sakralität, S. 173. 16 Joas betont: »Sie [die Idee der Entwicklung] bleibt als Aufgabe erhalten, wenn wir in den geschichtlichen Prozessen Annäherungen und Entfernungen an historische Idealbildung konstatieren«. Ebd., S. 176.

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sen harmoniert oder eben neue Konflikte generiert. Die kulturelle Transformation der Innovation von Idealen läuft in unterschiedlichen Medien des sozialen Lebens ab, wie Moral, Religion, Politik, Recht usw. Diese allgemeinen Kennzeichnungen des Prozesses der Transformation der Innovation weisen spezifische Züge in Ländern und Regionen auf, in denen das Projekt der Moderne auch nach seiner »Vollendung« im Westen mehrmals gescheitert ist. Das hat sich auf jeden neuen Anfang durch historische und/oder biographische Erfahrungen sowie durch andere Vermittlungsformen des historisch-kulturellen Gedächtnisses erheblich ausgewirkt. Das ist auch heute der Fall: Nicht nur Institutionen, sondern auch Denkfiguren, Verhaltensweisen und Mentalitätsmuster tragen die Merkmale der mit dem Scheitern belasteten historischen Erfahrungen an sich. (Ein bis heute lebendiges Beispiel ist die Niederschlagung des Aufstandes 1956 in Ungarn.) Ohne das außer Acht zu lassen, wird eine rational und emotional positivere Umstellung für die philosophische Annäherung vorgeschlagen, die Akzentverschiebungen und sogar Umdeutungen von mit negativen Erfahrungen und Konnotationen belasteten, defizitären Transformationen ermöglicht. Die Redeweise etwa von der »verspäteten Modernisierung« als Hindernis oder Benachteiligung einer Region Europas soll in diesem Sinne verändert werden.

3. Historische Erfahrung Historische Erfahrungen können sich durch ihre positiven und/oder negativ-affektiven Elemente als Katalysator für neue historische Innovationen oder für neue kulturelle Transformationen (gebrochener) historischer Innovation auswirken. Diese Erfahrungen bilden eine bindende (oder eben trennende, und sogar auch in der Trennung bindende) Kraft als emotional-mentale Motivation über Generationen hinaus im kulturell-historischen Bewusstsein und Gedächtnis eines Volkes, einer Nation oder einer Region (ein treffendes Beispiel ist wieder ’56 in Ungarn). Die rational und affektiv geprägten Erfahrungen sind für die Idealbildung wie auch für die Verwirklichung der Ideale von besonderer Bedeutung.17 Das Ideal der Freiheit ist mit ganz unterschiedlichen, nicht selten auch widersprüchlichen Erfahrungen in seiner Geschichte verknüpft und eben in seinem jeweiligen Kontext zum Leitmotiv von Akteuren der ganz unterschiedlichen kulturellen Transformationen der historischen Innovation der Modernisierung in Europa geworden.18

17 Rorty betont den Aspekt der emotionellen Betroffenheit, die auch Joas anerkennt. Dabei legt er zugleich ein großes Gewicht auf die Rationalität. 18 Zum Problem der historischen Erfahrung im Hinblick auf Normativität vgl. Ludwig Siep: »Arten normativer Erfahrung«, Manuskript bzw. Sebastian Laukötter: »Zur Genese, Artikulation und Interpretation von Normen vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen – Eine begriffliche Landkarte«, Manuskript.

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4. Konstellation Die Begriffskonstellation von historischer Innovation, kultureller Transformation und historischer Erfahrung konstruiert eine Dimension der Geschichte, die als Gegenstand der Geschichtswissenschaft kaum zu identifizieren ist. Diese Dimension kann inter- und transdisziplinär zum Thema gemacht werden. Dafür kann die (praktische) Philosophie ein nutzbares Potenzial bzw. Instrumentarium zur Verfügung stellen, das zum Teil auf Hegel zurückgeht.

II. Freiheit als Ideal der großen historischen Innovation der Moderne. Systematische Überlegungen im Anschluss an Hegel 1. Freiheit als innovative Motivationsstruktur Hegel, der in Joas’ Augen keine historische Innovation kannte,19 hat in der Tat einen bis heute philosophisch-systematisch relevanten Idealtyp der historischen Innovation und ihrer kulturellen Transformation in seiner Konzeption der subjektiven Freiheit im »europäischen Sinne« ausgearbeitet. Systematisch hat er der Freiheit zwei grundlegende Bedeutungen zugeschrieben: 1. Freiheit als Befreiung und 2. »Bildung zur Freiheit«. Die Befreiung ist praktische Motivation auch für diejenige historische Innovation, die im Ideal der Freiheit ihre gemeinsame, bindende und zusammenführende Bedeutung hat. Die Freiheit zur Bildung ist ein reflexiv-theoretischer Aspekt, der sowohl dem Bewusstwerden der praktischen Motivation, der jeweiligen Situation und der gegebenen Innovation als auch ihren kulturellen Transformationen durch Handlungen dient, und zwar in verschiedenen Formen und Medien der Gesamtkultur.20 Befreiung und Freiheit zur Bildung stellen zusammen eine innovative Motivationsstruktur für sozialen Wandel im breitesten Sinne dar. Diese innovative und auch normative Motivationsstruktur bietet für politische, soziale oder moralische Orientierungen von Handelnden und ihren Handlungen bzw. für Länder und Regionen, die mit einer mehrfach gebrochenen und sich wiederholenden Modernisierung auch heute konfrontiert sind, ein brauchbares Mittel für die kulturelle Transformation jener historischen Innovation, die in der Freiheit ihre normativen und affektiv-mobilisierenden Wurzeln hat. In diesem Sinne ist die Freiheit als motivierendes Ideal universell-normativ und zugleich kulturell und sozial kontextuiert, d. h. partikular im Sinne von Joas.

An »Reflexion auf das Verhältnis historischer Teleologie und unantizipierbarer historischer Innovation mangelt [es] bei Hegel« – so rekonstruiert Joas Ernst Troeltsch’ Kritik an Hegel. Vgl. Joas: Sakralität, S. 160 f. 20 Hegel hat in diesem Zusammenhang auf folgende Medien verwiesen: Liebe, das Romantische, Moralität, Gewissen, bürgerliche Gesellschaft, Momente der politischen Verfassung. Vgl. G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Werke, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel, Frankfurt/M. 1970, § 124 Anm., S. 233. 19

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Nicht nur historisch, sondern auch systematisch ist in Betracht zu nehmen, dass die Freiheit die umfassendste historische Innovation bei Hegel ist – ihre Entfaltung reicht von Platon über das Christentum, das römische Recht, die Reformation und die Aufklärung bis zur gegenwärtigen deutschen Philosophie. (Man kann sagen: Diese historische Innovation der Freiheit setzt sich aus ihren aufgezählten kulturellen Transformationen auch als Teilinnovationen zusammen.) Zweieinhalbtausend Jahre europäischer Geschichte sind als Fortschritt in der Freiheit aufzufassen – im Sinne der Ausdehnung der Befreiung und der Bildung zur Freiheit als innovativer Motivationsstruktur der sozialen, politischen und lebensweltlichen Veränderungen, die auf die Ausprägung und Verbreitung von Strukturen, Inhalten und Normen der modernen Welt hinauslaufen. Innerhalb der historischen Innovation der Modernisierung haben die Reformation und die Aufklärung besondere Bedeutungen erhalten.21 Erstens soll die Freiheit verinnerlicht werden, und zwar rational, emotional und moralisch. Die Verinnerlichung ist die subjektive Garantie, dass die Freiheit als innovative Motivationsstruktur durch und in Praktiken von Einzelnen und Gemeinschaften geltend gemacht werden kann. Sie soll nämlich verwirklicht werden, d. h. in eigene, spezifizierte »Medien« der modernen Gesellschaft wie Politik, Recht, Moral, Sittlichkeit transformiert werden.22 Das findet auf zwei Ebenen statt: in der »Innerlichkeit« als innerem »Ort« und in »Wirklichkeitsgestalten« als öffentlichen, teils institutionellen Räumen der Praktiken von Einzelnen und Gemeinschaften. Diese Überlegungen führen zur Einsicht, dass die systematische Artikulation der unterschiedlichen Aspekte der Freiheit bzw. ihrer kulturell vermittelten Verinnerlichung wie auch ihrer »Veröffentlichung« durch Institutionen und in Lebensformen für eine erfolgreiche Transformation der historischen Innovation der Moderne nicht nur eine bessere Chance bietet, sondern auch ihre unausweichliche Voraussetzung darstellt.

Die Reformation hat die historische Innovation der Freiheit in zwei wesentlichen Punkten geändert. Sie hat das Ideal der subjektiven Freiheit in Medien der Innerlichkeit (wie Glauben, Gewissen, Gemüt) und in Sphären der Weltlichkeit, Wirklichkeit, Gegenwart umgedeutet bzw. erweitert. Und zwar nicht nur in Richtung der Säkularisation, sondern auch in Richtung auf die inhaltliche Prosaisierung der Lebenswelt, damit auch der Freiheit bzw. der Pluralisierung von Lebenswelten, Praktiken und Institutionen. Die Pluralisierung hat Hegel als »Mannigfaltigkeit«, als »unendlichen Reichtum von Formen, Erscheinungen und Gestaltungen« (Hegel: Grundlinien (Vorrede), S. 25) qua medialer und phänomenaler Spezifizierung der Freiheit bezeichnet. Der Aufklärung hat er nicht nur die Bedeutung zuerkannt, die Rationalität in den Praktiken, Lebenswelten, Institutionen und Normen zu verstärken. Er schreibt über die Vernunft, sie habe die höchste Normativität. Darüber hinaus hat er der Aufklärung den Anspruch zugeschrieben, jeden Menschen für eine reflektierte, bewusste, vernünftig-rationale und vernünftig-normative Lebensführung zu bilden. Die Bildung ist die »harte Arbeit« nicht nur am Stoff oder Ding, sondern an Lebensweisen, an Art und Weise von Praktiken und Institutionen, auch an Verhaltensweisen, die nicht nur rationale, sondern auch emotionelle Aspekte enthalten. 22 Der junge Hegel hat den Ausdruck »Medium« in der Jenaer Philosophie des Geistes verwendet. Vgl. dazu: G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987, S. 198. 21

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2. Bildung im Hinblick auf die kulturelle Transformation von historischen Innovationen Die spezifische, durch Bildungselemente vollzogene Transformation einer historischen Innovation mit universellem Anspruch, wie sich das Projekt der Moderne versteht, ist die Dimension der vorliegenden Begriffskonstellation, in der die abstrakt-universelle, ideale historische Innovation, die sich im »Ideal der Freiheit« ausdrückt, ihre inhaltlich-besonderen Bestimmungen erhält. Ohne die »harte Arbeit« von Jahrtausenden, die in der Ausdifferenzierung von Formen, Gestalten und Phänomenen der Bildung in der Geschichte vollzogen wurde, wäre das Ideal der Freiheit ein Abstraktum geblieben, das dann leicht in Vergessenheit geraten wäre. Die tiefliegenden Wurzeln der Freiheit in den europäischen Gesellschaften sind im großen Maße eben der Bildung zu verdanken – auch im Sinne der Befreiung von Autoritäten (veralteten Traditionen, Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Institutionen) bzw. im Sinne der Bildung zur Freiheit eines jeden als Errungenschaft der Moderne. Die Bildung fasst aber nicht nur Aspekte zusammen, die innovative Motivationen für Aktivitäten von sozialen Änderungen ausmachen. Sie birgt auch Motivationen für die Bewahrung von Überlieferungen, in denen das »Wesen« einer historischen Innovation gepflegt werden kann, wenn die (angemessene) Transformation verhindert wird. In der kulturellen Transformation wird die jeweils vermittelte Idee der historischen Innovation spezifiziert; die Innovation besondert sich durch Bildungselemente in verschiedenen kulturellen und politischen Gestalten und Formen der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Gesamtkultur. In der Spezifizierung der historischen Innovation in und durch Bildungformen findet eine Ausdifferenzierung als »Mannigfaltigkeit« und »Reichtum« von Formen und Gestalten statt. Die Spezifizierung in der jeweiligen kultur- und gesellschaftsbedingten Bildung heißt auch: Es werden unterschiedliche Inhalte in die kulturellen Gestalten – auch Bildungsphänomene wie Traditionen, Überlieferungen, Gewohnheiten einer Gesellschaft – aufgenommen. Die spezifizierte, ausdifferenzierte Transformation der ursprünglichen historischen Innovation durch Bildungsformen und -phänomene ist die »normale« Figur des Vollzugs einer historischen Innovation.23 Dieser Zusammenhang erläutert den Aspekt der kulturellen Transformation der historischen Innovationen, dass sich die historische Innovation selbstverständlicherweise in einer kulturellen Vielfalt vollzieht. Historische Innovation als allgemeine Idee wird in einer bestimmten Gesellschaft (Nation, Volk, Region) immer in Gestalten und mit spezifischen Inhalten vollzogen, die zu Besonderheiten der jeweiligen Gesamtkultur einer 23 Die historische Innovation hat nicht ab ovo übergreifende, umfassende und universell-normative Aspekte. Das Ideal der subjektiven Freiheit tauchte bei Platon auf, worauf Hegel verweist, aber noch nicht mit universalisierender Tendenz. Sie trat im Grundgedanken des Christentums bzw. in der weltlichen Form des römischen Rechts auf, die aber der Macht diente. Die Reformation hat die subjektive Freiheit prinzipiell in die weltlichen Lebensformen eines jeden miteinbezogen. Diese geschichtlichen Stufen sind auch Stufen und Gestalten der kulturellen Transformation der historischen Innovation, die in dem Ideal der unendlich subjektiven Freiheit besteht. Das heißt: Im jeweiligen Prozess der kulturellen Transformation sind die universellen Aspekte der historischen Innovation durch partikulare, kultur- und nationsspezifische oder lebenweltlich differenzierte Kennzeichnen gefärbt und modifiziert.

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Gesellschaft sind bzw. werden können. Diese selbstverständliche Kontextuierung der Idee der historischen Innovation bereichert die Innovation und ihre Ideale und Ideen selbst, was oft außer Acht gelassen wird oder ab ovo als Kulturrelativismus stigmatisiert wird. Philosophisch ergibt sich aus dieser Kennzeichnung die ausgezeichnete Bedeutung von Differenzen,24 die nicht nur für die Erläuterung der Erfolgsgeschichte der Freiheitsidee, sondern auch für eine plausible Klärung der bis heute mit Widersprüchen und Konflikten belasteten, mehrfach gebrochenen historischen Innovation des Projekts der Moderne im Osten Europas nicht nur theoretisch unausweichlich sind. Um die Abweichung von der Selbstverständlichkeit und Normalität der Vielfalt der kulturellen Transformation im Westen zu erläutern, denken wir an das Beispiel der Kunst im ehemaligen Ostblock! Ein erheblicher Teil der Kunstwerke des Ostblocks ist ein großartiger Beleg dafür, wie eine historische Innovation (Freiheit) zerstört werden kann, ohne aber ihre kulturelle Transformation vollkommen unmöglich zu machen. Unter den Umständen, unter denen die historische Innovation des Ideals der subjektiven Freiheit unterdrückt, verboten, verhindert und unter Strafe gestellt war, gab es Künstler, die doch im Zeichen dieser Freiheit, zugleich im eigenen kulturellen Umfeld, in der Sprache und in kulturellen Ausdruckformen ihrer Heimat Werke geschaffen haben. So entstand eine von der westlichen abweichende, neue Kultur der Freiheit in Osteuropa. Es gab Bücher, Musikstücke, Filme, Bilder, Ausstellungen, die Hunterttausende bewegt haben, die dann dieses Erlebnis mit anderen, weiteren Hunderttausenden geteilt haben. Diese Art »Veröffentlichung« und Verbreitung der mit Gewalt tabuisierten historischen Innovation der Freiheit durch Kunstwerke ist eine einmalige kulturelle Transformation in Osteuropa. Man kann heute selbstverständlich sagen: Die Kunst ist dazu nicht geeignet. Aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die große historische Innovation der Freiheit in einem Teil Europas, wie man dort ihren eigenen kulturellen Ort damals aufgefasst hat, am Leben zu halten, wenn die Kunst vielleicht »nur« dazu dient, den Mangel an Freiheit im wirklichen Leben überleben zu können, dann ist diese mehrfach imaginäre Art doch nicht zu verwerfen. »Bildung zur Freiheit« bedeutet auch eine innere, intellektuelle, emotionelle und habituelle Vorbereitung von Individuen und Gesellschaften als Akteuren der kulturellen Transformation von historischer Innovation. Leitende Intellektuelle im Ostblock haben diese Funktion in der Wendezeit übernommen. Künstler, Schriftsteller, Philosophen, also hoch qualifizierte Intellektuelle haben um 1990 hohe Positionen in der Politik bekleidet. Einerseits haben sie damit die Art und Weise der kulturellen Transformation der in ihren Werken bewahrten historischen Innovation der Freiheit repräsentiert, andererseits, und Die Differenzen haben eine besondere Bedeutung für die Erkennung und Anerkennung der Pluralität bzw. des Pluralismus als grundlegenden Strukturdimension einer modernen Gesellschaft. Der Pluralismus enthält nicht nur das Universelle. Er unterscheidet sich dadurch von dem Partikularistischen, das irgendwelcher (religiösen, politischen usw.) Extremisierung und Instrumentalisierung des Partikularen dient. – Auf die Bedeutung der Differenz verweist Walzer in Bezug auf die Selbstbestimmung und Wiederholung. Vgl. Walzer: Lokale Kritik, S. 150. – Das »Unterschiedsprinzip« von Rawls deutet Rorty um, indem er die Zusammenfassung als Formulierung einer Verallgemeinung begreift, die unsere Intuitionen nicht begründet, sondern zusammenfasst. Rorty: Menschenrechte, S. 149. 24

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das ist entscheidend, haben sie der Gesellschaft gezeigt, dass nun die Bildungsaspekte zur konkreten, tagtäglichen Transformation der Freiheit auf der Tagesordnung stehen. Die meisten Intellektuellen sind in ihrem Vorhaben gescheitert. Vielleicht war der berühmte Schriftsteller und spätere Staatspräsident der tschechoslowakischen bzw. tschechischen Republik Vaclav Havel eine Ausnahme. Die kulturelle Transformation der historischen Innovation hat noch ein weiteres grundlegendes Merkmal, mit dem wir uns heute ebenfalls auseinandersetzen müssen. Es handelt sich um die Wiederholung (M. Walzer) der historischen Innovation bzw. ihrer kulturellen Transformation. Der wiederholende Zug der historischen Innovation ist auch an Hegels Ideal der subjektiven Freiheit zu erkennen: Es braucht Jahrtausende bis zu seiner »Vollendung«. Der Prozess der Modernisierung ist keine lineare Erfolgsgeschichte. Es sind darin Rückfälle, Verluste, Scheitern zu verzeichnen. Die Wiederholung der historischen Innovation als zweiter, dritter Anfang ist ein Merkmal der Normalität der kulturellen Transformation dieser historischen Innovation. Aber die kulturelle Transformation der historischen Innovation der Modernisierung im Osten Europas vom Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts war eine andersartig sich wiederholende Innovation – auch darum, weil hier eine großmachtpolitisch bestimmte, kommunistisch-voluntaristische Modernisierung über viele Jahrzehnte herrschte. Es geht daher um grundverschiedene Typen der Transformation des Projekts der Moderne, die sich auf die gegenwärtigen Probleme Europas und ihre Lösungsvorstellungen immer noch erheblich auswirken.

3. Wiederholung als Konstituens der kulturellen Transformation der historischen Innovation Die Wiederholung ist ein Aspekt der kulturellen Transformation der so oder so gehinderten historischen Innovation. Um es zu erläutern, wenden wir uns an Gadamer, der zwei Optionen in unserem Verhältnis zur Geschichte unterscheidet. Die eine vertritt Schleiermacher. Bei ihm ist das Vergangene wiederherzustellen.25 Abweichend von Schleiermacher hat Hegel die Wiederherstellung der historischen Innovation prinzipiell für unmöglich gehalten. Im Sinne Hegels kann man bei Gadamer über die Wiederholung von historischen Innovationen reden. Die Klärung der Wiederholung des Ideals der historischen Innovation erfordert spezifische Zugangsweisen zur Geschichte. Nicht die Begründung stellt den angemessenen Zugang dar, sondern die Interpretation, die Rekonstruktion, die Integration, das Erzählen usw. Diesen Erkenntnisformen als Zugangsweisen zur Geschichte ist gemeinsam, dass sie sich dem Vergangenheitscharakter der Wirklichkeitsgestalten ebenso bewusst sind wie 25 Die Wiederherstellung ist eine zweite Schöpfung, die uns vor der »falschen Aktualisierung« der Geschichte schütze – so Schleiermacher. Hegel vertritt eine andere Möglichkeit: Er hat das klarste Bewusstsein von der Ohnmacht aller Restauration. Die Kunstwerke geben uns ihre Welt nicht zurück, sondern allein »die eingehüllte Erinnerung dieser Wirklichkeit« – zitiert Gadamer Hegels Ästhetik. Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1990, S. 171–173.

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ihrer wiederholenden Natur und dem in der Wiederholung bewahrten Ideal als Leitmotiv von historisch maßgebenden, aber gehinderten, darum wiederholenden Vorstellungen und Aktivitäten. Sowohl das mobilisierende Leitmotiv als auch das normierende Motiv im Ideal der Freiheit sind für die Wiederholung unausweichlich, auch wenn sie immer in die jeweiligen kulturellen Kontexte eingebettet, darum spezifiziert, interpretiert bzw. geltend gemacht werden können. In jeder Gesellschaft gibt es Maßstäbe, Normen, Geltungsansprüche, Rechtfertigung. Aber sie sind in erster Linie keine rein theoretischen Produkte.26 Sie haben sich zuerst in der jeweiligen Wirklichkeit einer Kultur ausgebildet, um dann in anderen Zeiten umgestaltet, veraltet, verjüngert usw. werden zu können – oder eben nicht. An Hegels Beispiel kann man es auch erläutern. Die Freiheit ist ursprünglich keine rein philosophische Idee. Platon hat auf das reagiert, was er in seiner politischen, kulturellen, philosophischen Umgebung erfahren hat. Daraus hat er das Phänomen der subjektiven Freiheit, die zum »Verderben« seiner Welt führte, als einer der Ersten erkannt. Ebenso haben Christus und Luther auf das reagiert, was sie in ihrer Umgebung wahrgenommen haben. Diese historischen Figuren rekonstruierten und/oder modellierten (konstruierten) Ideen, die sich aber immer auch aus ihren eigenen Erfahrungen speisten. So entstand aus ihren Beobachtungen, Erfahrungen und Bemühungen ein Idealkomplex, an dem sich Generationen über Jahrhunderte und sogar Jahrtausende orientiert haben und an dem wir uns auch in säkularisierten und/oder anders religiösen Zeiten der Spätmoderne immer noch orientieren.27 Darin erweist sich auch ein Merkmal des wiederholenden Charakters der Dimension der Geschichte, den die historische Innovation der Freiheit darstellt. Die Reformation, die Aufklärung und Hegels zeitgenössische deutsche Philosophie wiederholen auch das Ideal der historischen Innovation der Freiheit – in der Form der Freiheit eines jeden. Aber sie tun dies jeweils auf ihre besondere Weise: Sie alle spezifizieren dieses Ideal bezüglich ihres eigenen Kulturkreises, ihrer spezifischen thematischen Schwerpunkte und ihrer jeweiligen, maßgebenden historischen Erfahrungen. Das spricht auch dafür, dass eine differenzierte Klärung der kulturellen Transformation der historischen Innovation auch in Bezug auf ihre jeweilige Wiederholung erforderlich ist. Dafür scheint wieder die Spezifizierung die angemessene Zugangsweise zu sein. Sie ist sensibel für die Mannigfaltigkeit, den Reichtum der kulturellen Formen und Phänomene, Praktiken, Lebenswelten, Verhaltensweisen und Institutionen, die sich stets ändern, darum voller Spannungen sind und sich auch in Ausdifferenzierungen und Spannungen wiederholen.28 Die Wiederholung ist nicht nur für die kulturelle Transformation einer gehinderten historischen Innovation von Bedeutung, sondern auch für die Kontinuität absichernden Strukturen einer Gesellschaft. Das gilt auch innerhalb der historischen Innovation. Die kulturelle Variabilität des Ideals einer historischen Innovation ist ebenso von Bedeutung Vgl. Walzer: Kritik und Gemeinsinn, S. 15–16. Ebd., S. 18–24. 28 Walzer hat die Wiederholung im moralischen Sinne verwendet, den er mit kulturanthropologischen Überlegungen ergänzt hat. Dagegen wird die Wiederholung hier auch auf andere Bereiche der praktischen Philosophie ausgedehnt, so auf den Bereich der Geschichtsphilosophie und auf den der Kulturphilosophie bzw. auf ihre Beziehungen zu Themenbereichen der Soziologie. 26 27

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wie seine Kontinuität, die den Kern der Wiederholung ausmacht. Diese Kennzeichen der Wiederholung sprechen für umfassende, universalistische Züge ebenso wie für partikulare Strukturen der Transformation der historischen Innovation. Diese Überlegungen verweisen auf zwei wesentliche, miteinander im Spannungsverhältnis stehende Merkmale: 1. Das Ideal der Freiheit wiederholt sich und gibt damit der historischen Innovation eine Kontinuität, die die europäische Geschichte zu einer gemeinsamen und allgemeinen macht. Teils wurzelt darin der Anspruch auf universelle Legitimität. 2. Das Ideal der Freiheit transformiert sich stets, womit es in sich immer auch kulturspezifische Kennzeichen aufnimmt. Das erklärt teils auch den Anspruch auf das Partikulare.

III. Freiheit als historische Innovation und ihre kulturelle Transformation im Hinblick auf Osteuropa Hegel hat die historische Innovation der Freiheit und ihre kulturellen Transformationen als Projekt der Moderne im Westen Europas thematisiert. Er hat die Freiheit als historische Innovation, als eine primäre Leistung des Westens gedeutet. Das war im Kern richtig. Die historische Innovation der Freiheit im Osten Europas weicht von diesem Modell in wesentlichen Punkten ab und zeigt eigene spezifische Züge auf. D. h. auch: Die Freiheit im westlichen Sinne kann nur eine sekundäre historische Innovation im Osten Europas sein. Aber, und das ist ein zweiter spezifischer Zug, ihre kulturelle Transformation ist nicht eine sekundäre, sondern eine primäre Innovation. Die jeweilige eigene Kultur als Fundament und Umfeld der Transformation der historischen Innovation soll ihre Eigentümlichkeit (Sprache, kulturelle Überlieferungen, historische Erfahrungen usw.) bewahren können. Mit anderen Worten: In der jeweiligen kulturellen Transformation im Osten spezifizieren sich allgemeine, normative Ideale im Sinne der universalistischen Werte und Normen, die in der historischen Innovation des Westens entdeckt oder entfaltet wurden. Parallel damit kann/soll die jeweilige kulturelle Transformation auch als eine eigene Innovation, in diesem Sinne primäre Leistung einer Region, einer Kultur, einer Nation, eines Volkes usw. entfaltet werden. Diese strukturell widersprüchlichen Kennzeichen liefern an sich schon eine Erklärung, aber nicht unbedingt eine Legitimierung für nationale Ansprüche, die in osteuropäischen Ländern, wohl aber nicht nur dort, immer wieder auftauchen. Das ist zum einem der empfindlichsten Punkte im heutigen Europa geworden. Arrogante Stigmatisierungen wie »nationalistisch«, »Nazi« oder »rassistisch« oder eine kategorische Ablehnung sind genauso wenig angemessene Reaktionen wie machtpolitisch motivierte Anspielungen auf die besonderen Kennzeichnen der eigenen kulturellen Transformation der historischen Innovation Europas in einzelnen Ländern. Universalisierung der Ideale als historische Innovation und auch kulturelle Leistung des Westens und Spezifizierung in der jetzt vielleicht mehr Erfolg versprechenden wiederholenden Transformation als eigene, in vieler Hinsicht noch bevorstehende Leistung des Ostens sind diejenigen Eckpfeiler, auf die gestützt Europa sich neu definieren und behaupten könnte bzw. sollte. Die primäre historische Innovation des Westens und die

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ebenso primäre gegenwärtige (hoffentlich andauernde, darum auch zukünftige) kulturelle Transformation der historischen Innovation der Freiheit sollten heute als gleichwertige Produkte Europas betrachtet werden und unter Umständen in ihrer auch widersprüchlichen und mehrfach belasteten Differenziertheit untersucht und vor die gesamte Öffentlichkeit Europas gebracht werden. Die Erfolgsgeschichte des Ideals der subjektiven Freiheit im Westen sollte keine alles übertreffende Rechtfertigung bedeuten, insbesondere nicht im Hinblick auf die mehrfach gebrochene Transformation dieses Ideals im Osten. Auch die jeweils aktuelle Gefährdung und Deformierung des Freiheitsideals ist ein Aspekt seiner historischen Innovation und kulturellen Transformation. Die gegenwärtige Wirklichkeit Europas als Ganze sollte die Perspektive angeben, in der diese ganze Problematik differenziert aufgearbeitet und bewertet werden kann und soll, um eine überzeugende, mobilisierende, zeitgemäße europäische Identität erhalten zu können. Die wiederholende kulturelle Transformation des Ideals der großen historischen Innovation Europas bietet einen fruchtbaren Beitrag dazu an – und sie ist aktueller denn je. Am Beispiel von Ungarn werde ich gleich illustrieren, wie gefährlich es sein kann, wenn Europa diese Herausforderung versäumt. Für eine solche Unternehmung kann die praktische Philosophie systematische Überlegungen liefern, die zwar keine »starken« theoretischen Mittel sind, sondern sich als »schwächere« Spezifizierung von allgemeinen Idealen und Werten im jeweiligen Kontext erweisen. Diese Art der Artikulation der Freiheit in ihrer jeweiligen historisch-kulturellen Kontextuierung ist sensibel für die Besonderheit von einzelnen Kulturen und sogar auch für die Einzigartigkeit von individuellen Lebensentwürfen und Lebenswelten. Darum ist sie von besonderer Bedeutung für die vorliegende außerordentlich komplexe und sensible Problematik. Die selbstverständliche kulturelle und soziale Kontextuierung der historischen Innovation im Westen spricht auch dafür, die universellen Ideale, so etwa die Freiheit, immer wieder zu überprüfen, wenn es nötig ist, zu korrigieren und zu ergänzen. Vor allem dann, wenn man sie in anderen Teilen der sich stets verändernen Welt, oder wie unser Beispiel zeigt, in der Region von Osteuropa geltend zu machen vorhat. In die Überprüfung und Korrektur sollen aber auch die neuen und im gegebenen Fall neuartigen kulturellen Transformationen bzw. ihre Akteure miteinbezogen werden. Das bekräftigt nicht nur das politische und kulturelle Potenzial der Ideale, sondern es kann zur kreativen Ausdifferenzierung von Idealen führen, an der auch die Akteure der kulturellen Transformationen im Osten sich aktiv beteiligt fühlen und wissen können. Um mich mit Hans Joas auszudrücken: »das, was übertrieben holistisch als ›Kultur‹ bezeichnet wird, [findet sich] nicht an einer einzelnen Stelle des Handlungsraums […], sondern an mehreren.«29 Eine solche Unternehmung könnte zu einer gewissen Entkräftung von machtpolitischen Anspielungen etwa an nationale Gesinnung und Geschichte und zugleich zu einem gesunden historischen Bewusstsein der Völker Europas und ihrer bindenden Gemeinsamkeiten beitragen. Die Freiheit und die nationale Unabhängigkeit waren ja Leitmotive der politischen Bewegungen der Frühmoderne in Europa, die bis heute im kulturellen Gedächtnis der 29

Joas: Sakralität, S. 133.

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betroffenen Völker vor allem in Osteuropa in irgendeiner Weise lebendig geblieben sind. Eine Aufarbeitung auch dieser Vergangenheit, nicht nur der kommunistischen Ära, fand bis heute nicht statt. Ohne uns damit auseinanderzusetzen, können wir mit der europäischen Identität als uns verbindender Einstellung nicht weiterkommen.

Ausblick Das Ideal der Freiheit als historische Motivation der Innovation der Modernisierung hat ebenso mit Erfahrungen von Unterdrückung zu tun, wie die Geschichte und Genealogie der Menschenrechte. Die Freiheit als Motivation von Einzelnen und Kollektiven enthält nicht nur rationale, sondern auch affektive Komponenten, wie es Richard Rorty, Hans Joas, aber auch schon Hegel betont. Aber diese allgemeinen strukturellen Aspekte sind an sich nicht hinreichend, um die historische Innovation der Freiheit des Westen Europas in einer Region zu erklären und durchzusetzen, die immer noch mit der mehrfach verspäteten, gebrochenen, gescheiterten und im historischen Bewusstsein kaum angemessen reflektierten Modernisierung kämpft. Die Ideale dieser historischen Innovation sind hier eventuell mittlerweile von dem westlichen Muster wesentlich abgewichen. Diese Ideale wurden vielleicht erheblichem Wandel unterworfen, der dazu geführt hat, dass man sich hier in wesentlichen Punkten das Freiheitsideal anders vorstellt. Wahrscheinlich nicht einfach deswegen, weil man im Osten dumm oder extrem rechts eingestellt ist. Vielmehr darum, weil man in den letzten 25 Jahren die Schattenseite der westlichen Welt qua ungehemmtem Kapitalismus an der eigenen Haut erfahren musste. In Ungarn war die Freiheit das Leitideal der Wendezeit um 1989–90. Heute belegen glaubwürdige, internationale und nationale soziologische Untersuchungen, dass z. B. die Sicherheit jetzt einen unvergleichbar höheren Status auf der Werteliste der Ungarn hat und, was noch wichtiger ist, dass die Ungarn heute vielmehr tradierte als moderne Werte im westlichen Sinne bevorzugen. In diesem Vergleich steht Ungarn orthodoxen Ländern wie Rumänien oder Moldawien näher als z. B. Polen. Die Geschlossenheit gegen die Offenheit hat nun einen viel höheren Stellenwert in der Mentalität der Ungarn. Diese überraschende und sogar schockierende, aber letztlich nachvollziehbare Tatsache ist nicht davon abzutrennen, dass die Exklusion nach der hoffnungsvollen sozialen Inklusion der Wendezeit breite Schichten gefährdet. Auch darum interessiert mich, 1. mit welcher spezifischen Art von philosophischen Mitteln in relevanterweise zu thematisieren, zu plausibilisieren und angemessen darzustellen ist, dass ein unübersehbarer Teil der osteuropäischen Gesellschaften den Leitidealen des Westens den Rücken kehrt, und 2. die Frage, wie man mit philosophischen Mitteln dennoch zu einer neuen, zugleich wiederholenden Hinwendung zum Ideal der Freiheit als Leitmotiv der modernen Gesellschaften beitragen kann. Für die »Vollendung« eines historischen Projekts ist es erforderlich, dass das Leitideal, trotz Rückfällen, Scheitern und Vergessenheit doch erhalten bleibt und sich als formierbar zeigt.30 Die Rückfälle sind Bestandteile der Geschichte, worauf Ludwig Siep aufmerksam macht. Er stellt fest: Von den Geschichten bestimmter Völker können auch andere Völker lernen. »Aber solche Erfah30

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Nicht nur die Menschen sind formierbar, was Rorty31 betont, sondern auch ihre Ideale über die Welt, in der sie leben möchten. Platons Ideal, oder besser: Vermutung über die subjektive Freiheit ist die Urform, die aber im Ideal der protestantischen Freiheit kaum wiederzuerkennen ist. Trotz Umformierungen und Modifizierungen soll im Kern etwas Gemeinsames bleiben. Das kann vielleicht eine Emotion sein, die aus Erfahrungen wie Unterdrückung, Knechtschaft oder Niederlage herkommt. In Ungarn geht es heute um Verarmung und soziale wie kulturelle Marginalisierung von breiten Schichten. Soziologen der CEU in Budapest haben vor kurzem darauf aufmerksam gemacht, dass sich die sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede im Vergleich mit Westeuropa in Ungarn und im Osten Europas in viel größerem Maße und viel schneller verschärfen als zuvor. Darum ist es aktueller denn je, was Rorty in einem anderen Zusammenhang feststellt: Die sicheren, wohlhabenden Demokratien sollen ihre Einstellung ändern. Diese Demokratien sollten nicht nur auf Politiker achten, sondern vor allem auf die tieferen mentalen und strukturellen Probleme im Osten Europas und sich dafür interessieren, wie es den Menschen dort ergeht. Nicht nur Kriege oder Flüchtlingswellen, sondern auch tagtägliche lebensweltliche Beschränkungen und sogar Vernichtungen der Freiheit gefährden die gegenwärtige kulturelle Transformation des Freiheitsideals und sogar das Ideal selbst. Auch diese Erfahrung muss reflektiert und in das gemeinsame Ideal der Freiheit miteinbezogen werden. Eine kritisch-reflektierte Überprüfung als eine »Ausdehnung der Empathie, der Einfühlung in andere«32 ist eine unausweichliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Transformation der Freiheit in Osteuropa. Das bedeutet auch die Miteinbeziehung und Aufarbeitung sowohl der andersartigen historischen Erfahrungen wie auch der heutigen unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit. In Osteuropa findet man mehr als genug mobilisierende Erfahrungen von Unterdrückung, Aggression, Kriegsgefahr, Armut und Exklusion vor. Sie treffen jetzt den Kern der historischen Innovation Europas. Aber diese Erfahrungen sollten uns nicht trennen. Im Gegenteil: Sie sollten uns zu dem mehrfach modifizierten, jedoch gemeinsamen Ideal der wiederholenden historischen Innovation der Freiheit zurückführen und zusammenführen. Dazu braucht man aber 1. eine kritisch-differenzierte Überprüfung und ggf. Korrektur des Ideals der historischen Innovation und 2. eine rational und affektiv geprägte Mobilisierung nicht nur der Osteuropäer. Erst jetzt sind wir in der Lage, die historische Innovation der Freiheit gemeinsam zu gestalten, und wenn es nötig ist, zu korrigieren. Ihre Zukunft hängt von uns allen ab. D. h. auch: Die Menschenrechte sind zwar eine unausweichliche, aber keine hinreichende Bedingung für die »Vollendung« des Projekts der Moderne.33 rungsgeschichten […] bleiben von Rückfällen bedrohte Lernprozesse.« Vgl. Ludwig Siep: »Vom mystischen Körper zur Erfahrungsgeschichte. Nation im Deutschen Idealismus und heute«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 81, 1 (2014), S. 40–73, hier: S. 72. 31 Rorty: Menschenrechte, S. 153 f. 32 Joas: Sakralität, S. 100. 33 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des KFG-Projekts der WWU Münster. Für die inhaltlichen Bemerkungen bin ich Michael Quante und Carl-Friedrich Gethmann, für die sprachliche Überarbeitung Alexander Lückener und Nadine Mooren dankbar.

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Literatur Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1990. Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), III. Teil: Die Philosophie des Geistes, in: ders.: Werke, Bd. 10, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel, Frankfurt/M. 1970. – Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Werke, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl M. Michel, Frankfurt/M. 1970. – Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987. Joas, Hans: Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. Rózsa, Erzsébet: »Besonderheit, ›besondere Existenz‹ und das Problem der praktischen Individualität beim Berliner Hegel«, in: dies.: Hegels Konzeption praktischer Individualität. Von der »Phänomenologie des Geistes« zum enzyklopädischen System, hg. v. Kristina Engelhard u. Michael Quante, Paderborn 2007, S. 121–181. Quante, Michael: Pragmatistische Anthropologie, unveröffentlichtes Manuskript. Rorty, Richard: »Menschenrechte, Rationalität und Gefühl«, in: Stephen Shute/Susan Hurley (Hg.): Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt/M. 1996 Siep, Ludwig: »Arten normativer Erfahrung«, Manuskript bzw. Sebastian Laukötter: »Zur Genese, Artikulation und Interpretation von Normen vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen – Eine begriffliche Landkarte«, unveröffentlichtes Manuskript. – »Vom mystischen Körper zur Erfahrungsgeschichte. Nation im Deutschen Idealismus und heute«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 81, 1 (2014), S. 40–73. Walzer, Michael: Lokale Kritik – globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung, Hamburg 1996. – Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990.

KOLLO QUIUM 13 Vernunft und Glaube Kolloquiumsleitung: Christoph Jäger

Christoph Jäger Glaube, Wissen und rationales Hoffen Bemerkungen zum Kolloquium Vernunft und Glaube Peter Rohs Der Platz zum Glauben Ansgar Beckermann Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs: Der Platz zum Glauben Volker Gerhardt Das Göttliche als Sinn des Sinns – Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen Christian Tapp Über den Sinn des »Sinns des Sinns«. Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch »Der Sinn des Sinns«

Glaube, Wissen und rationales Hoffen Bemerkungen zum Kolloquium Vernunft und Glaube Christoph Jäger (Innsbruck)

1. Einleitung Das Kolloquium Vernunft und Glaube auf dem XXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie in Münster war arrangiert um die jüngst erschienenen Monographien von Peter Rohs, Der Platz zum Glauben (2013), und Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns – Versuch über das Göttliche (2014). Rohs und Gerhardt fassten in ihren Beiträgen die Hauptthesen ihrer Bücher zusammen; Ansgar Beckermann und Christian Tapp, die selbst in den letzten Jahren Monographien und andere umfangreichere Arbeiten zu zentralen Themen der Religionsphilosophie vorgelegt haben, rekonstruierten und kommentierten vor der Folie eigener systematischer Standpunkte die religionsphilosophischen Ansätze von Rohs und Gerhardt und stellten kritische Anfragen an sie.1 Im Folgenden sind redigierte Fassungen dieser Beiträge abgedruckt; Rohs geht in einem Anhang bereits kurz auf einige der von Beckermann gegen ihn erhobenen Einwände ein. Teile der folgenden Bemerkungen gehen zurück auf meine auf dem Kolloquium (in der Rolle des im Auftrag der DGPhil Einladenden) vorgetragene Einleitung und führen einige der dort skizzierten Überlegungen genauer aus. Insbesondere frage ich nach der Bedeutung der für die Debatte grundlegenden Begriffe ›(religiöser) Glaube‹ und ›Rationalität‹ und schlage einige Differenzierungen und Perspektiven vor, denen m. E. im vorliegenden Kontext mehr Aufmerksamkeit gebührt, als ihnen in den Beiträgen der anderen Autoren zuteil wird. Vor allem gilt es, das für religiösen Glauben entscheidende Verhältnis zwischen theoretischer und praktischer Rationalität genauer auszuloten. Rohs beispielsweise hält »doxastischen Glauben« für eine essenzielle Komponente religiösen Glaubens, räumt jedoch ein, dass letztgenannter wesentlich eine »existenzielle Entscheidung für einen fiduziellen Glauben« beinhalte. Dessen Kern wiederum situiert er in einer existenziellen Hoffnung: Die Grundfrage der Religionsphilosophie betrifft Rohs zufolge die »rationale Zulässigkeit« einer auf die gesamte menschliche Existenz bezogenen Hoff-

Peter Rohs: Der Platz zum Glauben, Paderborn 2013; ders., »Der Platz zum Glauben«, in diesem Band; Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns – Versuch über das Göttliche, München 2014; ders., »Das Göttliche als Sinn des Sinns: Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen«, in diesem Band; Christian Tapp: »Über den Sinn des ›Sinns des Sinns‹: Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch ›Der Sinn des Sinns‹«, in diesem Band; Ansgar Beckermann: »Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs, Der Platz zum Glauben«, in diesem Band. Weitere relevante Werke von Beckermann und Tapp sind u. a.: Ansgar Beckermann: Glaube, Berlin, Boston 2013; Christian Tapp: »Vernunft und Glaube«, in: Spektrum der Wissenschaft 1 (2012), S. 56–63. 1

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Kolloquium 13 · Christoph Jäger

nung auf ideale Gerechtigkeit.2 Doch Hoffnungen haben andere Rationalitätsbedingungen als doxastische Zustände oder Einstellungen. Im Hinblick auf den Begriff der (festen) Überzeugung beispielsweise gilt, dass jemandes Hoffnung darauf, dass dies-und-das der Fall ist oder sein möge, gerade voraussetzt, dass das Subjekt (noch) nicht davon überzeugt ist, dass es der Fall ist. Insgesamt arbeitet Rohs mit einem eher intuitiven Begriff der Hoffnung, für den, seiner zentralen Stellung im Rohsschen Ansatz wegen, ausführlichere Analysen nützlich wären. In Abschnitt 3 unternehme ich einige erste Schritte zur Klärung des Begriffs der rationalen Hoffnung.3 Auch Gerhardt betont einerseits die tragende Rolle von Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht für religiösen Glauben, behauptet jedoch andererseits – stärker als Rohs und im Gegensatz zu dessen kantisch inspirierter These, der Platz für rationalen religiösen Glauben liege »außerhalb des Bereichs, in dem Wissen möglich ist« – eine enge »Affinität von Wissen und Glauben«, ja, einen »epistemischen Anspruch religiöser Lehren«. »Das Wissen – zumindest ein beanspruchtes Wissen –«, so Gerhardt, sei »aus den religiösen Lehren nicht wegzudenken«. 4 In dieser Behauptung stecken zwei Thesen, wobei Gerhardt offen lässt, ob er neben der schwächeren auch die stärkere für wahr hält. Die stärkere These lautet, dass religiöser Glaube seiner Natur nach eine Form von Wissen ist; die schwächere lautet, dass religiöser Glaube bzw. religiöse Lehren jedenfalls Wissensansprüche erheben. Tatsächlich, so werde ich argumentieren, verkennt jedoch insbesondere die schwächere Variante die Rolle der kognitiven Komponenten religiösen Glaubens. Externalistischen Wissensbegriffen zufolge (wie sie insbesondere von zeitgenössischen amerikanischen Religionsphilosophen calvinistischer Tradition implementiert werden5) könnte religiöser Glaube in der Tat eine Form von Wissen sein. Allerdings wissen wir dann nicht, ob es sich um Wissen handelt. Entscheidend ist in jedem Fall, dass Glaube, einem einflussreichen, auch bei Gerhardt oft Pate stehenden Selbstverständnis christlicher Traditionen zufolge, sich gerade nicht als eine Form von Wissen versteht. Nicht nur Kants berühmtes »Ich mußte […] das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen«6 (worauf Rohs’ Buchtitel anspielt) betrachtet religiösen Glauben dezidiert als eine nicht-epistemische Haltung. Diese Auffassung lässt sich auch anhand zahlreicher anderer religionsphilosophischer und theologischer Quellen und mit einer Reihe systematischer Argumente untermauern. Glaube ist, maßgeblichen Traditionen zufolge, eine Lebenshaltung unter epistemischer Unsicherheit. Aus all dem folgt nicht, dass religiöser Glaube keine kognitiven Komponenten hat. Mit den vier anderen Symposiasten teile ich die Ansicht, dass eine zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie darin liegt, die kognitiven Momente des Glaubens zu rekonstruieren Rohs: Platz zum Glauben, S. 15 u. 16. Eines der wenigen Werke, das sich im deutschen Sprachraum neuerlich ausführlich mit der Rationalität von Hoffnungen befasst, ist Roland Bluhm: Selbsttäuscherische Hoffnung, Münster 2012. Bluhm beschäftigt sich allerdings hauptsächlich mit irrationalen Hoffnungen. 4 Gerhardt: Das Göttliche, Abschnitt 4. 5 S. hierzu etwa Alvin Plantinga: Warranted Christian Belief, Oxford 2000. 6 Immanuel Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in 10 Bänden, Darmstadt 1968, Bd. 3, S. 20–41, dort S. 33 (B XXX). 2 3

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und ihr Rationalitätspotenzial (und damit zugleich auch Irrationalitätspotenzial) zu demarkieren. Gleichwohl stellt sich bei Gerhardt zunächst eine ähnliche Frage wie bei Rohs: Wenn religiöser Glaube ein Komplex von Einstellungen oder Haltungen wäre, die in Bezug auf ihre kognitiven Inhalte nicht nur, wie bei Rohs, doxastischen Glauben, sondern sogar Wissen beanspruchten, dann könnte der Gläubige gerade nicht rationalerweise zugleich auch (auf dieselben Inhalte bezogene) Hoffnungen und Vertrauenshaltungen pflegen. Wenn ich überzeugt bin zu wissen – »zu wissen beanspruche« –, dass etwas der Fall ist, dann kann ich nicht zugleich rationalerweise auf den betreffenden Sachverhalt hoffen oder darauf vertrauen, dass er besteht. Im Folgenden werde ich zunächst im Ausgang von Gerhardts Bemerkungen die Frage nach dem Verhältnis zwischen religiösem Glauben und Wissen vertiefen (Abschnitt 2), um dann, ebenfalls kritisch, die schwächere, von Rohs vertretene These zu diskutieren, dass rationaler religiöser Glaube, wenn auch nicht Wissen, so doch 9nL6 (»doxastischen Glauben«) involviert, dabei jedoch zugleich im Kern eine rational zulässige Hoffnung ist. Im konstruktiven Teil meines Beitrags werde ich sodann ein Rationalitätsprinzip für Hoffnungen entwickeln, das Ansätzen wie dem von Rohs vorgeschlagenen, aber auch der von Gerhardt angedeuteten These von der Rolle der Hoffnung für religiösen Glauben bei näheren Ausarbeitungen zugrunde liegen sollte (Abschnitt 3).

2. Glaube und Wissen Gerhardt attestiert den heutigen Weltreligionen eine »tragende Nähe zwischen Wissen und Glauben«. Religiöse Lehren hätten einen »epistemischen Anspruch«, und Religionen sei daran gelegen, »die Wahrheit des von ihnen geglaubten Wissens zu sichern«. Im »Dienst an ihren Gläubigen« suchten sie »ihre Weltauffassung im Modus des Wissens zu festigen«. Zwar seien Vertrauen, Hoffnung und Zuversicht beteiligt; doch hierbei handele es sich um Gefühle, die nicht erst benötigt würden, »wenn der Mensch auf das lediglich Wahrscheinliche, auf das nur in Grenzen Kalkulierbare oder auf das gänzlich Ungewisse« zugehe. »Das Gefühl ist bereits beteiligt, wenn er auf das Wissen setzt!«7 Im Folgenden ziehe ich diese These vom »epistemischen Anspruch« des Glaubens und religiöser Lehren anhand von fünf Überlegungen in Zweifel. Religiöser Glaube ist, jedenfalls bzgl. seiner zentralen metaphysischen Inhalte, gerade kein Wissen, und der Gläubige beansprucht typischerweise für seinen Glauben auch kein Wissen. Beginnen wir mit einer kulturhistorischen Bemerkung. (i) Platz zum Glauben durch Erkenntnisskepsis. Eine plausible geistesgeschichtliche These lautet, dass die Verbreitung des Christentums in der Spätantike nicht zuletzt deshalb so erfolgreich war, weil der Glaube – fides – eine Leerstelle auf der Suche nach Heilsgewissheit füllte, die der antike Skeptizismus hinterlassen hatte. Der Skeptizismus hatte wesentlich dazu beigetragen, den klassischen Anspruch der Philosophie zu zerstören, Glückseligkeit durch philosophische Erkenntnis des wahren Seienden zu erlangen, und 7

Gerhardt: Das Göttliche, Abschnitte 4, 5 u. 7, Hervorhebungen im Original.

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dieser Schritt, so scheint es, half wesentlich dabei, den Weg von der Antike zum christlichen Mittelalter zu ebnen. Dafür hat beispielsweise Malte Hossenfelder in einer ausführlichen Einleitung zu seiner Übersetzung des Grundrisses der pyrrhonischen Skepsis von Sextus Empiricus überzeugend argumentiert.8 Die Pyrrhoneer hatten zu zeigen versucht, dass es sicheres Wissen grundsätzlich nicht geben könne, und setzten an dessen Stelle das Ideal einer durch Urteilsenthaltung (aED8  zu erlangenden Seelenruhe (I6G6L¼6). In der akademischen Skepsis liegen die Dinge zwar etwas anders; doch beide skeptische Schulen eint ein für die vorliegende Frage zentraler Punkt: Sicheres Wissen, worüber auch immer, kann der Mensch nicht erlangen. Hossenfelder räumt ein, dass diese Tendenzen für sich allein genommen für die »Entmachtung der Philosophie« nicht stark genug gewesen sein mögen, weist ihnen jedoch eine zentrale Bedeutung für diese Entwicklung zu. Entscheidend für die vorliegende Frage ist dabei Folgendes: Wenn es richtig sein sollte, dass der Einfluss der Skeptiker den Erfolg des Christentums in der Spätantike zumindest wesentlich katalysierte, dann dürfte dies nicht deshalb geschehen sein, weil das Christentum seine Heilsbotschaft weiterhin mit einem Anspruch auf sicheres Wissen verkündete – mit einem Anspruch auf eben jene Art von intellektueller Errungenschaft, die den Skeptikern zufolge nicht erreichbar ist. Der christliche Glaube, so lautet mein geistesgeschichtliches Argument, füllt die vom Skeptizismus hinterlassenen weißen Flecke nicht dadurch mit Farbe, dass er E¼HI>0 mit aE>HI B=, fides mit scientia identifiziert und seine Botschaft als Gegenstand von Wissen verkündet. (ii) Hinweise im Neuen Testament. Die eben skizzierte geistesgeschichtliche Betrachtung lässt sich anhand autoritativer Quellen des Christentums selbst erhärten. Betrachten wir etwa einige Texte aus dem Neuen Testament, die sich mit der Natur des Glaubens befassen, z. B. Passagen am Ende des Johannesevangeliums, im zweiten Korinther- oder im ersten Petrusbrief. Erinnern wir uns beispielsweise an jene berühmte Stelle, an der der Evangelist die Zweifel des Skeptikers Thomas beschreibt: Jesus erscheint am ersten Tag der Woche nach seinem Tod den Jüngern, Thomas ist nicht zugegen. Als man diesem später vom Besuch Jesu erzählt, glaubt er die Begebenheit nicht. Acht Tage später erscheint Jesus ein zweites Mal, und jetzt ist der »ungläubige Thomas« mit unter den Zeugen. Jesus stellt ihn dem Bericht des Johannes-Evangeliums zufolge mit den berühmten Worten zur Rede: »Weil Du mich gesehen hast, glaubst Du. Selig aber sind die, die nicht sehen und doch glauben« (B6@UG>D> Dª B k9nCI:0 @6½ E>HI:sH6CI:0; beati, qui non viderunt et crediderunt; Joh 20,29). Ähnlich schreibt etwa auch Paulus im 2. Korintherbrief (5,7), dass wir »als Glaubende unseren Weg gehen, nicht als Schauende« (9>V E¼HI:K0 E6IDyB:C Dw9>V:l9DJ0; per fidem enim ambulamus et non per speciem). Auch in den Anfangspassagen des ersten Petrusbriefs (1 Petr 1,8), um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen, heißt es: »Ihr seht ihn [Christus] nicht, aber ihr glaubt an ihn« (:k0 ¨ν XGI> μ oρ|CI:0 E>HI:sDCI:0; in quem nunc non videntes, credentes autem). Paulus und

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Malte Hossenfelder: »Einleitung«, in: Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder, Frankfurt/M. 31999, S. 9–90, vgl. dort etwa S. 9–12.

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Petrus formulieren hiermit offenkundig keine Vorwürfe, sondern normative Aussagen darüber, wie wahrer Glaube aussehen sollte. In solchen Passagen hat die Rede vom »nicht sehen«, »nicht schauen« usw. klare epistemische Konnotationen. Aus den Kontexten der obigen Stellen geht hervor, dass die perzeptiven Termini in einem Sinne gemeint sind, den ich mit einem Begriff Fred Dretskes als »epistemisches Sehen« bezeichnen möchte9: Der Punkt in Joh 20 ist nicht einfach, dass Jesus sich den Jüngern visuell präsentiert hatte, sondern dass sie ihn gesehen und dadurch erkannt hatten, dass er von den Toten auferweckt worden war (wobei der genauere theologische Sinn dieser Aussage hier offen bleiben kann). Die Aussage ist offenbar, dass diejenigen selig sind, welche (anders als Thomas), auch wenn sie nicht gesehen haben, dass Jesus auferweckt wurde, doch an ihn glauben. »Sehen« fungiert hier als ein faktiver epistemischer Operator: Wenn jemand in diesem Sinne sieht, dass p, dann ist p auch der Fall, und auf diese Weise zu »sehen«, dass p, bedeutet, auf eine bestimmte Weise Wissen, dass p, zu erwerben. Selig, so darf man demnach u. a. paraphrasieren, sind die, die nicht wissen bzw. nicht zu wissen glauben und doch glauben. (iii) Glaube lässt Grade zu, Wissen nicht. Wissen ist nach verbreiterer Auffassung ein absoluter Begriff, der sich nicht auf graduelle Zustände bezieht. Hierüber herrscht, unter klassischen wie zeitgenössischen Erkenntnistheoretikern, weitgehend Einigkeit: Man weiß nicht mehr oder weniger; man weiß etwas oder man weiß es nicht.10 Religiöser Glaube dagegen kann mehr oder weniger fest, stärker oder schwächer, unerschütterlich oder tentativ, tiefer oder weniger tief sein. Wiederum lässt sich dies für das Beispiel des christlichen Glaubens anhand zahlreicher Quellen belegen. Im Lukas-Evangelium (17,5) heißt es, dass die Apostel Jesus baten, sie im Glauben zu stärken. Und Jesus selbst, berichtet der Evangelist, betet für Petrus, dass dessen Glaube nicht versage und Petrus seinerseits seine Brüder (im Glauben) stärken möge (22,32). Solche Bitten sind bis heute klassische Formeln christlicher Gebete. Wenn Glaube dagegen stets und in jeder Form ein Fall von Wissen wäre, dann wäre es für Gläubige – eben weil Wissen nicht gesteigert werden kann – nicht nötig, um seine Stärkung zu bitten. Ein solcher Sprechakt wäre letztlich sinnlos und unverständlich. Eine prominente Leugnung dieser These findet sich in Wittgensteins Vorlesungen über religiösen Glauben. Wittgenstein konstatiert dort, ein distinktives Merkmal religiösen Glaubens sei dessen unerschütterliche Stärke. Dies scheint meiner Behauptung zu widersprechen, dass Glaube, anders als Wissen, Abstufungen zulässt. Als Beleg führt Wittgenstein u. a. an, dass Gläubige bereit seien, Dinge für ihren Glauben zu riskieren, die sie nicht für Dinge riskieren würden, die für sie weit besser gesichert seien. Hierauf ist zweierlei zu entgegnen. Erstens betont Wittgenstein, dass die Stärke religiösen Glaubens nicht etwa als maximale Gewissheit »gewöhnlichen Glaubens«, sondern als etwas qualitativ ganz anderes zu S. Fred Dretske: Seeing and Knowing, London 1969. Zwar kennen wir alltagssprachliche Wendungen wie »Ich weiß es besser als Du!« Mit solchen Aussagen bringt ein Sprecher jedoch üblicherweise gegenüber einem Konversationspartner lediglich sein Urteil zum Ausdruck, dass dieser sich in seiner (kundgegebenen) Annahme, er wisse, dass dies-und-das der Fall sei, täuscht. 9

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verstehen sei. Jemandem, der mit der maximalen Gewissheit gewöhnlichen Glaubens an eine religiöse Lehre glaubte, sei zu entgegnen: »Du glaubst nur – nun dann …«.11 Meine zweite Entgegnung lautet, dass unabhängig von der Unterscheidung zwischen epistemischer und religiöser Gewissheit Wittgensteins Unerschütterlichkeitsthese ohnehin nicht haltbar ist. Gerade auch der Umgang mit erschüttertem – oder unfertigem, unsicherem, schwankendem – Glauben ist von jeher ein zentrales theologisches und glaubenspraktisches Thema. Glaubenskrisen gelten als Grundsituationen eines religiösen Lebens. Eben das spiegelt die oben angesprochene Bitte, im Glauben gestärkt zu werden, wider: Sie setzt voraus, dass Glaube nicht notwendigerweise nur in unerschütterlicher Form überhaupt vorliegt. Vielleicht ist Wittgensteins eigener Blick hier, um ein von Wittgensteinianern selbst gern verwendetes Bild zu zitieren, durch »einseitige Beispieldiät« getrübt: Unerschütterliche Gewissheit, die Bereitschaft, sein Leben ganz in den Dienst eines Glaubens zu stellen und große Wagnisse für ihn auf sich zu nehmen, all das kommt vor. Doch nicht jeder oder jede Gläubige ist ein Maximilian Kolbe oder eine Mutter Theresa. Für den Durchschnittsgläubigen dürfte Unerschütterlichkeit eher ein Ideal als ein tatsächlich in seinem religiösen Leben bereits stets realisiertes Ziel sein. Wittgensteins Unerschütterlichkeitsthese mag den Heiligenfall treffen; doch als allgemeine Beschreibung des Phänomens, um das es geht, ist sie verfehlt. (iv) Fiduzieller Voluntarismus und der meritorische Aspekt des Glaubens. Zum Wissen kann man sich – leider – nicht willentlich entscheiden. Zwar kann man sein allgemeines »epistemisches Verhalten« voluntativ beeinflussen: Wir können Dinge tun, die uns in eine bessere Lage im Hinblick auf das Ziel versetzen, gut begründete und wahrscheinlich wahre Überzeugungen zu bilden und falsche zu vermeiden. Ob wir jedoch im Einzelfall tatsächlich Wissen haben oder nicht, ist keine Frage willentlicher Steuerung. Anders beim religiösen Glauben. Zwar dürften auch hier bestimmte, vom Subjekt zunächst unbeeinflusste Dispositionen (wie etwa sozialisatorische Aspekte) eine wichtige Rolle spielen. Gleichwohl hat zumindest die christliche Tradition und Religionsphilosophie von jeher die voluntaristischen Aspekte religiösen Glaubens betont. Man denke etwa an Pascals Wette, die die Glaubensfrage dezidiert als eine Entscheidung unter epistemischer Unsicherheit behandelt, oder an William James’ Idee von einer gerechtfertigten Entscheidung zum Glauben oder dem, wie er es nennt, Recht eines Akteurs, sich in solchen Dingen zum Glauben zu entscheiden, die, obwohl sie epistemisch nicht gesichert sind, eine »echte Option« (genuine option) für ihn darstellen. Dem berühmten Diktum William Cliffords: »It is wrong, always, everywhere, and for everyone, to believe anything upon insufficient evidence« hält James entgegen, dass es Fälle gebe, in denen sich die Gründe für und gegen

11 Ludwig Wittgenstein: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, hg. von Cyril Barrett, Oxford 1966, S. 60 (deutsch: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Düsseldorf und Bonn 1996). Für eine ausführliche Rekonstruktion von Wittgensteins Thesen über religiösen Glauben s. Christoph Jäger: »Wittgenstein über Gewissheit und religiösen Glauben«, in: Artur Boelderl (Hg.): Die Sprachen der Religion/The Languages of Religion, München 2003, S. 221–256.

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einen Sachverhalt die Waage halten, es aber dennoch nicht geboten sei, sich des Glaubens bzgl. dieses Sachverhalts zu enthalten.12 Laut James müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, um ein solches Recht zum Glauben zu haben. Erstens muss es sich bei der zur Disposition stehenden Frage für den Akteur um eine echte Option handeln; zweitens muss die Frage für das Subjekt aber auch intellektuell unentscheidbar sein. Für James erfüllen die Gegenstände religiösen Glaubens beide Bedingungen in paradigmatischer Weise. Aus der zweiten ergibt sich indessen unmittelbar, dass Glaubenseinstellungen keine Fälle von Wissen sind. Denn selbst wenn man (wie in heutigen, fallibilistischen Wissenstheorien) nicht fordert, dass Wissen auf infalliblen oder konklusiven Gründen beruht, gilt: Hat ein Subjekt insgesamt, quantitativ und qualitativ im Ganzen gleichgewichtige Gründe für und wider die Wahrheit eines Sachverhalts oder einer Proposition p, dann kann es nicht rationalerweise einen positiven doxastischen Glauben, dass p, bilden oder unterhalten. Salopp ausgedrückt: Bei Punktegleichstand für und gegen p ist der Schwellenwert für einen rationalen, gut begründeten doxastischen Glauben, dass p, in jedem Fall nicht erreicht. A fortiori kann dann auch kein Wissen vorliegen. Im vorliegenden Rahmen können James’ Überlegungen nicht ausführlicher verteidigt werden.13 Stattdessen möchte ich zum Abschluss dieses Abschnitts noch auf einen anderen großen Ansatz hinweisen, der die voluntaristischen Aspekte religiösen Glaubens hervorhebt. Auch Thomas von Aquin – in ganz anderer Tradition als James und weit davon entfernt anzunehmen, dass sich rationale theoretische Gründe für und wider den Glauben die Waage halten – betont, dass Glaube, obwohl sehr wohl rational begründbar, ein Entscheidungsmoment beinhaltet. Und Thomas unterstreicht, dass Glaube nur deshalb auch verdienstvoll sei: Würde er sich, wie etwa Überzeugungen, die sich auf Beweisgründe stützen, oder Überzeugungen, die unmittelbar einleuchten, ohne willentliches Zutun dem Subjekt unweigerlich aufdrängen, so wären seine meritorischen Aspekte hinfällig. Glaube (fides) ist laut Thomas eine Haltung (habitus), die sich in Akten des credere, welche sich als solche von allen anderen Arten kognitiver Aktivitäten unterscheiden, manifestiert.14 Dass Glaube (fides), speziell religiöser Glaube, kein Wissen (scientia) sei, betont Thomas dabei an vielen Stellen unmissverständlich. In De veritate beispielsweise und in der Summa theologiae (II II) finden sich u. a. folgende Aussagen:

William Clifford: »The Ethics of Belief« (1879); William James: »The Will to Believe« (1897), beide wiederabgedruckt in Auszügen u. a. in: Louis P. Pojman (Hg.): Philosophy of Religion, Belmont CA 2003, S. 363–367 u. S. 368–376. 13 Für eine kritische Diskussion s. etwa Beckermann (2013), Kap. 2.4. 14 Thomas unterscheidet, einer klassischen mittelalterlichen Dreiteilung folgend, die Akte des credere Deo, credere Deum und credere in Deum (ST II II, q. 2, a. 2), wobei es sich jedoch letztlich nicht um verschiedene Glaubensakte, sondern um ein und denselben Akt handele, der lediglich in seinen verschiedenen Beziehungen zum Glaubensobjekt betrachtet werde. Der Gegenstand des Glaubens wird als Deus bezeichnet, doch dies sei in einem weiteren Sinne so zu verstehen, dass nicht nur die Gottheit als »Erstwahrheit« (veritas prima) gemeint sei, sondern sämtliche Glaubensinhalte, sofern sie »auf Gott hingeordnet« sind. 12

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»Der Wissende wird nämlich vom Glaubenden unterschieden.«15 »Es ist unmöglich, dass von ein- und demselben [Subjekt] dasselbe gewusst und geglaubt wird.«16 »Über dasselbe kann es bei jemandem nicht Wissen und Glauben geben.«17 »Dasselbe kann nicht zugleich in derselben Hinsicht gewusst und geglaubt werden.«18 Zwar liegt diesen Behauptungen ein starker, infallibilistischer Begriff von scientia zugrunde, dem zufolge scientia nicht nur auf guten Gründen beruhen muss, sondern unumstößliche Beweise des gewussten Sachverhalts erfordert. Thomas unterscheidet credere jedoch darüber hinaus auch von sämtlichen sonstigen kognitiven Einstellungen19: Der Glaubende ist auch kein unmittelbar Einsehender (intelligens), kein Meinender (opinians), kein Vermutender (suspicans) und kein Zweifelnder (dubitans). Der Akt des Glaubens im Sinne von credere beinhaltet für Thomas zwar sehr wohl eine feste Zustimmung oder ein festes Anhangen (firma assensio, firma adhaesio) an seine Inhalte, worin er sich sowohl mit dem Wissen (scire) als auch mit dem unmittelbaren Einsehen trifft.20 Was der freien Entscheidung unterliege, sei im Falle des scire jedoch nicht die Zustimmung (da der Wissende durch einen schlagenden Beweis zur Zustimmung gezwungen wird), sondern lediglich das aktuale Erwägen des Wissensgegenstandes. Denn der Mensch habe die Macht, Dinge zu erwägen oder nicht zu erwägen.21 Beim credere aber unterliegt beides – sowohl das Erwägen der Sache als auch das Zustimmen – der freien Entscheidung. Bei ihm gebe der Wille den Ausschlag: »Der Verstand des Glaubenden wird nicht durch (diskursive) Gründe, sondern durch den Willen auf Eines hin festgelegt«; der Akt des Glaubens sei glauben (credere) als Akt des Verstandes, »der auf Befehl des Willens auf Eines hin bestimmt ist«.22

»Sciens enim a credente distinguitur« (QDV, q. 14, a. 1, 1). Thomas führt dies in der anfänglichen Problemexposition als eine Behauptung an, der die Augustinische Charakterisierung von credere als »Mit-Zustimmung-Denken« (cum assensione cogitare) zu widersprechen scheine. In seiner Antwort auf diesen ersten angeblichen Einwand verteidigt Thomas jedoch sowohl die Augustinische Charakterisierung als auch die Unterscheidung von Glaube und Wissen und entlarvt den scheinbaren Widerspruch zu Augustinus als Irrtum. 16 »Impossibile est quod ab eodem idem sit scitum et creditum.« (ST II II, q. 1, a. 5, resp.). 17 »De eodem non potest esse scientia et fides apud eumdem.« (ST II II, q. 2, a. 4, ad 2). 18 »Non potest simul idem et secundum idem esse scitum et creditum.« (ST II II, q. 1, a. 5, ad 4). 19 »Distinguitur iste actus qui est credere ab omnibus actibus intellectus qui sunt circa verum vel falsum.« (ST II II, q. 2, a. 1, resp.). 20 »Sed actus iste qui est credere habet firmam adhaesionem ad unam partem, in quo convenit credens cum sciente et intelligente.« (ST II II, q. 2, a. 1, resp.). 21 »Consideratio actualis rei scitae subiacet libero arbitrio: est enim in potestate hominis considerare vel non considerare.« (ST II II, q. 2, a. 9, ad 2). 22 »Intellectus credentis determinatur ad unum non per rationem, sed per voluntatem« (ST II II, q. 2, a. 1, ad 3). »Actus autem fidei est credere […] qui actus est intellectus determinati ad unum ex imperio voluntatis« (ST II II, q. 4, a. 1, resp.); vgl. auch ST II II, q. 2, a. 9, resp.; SCG III 40. Ähnlich verhält es sich laut Thomas auch bei den kognitiven Akten des Meinens und Vermutens: Da auch hier die Gründe nicht ausreichen, um firma assensio hervorzubringen, bedarf es der Mithilfe des Willens. In diesem Punkt ähnelt credere somit opinari und suspicari. 15

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Diese Eigenschaften von fides bzw. credere nun sind laut Thomas Voraussetzung für zwei entscheidende Charakteristika, die Glauben von Wissen unterscheiden. (a) Glaube ist, im Gegensatz zu Wissen (und zum unmittelbaren Einsehen), verdienstvoll, und verdienstvoll ist nur, was das Ergebnis freier Entscheidung ist. (Die freie Entscheidung ist Thomas zufolge ihrerseits letztlich von göttlicher Gnade bewegt23).24 (b) Ein weiteres Merkmal des Glaubens ist laut Thomas, dass er, anders als beim Wissen oder in der unmittelbaren Einsicht, trotz seiner Zustimmung nicht »zur Ruhe kommt«, sondern stets weiter motiviert ist, sich mit seinem Gegenstand zu beschäftigen. Der Wissende, schreibt Thomas zum Beispiel in De veritate, habe ein Denken, das die Zustimmung verursache, und eine Zustimmung, die das Denken beende; die Bewegung des Denkenden werde abgeschlossen und komme zur Ruhe. Doch beim Glauben komme die Bewegung des Verstandes trotz fester Zustimmung nicht zur Ruhe, sondern beinhalte nach wie vor Denken und Untersuchung dessen, was er glaube.25 An dieses Merkmal lässt sich ein fünftes Argument dafür anschließen, dass Glaube kein Wissen ist. (v) Glaube und Mysterium. Kant (auf den Gerhardt sich in seinem Buch expressis verbis beruft) betont in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dass »in allen Glaubensarten, die sich auf Religion beziehn, […] das Nachforschen hinter ihrer innern Beschaffenheit unvermeidlich auf ein Geheimnis, d. i. auf etwas Heiliges« stoße, das zwar »von jedem einzelnen gekannt, aber doch nicht öffentlich bekannt, d. i. allgemein mitgeteilt werden« könne.26 Betreff dieses Geheimnisses, so Kant, sei es dem Menschen nützlich und möglich zu verstehen, dass es ein solches gebe, jedoch nicht, es einzusehen. Kant beschreibt hier eine klassische Auffassung von religiösem Glauben als einer Einstellung, deren Gegenstände und Inhalte am Ende ein Mysterium bleiben. Dieser Gedanke spielt in der Geschichte des Christentums bis hinein in die zeitgenössische Theologie sowohl katholischer wie protestantischer Provenienz eine zentrale Rolle. In seinem Buch Gott als Geheimnis der Welt etwa greift der protestantische Theologe Eberhard Jüngel diese These auf und argumentiert, dass das Geheimnis des Glaubens im Glauben zwar in bestimmter Weise ergriffen werde, dass jedoch gelte: »Wenn man es ergreift, hört es nicht auf, Geheimnis zu sein«27. Das Evangelium sei das dem göttlichen Geheimnis entsprechende menschliche Wort, in dem sich ein Geheimnis als Geheimnis offenbare.

»Actus nostri sunt meritorii inquantum procedunt ex libero arbitrii moto a Deo per gratiam« (ST II II, q. 2, a. 9, resp.). 24 »Assensus autem scientiae non subjicitur libero arbitrio: quia sciens cogitur ad assentiendum per efficaciam demonstrationis. Et ideo assensus scientiae non est meritorius.« (ST II II, q. 2, a. 9, ad 2, meine Hervorhebung). 25 »Sciens vero habet et cogitationem et assensum; sed cogitationem causantem assensum, et assensum terminantem cogitationem. […] Sed in fide […] motus nondum est quietatus, sed adhuc habet cogitationem at inquisitionem de his quae credit, quamvis firmissime eis assentiat.« (QDV, q. 14, a. 1, resp.). 26 Immanuel Kant: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in 10 Bänden, Darmstadt 1968, S. 645–879, dort S. 803 (B 207 f.). 27 Eberhard Jüngel: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus (1977), Tübingen 72001, S. 341. 23

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Gerhardt zitiert u. a. Karl Rahner28, dem zufolge Zweifel kein konstitutives Element von Glauben sei. Auch Rahners Analysen von Glauben beinhalten indessen auf der anderen Seite die dezidierte These, dass Glaube keineswegs zu Wissen wird und niemals Wissen sein kann. In seinem Aufsatz Über das Geheimnis etwa schreibt Rahner, dass das Geheimnis des Glaubens zwar »für uns« sei, dies jedoch als »das Gefragte und doch nicht Gewußte«. Das Geheimnis werde »nicht weniger, sondern mehr, je mehr wir erkennen« .29 Und er führt aus: »Nichts weiß der Mensch in der letzten Tiefe genauer, als daß sein Wissen (in Alltag und Wissenschaft) nur eine kleine Insel in einem unendlichen Ozean des Unerfahrenen ist, daß so die existentielle Frage an jeden Wissenden die ist, ob er die kleine Insel seines sogenannten Wissens oder das Meer des unendlichen Geheimnisses mehr liebe, ob er zugibt, daß eigentlich das Geheimnis das einzig Selbstverständliche ist oder ob nach ihm das kleine Licht, mit der er diese kleine Insel ableuchtet (man nennt das Wissenschaft), sein ewiges Licht sein soll, das ihm (ach, es wäre die Hölle) ewig leuchtet.«30 Er beschließt seine Abhandlung mit den Worten, das Christentum sei eigentlich das ganz Einfache und Selbstverständliche. Denn das einzig Selbstverständliche sei das Geheimnis, weil alle Erklärung letztlich nur die Begründung im Abgrund des Geheimnisses sein könne, das wir auch Gott nennen.31 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die theologischen Tiefen dieser existenzphilosophisch inspirierten (und teils etwas literarisch vorgetragenen, dafür jedoch weniger um Klarheit bemühten) Überlegungen genauer auszuloten. Worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, ist nur Folgendes: Wie auch immer man die Rede von »Geheimnis« hier im Detail deuten mag, etwas, das seinem Wesen nach ein Geheimnis ist und aus begrifflichen Gründen bleiben muss, ist in seinen Inhalten kein Gegenstand möglichen Wissens. M. E. sind mit diesen fünf Überlegungen die Argumente gegen eine Identifikation von Glaube mit einer Form von Wissen keineswegs erschöpft. Die vorliegenden Hinweise mögen jedoch an dieser Stelle genügen, um zusammenfassend festzuhalten: Einem traditionsreichen und bis heute weit verbreiteten Selbstverständnis des Christentums zufolge – vielleicht insbesondere, aber keineswegs nur in katholischer Prägung – erhebt Glaube seinem Wesen nach keinen Anspruch auf Wissen, sondern geht im Gegenteil davon aus, dass seine Gegenstände epistemisch nicht oder allenfalls in beschränkten Ausschnitten erfasst werden können.

Gerhardt: Das Göttliche, Abschnitt 5. Karl Rahner: »Über das Geheimnis«, in: Stimmen der Zeit 167 (1960/61), S. 241–252, dort S. 242. 30 Ebd., S. 247. 31 Ebd., S. 251. Im Hinblick auf die kirchliche Mysterienlehre unterscheidet Rahner drei christliche Grundmysterien: Dreifaltigkeit, die Menschwerdung Gottes, und »rechtfertigende, vergöttlichende Gnade« (S. 248). 28 29

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3. Glaube und Hoffnung Rohs beschreibt sein Grundanliegen als den Versuch, die Natur und die Inhalte eines »rational zulässigen theistischen Glaubens« zu bestimmen.32 Dies beinhalte insbesondere auch eine Abgrenzung zu Aberglauben, religiöser Schwärmerei und religiösem Wahn. In der Tat erscheint diese Aufgabe heute vielleicht dringlicher denn je. Aber was genau bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass ein Glaube rational zulässig bzw. unzulässig ist oder, wie Rohs auch sagt, als vernünftig und mit »intellektueller Mündigkeit« vereinbar gelten kann? In großen Teilen seines Buchs betreibt Rohs klassische Rationale Theologie. Genauer gesagt, bekennt er sich (implizit) zu einem Programm augustinischen Typs, das es zum Nachweis der Rationalität theistischen Glaubens nicht für nötig erachtet, diesen »positiv« als wahrscheinlich wahr zu erweisen, ihm aber gewisse negative kognitive Restriktionen auferlegt. Rohs betont erstens, dass Glaube den Erkenntnissen der Naturwissenschaften nicht widersprechen sollte. Zweitens müssen »die Aussagen, die seinen Inhalt wiedergeben, […] miteinander verträglich sein […]. Es sollte sich bei ihnen um eine konsistente Satzmenge handeln«33. Explizit verwirft Rohs dabei jedoch den Versuch, den epistemischen Status religiöser Überzeugungen im Rahmen einer explanatorischen Physikotheologie (z. B. im Stile Swinburnes) zu begründen. Inspiriert von Kant, beruft er sich stattdessen auf eine auf die Zukunft gerichtete Ethikotheologie, der zufolge Gott als moralischer Gesetzgeber und iudex iustus für die ultimative Verwirklichung von Gerechtigkeit sorgt. Glaube ist in diesem Zusammenhang drittens unabhängigen moralischen Bedingungen unterworfen. So lehnt Rohs etwa augustinische Vorstellungen von Erbsünde aus moralischen Gründen ab. Die Vererbung ethischer Qualitäten widerspreche den Prinzipien der Ethik.34 Insgesamt bilden diese drei Desiderata – Einklang mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften, logische Konsistenz und Übereinstimmung mit unabhängig begründbaren moralischen Normen – den Kern des von Rohs für religiösen Glauben erhobenen allgemeinen Kohärenzpostulats. Bezogen auf den christlichen Monotheismus, plädiert Rohs vor der Folie dieser zunächst formalen Forderungen für einen Gottesbegriff, der einige traditionelle christliche Vorstellungen verabschiedet, um andere zu bewahren. Zu den grundlegenden und laut Rohs unbedingt zu bewahrenden Lehren gehören insbesondere jene von der absoluten Heiligkeit Gottes, die Idee von Gott als einer frei handelnden Person und die Annahme, dass Menschen frei handelnde Personen sind. Insbesondere kritisiert Rohs vor diesem Hintergrund (i) angesichts des Theodizeeproblems die Auffassung, Gott sei uneingeschränkt allmächtig; (ii) im Hinblick auf die Freiheit Gottes die in der Augustinus-Boethius-Thomas-Tradition bis heute einflussreiche Idee göttlicher Zeitlosigkeit; und (iii)

Rohs: Platz zum Glauben, etwa Abschnitt 1, 4; vgl. auch Platz zum Glauben, etwa S. 9, 12, 15, 18, 31, 44 und passim. 33 Ebd., S. 22, s. auch S. 2. 34 Vgl. Ebd., S. 132. 32

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bezogen auf die Freiheit des Menschen die Vorstellung, Gott sei allmächtig. Das »omnipotens« sei zu ersetzen durch ein »satis potens«. Vor allem am letztgenannten Punkt hakt die Kritik Beckermanns ein: Rohs’ Revision des traditionellen Gottesbegriffs werfe mindestens ebenso viele Fragen auf wie sie beantworte und beinhalte letztlich allenfalls theoretische »Verschlimmbesserungen«. Zunächst ist es laut Beckermann fraglich, ob der Rohssche Machtbegriff im vorliegenden Zusammenhang überhaupt konsistent ist. Eine zentrale Rolle in der Rohsschen Religionsphilosophie spielt etwa auch die Annahme einer auf Gott beruhenden postmortalen Fortexistenz. Doch ist es verständlich anzunehmen, dass Gott Menschen ein Leben nach dem Tod zu ermöglichen vermag, jedoch beispielsweise Naturkatastrophen, die großes Leid über Menschen bringen, das qualvolle Sterben von Kindern, Folter, Völkermord und all die anderen Gräuel dieser Welt aus Mangel an Macht nicht verhindert? Beckermann erscheint eine positive Antwort hierauf ad hoc: Gott, so wirft er ein, könnte dann zum Teil weniger als wir, doch das sei ein abwegiges Ergebnis. Rohs geht in seinem Beitrag bereits kurz auf Beckermanns Kritiken ein. Ich möchte an dieser Stelle jedoch nicht ausführlicher in diese Debatte eintreten, sondern auf einen anderen und in gewisser Hinsicht religionsphilosophisch fundamentaleren Punkt eingehen. Auch er betrifft, wie die obige Diskussion des Verhältnisses von Glauben und Wissen, die Natur religiösen Glaubens. Rohs unterscheidet zwischen »doxastischem Glauben«, als einem Fürwahrhalten von Aussagen oder Propositionen, und einem »fiduziellen Glauben« im Sinne des Vertrauens auf eine Person oder Sache. Im Kern indessen, konstatiert er, sei jeder fiduzielle religiöse Glaube eine Hoffnung: Die Frage, »[o]b es eine rational zulässige Hoffnung gibt, die sich auf die gesamte Existenz bezieht und das Irdische sogar transzendiert, darf als die Grundfrage der Religionsphilosophie gelten«35. Auch Gerhardt erwähnt, wenn auch mit weniger Nachdruck als Rohs, die Rolle der Hoffnung für religiösen Glauben.36 Diese These steht in klassischer christlicher Tradition. Man denke etwa an jene berühmte Stelle im Hebräerbrief, an der es explizit heißt, Glaube sei ein Feststehen in dem, was man erhofft (Hebr 11,1). Für viele Kirchenväter und mittelalterliche Exegeten galt diese Passage als Schlüsselstelle zur Wesensbestimmung christlichen Glaubens. Nun ist allerdings zu erwarten, dass die Rationalitätsbedingungen für Hoffnungen andere sind als die für Meinungen oder Überzeugungen. Immerhin handelt es sich um sehr unterschiedliche Arten propositionaler Einstellung. Wenn religiöser Glaube somit, wie Rohs (zu Recht) argumentiert, wesentlich fides ist, doch fiduzieller Glaube im Kern eine Hoffnung darstellt, dann liegt ein zentrales Desiderat für den von Rohs vorgeschlagenen Ansatz darin, die Rationalität jener für religiösen Glauben grundlegenden Hoffnung zu untersuchen. Dieser Frage wird im Buch indessen nicht systematisch nachgegangen. Was sind Hoffnungen? Worin liegen die Spezifika religiöser Hoffnungen? Und was sind deren Rationalitätsbedingungen? Wenn theistischer religiöser Glaube, wie Rohs argumentiert, »im 35 36

Ebd., S. 15 u. 16. Gerhardt: Das Göttliche, Abschnitt 7.

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Kern eine Hoffnung« ist, dann hängt die Erhellung der Rationalität religiösen Glaubens für den von Rohs vorgeschlagenen Ansatz wesentlich von der Beantwortung dieser Fragen ab. Ich kann ihnen im vorliegenden Kontext nicht in extenso nachgehen, möchte jedoch abschließend einige erste Gedanken zum Thema formulieren. Diese werden zu einer zumindest vorläufigen Charakterisierung der gradierbaren Rationalität von Hoffnungen führen, die ihrerseits in unterschiedlicher Intensität vorliegen können. Für die folgende Diskussion werde ich einige relativ unkontroverse Thesen über Hoffnungen voraussetzen, die hier aus Raumgründen nicht weiter begründet werden sollen. 1. Implizite (latente) und explizite Hoffnungen: Hoffnungen müssen nicht explizit oder in einem emphatischen Sinne bewusst sein; unsere Hoffnungen existieren auch dann (weiter), wenn wir nicht explizit an sie denken. 2. Kein privilegierter Zugang: Hoffnungen sind nicht per se epistemisch transparent, und unsere Urteile über sie aus der Perspektive der Ersten Person sind nicht unfehlbar oder unkorrigierbar. Was unsere wahren Hoffnungen sind, darüber können wir uns täuschen. 3. Hoffnungs-Involuntarismus: Hoffnungen sind nicht direkt willentlich steuerbar. Obwohl wir indirekt über langfristige Beeinflussung von mentalen Dispositionen und Charaktereigenschaften auch unsere Hoffnungen beeinflussen können, können wir uns nicht einfach entscheiden, etwas Bestimmtes zu hoffen oder nicht zu hoffen. 4. Hoffnungen auf Vergangenes? Laut Rohs ist Glaube im Kern Hoffnung und außerdem nicht auf die Vergangenheit, sondern auf zukünftige ultimative Gerechtigkeit gerichtet. Doch Glaube ist nicht etwa deshalb primär auf Zukünftiges gerichtet, weil er Hoffnung ist. (Rohs behauptet dies auch nicht, aber seine Thesen könnten leicht in dieser Weise missverstanden werden.) Hoffnungen können sich auch auf bereits vergangene Ereignisse beziehen, was mit ihrer – unten weiter diskutierten – epistemischen Unsicherheit zusammenhängt. (Man hofft, dass ein nahestehender Mensch die Stelle bekommen, die Prüfung bestanden, die OP überlebt hat usw.) 5. Handlungsmotivation: Hoffnungen sind typischerweise, zumindest dann, wenn sie auf Zukünftiges gerichtet sind, handlungsmotivierend. Einer verbreiteten philosophischen Auffassung zufolge sind Hoffnungen Einstellungen, die sowohl Meinungen als auch Wünsche involvieren; Hoffnungen haben bestimmte doxastische und volitive oder kognitive und konative Aspekte.37 Einigen Theorien zufolge kommen weitere, von diesen Aspekten unabhängige Momente hinzu. Ich betrachte im Folgenden vor allem diesen Überzeugungs-Wunsch-Komplex. Genau welche doxastischen und volitiven Momente kommen in Frage? Eine entscheidende normative BeVgl. hierzu etwa ausführlich Bluhm: Selbsttäuscherische Hoffnung, passim; sowie die Diskussionen von Luc Bovens: »The Value of Hope«, in: Philosophy and Phenomenological Research 59 (1999), S. 667–681; Victoria McGeer: »Trust, Hope and Empowerment«, in: Australasian Journal of Philosophy, 86 (2008), S. 236–254, dort S. 243–246; oder Adrienne M. Martin: »Hopes and Dreams«, in: Philosophy and Phenomenological Research 83 (2011), S. 148–173, dort S. 150: »[…] a common, if now somewhat old-fashioned, philosophical definition of hope: the hope for an outcome is a combination of a desire for that outcome and a belief that it is possible but not certain.« Bovens und McGeer lehnen solche Ansätze als zu restriktiv ab. McGeer nennt sie »deflationary«; Bovens schlägt als weitere Komponente »mental imaging« vor. Gabriel Segal und Mark Textor: »Hope as a Primitive Mental State«, in: Ratio 28 (2015), S. 207–222, kritisieren Wunsch-Überzeugungs-Analysen als »reductive« und schlagen vor, Hoffnungen als mentale Zustände bzw. Einstellungen sui generis zu analysieren. 37

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dingung ist die einleitend bereits genannte Restriktion, dass jemand, der rationalerweise hofft, dass p, sich weder sicher sein darf, dass p, noch, dass nicht-p. Wenn ich (mit guten Gründen) absolut sicher bin, dass ich das Buch nur verlegt und nicht endgültig verloren habe, dann hoffe ich dies nicht zugleich. Rationale Hoffnungen setzen fehlende epistemische Gewissheit voraus. Nennen wir dies die Bedingung der epistemischen Unsicherheit.38 Rohs’ Konsistenzforderung passt gut zu dieser Beobachtung: Wenn eine Satzmenge (oder Menge von Propositionen) inkonsistent ist, dann darf ich mir rationalerweise sicher sein, dass das, was sie behauptet, unmöglich und daher auch faktisch nicht der Fall ist; folglich kann ich dann nicht rationalerweise hoffen, dass es der Fall ist. Nun sind sowohl die Rationalität einer Hoffnung als auch die Hoffnung selbst etwas Graduelles. Man hofft mehr oder weniger stark in mehr oder weniger rationaler Weise. Entsprechend ist unser Analysandum genauer zu beschreiben als das, was den Rationalitätsgrad einer Hoffnung von bestimmter Stärke bestimmt. Folgt womöglich der Rationalitätsgrad der Hoffnung einer bestimmten Stärke der subjektiven Wahrscheinlichkeit dessen, was gehofft wird, so dass es beispielsweise wenig rational ist, stark darauf zu hoffen, dass etwas vermeintlich sehr Unwahrscheinliches der Fall ist? Bei näherem Hinsehen erscheint diese Überlegung unhaltbar. Für viele Arten von Situationen scheint es umgekehrt so zu sein, dass eine Hoffnung umso stärker sein darf oder sogar sollte, je unwahrscheinlicher der Sachverhalt ist, auf den gehofft wird. (Vielleicht sollte meine Hoffnung, noch vor Ausbruch des Gewitters die Berghütte zu erreichen, umso größer sein, um mit der angemessenen Energie das Richtige zu tun, je geringer ich die Chance einschätze, dass dies gelingt.) Generell legt nicht allein der subjektive Wahrscheinlichkeitsgrad des Inhalts einer Hoffnung in bestimmter Stärke ihren Rationalitätsgrad fest; ein entscheidender Faktor hierfür liegt vielmehr auch in der subjektiven evaluativen Bedeutung des Inhalts der Hoffnung und der Stärke entsprechender Wünsche ihres Trägers. Einige Dinge sind uns weniger wichtig als andere. So gibt es triviale Hoffnungen: Ich hoffe, dass mein Lieblingseis am Stand um die Ecke heute Nachmittag nicht ausverkauft sein wird; um eine bedeutsame Hoffnung handelt es sich aber (so hoffe ich jedenfalls) nicht. Auch dies sollte ihre Stärke bestimmen. Religiöse Hoffnungen dagegen sind für die meisten Gläubigen bedeutsam, wichtig, lebensbestimmend; ja, oft handelt es sich um die für sie bedeutsamsten überhaupt. Ein Kriterium für die Bedeutsamkeit einer Hoffnung ist dabei das, was man den Grad ihrer affektiven Besetzung nennen könnte. Kennzeichnend für wichtige Hoffnungen sind affektive Aspekte, und religiöse Hoffnungen sind paradigmatische Beispiele hierfür. Typischerweise handelt es sich bei ihnen nicht um »kalte« propositionale Einstellungen. Rohs’ Rede in diesem Zusammenhang von Hoffnungen, die sich »auf die gesamte Existenz beziehen«, lässt sich mit dieser These gut vereinbaren.

38 Vgl. hierzu etwa Bovens: Value of Hope, S. 673: »An attitude of hoping for some state of the world is inconsistent with being confident that it will or will not come about.« Martin: Hopes and Dreams, S. 150, spricht ebenfalls von »epistemic uncertainty«. Bluhm: Selbsttäuscherische Hoffnung, S. 138, 139 u. ö., expliziert diese Bedingung hilfreich mit dem Begriff der subjektiven Wahrscheinlichkeit: Wenn eine Person S hoffe, dass p, dann schreibe sie p eine subjektive Wahrscheinlichkeit PS(p) mit 0 < PS(p) < 1 zu.

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Ich komme damit zu einem weiteren Detail der volitiven Aspekte von Hoffnungen. Hoffnungen gehen nicht einfach mit bestimmten Wünschen einher. Was ihnen korrespondiert, sind positiv bewertete oder vom Subjekt akzeptierte Wünsche. Manchmal haben wir Wünsche, von denen wir wünschen, dass sie nicht erfüllt werden. (Man denke an Harry Frankfurts Beispiele des sich von seinen Drogenwünschen distanzierenden Süchtigen oder des Neugierigen, der lediglich wissen will, »wie es sich anfühlt«, einen bestimmten Wunsch zu hegen, dessen Erfüllung er aber aus Klugheitsgründen vermeiden möchte.) Solche Wünsche generieren nicht die Hoffnung auf Erfüllung. Martin bezeichnet wohl daher die These, Hoffnungen seien »endorsed desire plus uncertainty« als die philosophische default definition des Begriffs der Hoffnung.39 Auch die Akzeptanz von Präferenzen ist indessen etwas Graduelles. Somit ergibt sich, dass die Rationalität einer Hoffnung neben den anderen genannten Determinanten auch vom Grad der Akzeptanz der korrespondierenden Präferenzen abhängt: Wenn ich die Erfüllung eines von mir unleugbar gehegten Wunsches des Inhalts, dass p, (etwa aus moralischen oder aus Klugheitsgründen) um jeden Preis vermeiden möchte, dann wäre es in hohem Maße irrational, dennoch zu hoffen, p möge der Fall sein oder werden. Insgesamt schlage ich im Lichte der soweit vorgetragenen Überlegungen ein Prinzip vor, das den Rationalitätsgrad von Hoffnungen einer bestimmten Stärke als eine Funktion der epistemischen Adäquatheit der fehlenden Gewissheit bzgl. ihres Inhalts sowie dessen subjektiver Bedeutung und präferenzieller Akzeptanz bestimmt: Ein Rationalitätsprinzip für Hoffnungen S’s Hoffnung H im Grade G und des Inhalts, dass p, ist in dem Maße rational für S, in dem (i) die mit H einhergehende epistemische Unsicherheit seitens von S bzgl. der Frage, ob p, epistemisch adäquat ist sowie (ii) G der Stärke des für H konstitutiven Wunsches, dass p, und (iii) dem Grad von S’s Akzeptanz dieses Wunsches in angemessener Weise korrespondiert. Die erste Bedingung stellt sicher, dass die Rationalität einer Hoffnung bestimmten epistemischen Restriktionen unterliegt. Ist jemand sich weder sicher, dass p, noch, dass nichtp, dann ist, wenn diese Einschätzungen auf epistemisch defizitären Gründen oder stark unzuverlässigen Prozessen basieren, die Hoffnung, dass p (oder dass nicht-p), mindestens in dem Maße irrational, in dem diese Fehleinschätzung epistemisch inadäquat ist. Je nach bevorzugter Theorie epistemischer Adäquatheit oder epistemischer Rechtfertigung mag man den Begriff der epistemischen Adäquatheit internalistisch, externalistisch oder ggf. mit Anleihen sowohl bei internalistischen wie bei externalistischen Theorien ausbuchstabieren. (ii) garantiert, dass etwa große Hoffnungen auf für das Subjekt unwichtige Dinge oder auch schwache Hoffnungen auf sehr wichtige Dinge ceteris paribus in dem Maße irrational sind, in dem ihre Stärke vom Grad der subjektiven Bedeutung des Gegenstandes bzw. der Stärke korrespondierender Wünsche abweicht. Bedingung (iii) schließlich stellt sicher, dass man nur in dem Maße rationalerweise auf etwas hoffen kann, in dem man die Präferenz für den erhofften Sachverhalt, die vielleicht nicht, zumindest nicht unmittelbar, 39

Martin: Hopes and Dreams, S. 150, Hervorhebung C.J.

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beeinflussbar ist, auch gutheißt. Dieser Bedingung zufolge ist es beispielsweise irrational, auf Erfüllungen von Wünschen zu hoffen, die man – womöglich gegen seinen Willen – hegt, aber nicht erfüllt sehen möchte. Von den oben genannten Fragen über Hoffnungen sind damit einige in erster Annäherung beantwortet. In einem nächsten Schritt wären die Spezifika religiöser Hoffnungen zu benennen sowie die obigen allgemeinen Überlegungen über Hoffnungen zu vertiefen und im Detail auf den Begriff der religiösen Hoffnung und die Frage nach ihrer Rationalität anzuwenden. Dieses Projekt muss zu anderen Gelegenheiten weiter verfolgt werden. Ich fasse zusammen. Neben einigen einführenden Hinweisen zu den von den anderen Symposiasten debattierten Themen habe ich im Hauptteil dieses Beitrags Aspekte der Natur religiösen, speziell theistischen Glaubens diskutiert. In Abschnitt 2 habe ich fünf Argumente gegen Gerhardts Behauptung vom »beanspruchten Wissen« religiösen Glaubens vorgebracht, mich jedoch seiner These sowie der Rohsschen Betonung der zentralen Rolle der Hoffnung für religiösen Glauben angeschlossen. Am Beginn dieser Abhandlung habe ich im Hinblick auf diesen Punkt noch ein sechstes Argument gegen Gerhardt skizziert: Auch er meint, dass Hoffnungen im Glauben eine wichtige Rolle spielen. Doch wenn religiöser Glaube Wissen beansprucht, dann, so ergibt eine nähere Betrachtung der Natur von Hoffnungen, kann der Gläubige nicht rationalerweise zugleich auch Hoffnungen mit eben jenen Inhalten haben, die er zu wissen glaubt. Mein Fazit lautet, dass die Religionsphilosophie nicht oder zumindest nicht allein die Rationalität religiöser doxa, sondern die Vernünftigkeit von fides zu untersuchen hat. Und dazu gehört wesentlich eine Analyse der Vernünftigkeits- und Rationalitätsbedingungen für Hoffnungen. Rohs kommt das Verdienst zu, den Begriff der religiösen Hoffnung, der in der gegenwärtigen Religionsphilosophie wenig beachtet ist, ins Zentrum der Betrachtung gerückt zu haben. Ausführlichere Analysen des Begriffs hatten in seinem Buch indessen keinen Platz mehr. Im dritten Teil meines Beitrags habe ich einige erste Schritte unternommen, diese weißen Flecke auf der Landkarte eines religionsphilosophischen Programms, das der Hoffnung einen entscheidenden Platz im Glauben einräumt, zu füllen.40

Literatur Beckermann, Ansgar: »Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs, Der Platz zum Glauben«, in diesem Band. – Glaube, Berlin, Boston 2013. Bluhm, Roland: Selbsttäuscherische Hoffnung – eine sprachanalytische Annäherung, Münster 2012. Bovens, Luc: »The Value of Hope«, in: Philosophy and Phenomenological Research 59 (1999), S. 667–681. Clifford, William: »The Ethics of Belief« (1879), wiederabgedruckt in Auszügen u. a. in: Louis P. Pojman (Hg.): Philosophy of Religion, Belmont, CA, 2003, S. 363–367. 40

Für hilfreiche Hinweise danke ich Sylvia Astner.

Glaube, Wissen und rationales Hoffen

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Dretske, Fred: Seeing and Knowing, London 1969. Gerhardt, Volker: Der Sinn des Sinns – Versuch über das Göttliche, München 2014. – »Das Göttliche als Sinn des Sinns: Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen«, in diesem Band. Hossenfelder, Malte: »Einleitung«, in: Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, eingeleitet und übersetzt von Malte Hossenfelder, Frankfurt/M. ³1999, S. 9–90. Jäger, Christoph: »Wittgenstein über Gewissheit und religiösen Glauben«, in: Artur Boelderl (Hg.): Die Sprachen der Religion/The Languages of Religion, München 2003, S. 221–256. James, William: »The Will to Believe« (1897), wiederabgedruckt in Auszügen u. a. in: Louis P. Pojman (Hg.): Philosophy of Religion, Belmont, CA, 2003, S. 368–376. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus (1977), Tübingen 72001. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in 10 Bänden, Darmstadt 1968, Bd. 3. Kant, Immanuel: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in 10 Bänden, Darmstadt 1968, Bd. 7, S. 645–879. Martin, Adrienne M.: »Hopes and Dreams«, in: Philosophy and Phenomenological Research 83 (2011), S. 148–173. McGeer, Victoria: »Trust, Hope and Empowerment«, in: Australasian Journal of Philosophy, 86 (2008), S. 236–254. Plantinga, Alvin: Warranted Christian Belief, Oxford 2000. Rahner, Karl: »Über das Geheimnis«, in: Stimmen der Zeit 167 (1960/61), S. 241–252. Rohs, Peter: Der Platz zum Glauben, Paderborn 2013. – »Der Platz zum Glauben«, in diesem Band. Segal, Gabriel/Textor, Mark: »Hope as a Primitive Mental State« , in: Ratio 28 (2015), S. 207–222. Tapp, Christian: »Über den Sinn des ›Sinns des Sinns‹: Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch ›Der Sinn des Sinns‹«, in diesem Band. – »Vernunft und Glaube«, in: Spektrum der Wissenschaft 1 (2012), S. 56–63. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate, in: ders., Opera Omnia, Editio Leonina (Rom 1882 ff.), Bd. 22, Rom 1970–1976. – Summa contra Gentiles, in: ders., Opera Omnia, Editio Leonina (Rom 1882 ff.), Bd. 13–15, Rom 1918–1930. – Summa theologiae, secunda secundae, in: ders., Opera Omnia, Editio Leonina (Rom 1882 ff.), Bd. 8–10, Rom 1895–1899. Wittgenstein, Ludwig: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology and Religious Belief, hg. v. Cyril Barrett, Oxford 1966 (deutsch: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Düsseldorf, Bonn 1996).

Der Platz zum Glauben Peter Rohs (Münster)

Der Titel meines Buches soll an die bekannte Formulierung Kants erinnern, er habe das Wissen aufheben müssen, um zum Glauben Platz zu bekommen1. Außerhalb des Bereichs, in dem Wissen möglich ist, soll es Platz für einen religiösen, theistischen Glauben geben, und es soll rational zulässig sein, ihn nicht nur zu vertreten, sondern an ihm sein gesamtes Leben zu orientieren. Damit, dass man ihn vertritt, soll keine Verletzung irgendeiner epistemischen Pflicht verbunden sein. Einen solchen Glauben kann man mit Kant auch als einen freien Glauben bezeichnen, den anzunehmen ohne Verzicht auf Mündigkeit möglich ist. Dieser Platz ist jedoch begrenzt. Nicht alles, was je aus religiösen Gründen geglaubt worden ist, erfüllt die Bedingung, in diesem Sinn rational zulässig zu sein. Kant gebraucht für das, was seiner Auffassung nach außerhalb liegt, Ausdrücke wie Aberglaube und Schwärmerei, er spricht sogar von »Religionswahn«. Dass es religiösen Aberglauben gegeben hat und wohl auch noch gibt, dürfte kaum zu bestreiten sein. Bei der Bestimmung des Platzes zum Glauben geht es also um eine Grenzziehung: Was ist rational zulässiger Glaube, was unzulässiger Aberglaube? In meinem Buch bemühe ich mich darum, diese Grenze genauer zu bestimmen. Zugleich möchte ich aber auch zeigen, dass der Platz zum Glauben nicht leer ist, dass also nicht alle theistischen Überzeugungen Aberglauben sind. Radikale Atheisten wie z. B. Dawkins2 sind dieser Meinung. Wenn es richtig ist, dass die Grenze des Wissens bei diesen Fragen überschritten wird, dann können auch atheistische Überzeugungen nur den Status eines Glaubens haben. Beweise für die Nichtexistenz Gottes müssen an denselben Fehlern leiden wie die Gottesbeweise. Auch ein atheistischer Glaube kann jedoch rational zulässig sein. Dass es rational zulässige theistische Überzeugungen gibt, schließt nicht aus, dass es auch rational zulässige atheistische Überzeugungen geben kann. Auch für sie muss es freilich Grenzen geben, und Überzeugungen, die sich dieser Grenzen nicht bewusst sind und überzogene Ansprüche vertreten, müssen wie der Aberglaube als rational unzulässig gelten. Wenn gezeigt wird, dass der Platz zum Glauben nicht leer ist, sind sie als falsch erwiesen. Sowohl der Aufweis, dass ein solcher Platz nicht leer ist, als auch der seiner Grenzen sollen selbst möglichst rational erfolgen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche Gründe dafür sprechen, gleichsam diesen Platz auch zu betreten, also einen solchen rational zulässigen theistischen Glauben zur Grundlage der eigenen Lebensführung zu Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. III, Berlin 1968, S. 19 (Vorrede zur zweiten Auflage). 2 Vgl. Richard Dawkins: The God Delusion, London 2006 (dt. Der Gotteswahn, Berlin 2007). 1

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machen. Theologen und Philosophen haben häufig betont, dass die Aneignung eines solchen Glaubens stets ein Moment der Entscheidung und des Wagnisses behalten muss. Das muss schon deswegen so sein, weil wir uns außerhalb des Bereichs eines möglichen Wissens befinden. Dass ein Glaube als rational zulässig erwiesen ist, bedeutet also nicht, dass er auf rationale Weise als wahr erwiesen worden wäre. Der Glaube wird dadurch, dass er als rational zulässig erwiesen wird, nicht in Wissen verwandelt. Die epistemische Unsicherheit bleibt. Ein Aberglaube muss in falschen Überzeugungen bestehen, ein rational zulässiger Glaube kann es. Rational zulässige atheistische Überzeugungen können freilich ebenfalls falsch sein. Aus dieser Situation folgt, dass jede Entscheidung für das eine oder das andere mit Unsicherheit behaftet sein muss, es folgt jedoch nicht, dass sie rein willkürlich erfolgen muss. Kant wollte zeigen, dass moralische Einstellungen einen begründeten Ausschlag geben können. In jedem Fall sollte klar sein, dass es sich um eine Entscheidung von großem existenziellem Gewicht handelt. Ein Grund dafür liegt sicherlich schon darin, dass es bei ihm um eine in moralischer Hinsicht bedeutsame Hoffnung geht. Kants Frage »Was darf ich hoffen?« muss als die Grundfrage der Religionsphilosophie gelten. Das »darf« in ihr ist im Sinne der rationalen Zulässigkeit zu verstehen. Unvernünftige Hoffnungen sind billig zu haben. Eine religiöse Hoffnung wird eine solche sein, die in diesem Leben nicht erfüllt werden kann, die über es hinausreicht. Einen theistischen Glauben, der nicht mit einer Hoffnung auf eine postmortale Fortexistenz verbunden ist, hält Kant für sinnlos: »Ohne Glauben an ein künftiges Leben kann gar keine Religion gedacht werden.«3 Der Aufweis, dass der Platz zum Glauben nicht leer ist, muss also einschließen, dass man auch dies hoffen darf. Dass es für eine solche Hoffnung keine Garantie dafür gibt, dass sie erfüllt werden wird, liegt auf der Hand. Trotzdem, so ist zu zeigen, »darf« man hoffen. Den Inhalt dieser Hoffnung sehe ich nicht in einer erwünschten paradiesischen Seligkeit, sondern darin, dass letztendlich die Gerechtigkeit verwirklicht werden wird. Mit Kant zu reden, es handelt sich um eine Hoffnung der praktischen Vernunft, nicht um eine, der sinnliche Wünsche zugrunde liegen. Dass es beim Glauben im Kern um eine Hoffnung geht, zeigt auch, dass der Agnostizismus keine akzeptable Position ist. Was die rein theoretischen Gehalte angeht – ob es Gott gibt oder nicht usw. – mag man zwar Agnostiker sein, aber im Fall der Hoffnung gilt, man hofft oder hofft nicht. Ein Hoffender weiß in der Regel nie, ob sich seine Hoffnung erfüllen wird, aber er muss wissen, dass er hofft. Wenn ich ungewiss bin, ob ich hoffen soll oder nicht, hoffe ich nicht. Der Religionsphilosophie stellen sich also drei Aufgaben: zu prüfen, ob es einen rational zulässigen theistischen Glauben gibt, zu prüfen, wo seine Grenzen sind, und mögliche Gründe zu benennen, die dazu bewegen können, sich auf die Sache einzulassen. Es geht selbstverständlich nicht um Gottesbeweise. Ein Theist muss nicht nachweisen können, dass es Gott gibt, er sollte aber zeigen können, dass sein Glaube rational zulässig ist. Von dem, was ich in meinem Buch zur Behandlung dieser drei Aufgaben vorgeschlagen habe, kann ich hier nur einiges Grundsätzliche anführen. Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 126. 3

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Ein formales Kriterium für die rationale Zulässigkeit ist, dass die verschiedenen Überzeugungen miteinander logisch konsistent sind. Ich zitiere Kenny als einen Zeugen dafür, dass in traditionellen Glaubenslehren schon diese elementare Bedingung nicht erfüllt war. Wenn die Glaubenssätze einander widersprechen, müssen irgendwelche aufgegeben bzw. abgeändert werden. Auch muss etwas zur Sprache theistischer Überzeugungen gesagt werden. Manche Begriffe müssen auf Gott anwendbar sein. Es muss z. B. sinnvoll gesagt werden können, dass Gott tätig ist oder dass er gerecht ist. In der Bibel ist diese Bedingung selbstverständlich erfüllt. Eine erste inhaltliche Forderung ist, dass das Freiheitspostulat erfüllt sein muss, dass also sowohl Gott wie die Menschen als frei zu denken sein sollen. Wie Kant sich ausdrückt, unter den drei Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit ist die mittlere diejenige, die die beiden anderen nach sich zieht.4 Die Religionsphilosophie ist abhängig von einer rein handlungstheoretischen Theorie der Freiheit. Diese ist bekanntlich eine sehr umstrittene Angelegenheit. Trotzdem muss die Religionsphilosophie eine solche Theorie voraussetzen. Bedeutende Religionsphilosophen haben sich auch immer wieder mit dem Thema befasst. Eine weitere inhaltliche Bedingung ist, dass die Heiligkeit Gottes als unantastbar zu gelten hat. Es handelt sich dabei um eine moralische Kategorie: Es ist nicht erlaubt, Gott Handlungen zuzuschreiben, die eine Verletzung grundlegender moralischer Gesetze darstellen würden. Dabei müssen wir unterstellen, dass für Gott dieselben gelten wie für uns. Andernfalls hätte es keinen Sinn, Gott als gerecht oder gütig zu bezeichnen, denn diese Prädikate müssten jeden Sinn verlieren. Wir müssen uns, wenn wir über Gott reden, auf unser Wissen von den moralischen Gesetzen stützen können. Diese Bedingung ist vor allem deswegen von Bedeutung, weil es zu einem Konflikt zwischen der unbedingten Heiligkeit Gottes und seiner traditionell angenommenen Allmacht kommen kann. Im Fall eines solchen Konfliktes hat die Allmacht zu weichen, nicht die Heiligkeit. Moralische Kategorien müssen im Theismus einen höheren Rang haben als solche der Macht. An die Stelle des »omnipotens« setze ich deswegen ein »satis potens«: Gott muss in jedem Fall die Macht haben, die er haben muss, wenn die Hoffnung auf ihn sinnvoll sein soll. Dafür ist jedoch keine Allmacht erforderlich, erst recht keine so absolute, wie sie ihm in kompromisslosen Prädestinationslehren zugeschrieben worden ist. Es soll in jedem Fall gelten, dass die Heiligkeit eine nicht disponible, die Macht eine disponible Bestimmung ist. Eine mehr theoretisch-philosophische Bedingung liegt in der Zeitlichkeit Gottes. Aus Gründen, die von theologischen Fragen unabhängig sind, nehme ich an, dass bestimmte Zeitstrukturen wesentlich sind für jede Form von Subjektivität. Tätigkeiten, Freiheit Personalität – all das gibt es nicht ohne Zeit. Das muss allgemein gelten, sodass es inkonsistent wird, Gott als ein außerzeitliches Wesen zu denken und doch anzunehmen, dass er Entscheidungen trifft und tätig ist. In den biblischen Texten ist die Zeitlichkeit Gottes von Beginn an als selbstverständlich vorausgesetzt. Es sind griechische Philosophen gewesen, Vgl. Immanuel Kant: Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 418. 4

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die den Gedanken einer außerzeitlichen Ewigkeit entwickelt haben. Vom Neuplatonismus aus ist das dann gegen den klaren Wortlaut der Bibel in die christliche Theologie importiert worden. Das war allerdings, wie ich überzeugt bin, kein glücklicher Einkauf. An der Zeitlichkeit eines freien Gottes sollte streng festgehalten werden. Bestimmte Dogmen der traditionellen Ontologie müssen dann freilich aufgegeben werden. Die Konzeption der Transzendenz Gottes, die ja ebenfalls neuplatonischen Ursprungs ist und schlecht zu der Annahme passt, dass Gott frei ist, wird problematisch. Ich plädiere deswegen für etwas, was ich mit einer Wendung Henrichs als einen »Spinozismus der Freiheit« bezeichne.5 Die Unterscheidung von Physikotheologie und Ethikotheologie führt Kant in der »Kritik der Urteilskraft« ein (§ 85).6 Sie ist deswegen von Bedeutung, weil sich an ihr aufzeigen lässt, was für einen rational zulässigen Glauben wichtig ist. Die Physikotheologie ist auf die Vergangenheit gerichtet, sie will etwas, das geschehen ist, mit theistischen Begriffen erklären. Sie ist von Hume und Kant und dann von Fichte nicht nur hinsichtlich ihrer Erklärungskraft, sondern auch hinsichtlich ihres theologischen Ertrags kritisiert worden. Bei Kant heißt es, eine konsequent verfahrende Physikotheologie müsse zur Dämonologie führen.7 Von Fichte zitiere ich die Aussage, eine Schöpfungslehre (die ja zur Physikotheologie gehören würde) sei das erste Kriterium der Falschheit einer Religionslehre.8 Ich schließe mich dieser Kritik an – der Blick in die Vergangenheit kann die Hoffnung, auf die es ankommt, nicht stützen. Allerdings gestehe ich einer nicht-explanatorischen Physikotheologie, in der es um bestimmte Einstellungen gegenüber der Natur, nicht um Erklärungen zu tun ist, einen gewissen Wert zu. Ich erläutere sie an Tischgebeten. Die Ethikotheologie blickt in die Zukunft. In ihr geht es um eine Hoffnung, die im Horizont der praktischen Vernunft als vernünftig gelten muss – die Hoffnung auf eine letztendliche Verwirklichung von Gerechtigkeit. Gott gilt für sie vor allem als iudex iustus, nicht als creator. Dabei ist nicht eine theoretische Widerlegung des Atheisten beabsichtigt, sondern ein praktisches Argument: dass es vernünftig ist, einen Glauben, der in theoretischer Hinsicht rational zulässig ist, zur Grundlage der eigenen Lebensführung zu machen. Es handelt sich also um ein Argument, das etwas zu der dritten vorhin genannten Frage sagen soll. Ein weiteres liefert die religiöse Erfahrung, die ebenfalls zwar nicht zur Widerlegung von Atheisten taugt, wohl aber denjenigen, der über sie verfügt, rational berechtigt (sofern die anderen Bedingungen erfüllt sind), sie als Richtschnur im Leben zu benutzen. Dafür, dass die religiöse Erfahrung auch zu Aberglauben führen und schlimme Folgen haben kann, wenn sie nicht geprüft wird, liefert die Geschichte aller Religionen reichlich Belege. Das Problem der Theodizee ist sicherlich das schwierigste für einen Ausweis der rationalen Zulässigkeit theistischer Überzeugungen. Die Unmenge von Leid, das in der Welt geschehen ist und immer noch geschieht, ist das stärkste Argument für einen Atheisten, Peter Rohs: Der Platz zum Glauben, Münster 2013, S. 60. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 165–485, dort S. 436–442. 7 Vgl. ebd., S. 444. 8 Rohs: Der Platz zum Glauben, S. 72. 5 6

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der überzeugt ist, die Annahme, ein allmächtiger, allwissender und gütiger Gott lenke das Weltgeschehen, sei mit diesem Faktum nicht zu vereinbaren und deshalb kaum zu verteidigen. Zu einem rational zulässigen Glauben sollte gehören, dass man auf diesen Einwand etwas zu antworten weiß. Manche der gängigen Entgegnungen scheinen mir nun wenig brauchbar zu sein. So hilft der Hinweis auf die Schwäche der menschlichen Vernunft kaum. Wir können zwar nicht die Motive kennen, die einem möglichen Handeln Gottes zugrunde liegen mögen, aber wir müssen voraussetzen, dass die moralischen Gesetze, die uns unsere praktische Vernunft lehrt, auch für Gott gelten. Andernfalls hätte es keinen Sinn, von Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit zu sprechen. Was geschieht, darf also nicht dazu nötigen, Gott unmoralische Handlungen anzulasten. Unakzeptabel scheinen mir auch alle Versuche zu sein, des Problems dadurch Herr zu werden, dass man sich irgendwelche moralisch einwandfreien Gründe ausdenkt, die Gott dazu bewogen haben könnten, das Geschehene bewirkt zu haben. Derartige Überlegungen fallen stets unbefriedigend, wenn nicht gar empörend aus, vor allem wenn man nicht von einem ethischen Utilitarismus ausgeht, sondern von Gesetzen, die es verbieten, moralische Wesen zu instrumentalisieren. Ich zitiere Theologen, die Vorschläge, mit denen das Leid funktionalisiert wird, als argumentativ zynisch und religiös wertlos ablehnen.9 Mir scheint das ein angemessenes und zutreffendes Urteil zu sein. Es bleibt dann nur, die Macht Gottes einzuschränken, also insbesondere die Allmacht aufzugeben. Wie gesagt, die Macht scheint mir ein disponibler theologischer Faktor zu sein, solange gesichert bleibt, dass Gott die Macht besitzt, die gebraucht wird, um letztlich Gerechtigkeit durchzusetzen. Schon die Bitte des Vaterunsers »Dein Wille geschehe« schließt eine Allmacht aus, die impliziert, dass Gottes Wille ohnehin immer und überall geschieht. Die Bitte würde ja sinnlos sein. In anderer Form sind auch früher schon Einschränkungen von Gottes Macht angenommen worden. Für Luther z. B. ist in dieser Welt Satan aktiv, der »Fürst dieser Welt«; »groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist«. Kein Wunder also, dass diese Welt so voll von Leid ist. Gottes Macht erweist sich darin, dass »ein Wörtlein« Satan fällen und seine Macht beenden kann. Es handelt sich also um eine gleichsam potenzielle Macht. Da das erforderliche Wörtlein aber offenkundig nicht gesprochen worden ist, bleibt Satans Macht bis auf weiteres ungebrochen und kann zur Erklärung des Leides und der Ungerechtigkeit in der Welt herangezogen werden. Es ist nun allerdings nicht erforderlich, eine mögliche Gegenmacht in dieser Weise zu personalisieren. Ein gerechter Richter muss eine Person sein, die Ursache von Leid muss es nicht sein. In meinem Buch übernehme ich Gedanken der Prozesstheologie, in der ebenfalls die Allmacht bestritten und ein Werden der Macht Gottes angenommen wird. Die Situation dürfte dann insofern noch etwas ernster als bei Luther sein, als es mit einem »Wörtlein« vermutlich nicht getan ist. Wenn es so leicht wäre, bliebe ja die Frage, weshalb nicht auf der Stelle Satans Wirken unterbunden wird. Was die physischen Übel betrifft, könnte die Antwort in einer solchen objektiven Begrenztheit der Macht Gottes beste9

Vgl. ebd., S. 103.

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hen. Hinsichtlich der moralischen Übel, die von Menschen frei verübt werden, ist an das Freiheitspostulat zu erinnern. Gott kann danach freie Handlungen von Menschen nicht verhindern, aber er könnte böse Handlungen, wenn sie geschehen sind, bald bestrafen. Er könnte z. B. jeden, der Unschuldige quält oder tötet, nach kurzer Zeit blind werden lassen. Wenn er das generell täte, könnte von moralischer Freiheit aber kaum mehr die Rede sein. Die Freiheit darf so doch als ein Gut gelten, das es vertretbar macht, dass um ihretwillen gelitten wird. Die Hoffnung, die Inhalt des Glaubens sein soll, kann sich nicht innerhalb dieses Lebens erfüllen. Ein rational zulässiger Glaube muss also die Hoffnung auf eine postmortale Fortexistenz einschließen. In der christlichen Theologie sind dabei zwei Vorstellungen kombiniert worden, die aus verschiedenen Quellen stammen und eigentlich miteinander unvereinbar sind: die einer Unsterblichkeit der Seele und die einer leiblichen Auferstehung. Aus allgemein philosophischen Gründen scheint mir nur die letztere sinnvoll zu sein. Ein Dualismus, wie er in der Vorstellung impliziert ist, beim Tode verlasse die Seele den Körper, scheint mir nicht mehr vertretbar zu sein. Wenn es Gott nicht gibt, ist auch an eine Auferstehung der Toten nicht zu denken, wenn es ihn jedoch gibt, ist sie möglich. Man darf annehmen, dass Gott sie bewirken kann und zugleich auch moralische Gründe hat, das wirklich zu tun. Während die Unsterblichkeit als eine Eigenschaft der menschlichen Seele gedacht war, die unabhängig von einem Eingreifen Gottes ist, ist die Auferstehung offenbar an ein solches gebunden. Ein Problem dabei ist, dass aus moralischen Gründen eine realistische diachrone Identität der Person über den Tod hinweg anzunehmen ist. Selbstverständlich ist eine solche im traditionellen Glauben auch stets vorausgesetzt worden. Jeder sollte als er selbst auferstehen. In der gegenwärtigen Philosophie ist die Möglichkeit einer derartigen diachronen Identität schon für dieses Leben strittig – erst recht muss eine über dies Leben hinaus als problematisch gelten. Ich orientiere mich für die Verteidigung einer solchen Konzeption an Überlegungen von Martine Nida-Rümelin und nehme an, dass Gott diese Beziehung für moralische Wesen auch über den Tod hinaus realisieren kann. Zum Schluss erörtere ich noch, inwieweit der christliche Glaube die Bedingungen erfüllt, die für einen rational zulässigen theistischen Glauben aufgestellt worden waren. Vor allem drei traditionelle und spezifisch christliche Lehrstücke scheinen mir da problematisch zu sein. Erstens sollte eine Erbsünde unmöglich sein. Eine moralische Qualität kann im Unterschied zu einer Krankheit oder einer finanziellen Schuld nicht vererbt werden. Es handelt sich, wie Kant sich ausdrückt, nicht um eine »transmissible« Qualität. Etwas nur Ererbtes kann keine gerechte Strafe nach sich ziehen und erfordert auch keine Erlösung. Zweitens ist auch die Vorstellung, dass ein »stellvertretendes Leiden« eines Unschuldigen die Schuld eines Schuldigen vermindern oder ganz beseitigen kann, aus moralischen Gründen nicht annehmbar. In der Darstellung des Gerichtes, die Jesus selbst gibt (Mt. 25, 31 – 46), ist von einer solchen Möglichkeit auch nicht die Rede. Und drittens halte ich für ebenfalls nicht annehmbar die Lehre, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Institution heilsnotwendig ist. Der Sinn einer Kirche scheint mir eher darin zu liegen, ein religiöses Leben in Gemeinschaft zu ermöglichen. Ob sich diese Lehrstücke so interpretieren lassen, dass derartige Bedenken entkräftet werden, ist nicht mein Thema.

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Genug, wenn es mir gelungen sein sollte, wesentliche theistische Überzeugungen als rational zulässig erwiesen zu haben.

Anhang Ansgar Beckermann hat mir freundlicherweise den Text seines Kommentars zu meinem Buch zur Verfügung gestellt, sodass ich auf einige seiner Einwände schon hier eingehen kann. Auf seine Titelfrage »Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis?« möchte ich antworten: die Hoffnung. Wegfallen soll nur, was in sich unvernünftig und für die Hoffnung belanglos ist oder sie sogar untergräbt. Die Hoffnung soll uneingeschränkt ihren Sinn behalten, allerdings nicht die auf eine ewige Seligkeit, sondern die auf eine ideale Verwirklichung von Gerechtigkeit. Manche moderne Theologen scheinen für den »strafenden Gott« wenig Sympathie zu haben – trotz der eindeutigen und unmissverständlichen Worte von Jesus. Es geht um Strafen im Kontext der Verwirklichung von Gerechtigkeit, nicht um Strafen als willkürliche Demonstrationen von Macht und ebenfalls nicht um Strafen für Vergehen von Vorfahren. Man sollte auch nicht das simple Schema von Himmel und Hölle unterstellen, bei dem ja eine differenzierte Gerechtigkeit kaum möglich ist. Schon in der christlichen Tradition hat man sich genötigt gesehen, zusätzlich ein Purgatorium einzuführen, um etwas mehr Raum für Gerechtigkeit zu bekommen. Entgegen christlichen Vorstellungen möchte ich allerdings annehmen, dass Gott keine Sünden vergibt, da er gerecht ist. Er bewirkt zunächst um der Gerechtigkeit willen eine Auferstehung aller moralischen Wesen und dann für die Auferstandenen eine vollkommene moralische Klarsicht sowohl hinsichtlich allgemeiner Regeln als auch des je individuellen Zustandes. Diese Klarsicht beschränkt sich nicht auf ein bloßes Wissen, sondern ist für die Schuldigen verbunden mit dem Schmerz darüber, was sie sind. Es verwirklicht sich so, was die Stoiker gelehrt haben: das Böse ist in sich selbst schon die Strafe. Was die Vergebung betrifft, sympathisiere ich mit einem Gedanken aus Platons Phaidon: die Vergebung muss durch die Opfer, nicht durch Gott erfolgen.10 Wer Ketzer verbrannt, Juden ermordet, Frauen und Kinder erschossen oder sonst derartige Grausamkeiten begangen hat, der muss seine Opfer um Vergebung bitten, jeden einzeln. Gott vergibt nichts, er sorgt aber für ein Szenario, in dem Vergebung und Gerechtigkeit zusammen bestehen können. Es ist nicht verwunderlich, dass Beckermann besonders heftig meinen Vorschlag attackiert, das Problem der Theodizee durch eine Einschränkung der Macht Gottes zu lösen. In der Tat, das hat zur Folge, dass Gott vielfach weniger kann als Menschen. Dass er z. B. gegen die Sterblichkeit von Frauen im Kindbett, gegen die von Neugeborenen und gegen sehr viele Krankheiten nichts getan hat, bevor Menschen eingegriffen haben, ist ein schlichtes Faktum. Wenn Leukämie, Malaria oder Ebola besiegt werden, dann durch Menschen und nicht durch Gott. Was soll man daraus schließen? Dass es Gott nicht gibt? 10

Platon: Phaidon, 114a–b.

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Dass es ihn zwar gibt, er aber vorzügliche Gründe hat, solche Sachen zuzulassen? Dass es ihn gibt, er aber nichts tun konnte – sei es wegen der Macht Satans, sei es anderer Widerstände wegen? Dass die menschliche Vernunft hier an ein unauflösliches Rätsel stößt? Offenkundig ist die atheistische Antwort rational möglich. Bei ihr ergibt sich allerdings, dass man im fraglichen Sinn nichts hoffen darf. Ich plädiere deswegen für eine Antwort, die einerseits die Hoffnung zulässt, andererseits nicht dazu nötigt, Gott Handlungen zuzuschreiben, die mit seiner Heiligkeit nicht zu vereinbaren wären. Logisch möglich ist das in jedem Fall, schon weil Übel und Auferstehung zu verschiedenen Zeitpunkten stattfinden. Den Ausschlag geben kann nur das Gewicht der Hoffnung. Wie man es einschätzt, ist nicht theoretisch allgemein bestimmbar, sondern Sache einer persönlichen Einstellung. Beckermanns Verwunderung darüber, dass Gott in der Vergangenheit nicht einmal den Druck von Magmablasen ablassen konnte, muss man freilich hinnehmen, wenn man sich für den Theismus entscheidet: so ist es eben. Der Vorwurf, dass eine Annahme ad hoc ist, betrifft die Pragmatik der Entwicklung wissenschaftlicher Theorien und sollte in diesem Zusammenhang keine Rolle spielen. Dass eine Annahme ad hoc ist, erlaubt nicht den Schluss, dass sie falsch ist, und noch nicht einmal den, dass es rational unzulässig ist, sie zu akzeptieren, wenn gewichtige Gründe für sie sprechen. Beckermann schreibt, ich schuldete eine Antwort auf die Frage, warum Gott bestimmte Dinge tun kann und andere nicht. Ich denke, man kann feststellen, dass Gott bestimmte Dinge nicht getan hat (z. B. das Erdbeben von Lissabon oder das gegenwärtige in Nepal zu verhindern). Daraus möchte ich schließen, dass er (angenommen es gibt ihn) das nicht tun konnte, halte es aber für falsch, daraus weiter zu schließen, dass er andere Dinge nicht tun können wird. Sowohl für das eine wie für das andere müssen keine Details einer Theorie göttlichen Handelns angegeben werden. Was die Existenz Gottes vor dem Urknall betrifft, so gibt es schon in physikalischen Theorien genügend kosmologische Modelle, die die Raumzeit nicht begrenzen.11 Auch aus einer spinozistischen Perspektive ist es sinnlos, von einer Entstehung Gottes zu sprechen. Die eigentliche Schöpfungslehre gehört zur Physikotheologie, sie scheint mir deswegen für den Theismus nicht zentral zu sein. Ich habe Fichte zitiert, der sogar sagt, sie beweise die Falschheit einer Religionslehre. Hinsichtlich des göttlichen Vorauswissens schlage ich zunächst vor, dass Gott als idealer Physiker alles vorausweiß, was durch Anfangsbedingungen und physikalische Gesetze determiniert ist. Dazu gehören nach meiner Auffassung von Freiheit freie Handlungen nicht. Sie kann Gott erst konstatieren, wenn sie geschehen sind. Erdbeben, Vulkanausbrüche und ähnliche Ereignisse müsste er allerdings mit ihren schrecklichen Folgen voraussehen. Deswegen erwäge ich im Kontext der Theodizeeproblematik, Gottes Vorauswissen stärker einzuschränken.12 Beckermann empfindet das als eine skurrile Idee. Nun müsste die Einschränkung nicht so total sein, dass Gott gar nicht weiß, was er tut, wenn er etwas tut. Trotzdem gebe ich zu, dass meine Überlegung problematisch ist. Es dürfte vernünftiger sein, es bei der ohnehin gebotenen Begrenzung der Macht zu belassen. 11 12

Vgl. Rohs: Der Platz zum Glauben, S. 61. Ebd., S. 101.

Der Platz zum Glauben

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Ob Gott gezielt auf die Entstehung des Menschen hingewirkt hat, ist eine umstrittene Frage. Eine Antwort auf sie würde ebenfalls zur Physikotheologie gehören müssen. Angesichts zahlreicher Zufälle, die dabei nach gegenwärtigem Wissensstand eine große Rolle gespielt haben, neige ich zur Skepsis. Die Dinosaurier sollen z. B. durch den Einschlag eines Asteroiden vor 65 Millionen Jahren ausgelöscht worden sein. Wäre das nicht geschehen, gäbe es keine Menschen. Soll man deswegen annehmen, dass Gott das Ding auf die Erde geschleudert hat? Ich denke, die Antwort auf die Frage, was man hoffen darf, hängt davon nicht ab. Beckermann ist bestrebt (vermutlich nicht aus Sympathie für den Theismus), die Physikotheologie in das Zentrum theistischer Überzeugungen zu rücken, während ich sie, gestützt auf Kants Kritik an ihr, daraus fernhalten möchte. Wir sind uns sicher einig darin, dass der Blick auf das vergangene Weltgeschehen die Hoffnung, auf die es ankommt, nicht rechtfertigen bzw. als rational zulässig erweisen kann. Da die Physikotheologie auch zu theoretisch gehaltvollen Erklärungen nicht taugt, kann ihr Sinn nur darin bestehen, eine bestimmte Einstellung der Natur gegenüber zu motivieren, eine Einstellung, die man als »Naturfrömmigkeit« bezeichnen kann. Nur insofern scheint mir die Physikotheologie theologischen Wert zu haben. Es ist gewiss wünschenswert, wenn eine solche Haltung sich verbreiten und sogar praktische Konsequenzen haben sollte. Theologen ziehen heute die Physikotheologie in dieser Intention auch wieder verstärkt heran. Trotzdem kann sie in der Diskussion um die rationale Zulässigkeit des Theismus weitgehend beiseite bleiben. Zum Schluss fragt Beckermann, ob es noch sinnvoll ist, zu Gott zu beten, wenn man nicht sicher wissen kann, ob er imstande ist, die Bitten zu erfüllen. Der Sinn des Betens besteht aber wohl nicht darin zu versuchen, auf dem Umweg über Gott bestimmte Ziele zu erreichen, die man anders nicht erreichen kann. Hier passt besser ein Satz von Albert Schweitzer: Beten verändert nicht die Welt, aber Beten verändert Menschen, und Menschen verändern die Welt.

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Kolloquium 13 · Peter Rohs

Literatur Dawkins, Richard: The God Delusion, London 2006 (dt. Der Gotteswahn, Berlin 2007). Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. III, Berlin 1968. – Kritik der Urteilskraft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 165– 486. – Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 1–202. – Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie, in: Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. VIII, Berlin 1968, S. 411–422. Platon: Phaidon, in: Platonis opera, hg. v. John Burnet, Bd. 1, Oxford 1900, Nachdruck u. a. 1989, dort S. 79–172. Rohs, Peter: Der Platz zum Glauben, Münster 2013.

Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs: Der Platz zum Glauben Ansgar Beckermann (Bielefeld)

Die Götter der Antike, vieler nichteuropäischer Kulturen und selbst der Gott des Alten Testaments sind Wesen, denen man moralische Vollkommenheit nicht unbedingt nachsagen kann. Sie lügen und betrügen, sie sind eifersüchtig, selbstsüchtig und hintertrieben. Und sie sind extrem ehrpusselig. Wer ihnen gegenüber nicht den nötigen Respekt an den Tag legt, kann mit nichts Gutem rechnen. Schon in der griechischen Antike kommt jedoch Kritik an diesem Verständnis der Götter auf. Xenophanes ist ein Name, der in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird. Und spätestens mit Platon setzt eine Bewegung ein, in der das Gottesverständnis immer weiter idealisiert wird. Am Ende steht ein Gottesbegriff, der dann auch im Christentum vorherrscht – Gott, das ens perfectissimum, das Wesen, über dem Größeres nicht einmal gedacht werden kann. Diesem Verständnis zufolge ist Gott allmächtig, allwissend und vollkommen gut; außerdem ist Gott eine körperlose Person, einzig, ewig und der Schöpfer und Erhalter der Welt. Wenn man Peter Rohs folgt, sollte dieser Prozess der Idealisierung aber zumindest ein Stück weit zurückgenommen werden. Rohs geht es in seinem Buch Der Platz zum Glauben1 darum, welche Art von Gottesglauben, wenn überhaupt einer, rational zulässig ist. In seinen Augen ist weder der Theismus noch der Atheismus beweisbar, insofern kann man weder dem Theisten noch dem Atheisten den Vorwurf der Irrationalität machen. Allerdings gilt das nicht für alle Spielarten des Theismus – für Rohs sind nur solche religiöse Überzeugungen rational akzeptabel, die erstens konsistent sind, die zweitens den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften nicht widersprechen und die schließlich drittens von mündigen Menschen akzeptiert werden können, was immer das im Detail heißen mag. Allerdings: Genau genommen geht es Rohs gar nicht um alle Spielarten des Theismus, die rational akzeptabel sind. Er konzentriert sich vielmehr auf ein bestimmtes Gottesverständnis; und er untersucht, unter welchen Bedingungen diese spezielle Auffassung Gottes rational vertretbar ist. Zentral für dieses Gottesverständnis sind zwei Merkmale – Gott ist eine handelnde Person und Gott ist heilig (absolut vollkommen). Hinzu kommen zwei weitere Punkte – Gott ist in seinem Handeln frei, und er ist kein Hindernis für unsere menschliche Freiheit. Schließlich ist Rohs primär an einem Gott interessiert, der den kantschen Postulaten der praktischen Vernunft entspricht. Gott muss also dafür sorgen, dass zumindest am Ende aller Zeiten Glück und Glückswürdigkeit ins richtige Verhältnis kommen. Was im Übrigen auch impliziert, dass es für uns ein Leben nach dem Tode gibt.

1

Vgl. Peter Rohs: Der Platz zum Glauben, Münster 2013.

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Schon die Annahme, dass Gott ein handelndes Wesen ist, hat nach Rohs erhebliche Konsequenzen. Und diese Annahme ist für ihn alternativlos: »Vorstellungen von einem ‚Absoluten‘, das nicht als tätig gedacht werden kann, dürfen nicht mehr als theistisch gelten.«2 In der Tradition wird Gott sehr oft als ewig betrachtet, wobei Ewigkeit mit Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit gleichgesetzt wird. Das kann nach Rohs aber nicht stimmen, wenn wir den Begriff der Tätigkeit nicht überstrapazieren wollen. »Eine Tätigkeit ist ein Veränderungen involvierender Prozess. Zu ihr gehören eine Absicht und damit eine Beziehung auf Zukunft. Wir haben keinen Begriff von einer Tätigkeit, in der es nicht in irgendeiner Form um etwas Zukünftiges geht. […] Noch mehr gilt dies für Entscheidungen. […] [A]uch bei [diesem Begriff ] gilt, dass wir uns von einer zeitlosen Entscheidung ohne jedes Vorher und Nachher keinen Begriff machen können.«3 Wenn Gott handeln kann, muss er also ein zeitliches Wesen sein wie wir. Bevor er handelt, überlegt er, was er erreichen will, und das geht nur, wenn noch nicht feststeht, wie es in der Welt weitergeht. Und dann handelt er zu einem Zeitpunkt, um dem Weltverlauf eine bestimmte Richtung zu geben. Das setzt außerdem voraus, dass die Welt in die Zukunft hin offen ist. Deshalb plädiert Rohs zugleich für einen ontologischen Hemiaktualismus. »Der Ausdruck kann für eine Ontologie stehen, der gemäß die Welt im Werden begriffen und noch nicht endgültig fertig und abgeschlossen ist.«4 Zu jedem Zeitpunkt t gibt es eine Vergangenheit, die fertig und insofern abgeschlossen ist; aber die Zukunft existiert zu t noch nicht in derselben Weise wie die Vergangenheit. Sie wird erst, und ist insofern offen. »Holoaktualistisch« nennt Rohs dagegen eine Ontologie, der zufolge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle in der gleichen Weise existieren, der zufolge also die ganze Welt zu jedem Zeitpunkt schon fertig ist, wie sie ist. Rohs fasst diese Überlegung so zusammen: »An die Spitze der ontologischen Prämissen des Theismus möchte ich darum den Hemiaktualismus setzen. Auch für Gott muss es Erwartungen und Erinnerungen geben, er muss Absichten haben können, die auf die Zukunft gehen […]. Gott existiert, wenn er existiert, in einer noch nicht fertigen Welt, nicht aber in einer außerzeitlichen Ewigkeit, in der alles zugleich wirklich ist. Festzuhalten ist darum die These Swinburnes, dass der timeless-view von Gott inkohärent ist, festzuhalten sind aber auch die beiden Thesen Spinozas, dass die körperliche Substanz Gottes nicht unwürdig ist, und dass Gott eine res extensa ist.«5 Und erläuternd fügt Rohs noch hinzu: »Die Welt müsste dann als der Leib Gottes gelten.«6 Man muss sich Gott also nicht nur als zeitliches, sondern auch als räumliches Wesen vorstellen, was gut dazu passt, dass Rohs der Idee reiner Geister nicht viel abgewinnen kann. 2 3 4 5 6

Ebd., S. 41. Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 50. Ebd., S. 59 f. Ebd., S. 56.

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Frei können wir nach Rohs nur sein, wenn es zu dem, was wir tun, Alternativen gibt. Aber das ist nicht der Fall, wenn Gott in einem umfassenden Sinn allwissend ist. »Wenn Gott schon zu t1 eine Überzeugung davon hat, was N zu t2 tun wird, und wenn es unmöglich ist, dass sich eine Überzeugung Gottes irgendwann als falsch herausstellt, dann ist es zu t2 nicht mehr möglich, dass N etwas tut, was die Überzeugung Gottes falsch machen würde. Es gibt also zu t2 für N keine Möglichkeit mehr, etwas anderes als das von Gott Vorhergesehene zu tun. Von der Existenz einer Alternative kann keine Rede mehr sein.«7 Wenn wir freie Wesen sein sollen, kann es also nicht sein, dass Gott zu jedem Zeitpunkt t schon weiß, was wir demnächst tun werden. Und das ist deshalb so, weil für Rohs gilt: Zu jedem Zeitpunkt t weiß Gott zwar, was in Zukunft geschehen muss; aber er weiß zu t noch nicht, was in Zukunft geschehen wird – ohne dass es notwendig ist. Und damit weiß er auch nicht, welche freien Handlungen wir ausführen werden. Denn gerade unsere freien Handlungen sind weder metaphysisch noch nomologisch notwendig. Weitere Einschränkungen für die Allwissenheit Gottes, aber auch für seine Allmacht ergeben sich nach Rohs aus dem Problem des Übels. Das logische Problem des Übels gilt Vielen als zumindest im Prinzip gelöst. Denn es scheint ja zumindest möglich, dass es für jedes Leid und jeden Schmerz in der Welt ein höherwertiges Gut gibt, das nur erreicht werden kann, wenn Gott dieses Leid und diesen Schmerz zulässt. Ich selbst habe in den letzten Jahren allerdings ein Argument wieder aufgegriffen, mit dem insbesondere D.Z. Phillips versucht hat zu zeigen, dass es so einfach nicht ist.8 Wenn Gott einen Menschen leiden lässt, um damit irgendein Ziel zu erreichen – sei es dass er ein kleines Kind qualvoll sterben lässt oder dass er zulässt, dass im Holocaust Millionen von Menschen vergast werden –, so benutzt er dieses Leid und damit diese Menschen offensichtlich als Mittel zum Zweck. Damit verstößt er aber gegen Kants praktischen Imperativ: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.«9 Rohs akzeptiert dieses Argument. »Ein Gott, der die Leiden von Kindern abschätzt, die – etwa bei einem Erdbeben zerquetscht unter schlimmen Qualen sterben, und der dann diese wie immer bewerteten Leiden gegen Güter aufrechnet, die zu erreichen nur so möglich gewesen sein soll – ein solcher Gott ist keine achtbare Figur. Wie soll dabei noch von Heiligkeit und Liebe die Rede sein?«10

Ebd., S. 64. Vgl. Ansgar Beckermann: »Das logische Problem des Übels ist nicht gelöst«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 64 (2010), S. 239–245 und ders., Glaube, Berlin/Boston 2013, Abschn. 7.4. 9 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Immanuel Kant: Werke. AkademieTextausgabe. Bd. IV, Berlin 1968, S. 429. 10 Rohs: Der Platz zum Glauben, S. 99. 7 8

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Aber wie löst er dann das Problem des Übels? Hier greift Rohs auf die Prozesstheologie Griffins zurück, den er folgendermaßen zitiert: »Mein Lösungsvorschlag des Theodizeeproblems, das sich ja allein aus der Lehre von der Allmacht Gottes ergibt, besteht in der Streichung genau dieser Allmachtslehre.«11 Gott kann, so Griffin nach Rohs, die Übel nicht verhindern. »[E]r kann nicht am Anfang ein Paradies erschaffen, das ohne eine langwierige und leidvolle Evolution in schöner Vollendung aus seinen Händen kommt. Er besitzt kein Machtmonopol, sondern muss sich mit vorgegebenen, ebenfalls notwendig existierenden nichtgöttlichen Aktualitäten auseinandersetzen. Die Wirkkräfte sind stets geteilt, es gibt die göttlichen, aber ebenso die nichtgöttlichen. Und Gottes Wirkkraft ist auch dadurch beschränkt, dass er diese anderen Aktualitäten nicht direkt ‚zwingen‘, mit unwiderstehlicher physischer Gewalt determinieren kann. […] Er kann […] nur versuchen, die nichtgöttlichen Aktualitäten durch Überredung […] zu beeinflussen […].«12 Nun findet auch Rohs die Annahme, dass Gott die Elementarteilchen nur durch Überredung beeinflussen kann, »nicht unproblematisch«13. Aber auf diese Annahme kann man in seinen Augen durchaus verzichten, wenn man sich nur klar macht, welche Einschränkung der Hemiaktualismus für das Wissen Gottes über die Welt bedeutet. Gott konnte, so Rohs, zu Beginn der Welt kein zuverlässiges Wissen darüber haben, wie sie sich entwickeln würde. »Er war auf die Evolution und deren Kreativität angewiesen und konnte nur durch sie erfahren, was geschieht. Andernfalls wäre unverständlich, warum er, um die Menschen zu schaffen, an denen ihm eigentlich gelegen war, eine Evolution des Universums von fast 14 Milliarden Jahren in Kauf nehmen musste.«14 Gott hat weder den Verlauf der Evolution noch die Wesen, die im Laufe dieses Prozesses entstanden sind, geplant und/oder bewirkt. »Um es so zu sagen: Vor dem Big Bang kannte er alle logischen, mathematischen und moralischen Wahrheiten, jedoch keine einzige empirische. Dies liegt an den von ihm unabhängigen Kräften, die Griffin als nichtgöttliche Aktualitäten bezeichnet. Weil es sie gibt, kann sich Gottes empirisches Wissen nur auf das jeweils Vergangene beziehen.15 Und das bedeutet nach Rohs auch, dass Gott die Naturgesetze nicht geschaffen hat. Falls er überhaupt die Welt erschaffen hat (dazu später mehr), kannte er die Naturgesetze nicht einmal, als er die Welt erschuf.

11 David Ray Griffin: »Schöpfung aus dem Chaos und das Problem des Übels«, in: Alexander Loichinger & Armin Kreiner (Hg.), Theodizee in den Weltreligionen, Paderborn 2010, S. 48–65, S. 53. 12 Rohs: Der Platz zum Glauben, S. 97, meine Hervorh. 13 Ebd., S. 101. 14 Ebd. 15 Ebd.

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»Es ist […] nicht zu sehen, was eine Erschaffung von Naturgesetzen durch Gott bedeuten soll. Naturgesetze können nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt hervorgebracht worden sein. Auch für die Prozesstheologie ergeben sie sich aus dem, was Gott vorgegeben ist. […] Bei Griffin heißt es, dass es möglicherweise ewige, ungeschaffene notwendige Prinzipien über rein logische Wahrheiten hinaus gibt, welche die konkrete Entfaltung der Aktualitäten bestimmen und damit die Beschaffenheit dessen, was überhaupt real möglich ist, eingrenzen […]. Man sollte die Existenz solcher Prinzipien als wirklich akzeptieren.«16 Das ist eine, wie mir scheint, wirklich bemerkenswerte Position. Auch früher schon haben Philosophen – unter ihnen Anthony Kenny, auf den sich Rohs mehrfach bezieht – argumentiert, dass die Idee eines ens perfectissimum, die Allmacht, Allwissenheit und vollkommene Güte umfasst, zu unliebsamen Konsequenzen führt. Deshalb ist es sicher aller Ehren wert zu untersuchen, ob man diese Vollkommenheitsbegriffe so abschwächen kann, dass man diesen Konsequenzen entgeht, zugleich aber einen plausiblen Gottesbegriff behält. Rohs’ Überlegungen zeigen in meinen Augen allerdings, dass die Dinge nicht unbedingt besser werden, wenn man diesen Weg beschreitet. Bestenfalls kann man hier von ‚Verschlimmbesserungen‘ reden. Verdeutlichen möchte ich das an zwei Punkten – der Frage nach der Macht Gottes und der Schöpfungsfrage.

Was kann Gott tun? Rohs möchte auf die Omnipotenz Gottes verzichten. An ihre Stelle setzt er die Idee der Satispotenz. Gott soll auf der einen Seite all das können, was nötig ist, damit er als gerechter Richter am Ende aller Tage für vollkommene Gerechtigkeit sorgen kann. Das impliziert unter anderem, dass Gott in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass wir nach unserem Tode weiter existieren, auch materiell weiter existieren – und zwar indem er eine molekülidentische Replik von uns herstellt. (Auf die Probleme dieser Annahme kann ich hier leider nicht eingehen.) Auf der anderen Seite kann Gott all das nicht, was im Zusammenhang mit seiner Heiligkeit (vollkommenen Güte) zu Problemen führen würde. Er kann nicht verhindern, dass manche Kinder früh und qualvoll sterben, er kann Erdbeben nicht verhindern, er kann den Holocaust nicht verhindern. Mir scheinen diese Annahmen ad hoc, und ich bin nicht einmal sicher, dass sie konsistent sind. Ist es wirklich plausibel anzunehmen, dass Gott zwar von jedem von uns eine molekülidentische Replik herstellen kann, dass er aber nicht in der Lage ist, Erdbeben zu verhindern oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie dort stattfinden, wo sie keinen großen Schaden anrichten? Er könnte doch z. B. ein bisschen Druck aus einer Magmablase ablassen oder dem Magma einen anderen Ausgang verschaffen. Ein anderes Beispiel: Ein Kind verirrt sich im Wald, stürzt, zieht sich eine stark blutende Wunde zu und wird ohnmächtig. Nach einiger Zeit ist es verblutet. Wir Menschen könnten dem Kind helfen, wenn wir nur wüssten, wo wir das Kind finden 16

Ebd.

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können. Genau dieses Problem hat Gott nach Rohs aber nicht; er ist über die Vergangenheit und wohl auch über die Gegenwart vollständig informiert. Mit anderen Worten: Wenn Gott diesem Kind nicht helfen kann, kann er weniger als wir. Und das kann doch wohl nicht sein. Gottes Macht so zu begrenzen, dass er zumindest in vielen Fällen weniger kann als wir, kann nicht der richtige Weg sein. Dieses Problem findet sich auch schon bei Griffin, der meint, Gott könne nur dadurch handeln, dass er versucht, die nichtgöttlichen Aktualitäten durch Überredung zu beeinflussen. Auch diese Annahme impliziert, dass Gott weniger kann als wir. Denn wir können in vielen Fällen offenbar direkt in die Welt eingreifen – ohne zuerst zu versuchen, nichtgöttliche Aktualitäten zu überreden. Ich jedenfalls habe gar kein Problem damit, morgens beim Kaffee eine Tasse zu greifen und an meinen Mund zu führen. Rohs lehnt, wie gesagt, Griffins Annahme ab. Aber er bleibt uns eine Antwort auf die Frage schuldig, wie Gott handelt. Und nur, wenn wir das wüssten, könnten wir mit einer begründeten Antwort auf die Frage rechnen, was Gott kann und was nicht. Rohs versteht Handeln generell im Sinn des interaktionistischen Dualismus. Wir informieren uns über die Welt, überlegen, was wir angesichts unserer Ziele in der gegebenen Situation tun sollten, und kommen am Ende zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung führt dann ihrerseits dazu, dass sich z. B. unsere Zunge in einer bestimmten Weise bewegt, wenn wir etwas Bestimmtes sagen wollen, oder dass sich unser Arm und unsere Hand in gewisser Weise bewegen, wenn wir eine Tasse greifen wollen. Bei Gott muss es nach Rohs wohl ähnlich sein. Aber wir bekommen keine Antwort auf die Frage, was genau Gottes Entscheidungen bewirken können und was nicht. Schon Descartes wusste, dass wir unsere Zunge ebenso wie unsere Arme und Hände nicht direkt bewegen können. Wenn die efferenten Nerven, die vom Gehirn zur Zunge oder zu den Armen und Händen führen, durchtrennt sind, bewirken unsere Entscheidungen nichts. Also können wir direkt offenbar nur auf einen zentralen Bereich unseres Gehirns – für Descartes: die Zirbeldrüse – einwirken. Wie soll das nun bei Gott sein? Kann Gott beliebige physische Veränderungen in allen Fällen direkt herbeiführen? (Wenn die Welt der Leib Gottes ist, würde das ja nur bedeuten, dass Gott alle Teile seines eigenen Leibes direkt bewegen kann.) In diesem Fall sehe ich keinen Grund dafür, warum Gott z. B. Erdbeben nicht verhindern können soll. Oder gibt es auch für Gott so etwas wie den Unterschied zwischen Gehirn und Gliedern, wobei auch er nur bestimmte Aktivitäten in seinem Gehirn direkt beeinflussen kann? Alle diese Fragen klingen merkwürdig. Aber Rohs müsste sie beantworten können, wenn sein generelles Bild vom Handeln zutrifft. Auf jeden Fall schuldet er uns eine Antwort auf die Frage, warum Gott bestimmte Dinge tun kann und andere nicht. Einfach nur zu sagen, das ist einfach so, reicht nicht aus. Insbesondere dann nicht, wenn dadurch Gottes Macht soweit eingeschränkt wird, dass er in vielen Fällen weniger kann als wir.

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Der Beginn der Existenz Gottes und die Frage nach der Schöpfung Rohs äußert sich nicht explizit zu der Frage, ob Gott die Welt erschaffen hat oder nicht. Aber unabhängig davon, wie er diese Frage beantwortet, ist er bei seinem Gottesbegriff mit einer Fülle von Problemen konfrontiert. Für Rohs ist Gott ein zeitliches Wesen; doch schon aus dieser Annahme ergeben sich Fragen. 1. Hat Gott schon immer existiert oder hat er einen Anfang in der Zeit? 2. Die Welt, in der wir leben, hat offenbar einen zeitlichen Anfang. Hat Gott schon existiert, bevor unsere Welt entstand? Wenn das so ist, gibt es für Rohs ein Problem. Gott ist für ihn eine res extensa und die Welt in gewisser Weise sein Leib. Welche Art von Existenz hatte Gott also, bevor die Welt entstand? Dieses Problem wird besonders virulent, wenn man annimmt, dass Gott die Welt erschaffen hat; denn dann muss er wohl vor Beginn der Welt existiert haben. Doch wenn er vorher schon eine res entensa war, hat er sich dann selbst erschaffen? Und wenn er keine res extensa, sondern ein körperloses Wesen war, wie konnte er dann überhaupt eine Welt erschaffen? Umgekehrt: Wenn Gott nicht vor Beginn der Welt existiert hat, ist er dann zugleich mit der Welt entstanden oder erst später? In beiden Fällen bleibt die Frage offen, warum die Welt entstanden ist und warum sie gerade zu diesem Zeitpunkt entstanden ist. Genauso wie die Frage, warum Gott entstanden ist und warum er gerade zu dem Zeitpunkt entstanden ist, an dem er anfing zu existieren. (Offen bleibt auch die Frage, woher die von Griffin postulierten nichtgöttlichen Aktualitäten und woher die Naturgesetze kommen.) 3. Nach Rohs ist Gott nicht nur nicht allmächtig; er ist auch nicht allwissend. Er ist zu jedem Zeitpunkt vollständig über die Vergangenheit informiert, er kennt alle logischen, mathematischen und moralischen Wahrheiten und er weiß, was in der Zukunft passieren muss. Was er nicht weiß, sind all die Tatsachen, die eintreten werden, aber nicht eintreten müssen. Falls wir annehmen, dass Gott die Welt erschaffen hat, hat diese Annahme eine sehr unliebsame Implikation: Vor Erschaffung der Welt weiß Gott nichts darüber, wie sich diese Welt entwickeln wird. Denn auch die Naturgesetze lernt er erst nach und nach kennen, indem er wie ein Physiker die Welt beobachtet und auf diese Weise erschließt, welche Naturgesetze gelten und welche nicht. »Und wenn Gott kein Wissen besaß, das sich nur induktiv erwerben lässt, dann kannte er auch keine empirischen Naturgesetze.«17 In meinen Augen ist das eine skurrile Idee. Gott schafft eine Welt; aber er weiß eigentlich nicht, was er da schafft. Er weiß nicht, ob es in dieser Welt Galaxien, Sterne und Planeten gibt; er weiß nicht, ob und wo sich in dieser Welt Leben entwickeln wird; und er weiß nicht, ob es in dieser Welt irgendwann Menschen geben wird, die ihn, Gott, lieben und verehren sowie sich moralisch weiter entwickeln können. Warum schafft Gott unter diesen Umständen überhaupt eine Welt? Handelt er nach dem Motto: Schau’n wir mal, was sich da entwickeln wird; vielleicht wird es ja ganz passabel. Außerdem führen uns alle diese Annahmen ebenfalls zurück zum Problem des Übels. Warum bricht Gott seinen Versuch nicht einfach ab, wenn er sieht, dass sich die Dinge in einer Weise entwickeln, die alles andere als passabel ist? Spätestens wenn er bemerkt, dass sich hier auf der Erde Leben entwickelt, dass das aber in einem evolutionären Prozess geschieht, der voller Schmerz und Leid ist, 17

Ebd.

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Kolloquium 13 · Ansgar Beckermann

hätte er in meinen Augen das ganze Projekt abbrechen müssen. Wenn er eine Welt erschaffen kann, kann er sie doch wohl auch beenden. Alle diese Überlegungen machen Eines deutlich: Rohs’ Revision des traditionellen Gottesbegriffs beantwortet zwar einige Fragen, aber sie wirft mindestens ebenso viele neue Fragen auf. Viele seiner Annahmen sind ad hoc. Und sie haben ebenfalls unliebsame Konsequenzen. Und schließlich: Ist das Bild Gottes, das Rohs entwirft, wirklich attraktiv? Sicher, Gott hat für Rohs im Wesentlichen nur eine Funktion: Er muss als gerechter Richter am Ende aller Zeiten für vollkommene Gerechtigkeit sorgen. Aber ist ein Gott, von dem es offenbar wenig sinnvoll ist anzunehmen, dass er die Welt erschaffen hat, der so schwach ist, dass er nicht einmal ein Erdbeben verhindern kann, und von dem wir nicht wirklich wissen, ob es sinnvoll ist, zu ihm zu beten, da er unseren Bitten möglichweiser gar nicht erfüllen kann, ist ein solches Wesen wirklich das, wonach sich die meisten Menschen in ihrer Hoffnung, dass es Gott gibt, sehnen?

Literatur Beckermann, Ansgar: »Das logische Problem des Übels ist nicht gelöst«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 64 (2010), S. 239–245. – Glaube, Berlin/Boston 2013. Griffin, David Ray: »Schöpfung aus dem Chaos und das Problem des Übels«, in: Alexander Loichinger & Armin Kreiner (Hg.), Theodizee in den Weltreligionen, Paderborn 2010, S. 48– 65. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Immanuel Kant: Werke. AkademieTextausgabe, Bd. IV, Berlin 1968. Rohs, Peter: Der Platz zum Glauben, Münster 2013.

Das Göttliche als Sinn des Sinns – Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen Volker Gerhardt (Berlin)

1. Eine Erwartung mit Blick auf die Philosophie. Das Interesse der Wissenschaften an der Religion hat seit dem 11. September 2001 sprunghaft zugenommen. Die fortgesetzte Gegenwart des angeblich religiös motivierten Terrors hat dafür gesorgt, dass die plötzliche Rückkehr der Religionen auf die weltpolitische Bühne keineswegs bloß ein Strohfeuer bewirkt, sondern ein nachwirkendes Interesse erzeugt und inzwischen bereits eine Reihe zusätzlicher Einsichten freigesetzt hat. Vor allem die Aufmerksamkeit für die gesellschaftlichen Funktionen des Religiösen ist beträchtlich gestiegen. Die gewonnenen Erkenntnisse erschweren es manchem Soziologen bereits jetzt, sich unter Berufung auf fehlende ›religiöse Musikalität‹ taub zu stellen. Allein der zunehmend erforschte Beitrag der Religion zur Evolution der menschlichen Kultur macht es schwer, die Institutionen des Glaubens nur aus historischer Distanz zu betrachten. Das Nachdenken über das implizite Gewaltpotenzial des Monotheismus, die Debatte über die psychischen Implikationen von Asketismus, Opferkulten und ritueller Schlachtung – auch die der Beschneidung und Verstümmelung der Genitalien – sowie die in unzähligen Variationen ausgespielten Dualismen von Gut und Böse machen es schwer, das Religiöse lediglich zu einer Frage persönlicher Lebenseinstellung zu machen. Auch die durch die moderne Medizin eröffneten Chancen, großzügig über das menschliche Dasein zu disponieren, nötigen zu einer öffentlich-rechtlichen Auseinandersetzung mit den überkommenen religiösen Tabus. Sie können den Freiheitsspielraum eines jeden Bürgers in jedem Land der Erde nicht nur beschränken, sondern, wie wir fast täglich hören, auch vernichten. Die Philosophie nimmt vielfältigen Anteil an den Debatten und sollte ihn im interdisziplinären Diskurs mit den Kultur- und Sozialwissenschaften verstärken. Dazu gehört, um nur ein Beispiel zu nennen, die Erinnerung an die bleibende Präsenz der Natur, die in den religionssoziologischen Theorien über die Evolution der Religion nur noch als Randbedingung Erwähnung findet. Es ist zwar verständlich, dass die Soziologen dazu neigen, ihren eigenen Gegenstand zu autonomisieren.1 Doch die Rede von der ›Evolution‹ verDas gilt selbst für die bewundernswerte Gesamtdarstellung von Robert N. Bellah: Religion in Human Evolution, Cambridge/Mass., London 2012. Die Neigung zur Autonomisierung der Gesellschaft belastet auch die deutsche Rezeption der verdienstvollen amerikanischen Beiträge zur pragmatistischen Religionsphilosophie, obgleich es kein besseres Mittel gegen den Soziologismus gibt als die Religionsphilosophie. Ich nenne hier nur die mit einem bedauernswerten antiphilosophischen Furor vorgetragenen Auffassungen von Hans Joas in: Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2001; ders., Glaube als Option: Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/ Br. 2012. 1

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Kolloquium 13 · Volker Gerhardt

liert jeden Sinn, wenn sie zu einer rein gesellschaftlichen Größe avanciert, die ihrer eigenen Logik folgt, ohne die Naturdynamik in den jeweiligen Umwelten sowie in den beteiligten Individuen in Rechnung zu stellen. Das hat Folgen für den religiösen Glauben, der ohne Natur weder in seinem individuellen Impuls noch in seinen auf das Ganze des Daseins bezogenen Fragen verstanden werden kann. Was gäbe es hier ohne Geburt oder Tod zu verhandeln, die der Mensch zwar unter unzählige Konditionen stellt und nachhaltig beeinflussen kann, die aber gleichwohl Naturtatsachen bleiben. Allein das gewiss vielfältige Reaktionen auslösende Beispiel sollte auch den Vorteil bieten, augenblicklich klar zu machen, dass man gar nicht erst versuchen sollte, einem Philosophen vorzuschreiben, unter welchem Gesichtspunkt er die Religion zum Thema macht. Wenn die einen über den Scharfsinn zu verfügen meinen, den religiösen Glauben für ein semantisches Missverständnis zu erklären,2 und es anderen möglich ist, sich für »fromme Atheisten« zu halten,3 kann man nur gespannt sein, welchen Zugang jemand wählt. Doch unabhängig davon, wie sich einzelne Denker zur Theologie, zum Göttlichen oder zur einst so intensiv verhandelten Frage des »Daseins« Gottes verhalten, stelle ich an erster Stelle mit Blick auf die Philosophie als Ganze fest, dass die Philosophie sowohl aus historischen wie aus systematischen Gründen nach wie vor Anlass hat, sich mit ihrem reichen Schatz eigener Einsichten an der weltweit geführten Debatte über Herkunft, Stellung und Aufgabe des religiösen Glaubens zu beteiligen. Dabei hat sie die besondere Chance, die nicht nur unvermeidliche, sondern auch nachdrücklich erwünschte Individualität und Existenzialität des philosophischen Denkens zum Ausdruck zu bringen. Denn sowohl das Individuelle wie auch das Existenzielle des menschlichen Daseins kommen in den religiösen Fragen mit besonderer Prägnanz zum Ausdruck. Wie immer auch der Beitrag der Philosophie ausfällt: Es sollte in Erinnerung bleiben, dass ihr ursprünglich ein genuines Interesse an der Religion eingeschrieben ist. Denn das Problem des Göttlichen gehört zu den elementaren Fragen des Philosophierens, dessen Bedeutung auch darin liegt, dass es sich nicht auf eine Teildisziplin der Metaphysik wie etwa die einer philosophischen Theologie oder auf die Religionsphilosophie beschränken lässt. Das Problem des Göttlichen wird in der Philosophie im Kontext der Ethik, der Ästhetik, der Kultur- und der Geschichtsphilosophie zum Thema. Schließlich kann man die Frage nach Gott gar nicht umgehen, wenn man sich mit der Geschichte der Philosophie befasst. In ihren Anfängen fällt die Philosophie noch weitgehend mit der Theologie zusammen, mit deren Problembestand sie in den Jahrtausenden ihrer nachfolgenden Geschichte auf das Engste verbunden bleibt. Das gilt allgemein mindestens bis ins 19. Jahrhundert, verliert sich aber auch bei den großen Denkern des 20. Jahrhunderts nicht. Ich Wulf Kellerwessel: Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen, Würzburg 2010. Mit denen, die hier angeblich nicht wissen, wovon sie sprechen, sind vornehmlich die Philosophen gemeint, die von Gott oder vom Göttlichen reden. Es darf sich aber jeder angesprochen fühlen, der nicht bestreitet, dass es irgendwie sinnvoll ist, Gott oder das Göttliche in Betracht zu ziehen. 3 So Herbert Schnädelbach in: Herbert Schnädelbach: Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt/M. 2009. Näheres in: Christian Modehn: Herbert Schnädelbach, ein »frommer Atheist« – Ein Gespräch im Religionsphilosophischen Salon Berlin am 23. Okt 2009 (www. religionsphilosophischer-salon.de). 2

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denke an Wittgenstein, Whitehead, Sartre, Jaspers und Hans Jonas und behalte die nachwirkenden Anregungen von Nietzsche, Peirce, James und Royce im Blick. 2. Das ursprüngliche Interesse der Philosophie. Ohne dass auch nur mit einem Wort von einer philosophischen Gotteslehre die Rede ist, tritt die philosophische Reichweite des Gottesproblems bereits bei zwei Repräsentanten der vorsokratischen Zeit hervor. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt, der die frühe Ausdifferenzierung des Gottesproblems in die einzelnen Themenfelder der Philosophie illustriert. Die Rede von Gott führt bei Heraklit und Parmenides zu einer scharfen Ausprägung des denkbar größten philosophischen Gegensatzes, ohne dass die Gegenwart des Göttlichen in Zweifel steht: Beide Denker gelangen zu ihren gegensätzlichen Auffassungen, indem sie beide die Konstanz begrifflicher Aussagen unterstellen, die den einen nötigt, die im Kern bestehende Unwandelbarkeit allen Seins zu konstatieren, und es dem anderen allererst erlaubt, den Fluss aller Dinge festzustellen. Das aber, was beiden die Begründung ihrer sich widersprechenden Auffassungen erlaubt, ist das Göttliche (theion; auch theos oder thea). Es ist nicht mehr und nicht weniger als das, was die bleibende Geltung begrifflicher Gehalte überhaupt erst ermöglicht.4 »Gott« ist also das, was in höchster und umfassender Allgemeinheit allem zugrunde liegt. Es ist das, was immer bleibt (ob es nun unwandelbar Eines oder Alles in unablässiger Bewegung ist). Und in dieser tragenden Stellung muss es schon deshalb begriffen werden, weil anders gar nichts (weder als seiend noch als bewegt) erkannt werden könnte. Platon erkennt den Ursprung des Gegensatzes zwischen seinen beiden Vorläufern und versucht, die vorgefundene begriffliche Spannung in seinem Denken auszutragen. Die Folge ist, dass er Gott und das Göttliche in allen Erscheinungen des Daseins zu ermitteln vermag. Also ist das Göttliche überall dort gegenwärtig, wo eine für den Menschen bedeutsame Erkenntnis zu gewinnen ist. So lassen sich mindestens zehn Formen des Göttlichen unterscheiden, die in unterschiedlichen Themenfeldern seines Denkens in Anspruch genommen werden.5 Gott hat eine die Identität von Mensch und Welt sichernde, Erkennen und Handeln tragende sowie das Erleben des Schönen und der Liebe befördernde Kraft. Und im Zeichen seines Begriffs kann er den bleibenden Bestand der Welt zusammen mit ihrer fortgesetzten dynamischen Veränderung verstehen helfen. Alles Denken verlöre sein Ziel, wenn die göttliche Wirkungsmacht nicht für die Einheit sorgte, die sowohl die Gewissheit des Seins wie auch dessen schöpferische Bewegung ermöglicht. Somit käme es einer Verkennung des Göttlichen gleich, wollte man seine philosophische Untersuchung auf ein Teilgebiet beschränken. Ein Ende der Beschäftigung mit dem Gottesproblem kann somit nur mit dem Ende jeder epistemischen Tätigkeit des Menschen zusammenfallen. Da aber Platon gerade auch mit seinem in allem wirksamen Gottesbegriff das Philosophieren über die Jahrtausende hinweg trägt und selbst noch für Nietzsches Versuch, Gott 4

Dazu im Einzelnen das Buch, das ich hier in thetischer Weise zusammenfasse: Volker Gerhardt: Der Sinn der Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. 5 Die Aufzählung im Detail in: Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns, S. 76 ff.

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für tot zu erklären, das begriffliche Instrumentarium bereitstellt, kann die Philosophie eine Theorieerfahrung mit dem Göttlichen für sich in Anspruch nehmen, die sie in der gegenwärtigen Debatte über die Herkunft, Stellung und Aufgabe des religiösen Glaubens zur Geltung zu bringen hat. 3. Evolutionstheoretischer versus philosophiehistorischer Zugang zur Religion. Mit der Exposition der philosophisch von Anfang an genutzten begrifflichen Affinität der logischen Form des Wissens und der damit in Anspruch genommenen Kohärenz aller Erkenntnis bin ich beim dritten Punkt. Er betrifft die epistemisch, ethisch und wissenschaftstheoretisch bedeutsame Einsicht, dass die Beschäftigung mit göttlichen Mächten zwar eine lange Vorgeschichte im zivilisatorischen Werdegang der Menschheit hat. Aber ein durchaus eigener, ursprünglicher Anlass für die Frage nach Gott findet sich erst im reflektierten Umgang mit dem Wissen selbst. Damit ist kein Verzicht auf eine religionsgeschichtliche Suche nach einem lange vor der Zivilisationsgeschichte liegenden Ausgangspunkt der Religion ausgesprochen: Wer wollte bestreiten, dass es das, was wir (vornehmlich als religionskritische Zeitgenossen) an Religionen beobachten, in der Frühgeschichte der Menschheit irgendwie schon lange gibt? Es liegt durchaus nahe, die uns bekannten Formen des Animismus, des Schamanismus und des Fetischismus als Vorboten des Religiösen zu deuten. Rituale und Zeremonien gab es gewiss Jahrtausende vor der Gründung der ersten Tempelpriesterschaften. Man darf annehmen, dass Gründungsmythen, wie sie in die religiösen Narrative von Schöpfung, Erleuchtung, Heilung und Erlösung Eingang finden, eine lange Vorgeschichte haben. Auch die Gefühle, die religiöse Menschen bis heute in Anspruch nehmen, lassen sich in der kulturellen Evolution bis weit in eine Zeit vor dem Auftritt des homo habilis zurückführen.6 Das ändert aber nichts daran, dass Religionen, so wie sie heute gepflegt, gelehrt und kritisiert werden, erst unter zivilisatorischen Bedingungen aufkommen. Ihre jeweilige institutionelle Verfassung gewinnen sie in der Abgrenzung vom Wissen, das sich unter zivilisatorischen Konditionen wohl ebenfalls erstmals in institutionellen Formen organisiert. 4. Der epistemische Anspruch religiöser Lehren. Ein Indiz für die vergleichsweise späte Selbstfindung der Religionen in den letzten drei Jahrtausenden vor der Zeitenwende ist die Tatsache, dass sie mit einem auf Wissen Anspruch erhebenden narrativen Kern in der Form von Lehren auftreten. Es gibt also nicht nur eine in der Philosophie produktiv gemachte Affinität zwischen der Rede von Gott und dem begrifflich basierten Wissen, sondern eine – zumindest die heutigen »Weltreligionen« – tragende Nähe zwischen Wissen und Glauben. Der heute verbreitete religiöse Glauben ruht auf Elementen des Wissens auf, sosehr er sich selbst auch in Konkurrenz zum Wissen begreifen mag. Das kann ihm allenfalls in speziellen Fragen des Glaubens und des Wissens gelingen, so wie das in den paradigmatischen Auseinandersetzungen zwischen Priestern und Forschern immer wieder der Fall gewesen ist. 6

Auch dazu führt Robert Bellah, 2012, zahlreiche Beispiele auf.

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Gewiss gibt es in diesem an vierter Stelle genannten Punkt zwischen den heute existierenden Weltreligionen beachtenswerte Unterschiede. Aber wenn die These über die historische und sachliche Affinität von Wissen und Glauben auch nur annähernd richtig ist, muss man auch aus der Sicht der Religionen Verständnis dafür haben, dass sich die Wissenschaften kritisch sowohl auf die Lehren wie auch auf die Praktiken der Religionen beziehen. Und selbst, wer dafür keine Toleranz aufzubringen vermag, kann nicht leugnen, dass sich die entscheidenden Fragen an die Religionen aus deren eigenem Anspruch ergeben. Denn die heute vorherrschenden Religionen empfehlen sich immer auch dadurch, dass sie etwas in irgendeiner Weise Zutreffendes, weiterhin Gültiges und möglicherweise für viele Verbindliches über die Verfassung der Welt, über die Natur des Menschen und über die Aussichten eines gottgefälligen Lebens zu sagen haben. Somit ist das Wissen – zumindest ein beanspruchtes Wissen – aus den religiösen Lehren nicht wegzudenken. 5. Wahrheitsanspruch und Kritikfähigkeit. Religionen, soweit sie uns aus geschichtlicher Zeit überliefert sind, bringen niemals bloß Gefühle zum Ausdruck. So wenig, wie sich der Mensch in den Jahrtausenden seiner kulturellen Entfaltung gänzlich ohne Technik und bar jeden Wissens denken lässt, so unmöglich ist es, eine Religion, die sich selbst einen Namen und eine überlieferte Lehre zuschreibt, als reinen Vorschub von Affekten vorzustellen. Und es käme einer absurden Verstellung gleich, wenn sie sich selbst glauben machen wollten, ihre Kenntnisse beschränkten sich allein auf das, was ihnen Furcht und Hoffnung eingeben. Selbst wenn es so sein sollte, dass sie ihre Inhalte allein aus mythischen Quellen schöpfen, gehen in sie doch zahlreiche epistemische und rationale Elemente ein. Emotionen und Mythen stellten und stellen gewiss wichtige Momente im intellektuellen Haushalt der Religionen dar. Aber in ihren Gehalten wie auch in ihren zeremoniellen Formen sind sie allesamt an einen Bestand des von ihnen selbst akzeptierten Wissens gebunden, von dem sie überzeugt sind, dass es auch nicht-gläubigen Menschen einleuchten kann. Die Pointe dieses fünften Punktes liegt darin, dass den Religionen selbst daran gelegen ist, die Wahrheit des von ihnen geglaubten Wissens zu sichern. Sie arbeiten daran, den verkündeten Glauben zumindest nach Art einer Wahrheit in die Welt zu tragen. In ihrem Dienst an ihren Gläubigen suchen sie ihre Weltauffassung im Modus des Wissens zu festigen, und in der auf Andersgläubige gerichteten Überzeugungsarbeit der Mission wird eine Gewissheit verkündet, an die zu glauben ist. Da es im Charakter des Wissens und der Wahrheit liegt, allgemein zu überzeugen, fordern die Religionen durch ihre auf Wissen und Wahrheit bezogenen Lehren die Prüfung durch andere heraus, die (noch) nicht vom dem überzeugt sind, woran sie nach dem Willen der religiösen Botschafter glauben sollen. Es liegt in der Logik religiöser Verkündigung, den Unwissenden oder Zweifler, an den sie sich von sich aus wendet, ein Angebot für den Glauben zu machen. Wenn daraus ein Zwang, gar ein Gewaltakt unter Androhung des Todes wird (was häufig genug vorgekommen ist und immer noch vorkommt), so liegt darin ein Widerspruch zum Glauben. Also können Mission und Verkündigung nur mit dem Verlangen nach kritischer Prüfung verbunden sein, zu deren Selbstverständnis die Eigenständigkeit des Einzelnen gehört. Der Glauben hat den epistemischen Charakter einer individuellen Meinung, bei der man blei-

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ben kann, auch wenn andere anderer Meinung sind. Zu ihr kann man nicht gezwungen werden! Wahren Glauben gibt es nur, solange er aus freier Einsicht erwächst. Wenn also der Zweifel nicht selbst schon ein konstitutives Element des Glaubens ist, wie es Paul Tillich und Karl Rahner eindrucksvoll ausgeführt haben,7 so gehört die Kritik doch zu den stets gegebenen historischen Vorbedingungen einer jeden Religion. Ihr Glauben ist, zumindest beim erwachsenen Menschen, aus Zweifeln hervorgegangen, hat sich nicht selten erst durch Abspaltung etabliert und ist in der Regel von Kritikern umgeben. Das gilt nicht erst für die Religion im Zeitalter der sogenannten Säkularisierung, sondern wir lesen davon schon in den Texten aus der antiken Welt. Also besteht der selbstgesetzte Auftrag einer Religion immer auch darin, den Wankelmütigen, Abtrünnigen und Widersachern gute Gründe zu nennen, die sie auf die Wahrheit des verkündeten Glaubens vertrauen lassen. Wer aber Gründe nennt, setzt Gegengründe voraus. Also gehört Kritik, wenn nicht zum inneren Moment, so doch zur äußeren Kondition des Glaubens. Kritik aber bewegt sich im Medium des Wissens, in dem sich auch die angemessene Entgegnung auf die Kritik bewegen muss. Mit Kritik müssen Religionen übrigens auch rechnen, weil sie von Anfang an andere Religionen gegen sich haben und weil sie sich in der Regel (und auch dies nicht erst seit heute) unter politischen Bedingungen bewegen, die sie nötigen, allgemeinen Gesetzen zu folgen. Sobald es hier zu Konflikten kommt, haben sie Kritik zu gewärtigen, gegen die sie sich unter Umständen durch Gegenkritik zu wehren haben. Unter pluralen gesellschaftlichen Bedingungen verschärft sich der Anspruch an die Glaubensgemeinschaften, die Möglichkeiten eines kritisch zu sichernden Wissens zu nutzen. 6. Wissen und Wahrheit unter den Bedingungen der Zivilisation. Nach den ersten historisch-gesellschaftlich angelegten fünf Punkten kann ich es wagen, in fünf ergänzenden epistemischen Überlegungen die Rede vom Göttlichen als dem Sinn des Sinns verständlich zu machen. Die Akzentverschiebung gegenüber dem eingangs erwähnten Buch soll kenntlich machen, dass auch dem Autor bewusst ist, darin nicht alles gesagt zu haben. An sechster Stelle also betone ich, dass Wissen unter den Bedingungen einer sich durch Bezug auf Sachverhalte, technische Leistungen und Arbeitsteilung steuernden Gesellschaft unverzichtbar ist. In diesem Rahmen kann auch auf Wahrheit nicht verzichtet werden. Die weit verbreitete Kritik an Wissen und Wahrheit operiert mit metaphysischen Unterstellungen, die den mundanen Leistungen des Wissens äußerlich sind und es daher in seinen unverzichtbaren humanen Funktionen gar nicht betreffen. Allerdings ist nicht zu vergessen, dass (von Mathematik und Logik einmal abgesehen) der mit Abstand größere Teil des Wissens höchst begrenzt, zeitabhängig und meist sehr schnell auch korrekturbedürftig ist. Das Entscheidende aber ist, dass kein Wissen jemals ausreicht, um ein Leben verlässlich zu führen. In jedem auf die Zukunft bezogenen Handeln ist der Mensch genötigt, sein Wissen zum Ausgangspunkt zu nehmen, um es im Vertrauen auf seine weiterhin Paul Tillich: Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1961; Karl Rahner: Warum läßt uns Gott leiden?, Freiburg 20102. 7

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bestehende Gültigkeit und in der Annahme seiner fortbestehenden Anwendbarkeit zu überschreiten. Die Grenzen des Wissens erweisen sich somit nicht erst an Epochenschwellen oder in Paradigmenwechseln, sondern in jedem Akt existenziellen Handelns – nicht selten auch schon in der von existenziellen Erwartungen freien prognostischen Anwendung eines (im strikten Sinn ja stets in der Vergangenheit erworbenen) Wissens auf das Kommende. Es bleibt dem Menschen somit nichts anderes übrig, als auf das Wissen zu bauen, obgleich es selbst in den Fällen größter Verlässlichkeit nicht anders als hochriskant zu nennen ist. Denn die Verlässlichkeit reicht streng genommen nur bis zum Augenblick einer Entscheidung. Mit dem Übergang in die Zukunft, also mit dem Akt des Handelns, endet seine Gültigkeit. Doch das ist nicht alles: Unser Vertrauen ist nicht erst in dem Moment gefordert, in dem uns das Wissen verlässt, sondern schon immer dann, wenn wir uns auf das Wissen verlassen. Dieses Vertrauen ist die – zumindest lebenspraktisch notwendige – Bedingung eines sinnvollen Umgangs mit dem Wissen. Es ist derart umfassend, dass es auch alltagssprachlich als gerechtfertigt gelten kann, es als »Glauben« zu bezeichnen. In diesem Sinn kann man den Glauben als eine unerlässliche Einstellung zum Wissen bezeichnen. 7. Das Zusammenspiel von Gefühl und Wissens. Die tragische Verfassung des menschlichen Lebens liegt darin, auf das Wissen angewiesen zu sein, ohne sich darauf verlassen zu können. Ausgerechnet im Gebrauch des Wissens muss sich der Mensch auf etwas stützen, was er mit dem Wissen – wenn nicht überwinden oder gar hinter sich lassen, so doch wenigstens – entkräften möchte: Und das ist das Gefühl. Vertrauen ist ein Gefühl, ebenso wie die Hoffnung und die Zuversicht. Gefühle dieser Art werden nicht erst benötigt, wenn der Mensch auf das lediglich Wahrscheinliche, auf das nur in Grenzen Kalkulierbare oder auf das gänzlich Ungewisse zugeht. Das Gefühl ist bereits beteiligt, wenn er auf das Wissen setzt! Das könnte man tragisch nennen, weil man noch im Versuch, dem Wechselbad der Gefühle durch sicheres Wissen zu entkommen, bereits mit dem Wissen bereits wieder einen unumgänglichen Anlass für den Glauben hat. In der Tat: Der Zusammenhang zwischen Wissen und Gefühl ist unausweichlich: Wenn einer versuchte, angesichts der stets ungewissen Zukunft, in die ihn jedes Wissen letztlich in jedem Fall entlässt, auf das Wissen einfach zu verzichten, um gleich bei den Gefühlen zu bleiben, auf denen das Vertrauen in das Wissen beruht, bliebe er selbst noch bei diesem Versuch auf das Wissen angewiesen. Denn solange ein Mensch Gründe hat und Absichten verfolgt, wird er das Wissen nicht los. Und solange ihm das Wissen etwas bedeutet, bleibt er auf Gefühle angewiesen. Angesichts dieser Lage empfiehlt es sich, die Rede von der Tragik zu vermeiden. Man sollte vielmehr so einsichtig sein, eben diesen für den selbstbewussten Menschen unaufkündbaren Zusammenhang von Gefühl und Wissen als rational zu bezeichnen! Dafür gibt es viele Anhaltspunkte: Das Gefühl, sosehr es sich gegen ein bestimmtes Wissen sperren kann, erbringt Leistungen im Vorfeld des Wissens, zeigt in seinen Stimmungen und Ahnungen manches an, wofür dem Wissen der Zugang und die Begriffe fehlen; gleichwohl vermag es sich unter dem Einfluss des Wissens zu wandeln und zu bilden. Schließlich

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zeigt es im Glück und in der Zufriedenheit das Gelingen auch im Streben nach Wissen an. Dieses Zusammenspiel von Gefühl und Wissen ist uns zutiefst vertraut; wer es nicht immer schon in sich selbst erfährt, kann es sich an den alles Wissen begleitenden Gefühlen des Meinens und des Überzeugens vergegenwärtigen. Und wem dies gelingt, der weiß aus der alltäglichen Verwendung des Begriffs des Glaubens, dass selbst diese Form einer die Voraussetzungen und Folgen des Wissens nicht nur einschließenden, sondern auch überschreitenden Überzeugung zum menschlichen Umgang mit dem Wissen gehört. Man braucht dann nur noch zu sagen, worauf sich die religiöse Form des Glaubens bezieht, um kenntlich zu machen, dass auch der Glaube an das Göttliche dem unerlässlichen Zusammenhang von Gefühl und Wissen zuzurechnen ist. 8. Der Sinn des Sinns. Der achte Punkt ist auf den gesamten Komplex jener Leistungen bezogen, zu dem das Vertrauen und die Überzeugung, aber eben auch das Wissen und der Glauben gehören. Ich bezeichne ihn mit dem Allerweltsbegriff des Sinns.8 Allein mit Blick auf die evolutionsgeschichtliche Tiefe, die sowohl dem Gefühl des Glaubens wie auch den in zahllosen Fähigkeiten wirksamen Vorformen des Wissens zukommt, empfiehlt es sich, den Geltungsbereich des Sinns so weit wie möglich abzustecken. Das erlaubt es dann zu zeigen, dass es eine physiologische, soziale, psychische, semantische und logische Tiefendimension der intelligiblen Leistungen des Menschen gibt, die im Sinn zur Geltung kommen und die es zu beachten gilt, wenn wir von Glauben und Wissen sprechen.9 Alles, was immer gespürt oder empfunden, gefühlt oder gemeint, was sicher gewusst, mit kaltem Verstand oder hoffnungsvollen Erwartungen erschlossen wird, kommt in einem Sinn zum Ausdruck, der für den Menschen in seiner Welt Bedeutung hat. Jedes einzelne Sinnmoment setzt die Spannung zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt in eine die individuelle Aktivität berührende Bedeutung um. Und da jeder Sinn organisch angelegt und mundan ausgerichtet ist, kann er als Ausdruck der dynamischen Einheit des Individuellen mit dem Universellen verstanden werden. Letztlich ist es das einheitliche Ganze des Menschen, der sich in seinem Sinn mit dem möglichen Ganzen seines Daseins verbindet. Der Sinn ist die Brücke zwischen dem Organismus und seiner Umgebung, die im Menschen bis zur Höhe seines Bewusstseins ausgebaut ist und somit erst hier die Welt – in ihrem vollen begrifflichen Sinn – zur Entfaltung bringt. Wer ohne Sinn lebt, ist weltlos; er ist entweder ohnmächtig oder tot. Während man das Leben als die externe Bedingung des Sinns bezeichnen kann, ist Erleben die interne Sinnbedingung überhaupt. Im Erleben öffnet sich die Welt zum kommunikativen Raum des Verstehens. Damit gibt es eine außer Zweifel stehende Bedingung des Sinns – nämlich die des sich erlebenden Lebens. Aber es gibt auch eine in der Eigenlogik des Sinns liegende Bedingung seiner selbst, sei er empfunden, gefühlt, sicher gewusst, erahnt oder ersehnt. Und Dazu: Christian Thies: Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage, Freiburg, München 2008. 9 Siehe dazu Kapitel 5 in Der Sinn des Sinns. 8

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dass dieser jeweils erlebte Sinn überhaupt eine das einzelne Wesen als Ganzes betreffende Bedeutung im Ganzen seines Daseins hat, ist der schließlich auch theologisch relevante Sachverhalt. Denn man kann zeigen, dass jeder bestimmte Sinn in ein Ganzes eingebunden ist, das in seiner Totalität zwar erlebt und begrifflich erschlossen, aber nicht leibhaftig erfahren, nicht bearbeitet und schon gar nicht nach den Regeln des Verstandes ausgelegt werden kann. Es lässt sich in seiner umfassenden Anwesenheit im Verfahren der begrifflichen Erschließung zwar anschaulich machen; aber es kann kein Gegenstand des Wissens sein. Seine Bedeutung kann nur geglaubt werden. 9. Das Göttliche. Der Begriff der Welt schließt alles ein, was nicht nur in ihrer physischen und sozialen, sondern auch in ihrer intelligiblen Verfassung Bedeutung haben kann. In dieser Gesamtheit ist sie unvorstellbar groß, umfassend und unergründlich tief. Und da sie stets nur in der Dimension des Sinns vorgestellt werden kann, steht auch außer Zweifel, dass jede für den Sinn empfängliche Instanz – einschließlich des von ihr selbst eingebrachten Sinns – zur Welt hinzugehört. So kommt es zur tautologisch erscheinenden, in Wahrheit transzendentalen (aber eben nicht transzendenten!) Wendung vom »Sinn des Sinns«. Die Formel bringt die interne Fundierung des Sinns durch das Leben einerseits und durch den in der Welt wirksamen Sinn anderseits zum Ausdruck. Damit kann sie den philosophischen Vorwurf, »idealistisch« zu sein, abwehren. Sie kann überdies auch dem Einspruch begegnen, »nur« anthropozentrisch sein. Zwar ist sie unstrittig anthropogen, weil sie, wie alles Erkennen, Wissen und Glauben, ihren Ursprung im Menschen hat. Doch in ihrer Fundierung durch den Sinn hat sie eine ganz und gar auf die Welt gerichtete, eine mundane Ausrichtung. Die Formel vom Sinn des Sinns zielt auf den Grund, den die Bedeutung des Ganzen für den Menschen hat. Also geht sie, selbst wenn sie nur von ihm verstanden werden sollte, weit über ihn hinaus. Nach seinem auf Erkennen und Wissen gestützten Begriff der Welt, der alles (und damit auch andere Lebewesen umfasst) darf, ja muss der Mensch annehmen, dass die Bedeutung des Ganzen nicht nur für ihn besteht. Zwar kann er dies im strengen Sinn nicht wissen; wohl aber kann er es, mit allen guten Gründen, die sein Wissen ihm zur Verfügung stellt (und denen der Glauben nicht widersprechen darf), glauben. Also kann er mit der in den Glauben eingebundenen Vernunft auch glauben, dass ein ihn im Ganzen des Daseins tragendes Göttliche auch alle anderen Lebewesen trägt. Das ist dann eine nicht nur auf einer situativen Empathie, sondern durchaus auch auf Gründen beruhende Bedingung für ein dauerndes Mitgefühl mit anderen Wesen. Der Glaube an ein Göttliches hat seinen Ursprung nirgendwo anders als im Menschen. Das kann man als eine Humanisierung des Daseins kritisieren, aber nicht mit dem Argument, dadurch würden nicht-menschliche Lebewesen ausgeschlossen. Im Gegenteil: Mit der im Göttlichen angenommenen umfassenden Allgemeinheit geht eine Universalisierung einher, die jedem Gattungsegoismus zuwiderläuft. Die schon von Xenophanes erkannte und von Feuerbach zum Einwand gemachte Anthropomorphie des Göttlichen braucht also schon deshalb nicht in Abrede gestellt zu werden, weil sie sich als

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eine Anverwandlung des Ganzen verstehen lässt, die es dem Menschen überhaupt erst erlaubt, sich ohne Aufgabe seiner selbst als gleichberechtigter Teil dieses Ganzen zu verstehen. Schon in der doppelten Bindung an das Wissen, auf dem er beruht und dessen humanen Gebrauch er sichert, ist der Glauben an die Vernunft gebunden. Diese mehrfache Bindung kommt auch darin zum Ausdruck, dass der Glauben das Ganze des Menschen dadurch zu wahren sucht, dass er es auf das Ganze des Daseins bezieht. Die darin auch angenommene Einheit des vielfältig Unterschiedenen mit einer den Menschen in seinem Selbstverständnis tragenden Bedeutung kann auch nach strengen philosophischen Maßstäben als Leistung der Vernunft begriffen werden. Wenn es jedoch um die immer auch moralisch-praktische, das Handeln anleitende und das Leben mit Sinn erfüllende Bedeutung des Ganzen des Daseins für das Ganze des Menschen geht, kann sich die darin liegende Bedeutung allein im Glauben erfüllen. Dann wird das Ganze nicht nur einfach als alles einschließend und über alles verfügend gedacht, es wird auch nicht nur in seiner alle Begriffe sprengenden Unendlichkeit (die dennoch Raum für das endliche Dasein des Menschen lässt) als erhaben vorgestellt, sondern es wird als eine das eigene Leben bewegende Kraft gesucht und gefunden. In dieser gleichermaßen objektiven und subjektiven Wirksamkeit kann es nur geglaubt werden. Man kann es zu denken suchen, kann es bestaunen und bewundern, weil es in der Unfassbarkeit seines Sinns gleichwohl die Vielfalt des Sinns ermöglicht, in dem sich die Welt erleben und deuten lässt. Letztlich aber muss es vom Gläubigen ergriffen werden, so dass es ihn selbst ergreift. Dann wird der Sinn des Sinns nicht mehr bloß als menschlich, sondern er wird als göttlich erfahren. Mit diesem Versuch, sich dem Ganzen einer allen Sinn tragenden Einheit des Sinns anzunähern, ist das Göttliche in die Perspektive einer philosophischen Theorie gerückt. Die Annäherung erfolgt durch die im Wissen vollzogene, aber durch das Gefühl motivierte Bemühung um ein das denkende und fühlende Individuum in seiner Eigenständigkeit einschließendes Ganzes, in dem der Einzelne zu sich selbst finden kann. Im Frieden mit sich selbst sucht es zugleich das Einverständnis mit dem Ganzen. Bereits in der Annäherung ist klar, dass man sich hier auf etwas zubewegt, für das es keinen gegenständlichen Sinngehalt geben kann – außer eben den, dass etwas unüberbietbar Bedeutungsvolles gegenwärtig wird, das als universelle Sinnbedingung für sich selbst mit keiner partikularen Bedeutung verbunden werden kann. Man kann nur sagen, dass hier eine alles Dasein und alles Verstehen ermöglichende Einheit avisiert ist, die allem, was ist, Bedeutung verleiht, einschließlich dem nach Sinn suchenden Individuum, das in seinem eigenen Sinn über die wichtigste Voraussetzung verfügt, sich selbst den möglichen Sinn von allem zu erschließen und sich darin auch die Bedeutung zu vergegenwärtigen, den das Ganze für es selbst haben kann.10 Diese Argumentation kommt der Begründungsfigur der Gottesbeweise nahe, die von etwas, das dem Menschen als notwendig erscheint, auf eine dieser Notwendigkeit zugrundliegende unerlässliche Bedingung schließt. Der Unterschied zu den Gottesbeweisen ist, dass es hier nicht um die quasi gegenständliche Existenz eines quasi gegenständlichen Gottes geht, sondern lediglich um die Demonstration 10

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So verstanden, ist der Versuch auch gegen den Verdacht gewappnet, »pantheistisch« zu sein. Denn göttlich ist das, was in seiner bedeutungsvollen Größe, in seiner unfassbaren Übermacht sowie in seiner unergründlichen Tiefe vom Menschen als schlechthin fundamental, übergeordnet und erhaben erfahren werden kann. Gott ist in allem, worin sich etwas findet, das für den Gläubigen eine ihn selbst umfassende Bedeutung erlangt. 10. Der personale Gott. Soviel Gefühl und Wissen, soviel Sinnlichkeit und Gegenständlichkeit, soviel Individualität und Universalität in diese rationale Annäherung an das Göttliche auch eingehen mögen, so blass muss das Erreichte jenen erscheinen, die nach der lebendigen Gegenwart eines Gottes suchen. Wer hier enttäuscht ist, muss die Grenzen des philosophischen Denkens überschreiten, um, wie die großen Gottsucher der Tradition, in einem individuellen Akt seinen persönlichen Gott zu finden. Wer einen Gott benötigt, der zu ihm aus dem Dornbusch spricht, der ihm Gesetze gibt und Gebote erteilt, einen Gott, der so geduldig ist, sich Gebete anzuhören, so großzügig, Bitten zu erfüllen, und der wie ein strenger, gütiger Vater angesprochen werden kann, der muss sich eben der Religion anvertrauen, die ihm menschlich nahesteht. Das dürfte in der Regel jene sein, in der der Betreffende aufgewachsen ist – sofern sie ihm Schutz, vielleicht sogar Geborgenheit verheißt und ihm kritische Eigenständigkeit nicht verwehrt. Hier kann jeder das geschichtlich gesättigte, an Lehren und Legenden reiche sowie in Kunst und Kultus manifestierte religiöse Leben finden, dessen Sinnlichkeit des Sinns dem Einzelnen wie der Menge helfen kann, im Glauben tätigen Beistand und Erfüllung zu finden. Dazu kann die Philosophie nur sagen, dass sie keine prinzipiellen Einwände gegen eine solche Praxis des Glaubens geltend zu machen hat. Sie kann dartun, dass der von ihr explizierte Selbstbegriff des Menschen unvollständig bleibt, solange er nicht in einer Welt zur Geltung kommt, die Bedeutung für den Menschen hat. Die Philosophie vermag sogar so weit zu gehen, eine begriffliche Korrespondenz zwischen der Unbegreiflichkeit der Welt auf der einen und der Abgründigkeit der Person auf der anderen Seite zu exponieren. Da es dem Menschen gelingt, die Unfassbarkeit seiner selbst in einen ihn selbst leitenden Begriff, nämlich in den der Person, zu transformieren, kann sie selbst größtes Verständnis dafür haben, dass der Mensch auch die von ihm benötigte Einheit der Welt nach Analogie der ihm selbst eine Form gebende Einheit der Person unterstellt. Letztlich ist es das einheitliche Ganze des Menschen, das sich seinem Gegenüber, dem von ihm erfassten Ganzen seines Daseins, verbindet. Damit wäre immerhin ein Argument für die Personalität eines Gottes in Anschlag gebracht. Aber zum lebendigen Gegenüber wird dieser Gott nur unter den Bedingungen einer dem Leben zugewandten, weltoffenen und die Personalität der Gläubigen achtenden Religion. Damit ist nicht nur der geschichtlichen Konkretion, in der jeder lebt, Rechnung getragen. Dem Gläubigen wird auch in seiner existenziellen Freiheit die Form seiner Hinwendung zum Dasein zugestanden, in dem er sich versteht.

einer Sinnbedingung, die für Wesen gilt, die auf diesen Sinn sowohl in ihrem Selbst- wie auch in ihrem Weltverständnis angewiesen sind.

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Wer bis dahin nicht erkannt hat, dass die Rede vom Ganzen einer Person, einer Situation, einer Epoche, des Daseins oder der Welt jeweils nur konkret verstanden werden kann (weil es stets um die Korrespondenz von Ich und Dasein geht, ohne die man nichts versteht, was für das eigene Handeln von Bedeutung ist), der kann in diesem existenziellen Ernst einer Befolgung des eigenen Lebenssinns sich und vielleicht auch seinen Nächsten kenntlich machen, wofür er lebt und worin er sich sowohl getragen wie auch versichert sieht. Das kann man sich nach dem Modell einer biophysischen Entsprechung von Organismus und Umwelt anschaulich machen. Man kann es aber, dem Menschen in seiner Selbsterfahrung ungleich näher, nach Art einer verständigen und verlässlichen Beziehung zwischen zwei Personen denken: Wenn es mir möglich ist, meinen Körper als den Träger meiner Person anzusehen, warum soll es mir dann unmöglich sein, die mich tatsächlich in allem tragende und von mir in allem wahrhaft benötigte Welt als etwas zu vernehmen, von dem ich glauben kann, dass es mich so versteht, wie ich mich zu verstehen glaube? Diese Entsprechung zwischen dem gläubigen Menschen und seinem Gott kann im Versuch ihres philosophischen Nachvollzugs in der ihren Gehalt ausmachenden korrespondierenden Polarität nur gedacht werden. Im gläubigen Erleben kann sie nach Analogie einer Beziehung zwischen zwei Personen erlebt und, gestützt durch Kultus und Zeremonie, auch feierlich erfahren werden. Hier kann, nach Art eines kindlichen Zutrauens zur überlegenen Figur einer Mutter oder eines Vaters oder auch im Bewusstsein der Verehrung einer bewunderten Gestalt einer beispielgebenden Größe aus Geschichte und Gegenwart eine erhebende Vorstellung von der Eigenart des Wesens entstehen, das dem sich vertrauensvoll öffnenden Gläubigen gegenübersteht, so dass er es anrufen, ansprechen und anbeten kann. Doch das den Menschen am stärksten berührende und ihn am tiefsten bewegende Moment in der Hinwendung zum Anderen seiner selbst ist die Liebe. Ihrer bedarf er mehr als alles andere, um einen ihn ganz umfassenden und erfüllenden Sinn in seinem Dasein zu finden. Deshalb dürfte die Religion, die das Verhältnis von Mensch und Gott ganz auf die Liebe gründet, den tiefsten Einblick in die gläubige Beziehung des Menschen zum Ganzen haben.

Literatur Bellah, Robert N.: Religion in Human Evolution, Cambridge/Mass., London 2012. Gerhardt, Volker: Der Sinn der Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2001. – Glaube als Option: Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/Br. 2012. Kellerwessel, Wulf: Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen, Würzburg 2010. Modehn, Christian: Herbert Schnädelbach, ein »frommer Atheist« – Ein Gespräch im Religionsphilosophischen Salon Berlin am 23. Okt 2009 (www.religionsphilosophischer-salon.de). Rahner, Karl: Warum läßt uns Gott leiden?, Freiburg 20102.

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Schnädelbach, Herbert: Religion in der modernen Welt. Vorträge, Abhandlungen, Streitschriften, Frankfurt/M. 2009. Thies, Christian: Der Sinn der Sinnfrage. Metaphysische Reflexionen auf kantianischer Grundlage, Freiburg, München 2008. Tillich, Paul: Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1961.

Über den Sinn des »Sinns des Sinns«. Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch »Der Sinn des Sinns« Christian Tapp (Bochum)

1. Vorbemerkung Dieser Text versteht sich als kritische Auseinandersetzung mit dem im Jahr 2014 erschienenen Buch Der Sinn des Sinns des Berliner Philosophen Volker Gerhardt (München 2014), das für einige mediale Aufmerksamkeit sorgte.1 Im Rahmen eines von Christoph Jäger organisierten religionsphilosophischen Kolloquiums auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im September 2014 in Münster war von mir ein religionsphilosophisches »Korreferat« zu Gerhardts Werk angefragt worden. Meine Hauptaufgabe bestand darin, ein kritisches Stimulans für die Diskussion anzubieten. Die folgenden Ausführungen haben daher nicht den für eine Rezension idealtypischen Anspruch, Gerhardts Leistung gerecht werden und ein wirklich abgewogenes Urteil abgeben zu wollen. Die Betonung liegt stets mehr auf dem Widerspruch als auf der Übereinstimmung (auch wenn die Ausführungen des dritten Abschnitts stets mit einem »Einverstanden« beginnen werden). Auf folgende drei aktuelle Texte von Volker Gerhardt wird in diesem Beitrag mittels Siglen plus Seitenangaben Bezug genommen: Vortrag = »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, Manuskript zum Vortrag im Rahmen des Kolloquiums »Vernunft und Glaube« auf der DGPhil-Tagung, Münster 2014. Buch = Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. Aufsatz = »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, Manuskript zu einem Vortrag auf Einladung von Spree, Athen, Berlin 2013.

2. Zusammenfassung der Grundgedanken Gerhardts Hauptanliegen in Der Sinn des Sinns ist die begriffliche Ausarbeitung und Rechtfertigung der Annahme einer Dimension des Göttlichen, das als intelligible Struktur der »Welt« verstanden wird, als eine ganzheitliche Einheit, die dem epistemischen Subjekt gegenübertritt, und die als letzter Sinnhorizont den Sinn einzelner Episoden oder Strukturen seines Lebens verbürgt. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Sinn eines Es stand im Oktober 2014 auf Platz 1 der Liste der besten Sachbücher von Süddeutscher Zeitung/ Norddeutschem Rundfunk. Erste Rezensionen: Johannes Röser, in: Christ in der Gegenwart 41 (2014), S. 463; Friedrich W. Graf, in: Die ZEIT 52 (2014), S. 48; Otto Kallscheuer, in: Neue Zürcher Zeitung 29.10.2014, S. 47; Stefan Orth, in: Herder Korrespondenz 69/3 (2015), S. 161. 1

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Ereignisses über dieses Ereignis selbst hinausgreift (so wie z. B. der einzelne Kommunikationsakt auf das Ganze der Sprache bzw. unserer Verständigungspraxis ausgreift). So ergibt sich eine Kette von Sinnhypotheken, die nur einlösbar scheinen, wenn es sich nicht um einen infiniten Regress handelt. Daher muss es, Gerhardt zufolge, eine Dimension des Göttlichen als letzten Sinnhorizont geben, die den Sinn der einzelnen Sinne verbürgt. Glauben und Wissen als epistemische Zustände sind, so Gerhardt weiter, vielfach verschränkt: Man muss an etwas glauben, um wissen zu können; man muss etwas wissen, um anderes glauben zu können; man muss an das Wissen und an seine Anwendbarkeit glauben; und man muss schließlich an sich selbst glauben und an die eigene Fähigkeit, gemäß seinem Wissen handeln zu können. Daher sei es rational nicht nur erlaubt, sondern (um des Wissens willen) sogar geboten zu glauben. Gerhardt geht von einer Korrespondenz zwischen der Ganzheit der Welt und der Ganzheit der diese Welt erkennenden Personen aus. Diese Korrespondenz erlaube die Übertragung personaler Eigenschaften von uns auf das uns gegenüberstehende Göttliche und rechtfertige so die Verwendung personaler Gottesattribute. Darin komme sowohl eine Selbstauszeichnung des Menschen als auch eine Selbstbeschränkung zum Ausdruck, denn erstens steigere der Mensch seine eigenen Eigenschaften zu Gotteseigenschaften (wie Wissen, Macht usw. zu Allwissenheit, Allmacht usw.), sodass er ihnen gegenüber als beschränkt erscheint. Zweitens seien es aber eben seine eigenen Eigenschaften, die er in der gesteigerten Form dem Göttlichen zuschreibt, und so würde eben mitbehauptet, dass es sich bei ihnen um abgeschwächte Formen göttlicher Eigenschaften handelt (Gerhardts Variante eines platonischen Teilhabegedankens). Während Gerhardt auf diesem Wege die Annahme einer Dimension des Göttlichen und dessen begriffliche Erfassung mittels der klassischen Gottesattribute rechtfertigen will, gelten ihm weitergehende positive Gotteslehren als ein »ad libitum« ohne Verpflichtungscharakter. Soweit der Versuch, das Gesamtprojekt von Der Sinn des Sinns in wenigen Worten zu umreißen. Volker Gerhardt trifft mit seinem Vorhaben unzweifelhaft einen vitalen Kern des derzeitigen philosophischen, aber auch des theologischen Diskurses. So diskutiert etwa die katholische Fundamentaltheologie seit den grundlegenden Arbeiten von Hansjürgen Verweyen die Möglichkeit der Ausarbeitung eines an Fichte anschließenden Begriffs »letztgültigen Sinns«, der die Möglichkeit letztgültiger Wahrheitsansprüche plausibel machen und darüber hinaus hermeneutischen Übersetzungsbemühungen als Kriterium dienen soll, um über die in Gestalt der konkreten Religionen faktisch auftretenden Sinnansprüche begründet entscheiden zu können.2 Andererseits gehört die ganz grundsätzliche Frage nach dem Sinn des Lebens zu den großen Fragen der Philosophie, die Hansjürgen Verweyen: Gottes letztes Wort, Düsseldorf 1991. Dazu auch Klaus Müller: »Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik«, in: ders. (Hg.): Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, S. 77–100, bes. S. 97–98; KarlHeinz Menke: Die Einzigkeit Jesu Christi im Horizont der Sinnfrage, Freiburg/B. 1995, bes. S. 116–128; Markus Knapp: Die Vernunft des Glaubens. Einführung in die Fundamentaltheologie, Freiburg/B. 2009, S. 93–96; Christoph Böttigheimer: Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, 2. Aufl., Freiburg/B. 2012, S. 110–116. 2

Über den Sinn des »Sinns des Sinns«

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nach dem Ende der Existenz- und Lebensphilosophie eher im Milieu der Ratgeberliteratur verortet wurde, heute jedoch zunehmend wieder als respektables Thema der Philosophie wahrgenommen wird.3 Und der Begriff des Sinns einer sprachlichen Einheit hat seit Frege sowieso seine feste Stellung in der Sprachphilosophie.

3. »Einverstanden! – Aber …« In diesem Abschnitt möchte ich die Übereinstimmung markieren, die ich mit einigen der Thesen Gerhardts im Grundsatz habe. Ich sage »im Grundsatz«, weil unsere Ansichten in Details, Nuancierung oder präzisem Zuschnitt bei genauerem Hinsehen dann doch divergieren und weil ich zugeben muss, dass ich nicht jede These verstehe und nicht in der Lage war, jedes angebliche Argument auch als solches aufzufassen. Die folgenden Ausführungen folgen daher jeweils dem Schema »Einverstanden! – Aber…«. Was zunächst die Bedeutung der Gottesfrage für die Philosophie angeht, so bin ich ganz einverstanden, dass Gerhardt sie als so zentral und bedeutsam ansieht, dass sie nicht in eine Spezialdisziplin »abgeschoben« werden kann (V 1–2).4 – Aber man muss sehen, dass auch andere Fragen philosophisch »global bedeutsam« sind, etwa die Fragen nach Denken, Sein, Sprache, Welt, Lebenssinn, Moral usw. usf., und dass uns dies nicht daran hindert, sinnvoll die Arbeit zu teilen und/oder diese Fragen philosophischen Teildisziplinen zuzuordnen. Globale philosophische Bedeutsamkeit allein ist daher noch kein überzeugendes Argument gegen die Zuordnung der Gottesfrage zu einem philosophischen Teilbereich wie der Metaphysik, der natürlichen/philosophischen Theologie oder der Religionsphilosophie. Wenn Gerhardt mit seiner Behauptung hingegen nur die Bedeutung der Gottesfrage überhaupt unterstreichen will, ohne also Sinn und Möglichkeit einer »Spezialdisziplin« in Frage zu stellen, ist dieses Aber gegenstandslos. Wenn Gerhardt weiter behauptet, dass die spekulative Gotteserkenntnis ihren »Ursprung in den Leistungen unserer Sinne« (A1) hat, bin ich ebenfalls einverstanden. Auch ein Thomas von Aquin würde eine empiristische These wie diese ja teilen, denn: »nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu«.5 Während es bei Thomas jedoch vor allem um den Gehalt unserer Gedanken oder, sprachphilosophisch gewendet, um die Bedeutung Vgl. etwa Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 1990, Kap. 10: »Der Sinn des Lebens«. Im Übrigen scheint es mir eine interessante Beobachtung zu sein, dass auch philosophische Richtungen, die diesem Thema skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, teilweise versteckt auf ihm beruhten. Im Kontext von Sinnlosigkeitsvorwürfen wird stets ein sinnvoller Sinnbegriff vorausgesetzt. 4 Der von Gerhardt in diesem Band veröffentlichte Text ist in diesem Punkt gegenüber der vorgetragenen Fassung entscheidend verändert. Vor allem ist die systematische These zu Beginn des Abschnitts 2 – die Gottesfrage sei philosophisch so grundlegend, dass sie nicht auf eine »Spezialdisziplin, etwa die einer ›philosophischen Gotteslehre‹« beschränkt werden könne – durch die historische These ersetzt worden, dass die Gottesfrage in der Antike ohne jede Erwähnung einer philosophischen Gotteslehre hervorgetreten sei (3). 5 »Nichts ist im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen war« (Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate 2,3,19). 3

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unserer sprachlichen Einrichtungen geht, wäre davon erstens noch einmal die erkenntnistheoretische Fragerichtung zu unterscheiden, und es wäre zweitens auch mit Formen konditionaler Erkenntnis zu rechnen. So sind etwa Gottesbeweise heute ein sehr lebendiges Forschungsgebiet der theoretischen Philosophie.6 Sie vermögen es (im Erfolgsfalle), logisch zwingende Zusammenhänge zwischen verschiedenen Elementen unserer metaphysischen Weltanschauung herzustellen.7 Sollte man nun die ontologischen Gottesbeweise, die ja in gewisser Hinsicht gerade nicht von empirischen Fakten ausgehen, aus der »spekulativen Gotteserkenntnis« ausgrenzen? Und muss man Kants Beschränkung vernünftiger Erkenntnis auf den Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung zum Dogma erheben? Und selbst wenn man es tut: Gibt es nicht gute Gründe, mit der Möglichkeit religiöser Erfahrung zu rechnen? Zumindest ist es ein Faktum, dass dazu ernstzunehmende philosophische Theorien vorliegen, wie etwa die von W. Alston oder A. Plantinga.8 Unabhängig vom Thema religiöser Erfahrung gibt es heute ein lebendiges Interesse der Philosophie an (im weitesten Sinne) kosmologischen Gottesbeweisen, die natürlich nicht »prämissenlos« sind, die aber im Erfolgsfall wiederum Zusammenhänge zwischen sinnlicher Erfahrung (bzw. unseren auf ihr beruhenden wissenschaftlichen Theorien) und der Gotteshypothese aufzeigen – auch wenn im Einzelnen umstritten ist, ob diese Zusammenhänge schlussfolgernder, explanatorischer, bloß ordnend-systematisierender oder anderer Art sind. Jedenfalls kann man nicht einfach so tun, als sei mit einer Beschränkung auf sinnliche Erfahrung schon die Unmöglichkeit der Gotteserkenntnis besiegelt. Gerhardt geht davon aus, dass wir in und von Sinnzusammenhängen leben. Häufig greift ein partikuläres Sinnpostulat auf einen umfassenderen Sinn aus, eine Einzelepisode macht nur Sinn als Teil eines größeren Zusammenhangs. Das legt es nahe, einen letzten Sinnhorizont anzunehmen, so Gerhardt. – Einverstanden! Aber wäre hier nicht die Bringschuld größer, als Gerhardt zugesteht? Selbst wenn man den nicht unumstrittenen Ausgangspunkt schenkt, dass nur ein als sinnvoll erlebtes Leben ein gelungenes Leben und Sinn(postulate) daher unabdingbar sind, stellen sich viele weitere Fragen. Zu6 Individua pro specie seien genannt: John Howard Sobel: Logic and Theism, Cambridge 2004; Philip L. Quinn/Charles Taliaferro (Hg.): A Companion to the Philosophy of Religion, Malden 1997, Kap. 41–47; Richard Swinburne: Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987; William L. Craig: The Kalam Cosmological Argument, London 1979; Bernd Irlenborn/Andreas Koritensky (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Darmstadt 2013, S. 91–155. 7 Zu diesen Zusammenhängen siehe z. B. Winfried Löffler, »Was müsste ein Argument für die Existenz Gottes eigentlich leisten?«, in: A. Fidora/E. Bidese/P. Renner (Hg.): Philosophische Gotteslehre heute, Darmstadt 2008, S. 55–70; Ders.: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006, Kap. 5; Oliver J. Wiertz: »Gottesbeweise nach dem Fundationalismus«, in: Christian Kanzian/Muhammad Legenhausen (Hg.): Proofs for the Existence of God: Contexts – Structures – Relevance, Innsbruck 2008, S. 145–169. 8 Siehe z. B. William Alston: Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca 1991; ders.: »Religiöse Erfahrung und religiöse Überzeugungen«, in: Christoph Jäger (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, S. 303–316. Bei Alvin Plantinga spielt religiöse Erfahrung v.a. in im Rahmen seines »Aquinas-Calvin-Modells« eine Rolle, das unter der hypothetischen Annahme der Wahrheit des Christentums zeigt, wie christliche Überzeugungen dann wahrscheinlich gerechtfertigt sein können, wobei der sensus divinitatis die wichtige Fähigkeit oder Disposition bezeichnet, unter Einflüssen, die den »Sinn für’s Göttliche« stimulieren, epistemisch basale theistische Überzeugungen zu bilden, z. B. Alvin Plantinga: Warranted Christian Belief, New York 2000, S. 173 u.ö.

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nächst: Warum reichen uns partikuläre Sinne nicht aus? Selbst wenn eine Einzelepisode nicht allein vollständig für ihren eigenen Sinn aufkommen kann, kann man fragen: Muss sie das denn, um sinnvoll zu sein? Und selbst wenn sie es müsste, wäre offen, ob die sich daraus ergebenden Regresse von Sinnebenen notwendig auf ein umfassendes Ziel hinsteuern müssen. Ist es nicht denkbar, dass es verschiedene, in Bezug auf die Sinnhypothekenrechnung voneinander unabhängige »Subsysteme« der Wirklichkeit gibt? Aber selbst wenn man auch die Konvergenz noch gezeigt hätte, bliebe noch die Frage, warum man auf diesem Wege zu einer Ganzheit gelangen sollte, die »göttlich« genannt werden kann. Wäre es prima facie nicht naheliegender, dass man das so erreichte Gesamtsystem »Welt« nennt? (Oder kündigt sich hier schon ein Pantheismus an? – Dazu unten mehr.) Die Identifikation des Sinnpostulats der Welt als Ganzer mit Gott scheint mir schließlich auf ein eigenes Dilemma hinauszulaufen: ENTWEDER man geht wirklich davon aus, dass jeder Mensch, dem es um den »Sinn« geht (der sich also nicht mit einer absurden Existenz zufriedengibt), auch einen »letzten Sinn« postulieren muss. Dann müsste dieser »letzte Sinn« aber so allgemein – und ich würde auch sagen: in religiöser Hinsicht so neutral – sein, dass man ihn kaum mit »dem Göttlichen« in irgendeinem religiös bedeutsamen Sinne identifizieren könnte. Täte man es dennoch, würde man die atheistischen Sinnsucher gewissermaßen »zwangstaufen«, ihnen nämlich mit der Existenz des Göttlichen eine religiöse Überzeugung zuschreiben, deren religiösen Charakter sie selbst bestreiten würden. ODER man hält die Identifikation von religiös bedeutsamem Gott und letztem Sinn fest, würde dann jedoch, um »Zwangstaufen« zu vermeiden, in Kauf nehmen müssen, dass überhaupt nicht klar ist, dass und ob alle Menschen tatsächlich letztlich auf einen solchen Sinnhorizont angewiesen sind, um episodischen Sinn in ihrem Leben zu haben. Wie schon in der Zusammenfassung ausgeführt, sieht Gerhardt eine enge und vielschichtige Verschränkung von Glauben und Denken bzw. Wissen gegeben und wendet sich entsprechend scharf gegen den gedankenarmen Spruch der Giordano-Bruno-Stiftler: »Glaubst du noch oder denkst du schon?« Pointiert hält Gerhardt dagegen: »So wenig jemand ohne zu denken glauben kann, so unmöglich ist es ihm zu denken, ohne wenigstens daran zu glauben« (B41). Einverstanden! – Aber hier spielt das Problem hinein, dass »glauben« mehrdeutig ist. Wenn Gerhardt eine Art minimaler epistemischer Selbsttransparenz fordert (»Wenn ich kognitiv A vollziehe, dann glaube ich, dass ich kognitiv A vollziehe«, oder ähnlich), dann könnte man dies zwar von einem externalistischen Standpunkt aus bestreiten, doch das wäre nicht der Punkt. Der Punkt wäre vielmehr, dass es bei solchen Transparenzprinzipien um »Glauben« im Sinne einer epistemischen Einstellung geht. Das religiös-existenzielle »Glauben« scheint mir ein solches epistemisches »Glauben« zwar einzuschließen, charakteristischerweise aber darüber hinauszugehen. Die Giordano-Bruno-Stiftler haben ja nichts gegen die epistemische Einstellung generell, sondern gegen die von ihnen als rückständig und rationalitätsfeindlich eingestufte Variante religiösen Glaubens. Und die scheint wesentlich mehr zu beinhalten als nur die epistemische Einstellung des Für-wahr-Haltens – von einer Haltung des Vertrauens über eine existenzielle Bindung bis hin zu gewissen Meta-Überzeugungen etwa über die Kohärenz des Glaubenssystems, dessen Verhältnis zur Vernunft usw., die der rein epistemische

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Glaube so nicht umfasst. Auf die Mehrdeutigkeitsproblematik ist später noch ausführlicher einzugehen. Gerhardt spricht mehrfach vom Wissensanspruch der (meisten) Religionen (z. B. V5). Einen solchen Anspruch scheint es in manchen (Ausprägungen mancher) Religionen oder zumindest in einigen ihrer Reflexionsgestalten tatsächlich zu geben. Aber mir scheint fraglich, ob ein solcher Wissensanspruch auch nur annähernd so verbreitet ist wie ein religiöser Wahrheitsanspruch. Einen Wahrheitsanspruch handelt sich jede Religion spätestens dann ein, wenn propositional verfasste Überzeugungen für sie entscheidend sind – denn epistemischer Glaube ist ja nichts anderes als ein (vielleicht graduelles) Fürwahr-Halten. Wenn ich glaube, dass p, dann beanspruche ich, dass die Proposition, dass p, wahr ist. Aber ich beanspruche im Allgemeinen nicht, p auch zu wissen. Vielleicht beanspruche ich, wenn ich p glaube, zu wissen, dass ich p glaube. Die Problematik der epistemischen Selbsttransparenzprinzipien und ihre internalistische »Tendenz« hatten wir oben schon andiskutiert. Dies scheint hier aber nicht einschlägig zu sein, denn wenn man schlechthin von einem »Wissensanspruch« spricht, sollte man eher auf derselben Ebene bleiben wie das genannte Beispiel p. Die Fälle, in denen (aus religiösen Gründen bzw. in religiösem Kontext) für wahr gehaltene Propositionen direkt einen Anspruch auf Wissen darstellen, sind jedoch üblicherweise auf die Sonderfälle eines Anspruchs auf unbezweifelbare Gewissheit beschränkt – etwa auf Fälle von direkter Eingebung, übernatürlichem Licht, Gnadenwirken oder Privatoffenbarungen, allgemein gesprochen: göttlicher manifestations (Alston) – oder sie stehen methodisch unter der ausdrücklichen Voraussetzung religiöser Prämissen, wie in der reformed epistemology. Ansonsten gilt aber gerade im Bezug auf die Rechtfertigungsbedingung, dass religiöser Glaube sich hier in der Regel vom Wissen unterscheidet: »Certitudo […] importat etiam evidentiam eius cui assentitur; et sic fides non habet certitudinem, sed scientia et intellectus«.9 Der religiöse Glaube gilt Gerhardt als Option im Sinne einer freien und eigenverantwortlichen Entscheidung des Einzelnen.10 Die Ausübung von Zwang komme keinesfalls in Frage, ja, sie stehe geradezu im Widerspruch zum Glauben (V6). – Auf der materialen Ebene bin ich damit vollkommen einverstanden: Religiöser Glaube muss in einer freien, aufgeklärten Gesellschaft als Angebot oder Option auftreten, während Zwang gegen den eigenen Willen unbedingt abzulehnen ist. Mein Aber bezieht sich hier auf die formale Seite: Handelt es sich bei dem, was Gerhardt und ich einhellig ablehnen, tatsächlich um einen Widerspruch zum Glauben? Mir scheint dagegen, dass man in Zwang, Unfreiheit und Verletzung des Rechts auf religiöse Selbstbestimmung erst dann einen »Widerspruch zum Glauben« sehen kann, wenn man schon bestimmte Glaubensinhalte voraussetzt. »Gewissheit führt auch zur Einsehbarkeit dessen, dem zugestimmt wird. In diesem Sinne kommt Gewissheit nicht dem Glauben, sondern der Wissenschaft und dem Verstand zu« (Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate 14,1). 10 An dieser Stelle ist die Beschränkung auf religiösen Glauben ganz zentral. Denn der allgemeine »Glaube« an das Ganze der Wirklichkeit und die Sinnhaftigkeit der Welt ist für Gerhardt gerade kein Gegenstand von Einstellung oder Entscheidung und insofern auch keine »Option«. Optional ist nur dessen religiöse Ausdeutung oder Konkretisierung. (Für diesen Hinweis danke ich Volker Gerhardt.) Siehe dazu aber unten die Kritik zur Mehrdeutigkeit des Terminus »glauben«. 9

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Die Tatsache, dass man überhaupt irgendetwas glaubt, widerspricht allein noch nicht der Ausübung von Repressionsmitteln anderen gegenüber. Erst der konkrete Glaube, etwa an Prinzipien der christlichen Nächstenliebe oder verbindliche Menschenrechte, erzeugt den behaupteten Widerspruch zwischen Handlungen und Überzeugungen. Gerhardt geht in seiner Betonung der Rolle der Vernunft jedoch noch weiter: Verkündigung, sagt er, verlange Gründe, kritische Prüfung, die Akzeptanz von Gegengründen usw., sprich: den rationalen Diskurs (V6). Einverstanden, sofern es darum geht, die Rolle der Vernunft auch in religiösen Dingen so hochzuhalten wie möglich. Wenn etwas traditionell als wesentlich für den Menschen angesehen wurde, dann die Vernunft. Also kann eine Religion nur wahrhaft menschlich und mensch-gemäß sein, wenn sie den religiösen Menschen nicht zum vielbeschworenen Abschwören von der eigenen Vernunft zwingt. Aber: Bei aller Hochschätzung der Rolle der ratio muss man auch die Problematik der Überforderung des Einzelnen im Blick haben. Kann man von ihm wirklich verlangen, alle Einwände, die ihm begegnen, kritisch zu prüfen? Kann man darüber hinaus von ihm sogar verlangen, positive Gründe für seine gläubige Position zu geben? Dies würde die meisten religiösen Menschen hoffnungslos überfordern. Sinnvoller scheint es, auch im religiösen Bereich mit einer gewissen Aufteilung der verschiedenen Aufgaben und mit Expertentum zu rechnen. Kurz gesagt: Nicht alles, was man von einem Theologieprofessor oder einem Bischof erwarten darf, darf man auch von jedem Gläubigen erwarten. An die Rationalität des Einzelnen kann man wohl nur die Mindestanforderungen stellen, dass er 1.) grundsätzlich die Notwendigkeit von Begründungen und die Möglichkeit von Einwänden akzeptiert, 2.) sich nach seinen Möglichkeiten und Mitteln und entsprechend der Kommunikationssituation darauf einzugehen bemüht (liest er einen Einwand in einem Buch oder schüttet ihm gerade ein »echter Gottsucher« »auf Augenhöhe« sein Herz aus?) und dass er sich 3.) von der Auseinandersetzung mit ihnen nicht grundsätzlich, sondern nur im Blick auf die religiösen »Experten« dispensiert. Als letzte These, der ich grundsätzlich zustimmen kann, sei erwähnt, dass die pauschale Kritik am Sinn des Wahrheitsbegriffs bzw. an der Existenz und epistemischen Zugänglichkeit der Wahrheit der Metaphysikkritiker selbst »mit metaphysischen Unterstellungen operiert« (V7). Das einzige Aber betrifft hier die Beweislastfrage: Reicht es, die metaphysische Imprägnierung der Kritik am Wahrheitsbegriff zu behaupten, um sie nicht berücksichtigen zu müssen, oder wäre diese metaphysische Imprägnierung nicht im Einzelnen nachzuweisen?

4. Einzelne Schwierigkeiten 4.1. Ein Terminus mit vielen Bedeutungen: Was ist der Sinn von »Sinn«? Der zentrale Terminus von Gerhardts Werk ist »Sinn«. Für »Sinn« gilt in potenzierter Weise, was Aristoteles über »Seiend« sagt: »polachos legetai« – es wird vielfach ausgesagt. Eine Besonderheit in Gerhardts Darstellung liegt darin, dass er beim Terminus »Sinn« selbst die große Bandbreite der verschiedenen Bedeutungen dieses Ausdrucks thematisiert. Die von ihm berücksichtigten Bedeutungen reichen von unseren fünf Sinnen im

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Sinne der Sinnesorgane, über die von diesen gelieferten Sinnesdaten bis hin zur Sinneswahrnehmung als Produkt von deren kognitiver Verarbeitung. Daneben kennt Gerhardt aber auch Neigungen (»wonach mir der Sinn steht«), den Richtungssinn von Straßen oder Bewegungen, den bedeutungsmäßigen Sinn von Texten oder Symbolen, den hermeneutischen Sinn und schließlich den Sinn des Daseins bzw. der Welt. Außerdem komme im Sinn (-begriff ?) »eine physiologische, soziale, psychische, semantische und logische Tiefendimension der intelligiblen Leistungen des Menschen« zur Geltung. (V8) Diese Vieldeutigkeit scheint Gerhardt nun aber nicht zu irritieren. Im Gegenteil hält er es gerade für einen Ausweis der »Tragfähigkeit dieses Begriffs«, so vielschichtig und vieldeutig zu sein. Dies kommt mir sehr problematisch vor. Sicher ist ein Ausdruck, der in vielerlei Kontexten zentrale Bedeutung besitzt, ein wichtiger und vielseitiger Ausdruck. Aber welcher Begriff wird mit einem Terminus ausgedrückt, der sich gleichermaßen auf den Sinn des Lebens, den Richtungssinn einer Einbahnstraße und meine Sinnesorgane bezieht? Gibt es einen solchen gemeinsamen Begriff – oder hat man es nicht eher mit einer klassischen Äquivokation zu tun? Gerhardt bleibt Argumente für das Erstere schuldig.11 Und selbst wenn man von einem solchen, in meinen Augen arg konstruierten, gemeinsamen Begriff ausginge – wie steht es dann um seine theoretische Tragfähigkeit? Mehrdeutigkeiten geben bekanntlich zu Fehlschlüssen Anlass, und Bedeutungsklarheit wie Bedeutungskonstanz sind Basisforderungen jeder Wissenschaftstheorie. Ein Begriff, der alles Mögliche aussagt, sagt nicht viel aus. Gerhardt charakterisiert den Sinnbegriff, um den es ihm letztlich geht, folgendermaßen: »Zum Sinn gehört […] alles, was überhaupt Bedeutung für uns haben kann« (A1–2). Genau so charakterisiert er andernorts jedoch die Welt: »Der Begriff der Welt schließt alles ein, was nicht nur in ihrer physischen und sozialen, sondern auch in ihrer intelligiblen Verfassung Bedeutung haben kann« (V9). Die Welt und ihr Sinn sollen nun aber offensichtlich nicht identisch sein. Gerhardt möchte ausdrücklich keinen Pantheismus vertreten. Dennoch scheint er selbst eine gedankliche Nähe zu spüren, wenn er sich zu der Behauptung genötigt sieht, dass sein Ansatz »gegen den Verdacht gewappnet [ist], ›pantheistisch‹ zu sein. Denn göttlich ist das, was in seiner bedeutungsvollen Größe, in seiner unfassbaren Übermacht sowie in seiner unergründlichen Tiefe vom Menschen als schlechthin fundamental, übergeordnet und erhaben erfahren werden kann« (V11). Die Frage ist nun aber, ob die Behauptung, der eigene Ansatz sei gegen den Pantheismusverdacht »gewappnet«, auch stimmt. Zur Begründung verweist Gerhardt jedenfalls auf Ein Indiz dafür, dass man unter »Sinn« auch in der Philosophie recht Verschiedenes versteht, dessen Zusammenhang nicht offensichtlich ist, mag man darin sehen, dass selbst das Historische Wörterbuch der Philosophie drei Artikel unterscheidet: »Sinn/Bedeutung«, »Sinn des Lebens« und »Sinne, die« (Bd. 9, Basel 1995, Sp. 808–815 bzw. 815–824 (von Gerhardt) bzw. 824–869). – Zu Gerhardts Entlastung muss man anmerken, dass auch Christian Thiel in seinem Artikel »Sinn« in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 810–812, diese Argumente schuldig bleibt und nur behauptet, die verschiedenen Bedeutungen hingen zusammen. 11

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die göttlichen Attribute der Fundamentalität, der Übergeordnetheit und der Erfahrbarkeit-als-erhaben. Diese Attribute treffen aber auch auf die Welt zu: Auch sie ist eine fundamentale Gegebenheit für das Subjekt, sie ist der übergeordnete Zusammenhang schlechthin und wird gerade ob ihrer Größe und Umfassendheit als erhaben erlebt. Damit wird man zumindest »mangelhafte Wappnung« feststellen müssen: Gerhardt steht der pantheistischen Identitätsthese von Gott und Welt sehr nahe, und kann diese Wahrnehmung seiner Position nicht dadurch beseitigen, dass er auf Eigenschaften des Göttlichen verweist, die die Welt ebenfalls hat.12

4.2. Zwei grundsätzliche Alternativen: Säkularisation oder Adäquatheit? Philosophische Zugänge zur religiösen Praxis, die auch die Inhalte religiöser Überzeugungen bearbeiten wollen, stehen vor einer grundsätzlichen Alternative, die man schlagwortartig mit »Säkularisation oder Adäquatheit« betiteln könnte. Grob gesprochen geht es um folgende Alternative: Will man eine rein philosophische »Fassung« oder Reinterpretation der Glaubensinhalte entwickeln, sodass man die resultierenden Thesen allein durch allgemeinverbindliche Vernunfteinsichten stützt und auf diesem Wege eine säkulare Hebung »semantischer Potentiale« der Religion leistet (Alternative »Säkularisation«)?13 Oder sollen die Gehalte religiöser Einstellungen als solche erhalten bleiben, sodass man zwar religionsphänomenologisch adäquatere Untersuchungsgegenstände hat, die philosophische Beschäftigung mit ihnen jedoch letztlich entweder hypothetisch-konditional bleiben oder damit rechnen muss, diese Gehalte rein philosophisch nicht zu erreichen (Alternative »Adäquatheit«)?14

In dem veröffentlichten Text wird Gerhardt am Schluss noch ungleich deutlicher. Rhetorisch fragt er, warum es mir unmöglich sein soll, »die mich tatsächlich in allem tragende […] Welt als etwas zu vernehmen, von dem ich glauben kann, dass es mich so versteht, wie ich mich zu verstehen glaube«, und nennt diese Entsprechung gleich im nächsten Satz auch ausdrücklich eine »Entsprechung zwischen dem gläubigen Menschen und seinem Gott« (14). Gott wäre demnach zumindest insofern identisch mit der Welt, als diese sich als Gott »vernehmen« lässt. – Die Analogie zwischen Gott-Welt-Verhältnis und Verhältnis von Person und Körper, die Gerhardt an dieser Stelle außerdem einführt, würde eine eigene Auseinandersetzung erfordern. Problematisch erscheint jedenfalls die Folge, die Gerhardts Sicht, der Körper sei der Träger der Person, im Rahmen dieser Analogie hat: Soll die Welt der Träger Gottes sein? Damit wäre jeder Schöpfungsgedanke a priori ausgeschlossen. 13 Vgl. etwa Jürgen Habermas’ Rede von den »längst profanisierten Quellen der religiösen Überlieferung« (»Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001«, in: ders.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt/M. 2003, S. 249–262, hier S. 256) und davon, dass »die religiöse Sprache« rational (noch) unübersetzbare »inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt« (»Motive nachmetaphysischen Denkens«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1997, S. 35–60, hier S. 60). 14 Zum Adäquatheitsargument für realistische Deutungen religiöser Rede siehe etwa Christoph Jäger: »Analytische Religionsphilosophie – eine Einführung«, in: ders. (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, S. 11–51, hier S. 15; als anti-reduktionistisches Argument (gegen Umdeutungen gerichtet) bei Franz von Kutschera: Vernunft und Glaube, Berlin 1991, S. 104–105. 12

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Weder will ich behaupten, dass beide Alternativen mit dieser groben Darstellung schon hinreichend geklärt wären, noch dass es keine Abschattierungen oder Mischformen gibt. Sie deuten aber zwei grundsätzlich gegenläufige Richtungen an. In welcher Richtung verortet Gerhardt seinen Zugang? Wenn man liest, dass der Hl. Geist die »tatsächlich erzeugte empathische Verbindung vieler Menschen« sei (B292), spricht dies eher für die Alternative »Säkularisation«, denn dies bleibt offenkundig schon hinter den schwächsten theologisch adäquaten Charakterisierungen des Hl. Geistes zurück. Wenn es hingegen heißt: »Das Göttliche ist eine Macht im menschlichen Leben. […] Die Philosophie [ist] seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren darum bemüht, die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Göttlichen angemessen zu erfassen« (B11), klingt es nach einem committment auf die Adäquatheit gegenüber den religiösen Phänomenen. 4.3. Was heißt »Glauben«? – Drei Probleme Mit Gerhardts Rede von »Glauben« verbinden sich für mich drei Schwierigkeiten. Erstens wird der Ausdruck »glauben«, wie schon angemerkt, mit verschiedenen Bedeutungen gebraucht.15 Dazu gehört die alethische propositionale Einstellung des Glaubens, die in der Regel in Sätzen wie »S glaubt, dass p« zum Ausdruck kommt, wo »S« für eine Person und »p« für eine Proposition steht. Daneben gibt es »glauben« im Sinne einer Haltung des Vertrauens, die man üblicherweise gegenüber Personen einnimmt und die in Sätzen wie »S glaubt an T« oder »S glaubt T« zum Ausdruck kommt, wo »S« und »T« für Personen stehen. Drittens wird »glauben« verwendet, um eine existenzielle Haltung zum Ausdruck zu bringen, etwa wenn man sagt: »Das meine ich nicht nur, daran glaube ich!« Schließlich redet man, viertens, von religiösem Glauben. Zu diesem gehören meiner Ansicht nach die ersten drei Bedeutungen von Glauben plus u.U. weitere Bedingungen. In Gerhardts Buch kommt das Wort »glauben« in allen vier Bedeutungen vor, ohne dass jedoch zwischen diesen Bedeutungen klar unterschieden würde. Häufig verschwimmen sie und dem Leser wird nicht klar, ob z. B. gerade vom religiösen Glauben oder vom Glauben-an-sich-selbst die Rede ist. Möglicherweise hat es damit auch seine Richtigkeit, weil Gerhardt einen eigenen Glaubensbegriff verwendet, der all diese analytisch trennbaren Bedeutungsmomente irgendwie umfassen soll. Damit ist dann aber die nächste Schwierigkeit verbunden. Diese zweite Schwierigkeit sehe ich in einer unzureichenden Bestimmung dessen, was Gerhardt selbst unter »glauben« versteht. Gerade wenn er von den Standardverwendungen dieses Ausdrucks abweicht, müsste er sein eigenes Verständnis deutlicher machen. Einmal charakterisiert er das, was er unter »glauben« versteht, folgendermaßen: »Glauben ist ein existenzieller Akt. Er umfasst das Ganze eines Individuums und bezieht es auf das Ganze einer Handlungs- oder Lebenslage« (B9). Hier wäre zu bezweifeln, ob diese Hilfreiche erste Unterscheidungen verschiedener Redeweisen von »glauben« bietet Franz von Kutschera: Vgl. von Kutschera: Vernunft und Glaube, Kap 2.4. 15

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Charakterisierung eng genug ist, denn auch ein Eheversprechen, eine Lebensbeichte oder eine Meditation scheinen mir existenzielle Akte zu sein, die das Ganze eines Individuums umfassen und es auf das Ganze einer Handlungs- oder Lebenslage beziehen. U.U. müsste man sogar den Besuch eines Fußballfans im Fußballstadion dazurechnen, da zumindest die Erlebnisqualität so ist, dass dabei das Ganze eines Individuums existenziell umfasst und auf das Ganze einer Lebenslage bezogen wird. Eine dritte Schwierigkeit mit dem Glaubensbegriff hängt damit zusammen, dass intentionale Einstellungen wie glauben in dem Sinne reflexiv sein können, dass sie sich selbst wieder auf eine intentionale Einstellung beziehen. Man erhält so erst- und höherstufigen Glauben: Ist p eine Proposition, die selbst keinen intentionalen Gehalt hat, so ist der Satz »CT glaubt, dass p« eine erststufige intentionale Einstellung. Eine zweitstufige Einstellung kommt dann etwa in »VG weiß, dass CT glaubt, dass p« zum Ausdruck usw. Die Frage ist nun: Glauben welcher Stufe meint Gerhardt eigentlich, wenn er von »Glauben« spricht? Formulierungen wie »Der Glauben an das Wissen« (B176) oder »in diesem Glauben verlässt [der Mensch] sich auf sein Wissen« (B175) klingen so, dass eigentlich nur höherstufiges Glauben gemeint sein kann.16 Hingegen könnten Formulierungen wie »Glauben […] setzt da ein, wo das Wissen noch nicht oder nicht mehr trägt« (B179) oder »[der Mensch] glaubt bereits in allem, was er weiß und denkt, dass es der Wahrheit entspricht« (B174) auch von erststufigem Glauben handeln. Anders gefragt: Ist Glaube nach Gerhardt eine Einstellung zum Wissen (also notwendig höherstufig) oder eine Einstellung, die sich auch auf nicht-intentionale Sachverhalte beziehen kann? Offensichtlich berührt sich dieses dritte Problem wieder mit dem ersten Problem der unterschiedlichen Bedeutungen von »glauben«.

4.4. Vier Probleme mit Gerhardts philosophischer E-Soterik »E-Soterik« ist hier mit Bindestrich geschrieben, um auf den theologischen Fachausdruck hinzuweisen: Es geht nicht um den Esoterik-Markt, sondern um die Frage, ob Erlösung aus eigener Kraft erreichbar ist oder nicht, ob sie also »von außen« kommt (Ex-Soterik) oder aus dem Bereich der eigenen Handlungsmöglichkeiten (E-Soterik). Gerhardt vertritt eine e-soterische Position. »Erlösung« oder »Heil«, sprich: sinnvolles, gelingendes Leben, besteht in etwas radikal Diesseitigem (wie ja schon Gerhardts nicht-transzendenter Gottesbegriff nahelegt). Näherhin versteht Gerhardt darunter einen »Seelenfrieden«. Dieser »liegt im Bewusstsein der Übereinstimmung mit den die Welt ausmachenden Kräften« (A20). An diese Formulierung schließen sich für mich vier gewichtige Fragen an. Erstens entspricht es unserer Erfahrung, dass es in der Welt auch böse »Kräfte« gibt. Wenn nun der In dem veröffentlichten Text hat Gerhardt am Ende von Abschnitt 6 einen Absatz eingefügt, der damit endet, dass man »den Glauben als eine unerlässliche Einstellung zum Wissen bezeichnen« könne. Dies spricht ebenfalls für einen höherstufigen Glaubensbegriff, hebt aber nicht die Stellen auf, die nach einem erststufigen Glaubensbegriff klingen. 16

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Seelenfrieden in der Übereinstimmung mit den Kräften besteht, die die Welt ausmachen, müsste es auch für Schurken einen Himmel geben. Denn auch diese stimmen ja in ihren üblen Tendenzen mit Kräften überein, die die Welt mitausmachen. Diesem Problem scheint man nur auf der Oberfläche durch eine Privationstheorie des Bösen entkommen zu können. Bei Licht betrachtet ist das aber – unabhängig von der Frage, ob eine solche Theorie überhaupt plausibel zu machen ist – keine wirkliche Lösung, da dann folgende Situation eintritt: Es gibt zwar keine zu einer positiven Kraft P entgegengesetzte Kraft N, sondern nur einen Mangel an P. P muss also graduell sein. »Übereinstimmung« mit den Kräften, die die Welt ausmachen, kann dann aber auch nicht als »P haben« verstanden werden, da schließlich alles P hat, nur manches eben in geringem oder negativen Grade. Ergo gibt es auch bei einer Privationstheorie eine »Übereinstimmung in negativen Kräften«, nämlich eine Übereinstimmung im Mangel an oder im geringen oder negativen Grad von P. Auch im Rahmen einer Privationstheorie gilt also, dass ein Schurke für sich reklamieren könnte, mit den Kräften, die die Welt ausmachen, übereinzustimmen. Er müsste daher nach Gerhardt im Seelenfrieden leben. Anders jedoch, zweitens, die Opfer der Geschichte, d. h. diejenigen, denen es in ihrem Leben nicht vergönnt war, glücklich und zufrieden ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu leben. Sie hatten zu Lebzeiten anscheinend nicht das Glück, im Seelenfrieden zu leben. Wenn das Heil nun aber einzig im diesseitigen Seelenfrieden liegt, dann werden die Opfer der Geschichte für immer Opfer bleiben: Es besteht für sie dann nicht einmal mehr Hoffnung auf Glück oder Gerechtigkeit. Drittens hat ein Ansatz wie derjenige Gerhardts mit einer besonderen Verschärfung des Problems des Übels zu kämpfen, die ich »säkulares Theodizeeproblem« nennen würde. Zumindest das Grundsatzproblem des Übels lässt sich ja durch den Hinweis auf einen verborgenen Plan Gottes kombiniert mit der Überzeugung von dessen Heilswillen bzw. Allgüte lösen (nicht theoretisch kostenfrei lösen, aber zumindest lösen). Gott könnte gerechtfertigt sein, Übel zuzulassen, weil er überschaut, dass daraus Gutes entstehen kann, weil er den Wert der Freiheit höher schätzt als den Wert des Übels oder weil er sonst einen guten Grund hat, eine Welt mit Übeln einer Welt ohne Übel, dafür aber mit anderen Abstrichen, oder gar keiner Welt vorzuziehen. Diese Zwischenebene des Willens eines Gottes, bei dem zumindest die Möglichkeit besteht, eine universale Intention des Guten mit dem Faktum seiner bloß partikulären Realisierung zu verbinden, fällt in Gerhardts Konzeption aus: Die Tatsache, dass viele ihr irdisches Glück nicht finden, spricht entweder dagegen, dass das Göttliche gut ist, oder aber sogar gegen seine Existenz. Das faktische Auseinanderfallen von Soll und Ist in puncto gelingenden Lebens kann in einer solchen Konzeption nicht mehr abgefangen werden.17 Absurdität und Misslingen werden zu »brute facts«. Spricht das nicht gegen einen Ansatz, der das »Mit-sich-und-der-Weltim-Reinen-Sein« als letztes Ziel ansieht?

Vgl. Kants Gottespostulat der praktischen Vernunft, das nicht nur auf das »Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur« geht, sondern auf eine solche Ursache, »welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte« (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 225; eig. Hervorh.). 17

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Viertens schließlich führt dieser Ansatz in letzter Konsequenz, und wenn er nicht moralisch indifferent bleiben soll, zu einer engen Verknüpfung von moralischem Lebenswandel und irdischem Wohlergehen, einer Verknüpfung, die so eng ist, dass man berechtigt sein könnte, aus der Tatsache, dass jemand unglücklich und nicht im seelischen Gleichgewicht ist, auf eine vorausgegangene moralische Verfehlung zu schließen. »Selbst schuld!«, wäre die selbsterhebende (überhebliche?) Standardreaktion auf die Begegnung mit Unglücklichen.18

4.5 Fünf Schwierigkeiten mit dem Gottesbegriff Ich komme nun gewissermaßen zum innersten Konstruktionspunkt von Gerhardts Theorie des »Sinns des Sinns«, dem Göttlichen oder Gott. Hier möchte ich fünf Probleme markieren. Ein erstes Problem sehe ich in dem unklaren Verhältnis der verschiedenen Charakterisierungen eines Gottes oder des Göttlichen, die unverbunden nebeneinander stehen. So liest man, dass Gott die Größe und Bedeutungsvollheit des Ganzen sei; dass er allgenügsamer Grund der Wirklichkeit sei, Struktur der Welt, Sinn des Sinns, »eine zur Welt gehörende Bedingung unseres Welt- und Selbstverständnisses« (B293) oder »die bleibende Geltung begrifflicher Gehalte« (V3); schließlich sei er »in allem, worin er für den Gläubigen Bedeutung erlangt« (V11). Hier ergibt sich zunächst eine gravierende ontologische Unklarheit: Ist ein Gott nun eine Eigenschaft (»Bedeutungsvollheit«) oder ein möglicher Sachverhalt (»Bedingung«, »Geltung«) oder der Sinn eines Sachverhalts? Ist er etwas Konkretes oder etwas Abstraktes? Und wie passen die verschiedenen Charakterisierungen überhaupt zusammen? Dazu sagt Gerhardt, wenn ich richtig sehe, nichts. Das müsste er aber, da es sich beim Gottesbegriff um einen Zentralbegriff seiner philosophischen Theorie handelt. Entweder müsste er eine Basisdefinition angeben, die festlegt, was er unter »Gott« versteht, und dann zeigen, wie sich die anderen Charakterisierungen daraus ergeben. Oder er müsste, wenn er mit den verschiedenen Charakterisierungen arbeitet, wenigstens zeigen, dass sie miteinander verträglich sind. Denn eine Theorie, deren Grundbegriff widersprüchliche Eigenschaften hat, mag sehr viel zeigen und erklären – nur kann sie nicht wahr sein. Kritikwürdig finde ich zweitens Gerhardts bis an die Grenze des Polemischen gehende Positionierung in der Frage, ob man unter »Gott« ein welttranszendentes oder ein (wenigstens teilweise) weltimmanentes Wesen verstehen soll. Er schreibt ausdrücklich, es gebe »nicht den geringsten sachlichen oder logischen Anlass […], einen außerhalb der Welt liegenden Grund oder Ursprung anzunehmen« (A20); und er sagt von seinem eigenen Ansatz (selbstredend metaphorisch), er hole das Göttliche »aus dem Niemands18 »Tun-Ergehen-Zusammenhang« nannte man dies in einer bestimmten Auffassung der alttestamentlichen Vorstellungen vom Zusammenhang von gottesfürchtig-moralischem Lebenswandel und göttlicher Belohnung oder Bestrafung. Die Theologen sind froh, dass sie diese Vorstellung heute hinter sich gelassen haben und so auch dem Jesus-Wort treu bleiben können: »Weder er noch seine Eltern haben gesündigt« (Joh 9,3).

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land der Transzendenz« (V11). Um die Frage nach der richtigen Bestimmung von Gottes Weltverhältnis gibt es lange und komplexe Debatten, die sich in jüngster Zeit v.a. um Begriffe wie »Monismus«, »Panentheismus«, »Dualismus«, »Allgegenwart« usw. drehen.19 Diese komplexen Debatten sollten zur Vorsicht gemahnen, diese Frage nicht zu schnell erledigen zu wollen. Hinzu kommt, dass es recht einfache Argumente für eine (zumindest teilweise oder in bestimmter Hinsicht bestehende) Welttranszendenz des Göttlichen gibt. Zum Beispiel Folgendes: Wenn man ein Prinzip des zureichenden Grundes annimmt, um auf diesem Weg die Annahme von etwas Göttlichem als letztem Grund der Wirklichkeit zu rechtfertigen, so legt dieser Gedankengang von sich her nahe, den letzten Grund nicht innerhalb der Welt anzusetzen, da sonst das Prinzip erneut »zuschlagen« und einen Grund dieses (dann nur vermeintlich) letzten Grundes fordern würde. Der Erklärungsregress bricht nur dann ab, wenn man das Prinzip des zureichenden Grundes auf die Welt begrenzt und Gott als welttranszendent aus dem Anwendungsbereich dieses Prinzips ausnimmt.20 Ein dritter Punkt betrifft die Lehre von den Gottesattributen, die Gerhardt gelegentlich streift. Hierzu gibt es v.a. in der analytischen Religionsphilosophie seit mehreren Jahrzehnten intensive Debatten, die u.a. zu einem wirklichen Klärungsfortschritt bei den Gottesattributen geführt haben. Leider gewinnt man den Eindruck, dass Gerhardt diesen Weg nicht mitgehen will oder zumindest nicht mitgegangen ist.21 Ich möchte auf einen vierten Punkt aus der Attributenlehre nur hinweisen, bzgl. dessen es in meinen Augen doch zu schnell geht. Wenn Gerhardt schreibt: »Was sollte ein Gott, dem man Allwissenheit zuschreibt, noch glauben können oder gar glauben müssen?« (B175), so scheint ihm die ganze Palette der notwendigen Limitierungen des Allwissenheitsbegriffs zu entgehen, die sich aus der Konsistenzforderung einmal des Gottesbegriffs in sich (z. B. Allwissenheit im Verhältnis zu Allgüte und Allmacht), dann aber auch zwischen Gottesbegriff und gewissen metaphysischen Grundannahmen über die Wirklichkeit ergeben. Die meisten Granden der Religionsphilosophie würden Gerhardt 19 Um exemplarisch nur auf die Debatte um den Panentheismus zu verweisen: Philip Clayton/Arthur Peacocke: In Whom We Live and Move and Have Our Being: Panentheistic Reflections on God’s Presence in a Scientific World, Grand Rapids 2004; John W. Cooper: Panentheism. The Other God of the Philosophers: From Plato to the Present, Grand Rapids 2006; William L. Rowe: »Does panentheism reduce to pantheism? A response to Craig«, in: International Journal for Philosophy of Religion 61 (2007), S. 65–67; Philip Clayton: »Panentheisms East and West«, in: Sophia 49 (2010), S. 183–191; Klaus Müller: »Paradigmenwechsel zum Panentheismus? An den Grenzen des traditionellen Gottesbilds«, in: Herder Korrespondenz Spezial 2 (2011), S. 33–38; Benedikt Paul Göcke: »On the Importance of Karl Christian Friedrich Krause’s Panentheism«, in: Zygon. Journal of Religion and Science 48/2 (2013), S. 364–379; David Ray Griffin: Panentheism and Scientific Naturalism, Claremont 2014; Benedikt Paul Göcke: »Panentheismus als Leitkategorie religionsphilosophischen Denkens?«, in: Theologie und Philosophie 90/1 (2015), S. 38–59. 20 Daneben könnte ein Wittgensteinianer natürlich auch auf Wittgensteins These verweisen, dass der Sinn der Welt außerhalb ihrer liegen muss (Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 6.41). 21 Die Literatur zu den Gottesattributen ist so uferlos, dass hier nicht einmal eine Auswahl Sinn macht. Exemplarisch und summarisch zugleich sei auf die Übersichtsartikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy verwiesen: »Omniscience« (Edward Wierenga, Winter 2013 Edition), »Omnipotence« (Joshua Hoffman/Gary Rosenkrantz, Spring 2012 Edition), »Foreknowledge and Free Will« (Linda Zagzebski, Fall 2011 Edition), »Omnipresence« (Edward Wierenga, Winter 2014 Edition) u.v.a.m.

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zwar zustimmen, dass es bei Gott keinen Unterschied zwischen dem gibt, was er weiß, und dem, was er glaubt22 – wenn man denn überhaupt von einem »Glauben« Gottes sprechen will.23 Im Licht neuerer Diskussionen sollte man aber damit rechnen, dass – so behaupten gewisse Theorien – Sätze über zukünftige Ereignisse ante festum noch gar keinen Wahrheitswert haben, z. B. weil ihre truth maker noch nicht existieren. Was aber keinen Wahrheitswert hat, kann auch nicht gewusst werden, selbst wenn es eine Eintrittswahrscheinlichkeit von >0,5 hat. Wenn Gott weiß, dass ein Ereignis, von dem er nicht wissen kann, dass es eintreten wird, sehr wahrscheinlich eintreten wird, könnte man dann nicht sinnvollerweise davon sprechen, dass er glaubt, dass dieses Ereignis eintreten wird? – Diese Überlegungen scheinen von einer temporalen Ewigkeitskonzeption abhängig zu sein, sie stellen sich so oder so ähnlich jedoch auch in eternalistischen Kontexten.24 Diese Debatte kann hier nicht eröffnet werden. Wichtig wäre mir nur festzuhalten, dass es plausible Kombinationen von recht gut ausgearbeiteten Theorien in der Gotteslehre, Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie gibt, nach denen es ganz und gar nicht absurd ist, von einem »Glauben« auf Seiten Gottes zu sprechen. Vor diesem Hintergrund wirkt die Frage, was ein allwissender Gott denn noch glauben könnte, polemisch oder zumindest unterkomplex. Fünftens schließlich sehe ich größere Schwierigkeiten in Gerhardts Haltung gegenüber dem Gottesbegriff, wie sie pointiert in dem folgenden Satz zum Ausdruck kommt: »Jeder Mensch hat die Freiheit, sich das Göttliche so zu denken, wie es seiner Seele entgegenkommt« (B85). Ist Gott ein Gegenstand von Do-it-yourself? Selbstverständlich (und »Gott sei Dank!«) gibt es heute Religionsfreiheit und jedem ist unbenommen, sich seine eigenen religiösen Vorstellungen zu bilden. Der Punkt, um den es mir hier geht, ist eher eine religionsphänomenologische Inadäquatheit. Es scheint mir eine religiöse Grundbefindlichkeit zu sein, sich vom Glauben in Anspruch genommen zu fühlen. Wer vor dem erbarmungslos Gerechtigkeit übenden Weltenrichter zittert, dem wird in der Regel schon klar sein, dass ihm eine andere Gottesvorstellung »entgegenkäme«. Er empfindet sich aber typischerweise nicht in dem Sinne als Herr der Lage, dass er seine religiösen Überzeugungen kurzerhand anpassen könnte. Dies würde nicht nur einen unplausiblen doxastischen Voluntarismus voraussetzen, sondern vor allem einem realistischen Grundzug religiösen Glaubens widersprechen: Götter macht man sich nicht zurecht. Man geht nicht davon aus, dass es sie gibt, weil man sie verehren will, sondern man will sie verehren, weil man davon ausgeht, dass es sie gibt. Religiöse Überzeugungen sind, wenn überhaupt, dann nur äußerst langsam und durch langwierige Einübung willentlich veränderbar. Religiöse Überzeugungen ähneln Wahrnehmungsüberzeugungen darin, dass sie uns gelegentlich etwas als wahr aufdrängen, was uns nun wirklich ungelegen kommt. Vgl. etwa Richard Swinburne: The Coherence of Theism, Oxford 1977, S. 169; Stephen T. Davis: Logic and the Nature of God, Grand Rapids 1983, S. 26. 23 Kritisch dazu z. B. William Alston: »Does God Have Beliefs?«, in: ders.: Divine Nature and Human Language. Essays in Philosophical Theology, Ithaca 1989, S. 178–193. 24 Zum Ewigkeitsbegriff siehe Christian Tapp/Edmund Runggaldier (Hg.): God, Eternity, and Time, Farnham 2011; Christian Tapp: »Ewigkeit. Analytische Perspektiven«, in: Georg Gasser/Ludwig Jaskolla/ Thomas Schärtl (Hg.): Handbuch Analytische Theologie, Münster 2016 [im Erscheinen]. 22

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5. Schlussfolgerungen Volker Gerhardt legt mit seinem Buch »Der Sinn des Sinns« einen ganz eigenständigen Ansatz zu einer metaphysica specialis unter den Bedingungen der Moderne vor. Er will die Anliegen der neuzeitlichen Metaphysikkritik im Gefolge Kants, Feuerbachs und vor allem Nietzsches aufnehmen, und dennoch den Sinn der Gottesfrage verteidigen. In Ansätzen verortet er die Gottesfrage konsequent subjektphilosophisch. Seine Verknüpfung von Sinn-Hierarchie und Gottesbegriff erscheint, bei allen ausgeführten Unschärfen im Detail, sinnvoll und weiterführend, solange keine Identität zwischen beiden mitbehauptet wird (wie es Gerhardt gelegentlich unterläuft). Überzeugend ist Gerhardts Ansatz vor allem dort, wo er dafür plädiert, Glaube und Denken als ineinander verschränkt anzusehen – auch wenn in Bezug auf den Glaubensbegriff eine Reihe Fragen offen bleiben. Ihm ist unbedingt zuzustimmen, wenn er kognitive Gehalte von Religionen bejaht und dem religiösen Irrationalismus keinen Raum gewährt, sondern Glauben als eine rationale Haltung zu etablieren sucht. – Welche kognitiven Gehalte dies im Einzelnen sind, ob Gerhardts Reinterpretationen den faktischen religiösen Überzeugungen gegenüber adäquat sind oder nicht doch massive Säkularisierungsprodukte, die den Bezug auf ein übernatürlich-transzendentes göttliches Wesen nur zu hohen theoretischen wie lebensweltlich-praktischen Kosten aufgeben können, wurde andiskutiert. Gerhardt hat einen ersten Wurf – aus einem Guss, und zwar einem bemerkenswert eigenen Guss – vorgelegt. Für dessen weitere Ausarbeitung wäre wünschenswert, wenn zentrale Begriffe wie Glauben, Sinn oder auch Gott einer Bedeutungsklärung unterzogen würden. Das Verhältnis des von Gerhardt konzipierten philosophischen Glaubens zu einem religiösen Glauben wäre begrifflich zu präzisieren. Die weiteren drängenden Fragen müssten einer eingehenden Auseinandersetzung unterworfen werden: Von der Beweislastfrage bzgl. der metaphysischen Imprägnierung von Glaubenskritik und Kritik am Wahrheitsbegriff über die bekannten Gründe für die Transzendenz Gottes bis hin zur Problematik einer säkularen Theodizee, eines allzu subjektivistischen Gottesbildes der Marke Eigenbau und der Pantheismusproblematik. Die Rezeption der intensiven, durch die methodische Strenge der analytischen Philosophie geprägten gegenwärtigen analytischen Religionsphilosophie könnte dabei genauso helfen, wie, in concreto, ein konsequenterer theorieorientierter Aufbau mit stärker regulierter, insgesamt etwas vorsichtigerer Begriffsverwendung (man denke an die Problematik von Wahrheits- vs. Wissensansprüchen). Dann sähe ich noch deutlicher einen Sinn im Projekt eines Sinns des Sinns.

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Literatur Alston, William: »Does God Have Beliefs?«, in: ders.: Divine Nature and Human Language. Essays in Philosophical Theology, Ithaca 1989, S. 178–193. – Perceiving God. The Epistemology of Religious Experience, Ithaca 1991. – »Religiöse Erfahrung und religiöse Überzeugungen«, in: Christoph Jäger (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, S. 303–316. Böttigheimer, Christoph: Lehrbuch der Fundamentaltheologie. Die Rationalität der Gottes-, Offenbarungs- und Kirchenfrage, 2. Aufl., Freiburg/B. 2012. Clayton, Philip: »Panentheisms East and West«, in: Sophia 49 (2010), S. 183–191. – /Peacocke, Arthur: In Whom We Live and Move and Have Our Being: Panentheistic Reflections on God’s Presence in a Scientific World, Grand Rapids 2004. Cooper, John W.: Panentheism. The Other God of the Philosophers: From Plato to the Present, Grand Rapids 2006. Craig, William L.: The Kalam Cosmological Argument, London 1979. Davis, Stephen T.: Logic and the Nature of God, Grand Rapids 1983. Gerhardt, Volker: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014. – »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, Manuskript zum Vortrag im Rahmen des Kolloquiums »Vernunft und Glaube« auf der DGPhil-Tagung, Münster 2014. – »Das Göttliche als Sinn des Sinns«, Manuskript zu einem Vortrag auf Einladung von SpreeAthen, Berlin 2013. – »Sinn des Lebens«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 815–824. Göcke, Benedikt Paul: »On the Importance of Karl Christian Friedrich Krause’s Panentheism«, in: Zygon. Journal of Religion and Science 48/2 (2013), S. 364–379. – »Panentheismus als Leitkategorie religionsphilosophischen Denkens?«, in: Theologie und Philosophie 90/1 (2015), S. 38–59. Graf, Friedrich W.: »Das ganz große Ganze«, in: Die ZEIT 52 (2014), S. 48. Griffin, David Ray: Panentheism and Scientific Naturalism, Claremont 2014. Habermas, Jürgen: »Glauben und Wissen. Friedenspreisrede 2001«, in: ders.: Zeitdiagnosen. Zwölf Essays, Frankfurt/M. 2003, S. 249–262. – »Motive nachmetaphysischen Denkens«, in: ders.: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1997, S. 35–60. Hoffman, Joshua/Rosenkrantz, Gary: »Omnipotence«, in: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, Spring 2012 Edition, http://plato.stanford.edu/entries/omnipotence/. Irlenborn, Bernd/Koritensky, Andreas (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Darmstadt 2013. Jäger, Christoph: »Analytische Religionsphilosophie – eine Einführung«, in: ders. (Hg.): Analytische Religionsphilosophie, Paderborn 1998, S. 11–51. Kallscheuer, Otto: »Glaube ohne Gott«, in: Neue Zürcher Zeitung 29.10.2014, S. 47. Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Knapp, Markus: Die Vernunft des Glaubens. Einführung in die Fundamentaltheologie, Freiburg 2009. Kutschera, Franz von: Vernunft und Glaube, Berlin 1991.

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Löffler, Winfried: Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 2006. – »Was müsste ein Argument für die Existenz Gottes eigentlich leisten?«, in: A. Fidora/E. Bidese/P. Renner (Hg.): Philosophische Gotteslehre heute, Darmstadt 2008, S. 55–70. Menke, Karl-Heinz: Die Einzigkeit Jesu Christi im Horizont der Sinnfrage, Freiburg/B. 1995. Müller, Klaus: »Paradigmenwechsel zum Panentheismus? An den Grenzen des traditionellen Gottesbilds«, in: Herder Korrespondenz Spezial 2 (2011), S. 33–38. – »Wieviel Vernunft braucht der Glaube? Erwägungen zur Begründungsproblematik«, in: ders. (Hg.): Fundamentaltheologie. Fluchtlinien und gegenwärtige Herausforderungen, Regensburg 1998, S. 77–100. Nagel, Thomas: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Stuttgart 1990. Orth, Stefan: »Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche«, in: Herder Korrespondenz 69/3 (2015), S. 161. Plantinga, Alvin: Warranted Christian Belief, New York 2000. Quinn, Philip L./Taliaferro, Charles (Hg.): A Companion to the Philosophy of Religion, Malden 1997. Röser, Johannes: »Gerhardt, Volker: Der Sinn des Sinns«, in: Christ in der Gegenwart 41 (2014), S. 463. Rowe, William L.: »Does panentheism reduce to pantheism? A response to Craig«, in: International Journal for Philosophy of Religion 61 (2007), S. 65–67. Scheerer, Eckart: »Sinne, die«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 824–869. Sobel, John Howard: Logic and Theism, Cambridge 2004. Swinburne, Richard: Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987. – The Coherence of Theism, Oxford 1977. Tapp, Christian: »Ewigkeit. Analytische Perspektiven«, in: Georg Gasser/Ludwig Jaskolla /Thomas Schärtl (Hg.): Handbuch Analytische Theologie, Münster 2016 [im Erscheinen]. Tapp, Christian/Runggaldier, Edmund (Hg.): God, Eternity, and Time, Farnham 2011. Thiel, Christian: »Sinn«, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 810–812. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de veritate. Thürnau, Donatus: »Sinn/Bedeutung«, in: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 808–815. Verweyen, Hansjürgen: Gottes letztes Wort, Düsseldorf 1991. Wierenga, Edward: »Omnipresence«, in: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2014 Edition, http://plato.stanford.edu/entries/omnipresence/. – »Omniscience«, in: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, Winter 2013 Edition, http://plato.stanford.edu/entries/omniscience/. Wiertz, Oliver J.: »Gottesbeweise nach dem Fundationalismus«, in: Christian Kanzian/Muhammad Legenhausen (Hg.): Proofs for the Existence of God: Contexts – Structures – Relevance, Innsbruck 2008, S. 145–169. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Zagzebski, Linda: »Foreknowledge and Free Will«, in: Edward N. Zalta (Hg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2011 Edition, http://plato.stanford.edu/entries/free-will-foreknowledge/.

KOLLO QUIUM 15 Geschichtsphilosophie als Theorie sozialen Wandels Kolloquiumsleitung: Rahel Jaeggi

Rahel Jaeggi Einleitung Doris Gerber Soziale und Kollektive Handlungen in historischen Kontexten Emil Angehrn Geschichte als Raum des sozialen Wandels: Zwischen Hermeneutik und Geschichtsphilosophie

Geschichtsphilosophie als Theorie sozialen Wandels Einleitung Rahel Jaeggi (Berlin)

Die Geschichtsphilosophie, in ihren klassischen, in Reaktion auf die Französische Revolution formulierten Entwürfen, beinhaltet stets auch eine normative Idee von Geschichte: Ist, wie aus einer an Hegel orientierten Betrachtung folgt, Vernunft historisch, so ist die Geschichte, wenn man sie richtig betrachtet, vernünftig. Geschichte und Geltung verschränken sich. Geschichtsphilosophie in diesem Sinne ist das normative Begreifen, die begrifflich-normative Rechtfertigung des historischen Geschehens – in Hegels Fall: eine historisch normative Rechtfertigung der Moderne. Dieses Motiv einer Verschränkung von Genesis und Geltung fügt sich fraglos in das übergreifende Thema des Deutschen Kongress für Philosophie 2014. Wer allerdings morgens die Zeitung liest wird nicht glauben, dass »die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei«.1 Auch die Vorstellung, dass die Weltgeschichte auf die zunehmende Verwirklichung von Freiheit zusteuert und sich in einer nicht zu bremsenden Entwicklung eines Fortschritts zum Besseren befindet, ist innerhalb wie außerhalb des akademischen Diskurses diskreditiert. ›Die Geschichte‹ scheint so weder Ziel noch innere Logik zu kennen und einem sinnlosen Chaos und undurchschaubaren ›Gemetzel‹ stärker zu ähneln als einem rationalen Ablauf. Praktisch wird die eurozentrische ›Weltgeschichte‹ klassisch geschichtsphilosophischen Zuschnitts abgelöst von einer Globalgeschichte, die den welthistorischen Verflechtungen und Verwerfungen anders Rechnung zu tragen vermag, als es die allzu lineare Vorstellung, die man mit den Geschichtsphilosophien des deutschen Idealismus verbindet, vermag. Dass in philosophiehistorischer Hinsicht hier – gerade auch in Bezug auf die Kantianische und Hegel’sche Geschichtsphilosophie – einige diskursbeherrschende Allgemeinplätze auszuräumen wären und dass sich die als Pappkameraden kursierenden Versionen von Geschichtsphilosophie durch eingehende Lektüre erneut anreichern ließen, ist demgegenüber eine Erkenntnis, die sich in einem erneuten Interesse am Kanon der klassischen Texte ausdrückt. Worauf aber könnte sich ein nicht nur philosophiehistorisches, sondern ein systematisches Interesse an der Geschichtsphilosophie richten? Worin also könnte die Aktualität der Geschichtsphilosophie in systematischer Hinsicht liegen? Die These, die der Zusammenstellung dieses Kolloquiums zugrunde lag, ist die Folgende: Geschichtsphilosophien sind immer auch Theorien über die Dynamik sozialen Wandels. Sie beinhalten Annahmen über die Logik oder die Logiken sozialer und histo1 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Band 12, Frankfurt/M. 1986, S. 20.

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rischer Transformationen, der ›inneren Grammatik‹ sozialen Wandels. Denn das – ein Wandlungsprozess, der die Gesellschaft und ihre Institutionen betrifft – ist Geschichte ja allemal. Und eine ›Philosophie der Geschichte‹ enthält damit unweigerlich implizite oder explizite Annahmen darüber, wie sich solche Transformationen und Veränderungen darstellen, erklären, verstehen lassen. Hegels Geschichtsphilosophie, um beim weitreichendsten Beispiel zu bleiben, stellt so betrachtet ein Reservoir an Erkenntnissen über den Prozess der inneren Erosion oder Aushöhlung sozialer Praktiken und Institutionen dar, die als ›entlebendigte‹ oder in sich widersprüchlich gewordene soziale Formationen die Bedingungen ihres eigenen Untergangs hervorbringen. Man muss nun den gesamten ›Plot‹ seiner Deutung nicht glauben, um die damit aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität historischer Entwicklung, aber auch die in seinen Beschreibungen implizierte These von der internen Normativität der sozialen Ordnung und der hier wirkenden Verschränkung von normativen und funktionalen Elementen interessant zu finden. Um eine Anschlussmöglichkeit zu nennen: Die beispielsweise von Joshua Cohen diskutierte These von den »ethical explanations« zur Erläuterung von Momenten des moralischen Fortschritts lässt sich als ein zeitgenössischer Anschluss an solche Überlegungen verstehen.2 Aber auch die im Anschluss an Hegel immer wieder diskutierte Frage nach dem Verhältnis von ›hinter dem Rücken der Individuen‹ geschehenden Prozessen zu der Rolle der Akteure im Geschichtsprozess sowie des – wie Marx es nennen wird – aktiven und passiven Elements, das diesem Verhältnis wiederum zugrunde liegt, sind Problemstellungen, die jede philosophische Diskussion historischen Wandels und sozialer Transformation zu beantworten haben wird. Ausgehend davon, dass man nicht unbedingt die Gesamtlast der Hypotheken der klassischen Geschichtsphilosophie auf sich zu nehmen hat, um für solche systematischen Fragen wichtige Anschlussmomente zu finden, haben wir uns also entschlossen, in diesem Kolloquium nach der Aktualität der Geschichtsphilosophie – einer Geschichtsphilosophie nach dem Ende der Geschichtsphilosophie gewissermaßen – zu fragen und zu erkunden, ob die uns bekannten geschichtsphilosophischen Zugriffe auf die Geschichte Ressourcen für das Verständnis sozialen Wandels, des Verständnisses also von Transformationsprozessen, in denen sich wesentliche unserer sozialen Praktiken und Institutionen verändern, bieten können und welche Alternativen sich gegebenenfalls für die Konzeptualisierung sozialer Transformationen anbieten.

Literatur Joshua Cohen: The Arc of the Moral Universe, S. 91–134 in: Philosophy and Public Affairs 26(2), 1997. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Band 12, Frankfurt/M. 1986. 2

1997.

Joshua Cohen: »The Arc of the Moral Universe«, S. 91–134 in: Philosophy and Public Affairs 26(2),

Soziale und Kollektive Handlungen in historischen Kontexten Doris Gerber (Tübingen)

I. Einleitung Der Begriff der Geschichte hat mehrere verschiedene Bedeutungen und wird auch oder gerade in theoretischen Diskussionen nicht einheitlich verwendet. Selbst wenn man den grundlegenden Unterschied zwischen Geschichte als Geschichtswissenschaft oder Geschichtsschreibung einerseits und dem Gegenstand eben dieser Wissenschaft andererseits beiseite lässt und unter »Geschichte« etwas versteht, das ein näher zu charakterisierendes vergangenes Geschehen meint oder zumindest voraussetzt – auch dann kann man feststellen, dass der Begriff der Geschichte keine einheitliche Bedeutung hat. Es sind vor allem vier Auffassungen von Geschichte, die unterschieden werden können. Erstens: Die Geschichte, die sich in dem Ausdruck »Geschichtsphilosophie« versteckt, meint zumindest dann, wenn man sich damit auf ihre so genannten klassischen Entwürfe bezieht, in aller Regel einen vergangenen und zugleich in die Zukunft projizierten teleologischen Prozess, ein sehr komplexes Geschehen, das als Geschehen einen Zweck manifestiert. Die Geschichtsphilosophie sieht ihre Aufgabe in diesem Zusammenhang dann darin, erstens diesen Zweck zu bestimmen und zweitens die Notwendigkeit sowie die Logik des teleologischen Prozesses argumentativ zu begründen. Zweitens: In einer engen Verbindung zu diesem klassisch-idealistischen Verständnis steht die Bedeutung von Geschichte in ihrer singularisierten Form, das heißt also als so genannte universale Weltgeschichte. Die distinkten Geschichten, die in verschiedenen Zeiten und Räumen geschehen sind oder geschehen werden, sind unter eine einzige regulative Idee zusammengefasst und auf diese Weise nur einzelne Beispiele für die auch hier unterstellte Teleologie des Geschehens. Von der ersten Auffassung kann dieser Begriff der Geschichte deshalb unterschieden werden, weil sie die Existenz von distinkten, raum-zeitlich abgrenzbaren Geschichten impliziert. Wenn Immanuel Kant beispielswiese davon spricht, dass die Französische Revolution ein so genanntes Geschichtszeichen sei, dann bezieht er sich auf eine empirisch zugängliche und distinkte Geschichte, die in dem Sinne Teil der Geschichte ist, als sie Teil einer regulativen Idee ist.1 Drittens: Eine dritte Auffassung von Geschichte meint demgegenüber gerade die empirischen und distinkten Geschichten, die als Geschichten einen realen und vergangenen Ereigniszusammenhang konstituieren. Wenn von der Geschichte des Ersten Weltkrieges oder von der Geschichte Europas oder auch von der Geschichte des Bürgertums die Rede ist, dann sind eben gerade diese realen und raum-zeitlich distinkten Geschichten gemeint Vgl. Immanuel Kant: »Der Streit der Fakultäten«, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Frankfurt/M. 1977, S. 356 f. 1

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Kolloquium 15 · Doris Gerber

und die mit dem Begriff der Weltgeschichte vorausgesetzte Singularisierung ist aufgehoben oder sie ist zumindest nicht eigentlich gemeint. Die These der historischen Realität meint hier: diese Geschichten manifestieren als Geschichten einen historischen Zusammenhang, der unabhängig davon, was wir über ihn wissen oder wie wir über ihn urteilen, bestimmt ist. Viertens: In einer vierten Bedeutung wird der Ausdruck »Geschichte« zwar auch auf ein distinktes Geschehen bezogen, aber es wird unterstellt, dass dieses reale Geschehen als solches noch gar nicht Geschichte ist, sondern erst indem es ex post erzählt und erklärt wird, zur Geschichte mutiert. Was man Geschichte nennt, ist hier die in einer bestimmten Form dargestellte Rekonstruktion oder Konstruktion der realen Ereignisse der Vergangenheit. Geschichte ist ihre Erzählung. Ich möchte diese verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Geschichte nicht diskutieren, sondern auf einen grundlegenderen Unterschied aufmerksam machen, mit dem diese Bedeutungsvarianten klassifiziert werden können; ich meine die Unterscheidung zwischen einem deskriptiven und einem normativen Begriff oder Verständnis von Geschichte. Was heißt das? Ein deskriptiver oder metaphysischer Begriff der Geschichte versteht diese als einen realen Zusammenhang von Ereignissen, der zeitlich und kausal strukturiert ist, und geht von der Prämisse aus, dass das Wesen oder die Natur einer Geschichte darüber hinaus spezifische Merkmale aufweist, die analysiert werden können. Das heißt, jede Geschichte ist ein zeitlich und kausal strukturiertes Geschehen, aber nicht jedes zeitlich und kausal strukturierte Geschehen ist eine Geschichte. Diesem metaphysischen Begriff der Geschichte kann die dritte der oben beschriebenen Bedeutungsvarianten zugeordnet werden. Die zentrale These besteht darin, dass Geschichten und die Ereignisse, die sie konstituieren, als reales Geschehen etwas Eigentümliches und Spezifisches an sich haben. Die drei anderen Bedeutungen von »Geschichte« hingegen betonen mehr oder weniger einseitig den normativen Begriff der Geschichte. Die klassische Geschichtsphilosophie, die Idee einer Weltgeschichte sowie die These, dass Geschichte eine Konstruktion der jeweils Nachgeborenen ist, all diese Bedeutungsvarianten beziehen sich auf die Geschichte als einen Gegenstand normativer Bewertung. Dass dies für die klassische Geschichtsphilosophie wie für den Konstruktivismus gleichermaßen gelten soll, mag vielleicht verwundern, es ist meines Erachtens aber evident. Das zentrale Thema der klassischen Geschichtsphilosophie ist der Fortschrittsgedanke, die Idee, dass die universale Weltgeschichte bei allen Irrungen und Wirrungen, die sich empirisch zeigen, letztlich doch ein vernunftgeleiteter Prozess ist, der auf eine bessere Zukunft verweist. Und die konstruktivistische Geschichtsauffassung behauptet zwar, dass es die Geschichte als realen Ereigniszusammenhang gar nicht gibt, aber die postulierte Rekonstruktion des realen Geschehens als Geschichte ist immer auch, ja in erster Linie, mit normativen Kriterien verbunden. Die erzählte Geschichte soll sich als etwas erweisen, das zumindest im Nachhinein – als Erzählung – einen Sinn macht. Nicht unbedingt einen positiv besetzten Sinn, wie in der klassischen Geschichtsphilosophie, aber einen Sinn, der den Nachgeborenen für ihr eigenes Leben und ihre eigene Geschichte als praktische Orientierung dienen kann.

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Die normativen Fragen an die Geschichte – ob sie einen Sinn hat, ob sie einen Fortschritt manifestiert oder konkreter, ob der soziale Wandel, den sie mit sich bringt, ein Wandel zum Besseren oder zum Schlechteren ist – all diese Fragen können meines Erachtens nur dann sinnvolle Fragen sein, wenn man zunächst von dem ausgeht, was ich den deskriptiven oder metaphysischen Begriff der Geschichte genannt habe. Das heißt, die Frage, was eine Geschichte eigentlich ist, was das Wesen oder die Natur von historischen Ereignissen ist, dies ist die primäre Frage. Der Beitrag einer Philosophie der Geschichte zur Erklärung der Dynamik des sozialen Wandels und zu dessen Bewertung sollte letztlich beide Ebenen des Begriffs der Geschichte – die deskriptive und die normative – berücksichtigen, aber mit der Frage beginnen, was eigentlich das spezifische Merkmal von solchen Ereigniskomplexen ist, die eine Geschichte konstituieren. Und dieses spezifische Merkmal ist meines Erachtens das Merkmal der Intentionalität. Ich möchte im Folgenden zunächst zeigen, dass und inwiefern die Ereignisse, die eine Geschichte konstituieren, nämlich Handlungsereignisse, wesentlich mit dem Phänomen der Intentionalität verbunden sind. Vor diesem Hintergrund möchte ich den Begriff eines historischen oder geschichtlichen Kontextes erläutern, um dann schließlich zu zeigen, dass soziale und insbesondere kollektive Handlungen zum einen ebenso wie individuelle Handlungen als intentionales Handeln konzipiert werden können und dass zum anderen so verstandene kollektive Handlungen eine zentrale Rolle bei der Erklärung von sozialen Prozessen spielen.

II. Intentionalität, Handlung und historischer Kontext Ich habe gerade ohne Umschweife und weitere Begründung unterstellt, dass Geschichten von Ereignissen konstituiert werden, die Handlungen sind. Diese These ist nicht unumstritten, jedenfalls dann nicht, wenn man sie so versteht, dass eine Geschichte ausschließlich aus Ereignissen besteht, die Handlungen sind. Ich möchte die Argumentation für diese stärkere Annahme, die meines Erachtens richtig ist und damit den deskriptiven Begriff der Geschichte charakterisiert, hier nicht entwickeln. Nur so viel dazu: Die Argumentation startet mit der Prämisse, dass Geschichten notwendigerweise Möglichkeiten implizieren. Der Erste Weltkrieg hätte auch fünf Jahre dauern können; Barack Obama hätte die Wiederwahl zum Präsidenten der USA auch verlieren können; die dramatische Ausweitung der Ebola-Epidemie hätte verhindert werden können usw. Die Fähigkeit aber, solche realen Möglichkeiten zu haben, das heißt, die gegebenen Möglichkeiten zu nutzen, setzt intentionale Fähigkeiten voraus sowie das Vermögen einer kausalen Wirksamkeit. Beide Voraussetzungen werden nur und ausschließlich von Ereignissen erfüllt, die Handlungen sind. Also bestehen Geschichten aus Handlungen.2

Vgl. dazu die ausführliche Argumentation in: Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung, Frankfurt/M. 2012, S. 181 ff. 2

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Aber unabhängig davon, ob man mir in einer Argumentation dieser Art folgen möchte, sind zwei Dinge zu bedenken. Erstens sollte die schwächere These, dass Geschichten zumindest auch aus Handlungen bestehen, unumstritten sein. Und zweitens muss man zugestehen, dass der unterstellte Handlungsbegriff unabhängig davon, ob man der stärkeren oder lediglich der schwächeren These zustimmen möchte, zunächst entwickelt und begründet werden muss. Das heißt, der Begriff der Handlung ergibt sich nicht aus der eben skizzierten Argumentation, sondern wird dieser zu Grunde gelegt und muss eigenständig argumentativ gestützt sein. Was heißt es also, dass Handlungen wesentlich mit dem Phänomen der Intentionalität verbunden sind und dass dies also auch für Geschichten gilt? Dass Handlungen durch das Merkmal der Intentionalität geprägt sind, ist nur eine spezifische Ausformulierung einer Überzeugung, die in der ganzen Tradition der Philosophie der Handlung von allen Autoren geteilt wird, nämlich der Überzeugung, dass Handlungen aus Gründen geschehen, die für die handelnde Person als ihre eigenen Gründe transparent und erkennbar sein müssen. Als Ereignisse sind Handlungen damit nicht nur von solchen Ereignissen unterschieden, die überhaupt keinen intentionalen Grund haben, wie zum Beispiel das Aufgehen der Sonne oder das Explodieren eines Boilers. Sie sind auch von Formen des Verhaltens unterschieden, die zwar kausale Konsequenzen und unter Umständen auch einen intentionalen Grund haben, aber eben keinen Grund, der für die Person, die diese Konsequenz mit ihrem Verhalten verursacht, als ihr Grund einsehbar wäre. Wenn mich zum Beispiel jemand am Arm stößt, weil er mich auf etwas aufmerksam machen möchte, und ich verschütte den Kaffee, den ich gerade in der Hand halte, dann ist die Konsequenz dieses Verhaltens, der braune Fleck auf dem weißen Tischtuch, eine von mir verursachte Konsequenz. Aber sie ist ebenso wie mein Verhalten nicht intendiert gewesen und das bedeutet, dass das Verschütten des Kaffees nicht als meine Handlung beschrieben werden kann, denn dieses Ereignis hatte keinen Grund, der mir als mein Handlungsgrund hätte transparent sein können. Ich habe etwas getan, aber dieses Tun war keine Handlung. Diese These, dass eine Handlung Gründe hat, welche der handelnden Person als ihre Gründe zugänglich sein müssen, schließt nicht aus, dass die Person ihre Gründe unter Umständen nur unvollständig kennt, zum Beispiel weil zu diesen Gründen Gefühle gehören, die sie nicht genau auf den Begriff bringen könnte. Die These behauptet lediglich, dass es für die Person möglich sein muss, dass sie die Gründe ihrer Handlung als ihre eigenen Gründe identifiziert. Die These, dass Handlungen wesentlich intentional sind, kann in diesem schwachen Sinne gemeint sein, das heißt in dem Sinne, dass Handlungen damit lediglich von natürlichen Ereignissen sowie von nicht intentionalem Verhalten unterschieden werden. Aber ich möchte die These in einem spezifischeren Sinne verstanden wissen: Die unmittelbar motivierenden Gründe von Handlungen, das heißt die Gründe, die eine Handlung direkt verursachen, sind typischerweise Intentionen. Intentionen sind spezifische mentale Zustände, die nicht auf Komplexe aus Wünschen und Überzeugungen reduziert werden können, wie das so genannte belief-desire-Modell behauptet. Denn weder Wünsche noch Überzeugungen noch Komplexe aus Wünschen und Überzeugungen können eine Handlung in hinreichender Weise motivieren. Aber Wünsche und Überzeugungen spielen na-

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türlich, genauso wie andere, vorausgehende Intentionen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung einer Handlungsintention.3 Intentionen sind mentale Zustände und die Theorie des Mentalen, die ich dabei zu Grunde legen möchte, ist die Theorie der Intentionalität des Mentalen. Solch eine Theorie des Geistes geht davon aus, dass alle mentalen Zustände durch das Merkmal der Intentionalität wesentlich charakterisiert sind und sich dadurch von physischen Zuständen oder Phänomenen unterscheiden. Intentionalität bedeutet demnach ganz allgemein: Mentale Zustände sind auf etwas gerichtet, sie haben einen Gegenstand, sie handeln von etwas, das von ihnen selbst unterschieden ist. Intentionalität meint also die eigentümliche Eigenschaft des Mentalen, auf etwas anderes bezogen zu sein, sich dieses andere zum Gegenstand zu machen und dadurch einen Gehalt zu haben. Intentionen müssen also begrifflich von Intentionalität unterschieden werden. Intentionen haben wie andere mentale Zustände das Merkmal der Intentionalität und sind also dadurch gekennzeichnet, dass sie einen intentionalen Gegenstand und einen intentionalen Gehalt haben. Die Relation zwischen dem mentalen Zustand und seinem intentionalen Gegenstand ist allgemein als eine Repräsentationsrelation bestimmt. Dass ein intentionaler Zustand auf einen Gegenstand gerichtet ist, heißt, dass er diesen Gegenstand repräsentiert. Im Falle einer Intention bedeutet dies konkret: Die Intention repräsentiert die intendierte Handlung als zukünftiges Ereignis, der intentionale Gegenstand ist also die Handlung als zukünftiges Ereignis. Und der Gehalt einer Intention ist eine begriffliche Repräsentation dieses zukünftigen Ereignisses, also der intendierten Handlung. Intentionen als die motivierenden Gründe einer Handlung können natürlich, das habe ich eben schon angedeutet, in der Erklärung einer Handlung nicht isoliert betrachtet werden. Die Intention, die eine Handlung unmittelbar verursacht, die also eine Repräsentation der Handlung als zukünftiges Ereignis ist, ist unter Umständen nicht besonders explikativ. Wenn mich zum Beispiel jemand fragt, warum ich gerade den Regenschirm eingepackt habe und ich antworte: »Weil ich die Intention hatte, den Regenschirm mitzunehmen,« dann erklärt diese Antwort nicht gerade sehr viel. Zu den Gründen einer Handlung gehört deshalb auch der mentale Kontext der Handlung, also die anderen Intentionen sowie andere mentale Zustände, die in einer zeitlichen und kausalen Relation zur verursachenden Intention stehen. Und zu den Gründen einer Handlung gehört auch der so genannte externe Kontext, das heißt die einer Handlung zeitlich und kausal vorausgehenden externen Sachverhalte oder Ereignisse, vorausgesetzt, sie sind der handelnden Person als ihre Gründe transparent. Aber Handlungen haben nicht nur Gründe, sie haben auch Konsequenzen und zu dem, was ich den historischen Kontext einer Handlung nennen möchte, gehören nicht nur ihre mentalen und externen Bedingungen, sondern auch und insbesondere ihre Konsequenzen. Historische oder geschichtliche Kontexte in diesem Sinne können relativ eng, aber auch sehr weit gefasst werden und historische Erklä3 Für die Irreduzibilität von Intentionen als diejenigen Zustände, die typischerweise eine Handlung hervorbringen, das heißt verursachen, haben u. a. John Searle, Michael Bratman und Alfred Mele argumentiert. Vgl. dazu John Searle: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983; Michael Bratman: Intention, Plans, and Practical Reason, Cambridge (Mass.) 1987; Alfred Mele: Springs of Action. Understanding Intentional Behaviour, Oxford 1992.

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rungen sind typischerweise, aber nicht immer oder nicht nur, an den eher weitreichenden oder langfristigen Konsequenzen einer Handlung oder eines Komplexes von Handlungen interessiert. Solche weitreichenden oder langfristigen Konsequenzen einer Handlung können aber in der Regel vom Handlungssubjekt nicht intendiert sein. Darüber hinaus gehört zum historischen Kontext auch die Eigentümlichkeit, dass die Ereignisse – seien es nun Konsequenzen oder Handlungen – die Teil einer bestimmten Geschichte sind, ihre historische Bedeutung im Laufe der Zeit und allein aufgrund des Eintretens späterer Ereignisse ändern können.4 Zum Zeitpunkt des Attentats von Sarajevo konnte noch niemand voraussehen, dass dieses Ereignis zur Vorgeschichte eines Weltkrieges gehören sollte, der vier Jahre dauern und viele Millionen Menschen das Leben kosten würde. Stellen diese Merkmale, die historischen Kontexten zugesprochen werden können, nun die Ausgangsthese, dass die Dynamik des sozialen Wandels einer Geschichte durch das Phänomen der Intentionalität beschrieben und erklärt werden kann, nicht in Frage? Wenn eine Geschichte von Handlungen konstituiert wird und wenn Handlungen in dem beschriebenen Sinne wesentlich intentional sind, aber der historische Kontext zumindest auch durch nicht intendierte Konsequenzen geprägt ist – liegt dann nicht die bei manchen Sozialwissenschaftlern beliebte These nahe, dass die Entstehung und der Wandel sozialer Strukturen als eine sehr komplexe, aber jedenfalls nicht intendierte Konsequenz von individuellen Handlungen aufgefasst werden muss? Die Antwort auf beide Fragen lautet: nein. Vor allem zwei Punkte müssen hier bedacht werden. Zum einen gehören zur Geschichte der weitreichenden und langfristigen Konsequenzen einer Handlung natürlich immer auch eine Vielzahl von anderen intentionalen Handlungen, die der fraglichen Handlung zeitlich und kausal folgen und gleichermaßen als Ursache der fraglichen Konsequenzen aufgefasst werden müssen. Anders formuliert: Handlungen haben vielfältige Konsequenzen für die sie zwar in einem kontrafaktischen Sinne kausal verantwortlich sein können, das heißt, wenn es diese Handlung nicht gegeben hätte, wären auch die Konsequenzen nicht eingetreten. Aber nur wenn man das tatsächlich behaupten kann, ist es überhaupt richtig von den nicht intendierten Konsequenzen einer bestimmten Handlung zu sprechen. Und selbst wenn man das richtigerweise sagen kann, gilt in jedem Fall, dass weitreichende oder langfristige Konsequenzen immer mehrere Ursachen haben, das heißt in aller Regel die Konsequenzen mehrerer Handlungen sind, die im kausalen Sinne alle notwendige aber alleine nicht hinreichende Ursachen sind. Und für diese Handlungen gilt, dass sie auch intendierte Konsequenzen haben, die gleichermaßen zur kausalen Geschichte einer nicht intendierten Konsequenz gehören oder gehören können. Eine wesentliche Aufgabe von historischen Erklärungen besteht darin, zwischen den intendierten und den nicht intendierten Konsequenzen einer komplexen Handlungssituation sorgfältig zu unterscheiden. Und um dies leisten zu können, muss sie natürlich zunächst die Intentionen der historischen Handlungssubjekte identifizieren.

Zum Begriff der historischen Bedeutung vgl. Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte, S. 229 ff. 4

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Aber wichtiger für die Frage des Zusammenhanges von Geschichte, sozialem Wandel und Intentionalität ist ein zweiter Punkt. Die Behauptung, dass mehr oder weniger komplexe soziale Strukturen und ihre Transformationsprozesse nicht intendierte Konsequenzen individueller Handlungen sind, unterstellt implizit oder explizit, dass soziales und kollektives Handeln entweder kein reales Phänomen ist oder nicht als intentionales Handeln konzipiert werden kann und prinzipiell einen zufälligen Charakter hat. Beides aber ist einfach falsch.

III. Die Intentionalität sozialer und kollektiver Handlungen Bevor ich für die Möglichkeit argumentiere, soziales und kollektives Handeln als intentionales Handeln zu konzipieren, möchte ich kurz den Unterschied zwischen beiden Handlungstypen skizzieren. Ein gemeinsames Merkmal von sozialen und kollektiven Handlungen ist der Umstand, dass sie in der konkreten Handlungssituation auf andere Personen bezogen sind und dass der Verlauf der Handlung vom Handeln dieser anderen Personen abhängt. Bei kollektiven Handlungen kann man dieses Merkmal noch dahingehend konkretisieren, dass nicht nur der Verlauf, sondern auch der bloße Vollzug der kollektiven Handlung vom Handeln der anderen Personen abhängt. Beide Handlungstypen unterscheiden sich im Hinblick auf die Form der Kooperation, mit der sie verbunden sind. Bei sozialen Handlungen ist die Kooperation nur eine partielle, die unter dem Vorbehalt steht, dass ein angestrebtes individuelles Handlungsziel mit der sozialen Kooperation erreicht wird. Wenn ich zum Beispiel im Straßenverkehr auf die Regeln sowie auf die anderen Verkehrsteilnehmer achte, dann tue ich dies deshalb, weil ich sicher von A nach B kommen will. Soziale Handlungen geschehen also typischerweise in Interaktionssituationen. Kollektive Handlungen hingegen sind durch eine Form der Kooperation geprägt, die nicht unter dem Vorbehalt steht, dass sie alleine einem individuellen Ziel dient, sondern die Kooperation ist auf ein gemeinsames Handlungsziel bezogen. Dies kann für sehr unterschiedliche Arten von gemeinsamen Handlungen gelten. Beispiele wären: zwei Personen singen ein Duett; vier Personen tragen ein Klavier in den dritten Stock; eine Versammlung von Delegierten beschließt ein Parteiprogramm; ein Unternehmen entwickelt ein neues Produkt. Im Hinblick auf die Frage inwiefern soziale Handlungen wesentlich intentional sein können entsteht vor dem Hintergrund der Analyse von individuellen Handlungen kein zusätzliches Problem. Soziale Handlungen sind ebenso von individuellen Intentionen verursacht, wie individuelle Handlungen. Der Bezug auf andere Personen gehört aber – im Unterschied zu individuellen Handlungen – zum intentionalen Gehalt. Anders aber sieht es mit kollektiven Handlungen aus. Wenn kollektives Handeln, also tatsächlich gemeinsames Handeln, das auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet ist, ein reales Phänomen sein soll, dann muss es einen besonderen Typ von Intentionen geben, der in der kausalen Geschichte der gemeinsamen Handlung eine notwendige Ursache ist. In den handlungstheoretischen Diskussionen über die Analyse von gemeinsamen Handlungen hat sich dafür die Unterscheidung zwischen so genannten Ich-Intentionen und so genannten

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Wir-Intentionen eingebürgert. Solch eine Wir-Intention, also eine kollektive Intention, ist – wie alle Intentionen – ein mentaler Zustand einer individuellen Person, aber sie hat einen spezifischen Gehalt und ihre Existenz unterliegt spezifischen Bedingungen. Eine kollektive Intention ist darüber hinaus immer eine vorausgehende Intention, die nicht direkt und unmittelbar das Handeln einer Person verursacht, sondern kollektive Intentionen verursachen genau die individuellen oder Ich-Intentionen, die wiederum direkt die individuellen Teilhandlungen verursachen, welche die kollektive Handlung konstituieren. Betrachten wir das Beispiel der Entwicklung eines neuen – vielleicht revolutionären – Produktes durch ein Unternehmen. Dies ist eine sehr komplexe kollektive Handlung, die von einer Vielzahl individueller Teilhandlungen konstituiert wird. Die Intentionen dieser Teilhandlungen – »Ich vermesse die Luftströme«, »Ich entwerfe die graphische Darstellung«, »Ich entwickle den Motor dafür« – wiederum werden von einer kollektiven Intention verursacht, die sich zum Beispiel so ausdrücken lässt: »Wir entwickeln ein revolutionäres Produkt.« Was aber sind nun die spezifischen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn eine kollektive Intention vorliegt? Ich möchte dazu folgenden Vorschlag machen: Eine Intention der Form »Wir-Intention (dass wir Y tun)« ist eine kollektive Intention genau dann, wenn gilt: (i) Die Intention repräsentiert ein kollektives Wir als das kollektive Wir, das Y tut. (ii) Die Intention hat die relationale Eigenschaft, dasselbe Y zu repräsentieren wie die Intentionen der Personen, die das kollektive Wir bilden, das in der Intention als kollektives Wir, das Y tut, repräsentiert wird. (iii) Mit der Intention ist die durchgängige Bereitschaft zur Kooperation verbunden. Die erste Bedingung charakterisiert den intentionalen Gehalt der kollektiven Intention: es wird eine kollektive Handlung als die Handlung eines bestimmten Kollektivs – einer Gruppe, einer Institution oder einer Organisation – repräsentiert. Das Kollektiv wird also nicht an sich, sondern als das kollektive Wir einer bestimmten kollektiven Handlung repräsentiert. Das bedeutet unter anderem, dass die intendierenden Personen nicht genau wissen müssen, welche Personen dieses kollektive Wir der Handlung bilden. Sie müssen nicht einmal genau wissen, wie viele Personen es sind. Die zweite und die dritte Bedingung hingegen gehören nicht zum Gehalt der Intention. Mit der zweiten Bedingung wird gefordert, dass die Individuen, die zum kollektiven Wir der Handlung gehören, dieselbe kollektive Handlung repräsentieren und damit intendieren. Dies provoziert die Frage, was es eigentlich heißt und wie es möglich ist, dieselbe Handlung zu repräsentieren. Ich glaube, dass dieses Problem keine spezifische Schwierigkeit von Intentionen oder der vorgeschlagenen Analyse benennt. Es wäre sicher zu stark, zu fordern, dass alle Personen den Gehalt ihrer Intention mit genau denselben Worten wiedergeben würden, wenn man sie danach fragen würde. Aber es müssen hinreichende Ähnlichkeiten bestehen, die Bedeutungssynonymie im weiten Sinne garantieren. So wie man davon sprechen kann, dass zwei Personen dieselbe Überzeugung haben – und die Welt würde äußerst kompliziert werden, wenn wir dies nicht behaupten könnten – so kann man auch davon sprechen, dass sie dieselbe Handlung intendieren.

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Die dritte Bedingung verstehe ich als eine notwendige pragmatische Bedingung und sie ist deshalb notwendig, weil sie alle Fälle ausschließt, in denen zwei oder mehrere Personen zufällig dieselbe Handlung intendieren, ohne sie als eine gemeinsame Handlung zu repräsentieren. Wenn zum Beispiel Peter die Intention hat, heute die Küche aufzuräumen, und wenn seine Freundin Sabine ungefähr zum selben Zeitpunkt dieselbe Intention hat, dann bedeutet dies nicht notwendigerweise, dass sie eine kollektive Intention haben – also dass sie die Küche gemeinsam aufräumen wollen. Sie haben einfach zufällig dieselbe Ich-Intention. Die in der dritten Bedingung formulierte Forderung, dass mit der Intention eine durchgängige Bereitschaft zur Kooperation verbunden sein muss, schließt solche Fälle aus. Für den Zusammenhang der Diskussion über die Dynamik sozialen Wandels ist die zweite Bedingung die entscheidende. Diese Bedingung fordert, dass es eine faktische Eigenschaft der kollektiven Intention ist, dass sie denselben Gehalt hat wie die Intentionen der Personen, die als kollektives Wir repräsentiert werden. Wenn diese Bedingung für mindestens zwei Personen erfüllt ist, dann ist es ein Sachverhalt in der Welt, dass diese Personen dieselbe kollektive Handlung repräsentieren. Dieser faktisch bestehende Sachverhalt ist ein intentionaler und zugleich ist es, zumindest in einem rudimentären Sinne, ein sozialer Sachverhalt. Es ist ein intentionaler Sachverhalt, weil er aus Intentionen besteht; und es ist ein sozialer Sachverhalt weil diese Intentionen nichts anderes als eine soziale, das heißt genauer eine kollektive Praxis repräsentieren. Und zwar eine kollektive Praxis, die zur einer sozialen Realität wird, wenn die intendierte kollektive Handlung vollzogen wird. Solche intentionalen und kollektiven Handlungen spielen meines Erachtens eine zentrale Rolle sowohl bei der Entstehung von so genannten sozialen Strukturen oder Formationen wie auch bei der Beschreibung ihrer Veränderungen und Entwicklungen. Soziale Formationen haben eine intentionale Geschichte und genau deshalb hat auch ihr Wandel, ihre Transformation, eine intentionale Erklärung. Natürlich kann die Erklärung einer komplexen sozialen Struktur keine einfache Erklärung darstellen. Die Beschreibung der Entwicklung des europäischen Finanzsystems zum Beispiel, kann nicht einfach auf eine oder mehrere kollektive Intentionen Bezug nehmen, sondern dem sehr komplexen Handlungsgeschehen entspricht eine ebenso komplexe Geschichte von insbesondere kollektiven Intentionen.

IV. Der normative Begriff der Geschichte Ich habe zu Beginn des Beitrags zwischen verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Geschichte unterschieden und die grundlegende Differenz zwischen einem deskriptiven beziehungsweise metaphysischen und einem normativen Begriff der Geschichte betont. Das Programm einer handlungstheoretischen Begründung des Begriffs der Geschichte, das ich mit dem eingangs skizzierten Argument hier nur angedeutet habe, bezieht sich auf diese deskriptiven Fragestellungen: Was ist eigentlich eine Geschichte? Was zeichnet ein zeitlich-kausales Geschehen aus, das eine Geschichte ist? Was also ist das Wesen oder die Natur von historischen Ereignissen?

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Diese Fragen überhaupt für sinnvoll zu halten, setzt zum einen eine realistische Auffassung von Geschichte voraus. Und sie setzt zum anderen voraus, dass nicht jeder zeitlich und kausal strukturierte Zusammenhang von Ereignissen eine Geschichte ist. Ich habe auch betont, dass dieser deskriptive Begriff der Geschichte der primäre ist. Wir sollten zuerst wissen, was eine Geschichte ist, bevor wir sinnvoll danach fragen können, ob sie einen politischen und sozialen Fortschritt manifestiert oder ob das Gegenteil der Fall ist. Die Antworten der klassisch-idealistischen Geschichtsphilosophie auf diese normativen Fragen können heute nicht mehr überzeugen. Das hat meines Erachtens unter anderem damit zu tun, dass die Idee der Vernunft, die diesen klassischen Modellen zu Grunde liegt, ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. Der Fortschrittsoptimismus wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts gewissermaßen aufgespalten in verschiedene politische Massenbewegungen, die alle für sich in Anspruch nahmen, dass die jeweils eigene Deutung von Fortschritt, Entwicklung und Gerechtigkeit die einzig richtige, das heißt die einzig vernünftige sei. Aber das bedeutet nicht, dass die Frage nach dem Sinn der Geschichte sinnlos ist, wie manche Historiker das heute bisweilen behaupten. Sie kann jedoch nur beantwortet werden im Lichte der metaphysischen Analysen von historischen Zusammenhängen, also im Lichte des deskriptiven Begriffs der Geschichte. Wenn der handlungstheoretische Ansatz, für den ich argumentiere, richtig ist, dann hat die Bewertung von geschichtlichen Entwicklungen und damit auch die Bewertung von sozialen Entwicklungen auf jeden Fall etwas mit der normativen Bewertung der motivierenden Handlungsgründe von Handlungssubjekten zu tun. Dazu müssen diese Handlungsgründe erst einmal identifiziert werden und das bedeutet: die Intentionen der Handelnden sowie den mentalen und den externen Handlungskontext zu erkennen. Die normative Bewertung dieser komplexen Kontexte wird dann relativ zu zwei unterschiedlichen Referenzpunkten geschehen können. Zum einen relativ zu dem, was ich den historischen Kontext genannt habe, das heißt relativ zu den unter Umständen sehr weit reichenden Konsequenzen eines Handlungskomplexes. Und zum anderen wird die Bewertung relativ zu Bewertungssystemen geschehen, die moralischer, politischer oder rechtlicher Natur sein können. Und für solche Bewertungssysteme gilt natürlich, dass sie selbst einem Wandel unterliegen. Dass die Demokratie die bestmögliche Staatsform ist, haben die Menschen nicht immer geglaubt und sie sind auch heute nicht alle gleichermaßen davon überzeugt. Auch wer glaubt, dass es objektive normative Tatsachen gibt, zum Beispiel moralische Tatsachen, muss zumindest zugestehen, dass deren angebliche Objektivität nach einer Begründung verlangt. Die historische Relativität von normativen Bewertungssystemen aber hat selber einen guten Grund, den man erkennen kann, wenn man den deskriptiven Begriff der Geschichte ernst nimmt: Bewertungssysteme sind selber das Produkt einer intentionalen Handlungspraxis, die individuelles, soziales und kollektives Handeln umfasst. Und im Hinblick auf die Dynamik von sozialen Entwicklungen ist gerade die kollektive Intentionalität, die sich in der gemeinsamen Handlungspraxis von historischen Subjekten manifestiert, von entscheidender Bedeutung.

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Literatur Bratman, Michael: Intention, Plans, and Practical Reason, Cambridge (Mass.) 1987. Gerber, Doris: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung, Frankfurt/M. 2012. Kant, Immanuel: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, Werkausgabe Band XI, Frankfurt/M. 1977. Mele, Alfred: Springs of Action: Understanding Intentional Behaviour, Oxford 1992. Searle, John R.: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983.

Geschichte als Raum des sozialen Wandels: Zwischen Hermeneutik und Geschichtsphilosophie Emil Angehrn (Basel)

I. Sozialer Wandel und Geschichtsphilosophie Sozialen Wandel im theoretischen Horizont der Geschichtsphilosophie zur Diskussion zu stellen, ist keine Selbstverständlichkeit. Gilt Geschichtsphilosophie doch seit langem für viele als unhaltbares, obsoletes Theoriekonstrukt. Dem Glauben an die gesetzmäßige Entwicklung und den unbegrenzten Fortschritt, an die Einheit und begriffliche Fassbarkeit der Menschheitsgeschichte scheint im nachmetaphysischen Denken der Boden entzogen. Jede Erneuerung klassischer, »substantialistischer« Geschichtsphilosophie, ja, jeder Ansatz eines starken philosophischen Geschichtsdenkens begegnet grundsätzlichen Vorbehalten. Sie kommen nicht nur dort zum Tragen, wo es um empirische historische Forschung geht, sondern auch wo der soziale Wandel zur Diskussion steht. Dieser, so eine weithin geltende Meinung, ist im Kontext sozialwissenschaftlicher, anthropologischer und kulturwissenschaftlicher Untersuchungen zu verhandeln, nicht mit den Mitteln philosophischer Geschichtsreflexion zu beschreiben; deren Raster, wo sie nicht auf metaphysischen Prämissen beruhen, gelten als leer und unfähig, die Prozessnatur gesellschaftlichkultureller Veränderung zu erfassen. Im Folgenden möchte ich im Gegenzug zu dieser Auffassung der Frage nachgehen, inwiefern auch unter heutigen Bedingungen das Ernstnehmen von Geschichte theoretisch relevant ist, nicht nur für eine philosophische Verständigung über die menschliche Existenz, sondern auch für ein wissenschaftliches Verständnis sozialer und kultureller Veränderungen. Und zwar geht es um ein Ernstnehmen der Geschichte im Anschluss an die Tradition der Geschichtsphilosophie. Gegen deren umstandslose Verabschiedung ist zu prüfen, inwiefern nicht eine substantielle philosophische Geschichtsreflexion einen unverzichtbaren Horizont für das Verständnis realhistorischer und sozialer Prozesse bildet und diese umgekehrt in den philosophischen Begriff der Geschichte eingehen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Fragestellung davon abhängig ist, welche Art geschichtsphilosophischer Reflexion hier zur Diskussion steht. Wenn klassische Fortschritts- oder Verfallserzählungen, lineare und teleologische, universalistische und monistische Geschichtskonstruktionen mit uneinholbaren Implikationen behaftet scheinen, so ist nicht ausgemacht, dass jede Art philosophischer Geschichtsreflexion zu solchen Hypostasierungen Zuflucht nehmen muss. Geschichte auch unabhängig von übergreifenden Zweck- oder Sinnunterstellungen ernst zu nehmen und sie als konstitutives Moment der Lebenswelt und Horizont der Verständigung über uns und die Welt zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe einer philosophischen Geschichtsreflexion »nach der Geschichtsphilosophie«.

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Eine übliche Distinktion in den philosophischen Debatten über Geschichte ist die zwischen materialer und formaler Geschichtsphilosophie. Danach sind es vor allem Ansätze einer materialen Geschichtsphilosophie, übergreifende inhaltliche Rekonstruktionen und sinnhafte Deutungen der Menschheitsgeschichte, welche der Kritik verfallen. Von dieser nicht tangiert scheinen Konzepte einer formalen Geschichtstheorie, die sich allein mit der Form des Historischen und des geschichtlichen Wissens befassen. Solche Betrachtungen haben ihrerseits einen zweifachen, einen thematischen und einen methodischen Fokus. Auf der einen Seite geht es um Reflexionen zur Geschichtlichkeit – des Menschen, der Kultur, der Wissenschaft etc. –, die auf die Endlichkeit und Veränderlichkeit, die Zugehörigkeit zu einer Tradition und kulturelle Bedingtheit abheben. Existenzphilosophie, Kulturphilosophie und Hermeneutik haben Aspekte der grundlegenden Geschichtlichkeit des Menschseins herausgearbeitet. Der Mensch kommt aus einer Geschichte und ist in Geschichten verstrickt; Geschichte macht einen Kern und einen Horizont seines Lebens aus, auch ohne dass die Geschichte im Ganzen in den Blick kommt. Auf der anderen Seite interessiert sich formale Geschichtsphilosophie für die Art und Weise, wie historisches Bewusstsein und die Darstellung von Geschichte zustandekommen: Hier geht es um die konstitutiven Formen der Vergegenwärtigung, der Erzählung, der wissenschaftlichen Erarbeitung und Erklärung von Geschichte. Im weiten Sinn geht es um die Analyse der kulturellen Form des Historischen in der sozialen Lebenswelt, im engeren, erkenntnistheoretischen Sinn um die Methoden der Erforschung und des Wissens von der Geschichte. Es interessieren Bewusstseinsformen und kulturelle Praktiken, in denen das Vergangene wahrgenommen, erinnert und seine Präsenz gestaltet wird, Formen der politischen, künstlerischen und medialen Gedächtniskultur. Insgesamt geht es hier darum, in welcher Weise Geschichte als Teil der individuellen oder sozialen Lebenswelt ausgebildet, weitergegeben und verändert, möglicherweise verdrängt und unterdrückt wird. Eine reiche kulturwissenschaftlich-anthropologische Literatur hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit Fragen dieser Art beschäftigt. Auch hier gilt, dass deren Profil und Interesse durch das Verblassen substantieller geschichtsphilosophischer Visionen nicht gemindert, eher freigesetzt und verstärkt wird. Meine folgenden Überlegungen setzen generell im Horizont dieser formal-geschichtsphilosophischen Fragerichtung an, die ich allerdings in zweifacher Weise spezifiziere. Zum einen entfalte ich die Frage nach der Form des Historischen in einem dezidiert hermeneutischen Horizont: im Ausgang von der Frage, wie Sinnbildung und Sinnverstehen konstitutiv mit Geschichte zusammenhängen, aus der Geschichte kommen und in die Bildung des Historischen eingehen. Zum anderen möchte ich die Trennung zwischen materialer und formaler Geschichtsbetrachtung nur als vorläufige, analytische Unterscheidung aufnehmen und die Frage offenlassen, wieweit eine philosophische Reflexion des sozialen Wandels nicht auch umfassende, inhaltliche Bilder der Geschichte zu reflektieren hat; nicht zuletzt steht darin in Frage, wieweit jene Distinktion überhaupt stringent durchzuhalten (und die Rubrizierung klassischer Geschichtsphilosophien als »materiale« überzeugend1) ist. 1

Dazu kritisch, mit Bezug auf Hegel: Max Winter: Hegels formale Geschichtsphilosophie, Tübingen 2015.

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Im Rahmen einer hermeneutischen Transformation des Geschichtsdenkens treten zwei Perspektiven des sozialen Wandels hervor, denen ich im Folgenden nachgehen will. Zum einen geht es um die interne Dynamik der Neuerung, zum anderen um die reflexive Verständigung über Richtung und Sinn des Wandels. Unter beiden Hinsichten überlagern sich die hermeneutische und die geschichtliche Dimension, verschränken sich die Frage nach dem Sinn und die Logik des Historischen. Sie stehen für zwei Hinsichten, unter denen die geschichtsphilosophische Reflexion einen wesentlichen Aspekt im Verständnis des sozialen Wandels hervortreten lässt.

II. Der Sinnprozess als Motor und Horizont des sozialen Wandels Ausgangspunkt der ersten Fragerichtung ist die Tatsache, dass der soziale Wandel ein vielschichtiger Prozess ist, der um unterschiedliche Gravitationszentren angelegt, durch verschiedene Faktoren bedingt und durch variierende Verlaufsmuster charakterisiert ist. Je nach theoretischer Perspektive und realen Bedingungsverhältnissen sind es politische, ökonomische, soziale, kulturelle oder religiöse Konstellationen, die in den Vordergrund treten und dem Prozess sein Profil geben. Wenn die unterschiedlichen sozialen Systeme sich zunächst nach ihrer Eigenlogik entwickeln, so stehen sie zugleich in mannigfacher Interferenz; es ist Gegenstand einer durchgeführten historisch-kulturwissenschaftlichen Analyse, die vielfältigen Bedingungsverhältnisse und Transformationen in dieser Verflechtung herauszustellen. Es ist nicht im Voraus ausgemacht, welches darin die grundlegenden Operatoren und übergreifenden Zusammenhänge sind; zum Teil ist die Differenzierung primärer und sekundärer Bedingungen Gegenstand des theoretischen Disziplinenstreits. Es ist an dieser Stelle nicht diesen Fragen nachzugehen, sondern nur eine strukturelle Differenz festzuhalten. Dem kulturellen System bzw. der Organisationsform des Kulturellen kommt im Gesamt dieser Bereiche eine Art Sonderstellung zu, die für unsere Fragestellung von Belang ist. Kultur ist nicht einfach ein Funktionssystem der Gesellschaft neben anderen (Recht, Wissenschaft, Technik etc.). Kulturen sind Deutungssysteme, in denen sich Gesellschaften über sich selbst und die Welt verständigen. Ihr Medium sind Prozesse der Sinnbildung und Interpretation, der Sinntradierung und -veränderung. Solche Deutungssysteme sind einerseits gesonderte Bereiche wie z. B. Religionen und literarische Traditionen, denen die spezifische Aufgabe der sinnhaften Konstruktion und Deutung zukommt. Andererseits bildet die Dimension des Sinns eine Grundschicht in allen sozialen Funktionsbereichen, die als solche über Sinn- und Verstehensprozesse vermittelt sind und vermittels der Selbst- und Fremdbeschreibung als das fungieren, was sie sind. Ökonomische Tauschformen und politische Institutionen werden nur angemessen erfasst, wenn ihre Beschreibung in Rechnung stellt, als was sie gelten und wie sie von den Akteuren und Betroffenen verstanden werden. Ihre Beschreibung setzt die Selbstbeschreibung voraus. Sinn ist nach Luhmann eine Grundkategorie des Sozialen und bezeichnet das Medium, in welchem soziale Systeme operieren; deren Wirklichkeitsform ist durch die Art und Weise definiert, wie durch Sinn Relationen hergestellt und Zusam-

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menhänge gebildet werden. Sinn ist nicht eine Zusatzdimension zu den verschiedenen Bereichen des Sozialen, sondern durchdringt diese im Ganzen. Sinn bildet eine Art transzendentale Voraussetzung des individuellen und sozialen Lebens und geht konstitutiv in dessen Veränderung ein. So ist auch die Logik des sozialen Wandels wesentlich durch die hermeneutische Verfassung, die sinnhafte Prägung der kulturellen Lebenswelt bestimmt.2 Sie ist dies, sofern die Sinndimension selbst durch eine bestimmte Prozessualität definiert ist. Sinn ist nicht als gegebenes Verweisungsnetz oder fester Bestand von Deutungen, sondern als Sinngeschehen in der menschlichen Lebensrealität anwesend. Menschen haben an der Sinnhaftigkeit der Welt teil, indem sie in dieses Geschehen verflochten sind. Die Dynamik und Eigenart des Sinns ist wesentlich durch das Verhältnis der verschiedenen Stoßrichtungen bestimmt, die sich in dieser Bewegung unterscheiden lassen. In ihr spielen drei Bewegungsformen zusammen, die sich schematisch als Prozesse der Rezeption und Bewahrung, der Kritik und Auflösung, der Produktion und Neuerung von Sinn unterscheiden lassen. Eine Konkretisierung der drei Ausrichtungen kann die kulturelle Prozessualität in ihrer Spannung und inneren Dynamik deutlicher hervortreten lassen.

II.1 Sinnrezeption und kulturelle Tradierung Kultur ist die Sinnwelt, in die wir hineinwachsen, an der wir je schon partizipieren und deren wir zur Führung unseres Lebens, zum Umgang mit anderen und zur Gestaltung der Welt bedürfen. Wir sind auf das Vorgegebensein von Deutungen und Sinnentwürfen angewiesen, um die Dinge verstehen und uns in der Welt orientieren zu können. Unser erstes Verhalten zur Kulturalität ist ein rezeptives; wir schließen an tradierte Sinnmuster an, die wir in unserem Sprechen und Handeln assimilieren, artikulieren und weitergeben. Wir bedürfen der Kultur, durch die wir geprägt, aber auch erst zur Abweichung und eigenen Sinngebung befähigt werden. Sie ist der Fundus an Sinnelementen und -konstellationen, der dem Einzelnen vorausliegt und gleichzeitig im Leben der Gesellschaft fortentwickelt und über die Generationen weitergegeben wird. In alledem gewährleistet Kulturalität die Konstanz der Verhältnisse. Kultur ist eine Macht des Bewahrens. Wenn in historisch-sozialwissenschaftlicher Sicht auch viele andere Faktoren für die Stabilität der Verhältnisse verantwortlich gemacht werden – Vorurteile und Interessen, geltende Normen und Ideale, starre Strukturen, Systemzwänge und Herrschaftsverhältnisse – , so bildet die Kontinuität des Sinns darin einen inneren Kern. Sie gründet darin, dass Geltungen erhalten bleiben und Interpretationen auseinander hervorgehen und aneinander anschließen. In gewisser Weise ist Kontinuität dem Sinngeschehen, das jeden sozialen Prozess begleitet, immanent. Mit ihr verbindet sich die konservative, legitimierende Tendenz, die der Kultur vielfach anhaftet und zum Stein des Im Folgenden sind z.T. Überlegungen übernommen aus: Emil Angehrn: »Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive«, in: Stefan Deines/Daniel Martin Feige/Martin Seel (Hg.): Formen kulturellen Wandels, Bielefeld 2012, S. 87–102. 2

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Anstoßes werden kann. Zu ihr stehen die beiden anderen Bewegungsformen des Sinns in einem Ergänzungs- und Spannungsverhältnis.

II.2 Kulturkritik und Traditionsbruch Zum Leben der Kultur gehört neben der rezeptiven Tradierung die kritische Auseinandersetzung. Nicht nur das Anschließen an etablierte Deutungen, auch die Verwerfung und Auflösung sind konstitutive Modalitäten des Umgangs mit Sinn. Kritische Hermeneutik kontrastiert nicht nur geltende Sinngefüge mit entgegengesetzten Sichtweisen, sondern dekonstruiert auch die interne Falschheit, mit welcher Gegenstände auftreten, die Sinnverzerrungen und Selbstmissdeutungen, mit denen Äußerungen uns begegnen. Sie liest Texte gegen den Strich, zerlegt historische Konstellationen in ihre Elemente und bricht die durch die Macht der Interpretation wie der realen Verhältnisse verfestigten Perspektiven auf. Verstehen vollzieht sich nicht nur in Anlehnung, sondern in vielfältiger Antithese zum herrschenden Verständnis. Diese oppositionelle Rolle wird zu einem konstitutiven Merkmal der Kultur. Kultur ist nicht nur Medium der Bewahrung, sondern auch der Infragestellung und Kritik. Sie ist Grundlage der Tradition wie Organ des Protests und Motor der Neuerung. Kulturelle Reflexion insistiert auf der Kluft zwischen Anspruch und Realität; die Inkonsistenzen eines sozialen Systems werden nicht nur als objektiv-funktionale Spannungen, sondern als Konkurrenz der Entwürfe und diskursiver Geltungsstreit ausgetragen. Wie als ideologische Legitimationsinstanz, ist Kultur als zersetzende Macht wahrgenommen und kritisiert worden. Beides ist ihr wesensmäßig zugehörig; beides kommt ihr zu als jene Darstellungs- und Reflexionsinstanz, welche der sozialen Realität innewohnt und deren historische Prozessualität mit bestimmt. Kultur ist nicht ohne ihr kritisch-selbstkritisches Moment; Kultur und Kulturkritik sind ineinander verschränkt und eröffnen in dieser Gegenläufigkeit den Raum der Selbstvergewisserung einer Zeit. Wenn Zeit eine kreative und destruktive Macht zugleich ist, so kommt ihr diese Doppelvalenz nicht nur als naturaler Ereignisform, sondern wesentlich über den Sinnprozess zu, in welchem sie sich artikuliert. II.3 Sinnstiftung und kulturelle Neuerung Der Mensch ist das kulturschaffende Lebewesen, und seine Kulturfähigkeit beinhaltet die Hervorbringung der eigenen Lebensform ebenso wie die Schaffung einer kulturellen Welt. Die Kennzeichnung des Menschen als »Mängelwesen« (A. Gehlen) steht für die Kehrseite einer positiven Auszeichnung: Humane Existenz, die nicht die geschlossene Bestimmtheit und Sicherheit des animalischen Lebens besitzt, enthält das Bedürfnis und die Fähigkeit, die Lebensform und Weltbeziehung selbst zu gestalten. Als Kulturwesen hat der Mensch nicht nur verstehend an der Sinnhaftigkeit der Welt teil, sondern gestaltet und verändert diese im eigenen Tun und Sprechen. Leben heißt immer auch andere Formen des Lebens und neue Lesarten der Welt hervorbringen. Der Aspekt der unableit-

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baren Neuheit kennzeichnet schon die Sinnhaftigkeit der kulturellen Welt als solche: Geschmacksprägungen – dass den einen als Delikatesse gilt, was bei anderen Ekel auslöst – wie Differenzen im Lebensrhythmus, in der Kleidung oder im Naturerleben sind aus keiner materiellen Beschaffenheit oder organischen Disposition abzuleiten. Das interpretierende Auffassen, durch welches die Dinge ihre Färbung und Bedeutung gewinnen, ist originär schöpferisch. Sinnverstehen ist immer auch Sinnstiftung. Kultur ist der Raum der aktiven Gestaltung der Welt, der kreativen Erzeugung von Ausdrucks- und Lebensformen. Eine Sprache lernen heißt nicht nur die Fähigkeit erwerben, Gesagtes zu verstehen und Texte zu lesen, sondern selbst zu sprechen und Neues, idealiter noch nie Gesagtes zu sagen. Wenn Phantasie und Innovationskraft zur gängigen Signatur der Kunst gehören, so strahlt dieser Zug auf die Produktivität der Kultur als ganze aus. Die revolutionäre Neuerung, sei es im Theoretischen, im Technischen oder im Sozialen, gehört – wie T. S. Kuhn mit Bezug auf die Wissenschaften gezeigt hat3 – zur Prozessform des Historischen. Auch wenn keine Schöpfung ohne Grund und Antezedenzien geschieht, enthält sie immer Momente des Neuen und Anderen, des nicht aus Früherem Abzuleitenden. Um Geschichte und Veränderung zu fassen, ist ein Denken der Innovation unverzichtbar.

II.4 Die Dynamik des Sinns und die Geschichte Im Ganzen haben wir damit drei unterschiedliche Stoßrichtungen vor uns, die den Umgang mit Sinn und die kulturelle Praxis kennzeichnen. Ihre spannungsgeladene Verflechtung macht die genuine Prozessualität des Sinns und damit die Dynamik des kulturellen und sozialen Wandels aus. Diese resultiert daraus, dass menschliches Leben konstitutiv auf Sinn und Verstehen angewiesen ist und damit auch durch dessen Prozessform zwischen Bewahrung und Neuerung geprägt ist. Kultur ist der Ort und das Medium dieses Geschehens. Sie bildet einen Kern, nicht das Ganze des sozialen Wandels. Es wäre eine Frage der konkreten empirischen Analyse, zu bestimmen, in welcher Weise die im engen Sinne kulturellen Faktoren und Ereignisse mit gesellschaftlichen, politischen oder technischen Veränderungen interferieren; es liegt auf der Hand, dass hier im historischen Prozess ganz unterschiedliche Konstellationen gegeben sind. Der kulturelle Wandel ist abhängig von sozialen Strukturen, ökonomischen Verhältnissen und politischen Transformationen, wie er umgekehrt auf diese einwirkt und ihre Eigenart mit prägt. Hegel hat die Differenz beider Bereiche als die zwischen objektivem und absolutem Geist gezeichnet: auf der einen Seite die institutionellen Organisationsformen (Recht, Familie, bürgerliche Gesellschaft, Wirtschaft, Staat), in welchen sich menschliches Leben objektive Gestalt gibt und in der Geschichte entwickelt, auf der anderen Seite die Instanzen der Selbstartikulation und reflexiven Selbstvergewisserung des Geistes, die Hegel in den Formen der Kunst, der Religion und der Wissenschaft bzw. Philosophie entfaltet. Dabei betont er sowohl die enge Interdependenz zwischen ihnen – zwischen

3

Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967.

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bestimmten Formen der Religion und des Staats, der Religion und der Kunst4 – wie die katalysatorische Funktion der Reflexion (als »innerer Geburtsstätte des Geistes«5) für den sozialen Wandel. Die Dialektik zwischen objektiver Gestalt und reflexiver Selbstexplikation des Geistes bildet ein Grundgerüst des hegelschen Geschichtsdenkens. Sie lässt sich analog im Horizont der Kulturtheorie geltend machen, wenn es etwa darum geht, einen engeren von einem weiteren Kulturbegriff zu unterscheiden: als Titel der sogenannten »höheren« Kultur einerseits, wie sie einen gängigen Wortgebrauch von »Kultur« (Kulturbetrieb, Kulturelite etc.) bestimmt, der gesellschaftlichen Lebensformen andererseits, wie sie von den Kulturwissenschaften untersucht werden und sämtliche Manifestationen des Sozialen von der Opernarie über die Verkehrspolitik bis zum Gesundheitswesen umfassen. All dies sind Formen, in denen sich das soziale Leben Ausdruck und gegenständliche Gestalt gibt. Wilhelm Dilthey, dessen Geschichtstheorie an Hegel anschließt, hat die Stufendifferenz nivelliert und die Bereiche des objektiven und des absoluten Geistes in der Figur der »Objektivationen des Lebens« vereinigt.6 Für die Engführung spricht die Tatsache, dass sowohl die Manifestationen von Religion und Kunst zugleich institutionelle Realität haben wie umgekehrt das Rechts- und Wirtschaftssystem gleichzeitig als Ausdruck eines bestimmten Verständnisses vom Menschen gelesen werden können. Gleichwohl bleibt die funktionale Differenz zwischen Ausdruck und Reflexion, zwischen objektivierender Gestaltung und interpretierender Selbstverständigung des sozialen Lebens erhalten. Mit der Stufendifferenz geht einher, dass die interpretierend-reflektierende Funktion zugleich als Faktor der sozialen Dynamik und des historischen Wandels wirksam sein kann.

III. Geschichte als Dimension der Selbstverständigung Ein zweiter Aspekt, unter dem Geschichtsphilosophie für die Frage des sozialen Wandels von Belang ist, betrifft nicht die Dynamik, sondern das Verständnis des Wandels und der Geschichte. Nach gängigem Verständnis gilt die Frage nach dem Sinn der Geschichte als Inbegriff einer substantialistischen Geschichtsphilosophie. Als Sinn der Geschichte wird dabei ihr Zweck, ihre Gerichtetheit verstanden, deren Grund eine metaphysisch abgesicherte Entwicklungslogik bildet. Indessen ist es nicht nötig, die Frage in dieser voraussetzungsreichen, inhaltlichen Form zu stellen. Sie kann ebenso im Horizont einer formalen Geschichtsreflexion zur Diskussion stehen, zunächst als Frage danach, welches die Bedeutung der Besinnung auf Geschichte, die Funktion der Historie für ein – individuelles oder kollektives – Subjekt ist. Sie interessiert sich für die Art und Weise, wie historische Erin-

4 G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 9, Frankfurt/M. 1970, S. 73. 5 G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, a. a.O., Bd. 18, S. 74. 6 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hrsg. von M. Riedel, Frankfurt/M. 1970, S. 183.

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nerung zustande kommt, wie sie sich artikuliert und welches ihr Stellenwert im menschlichen Leben ist. Eine vieldiskutierte Antwort geht dahin, Geschichte als Medium der Identitätsbildung, historische Reflexion als Selbstvergewisserung zu sehen. Historische Identitätsbildung und Selbstverständigung finden in unterschiedlichen Formen statt; in ihnen geht es um die unverwechselbare Individualität ebenso wie um die Re-Identifikation über die Zeit und die konkrete Integration vergangener Erlebnisse zu einem gegliederten Ganzen.7 Über die Rekonstruktion und Durchdringung des Vergangenen erarbeiten sich Gesellschaften und Individuen das Bild ihrer selbst und gestalten ihre Identität in der Zeit. Um diesen Gedanken nun mit genuinen Perspektiven der Geschichtsphilosophie zu verknüpfen, sei in einem ersten Schritt erneut auf das Paradigma der Hegelschen Theorie zurückgegriffen. Es soll exemplarisch verdeutlichen, in welcher Weise Geschichtsphilosophie Grundlage praktischer Orientierung und Selbstverständigung sein kann. In einem zweiten Schritt ist allgemeiner zu prüfen, welches die Bedeutung philosophischer Geschichtsreflexion für das Verständnis des sozialen Wandels ist. Abschließend ist diese Frage jenseits der Geschichtsmetaphysik im Horizont der Hermeneutik zu spezifizieren.

III.1 Das Paradigma der Geschichtsphilosophie Zu den Besonderheiten der Hegelschen Geschichtsphilosophie gehört nicht nur der fast singuläre Rang einer universal ausgreifenden und inhaltlich durchgeführten Darstellung der Menschheitsgeschichte (zu welcher etwa Kant nur einen »Leitfaden« bereitstellen wollte, dem ein kundiger »philosophischer Geschichtsschreiber« zu folgen hätte8). Zu den Besonderheiten zählt ebenso der herausgehobene Ort der Geschichtsphilosophie in Hegels System. Die Philosophie der Weltgeschichte bildet den Schlussabschnitt in der Philosophie des objektiven Geistes. Den Abschlusskapiteln kommt in Hegels Systematik immer ein besonderer Stellenwert zu. In ihnen wird die interne Entfaltung eines Sachbereichs nicht nur zu ihrer letzten Gestalt weitergeführt, sondern zugleich auf das Ganze zurückgeblickt und über den Gang seiner Entfaltung Rechenschaft abgelegt; exemplarisch zeigt dies die ›absolute Idee‹ als Schlussbestimmung der Logik. Die Frage ist, in welcher Weise sich Analoges von der Geschichte sagen lässt. Inwiefern bildet die Philosophie der Geschichte einen Abschluss und eine Selbstvergewisserung des objektiven, weltlich-zeitlich sich realisierenden Geistes? Inwiefern ist Geschichte eine letzte Grundlage der menschlichen Lebensform; inwiefern bildet die Reflexion auf Geschichte einen Fluchtpunkt der praktischen Selbstverständigung des Menschen? Die Frage verweist auf die Stufenfolge der praktischen Lebensbereiche, wie sie Hegel systematisch exponiert und als deren letzte die Geschichte fungiert: Der Mensch existiert als Rechtsperson, als moralisches Subjekt, als Familienmitglied, als Glied der bürgerlichen Vgl. Emil Angehrn: Geschichte und Identität, Berlin 1985. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1964, S. 33 f. 7 8

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Gesellschaft, als Staatsbürger – schließlich als Mensch in der Geschichte, als »Sohn seiner Zeit«. Die Sequenz dieser Existenzformen ist hierarchisch und extensional angeordnet: Sie stellt einen Übergang von abstrakteren zu konkreteren Seinsweisen und damit zugleich zu normativ umfassenderen, höherwertigen Orientierungen dar. Abstraktes Recht ist nur innerhalb einer sozialen und politischen Ordnung real, moralische Prinzipien gewinnen Konsistenz erst als Moment eines geteilten sittlichen Lebens. Die höchste, abschließende Instanz bildet nach Hegel die Geschichte: Sie steht für das höchste Recht, das den vorausliegenden Norminstanzen (Recht, Moral, Staat) übergeordnet ist. Historische Neuerer (wie Cäsar oder Napoleon) gehen über etablierte Regeln hinaus und begründen neue Ordnungen, als jene welthistorischen Akteure, welche die Geschichte voranbringen, indem sie Einsicht haben in das, »was not und was an der Zeit ist« – auch wenn sie davon kein reflektiertes, sondern nur ein intuitives Wissen haben, doch in ihrem Handeln (kraft der »List der Vernunft«) über ihre Intention hinaus wirken und die substantiellen Zwecke der Menschheit befördern.9 Es steht an dieser Stelle nicht die innere Stringenz dieses Konzepts zur Diskussion.10 Es interessiert der Grundgedanke, der die Bewusstheit der Geschichte mit der Verständigung über die vita activa des Menschen verbindet. In Frage steht die Bewusstheit eines geschichtlichen Handelns, das sich mit Bezug auf Geschichte über sein Ziel und seine Gründe verständigt. Dabei interessiert die Funktion solcher Verständigung nicht nur für den großen Geschichtstäter, sondern für geschichtliches Leben überhaupt, für das in Geschichte involvierte, von ihr betroffene Individuum ebenso wie für den historischen Betrachter. In Hegels Modell geht es wesentlich darum, sich darüber klar zu werden, worum es in der Geschichte letztlich geht und in welcher Weise das eigene Tun und Erleben mit dem zu tun hat, was das immanente Anliegen der Geschichte ist. Nach Hegel besteht dieses bekanntlich im Fortschritt in der Freiheit, und im Blick darauf soll eine historisch reflektierte Orientierung über Recht, Moral und Staat darüber Rechenschaft ablegen, in welcher Weise in diesen Lebensbereichen menschliche Freiheit begründet, begrenzt und verwirklicht wird. Die Selbstvergewisserung über das Ziel der Geschichte bildet den Horizont für die Gerichtetheit der historischen Aktion wie für das soziale und politische Handeln. Vom Telos der Geschichte kommt die Reflexion gleichsam auf die vorgelagerten Dimensionen der Existenz zurück, auf die unterschiedlichen Institutionen und sozialen Prozesse, die im Lichte jener Zielausrichtung kritisch durchleuchtet und aktiv gestaltet werden. Bei Hegel selbst findet diese Vergewisserung, bei aller Gebrochenheit, im Geiste der Aufklärung und ihres Fortschrittsoptimismus statt. Die Erkenntnis der Vernunft in der Geschichte bildet den festen Boden einer Verständigung über den Menschen. Zu fragen ist, wie eine solche Verständigung nach der Kritik und Krise der Geschichtsphilosophie möglich ist.

9 10

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 45 f., 49. Vgl. dazu Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie, Basel 2012, S. 91–105.

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III.2 Historische Besinnung und Selbstverständigung Dass die historische Besinnung auch ohne Abstützung auf eine gesetzmäßige Höherentwicklung der Menschheit Grundlagen für die praktische Verständigung des Handelns abgibt, demonstrieren viele Ansätze nachhegelschen Denkens. Zu nennen sind Konzepte einer kritischen Historie, welche den Gang der Ereignisse gegen den Strich lesen, das Unerledigte, Unabgegoltene der Vergangenheit herausstellen und Orientierungen ohne metaphysische Zielvorgaben begründen. Historische Rekonstruktion ermöglicht ein Bewusstsein davon, worum es in einer Geschichte geht, was in ihr auf dem Spiel steht. In der Vergegenwärtigung vergangenen Strebens und Verfehlens, Tuns und Leidens orientiert sich der Mensch über Grundbedingungen seiner Existenz. In vielfacher Weise dient historische Besinnung der Selbstaufklärung: Erst im Laufe einer Geschichte kristallisiert sich heraus, was das Anliegen einer künstlerischen Stilrichtung ist, was in einer politischen Bewegung oder im Reformwillen einer Generation unterwegs ist. Dies gilt für biographische Zusammenhänge wie für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen; historische Identitätsfindung kristallisiert sich um die Frage nach den zentralen Motiven und der sinnhaften Bedeutung dessen, was sich in einem Verlauf herausbildet. Auch Prozesse sozialen Wandels können in dieser Weise in historischer Reflexion über sich aufgeklärt werden, wobei die Reflexion sowohl der kognitiven Verdeutlichung von Gehalt und Richtung des Wandels wie der kritischen Auseinandersetzung mit ihm und der tätigen Intervention und Steuerung gelten kann. An dreierlei können wir den Modellcharakter der Geschichtsphilosophie für solche Verständigung festmachen: an der Retrospektivität, der Gerichtetheit und der reflexiven Selbstsituierung in der Zeit. Zum einen ist historische Wahrnehmung eine Erkenntnis ex post. Hegels Bild von der erst am Abend zum Flug ansetzenden Eule der Minerva steht für einen konstitutiven, strukturellen Zug des Historischen. Worum es in einer Geschichte geht, welches ihr eigentlicher Gehalt, das in ihr verhandelte Problem ist, zeigt sich im Nachhinein. Es ist bezeichnend, dass auch eine dezidiert teleologische Geschichtsphilosophie wie die Hegelsche an der Retrospektivität des historischen Urteils festhält – und darin einen Grundtatbestand bekräftigt, wie ihn die analytische Geschichtsphilosophie im narrativen Satz als Elementargerüst historischer Vergegenwärtigung herausstellt.11 Viele moderne Theorien insistieren auf dieser Struktur, sei es in Abwandlung der von Freud herausgearbeiteten »Nachträglichkeit«, sei es in der Betonung des Futurum II: Was wir heute sind und tun, werden wir erst klar erfassen, wenn uns auch die nichtintendierten Folgen unseres Handelns erkennbar werden und wir sehen, was wir »getan haben werden«. Bei aller emphatischen Zukunftsgerichtetheit der Existenz gehört zu deren geschichtlicher Verfasstheit konstitutiv der Blick zurück. Indessen hindert dies nicht, dass sich historische Selbstvergewisserung an Ziel- und Wertvorstellungen orientiert, auch wenn sie des Fortschritts der Menschheit nicht mehr in gleicher Weise gewiss sein kann wie Kant, Hegel oder Marx. Auch eine Historie im 11

Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1980, S. 232–291.

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Zeichen des Leidens und der Katastrophen kann sich von einem emanzipatorischen Projekt her verstehen. Als individuelle wie soziale Selbstverständigung artikuliert sie sich nicht nur im Bezugsrahmen kognitiver Erschließung, sondern auch evaluativer und normativer Stellungnahme. Eine reflektierte historische Verständigung verbleibt im Raum kritisch-normativer Geltungsreflexion, der sie von einem relativistischen Historismus scheidet. Dennoch teilt sie, in anderer Hinsicht, die radikale Selbsthistorisierung. Gemeint ist jene Historisierung, die Hegel daran festmacht, dass Geschichtskultur und Geschichtsphilosophie selbst historisch enstanden, Spätprodukte der Menschheitsgeschichte, Folgen eines Sich-Transparentwerdens der Geschichte sind. Hegel folgert daraus geradezu einen Anspruch und einen Auftrag an die philosophische Reflexion: Sich historisch zu verstehen und die Geschichte selbst zu begreifen, so meint er, muss nun »endlich an der Zeit sein«.12 Es ist eine Befähigung und eine Verpflichtung des Denkens, die in gewisser Weise irreversibel ist, auch wenn die Selbstbewusstheit der Geschichte nicht jene Selbsttransparenz erlangt, die Hegel ihr attestierte. Die historische Reflektiertheit bleibt dem nach-geschichtsphilosophischen Denken erhalten und unhintergehbar. Die retrospektive Verständigung über den sozialen Wandel ist eine Reflexion, die durch die Geschichte möglich gemacht, aber auch gefordert wird.

III.3 Von der Geschichtsmetaphysik zur Hermeneutik Sozialer Wandel wird durch solche Überlegungen in einem Horizont reflektiert, der durch die Geschichtsphilosophie aufgespannt wird. Ich hatte eingangs die Frage gestellt, mit welcher Art von Geschichtsphilosophie wir hier zu tun haben bzw. auf welche geschichtsphilosophischen Perspektiven wir eine Diskussion des sozialen Wandels öffnen sollen. Generell haben sich die anschließenden Ausführungen im Rahmen einer formalen Geschichtsphilosophie bewegt, die im Besonderen auf die Sinndimension der historischen Konstitution abhob; gleichzeitig wurde das Hegelsche Modell zur paradigmatischen Explikation genuin geschichtsphilosophischer Aspekte herangezogen. Die Stoßrichtung der Explikation ging dahin, zu zeigen, dass wesentliche Aspekte auch jenseits einer klassischen »substantialistischen« Geschichtskonzeption für eine historische Verständigung über das Soziale, aber auch das Leben des Einzelnen grundlegend sind. Dies gilt für zentrale Anliegen der kognitiven und praktischen Selbstverständigung: vertiefte Selbsterkenntnis, Suche nach der eigenen Identität, praktische Orientierung. Eine gehaltvolle historische Reflexion zeigt sich mit praktischen Leitideen verschränkt, die auch einen Horizont für die Verständigung über Gehalt, Motive und Dynamik des sozialen Wandels eröffnen. Auch umfassende, inhaltliche Bilder der Geschichte können in diesem Zusammenhang in den Blick kommen, gegebenenfalls die Wahrnehmung eines markanten Ereignisses oder einer gesellschaftlichen Veränderung mit bestimmen – Bilder, wie sie in metaphysischen Geschichtskonzepten ausformuliert sind, doch auch un12

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 28.

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abhängig davon Deutungs- und Orientierungsperspektiven entwerfen. Sozialer Wandel vollzieht sich in einem Sinnhorizont, dessen Implikationen in Geschichtsbildern entfaltet werden. Die Frage ist, in welcher Weise dieser Ausblick sich verändert, wenn wir von der eigentlichen Geschichtsphilosophie zu einem hermeneutischen Geschichtsdenken übergehen. Die These im Vorausgehenden war, dass die leitenden Perspektiven bei diesem Wechsel erhalten bleiben; ja, in gewisser Weise wird man sagen können, dass sie sich nicht nur nicht abschwächen, sondern im Gegenteil verstärken, ähnlich wie die historistische Kritik an der Geschichtsphilosophie sich als Plädoyer für ein Ernstnehmen der Geschichte verstand. Eine hermeneutische Grundeinstellung, die sich über gesellschaftliche Veränderungen als Prozesse der Konstitution, Auflösung und Erneuerung von Bedeutungszusammenhängen verständigt, ist wesensmäßig auf Geschichte bezogen. Sie versteht Veränderungen aus einer Herkunft und auf eine Zukunft hin, die in ihre Sinngestalt eingehen und mit ihrer Selbstinterpretation interferieren. Im Gegensatz zu Tendenzen der Vereinheitlichung und Universalisierung insistiert hermeneutisches Geschichtsdenken auf der Offenheit des historischen Bezugsnetzes, auf der Uneinholbarkeit des ersten Anfangs wie der Nichtabschließbarkeit der Deutung. Doch auch wo in zugespitzter Antithese gegen die metaphysische Identität die Diffundierung, gegen die teleologischen Konvergenz die Dissemination des Sinns (Derrida) und das Wuchern der Beschreibungen (Rorty) gesetzt werden, bewegen sich diese nicht einfach im Beliebigen und Bestimmungslosen. Hermeneutisch-dekonstruktive Interpretation baut auf die minimale Kontinuität des Anschließens und Weiterführens, die über Brüche und Kehren hinweg die Verweisungen im Geflecht des Sinns herausstellt und dieses auf das weitere Bezugsfeld der Geschichte hin öffnet. Unhintergehbar bleibt die grundsätzliche Geschichtsbezogenheit einer Interpretation des sozialen Wandels, die deren sinnhafter Konstitution gerecht werden will. Es ist eine Bezogenheit, deren Bedeutung und deren Konturen im Lichte geschichtsphilosophischer Motive exemplarisch erhellt werden.

Literatur Angehrn, Emil: »Kultur zwischen Bewahrung und Veränderung. Eine hermeneutische Perspektive«, in: Stefan Deines/Daniel Martin Feige/Martin Seel (Hg.): Formen kulturellen Wandels, Bielefeld 2012, S. 87–102. – Geschichtsphilosophie, Basel 2012. – Geschichte und Identität, Berlin 1985. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1980. Deines, Stefan/Daniel Martin Feige/Martin Seel (Hg.): Formen kulturellen Wandels, Bielefeld 2012. Dilthey, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, hg. von M. Riedel, Frankfurt/M. 1970. Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 9, Frankfurt/M. 1970.

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Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. von W. Weischedel, Darmstadt 1964. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1967. Winter, Max: Hegels formale Geschichtsphilosophie, Tübingen 2015.

KOLLO QUIUM 16 Transzendentale Sprachpragmatik. Geltung und die Grenzen guter Gründe Kolloquiumsleitung: Matthias Kettner

Matthias Kettner Einleitung Boris Rähme Performative Inkonsistenz für Fallibilisten Micha Werner The Morality Club and the Moral Sceptic: A Defence of Social Constitutivism Matthias Kettner Der Raum der Gründe und die Kommunikationsgemeinschaft der Begründer

Einleitung Matthias Kettner

Innerhalb der deutschsprachigen Philosophie besetzt die maßgeblich von Karl-Otto Apel entwickelte Transzendentale Sprachpragmatik als Synthese von kantianischem Pragmatismus und Diskurstheorie eine wichtige Stelle, für die ›Diskursethik‹ und ›Letztbegründung‹ die Stichworte sind. Dass Apels philosophische Position viele weitere und in ihrer Fruchtbarkeit noch kaum ausgeschöpfte Denkmöglichkeiten enthält, wird in diesem Kolloquium an Problemen der Theorie performativer Inkonsistenzen, der Konstitutionstheorie und der Theorie der Kommunikationsgemeinschaft belegt. Boris Rähme (Fondazione Bruno Kessler, Trento, Italien), der 2010 eine interessante Kritik an Apels Deutungsversuch der Idee der Wahrheit als einer regulativen Idee vorgelegt hat, präzisiert in seinem Beitrag den Begriff der performativen Inkonsistenz. Dieser Begriff ist ein Eckstein im Programm philosophischer Letztbegründung, das zur Apelschen Transzendentalpragmatik gehört. Der Begriff spielt aber auch eine tragende Rolle in der detranszendentalisierten Form normativer Pragmatik, die Habermas in seinen philosophischen Schriften des letzten Jahrzehnts vertritt.1 Wenn man, wie Apel, den Wahrheitsbegriff durch Behauptbarkeit restringiert, kann man versuchen, Bedingungen zu identifizieren, die für die Behauptbarkeit von Aussagen, gleich welchen, notwendig erfüllt sein müssen, weil andernfalls schon der Versuch, eine Behauptung zu machen, sinnlos ist, also keine Behauptung hervorbringt. Die Verletzung sinnlogisch notwendiger performativer Präsuppositionen von Behauptungshandlungen durch den Sprecher würde dessen Behauptungsversuch performativ inkonsistent machen. Apel versucht aus einer Teilmenge solcher Behauptbarkeitsbedingungen, deren Verletzung performative Inkonsistenz auf den Plan ruft und dadurch den Behauptungsversuch scheitern lässt, den philosophischen Beweis ihrer infalliblen Wahrheit zu erbringen. Aber der Schluss vom Scheitern eines Behauptungsversuchs auf die Falschheit seines propositionalen Gehalts ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss selbst noch gerechtfertigt werden. Rähme führt die hilfreiche Differenzierung zwischen lokalen und globalen performativen Präsuppositionen von Behauptungsversuchen ein, um zwei Arten performativer Inkonsistenz zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage argumentiert er für eine fallibilistische Alternative zu Apels infallibilistischer Deutung der philosophisch-argumentativen Relevanz performativer Inkonsistenzen. Micha Werner (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald) hat in früheren Schriften wichtige Beiträge zur Weiterentwicklung der Apelschen Diskursethik erarbeitet. Im vorZum Verhältnis von Apel und Habermas in puncto Pragmatismus und zu Apels grundsätzlicher Kritik an Habermas s. die drei Aufsätze von Apel 1998, sowie Kettner »Apel, Pragmatismus und Letztbegründung«, 2009. 1

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Kolloquium 16 · Matthias Kettner

liegenden Sektionsbeitrag argumentiert er für eine sozialkonstitutivistische Deutung des spezifischen Verpflichtungssinns von moralischen Forderungen im Rahmen rational begründbarer Moralauffassungen. Da Werners Text auf Englisch vorliegt, sei der Überblick auch auf Englisch angeführt: Constitutivism aims at vindicating moral commitments by showing them to be constitutive of some X – something like agency, freedom, practical reason, rational discourse, or second-personal address. Constitutivists face three main challenges. They have to show (1) that X actually presupposes the respective moral commitments, (2) that X is non-optional and inevitable for moral agents, and (3) that X is non-optional and inevitable in the appropriate sense, namely in a sense that is compatible with the specific normativity and phenomenology of moral commitments. Monological versions of constitutivism cannot meet all three challenges combined. A more moderate and phenomenologically more adequate interpretation of the »inevitability« of moral commitments can be attained if we adopt the intersubjectivist framework of social constitutivism. Matthias Kettner (Universität Witten/Herdecke) rekonstruiert in seinem Beitrag eine zum Paradigmenkern der Transzendentalen Sprachpragmatik gehörende Annahme, nämlich Apels Behauptung, die Kommunikationsgemeinschaft sei eine apriorische Bedingung der Möglichkeit gültigen Denkens und Sprechens. Apel hat die Kommunikationsgemeinschaft unter verschiedenartigen Aspekten und mit einer zunächst verwirrenden Vielzahl von Bestimmungen charakterisiert – als »apriorisch«, »transzendental«, »dialektisch«, »ideal und real«, »virtuell unbegrenzt«; als »Gemeinschaft der Kommunikation«, »Gemeinschaft der Argumentierenden«, »Gemeinschaft der Forscher«. Dabei spielen Motive der Anknüpfung an Kant in Apels Programm einer Transformation der philosophischen Grundtheorie, der Ersten Philosophie, eine zweischneidige Rolle, denn die Anknüpfung an Kant ist in Apels Oeuvre weniger substanziell als die an Peirce bzw. an die Peircesche Rezeption (und Verwerfung) von Kants transzendentalem Idealismus.2 Die im vorliegenden Beitrag durchgeführte Rekonstruktion der theoretischen Rolle der Kommunikationsgemeinschaft erfüllt ein Desiderat sowohl des Apelschen (»transzendentalpragmatischen«) wie des Habermasschen (»formalpragmatischen«) Ansatzes: Sie führt auf einen gehaltvollen Begriff diskursiver Rationalität.

Literatur Apel, Karl-Otto: »Transzendentale Semiotik und die Paradigma der prima philosophia«, in ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011. − »Normative Begründung der »Kritischen Theorie« durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 649–700. − »Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs in transzendentalpragmatischer Siehe die Sammlung von Aufsätzen zur theoretischen Philosophie und ihrer Entwicklungslogik, die Apel 2011 veröffentlicht hat. 2

Einleitung

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Sicht«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 701–726. − »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Geltung«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 727–838. Kettner, Matthias: »Apel, Pragmatismus und Letztbegründung«, in: H. Brunkhorst/R. Kreide/C. Lafont (Hg.): Habermas-Handbuch, Stuttgart 2009, S. 26–29. Rähme, Boris: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität: Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen (Epistemische Studien, Band 18), Heusenstamm 2010. Werner, Micha H.: Diskursethik als Maximenethik: Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung, Würzburg 2003.

Performative Inkonsistenz für Fallibilisten Boris Rähme (Trento)

1. Zur transzendentalpragmatischen Deutung performativer Inkonsistenzen Wenn Karl-Otto Apel und andere Transzendentalpragmatiker recht haben, dann handelt es sich bei performativen Inkonsistenzen bzw. performativen Widersprüchen um philosophisch besonders aufschlussreiche Fälle des Misslingens von Behauptungsversuchen. Provisorisch kann die Rede von performativer Inkonsistenz folgendermaßen erläutert werden: Ein gegebener Versuch V des Sprechers S, zu behaupten, dass p, ist genau dann performativ inkonsistent (scheitert genau dann an performativer Inkonsistenz), wenn der propositionale Gehalt von V, also p, einer performativen Präsupposition von V widerspricht. Der Ausdruck »performative Präsupposition« soll signalisieren, dass die hier intendierten Präsuppositionen nicht durch den propositionalen Gehalt p ins Spiel gebracht werden und insofern auch nicht an lexikalischen Elementen oder syntaktischen Konstruktionen (presupposition triggers) abgelesen werden können, die in dem jeweils zum Ausdruck von p verwendeten Aussagesatz vorkommen. Die hier gemeinten Präsuppositionen sollen vielmehr mit dem illokutionären Teil (»ichs behaupte hiermit, dass…«) des Sprechhandlungsversuchs V einhergehen, durch dessen explizite Äußerung S zu verstehen gibt oder, sofern dies nötig werden sollte, in einer illokutionär expliziten Wiederholung seines Behauptungsversuchs zu verstehen geben kann, dass er seine Äußerung als Behauptung von p verstanden wissen will – und nicht etwa als Frage, Versprechen, Aufforderung oder Witz. Die performativen Präsuppositionen eines gegebenen Behauptungsversuchs V des Sprechers S sind diejenigen Aussagen, auf deren Anerkennung als wahr jeder – auch S – sich festlegt, der V als gelungenen Behauptungsversuch, eben als Behauptung, versteht.1 Eine performative Inkonsistenz, die als solche erkannt ist, soll Apel zufolge aber nicht allein das Scheitern des jeweils als performativ widersprüchlich identifizierten Behauptungsversuchs V anzeigen, sondern darüber hinaus ein verlässlicher Indikator dafür sein, dass das kontradiktorische Gegenteil des propositionalen Gehalts von V wahr ist. In Begriffen des Widerlegens ausgedrückt: Der Nachweis der performativen Widersprüchlichkeit von V soll den propositionalen Gehalt von V als falsch erweisen. Der Grundgedanke dieser Deutung der epistemischen Relevanz performativer Inkonsistenzen ist einfach, und Apel vertritt ihn – zwar nicht mit genau diesen Worten, aber doch der Sache nach – Ich vernachlässige die von Apel im Anschluss an Habermas eingeführte Unterscheidung zwischen Wahrheit als Gültigkeitssinn deskriptiver Aussagen und Richtigkeit als Gültigkeitssinn präskriptiver oder – genereller – normativer Aussagen. 1

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in uneingeschränkter Form. Er besagt, dass eine Aussage nur dann wahr ist, wenn kein Versuch, sie zu behaupten, zu einer performativen Inkonsistenz führt: (PI) Wenn ein Versuch, p (non-p) zu behaupten, zu einer performativen Inkonsistenz führt, dann non-p (p). Apel versieht die These (PI) mit einer sehr anspruchsvollen Interpretation. Eine Aussage, in Bezug auf deren kontradiktorisches Gegenteil nachgewiesen wird, dass ein Versuch, es zu behaupten, zu einer performativen Inkonsistenz führt, sei durch diesen Nachweis auf infallible Weise begründet, also infallibel als wahr erwiesen; und eine Aussage, für die nachgewiesen wird, dass ein Versuch, sie selbst zu behaupten, performativ widersprüchlich ist, sei durch diesen Nachweis auf infallible Weise widerlegt, also infallibel als falsch erwiesen.2 Apels Konzeption performativer Inkonsistenz lässt sich somit durch die folgenden drei Thesen charakterisieren, wobei die dritte eine spezifische (infallibilistische) Deutung der zweiten zum Ausdruck bringt: (i) Performativ inkonsistente Behauptungsversuche scheitern, bringen daher keine Behauptungshandlungen hervor. (ii) Die Feststellung, dass ein gegebener Behauptungsversuch V durch performative Inkonsistenz scheitert, erlaubt einen Rückschluss auf den Wahrheitswert des propositionalen Gehalts von V. (iii) Die Feststellung, dass ein gegebener Behauptungsversuch V durch performative Inkonsistenz scheitert, kommt einer infalliblen Widerlegung des propositionalen Gehalts von V bzw. einer infalliblen Begründung seines kontradiktorischen Gegenteils gleich. Die folgenden Überlegungen knüpfen an die Thesen (PI), (i) und (ii) an. Der in These (iii) zum Ausdruck gebrachte Infallibilitätsanspruch wird dagegen keine Rolle spielen. Gegen dessen Berechtigung sprechen starke Einwände, die hier nicht rekapituliert werden müssen.3 Mein Ausgangspunkt ist die folgende Annahme, die vermutlich unstrittig Im Wortlaut behauptet Apel, dass eine Aussage transzendentalpragmatisch letztbegründbar ist, wenn man sie »nicht ohne aktuellen [performativen, B.R.] Widerspruch bestreiten und zugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann« (Karl-Otto Apel: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 69; vgl. auch ebd., S. 11 u. S. 163–183). Ich vernachlässige das zweite Konjunkt, weil es im Kontext der Apelschen Argumentation redundant ist. Apels These scheint ja zu sein, dass transzendentalpragmatisch letztbegründbare Aussagen nicht ohne petitio principii deduktiv begründbar sind, weil sie nicht ohne performative Inkonsistenz bestreitbar sind. Anders gesagt, Apel ist auf die These festgelegt, dass es keine Aussagen gibt, für die gilt: Man kann sie nicht ohne performative Inkonsistenz bestreiten, und trotzdem können sie ohne petitio principii deduktiv begründet werden. 3 In frühen Publikationen habe ich die Idee der transzendentalpragmatischen Letztbegründung zu verteidigen versucht. Die Gründe, die mich damals dazu bewogen haben, halte ich nicht mehr für überzeugend. Kritiken des transzendentalpragmatischen Infallibilitätsanspruchs, welche einige der wichtigsten Einwände auf den Punkt bringen, finden sich in Marcel Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs, Berlin 1999, S. 18–62, und – aus anderer Perspektive – in Geert Keil: »Über den Einwand einer anderen möglichen Vernunft«, in: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung, Frankfurt/M. 2003, S. 65–82. 2

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ist: Dass ein philosophisches Argument keine infallible Begründung seiner Konklusion liefert, bedeutet nicht, dass es sich um ein schlechtes philosophisches Argument handelt. Selbst dann also, wenn der transzendentalpragmatische Infallibilitätsanspruch unhaltbar sein sollte, ist die Frage nach dem argumentativen Wert und nach der philosophischen Relevanz performativer Inkonsistenzen nicht schon vom Tisch. Ziel dieses Diskussionsbeitrags ist es, eine fallibilistische Alternative zu Apels infallibilistischer Deutung der philosophisch-argumentativen Relevanz performativer Inkonsistenzen zu skizzieren.4 Abschnitt 2 enthält einige Bemerkungen zum Zusammenhang der Thesen (i), (ii) und (PI). Abschnitt 3 führt eine Differenzierung des Begriffs der performativen Inkonsistenz ein und skizziert eine Antwort auf die Frage, welche Begründungsverpflichtungen mit der These einhergehen, ein gegebener Behauptungsversuch sei performativ widersprüchlich. In Abschnitt 4 mache ich einen Vorschlag zur Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen eine Begründung der These, dass ein gegebener Behauptungsversuch performativ inkonsistent ist, als Begründung der These gezählt werden darf, dass der propositionale Gehalt dieses Behauptungsversuchs falsch ist. Der Schlussabschnitt 5 gibt eine kurze Erläuterung des Titels dieses Diskussionsbeitrags und stellt einige Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der hier skizzierten Konzeption performativer Inkonsistenz und derjenigen Marcel Niquets heraus.5

2. Performativ inkonsistente Behauptungsversuche versus selbstwiderlegende Behauptungen Philosophen, die das Konzept der performativen Inkonsistenz verwenden, sagen manchmal, dass Aussagen, die Präsuppositionen des Behauptens widersprechen, nicht ohne performative Inkonsistenz behauptet werden können. Zuweilen findet sich bei ihnen auch die These, dass die Präsuppositionen der Praxis des Behauptens nicht ohne performativen Widerspruch bestritten werden können.6 Wenn performativ inkonsistente Behauptungsversuche scheitern – das ist These (i), die ich hier mit Apel gegen einige seiner Äußerungen zur Geltung bringen möchte – und ferner das Bestreiten einer Aussage als Behaupten ihres kontradiktorischen Gegenteils verstanden werden darf, dann sind die beiden angeführten Formulierungen in ein und derselben Hinsicht irreführend. Sie suggerieren beide, dass manche Aussagen zwar nicht ohne, durchaus aber mit performativem Selbstwiderspruch behauptet werden können. Anders gesagt: Sie suggerieren, dass Behaup-

Vieles kann hier nur in groben Zügen dargestellt werden. Für eine ausführlichere Diskussion siehe Boris Rähme: »Transcendental Arguments, Epistemically Constrained Truth, and Moral Discourse«, in: Gabriele Gava/Robert Stern (Hg.): Pragmatism, Kant, and Transcendental Philosophy, London, New York 2015, S. 259–285. 5 Niquets Buch Nichthintergehbarkeit und Diskurs ist der bislang detaillierteste Versuch, eine transzendentalpragmatische Konzeption performativer Inkonsistenzen und ihrer epistemischen Relevanz zu entwickeln. 6 Vgl. z. B. das Apel-Zitat in Fußnote 2 sowie Niquet: Nichthintergehbarkeit, S. 97. 4

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tungsversuche, die eine performative Inkonsistenz hervorbringen, ihrer performativen Widersprüchlichkeit zum Trotz als Behauptungsversuche gelingen können. Die Rede von misslingenden und gelingenden Behauptungsversuchen ist folgendermaßen intendiert: Wenn ein gegebener Versuch V des Sprechers S, zu behaupten, dass p, scheitert bzw. misslingt, dann ist (oder generiert) V keine Behauptung. Anders gesagt: Wenn V scheitert, dann ist es nicht der Fall, dass S (durch V) behauptet, dass p. Wenn V dagegen gelingt, dann ist (oder generiert) V eine Behauptung der Aussage, dass p, und die entsprechende Zuschreibung »S behauptet (durch V), dass p« ist wahr. Gemäß These (i) ist die performative Inkonsistenz eines gegebenen Behauptungsversuchs V eine hinreichende Bedingung für das Scheitern von V, also eine hinreichende Bedingung für die Falschheit einer jeden Beschreibung von V als Behauptung. In dem durch These (i) ins Spiel gebrachten generischen Sinn von »gelingen« und »misslingen« kann ein gelungener Behauptungsversuch einen falschen und ein misslungener einen wahren propositionalen Gehalt haben. Insofern sind etwaige Gründe, die für die Charakterisierung eines Behauptungsversuchs V als gescheitert sprechen mögen, jedenfalls nicht per se auch schon Gründe für die These, dass der propositionale Gehalt von V falsch ist. Aus der Diskussion über Moore-Absurditäten etwa – »ich behaupte hiermit, dass es regnet und ich nicht glaube, dass es regnet« – sind Behauptungsversuche geläufig, die mit guten Gründen als misslungen oder gescheitert angesehen werden können, deren Scheitern aber keinerlei Grund dafür liefert, die durch die entsprechenden Moore-Konjunktionen zum Ausdruck gebrachten Aussagen für falsch zu halten.7 Der Schluss vom Scheitern eines Behauptungsversuchs auf die Falschheit seines propositionalen Gehalts ist insofern keine Selbstverständlichkeit, sondern muss selbst noch gerechtfertigt werden. Wer also sowohl die These (i) als auch die These (ii) – die Feststellung einer performativen Inkonsistenz erlaubt einen Rückschluss auf den Wahrheitswert des propositionalen Gehalts des jeweils als performativ inkonsistent identifizierten Behauptungsversuchs – vertritt und These (ii) im Sinne von (PI) interpretiert, wird demnach erklären müssen, weshalb der besondere Fall des Scheiterns eines Behauptungsversuchs V an performativer Inkonsistenz als eine hinreichende Bedingung für die Falschheit des propositionalen Gehalts von V angesehen werden sollte. In Abschnitt 4 werde ich den Ansatz zu einer solchen Erklärung mit Bezug auf eine eingeschränkte Version von (PI) skizzieren. An diesem Punkt soll nur deutlich gemacht werden, dass These (i) eine prima facie naheliegende Antwort auf die Frage blockiert, weshalb (PI) als gültig anerkannt werden sollte, nämlich die Interpretation von performativ inkonsistenten Behauptungsversuchen als selbstwiderlegende Behauptungen.8

Zu Moore-Absurditäten und Moore-Paradoxien vgl. die Beiträge in Mitchell Green/John N. Williams (Hg.): Moore’s Paradox, Oxford, New York 2007. Zu der interessanten Frage, ob Moore-absurde Behauptungsversuche performativ inkonsistent sind oder es sich in ihrem Fall um eine andere Form des Scheiterns von Behauptungsversuchen handelt, hier nur so viel: Wenn Moore-absurde Behauptungsversuche performativ widersprüchlich sind, dann muss die These (PI) – jedenfalls in der oben eingeführten generellen Form – abgelehnt werden. 8 Für eine noch immer lesenswerte formale Rekonstruktion verschiedener Arten von Selbstwider7

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Ein gegebener Versuch V eines Sprechers S, p zu behaupten, ist (oder generiert) genau dann eine selbstwiderlegende Behauptung (eine Behauptungshandlung, deren Ausführung für die Falschheit ihres eigenen propositionalen Gehalts hinreicht), wenn die Konjunktion der beiden Aussagen »wenn S (durch V) behauptet, dass p, dann non-p« und »S behauptet (durch V), dass p« wahr ist und darüber hinaus gilt: Non-p, weil S (durch V) behauptet, dass p.9 Der Ausdruck »weil« ist beidseitig faktiv. Die zuletzt angeführte Bedingung für das Vorliegen einer selbstwiderlegenden Behauptung ist daher nur dann erfüllt, wenn S (durch V) behauptet, dass p. Scheitert V an performativer Inkonsistenz, dann ist – gegeben These (i) – die Zuschreibung »S behauptet (durch V), dass p« falsch. Kein performativ inkonsistenter Behauptungsversuch ist bzw. generiert eine Behauptung, a fortiori ist (generiert) kein solcher Versuch eine selbstwiderlegende Behauptung. These (i) ist insofern inkompatibel mit der Interpretation performativ widersprüchlicher Behauptungsversuche als selbstwiderlegende Behauptungen. So viel auch zur Rechtfertigung der sperrigen Redeweise von performativ inkonsistenten Behauptungsversuchen anstatt von performativ inkonsistenten Behauptungen. Wer These (i) vertritt, sollte die Verwendung des Ausdrucks »performativ inkonsistente Behauptung« vermeiden.

3. Lokale und globale performative Inkonsistenzen Performative Inkonsistenz ist eine Eigenschaft mancher Behauptungsversuche. Logische und begriffliche Inkonsistenz sind dagegen Eigenschaften mancher Mengen von Aussagen. Da Behauptungsversuche keine Mengen von Aussagen sind, können performative weder auf logische noch auf begriffliche Inkonsistenzen reduziert werden. Wenn Instanzen des Schemas (*) Der Versuch V der Sprecherin S, p zu behaupten, ist performativ inkonsistent. aber einen philosophisch-argumentativen Nutzen haben sollen, dann muss angenommen werden, dass performative Inkonsistenzen in Form von logisch-begrifflichen Inkonsistenzen explizit gemacht bzw. dargestellt werden können. Ferner kann Instanzen von (*) nur dann die Rolle von Prämissen in philosophischen Argumenten zugemutet werden, wenn hinreichend klar ist, unter welchen Bedingungen sie wahr sind und unter welchen Bedingungen sie als begründet angesehen werden dürfen. Was die Wahrheitsbedingungen von Instanzen der schematischen Aussage (*) angeht, so möchte ich die folgende Erläuterung vorschlagen: Eine gegebene Instanz von (*) ist genau dann wahr, wenn erstens der propositionale Gehalt p des jeweils in Frage stehenden Behauptungsversuchs eines Sprechers S logisch-begrifflich konsistent ist und zweitens die legung vgl. John L. Mackie: »Self-Refutation − A Formal Analysis«, in: The Philosophical Quarterly 14 (1964), S. 193–203. 9 Durch die letzte Bedingung wird z. B. die Festlegung auf die These vermieden, dass jede Behauptung mit logisch falschem propositionalen Gehalt eine selbstwiderlegende Behauptung darstellt. Logisch falsche Aussagen sind nicht falsch, weil sie von irgendjemandem behauptet werden. Daher ist keine Behauptung einer logisch falschen Aussage eine selbstwiderlegende Behauptung in dem hier gemeinten Sinn.

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Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p} logisch-begrifflich inkonsistent ist. Letzteres ist, die logisch-begriffliche Konsistenz von p vorausgesetzt, genau dann der Fall, wenn gilt: {S behauptet, dass p; p} ist logisch inkonsistent oder es gibt eine begriffliche Wahrheit w über Behauptungshandlungen derart, dass die Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p; w} logisch inkonsistent ist. Zusammen tragen diese Bedingungen dem Umstand Rechnung, dass nicht die propositionalen Gehalte von Behauptungsversuchen, sondern nur Behauptungsversuche als performativ-propositional strukturierte Sprechhandlungsversuche insgesamt performativ inkonsistent sein können. Nimmt man an, dass sich die Wahrheitsbedingungen von Instanzen des Schemas (*) auf die soeben erläuterte Weise in Begriffen logisch-begrifflicher Konsistenz und Inkonsistenz darstellen lassen, dann ergibt sich eine einfache Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen solche Instanzen als begründet angesehen werden dürfen. Sie dürfen dann als begründet angesehen werden, wenn erstens keine guten Gründe gegen die Annahme der logisch-begrifflichen Konsistenz des jeweils in Frage stehenden propositionalen Gehalts p sprechen und zweitens entweder die Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p} als logisch inkonsistent erwiesen oder eine begrifflich wahre Aussage w über Behauptungshandlungen identifiziert ist, derart, dass gilt: Die Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p; w} ist logisch inkonsistent. Der hier gegebenen Erläuterung entsprechend ist zum Beispiel der folgende Behauptungsversuch des Sprechers S performativ selbstwidersprüchlich: (1) IchS behaupte hiermit, dass ichS niemals etwas behaupte. Die Aussage, dass S niemals etwas behauptet, ist logisch-begrifflich konsistent, und die Aussagenmenge A = {S behauptet, dass S niemals etwas behauptet; S behauptet niemals etwas} ist logisch inkonsistent.10 Interessanter als (1) ist der folgende Behauptungsversuch des Sprechers S, der von vielen als paradigmatischer Fall performativer Inkonsistenz angesehen werden würde: (2) IchS behaupte hiermit, dass ichS niemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebe. Was die Interpretation von (2) angeht, so genügt in unserem Zusammenhang eine minimalistische Deutung des Ausdrucks »Wahrheitsanspruch«, die keine substantiellen wahrheitstheoretischen Annahmen erfordert. Ein Sprecher erhebt mit einer Äußerung U des propositionalen Gehalts p genau dann einen Wahrheitsanspruch, wenn gilt: Wenn non-p, dann ist U fehlerhaft bzw. inkorrekt.11 Ist (2) der gegebenen Erläuterung gemäß performativ inkonsistent, d. h. gilt die folgende Instanz von (*)? 10 Wenn (1) performativ inkonsistent ist und ferner – gemäß These (i) – gilt, dass performativ inkonsistente Behauptungsversuche scheitern, dann handelt es sich bei (1) nicht um eine selbstwiderlegende Behauptung. 11 Vgl. dazu Boris Rähme: »An Explanatory Role for the Concept of Truth«, in: Fabio Bacchini/Stefano Caputo/Massimo Dell’Utri (Hg.): New Frontiers in Truth, Newcastle upon Tyne 2014, S. 15–37.

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(**) Der Versuch (2) der Sprecherin S, zu behaupten, dass sie niemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt, ist performativ inkonsistent.12 Es gibt keinen Grund, die logisch-begriffliche Konsistenz des propositionalen Gehalts, den S in (2) zu behaupten versucht, in Frage zu stellen. Aus welchen logisch-begrifflichen Wahrheiten allein sollte folgen, dass S Wahrheitsansprüche erhebt? Die erste der beiden oben angeführten Bedingungen für das Vorliegen einer performativen Inkonsistenz darf also als erfüllt angenommen werden. Zur zweiten, disjunktiven Bedingung: Die Aussagenmenge B = {(a) S behauptet, dass S niemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt; (b) S erhebt niemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch} ist logisch konsistent. So bleibt für den Proponenten der These (**) nur noch der Versuch, für die logisch-begriffliche Inkonsistenz von B zu argumentieren, also eine begrifflich wahre Aussage w über Behauptungshandlungen zu identifizieren, derart, dass die Aussagenmenge {(a), (b), w} logisch inkonsistent ist. Hier liegt es nahe, die folgende Aussage als einen geeigneten Kandidaten für den Status einer begrifflichen Wahrheit über Behauptungshandlungen anzusehen: (WA) Für alle Sprecher u und alle Aussagen p gilt: Wenn u behauptet, dass p, dann erhebt u einen Wahrheitsanspruch für p. Wenn (WA) eine begriffliche Wahrheit zum Ausdruck bringt, dann ist (**) gemäß der oben gegebenen Erläuterung performativer Inkonsistenz wahr. Die Aussagenmenge C = {(a), (b), (WA)} ist logisch inkonsistent. Versucht ein von S verschiedener Sprecher T, diejenige Aussage zu behaupten, die S in (2) zu behaupten versucht, dann führt dies gemäß der oben gegebenen Erläuterung nicht zu einer performativen Inkonsistenz: (3) IchT behaupte hiermit, dass S niemals für eine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt.13 Nichts spricht dafür, die Aussagenmenge D = {(c) T behauptet, dass S niemals für eine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt; (b)} Der Behauptungsversuch (2) gestattet normalisierende Lesarten, welche die Intuition, dass es sich um einen verunglückten Sprechaktversuch handelt, ins Wanken bringen können. Eine Diskussion solcher Lesarten muss hier ausbleiben. Vgl. dazu Matthias Kettner: »Ansatz zu einer Taxonomie performativer Widersprüche«, in: Andreas Dorschel/Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann/Marcel Niquet (Hg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1993, S. 187–211. 13 Hier setze ich voraus, dass »ich erhebe niemals für irgendetwas einen Wahrheitsanspruch«, geäußert von S, und »S erhebt niemals für irgendetwas einen Wahrheitsanspruch«, mit Bezug auf S geäußert von T, dieselbe Aussage zum Ausdruck bringen. 12

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als begrifflich inkonsistent anzusehen, denn nichts spricht für die Annahme, dass es eine begriffliche Wahrheit w über Behauptungshandlungen gibt, derart, dass die Menge {(c) T behauptet, dass S niemals für eine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt; (b) S erhebt niemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch; w} logisch inkonsistent ist. Generell wird für alle Sprecher u ≠ S gelten: Wenn u zu behaupten versucht, dass S niemals einen Wahrheitsanspruch erhebt, dann ist dieser Behauptungsversuch performativ konsistent. Dass S manchmal Wahrheitsansprüche erhebt, ist eine performative Präsupposition des Behauptungsversuchs (2), nicht aber des Behauptungsversuchs (3). Betrachten wir dagegen den folgenden Behauptungsversuch der Sprecherin S: (4) IchS behaupte hiermit, dass niemand jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt. Vorausgesetzt, dass (WA) wahr ist, ist (4) gemäß der oben gegebenen Erläuterung performativ widersprüchlich. Die Aussagenmenge E = {(d) S behauptet, dass niemand jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt; (e) niemand erhebt jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch; (WA)} ist logisch inkonsistent. Allerdings haben wir es hier mit einer, wenn man so will, generelleren Inkonsistenz zu tun als im Fall von C, insofern die Annahme, dass es die spezifische Sprecherin S ist, die den Behauptungsversuch (4) unternimmt, für die Inkonsistenz von E nicht wesentlich ist. Auch die Aussagenmenge F = {(d) jemand behauptet, dass niemand jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch erhebt; (e) niemand erhebt jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch; (WA)} ist logisch inkonsistent. Für die logische Inkonsistenz von E ist weiterhin die Annahme unwesentlich, dass jemand die durch (e) zum Ausdruck gebrachte Aussage behauptet. Es genügt die Annahme, dass irgendjemand irgendeine Aussage behauptet. Auch G = {(f) jemand behauptet etwas; (e) niemand erhebt jemals für irgendeine Aussage einen Wahrheitsanspruch; (WA)} ist logisch inkonsistent. E ist logisch inkonsistent, weil F logisch inkonsistent ist. F ist inkonsistent, weil G inkonsistent ist. Nimmt man an, dass die durch »weil« zum Ausdruck gebrachte Erklärungsrelation transitiv ist, dann ist E inkonsistent, weil G inkonsistent ist. Wenn (WA) eine begrifflich wahre Aussage über Behauptungshandlungen zum Ausdruck bringt, dann gehört die Aussage, dass manchmal jemand einen Wahrheitsanspruch erhebt, zu den performativen Präsuppositionen eines jeden beliebigen Behauptungsversuchs. Zwar stellt die vorangegangene Diskussion einiger weniger Beispiele keine hinreichende Basis für eine vollständige Explikation des Begriffs der performativen Inkonsistenz dar, sie deutet aber zumindest in die Richtung einer plausiblen Präzisierung der eingangs gegebenen provisorischen Charakterisierung performativer Inkonsistenz in Be-

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griffen performativer Präsuppositionen von Behauptungsversuchen. Die Aussage q gehört genau dann zu den performativen Präsuppositionen des Versuchs V eines Sprechers S, zu behaupten, dass p, wenn q logisch-begrifflich aus der Annahme folgt, dass V gelingt, also aus der Aussage »S behauptet, dass p«. Letzteres ist genau dann der Fall, wenn q entweder logisch aus »S behauptet, dass p« folgt oder es eine begriffliche Wahrheit w gibt, derart, dass q logisch aus {S behauptet, dass p; w} folgt.14 Zu den performativen Präsuppositionen von V gehören dann zum einen alle Aussagen, die logisch-begrifflich aus »jemand behauptet etwas« folgen. Denn alles, was daraus folgt, folgt auch aus »S behauptet, dass p«. Zum anderen gehören dazu alle Aussagen, die zwar logisch-begrifflich aus »S behauptet, dass p«, nicht aber aus »jemand behauptet etwas« folgen. Innerhalb der so verstandenen performativen Präsuppositionen von Behauptungsversuchen lassen sich also zwei Gruppen unterscheiden. Nennen wir Aussagen, die logisch-begrifflich aus »S behauptet, dass p«, nicht aber aus »jemand behauptet etwas« folgen, lokale performative Präsuppositionen des Behauptungsversuchs V; und nennen wir Aussagen, die logischbegrifflich aus »S behauptet, dass p« folgen, weil sie bereits aus »jemand behauptet etwas« folgen, globale performative Präsuppositionen des Behauptungsversuchs V. Mit Hilfe dieser Differenzierung zwischen lokalen und globalen performativen Präsuppositionen von Behauptungsversuchen lassen sich zwei Arten performativer Inkonsistenz unterscheiden. Ein gegebener Behauptungsversuch V eines Sprechers S, p zu behaupten, ist genau dann lokal performativ inkonsistent, wenn p mit wenigstens einer lokalen Präsupposition von V logisch-begrifflich inkonsistent ist – das heißt, genau dann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Die Aussagenmenge {jemand behauptet etwas; p} ist logisch-begrifflich konsistent, und entweder ist die Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p} logisch inkonsistent oder es gibt eine begriffliche Wahrheit w über Behauptungshandlungen, derart, dass die Aussagenmenge {S behauptet, dass p; p; w} logisch inkonsistent ist. V ist dagegen global performativ inkonsistent genau dann, wenn p mit wenigstens einer globalen performativen Präsupposition von V logisch-begrifflich inkonsistent ist – also genau dann, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Die Aussage p ist logischbegrifflich konsistent, und entweder ist die Aussagenmenge {jemand behauptet etwas; p} logisch inkonsistent oder es gibt eine begriffliche Wahrheit w über Behauptungshandlun14 Wenn man die These akzeptiert, dass jede beliebige logische Wahrheit aus jeder beliebigen Aussage logisch (daher a fortiori logisch-begrifflich) folgt, dann ergibt sich aus dieser Erläuterung das Problem, dass jede logische Wahrheit zu den performativen Präsuppositionen eines jeden Behauptungsversuchs gezählt werden muss – und dies scheint den Begriff der performativen Präsupposition zu überladen. Man könnte zwar meinen, dass das kein großes Problem darstellt, da eine Aussage q zu den performativen Präsuppositionen eines Behauptungsversuchs des Sprechers S gehören kann, ohne dass S dies weiß oder auch nur jemals den Gedanken gefasst hat, dass q. Letztlich ergibt sich im vorliegenden Diskussionskontext aber doch ein Problem. Zusammen mit der These, dass performativ inkonsistente Behauptungsversuche misslingen, also keine Behauptungen sind (hervorbringen), ergibt sich aus der vorgeschlagenen Erläuterung die Folgefestlegung, dass jeder Behauptungsversuch, dessen propositionaler Gehalt sich als Negation einer logischen Wahrheit darstellen lässt, als Behauptungsversuch scheitert – und es ist nicht klar, weshalb das so sein sollte. Dieses Problem ließe sich zum Beispiel dadurch lösen, dass man dem oben zur Explikation des Begriffs der performativen Inkonsistenz verwendeten Konzept der logischen Folge eine relevanzlogische Deutung verleiht. Darauf kann ich hier nur hinweisen.

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gen, derart, dass die Aussagenmenge {jemand behauptet etwas; p; w} logisch inkonsistent ist. Die Behauptungsversuche (1) und (2) sind lokal performativ inkonsistent, (4) ist global performativ inkonsistent und (3) ist weder das eine noch das andere.

4. Performative Inkonsistenz und (begründete) Behauptbarkeit Trennt man das Konzept der performativen Inkonsistenz von Apels These, dass Nachweise performativer Widersprüche infallible Begründungen bzw. Widerlegungen liefern, dann kann eine Reihe problematischer Folgefestlegungen vermieden werden, die sich für die Transzendentalpragmatik mehr oder weniger direkt aus ihrem Letztbegründungsbzw. Infallibilitätsanspruch ergeben. Dies gilt etwa für die Thesen, dass performative Inkonsistenzen unter bestimmten kognitiven Bedingungen in einem epistemisch relevanten Sinn selbstindizierend sind oder, wie Apel es ausdrückt, sich durch »reflexive Evidenz«15 auszeichnen; dass man eine besondere kognitive Einstellung – diejenige der »strikten Reflexion«16 – einnehmen muss, um der Selbstindikation performativer Inkonsistenzen gewahr werden und diesen Inkonsistenzen die ihnen gebührende epistemische Relevanz beimessen zu können; dass man Aussagen, für deren kontradiktorische Gegenteile gilt, dass der Versuch, sie zu behaupten, performativ inkonsistent wäre, nicht verstehen kann, ohne zu wissen, dass sie wahr sind. Insbesondere kann dann aber auch die Festlegung auf die These vermieden werden, dass reflexive, mit dem Verweis auf performative Widersprüche arbeitende Argumente (im Folgenden: PI-Argumente) nicht-inferentielle Argumente sind – Argumente, in Bezug auf die sich die Frage nach dem epistemischen Status ihrer Prämissen erübrigt, da sie keine Prämissen haben.17 Dagegen möchte ich hier vorschlagen, PI-Argumente als deduktive (a fortiori als inferentielle) Argumente aufzufassen, in denen eine Instanz (**) der folgenden – gleich noch zu präzisierenden – schematischen Aussage (*) Der Versuch V des Sprechers S, p zu behaupten, ist performativ inkonsistent. als Prämisse (neben anderen) verwendet wird, um auf das kontradiktorische Gegenteil derjenigen Aussage zu schließen, die durch den in (**) jeweils für »p« eingesetzten Aussagesatz zum Ausdruck gebracht wird. Diese Deutung hat den Vorteil, dass sie es erlaubt, der Frage, unter welchen Bedingungen es sich bei einem PI-Argument um ein gutes Argument handelt, einen klaren Sinn zu geben: Nehmen wir an, eine gegebene Instanz (**) von (*) sei gemäß der in Abschnitt 3 skizzierten Erläuterung begründet – welche zusätzlichen Prämissen müssten dann ins Spiel gebracht und epistemisch gerechtfertigt werden, um den Schluss von (**) auf die Negation der jeweils in Frage stehenden Aussage p zu legitimieren? Apel: Auseinandersetzungen, S. 171. Wolfgang Kuhlmann: Unhintergehbarkeit: Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2010, S. 36–43. 17 Alle angeführten Thesen finden sich in gedrängter Form beispielsweise in Apel: Auseinandersetzungen, S. 164 f. 15 16

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Um diese Frage zu beantworten, muss ich zunächst noch einmal auf die in Abschnitt 1 eingeführte These (PI) zurückkommen, welche die Grundintuition von PI-Argumenten zum Ausdruck bringt: (PI) Wenn ein Versuch, die Aussage p (non-p) zu behaupten, zu einer performativen Inkonsistenz führt, dann non-p (p). Im Licht von These (i) betrachtet, erweist sich (PI) als eine Variante der Annahme, dass Behauptbarkeit eine notwendige Bedingung für Wahrheit darstellt. Letztere These wiederum folgt aus einem aus der Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen wohlbekannten Theoriestück, das auch von Apel – im Rahmen seiner Konsenstheorie der Wahrheit – vertreten wird und das ich hier »epistemisches Regulativ« nennen möchte: (ER) Begründete Behauptbarkeit ist eine notwendige Bedingung für Wahrheit.18 Wenn begründete Behauptbarkeit eine notwendige Bedingung für Wahrheit darstellt, dann ist allemal auch Behauptbarkeit tout court eine solche. Wer (ER) anerkennt, legt sich also auch auf die Anerkennung der folgenden, schwächeren These fest, die ich hier als »assertorisches Regulativ« bezeichnen will: (AR) Behauptbarkeit ist eine notwendige Bedingung für Wahrheit. Dies ist der Punkt, an dem Apels Konsenstheorie der Wahrheit und seine Konzeption performativer Inkonsistenz ineinandergreifen. Allerdings handelt es sich bei (AR) und (ER) um massive und äußerst problematische philosophische Thesen. Gegen (AR) – und damit gegen (ER) – spricht ein ebenso einfacher wie hartnäckiger Einwand, der sich den von allen an der Diskussion beteiligten Seiten zugestandenen Umstand zu Nutze macht, dass manche wahren Aussagen de facto niemals von irgendjemandem behauptet werden. Die Annahme, dass eine durch eine Konjunktion der Form »p, und es wird niemals von irgendjemandem behauptet, dass p« zum Ausdruck gebrachte Aussage sowohl wahr ist als auch von jemandem behauptet wird, ist inkonsistent. Da aber kaum ernsthaft in Frage gestellt werden kann, dass manche Konjunktionen der genannten Form wahre Aussagen zum Ausdruck bringen, muss (AR) abgelehnt werden. Behauptbarkeit ist keine notwendige Bedingung für Wahrheit – jedenfalls nicht immer und nicht überall.19 Ohne diesen Einwand hier weiter darlegen und diskutieren zu können, will ich nur darauf hinweisen, dass er zwar jeden Versuch blockiert, (PI) im Rekurs auf die generellen

18 Crispin Wright hat für Thesen dieser Art den Ausdruck »epistemic constraint« geprägt (vgl. Truth and Objectivity, Cambridge MA 1993, S. 41). Aus rein stilistischen Gründen ziehe ich die Übersetzung »epistemisches Regulativ« der wörtlichen Übersetzung »epistemische Einschränkung« vor. 19 Dasselbe gilt a fortiori für begründete Behauptbarkeit. Der angedeutete Einwand gegen (AR) und (ER) geht auf Alonzo Church und Frederic Fitch zurück und ist – mit einiger Verzögerung – zu einem der hauptsächlichen Antriebsmomente der Kritik an epistemischen Wahrheitskonzeptionen avanciert. Vgl. Frederic B. Fitch: »A Logical Analysis of Some Value Concepts«, in: Journal of Symbolic Logic 28 (1963), S. 135–142; Joe Salerno: »Knowability Noir: 1945–1963«, in: ders. (Hg.): New Essays on the Knowability Paradox, Oxford, New York 2009, S. 29–48; Wolfgang Künne: Conceptions of Truth, Oxford 2003, Kap. 7; Rähme: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität, Kap. V.

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wahrheitstheoretischen Thesen (ER) oder (AR) zu begründen, aber mit eingeschränkten Versionen dieser Thesen, die sich auf die Aussagen spezifischer Diskursbereiche beziehen, ebenso kompatibel ist wie mit sehr vielen ihrer spezifischen Instanzen.20 Im vorliegenden Zusammenhang kommt es nun auf die folgende Überlegung an: Die performative Inkonsistenz eines gegebenen Behauptungsversuchs V kann nur dann auf legitime Weise als Indikator der Falschheit des propositionalen Gehalts p von V behandelt werden, wenn eine unabhängige Begründung für die These zur Verfügung steht, dass die Behauptbarkeit von p eine notwendige Bedingung für die Wahrheit von p darstellt. Der oben skizzierte Einwand gegen (AR) macht deutlich, dass Proponenten von PI-Argumenten sich nicht einfach auf einen generellen Zusammenhang zwischen Wahrheit und performativer Konsistenz berufen können, etwa indem sie die Konjunktion von These (i) und (AR) als gültig voraussetzen. Es muss vielmehr von Mal zu Mal nachgewiesen werden, dass dieser Zusammenhang im Fall der jeweils in Frage stehenden Aussage besteht. Wie die Diskussion in den Abschnitten 2 und 3 gezeigt hat, erlaubt die Feststellung, dass ein gegebener Versuch V des Sprechers S, zu behaupten, dass p, eine lokale performative Inkonsistenz hervorbringt, für sich genommen keinen Rückschluss auf den Wahrheitswert von p – jedenfalls dann nicht, wenn These (i) anerkannt wird. Im Gegensatz zu einer Feststellung der globalen Inkonsistenz von V liefert sie darüber hinaus keinen guten Grund für die These, dass die Aussage p generell unbehauptbar ist, also von niemandem behauptet werden kann, da jeder derartige Versuch performativ inkonsistent wäre. Selbst dann also, wenn in Bezug auf eine gegebene Aussage p nachgewiesen werden kann, dass die Behauptbarkeit von p eine notwendige Bedingung der Wahrheit von p darstellt, dürfte von der Feststellung der lokalen performativen Inkonsistenz eines gegebenen Versuchs des Sprechers S, p zu behaupten, nicht auf die Falschheit von p geschlossen werden. Die These (PI) ist allenfalls im Blick auf globale performative Inkonsistenzen plausibel: (PIglobal) Wenn ein Versuch, die Aussage p (non-p) zu behaupten, zu einer globalen performativen Inkonsistenz führt, dann non-p (p). Zurück zu der eingangs gestellten Frage: Welche zusätzlichen Prämissen müssen ins Spiel gebracht und epistemisch gerechtfertigt werden, um den Schluss von der Feststellung der globalen performativen Inkonsistenz eines gegebenen Behauptungsversuchs V auf das kontradiktorische Gegenteil des propositionalen Gehalts von V zu legitimieren? Meine tentative Antwort lässt sich jetzt so zusammenfassen: Wenn in Bezug auf eine gegebene Aussage p die These gerechtfertigt werden kann, dass die Behauptbarkeit von p eine notwendige Bedingung der Wahrheit von p darstellt, und ferner angenommen werden darf, dass die globale performative Inkonsistenz eines Versuchs, die Aussage p zu behaupten, eine hinreichende Bedingung dafür darstellt, dass die Aussage p nicht behauptbar (unbeEin Diskursbereich, für dessen Aussagen die These, dass Behauptbarkeit eine notwendige Bedingung für Wahrheit darstellt, prima facie plausibel erscheint, ist derjenige der Moral – vorausgesetzt, man sieht moralische Aussagen als wahrheitsfähig an. Vgl. dazu Boris Rähme: »Transcendental Arguments, Epistemically Constrained Truth, and Moral Discourse«. 20

Performative Inkonsistenz für Fallibilisten

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hauptbar) ist, dann darf von der globalen performativen Inkonsistenz einer versuchten Behauptung der Aussage p auf die Falschheit von p geschlossen werden: 1

(1)

Der Versuch V des Sprechers S, die Aussage, dass p, zu behaupten, ist global performativ inkonsistent.

Prämisse

2

(2)

Wenn ein Versuch, die Aussage, dass p, zu behaupten, global performativ inkonsistent ist, dann ist die Aussage, dass p, nicht behauptbar.

Prämisse

3

(3)

Wenn p, dann ist die Aussage, dass p, behauptbar.

Prämisse

1, 2

(4)

Die Aussage, dass p, ist nicht behauptbar.

aus (1) und (2)

1, 2, 3

(5)

Non-p.

aus (3) und (4)

5. Schluss Die These, dass es sich bei der hier vorgeschlagenen um eine fallibilistische Deutung der philosophisch-argumentativen Relevanz performativer Inkonsistenzen und der Struktur von PI-Argumenten handelt, bedarf nur einer kurzen Erläuterung. Behauptete Nachweise performativer Selbstwidersprüche, die sich für die Begründung substantieller philosophischer Thesen eignen sollen, sind darauf angewiesen, für bestimmte Aussagen den Status begrifflicher Wahrheiten über die sprachliche Praxis des Behauptens zu beanspruchen. Auf den Ausdruck »begriffliche Wahrheit« kommt hier allerdings wenig an. Wer ihn nicht mag, kann ihn zum Beispiel durch »Aussage, welche einen Teil unseres sprachlich-kommunikativen Wissens-Wie in Bezug auf Behauptungshandlungen zum Ausdruck bringt« ersetzen. Und wer letzteren Ausdruck nicht mag, kann an seiner Stelle »wahre Aussage über die Praxis des Behauptens« wählen. Welche Terminologie auch bevorzugt wird, Ansprüche des genannten Typs können sich letztlich nur auf theoretische Explikationen des Begriffs der Behauptung bzw. auf theoretische Rekonstruktionen des für die Praxis des Behauptens relevanten Handlungswissens kompetenter Sprecher stützen. Hier besteht breiter Spielraum für epistemisch rationale Dissense. Wo immer solcher Spielraum besteht, haben wir es mit falliblen Diskursen zu tun.21 Wenn ich richtig sehe, dann entspricht die in Abschnitt 3 vorgeschlagene Unterscheidung zwischen globalen und lokalen performativen Inkonsistenzen von Behauptungsversuchen extensional der von Marcel Niquet (mit schwerem begrifflichen Gerät) eingeführten Differenzierung zwischen »strikt-performativen« und »pragmatisch performativen« Selbstwidersprüchen.22 Die Begründungsverpflichtungen, die gemäß Abschnitt 3 mit der Vgl. z. B. die Beiträge in Jessica Brown/Herman Cappelen (Hg.): Assertion. New Philosophical Essays, Oxford 2011; Keil: »Über den Einwand einer anderen möglichen Vernunft«; Rähme: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität, Kap. II. 22 Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs, S. 87 u. 94. 21

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These einhergehen, ein gegebener Behauptungsversuch sei global performativ inkonsistent, scheinen sich ferner mehr oder weniger mit dem zu decken, was Niquet unter dem Titel der »Evidenz-Universalisierung« von einem Nachweis der strikt-performativen Selbstwidersprüchlichkeit eines gegebenen Behauptungsversuchs verlangt.23 Wichtiger als diese Gemeinsamkeiten sind aber die Unterschiede zwischen dem hier zur Diskussion Gestellten und der Konzeption Niquets. So vertritt Niquet zum Beispiel die These, dass eine Aussage, deren versuchte Behauptung zu einer »strikt-performativen« Inkonsistenz führt, keinen Wahrheitswert hat. Träfe das zu, dann wäre die hier vorgeschlagene Deutung von PI-Argumenten offenbar verfehlt, denn diese hängt wesentlich von der Annahme ab, dass die Feststellung der globalen performativen Inkonsistenz eines Behauptungsversuchs V unter den in Abschnitt 4 skizzierten Bedingungen einen zuverlässigen Hinweis auf die Falschheit des propositionalen Gehalts von V liefert. Niquets These ist aber selbst dann, wenn man sie aus der internen Perspektive seines Theorieentwurfs einer »Revisionären Transzendentalpragmatik« betrachtet, wenig plausibel, da er ebenfalls behauptet, dass das kontradiktorische Gegenteil einer Aussage, deren versuchte Behauptung zu einer »strikt-performativen« Inkonsistenz führt, wahr ist – ja sogar »notwendig wahr«.24 In welchem nachvollziehbaren Sinn von »Negation« könnte die Negation eines Satzes, der eine notwendig wahre Aussage ausdrückt, einen Satz hervorbringen, der eine Aussage ausdrückt, die »keinen Wahrheitswert besitzt«?25 Ein weiterer Unterschied betrifft die Interpretation lokal bzw. »performativ-pragmatisch« inkonsistenter Behauptungsversuche. Niquet deutet sie als selbstwiderlegende Behauptungen in dem in Abschnitt 2 dargelegten Sinn: »Ein performativ-pragmatischer Widerspruch liegt dann vor, wenn der empirische Vollzug einer Redehandlung durch einen Sprecher den (behaupteten) propositionalen Gehalt der Äußerung empirisch falsifiziert.«26 Wenn die naheliegende Annahme zutrifft, dass der Ausdruck »falsifizieren« hier so viel bedeuten soll wie »falsch machen«, dann legt sich Niquet mit dieser Erläuterung darauf fest, These (i) in Bezug auf lokale performative Inkonsistenzen bzw. performativ-pragmatische Widersprüche abzulehnen, also zu bestreiten, dass performativ widersprüchliche Behauptungsversuche scheitern. Ob Niquet letztlich auch globale performative Inkonsistenzen als selbstwiderlegende Behauptungen versteht, das wird in seinen Ausführungen nicht ganz deutlich. Einerseits wird diese Deutung durch manche Stellen nahegelegt,27 andererseits passt sie wiederum schlecht zu Niquets These, dass die propositionalen Gehalte globaler bzw. »strikter« performativer Inkonsistenzen keinen Wahrheitswert haben. Zum Schluss dieser Skizze möchte ich einen Punkt betonen, der vielleicht nicht hinreichend deutlich geworden ist: Die Annahmen, für die – wenn die hier vorgetragenen Überlegungen zutreffen – argumentiert werden muss, um ein gutes PI-Argument zustande zu bringen, finden sich sämtlich implizit oder explizit bei Apel. Genauer gesagt: 23 24 25 26 27

Ebd., S. 89, passim. Zu Niquets Konzeption der Evidenz-Universalisierung vgl. ebd., S. 87–108. Ebd. S. 15, 78 u. 109. Ebd., S. 109 (kursiv im Orig.). Ebd., S. 87. Vgl. z. B. ebd., S. 86 f.

Performative Inkonsistenz für Fallibilisten

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Apel vertritt jeweils anspruchsvollere Thesen, aus denen die schwächeren Annahmen, die ich verwendet habe, logisch folgen. In dem so qualifizierten Sinn kann die hier vorgetragene Skizze als ein Versuch gelesen werden, an Apels Konzeption performativer Inkonsistenz anzuknüpfen – wenn auch auf eine Weise, die einer Reihe von zentralen Thesen, die Apel mit dieser Konzeption verknüpft, gegen den Strich geht.

Literatur Apel, Karl-Otto: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998. Brown, Jessica/Herman Cappelen (Hg.): Assertion: New Philosophical Essays, Oxford 2011. Fitch, Frederic B.: »A Logical Analysis of Some Value Concepts«, in: Journal of Symbolic Logic 28 (1963), S. 135–142. Green, Mitchell/John N. Williams (Hg.): Moore’s Paradox. New Essays on Belief, Rationality, and the First Person, Oxford, New York 2007. Keil, Geert: »Über den Einwand einer anderen möglichen Vernunft«, in: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 2003, S. 65–82. Kettner, Matthias: »Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche«, in: Andreas Dorschel/Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann/Marcel Niquet (Hg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1993, S. 187–211. Kuhlmann, Wolfgang: Unhintergehbarkeit: Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2010. Künne, Wolfgang: Conceptions of Truth, Oxford 2003. Mackie, John L.: »Self-Refutation − A Formal Analysis«, in: The Philosophical Quarterly 14 (1964), S. 193–203. Niquet, Marcel: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegomena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen, Berlin 1999. Rähme, Boris: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität: Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen (Epistemische Studien, Band 18, hg. v. Michael Esfeld, Stephan Hartmann u. Albert Newen), Heusenstamm 2010. – »An Explanatory Role for the Concept of Truth«, in: Fabio Bacchini/Stefano Caputo/Massimo Dell’Utri (Hg.): New Frontiers in Truth, Newcastle upon Tyne 2014, S. 15–37. – »Transcendental Arguments, Epistemically Constrained Truth, and Moral Discourse«, in: Gabriele Gava/Robert Stern (Hg.): Pragmatism, Kant, and Transcendental Philosophy, London, New York 2015, S. 259–285. Salerno, Joe: »Knowability Noir: 1945–1963«, in: ders. (Hg.): New Essays on the Knowability Paradox, Oxford, New York 2009, S. 29–48. Wright, Crispin: Truth and Objectivity, Cambridge MA 1993.

The Morality Club and the Moral Sceptic: A Defence of Social Constitutivism Micha Werner (Greifswald)

I. Introduction Some philosophers, among them Karl-Otto Apel, try to develop arguments that would force any moral sceptic to subscribe to certain moral principles. According to these philosophers, vindicating morality means proving that its binding force is inevitable for everyone; and from this premise they infer that morality would lose its point if we could not provide all sceptics with compelling reasons to make moral commitments. Since we need a short label for these philosophers, and because I do not know of a less misleading one, let us call these philosophers foundationalists. Other philosophers claim that it is not only impossible but also unnecessary to convince all kinds of sceptics. In their view, practical philosophers should rather refer to the more or less contingent forms of normativity that are built into our social practices, traditions, and institutions. According to them, we need to argue from inside our moral practices, mainly using hermeneutical and reconstructive methods, and tapping into the critical potential already built into our existing ethos. Let us call the latter group reconstructivists. How should the debate between foundationalists and reconstructivists be resolved? In some way, reconstructivists are right. At least of a certain type of moral sceptics it is true that we neither can nor need to convince them. We just need to point out to them that there is something that they have to subscribe to as soon as they make moral claims on others.1 Hence, reconstructivists are also right in stating that we should argue from inside, not from outside, our moral practices – or rather, we should say, from inside our common practice of moral reasoning. However, the so-called foundationalists are also right in some way. They are right in claiming that vindicating morality means showing that its prescriptions are binding for any moral agent. These statements seem puzzling at first, at least in combination. Trying to clarify and reconcile them shall pave the way for a position we may call social constitutivism. The first move can be made together with the reconstructivists. It aims at showing that we neither can nor need to convert certain moral sceptics. It only seems to us that we have to, if we The relevant charactaristic of a »moral« claim, in this context, is that it asks for recognition even where such recognition is not in the addressee’s pre-moral interest – the presumed authority of a moral claim goes beyond that of a mere counsel of prudence; cf. Darwall’s use of Hobbes’ distinction between command and counsel in: Stephen L. Darwall: The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability, Cambridge, Mass.; London 2006; Stephen L. Darwall: Morality, Authority, and Law: Essays in Second-Personal Ethics I, Oxford 2013; Stephen L. Darwall: Honor, History, and Relationship: Essays in Second-Personal Ethics II, Oxford 2013. 1

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ask the basic question of moral justification from the monological perspective of a deliberating first person. However, the crucial question is not whether some agent, from her pre-moral and egocentric point of view, has good reasons to engage in the game of moral reasoning. The crucial question is whether, as long as she does not, she could defend her position against those who do, or whether they have good reasons to criticise her, and maybe even to sanction her, for some behaviour they deem immoral. Hence it suffices to ask what a moral sceptic – like any other agent – needs to accept if she addresses moral claims to others. The second move will bring us closer to the foundationalists again. To articulate the basic question of ethics in the way just described allows for a certain kind of constitutivism. This kind of constitutivism, which we may call social constitutivism, does not start from the pre-moral perspective of a solitary agent. Rather, it starts from the perspective of someone who already tries to construct a deliberative standpoint that she could share with others. Finally, we will briefly consider some implications for the project of normative ethics.

II. Practical moral scepticism and the basic question of ethics Why should we stop trying to convince certain moral sceptics? Firstly, because we cannot convince them anyway. Secondly, because we do not need to. To begin with, it seems uncertain whether it is possible for any person to be a moral sceptic, at least over a longer period of time. However, if members of a certain species of moral scepticism – Sinnott-Armstrong2 calls them practical moral sceptics – would actually exist, it would be impossible to provide them with reasons for morality. This is because these sceptics are not just unaware of a certain dimension of normativity – in this case, it would suffice to open their eyes, or make them look into the right direction. Rather, practical moral sceptics are agents who are able to capture the meaning of moral claims, but fail to see why these claims should have any binding force for them, why they should be moved by them. Of course, we could try to convince a practical moral sceptic that it would be advantageous for her to follow, or to poblicly avow commitment to, certain rules which, due to their content, we might call »moral«. In many cases, this might indeed be an advisable strategy. However, as Kant or Prichard may remind us, even if we would succeed, the moral sceptic would still be a moral sceptic, since the respective rules would have no moral meaning for her. Her reasons for following them would be egoistic and instrumental, not moral. If this is true, we cannot convince practical moral sceptics. However, why do some philosophers think we should? Probably, it is because they look at morality from the monological perspective of a deliberating first person. Hence they ask: »Assume that I do not yet care about the concerns, the well-being, the interests, practical claims, moral arguments or evaluations of others. Which argument could then convince me to take moral reasons seriously?«

2

Walter Sinnott-Armstrong: Moral Skepticisms, Oxford 2006, p. 13.

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However, this way of putting the basic question leads to an insolvable problem: Reasons for morality must be reasons of the right kind, but the reasons of a true practical moral sceptic – of someone completely unmoved by the concerns other beings – can never be reasons of the right kind. If we approach moral bindingness from the perspective of a solitary individual who is not yet responsive to moral reasons, the resulting moral theory will be either scepticism, or a moral theory that gives the wrong kind of reasons for morality, or that includes an unwarranted step from non-moral to moral claims, or that includes a combination of such flaws. If we ask: »If I would not already subscribe to morality, what could give me a reason to do so?« the only possible answer will probably be: »Well, nothing«. However, this might just show that we should put the question differently. We should rather ask: »What do I have to acknowledge, if I complain against how others treat me, if I criticise or justify some agent’s behaviour, if I endorse feelings like guilt or resentment, etc.?« At first glance, this reformulation of the basic question of moral philosophy seems an obvious non-starter. Consider: Why do philosophers try to defend morality against sceptical doubts? Probably because it is questionable whether we can ever be warranted at all in criticising or justifying actions, or in responding to them with feelings like guilt or resentment, etc. The desire for justification arises because we are sometimes uncertain whether we should continue to engage in these practices at all – it is the sceptic in ourselves we want to silence. However, if the point is just that we are uncertain whether φ-ing is legitimate and whether we should continue to φ, it does not seem helpful to ask »what do I need to accept if I φ?« If a convicted member of Cosa Nostra wonders whether he should break the rules of omertà and cooperate with the investigators, it may not help to say: »Well, if you are a member of Cosa Nostra, you must respect the omertà«. Chances are that the convict already knows that breaking the omertà also means breaking with Cosa Nostra. He may be prepared to do both. Still, I think that the suggested reformulation of the basic question is actually sound. Let us first consider two preliminary points. (1) It seems sound to assume that it is at least possible to look at practical issues from a shared deliberative perspective. It is certainly possible for us to strive for impartiality in our practical judgements.3 We can at least try to take the concerns of others equally important as our own. We are able to assign to others the same deliberative authority that we claim for ourselves. We do sometimes say to someone else: »I am about to do this or that, but you would be affected by my decision, so let us deliberate together about the best thing to do!« Deliberating together, we are able to take the practical concerns of others just as serious as our own – at least we are able to try to do so. (2) It is plausible for us to assume that someone who does not at least try to take a shared deliberative standpoint cannot justify her actions to others. A moral sceptic cannot justify her actions to anyone else, at least not in a full sense. Obviously, this is not yet to say that the sceptic ought to justify her actions to us. It just means that she does not play Thomas Nagel: The Possibility of Altruism, Oxford 1970; Thomas Nagel: The View from Nowhere, New York u. a.1986. 3

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the language game wherein it is possible to justify her conduct to others, and that she therefore cannot justify it, just as someone who does not participate in a game of chess cannot check an opponent’s king. At least, she cannot justify her conduct in the full and unrestricted sense that is accessible to those who participate in the moral language game. Of course, the sceptic may convince us that her behaviour was instrumentally rational with regard to certain arbitrary goals she happened to have. She may also convince us that it was in some sense advantageous for herself or even prudent in some restricted, pre-moral sense. However, in itself this would not be a sufficient reason for us to fully endorse her behaviour from our point of view – regardless of whether we are also sceptics or not. As long as we do not, for some contingent reason, happen to identify with all of her concerns, nothing she could say could reasonably invite us to share her perspective. Of course, she could try to appeal to our egoism, by providing some sort of incentive. However, this would not serve to constitute a shared standpoint from which to consider practical matters. The sceptic cannot unite with us on one common practical standpoint, she cannot share with us a perspective in which we could endorse one another’s conduct as a whole, and not only with respect to certain aspects, like the instrumental rationality it incorporates. This is an important point, so let me try to express it in a different way once again: It is a conceptual truth about human action that human action can fail or succeed or be right or wrong in different regards and hence is open to critical judgement. This holds true for the actions of moral sceptics as well. Sometimes a sceptic will have to acknowledge that she misinterpreted a situation or that she did not choose the right means to her ends. Regarding such aspects of her action, even the moral sceptic will probably acknowledge the authority of others to make critical judgements about her own actions. However, as a moral sceptic, she will have to claim that the authority of others to criticise her actions is limited to empirical assumptions and matters of efficiency only. Her final goals, she will claim, cannot be the subject of other people’s criticism, either because final goals cannot be rationally criticised at all, or because, concerning her own final goals, her own authority is the only authority that counts. Now, putting aside the question whether one can consistently defend (at least one of) these positions, it is clear that in both cases the moral sceptic could neither justify her ultimate choices to others nor learn something about these choices from them. For example, would she seriously ask others for advice about which of Kant’s two alternative basic maxims she should adopt, the maxim of self-love or the maxim of morality,4 she would have to assume that the judgements of her addressees about her own ultimate choices, ends, or maxims do actually count. She would thereby implicity acknowledge their moral authority. This, however, would mean that she would not be a moral sceptic any more. In fact, she would have already made a decision against self-love as her maxim, that is, as the ultimate principle of her conduct. Since insofar as she gives others a stake in her choice of her allegedly ultimate principle, her actual ultimate principle is in fact to act in accordance with principles that withstand intersubjective Immanuel Kant, »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, in Werke: Akademie Textausgabe, Bd. 6 (Walter de Gruyter, 1968), p. 1–202. 4

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criticism. This principle is different from and inconsistent with the maxim of self-love; it is rather, I think, another formulation of the maxim of morality. Hence, the sceptic cannot fully justify her conduct to others as long as she remains a sceptic. However, whether a moral sceptic can fully justify her actions or not does not seem very important to those who (like probably most moral philosophers) do not consider themselves moral sceptics but rather try to defend some version of normative ethics. They are rather interested in the following question: Does the moral sceptic somehow challenge the authority of morality? There are two aspects to consider here. First, can the sceptic challenge the authority of morality for those who are not moral sceptics? To me it seems obvious that she cannot. In fact, she cannot even address us with provocative recommendations such as »stop your silly morality game, it is irrational!«, since by doing so she would have to presuppose that there is a moral duty to be rational. One might reply that it is unjustified to call the duty to act rationally a moral duty. But however we may choose to call it, it needs to be an overriding and categorical duty, if the sceptic’s intervention is to threaten morality; and this kind of duty is precisely the kind of duty the possibility of which a sceptic needs to deny in order to challenge morality. If sceptics could not even challenge moral obligations by claiming that they are irrational or that there is no reason to act on them, sceptics will certainly not succeed with any other, more substantial objections, since all such objections will already depend on an obligation to act rationally. Yet before we conclude that the sceptic does not seriously threaten morality we will have to consider a second question: Do moral norms apply to the sceptic? If they do not, the moral sceptic would indeed threaten morality. Let us think of the situation like this: There are two parties. Let us call one party the »morality club«. The other party is that of the moral sceptics. Moral prescriptions can only be justified »from within« the morality club. So how could it be legitimate to apply them to the sceptics? Let us first consider what the »morality club« is. It is not a closed community with limited membership. Rather, we are all members insofar as we try to deliberate and judge from an impartial standpoint that could be shared by any agent. In fact, most of us are probably only temporary members, since, to put it in Kantian terms, most of us sometimes subordinate the maxim of morality to the maxim of self-love. Most of us are sometimes unmoved by impartial considerations and act in the way of practical moral sceptics. However, insofar as we are members of the »morality club«, we will at least try to act only in ways we could fully justify to each other. We will ascribe to each other the same fundamental practical authority. We will all be committed to a principle M whose content we could express like this: (M) Act only in ways that could be freely accepted by any agent who tries to justify her actions to any other agent alike. Principle M, which I think is a version of the principle of morality, is a constitutive rule of the language game of moral justification. As such, it cannot be rejected on pain of pragmatic inconsistency. Just by way of experiment, let us try to dismiss M and to defend a principle that includes M’s negation, namely: we shall not act in a way that could be uni-

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versally accepted, but rather, we shall act according to some alternative principle A. Could we really argue in favour of A? Given our position, our arguments in favour of A must not convince others. Since if they did, others could freely accept the alternative principle A. In this case, however, the alternative principle A itself would fall, paradoxically, under M, i. e. under the principle of morality, that A was designed to replace. Of course, one might also try to challenge the proposed principle M by claiming that we should not act on any principle at all. However, it seems even more obvious that this position cannot be argued for in a non-self-defeating way. Let us now suppose that a moral sceptic violates what members of the »morality club« consider a valid moral rule – for example, a student kills an ethics professor just because he used silly examples (like this one). Should we then just say: »Well, as members of the morality club, we would not have done that, but you are a moral sceptic, so we cannot object to what you did«? However, why should we not blame or even punish the student, as long as we can justify our blaming or punishing her to all those who do participate in the morality game? Of course, the moral sceptic, by definition, will not acknowledge the relevance of our justification for her own conduct. Would she take the moral stance, however, we should be able to justify even to her our blaming and punishing her – at least, this is what we have to presume if we regard our own action as legitimate. Perhaps she is tempted to complain that we treat her like a club member despite the fact that she is not (which is true but actually, I think, quite nice of us). Yet, if she would actually complain then she would certainly have to appeal to some sort of shared deliberative authority and would thereby become a club member, so that her complaint would be self-defeating. Of course, she might have other, reasonable objections, but whether this is the case or not can only be settled within the »morality club«. Still, one might still wonder whether to take moral principles as binding on someone who is not committed to morality does not somehow violate that person’s autonomy. Implicitly, this question has already been answered. However, addressing it more explicitly allows us to shed some more light on the difference between social constitutivism and a more traditional Kantian view. Traditional Kantians would respond to the objection by claiming that the moral sceptic is not autonomous, or not rational, anyway. In some sense this Kantian response may seem warranted. However, as endless philosophical discussions concerning Kant’s Groundwork painfully demonstrate, it is not easy to spell it out and to defend it in a truly compelling way. So it would certainly be advantageous if we could just put aside the question whether a moral sceptic as such could be autonomous or practically rational. It would make things much easier if it would suffice that we show that a moral sceptic would be unable to defend her actions to others, that is, would be unable to justify them in an unrestricted sense. And this is exactly what social constitutivism aims to show. If we take the above points together, we can see why the alternative formulation of the basic question of moral philosophy, despite its »if – then« structure, is sound. The reason is not that the conditional is always true because it is somehow impossible to quit membership in the »morality club«. The point is also not that it is impossible to quit membership in the morality club »autonomously« or »rationally«. In contrast to traditional

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Kantians and monological constitutivists like Korsgaard or Gewirth, social constitutivism does not rely on any such claim. The reason is rather that the decision of an individual to quit membership does not affect the bindingness of morality even for her, since, whether or not one is a member of the »morality club«, one cannot complain against being subjected to the rules of the morality game for the simple reason that »complaining« (in the sense that is relevant here) can only be understood as a move within the morality game.

III Why Social Constitutivism? III.1. Constitutivism as such If foundationalists are right in that morality should be shown to be binding for all agents, this need not imply that we must proselytise the sceptic. It may suffice to demonstrate what one needs to acknowledge if one tries to justify one’s actions to other agents. Hence, within the plurality of our practices of practical justification, we need to find and make explicit the universal features of these practices that allow anyone to fully justify her actions. This means that we need to employ some sort of constitutivist strategy: We are looking for the constitutive elements of the language game wherein agents can fully justify their actions to each other. The considerations put forward in the preceding section about the impossibility of rejecting the principle of morality M already made use of a certain type of reasoning which is usually labelled »reflective« or »retorsive«. This type of reasoning starts from the same assertion that it is meant to vindicate and aims at showing that the assertion in question cannot reasonably be dismissed since any attempt to do so already presupposes its validity. This seems to be what Aristotle tried to show with respect to the principle of noncontradiction.5 Why should we assume that retorsive arguments could play a crucial role in vindicating morality, as Apel6, Illies7 and others claim? I think that intuitionists like Prichard,8 Kantians like Darwall,9 and reconstructivists like Larmore10 are right in claiming that morality forms a genuine dimension of normativity and cannot be reduced to something else.11 Aristotle: Aristotle’s Metaphysics, translated by Joe Sachs, Santa Fe, N.M 1999, 1005b ff. Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1988. 7 Christian Illies: The Grounds of Ethical Judgement: New Transcendental Arguments in Moral Philosophy, Oxford 2003. 8 Harold A. Prichard: »Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?«, Mind 21, Nr. 81 (1912): p. 21–37. 9 Darwall: The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability. 10 Charles E. Larmore: The Autonomy of Morality, Cambridge 2008. 11 I should note that Larmore actually accuses Kant of not regarding morality as a genuine dimension. According to him, Kant did try to deduce morality from something else like freedom, autonomy, or practical reason; Larmore (2008, p. 43 ff., p. 105 ff.). I think that this criticism actually rests on a misunderstanding of Kant’s project, since freedom, autonomy, and practical reason are not conceived by Kant as pre-moral concepts. 5 6

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If this is true, however, any attempt to vindicate morality must actually start from inside our moral practices rather than from some pre-moral assumption. Moreover, unlike reconstructivists, I think that it does not suffice to point to the sheer existence of contingent moral practices when there are doubts about the bindingness of morality as such. The practice of moral justification certainly requires some critical principle, and we must be able to defend whatever this principle turns out to be against the strongest possible doubts and objections. Finally, given the first and second point, retorsive arguments appear to be exactly the kind of arguments we need. Unlike naturalist arguments or transcendental arguments of the »explorational« type,12 retorsive arguments definitely start from inside the challenged practices. They mainly make explicit certain practical commitments that we have already made and (a retorsive argument reminds us) that we continue making even in the very act of challenging them. Retorsive arguments can certainly be stronger arguments than just a hint to some contingent historical fact. Though they are not able to show that participating in certain practices (like the truth-game or the morality-game) is inevitable in itself, still they can establish that there is no standpoint outside certain practices from which one could challenge the constitutive rules of the respective practices. However retorsive arguments are rightly seen as a kind of transcendental arguments and do we not know from Stroud’s famous paper13 that transcendental arguments are not a promising kind of argument at all? I do not think so. As James Skidmore has emphasized,14 Stroud’s main concern is that transcendental arguments can only uncover necessary commitments of our reason.15 Hence, if we do not already presuppose a necessary relation between our reason and the world outside, these arguments cannot defeat something like external-world scepticism. This worry, however, does not apply to arguments that do not aim at establishing some truth about an external world, but just aim at vindicating some principle that is internal to our practices. Therefore, Skidmore argues, transcendental arguments may also be informative in the field of practical reason, if we use them (following Kant) just to uncover, make explicit or re-affirm normative commitments that are internal to, and constitutive of, practical reasoning, without adding any claims about the existence of moral facts outside our practical reasoning.

Illies: Grounds, p. 32 ff. Barry Stroud: »Transcendental Arguments«, in: The Journal of Philosophy 65 (1968): p. 241–56. 14 James Skidmore: »Skepticism about Practical Reason: Transcendental Arguments and Their Limits«, Philosophical Studies 109, Nr. 2 (2002): p. 121–41. 15 See also Robert Stern: »Transcendental Arguments: a Plea for Modesty«, Grazer Philosophische Studien 74, Nr. 1, 2007, p. 143–61. 12 13

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III.2. Social Constitutivism Skidmore remains pessimistic about the prospects of transcendental arguments for morality, though. The reason for his pessimism is not completely clear and refers mainly to a single example, Christine Korsgaard’s attempt to vindicate the moral law in her book Sources of Normativity.16 In my view, Skidmore is right in dismissing Korsgaard’s argument, and does so for a right reason. Interestingly though, his criticism does not refer at all to the transcendental step of Korsgaard’s argument – a step that aims to show that humans must value their own humanity. Rather, like most of Kosgaard’s critics, Skidmore takes issue with a subsequent step that purports to take us from (1) our commitment as rational persons to value our own humanity to (2) our commitment to value the humanity of all other rational agents likewise. This step is only necessary because the transcendental part of Korsgaard’s argument starts from the monological perspective of a deliberating first person. Hence, Skidmore’s reason to reject Korsgaard’s argument is not grounded in the fact that Korsgaard’s argument is transcendental, but in the fact that it starts from the standpoint of monological reasoning.17 Yet we should note that the transcendental part of Korsgaard’s argument – the part that is meant to show that we must to our own humanity if we value anything at all – is not convincing either: If it is the case that we value some x for the reason that we already are »human« then our valuing x cannot be the reason that commits us to assigning value to our humanity in the first place. It would only be necessary for us to value our humanity if it were necessary for us to value valuing – our ability to value anything at all. But it does not follow necessarily from our valuing x that we have to value our ability to value anything. In fact, it may not even be possible for us to appreciate the value of our ability to value anything, since it may be impossible to imagine, compare and evaluate both conditions: the condition of a being that cannot value anything at all and that of a being that can. Obviously, much more would have to be said here.18 I conclude that Skidmore’s pessimism about transcendental arguments in ethics is plausible as long as we share (with Korsgaard, Gewirth, and many others) the assumption that ethical reasoning needs to start from the monological perspective of a deliberating first person who asks herself why she should accept moral reasons – but this assumption is unwarranted. Korsgaard as well as Gewirth19 try to conjure morality out of the hat after having put something else into the hat, like instrumental rationality or prudence of a solitary agent. Efforts to vindicate

Christine M. Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. This point remains true for Korsgaard’s more recent version of her argument, cf. Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford 2009. 18 Cf. the discussion of Gewirth and Korsgaard in Micha H. Werner: »Minimalistische Handlungstheorie – gescheiterte Letztbegründung: Ein Blick auf Alan Gewirth«, in: Philosophieren aus dem Diskurs: Beiträge zur Diskurspragmatik, Holger Burckhart and Horst Gronke (eds.), Würzburg 2002, p. 308–28; Micha H. Werner: »Ist Wertenkönnen wertvoll?«, in: Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik: Zur Aktualität von Hans Jonas, Gerald Hartung et al. (eds.) (Freiburg i. Br.; München: Karl Alber, 2013), p. 187–214. 19 Alan Gewirth: Reason and Morality, Chicago 1978. 16 17

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morality should rather take the form of an internal self-reassurance of a practice of shared deliberation, a practice that is already morally structured. This is of course not a new idea. Rather, it is the core idea of what Karl-Otto Apel and Jürgen Habermas have elaborated as »discourse ethics«. It is also the main idea in Stephen Darwall’s book about The Second Person Standpoint. In the remainder of this paper, I will argue that even authors like Habermas and Darwall sometimes fall back behind their »intersubjectivist« or »dialogical« insights. In the context of discourse ethics, the problem of moral scepticism has been addressed as the problem of the person who refuses to participate in a practical discourse (»Diskursverweigerung«). Presuming that some moral commitments can be justified by »transcendental reflection on the presuppositions of rational discourse«, as Apel puts it, how can they be valid for those who simply do not participate? In the words of critic Thomas Rentsch: »Der Letzt-Begründungs-Anspruch transzendentaler Argumente […] hat […] insofern einen guten Sinn, als wir in der Tat, wenn wir auf die Sinnbedingungen unserer Argumentationspraxis stoßen, auf die letzten, nämlich die konstitutiven Möglichkeitsbedingungen dieser Praxis hinzuweisen vermögen. Aber eben nur dieser Praxis.«20 Rentsch and similar other critics think that we can get rid of obligations that are constitutive of practical discourse simply by refusing to participate in practical discourse. I hope to have shown already that this alleged problem is not a problem at all. By contrast, speculating, as Habermas does, that someone who refuses to participate in the practice of moral justification would probably be unable to maintain a stable personality,21 is no appropriate response to Rentsch’s objection. At best, such speculations are irrelevant. At worst, if we take them as Habermas’ ultimate answer, they would turn moral obligations into a kind of virtue-ethical advice amounting to something like this: »If you don’t want to become crazy, you’d better join the morality club«.22 In Darwall’s The Second Person Standpoint, a similar problem is even more obvious. It is one of Darwall’s central points that as soon as we address a second-personal moral claim to another person we enter a mutual relation with an equal to whom we must ascribe second-personal competence, accountability, moral authority and, ultimately, human dignity. Moreover, Darwall thinks that the moral normativity which shows up in this relation is overriding and trumps all other practical considerations that would be accessible within a monological perspective (the perspective of the »naive practical reasoner«, Thomas Rentsch: Die Konstitution der Moralität: Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1999, p. 59. 21 Jürgen Habermas: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, p. 108 ff. 22 Cf. Karl-Otto Apel: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken«, in: Axel Honneth et al. (eds.): Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Aufklärung: Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1989, p. 15–65. Audun Öfsti: »Ist diskursive Vernunft nur eine Sonderpraxis? Betrachtungen zum ›Verbindlichkeitstransfer‹ von transzendental-reflexiv (letzt) begründeten Normen«, in: Abwandlungen: Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie Würzburg 1994, p. 139–57. Micha H. Werner: Diskursethik als Maximenethik: Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung, Würzburg 2003, p. 78 ff. 20

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as Darwall calls it), including considerations of overall utility. However, can we not just avoid to address others second-personally? No, argues Darwall in a lengthy footnote against Fichte, because we can always be addressed by another person’s »summons«, and if this happens, we cannot simply break out of the second-personal relation which is thereby constituted.23 However, only a few pages later, he suddenly claims that »even if we can’t avoid […] a summons, we can step back […] and ask whether, on reflection, we should still accept [it].« This step back is a step back from an actual »second-personal« dialogue to philosophical reflection. Surprisingly, Darwall states that this reflection does not need to »be second-personal itself«.24 I find this surprising because it is inconsistent with Darwall’s assumption that second-personal moral authority is the overriding form of normativity. If the practical philosopher can – or even should – take a step back from the second-personal dialog, retreat into his shell, and, by way of traditional monological reasoning, think twice whether he should really take second-personal reasons seriously, it is the monological reasoning of the solitary philosopher that has overriding authority and not the actual dialog between accountable persons. Consequently, Darwall is unable to show subsequently why the solitary thinker, after his retreat, must necessarily leave his shell and enter the second-personal relation again. Hence, ironically, Korsgaard is right when she objects to Darwall that he cannot show that morality is unconditionally binding.25 This is ironic because the reason why Darwall’s argument remains unsuccessful is not, like Korsgaard supposes, that he fails to approach morality from within the monological perspective of a deliberating first person, but rather that he lapses back into trying to do just that – that he still tries to convert moral sceptics instead of showing why their perspective is irrelevant. III.3. Two concerns In this section I want to briefly discuss two objections that may be raised against the position of social constitutivism. The first concerns a problem that seems to affect all versions of constitutivism, including social constitutivism: When a constitutivist tries to vindicate y by showing that y is among the constitutive elements of some x (e. g.: agency, practical reason, autonomy, or the ability to justify one’s action to other agents), her exploration will rely, at least implicitly, on some definition of x. What if a constitutivist who wants to vindicate y just chooses a definition of x that allows her to prove that y is actually »constitutive« of x (e. g. to define x as »agency« rather than as »shmagency«26). The challenge for traditional constitutivists is to defend a definition of x that is sufficiently »rich« to support their subsequent argument and to show, at the same time, that x, defined in such way, is still strictly »unavoidable« (e. g. it is unavoidable »for us« to be an »agent«). Apparently, a Darwall: The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability, p. 262 ff., fn. 26. Ebd., p. 278. 25 Christine M. Korsgaard: »Autonomy and the Second Person Within: A Commentary on Stephen Darwall’s The Second-Person Standpoint«, in: Ethics 118, Nr. 1 (2007): p. 8–23. 26 David Enoch: »Agency, Shmagency: Why Normativity Won’t Come from What Is Constitutive of Action«, in: The Philosophical Review 115, Nr. 2 (2006): p. 169–98. 23 24

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similar worry concerns the account of social constitutivism that I have outlined in section III.2: We may wonder whether the notion of »justifying one’s own conduct to others« cannot be interpreted in a less demanding way. Why should we strive for »full« justification of our conduct? In particular, why should one try to be able to justify one’s conduct to all agents – why should one not rather address only one’s own family, or one’s own clan, or the citizens of one’s own nation, or those with whom one wants to cooperate for mutual benefit? The social constitutivist’s reply starts by pointing out how difficult it is to maintain a particularist framework of moral justification for a long time: If it is really a framework of justification, it will be hard to deflect critical questions about the exclusionary nature of the framework. In order to prevent the appearance of arbitrariness of that moral framework even from within, reasons for the exclusion of potential moral fellows need to be given, and sooner or later, these reasons will be scrutinized even by members of the restricted moral community. Note that the social constitutivist does not need to make the very strong claim that it would be impossible for an agent to be a particularist. Given the pervasiveness of partial moralities in human history, it would actually seem quite pointless to do so. All that the social constitutivist needs to claim is that as long as an agent does not try to justify her conduct to all others, there will be a standpoint from which her conduct can be criticized, maybe even sanctioned, and that she will not be able to complain without widening the scope of all those that she acknowledges as moral fellows. While it is certainly easier (psychologically) to be a moral particularist than a moral sceptic, the fundamental challenges to particularism are basically the same as those faced by the sceptic. In both positions one lacks the means to defend oneself against moral criticism coming from a universalist standpoint. There is still another objection however. What if there is just no universalist around? The argument so far has supposed that some universalist »morality club« already exists. But what if it does not? Social constitutivist may hint to the fact that this concern is purely hypothetical – we do not live in a global Hobbesian state of nature. Secondly, we can argue that this is not at all a coincidence, and point to various reasons why the development of a more and more socially inclusive moral system is only to be expected.27 Thirdly, we may point out (again) that even particularist frameworks of moral justification comprise important universalist elements, since any justification that may count as such relies, at some point, on the principle of treating equal cases equally. Finally and most importantly, social constitutivists will argue that the absence of any critical moral community will certainly not render an agent’s conduct justified. Even if no single person would have raised moral concerns against the practice of slavery during the 18th century this practice would still have been a practice that cannot be defended against moral criticism. We would no less be warranted in abhorring it today. (That our judgements about the culpability of slaveholders do depend on their ability to understand the moral character of their actions is, of course, a different story.) 27

Cf. Philip Kitcher: The Ethical Project, Cambridge, London 2011.

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IV Implications for moral theory I have mainly sketched a position in the general debate on moral justification so far. Can we draw any conclusion now for specific debates in ethics? Within the confines of the present text, I can only hint at two implications. (1) The general debate between foundationalists and reconstructivists is reflected in applied ethics as in, e. g., the bio-ethical debate between principle-based ethics like Kantianism and utilitarianism (»principlism« à la Beauchamp and Childress28), and on the other hand, casuism and situationism. We can conclude from the argument pro social constitutivism that it is only due to certain methodological misunderstandings that the differences between these positions appear so radical. If the arguments that I have given pro social constitutivism are valid, no methodological hiatus exists between the different (more general and more specific) levels of ethical argumentation. The simple point is that moral arguments need to be developed from inside. The difference is just that ethical reflection uncovers normative principles of practices which are of different generality. We can reflect on constitutive normative principles of specific practices, e. g. the medical practice. 29 In this case, we can come up with principles similar to those that are expressed as well as reproduced by the traditional medical ethos. On this level of reflection, to examine the coherence and consistency of these principles can perhaps lead to the conclusion that certain types of action, institutions, or attitudes are incompatible with this ethos or, on the contrary, are required by it. Once fundamental questions arise (e. g. about balancing these principles, the legitimacy of some of them or even of the whole practice as such), we may have to widen the reference frame of ethical reflection; potentially up to the constitutive principles of the language game of shared practical deliberation as such. In doing so, we do not need to change the methodical attitude – on all levels the task is to explicate constitutive principles of our practices and to check whether certain actions, norms, or institutions conform to them. This conciliatory perspective entails a strong integration claim. To define what is morally right as what could be justified from a practical standpoint that could be shared by anyone entails an integrative concept of morality. According to this concept, moral aspects of a practical problem cannot be interpreted as mere aspects of practical judgement besides others. If we talk, for example, about »ethical and economical aspects« in the context of public health ethics, or if we talk, in ethics of technology, about »ethical issues« besides »risks and benefits«, this is acceptable only as a sort of abbreviation. Taken literally, such formulations would imply a Weberian »polytheism of values«,30 in light of which we would have to make quasi-existentialist decisions between competing value systems (like aesthetics, law, economics, morality, etc.) since there would be no comprehensive evalua28 Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics. Seventh Edition, New York 2013. 29 Konrad Ott: Ipso facto: Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis, Frankfurt/M. 1997. 30 Max Weber: »Politik als Beruf«, in: Gesammelte Politische Schriften, 1988, p. 505–60.

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tive standpoint available. In contrast, within the integrative perspective I want to defend, conflicts between different kinds of practical values are genuine conflicts only insofar as the competing values have some moral weight. For example, a conflict that we often tend to describe as a conflict »between law and morality« can count as a conflict only because there are also good »moral« reasons to enact and to follow legal rules; hence it is a conflict within the integrative moral framework. The integrative moral perspective is not distinguished from other practical perspectives by a specific kind of content. The moral perspective is simply the unconfined perspective of shared practical deliberation and practical judgement wherein all substantial standards and criteria are up for discussion, and where nothing else is presupposed than the constitutive principles of the practice of the unconfined deliberation itself.

V Conclusion Foundationalists and reconstructivists are both right in some way. Reconstructivists are right in stating that vindicating morality is essentially a kind of internal self-reassurance concerning the validity of principles that are built into existing deliberative or justificatory practices. Foundationalists are right in claiming that it does not suffice just to hint to the sheer existence of a contingent practice. Instead, ethical self-reassurance can and ultimately needs to reflect on the constitutive principles of the most general practice of reasoning wherein nothing is presupposed besides the fact that we try to justify our respective conduct to each other; that we try to construct a shared standpoint from which one’s actions could be endorsed by anyone. This is, as I see it, the important point of Apelian discourse ethics. We do not need to answer the question whether someone who does not join this effort could remain an autonomous person. Whether there can be a practical standpoint outside morality is – almost – irrelevant. The much more relevant question is whether an outside standpoint exists from which one could successfully challenge morality. I hope to have shown that this is not the case.

References Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung: Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt/M. 1988. − »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken«, in: Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Aufklärung: Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Axel Honneth, Thomas McCarthy, Claus Offe, und Albrecht Wellmer, Frankfurt/M. 1989, S. 15–65. Aristotle: Aristotle’s Metaphysics. Übersetzt von Joe Sachs. Santa Fe, N.M. 1999. Beauchamp, Tom L., and James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics. Seventh Edition. New York 2013.

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Darwall, Stephen L.: Honor, History, and Relationship: Essays in Second-Personal Ethics II. Oxford 2013. − Morality, Authority, and Law: Essays in Second-Personal Ethics I. Oxford 2013. The Second-Person Standpoint: Morality, Respect, and Accountability. Cambridge, Mass.; London 2006. Enoch, David: »Agency, Shmagency: Why Normativity Won’t Come from What Is Constitutive of Action«, in: The Philosophical Review 115, Nr. 2 (2006): S. 169–98. Gewirth, Alan: Reason and Morality. Chicago 1978. Habermas, Jürgen: »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 53–125. Illies, Christian: The Grounds of Ethical Judgement: New Transcendental Arguments in Moral Philosophy, Oxford 2003. Kant, Immanuel: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft.« In: Werke: Akademie Textausgabe, 6: Walter de Gruyter 1968, S. 1–202. Kitcher, Philip: The Ethical Project. Cambridge, London 2011. Korsgaard, Christine M. »Autonomy and the Second Person Within: A Commentary on Stephen Darwall’s The Second-Person Standpoint«, in: Ethics 118, Nr. 1 (2007): S. 8–23. − Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford 2009. − The Sources of Normativity, Cambridge 1996. Larmore, Charles E.: The Autonomy of Morality. Cambridge 2008. Nagel, Thomas: The Possibility of Altruism. Oxford 1970. − The View from Nowhere, New York u. a. 1986. Öfsti, Audun. »Ist diskursive Vernunft nur eine Sonderpraxis? Betrachtungen zum ›Verbindlichkeitstransfer‹ von transzendental-reflexiv (letzt)begründeten Normen«, in: Abwandlungen: Essays zur Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie, S. 139–57. Würzburg 1994. Ott, Konrad: Ipso facto: Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt/M. 1997. Prichard, Harold A.: »Does Moral Philosophy Rest on a Mistake?«, in: Mind 21, Nr. 81 (1912), S. 21–37. Rentsch, Thomas: Die Konstitution der Moralität: Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie. Frankfurt/M. 1999. Sinnott-Armstrong, Walter: Moral Skepticisms. Oxford 2006. Skidmore, James: »Skepticism about Practical Reason: Transcendental Arguments and Their Limits«, in: Philosophical Studies 109, Nr. 2 (2002), S. 121–41. Stern, Robert: »Transcendental Arguments: a Plea for Modesty«, in: Grazer Philosophische Studien 74, Nr. 1 (1. Juni 2007), S. 143–61. Stroud, Barry. »Transcendental Arguments«, in: The Journal of Philosophy 65 (1968), S. 241–56. Weber, Max: »Politik als Beruf«, in: Gesammelte Politische Schriften, S. 505–60. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1988. Werner, Micha H: Diskursethik als Maximenethik: Von der Prinzipienbegründung zur Handlungsorientierung, Würzburg 2003. − »Ist Wertenkönnen wertvoll?«, in: Naturphilosophie als Grundlage der Naturethik: Zur Aktua-

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lität von Hans Jonas, herausgegeben von Gerald Hartung, Kristian Köchy, Jan C. Schmidt, und Georg Hofmeister, Freiburg i. Br., München 2013, S. 187–214. − »Minimalistische Handlungstheorie – gescheiterte Letztbegründung: Ein Blick auf Alan Gewirth«, in: Philosophieren aus dem Diskurs: Beiträge zur Diskurspragmatik, herausgegeben von Holger Burckhart und Horst Gronke, Würzburg 2002, S. 308–28.

Der Raum der Gründe und die Kommunikationsgemeinschaft der Begründer Matthias Kettner

»Wir dürfen nun […] weder das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft, das dem kontrafaktischen Konsenspostulat universaler Geltungsansprüche entspricht, noch das Apriori der Faktizität und Geschichtlichkeit, das unserer jeweiligen Zugehörigkeit zu einer realen Kommunikationsgemeinschaft entspricht, verabsolutieren bzw. isolieren. Wir müssen vielmehr von der dialektischen Verschränkung beider Seiten oder Momente des primordialen Aprioris der Argumentation ausgehen.« Karl-Otto Apel, Aachener Vorlesungen 2002

1. Einleitung Karl-Otto Apels eigenwilliger Aneignung der semiotischen und sprachanalytischen Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zufolge ist »die wirkliche Errungenschaft« dieser gesamten Denkbewegung die Einsicht »in den transzendentalen Stellenwert der Sprache und damit der Sprach-Gemeinschaft«.1 Entgegenkommend interpretiert, lässt sich das folgendermaßen verstehen: Zu Apels philosophischer Position der »transzendentalen Sprachpragmatik« (TSP) gehört eine empirische human- bzw. kulturanthropologische Prämisse. Apel ist nämlich überzeugt, dass die folgende sozioevolutionär entstandene Bedingung B ein kulturanthropologisches Faktum ist: (B) Es ist eine Tatsache, dass Menschen kraft ihrer spezifisch kulturellen Form der Vergesellschaftung zu einer Gattung geworden sind (und dass jeder Nachkömmling, dessen Sozialisation gelingt, zu einem Mitglied, nicht bloß einem Exemplar,2 dieser Gattung gebildet wird), deren Mitglieder natürliche Sprachen zu ihrem Leben brauchen, sie tatsächlich besitzen und tatsächlich auch (nahezu unbegrenzt) miteinander durch Lern- und Übersetzungspraktiken teilen können.3 1 Karl-Otto Apel: »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, in: ders.: Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 220–262, hier: S. 220. 2 Kultursoziologisch fundiert zum Unterschied von Exemplaren in nichthumanen Gattungen und menschlichen Individuen siehe Thomas Loer: »Norm und Normalität«, in: Herbert Willems (Hg.): Lehr(er)buch Soziologie. Band 1: Grundlagen der Soziologie und Mikrosoziologie, Wiesbaden 2008, S. 165– 184. 3 Vgl. Karl-Otto Apel: »Der transzendentalhermeneutische Begriff der Sprache«, in: ders.: Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 330–357, hier: bes. Abschnitt III, S. 348–357.

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Zugleich fungiert Bedingung B innerhalb der TSP im Kontext der philosophischen Begründung als eine ganz anders gelagerte Bedingung. Nennen wir diese T. Der TSP zufolge geht T konstitutiv, also denknotwendigerweise in jede reale Möglichkeit ein, etwas Allgemeingültiges zu sagen und zu denken (z. B. dass p wahr ist). Apel meint nämlich, dass jeder »erfolgreich« sozialisierte, mit kommunikativer Kompetenz ausgestattete Mensch »notwendigerweise als ein Wesen konstituiert« ist, das sich mit einer idealen Kommunikationsgemeinschaft »immer schon identifiziert hat und die transzendentalpragmatischen Regeln der Kommunikation implizit anerkannt hat«.4 Auch wenn wir, vielleicht aus Vorsicht vor sehr stark begründungslastigen und vielleicht zirkulären innertheoretischen Annahmen, den terminus technicus von »transzendentalpragmatischen Regeln der Kommunikation« zu entpacken zögern, verstehen wir Apel richtig, wenn wir ihm die folgende komplexe Überzeugungen zuschreiben, deren Inhalt die Bedingung T ausmacht: (T) Für Menschen ist es (1) so normal und typisch, miteinander über etwas ins Argumentieren zu kommen, wie es normal und typisch für Menschen ist, miteinander sprechen zu können. (2) Menschen, die miteinander ins Argumentieren kommen, erlernen eine Praxis, die ähnlich wie die meisten Spiele einige konstitutive Regeln hat. (3) Einige der für die Praxis des Miteinander-über-etwas-Argumentierens konstitutiven Regeln verlangen von Mitspielern dasselbe, was auch verlangt wird, wann immer ein Gedanke gedacht werden soll, dass es sich mit den Dingen so (und nicht anders) verhält, in einer Welt, die ein und dieselbe Welt für alle ist, unabhängig davon, wer da denkt, ob es sich mit den Dingen so oder nicht vielmehr anders verhalte; verlangt wird, dass man idealisierend unterstellt, man könne letztlich erkennen und wissen, was wirklich wahr und somit allgemeingültig ist; und man könne dies letztlich unterscheiden von allem, was einem womöglich nur so erscheint.5 Ersichtlich schimmert durch Apels Bedingung T jene kulturelle Errungenschaft der Geltungsreflexion, die wir historisch zuerst mit der dezentrierenden Denkbewegung des Sokrates verbinden. Lassen wir die hier sofort aufbrechenden Fragen beiseite, (1) ob Menschen, die miteinander ins Argumentieren kommen, in einem ebenso klaren Sinne immer und überall dasselbe Spiel gespielt haben und spielen werden müssen, wie Schachspieler es tun, wenn sie Schach spielen wollen.6 (2) Ob Menschen das Argumentationsspiel, an-

Karl-Otto Apel, »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 33–80, hier S. 75. 5 Theoriesprachlich gesagt, geht es um die idealisierende Unterstellung, dass die epistemische Perspektivität aufgehoben werden kann in Richtung auf immer weniger perspektivengebundene Objektivität hin. Vgl. hierzu die interessanten Einwände gegen Brandoms sozial-perspektivische Darstellung von Wissen bei Christina Lafont, »Ist Objektivität perspektivisch? Ein Vergleich zwischen Brandoms und Habermas’ Konzeption von Objektivität«, in: L. Wingert, K. Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 192–216. 6 Für Gegenargumente siehe Geert Keil: »Über den Einwand einer anderen möglichen Vernunft«, in: D. Böhler, M. Kettner, G. Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit KarlOtto Apel, Frankfurt/M. 2003, S. 65–82; für Proargumente siehe Matthias Kettner: »Ansatz zu einer Taxo4

Der Raum der Gründe und die Kommunikationsgemeinschaft der Begründer

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ders als Schachspieler ihr Schachspiel, nicht auch dahingestellt sein lassen können – oder ob das Argumentieren wirklich ebenso tief und existenziell in der menschentypischen (und nicht nur speziell in der philosophischen) Lebensform verankert ist, dass ein Unaktualisiertlassen dieser Fähigkeit die menschliche Lebensform entstellen und Personen irre werden lassen müsste.7 (3) Ob urteilendes Denken als Verinnerlichung einer bestimmten (»diskursiven«) Praxis der Argumentation und diese ihrerseits als Artikulation des urteilenden Denkens am besten begriffen ist – oder ob es wesentliche Unterschiede gibt, die zwischen erstpersonalem urteilendem Denken und Miteinander-über-etwas-Argumentieren eher ein asymmetrisches Verhältnis statt ein symmetrisches Verhältnis der Gleichursprünglichkeit und Wechselangewiesenheit (Komplementarität) offenbaren. Festhalten möchte ich an dieser Stelle nur den einen wichtigen Punkt, dass Apels Rede von der immer schon erfolgten Identifizierung mit der idealen Kommunikationsgemeinschaft einen einfachen und nicht wegzudiskutierenden Erfahrungsgehalt hat: Menschen, die das Miteinanderargumentieren dafür einsetzen, angesichts von Meinungsverschiedenheiten erkennen zu wollen, wer Recht hat, wenn nicht alle gleichermaßen Recht haben können, müssen unterstellen, dass sich auf diesem Wege (d. h. via Argumentation) eine für alle gleichermaßen einsichtige Auffassung, wer denn wirklich Recht hat, herausstellen könnte, der niemand mehr ernsthaft widersprechen könnte. Die Idealität der »idealen Kommunikationsgemeinschaft« ist also nichts Ominöses, sondern zunächst nichts weiter als ein Zutrauen, das unter kritisierend und begründend Argumentierenden zuhause ist, dass ihr Argumentieren, wenn alles richtig gemacht wird, zu geteilten Überzeugungen führen kann, die, weil und soweit sie auf mitteilbaren Einsichten gründen, in einem immerzu noch erweiterbaren Kreis von Argumentierenden immer weiter und immer wieder geteilt, geprüft und ggf. revidiert werden können.8 Die Idealität der Kommunikationsgemeinschaft ist auch kein fernes und irgendwann vielleicht zu erreichendes Ziel, sondern das aktuelle Zutrauen von Argumentierenden in das Verfahren, und daher auch im aktuellen Fall in ihr Verfahren des Argumentierens, letztlich der Objektivität mächtig zu sein.

2. Was an der Rolle der Kommunikationsgemeinschaft ist transzendental? Nähern wir uns dem Konzept der Kommunikationsgemeinschaft in Apels Denken noch einmal, nun um die Behauptung zu interpretieren, die Kommunikationsgemeinschaft spiele eine »transzendentale« Rolle. So, wie ich oben die faktische Bedingung B beschrienomie performativer Selbstwidersprüche«, in: A. Dorschel, M. Kettner, W. Kuhlmann, M. Niquet (Hg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1993, S. 187–211. 7 Apel verweist in diesem Zusammenhang monoton darauf, dass die konsequente Verweigerung des Argumentationsspiels psychopathologische Folgen haben würde, da die Verweigerung »die Möglichkeit auch der einsamen Selbstverständigung und damit der Selbstidentifizierung zerstören müsste«, (Apel: »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, 1973, S. 223). 8 Daher spricht Apel stellenweise auch von der Argumentationsvoraussetzung »der unbegrenzten kritischen Kommunikationsgemeinschaft« (Apel ebd. S. 222 f.).

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ben habe, versteht man keineswegs von selbst, dass B über den Sinn einer empirischen Bedingung für die Reproduktion unserer Gattung hinaus auch noch den ganz anders gelagerten Sinn einer »transzendentalen« Bedingung haben soll. T3 zufolge sind Argumentationsteilnehmer auf ein bestimmtes Verständnis ihrer Praxis und ihrer selbst als Teilnehmer dieser Praxis festgelegt, wenn sie diese Praxis kooperativ für die Unterscheidung von wahr und falsch (und, falls es diese gibt, vergleichbaren anderen objektivierbaren Geltungsansprüchen) nutzen wollen. Aber was daran verdiente »transzendental« genannt zu werden? Wenn wir die an Kant erinnernde modale Form von notwendigen Bedingungen der Möglichkeit von etwas Erkenntnisförmigem heranziehen und T mit Hilfe dieser modalen Form reformulieren, dann erreichen wir die starke transzendentale Version von T, die für Apel zum Paradigmenkern der TSP gehört. Die transzendentale Version von T lässt sich sparsam so ausdrücken: Eine argumentationsfähige Kommunikationsgemeinschaft ist notwendig, wenn etwas Gültiges möglich sein soll. Expliziter können wir die These in drei Momenten formulieren: (TT1) Alles Gültigkeit beanspruchende Argumentieren und Denken ist nur möglich unter Personen, die miteinander als Mitglieder einer faktisch zwar nur begrenzt weiten, doch zugleich kontrakfaktisch unbegrenzt erweiterbaren Gemeinschaft konsenssuchend miteinander kommunizieren können. (TT2) Die Praxis ernsthaften Miteinander-über-etwas-Argumentierens (»argumentativer Diskurs«) ist das Maß alles Gültigen, dass es gültig ist, und alles Ungültigen, dass es ungültig ist. (TT3) Dass es sich unbestreitbar so verhält wie TT1 und TT2 besagen, dessen können sich Diskursteilnehmer zweifelsfrei vergewissern. TT3 verweist auf die Problematik rational definitiver Begründungen. Apels TSP gehört neben der Ethik von Allan Gewirth zu den wenigen philosophischen Positionen der Gegenwart, die affirmative Antworten auf die Frage, ob wir uns denkend letzter, unüberbietbar guter Gründe versichern können, systematisch ausgearbeitet haben. Den betreffenden Teil des Forschungsprogramms TSP, der unter dem Stichwort der »Letztbegründung« läuft, werde ich hier nicht behandeln. Die Teilthese TT2 verweist auf die entscheidende geltungstheoretische Rolle, die Apel der argumentierenden Rede als der höchsten autorisierten und autorisierenden Instanz von Geltungsreflexion zuweist. Implizit enthält TT2 die Behauptung, dass die Gültigkeit von Geltendem durch Konsense in Argumentationsgemeinschaften nicht lediglich angezeigt wird, sondern dass Gültigkeit in derartigen Konsensen besteht. Der Begriff des Konsenses, den Apel für diese Explikation des Sinns der Gültigkeit von Geltendem bemüht, ist allerdings seinerseits ein geltungstheoretisch anspruchsvoller Begriff, sodass der unmittelbar naheliegende Verdacht, Gültigkeit werde hier auf faktische Zustimmungshandlungen oder Zustimmungsdispositionen reduziert, leer läuft. Apels gültigkeitskonstitutiver Konsensbegriff meint nicht einfach, dass miteinander geteilte Zustimmung von einigen über etwas de facto vorliegt. Apels gültigkeitskonstitutiver Konsensbegriff meint rechtgebendes Zustimmen – genauer: rechtgebendes Zustimmen zu einer Normierung, auf

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der alleinigen Basis, dass man sich einsichtsbasiert über gute Gründe einig wird in einem die kontinuierliche Revidierbarkeit garantierenden Argumentationsprozess, der gemeinschaftlich ausgetragen oder gemeinschaftlich teilbar ist.9 Man könnte auch von »rational motiviertem Einverständnis«, besser: »diskursrational konstruiertem« oder einfach von »argumentativ vermitteltem« Konsens sprechen.10 Das weckt freilich einen anderen Verdacht, nämlich der petitio principii (»question begging«): Verlangt das Konzept des einsichtsbasierten rechtgebenden Zustimmens zu (oder unrechtgebenden Ablehnens) einer Normierung nicht bereits eine normative Autorisierung der Autorisierer, d. h. der beteiligten Recht- oder Unrechtgeber? Ist die normative Autorisierung der Autorisierer nicht bereits ein Konsens (darüber, wer zu was autorisiert oder nicht autorisiert sein soll)? Wenn ja – wie kann man das Phänomen rationaler Konsense mit einem Begriff bestimmten wollen, dessen sinnvolle Verwendung eben das begrifflich zu bestimmende Phänomen, rationale Konsense, bereits voraussetzt? Diesem Einwand könnte Apel m.E. mit dem Hinweis begegnen, dass eine normativitätseliminative Analyse des Begriffs der argumentativen Konsensbildung weder möglich ist, noch beabsichtigt war. Denkbar, dass der normative Konsensbegriff sich als geschlossen erweist (sodass jeder Konsens stets wieder Konsens voraussetzt oder impliziert) und als elementar (sodass Konsens ohne Phänomenreduktion nicht analysiert werden kann in Begriffen, deren Anwendungsbedingungen keine Konsense verlangen). Denkbar, dass auf der elementaren normativen Ebene eine Analyse von Konsens allenfalls den guten Sinn haben kann, dass das Analysandum nur durch Konsens in einem ersten Sinne (als rechtgebendes Zustimmen zu einer strittigen Norm) und Konsens in einem zweiten, hiervor unterschiedenen Sinne (als rechtgebendes Zustimmen zur Autorisierung einer Person in der Rolle des Diskursteilnehmers) analysiert werden kann. Die Auflösung dieser Frage muss einer anderen Ausarbeitung vorbehalten bleiben. Noch einmal: Was an der zum Paradigmenkern der Transzendentalen Sprachpragmatik gehörigen These TT1-3 ist »transzendental«? Zu den vielen Präzisierungsversäumnissen Apels gehört leider auch, dass er Kants verschlungene Redeweise vom Transzendentalen nirgends genau genug analysiert hat, um mit der nötigen Klarheit darlegen zu können, wie und wo seine eigene Rede vom Transzendentalen an Kant anschließt oder von Kant 9 Apel begreift »diskursive« – d. h.: durch eine Symploke von unbestreitbar anerkennungswürdigen Normen des gemeinschaftlichen Argumentierens regulierte – Konsensbildung als das für uns unüberbietbare und unersetzbare Ermöglichungsmedium zur Vermittlung sowohl der berechtigten realistischen Intuitionen von Korrespondenztheorien der Wahrheit wie auch der kriteriologisch relevanten Aspekte von Kohärenz- und von Evidenztheorien der Wahrheit, vgl. Apel 1998: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«. Zum Konsensbegriff, wie er oben expliziert ist, s. Kettner: »Konsens«, in: S. Gosepath, W. Hinsch, B. Rössler (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 1, Berlin 2008, S. 641–644. 10 Vgl. S. 49 f. in Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt/M. 1981. Der späte Habermas erläutert rational konsensorientiertes Argumentieren, Diskurs, als diejenige Redepraxis, »die mit ihren Dialogrollen und Kommunikationsvoraussetzungen auf das illokutionäre Ziel der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen zugeschnitten ist« (Habermas: »Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität«, in: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1999, S. 102–136, hier S. 132).

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abweicht.11 Vergleichsweise am deutlichsten insistiert der frühe wie der späte Apel darauf, die von Kant »transzendental« genannte »synthetische Einheit der Apperzeption« – ein rein formales, ursprüngliches, stets identisches Selbstbewusstsein bzw. ein all mein Vorstellen und alle meine Begriffsbildungen begleitendes und bedingendes Bewusstsein des »Ich denke«, welches es (Kants transzendentaler Deduktion zufolge) braucht, damit die Erfahrung, die einer macht, gleichweise für andere als dieselbe Erfahrung gelten darf und somit eine allgemeingültige Erfahrung sein kann – sei aufzuheben in einem neuen höchsten Punkt einer semiotisch transformierten Transzendentalphilosophie. Den neuen höchsten Punkt, so Apels ausgeführtes Programm einer »Transformation der Philosophie« (eigentlich: nur der Ersten Philosophie),12 bilde in der TSP der Gedanke der Mitgliedschaft in einer »transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft«.13 Wenn es zutrifft, dass die traditionelle Philosophie des Bewusstseins methodologisch solipsistisch voreingestellt ist und ein Problem damit hat, diese Voreinstellung zu überwinden,14 dann, so Apel, sei die Besinnung auf das transzendentale Apriori der Kommunikationsgemeinschaft die Lösung. Und wenn es so ist, dass sprachliche Verständigung für alles Denken, das implizit oder explizit Geltung beansprucht, eine apriorische Rolle spielt, wie Apel gemäß T meint, dann ist die von Apel eingeschlagene Richtung einer Transformation des Kerngedankens Kants von der transzendentalen Einheit der Apperzeption konsequent:15 diese Einheit, so Apel, sei nicht mehr nur als Einheit des Gegenstandsbewusstseins und des Selbstbewusstseins von Erkenntnissubjekten zu fassen, wie bei Kant, sondern darüber hinaus als »eine transzendentale Synthesis der Zeichen-SinnInterpretation und Wahrheits-Konsensbildung in der unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft der Forscher«.16

Vergleichsweise am klarsten im Exkurs »Zum Verhältnis von Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung in der Geschichte der Transzendentalphilosophie«, S. 537–547 in dem Aufsatz »Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung. Heidegger und das Problem der Transzendentalphilosophie«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 505–567. 12 Apel: »Transzendentale Semiotik und die Paradigmen der prima philosophia,«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 54–83. 13 Apel: »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, S. 222. 14 Vgl. S. 19, 72, 185, 218, 305 f., 398, 431, 470, 739, 800 in Apel: Auseinandersetzungen, 1998. 15 Wenn man überhaupt meint, die Kantische Transzendentalphilosophie lohne eine »Transformation«. 16 Apel, Karl-Otto: »Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 34. Apels Formulierung und Gedanke gehen auf seine Peirce-Interpretation zurück, vgl. bereits S. 57 und S. 211 in Apel: Der Denkweg des Charles S. Peirce, Frankfurt/M. 1975. Dort übernimmt Apel die Peircesche Idee, dass zum Begriff der Realität ein interner Bezug auf eine Gemeinschaft gehört, die, wie Peirce sagt, »ohne definite Grenzen ist, jedoch das Vermögen zu einem definiten Wachstum der Erkenntnis besitzt« (ebd. S. 57 mit Verweis auf Peirce). – Im Rahmen der TSP bisher unausgeführt geblieben ist die angedeutete interessante Doppelstruktur, dass eine Einheit von erkennendem Selbst- und zu erkennendem Gegenstandsbewußtsein und diese Einheit ihrerseits in Einheit mit kommunikativ vergemeinschafteten Ko-Subjekten zu denken wäre. 11

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3. Kommunikationsgemeinschaft als Menge von und Beziehungsweise zwischen Personen Der Erfahrungsgehalt des von Peirce importierten Gedankens einer – als zwar real niemals wirklich unbegrenzten, zugleich aber wie-als-wäre-sie-unbegrenzt denkbaren und so auch zu denkenden – »Interpretationsgemeinschaft der Forscher« bzw. allgemeiner, der Gültigkeitbestimmer, erschließt sich recht eigentlich nur aus der Wir-Perspektive von Personen, die miteinander argumentieren und mit ihrem Tun, ihrem Miteinander-überetwas-Argumentieren, den und genau nur den Sinn verbinden, Einsicht zu gewinnen in das, was wirklich gilt – immer dann, wenn da einer ist, der glaubt, etwas bestimmtes zu Recht geltend machen zu können, dieses Recht aber strittig geworden ist. Wann immer Personen miteinander argumentieren, um Einsicht in das, was wirklich gilt zu gewinnen, erfahren sie, dass jeder sich selbst so wie jeder jeden anderen in einer bestimmten Position und Beziehung verstehen muss und dies eine eigentümliche Gemeinschaftlichkeit zwischen ihnen stiftet. Eigentümlich ist diese Gemeinschaftlichkeit insofern, als keiner in der Menge der aktuell Beteiligten sie auf die aktuelle Situation dieser Beteiligten hier und jetzt festlegen und begrenzen kann. Es ist die Gemeinschaftlichkeit von einsichtsorientierten Kritikern und Begründern von Geltungsansprüchen, die sich so nicht nur aktual, sondern zugleich auch hypothetisch, als mögliche Kritiker und Begründer von Geltungsansprüchen verstehen, also als Aktualisierer entsprechender Rollen. Zwar vergemeinschaftet diese für die argumentative Kommunikationspraxis (»Diskurs«) konstitutiv erforderliche und ebenso durch die so konstituierte Praxis reproduzierte Weise von Gemeinschaftlichkeit tatsächlich jeweils nur eine endliche Menge von Argumentierenden, ist und bleibt aber, das weiß ein jeder von diesen, unabgeschlossen in dieser wie in jeder anderen bestimmten endlichen Menge von Argumentierenden. Die Gemeinschaftlichkeit, die zwischen argumentierenden Personen qua argumentierende Personen besteht, ist und bleibt fortgesetzt offen für andere argumentierende Personen und andere strittige Geltungsansprüche. So können wir Apels Formel von der »unbegrenzten« oder auch »transzendentalen Kommunikationsgemeinschaft« nicht nur als Menge von Elementen (Personen, Dissensen), sondern als Weise von Vergemeinschaftung (interpersonelle Beziehung) verstehen. Jede reale Kommunikationsgemeinschaft weiß sich (oder sollte zumindest sich wissen) als nur begrenzt inklusiv und doch zugleich auch als unbegrenzbar inklusiv, jedenfalls immer dann, wenn sie im Modus diskursiver Argumentation kommuniziert – oder wie Apel oft schreibt: als »virtuell unbegrenzte« Kommunikationsgemeinschaft.17

Apel verwendet den Begriff der Virtualität wie Peirce, der definierte: »Ein virtuelles X (wobei X ein allgemeiner Begriff ist) ist etwas, das zwar kein X ist, aber die Wirksamkeit (virtus) eines X hat. Das ist die richtige Bedeutung des Wortes, es wurde jedoch weitgehend mit ›potentiell‹ verwechselt, was beinahe sein Gegenteil ist. Denn das potentielle X hat die Natur eines X, hat aber keinerlei tatsächliche Wirksamkeit« (Gert Wartenbergs Übersetzung von Peirce Definition von »virtuell« in Baldwins Dictionary, zitiert in: Apel (Hg.): Charles S. Peirce. Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt/M. 1970, S. 84 (Anm. 11)). 17

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Die Anforderung, in die Kommunikationsgemeinschaftlichkeit (=die spezifische Beziehungs- und Interaktionsform von Miteinander-über-etwas-Argumentierenden), wie sie zwischen bestimmten Teilnehmern und Beiträgen hier und jetzt besteht (»reale« Kommunikationsgemeinschaft) kontinuierlich erweiterbar zu halten, ergeht nicht von einer fremden, mental distanzierbaren Autorität. Sie ergeht vielmehr ohne reservatio mentalis von der Autorität der Miteinander-über-etwas-Argumentierenden, mit der sie ihre Praxis ausstatten, selbst. Da sie ihre Praxis mit Autorität ausstatten müssen – »müssen« im Sinne konstitutiver Spielregeln (T 2 und 3) – ist die Anforderung, Kommunikationsgemeinschaftlichkeit kontinuierlich erweiterbar zu halten, für die Beteiligten eine interne, konstitutive Anforderung ihrer Praxis.18 Die Anforderung ist für die »Spieler«, wenn man so will, unhintergehbar: wer sie abweist, schert für die übrigen Spieler aus ihrem Spiel aus, und wer (weiß, dass er/sie) die Anforderung abweisen will, kann (auch wissen, dass er/ sie) nicht zugleich am Spiel teilnehmen wollen (kann). Selbstreflexiv vergewisserbare Unhintergehbarkeit, dies erscheint als die wichtigste Lesart davon, was Apel manchmal als »transzendental« und manchmal als »apriori« bezeichnet.19

4. Naheliegende Missverständnisse Die virtuell unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft existiert nicht als eine zweite Gemeinschaft neben einer ersten, real begrenzten Gemeinschaft. Die virtuell unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft ist vielmehr das Bewusstsein, das eine reale, mitgliedermäßig stets abzählbar begrenzte Gemeinschaft von ihrer Unabschließbarkeit hat – das gemeinsame Selbstbewusstsein, wenn man so will, ihrer Transzendenz von innen. Apel beschreibt diese Beziehung auf eine stets verschiebbare Außengrenze der füreinander erreichbaren Argumentationspartner manchmal als ein Selbstverhältnis der Kommunikationsgemeinschaft: Das Verhältnis, in dem eine »reale Kommunikationsgemeinschaft« sich auf sich selbst bezieht als auf diejenige Kommunikationsgemeinschaft, die sie sein würde, wenn ideale Kommunikationsverhältnisse bestünden. Das könnte man so verstehen: Wenn ideale Kommunikationsverhältnisse tatsächlich bestünden, wäre diejenige real existierende Kommunikationsgemeinschaft, auf die das zutrifft, überhaupt nicht mehr abständig zu einem als solchem nur zu denkenden Idealbild von Kommunikation (wie Platons wahrer gedachter Kreis im Abstand zum realen, mit Kreide gezeichneten Kreis). Doch so, gewissermaßen als ins Leben getretener utopischer Traum, meint Apel das Verhältnis von Idealität und Realität in der Kommunikationsgemeinschaft nicht. Aber das Missverständnis liegt nahe.

Vgl. den Sektionsbeitrag Micha Werners über Konstitutivismus und TSP. Von der von Kant für überragend wichtig gehaltenen Unterscheidung synthetisch versus analytisch macht Apel hingegen keinen systematischen Gebrauch. Das erstaunt, denn dass eine unhintergehbare und in ihrer Unhintergehbarkeit auch reflexiv vergewisserbare Anforderung an Argumentierende besteht, erläutert den Begriff des Argumentierens nicht nur, sondern erweitert ihn, verweist also auf einen praktischen synthetischen Satz apriori, in Kantischer Terminologie. 18 19

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Der kritische Rationalist Hans Albert, mit dem Karl-Otto Apel einen bereits in den 70er Jahren begonnenen und heute wohl nicht mehr aufzulösenden Streit über Möglichkeit und Sinn rational definiter Begründungen ausgetragen hat, las und liest Apels Rede von der »Kommunikationsgemeinschaft« bzw. vom »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« als Verweis auf ein »Kollektivsubjekt« und auf eine »Sozialisierung des Subjekts«, das bei Kant, wie Albert meint, noch das »transzendentale Subjekt« hieß20 und heute keine valide Theoriereferenz mehr hergebe. Für Albert ist Apels Kommunikationsgemeinschaftskonzept nur mehr ein sublimierter theologischer Rest des intellectus divinus, des göttlichen Geistes, an dem Scholastiker früherer Zeiten sich gütlich taten. Hauke Brunkhorst hört aus Apels Formulierungen zur Kommunikationsgemeinschaft eine »Zweideutigkeit« heraus. 21 Erstens meine Apel eine idealisierende Unterstellung, die notwendig zum Denken und Argumentieren mit Geltungsanspruch gehört. Das gehe an. Zweitens formuliere Apel bisweilen so (besonders im diskursethischen Zusammenhang seiner Teil-A-Teil-B Unterscheidung), als sei die ideale Kommunikationsgemeinschaft ein eigenes, höherstufiges Ziel für politisches Verwirklichungshandeln.22 Das aber gehe nicht an, denn weder eine idealisierende Unterstellung noch eine, wie Apel ebenfalls oft sagt, regulative Idee können wir zum Objekt von Verwirklichungshandeln machen.23 Sie sind einfach nicht dazu gedacht, verwirklicht zu werden. Sie sind nur dazu gedacht, Orientierung zu geben. Ich meine, in den vorigen Abschnitten konnte Apels Gedanke eines »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft« soweit rekonstruiert werden, dass sein guter Sinn ebenso hervortritt wie gewisse Anfälligkeiten für Missverständnisse, zu denen Apel durch einen bisweilen unklaren Sprachgebrauch und terminologische Überfrachtung einlädt.24

Hans Albert: Kritik des transzendentalen Denkens, Tübingen 2003, S. 27. Hauke Brunkhorst: »Zur Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft«, in: A. Dorschel, M. Kettner, W. Kuhlmann, M. Niquet (Hg.): Transzendentalpragmatik, Frankfurt/M. 1993, S. 342–357, hier: S. 345. 22 Tatsächlich spricht der frühe Apel gelegentlich von der »Aufgabe der Realisierung der idealen Kommunikationsgemeinschaft«, siehe pars pro toto S. 432 in seinem klassischen Aufsatz »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« (in: Apel: Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 358–435). Ähnlich wie der frühe Habermas noch Verständigung als ein der Sprache innewohnendes Telos bestimmen wolle und diese These später als zu stark zurücknahm, hätte Apel m.E. die schiefe Vorstellung von einer, von uns tatsächlich zu bewerkstelligenden Reformation der nichtidealen realen in eine ideale reale Kommunikationsgemeinschaft zurückrufen sollen. 23 Unklarheiten in Apels Transformation der schon bei Kant selber nicht besonders geklärten Konzeption von »regulativen Ideen«, besonders Apels Versuch, den Begriff der Wahrheit als Begriff einer regulativen Idee zu konstruieren, diskutiert Boris Rähme: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität: Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen (Epistemische Studien 18), Heusenstamm 2010. 24 Ein Vergleich des Stichworts Kommunikationsgemeinschaft in Apels Schriften zeigt diverse Kombinationen theoretisch geladener Attribute wie »transzendental«, »kritisch«, »virtuell unbegrenzt«, »kontrafakisch antizipiert«, »real«, »ideal«, »apriorisch«, die nirgends in einem systematischen Zusammenhang geklärt und voneinander abgegrenzt werden. 20 21

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5. Was an der Gemeinschaftlichkeit argumentativer Kommunikation ist dialektisch? Von Apels diversen Charakterisierungen der Vergemeinschaftung von Personen durch Argumentation hat die folgende, oben schon als Motto vorangestellte, vielleicht die größte philosophische Tragweite: »Wir dürfen nun […] weder das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft, das dem kontrafaktischen Konsenspostulat universaler Geltungsansprüche entspricht, noch das Apriori der Faktizität und Geschichtlichkeit, das unserer jeweiligen Zugehörigkeit zu einer realen Kommunikationsgemeinschaft entspricht, verabsolutieren bzw. isolieren. Wir müssen vielmehr von der dialektischen Verschränkung beider Seiten oder Momente des primordialen Aprioris der Argumentation ausgehen.«25 Was ist mit dem merkwürdigen Epithethon primordial gemeint?26 Positionell gesehen zeigt der Begriff an, dass die Situation des Argumentierens im Rahmen der TSP den maßgeblichen methodologischen Ausgangspunkt darstellt. Philosophiegeschichtlich verweist der Begriff auf Apels Rekonstruktion von drei Paradigmen in der geschichtlichen Entfaltung der Ersten Philosophie. Für deren treibendes Motiv hält Apel die Selbstreflexion des erkennenden Denkens. »Nach der ontologischen Metaphysik der Antike und des Mittelalters und der transzendentalen Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie der Neuzeit« falle die Ausarbeitung dieses Motivs heute »einer transzendentalen Semiotik zu. Diese kann – als dreistellige Transzendentalphilosophie der zeichenvermittelten Weltinterpretation, deren ideales Subjekt nicht ein autarkes Ich-Bewusstsein, sondern die unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft aller Zeicheninterpreten ist – die von Kant gestellte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit intersubjektiv gültiger Erkenntnis in adäquater Form beantworten.« Wie aber beantwortet Apel die von Kant gestellte Frage (eigentlich: nach Erkenntnis der Möglichkeit von synthetischen Urteilen apriori) tatsächlich? Gewiss, Apel versucht eine Antwort in Begriffen der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft aller Zeicheninterpreten zu geben. Da es innerhalb der Apelschen TSP jedoch kein Äquivalent zur Transzendentalen Deduktion in Kants Kritik der reinen Vernunft gibt, fällt Apels ErApel, Dritte Vorlesung, S. 91 in Apel und Niquet, Aachener Vorlesungen 2002. In diesen Vorlesungen, die Apels sorgfältigste Exposition der transzendentalpragmatisch begründeten Diskursethik darstellen, argumentiert Apel, dass in der Diskursethik das Apriori der idealen Kommunikationsgemeinschaft und das der realen Kommunikationsgemeinschaft ein eigenartiges »in sich dialektisches Gesamtapriori« bilden, das sich in der Reflexion auf die nichthintergehbare Situation des Argumentierens erschließt. Vgl. zum »dialektischen Apriori« der »zugleich idealen und realen Kommunikationsgemeinschaft« Apel S. 31, 258, 269, 257 ff., 316, 806 in Auseinandersetzungen 1998. 26 Die Qualifikation »primordial« benutzt Apel seit 2001 zum Vergleich der Grundsituation von Argumentierenden mit Rawls’ original position, der Grundsituation der Wahl von Gerechtigkeitsprinzipien: »Ich werde im folgenden die angedeutete Situation des argumentativen Diskurses, die transzendental nichthintergehbar ist, auch primordial nennen; und ich werde dieses Prädikat auch auf die, ebenso wie die Argumentation selbst nichthintergehbaren und insofern nichtbestreitbaren Präsuppositionen der Argumentation anwenden: so etwa werde ich vom ›primordialen Diskurs‹, der ›primordialen Diskursgemeinschaft‹ und der ›primordialen Mitverantwortung‹ sprechen« (Apel: »First things First: Der primordiale Begriff der Mit-Verantwortung. Ein Beitrag zur Begründung einer planetaren Makroethik«, in: M. Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt/M. 2000, S. 21–50. 25

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klärung mager aus: »Durch die – implizite oder explizite – Erhebung der jemeinigen Bewußtseinsevidenz zum Sprachspiel-Paradigma ist gewissermaßen der argumentative Sinn der Vorstellungsgewissheit jedes Bewusstseins für die Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft festgelegt worden. Sinnfestlegung in der kommunikativen Synthesis der Interpretation aber – und nicht schon Synthesis der Apperzeption – begründet den ›höchsten Punkt‹ (Kant) einer semiotisch transformierten Transzendentalphilosophie.«27 Wenn es ein Geheimnis ist, wie jene kommunikativ genannte Synthesis der Interpretation operiert, dann hat Apel dieses Geheimnis jedenfalls gut bewahrt. Doch deuten Stichworte wie das von der »Sinnfestlegung« immerhin in eine gewisse, an Peirces Idee von verschiedenartigen Weisen, wie wir uns auf Überzeugungen festlegen (»the fixation of belief«), erinnernde Richtung, wobei Apels transzendentalpragmatische Pointe immer wieder im Hinweis auf die »Leistung der sprachlichen Weltinterpretation« besteht – der sprachlichen, durch Zeichensysteme geeigneter Komplexität vermittelten Weltinterpretation nämlich »als konstitutiv für die Auffassung der Phänomene als etwas und damit als Vermittlung zwischen Erfahrung und argumentativem Diskurs«. Die Last der Erklärung verschiebt Apel immer wieder auf die radikale Interpretationsbedürftigkeit von jeglicher Erfahrung durch Sprache und auf die unausweichliche Vermittlung von Interpretationsakten und -prozessen durch die »a priori intersubjektiven Bedeutungen der Sprachzeichen«.28 Apels schon in den 70er Jahren angestrebte Transformation des von Peirce und Kant übernommenen Problems »der objektiven (= intersubjektiv allgemeingültigen) Konstitution der Erfahrungswelt in Begriffen einer – mit synthetischen Schlussprozessen verwobenen – Synthesis der konsensfähigen Weltinterpretation«, wie es in Apels großem Traktat zur Konsenstheorie der Wahrheit29 später heißt, gewinnt wenig Tiefenschärfe, vergleichsweise noch am meisten in Apels Kritik an Heideggers Verabsolutierung von Prozessen der Welterschließung durch Sprache, die dem Logos der Geltungsreflexion keinerlei Eigenständigkeit und so auch keinerlei Einspruchsrecht gegenüber der radikal geschichtlichen Zeitigung von Sinn übrig lassen.30 Das »Gesamtapriori«, das sich der TSP zufolge in der Reflexion auf die nichthintergehbare, d. h. für Argumentationsteilnehmer ohne Sinnverlust ihrer Behauptungsintention nicht negierbare Situation des Argumentierens erschließt,31 ist die Einheit der Differenz zwischen realer und idealisiert gedachter argumentierender Kommunikationsgemeinschaft, genauer: Die Einheit der Differenz zwischen einerseits dem normativen Idealtypus der Praxis des Miteinander-über-etwas-Argumentierens, andererseits x-beliebigen Aktualisierungen dieses normativen Idealtypus in realen Kommunikationsgemeinschaften realer Personen.32 Die Einheit selber wird nicht nur vom Theoretiker gleichsam von der 27 Apel: »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, 1973, S. 222. 28 Apel: »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, 1998, S. 133. 29 Ebd. 30 Apel: »Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung«, 1998. 31 Zum Sinnverlust von Behauptungsintentionen durch performativen Selbstwiderspruch s. die gute Präzisierung dieses Konzepts in Boris Rähmes vorliegendem Sektionsbeitrag. 32 Ich verwende den gewiss weiter zu explizierenden Begriff eines normativen Idealtypus vorläufig in Anlehnung an Max Webers Begriff eines Idealtypus, den Weber freilich nur explanativ, zum Zweck

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Seite her konstatiert, sie fällt auch in das Selbstverständnis der Teilnehmer an argumentierender Kommunikation: Innerhalb jeder Aktualisierung dieses normativen Idealtypus wird dieser für die Teilnehmer selber auffällig in der Form, dass die Teilnehmer gewisse idealisierende Unterstellungen voneinander erwarten und auch berechtigterweise meinen, erwarten zu dürfen (z. B. die idealisierende Unterstellung, man urteile rein auf der Basis eigenen Einsichtsvermögens).33 Auch die Differenz wird nicht nur vom Theoretiker objektivierend konstatiert, sondern erscheint im Selbstverständnis der Teilnehmer selbst. Sie erscheint uns im Bewusstsein der verbessernden Überholbarkeit eines jeden, von unseren Einsichtsvermögen und Urteilskräften bis hier und bis jetzt unterschriebenen Konsenses, kurz: als konsequenter Fallibilismus und Meliorismus in Bezug auf Gültigkeitsansprüche jeder Art.34 Was liegt darin und daran, dass wir die Einheit der Differenz zwischen dem normativen Idealtypus des Miteinander-über-etwas-Argumentierens und Aktualisierungen dieses normativen Idealtypus durch eine endliche Zahl von kommunikationsgemeinschaftlich aufeinander bezogenen Argumentierenden »dialektisch« denken? Nach Auskunft Hegels ist das Dialektische ein Aspekt von drei wesentlichen Aspekten des rein als Denken begriffenen vernünftigen Denkens, und zwar der »negativ-vernünftige« Aspekt, der vom »spekulativen oder positiv-vernünftigen« Aspekt ergänzt, aber auch aufgehoben wird, wobei beide, der dialektische und der spekulative Aspekt, ihren gemeinsamen Ausgangspunkt im Aspekt des »abstrakten oder verständigen« Denkens haben.35 Diese Hegelsche Systematik und ihre Hintergründe kann ich hier nicht erläutern. Als Problemanzeige muss an dieser Stelle genügen, dass Hegel das Dialektische u. a. als »immanentes Hinausgehen« charakterisiert, »worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortschritts aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt.«36 Vor diesem Hintergrund gewinnt Apels Aufforderung, die Kommunikationsgemeinschaft nicht nur apriorisch und transzendental, sondern dialektisch zu denken, einen fasslichen Sinn, der uns erlaubt, das systematisch komplizierte Problem, ob und ggf. wie der Erklärung sozialer Phänomene konstruiert. (Vgl. die immer noch lesenswerte Weber-Rekonstruktion von Rainer Adolphi) Normativ in dem von mir intendierten Sinne ist ein Idealtypus-Begriff dann, wenn sein angemessenes Verständnis eine Normierung in Bezug auf die Praktiken verlangt, deren Idealtypus er ist. Der Begriff des Versprechengebens z. B. ist ein normativer Idealtypus, denn wer angemessen versteht, wovon die Rede ist, wenn vom Versprechengeben die Rede ist, muss wissen, dass für den Versprechengeber gewisse Verpflichtungsfolgen eintreten sollen. 33 Die Formel des frühen Habermas (»Wahrheitstheorien«, in: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995, S. 127–186, hier S. 130) für die wichtigste der idealisierenden Unterstellungen, zu der die Teilnahme am Diskurs die Teilnehmer nötige, ist die Unterstellung, man urteile allein gemäß dem »zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments« und aus dem »Motiv der kooperativen Wahrheitssuche«. 34 Vgl. S. 9, 151, 156, 178, 653 in Apel: »Auseinandersetzungen«, 1998. 35 Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Band 1, Frankfurt/M. 1970, hier § 79, S. 168 f., »Näherer Begriff und Einteilung der Logik«. 36 Ebd. S. 172 f.

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sich Transzendentalphilosophie in der Spur Kants und Erste Philosophie in der Spur Hegels überhaupt verbinden lassen, auszuklammern.37 Versuchsweise können wir folgenden explikativen Gedanken einsetzen: Konsensbildung in argumentativer Kommunikation ist ein dynamischer Prozess, der, wenn man so will, die Form dessen hat, was Hegel bestimmte Negation nennt:38 Auch wo aus Episoden des Miteinander-über-etwas-Argumentierens (realen Diskursen) Konsens resultiert, ist solcher Konsens gleichwohl stets als Einheit von Konsens und Dissens zu begreifen:39 als eine Phase, die von aktualem Dissens über aktualen Konsens zu potentiellem oder neuerlichem realem Dissens geht. Auf dem Wege argumentativer Kommunikation kann beides entstehen: Dissens und Konsens. Sofern solche Kommunikation diskursrational reguliert verläuft, hat Konsens gegenüber Dissens einen sinnlogischen Vorrang (wie eine regulative Idee): es wäre im Rahmen diskursrationalen Argumentierens absurd, letztlich oder vorrangig Dissens anzustreben, letztlich oder vorrangig anzustreben ist vielmehr Konsens, doch selbst wenn ein Konsens erreicht wird, wissen die Beteiligten, dass dieser überholbar bleibt. Das (allen hier und jetzt Beteiligten) gewiss Gültige fällt nicht zusammen mit dem (allen sinngemäß sich beteiligen Könnenden) objektiv Gültigen. Anders gesagt: Ein diskursivierter Dissens dD ist eine bestimmte Meinungsverschiedenheit darüber, was gültig ist und als gültig zu behandeln sei; ihn diskursiv aufzuheben heißt, bestimmte Richtigkeitsüberzeugungen in dD über vermeintlich gute Gründe zu negieren; stellen wir dann erfolgreich einen diskursivierten Konsens dK her, ergibt sich dieses Positivum als Negation jener vermeintlich guten Gründe. Der neue Set von für gut gehaltenen Gründen im Positivum dK bleibt weiterer Negation ausgesetzt, und so fort.40

6. Was an der Rolle der Kommunikationsgemeinschaft ist vernünftig? Logizistische Erläuterungen unseres Verständnisses von Vernunft scheitern bekanntlich daran, dass logische Regeln nicht erkenntniserweiternd, nicht »synthetisch« sein können; eine Vernunft aber, die vor der Erkenntniserweiterung halt macht, bliebe dann doch allzu matt. Die klassische Transzendentalphilosophie zog hieraus die Konsequenz, dass die Zu Apels Einordnung der Philosophie Hegels in die Entwicklungslogik der Ersten Philosophie s. »Transzendentale Semiotik und die Paradigma der prima philosophia«, 2011, dort bes. S. 77–79. Positiv knüpft Apel an den von Theodor Litt interpretierten Hegel an (»Intersubjektivität, Sprache und Selbstreflexion«, 2011, S. 381–301, hier S. 298–300): An Litts neohegelianische Idee von Reflexionsstufen des Allgemeinheitsanspruchs von Erkenntnis und einer reflexiven Selbstaufstufung der Sprache (Litt) bzw. des argumentativen Diskurses (Apel). 38 Die hegelsche Grundbedeutung der Rede von bestimmter Negation ist, dass das Negieren eines ponierten Gehalts nicht dessen Bestimmtheit löscht, sondern zu einem neuen, auf die Bestimmtheit des ponierten Gehalts bezogenen, aber anders bestimmten ponierten Gehalt führt. 39 Ausführlicher dazu s. M. Kettner: »Affirmative Genealogie und argumentativer Diskurs. Ein Vergleich im Anschluss an Hans Joas«, in: H.-J. Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, S. 29–48. 40 Hegel, der vom Spiel des Gründe Einforderns und Gründe Gebens nicht sonderlich viel hält, würde in dieser Prozessstruktur diskursiver Konsensbildung allerdings einen Zug in die »schlechte Unendlichkeit« sehen. 37

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Klärung von erkenntnisnotwendigen Synthesisregeln (»synthetische Urteile a priori«) ein unerlässlicher Teil der philosophischen Vernunfttheorie sein müsse. Sie unterschlägt aber noch, wie Apel nicht müde wird nachzuweisen, den Sprachlogos und unterbietet dadurch den Logos bzw. die menschliche Vernunft insgesamt.41 Erst die TSP gibt dem, was Kant als vernünftige »synthetische Leistungen« fasste, Sprache. Mit dieser linguistischen Transformation verliert sich allerdings die alte Hoffnung, die Synthesisregeln könnten als ein invariantes Netz von Begriffsbestimmungen (Kategorien, conceptual schemes) ein für alle Mal herauspräpariert werden.42 Was nach der philosophischen Geste der Detranszendentalisierung an ihre Stelle tritt, sind, unter dem Bezugsproblem der Einheit von Vernunft gesehen, geordnete Interpretationsaktivitäten von Personen, die ihre zur Sprache bringbaren Geltungsansprüche, ihre zur Sprache bringbaren Grundlagen und ihre zur Sprache bringbaren Erfahrungen fortwährend miteinander und untereinander ins Lot bringen – und die dabei lernen können, sich selbst als Ko-Subjekte unter Ko-Subjekten in einer Gemeinschaft zu verstehen, die – wie im Abschnitt 3 dargelegt – sich normativ definiert, und zwar als prinzipiell offen. In dem fortwährenden interpretativen Prozess der Triangulierung von Geltungsansprüchen, Grundlagen und Erfahrungen – wie im Abschnitt 5 beschrieben – kann die normative Diskurstheorie der Vernunft die praxeologische Einheit der Vernunft sehen. Diese Einheit ist die Erreichbarkeit aller füreinander erreichbaren Gründe in der Gemeinschaft der Begründer, d. h. aller, die miteinander argumentieren können. Sie ist also kein Zustand, keine Eigenschaft, kein Telos, sondern ein kulturell ermöglichter Interpretations-, -Kommunikations- und Interaktionsprozess. Da Gründe43 auf keine andere Weise als in gedanklichen Überlegungen bzw. (um cartesianische und platonistische Missverständnisse abzuwehren) in Praktiken argumentierender Kommunikation synthetisch zusammengebracht werden, kann man die Einheit aller füreinander erreichbaren Gründe auch die, durch kein transzendentes Prinzip begrenzte, Gemeinschaft des Argumentierens nennen.44 Man kann diese formale Vernunfteinheit mit Apel als »Sprachlogos« bezeichnen, muss dann aber mit Missverständnissen rechnen – z. B. mit dem sprachidealistischen Missverständnis, dass sich prinzipiell nur die sprachlichen Aktivitäten und die sprachlichen Produkte von menschlichen (oder – das kann offenbleiben – auch von nichtmenschlichen) 41 Vgl. Apel: »Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 92–136. 42 Vgl. S. 504–573 in: M. Niquet: Transzendentale Argumente. Kant, Strawson und die Aporetik der Detranszendentalisierung, Frankfurt/M. 1991. 43 Handlungs- bzw. »Beweggründe« ebenso wie Bewertungs- bzw. »Standardgründe«, vgl. zu diesen Differenzierungen im Rahmen einer Diskursrollendefinition eines Grundes s. S. 450–452 in: Kettner »Gründe und Affekte« (in: J. Nida-Rümelin, E. Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 4, Hamburg 2012 , S. 444–454) sowie Kettner: »Was macht Gründe zu guten Gründen?« (in: P. Janich (Hg.): Naturalismus und Menschenbild, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 1, Hamburg 2009, S. 257–275). 44 Ein Prinzip der Begrenzung dieser Gemeinschaft wäre ein bestimmter Grund für eine bestimmte Grenzziehung. Also fiele er in die Argumentation und nicht außerhalb. Die radikale Argumentation ist autonom, insofern sie sich keine Grenzen vorgeben lässt, sondern diese intern setzt, nämlich mit Gründen, die ggf. ihrerseits (wieder) in die Argumentation gezogen werden können.

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Sprachwesen als vernünftig qualifizieren können. Dass Vernunft »zur Sprache kommt«, das heißt, zu »Sprachlogos« (Apel) wird unter Wesen, die sich miteinander über alles Mögliche so verständigen können, wie wir Menschen dies unter günstigen Bedingungen tun können, sollte aber nicht so vorgestellt werden, als bildeten alle Sprechhandlungen plus alle jene Handlungen, die ohne Sprechhandlungen nicht möglich wären, so etwas wie eine separate Zone innerhalb der Totalität unserer Praktiken, und als wollten wir nur diese Zone als den »Sprachlogos« einkreisen. Es gibt diese separate Zone nicht. Denn die Möglichkeit, sich auf den Sinn dessen, was man tut, zu besinnen, ist in die kulturelle Form jeglicher menschlicher Praktiken ursprünglich schon eingebaut.45 Zudem: Alle kulturell erlernten Praktiken haben als solche eine holistische Verfassung.46 Der Eintritt kommunikationsdienlicher symbolischer Formen von der semiotischen Komplexität menschlicher Sprachen in alle Felder menschlicher Praktiken verändert diese tiefgreifend. Das gilt ontogenetisch für den Spracherwerb von Kindern nicht anders als phylogenetisch für die Sprachentwicklung von Kollektiven. Zwar können wir darüber, was Logos (Vernunft, Rationalität) vor oder jenseits seiner zum Sprachlogos qualifizierten Gestalt wohl wäre, nachdenken und darüber Theorien entwickeln; aber unmöglich anders als durch unseren Sprachlogos hindurch. Denn unsere diesbezüglichen theoretischen Verständigungsaktivitäten beanspruchen selbst immer schon Vernünftigkeit. Die maßgebliche Differenz, von deren gleichsam ›grammatischer‹ Verfügbarkeit es abhängt, ob irgendwelche symbolisch irgendwie geformten semiotischen Verhältnisse Verständigungsverhältnisse sind, die Sprachlogos beinhalten, d. h. das Spiel der Triangulierung von Geltungsansprüchen, Grundlagen und Erfahrungen unterstützen, ist die Differenz von guten versus schlechteren und nur scheinbar guten Gründen.47 Der Sprachlogos – oder weniger alteuropäisch gesagt: diskursive Vernunft – ist die einheitliche Handhabung dieser Differenz. Da jede bestimmte Unterscheidung guter versus weniger guter oder nur scheinbar guter Gründe ihrerseits auf Gründen und Hintergründen beruhen muss, und auch diese ggf. problematisiert und in die Diskursdynamik von Kritik und Begründung hineingezogen werden können, ist die diskursive Vernunft als die steigerbare und iterierbare einheitliche Handhabung der Differenz besserer und schlechterer Gründe zu begreifen.48 45 Dietrich Böhler (Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg 2014) hat diese Behauptung unter dem Stichwort des »Begleitdiskurses« plausibilisiert. 46 »Holistisch« soll nicht heißen, dass jede isolierbare Praktik den Sinn jeder anderen isolierbaren Praktik gleichmäßig mitbestimmt. Es hängt nicht einfach alles mit allem zusammen. Aber man kann einzelne menschliche Praktiken nicht außerhalb mal mehr, mal weniger kohärent komponierter Zusammenhänge begreifen, und solche Zusammenhänge sind durchgängig in menschlichen Lebensformen, vgl. Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, bes. S. 67–140. 47 Über die semiotischen Anforderungen an Sprache, die sie zu einer für diskursive Argumentationspraktiken geeigneten Sprache macht, ist innerhalb der TSP viel nachgedacht worden, s. bes. Audun Öfsti (Abwandlungen, Würzburg 1994) über die Eigenschaften einer diskursiv »vollständigen« Sprache. 48 Auf Verhältnisbestimmungen diskursiver Rationalität zu anderen Modellierungen von Vernunft kann ich hier nicht eingehen. Es ist m.E. schon ein Fortschritt, die bei Habermas leerlaufende, aber auch bei Apel nicht wirklich gefüllte Rede von »kommunikativer Rationalität« mit einem vergleichsweise klaren Inhalt auszufüllen.

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Die Kultivierung der diskursiven Vernunft ist Arbeit49 an der Verstetigung (Kontinuität), Vertiefung (Reflexivität) Horizonterweiterung (Universalisierung), Verbesserung (Meliorismus) und Verbesserbarkeit (Fallibilismus) in der einheitlichen Handhabung dieser Differenz innerhalb der Praxis des Miteinander-über-etwas-Argumentieren, zwischen Anwesenden oder mit als anwesend vorgestellten Abwesenden (»kontrafaktisch antizipierte Kommunikationsgemeinschaft«) in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

7. Schluss: Ein konkreter Begriff diskursiver Vernunft Die für TSP paradigmatische These von der apriorischen, transzendentalen, dialektischen Rolle der Kommunikationsgemeinschaft haben wir so interpretiert, dass argumentative Kommunikation als eine geschichtliche Praxis deutlich geworden ist, die zugleich das Medium von Geltungsreflexion ist, worin wir intersubjektiv geteilte Auffassungen des Gültigen konstruieren und verbessern. Im Lauf der Interpretation der ersten zwei von drei Thesen, als die wir diesen Paradigmenkern im Abschnitt 2 formuliert hatten – (TT1) alles Argumentieren und Denken, für das wir in irgendeinem Sinne Gültigkeit beanspruchen wollen, ist nur möglich unter Personen, die miteinander als Mitglieder einer faktisch zwar nur begrenzt weiten, doch zugleich kontrafaktisch unbegrenzt erweiterbaren Gemeinschaft konsenssuchend miteinander kommunizieren können; (TT2) die Praxis ernsthaften Miteinander-über-etwas-Argumentierens ist das Maß alles Gültigen, dass es gültig ist, und alles Ungültigen, dass es ungültig ist – haben wir nun einen konkreten Begriff von diskursiver, in argumentierender Kommunikation wirklicher Vernunft gewinnen können. Auf die dritte These – (TT3) dass sich der Wahrheit von TT1 und TT2 zweifelsfrei vergewissern kann, wer sich als Diskurseilnehmerin in der rechten Weise auf ihre diskursiven Handlungsvollzüge besinnt – konnten wir an dieser Stelle nicht mehr eingehen.50 Als Interpretationsergebnis des Paradigmenkerns der TSP lässt sich festhalten: Diskursive Vernunft kann als die kulturelle Errungenschaft einer Orientierungspraxis gefasst werden, die eine kommunikative Vergemeinschaftung involviert. Die objektive, kulturell entwickelte Möglichkeit, die sich uns mit dieser Orientierungspraxis eröffnet hat, ist es, dass wir uns mit Gründen an Gründen orientieren können, und zwar so, dass wir, gleich anderen vernünftig Handelnden, uns auf möglichst überzeugende Weise darüber verständigen, welche Gründe in Bezug auf etwas, für uns in seiner Gültigkeit Infragestehendes relevant und welche von den relevanten Gründen dann besser, welche schlechter als an49 Normalisierungsarbeit ist eine von fünf Prozesseigenschaften, durch die sich kulturelle Prozesse in ihrer Spezifik von anderen Prozessen unterscheiden lassen. Die weiteren Prozesseigenschaften sind Geschichtlichkeit, Wir-Bezug, Musterbildung schwache Normativität, s. Kettner: »Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen«, in: F. Jäger, B. Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 219–231. 50 Zum Komplex der »Letztbegründung« innerhalb der TSP existiert eine ausgedehnte Forschungsliteratur. Zu den zwei stärksten affirmativen Positionen s. Wolfgang Kuhlmann (Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2010) und Dietrich Böhler (Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg 2014). Eine sehr gute Analyse der Probleme des Apelschen Ansatzes gibt Marcel Niquet (Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegomena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen, Berlin 1999).

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dere sind – und dies in allgemein geteilten spezifisch ausdifferenzierten Hinsichten (der Wahrheit, der Richtigkeit, der Triftigkeit u. a. m.). Was also ist diskursive Vernunft? Fassen wir es in eine komplexe Formel zusammen: Diskursrationalität ist derjenige Sinn von Vernünftigkeit, in welchem wir die aktualisierende Revision von Konsens (als Einheit von Konsens und Dissens) über die Güte von Gründen »mehr oder weniger vernünftig«, d. h. wiederum aus mehr oder weniger guten Gründen, vollziehen. Wollte man diese Orientierungspraxis elliptisch als ein Projekt beschreiben, so wäre sie: das potentiell gattungsweite Projekt einer Suche nach der bestmöglichen Verständigung über die möglichst besten Gründe. Noch einmal anders und auf Englisch gesagt: Improving the stock of reasons that can serve as common grounds in whatever judgmental practices we develop.

Literatur Adolphi, Rainer: »Wertbeziehung. Die Mehrschichtigkeit von wissenschaftlichen Wert-Problemen (im Anschluß an Max Weber)«, in: K.-O. Apel, M. Kettner (Hg.): Mythos Wertfreiheit? Neue Beiträge zur Objektivität in den Human-und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M., New York 1994, S. 77–107. Albert, Hans: Kritik des transzendentalen Denkens, Tübingen 2003. Alvarez, María: »What are reasons?«, in: J. Nida-Rümelin, E. Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Hamburg 2012, S. 100–111. Apel, Karl-Otto: »Zur Idee einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 21–53. − »Die Logos-Auszeichnung der menschlichen Sprache. Die philosophische Tragweite der Sprechakttheorie«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 92–136. − »Intersubjektivität, Sprache und Selbstreflexion«, in: ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 381–301. − »Transzendentale Semiotik und die Paradigma der prima philosophia«, in ders.: Paradigmen der Ersten Philosophie, Berlin 2011, S. 54–83. − »First things First: Der primordiale Begriff der Mit-Verantwortung (Ein Beitrag zur Begründung einer planetaren Makroethik)«, in: M. Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt 2000, S. 21–50. − Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998. − »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 33–80. − »Fallibilismus, Konsenstheorie der Wahrheit und Letztbegründung«, in ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 81–193. − »Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung. Heidegger und das Problem der Transzendentalphilosophie«, in: ders.: Auseinandersetzungen. In Erprobung des transzendentalpragmatischen Ansatzes, Frankfurt/M. 1998, S. 505–567.

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− »Erste Philosophie heute?«, in: K.-O. Apel, V. Hösle, R. Simon-Schäfer (Hg.): Globalisierung: Herausforderung für die Philosophie, Bamberg 2002, S. 21–74. − Der Denkweg des Charles S. Peirce, Frankfurt/M. 1975. − »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, in: ders.: Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/Main 1973, S. 358–435. − »Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften«, in: ders.: Transformation der Philosophie, Band 2, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt/M. 1973, S. 220–262. − Charles S. Peirce. Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Frankfurt/M. 1970 Apel, Karl-Otto, Niquet, Marcel: Diskursethik und Diskursanthropologie. Aachener Vorlesungen, Freiburg 2002. Böhler, Dietrich: Verbindlichkeit aus dem Diskurs, Freiburg 2014. Böhler, Dietrich, Kettner, Matthias, Skirbekk, Gunnar (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 2003. Brunkhorst, Hauke: »Zur Dialektik von realer und idealer Kommunikationsgemeinschaft«, in: Andreas Dorschel/Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann/Marcel Niquet (Hg.): Transzendentalpragmatik, Frankfurt/M. 1993, S. 342–357. Dorschel, Andreas, Kettner, Matthias, Kuhlmann, Wolfgang, Niquet, Marcel (Hg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt/M. 1999. Finlay, Steven: »Explaining Reasons«, in: J. Nida-Rümelin, E. Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Hamburg 2012, S. 112–126. Habermas, Jürgen: »Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität«, in: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1999, S. 102–136. Habermas, Jürgen: »Wahrheitstheorien«, in: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1995, S. 127–186 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Frankfurt/M. 1981. Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Band 1, Frankfurt 1970. Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Berlin 2013. Keil, Geert: »Über den Einwand einer anderen möglichen Vernunft«, in: D. Böhler/M. Kettner/G. Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit KarlOtto Apel, Frankfurt/M. 2003, S. 65–82. Kettner, Matthias: »Affirmative Genealogie und argumentativer Diskurs. Ein Vergleich im Anschluss an Hans Joas«, in: H.-J. Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, S. 29–48. − »Gründe und Affekte«, in: J. Nida-Rümelin/E. Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 4, Hamburg 2012, S. 444–454. − »Was macht Gründe zu guten Gründen?«, in: P. Janich (Hg.): Naturalismus und Menschenbild, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Band 1, Hamburg 2009, S. 257–275. − »Konsens«, in: S. Gosepath, W. Hinsch, B. Rössler (Hg.): Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Band 1, Berlin 2008, S. 641–644.

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− »Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen«, in: F. Jäger, B. Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004, S. 219–231. − »Gute Gründe. Thesen zur diskursiven Vernunft«, in: K.-O. Apel und M. Kettner (Hg.): Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, Frankfurt/M. 1996, S. 424–464. − »Ansatz zu einer Taxonomie performativer Selbstwidersprüche«, in: A. Dorschel, M. Kettner, W. Kuhlmann, M. Niquet, (Hg.): Transzendentalpragmatik. Ein Symposion für Karl-Otto Apel, Frankfurt 1993, S. 187–211. Kuhlmann, Wolfgang: Unhintergehbarkeit. Studien zur Transzendentalpragmatik, Würzburg 2010. Lafont, Cristina »Ist Objektivität perspektivisch? Ein Vergleich zwischen Brandoms und Habermas’ Konzeption von Objektivität«, in: L. Wingert, K. Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 192–216. Loer, Thomas: »Norm und Normalität«, in: Herbert Willems (Hg.): Lehr(er)buch Soziologie. Band 1: Grundlagen der Soziologie und Mikrosoziologie, Wiesbaden: VS Verlag 2008, S. 165– 184. Niquet, Marcel: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolegomena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen, Berlin 1999. Niquet, Marcel: Transzendentale Argumente. Kant, Strawson und die Aporetik der Detranszendentalisierung, Frankfurt/M. 1991. Öfsti, Audun: Abwandlungen, Würzburg 1994. Rähme, Boris: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität: Ein Beitrag zur Diskussion epistemischer Wahrheitskonzeptionen (Epistemische Studien, Band 18), Heusenstamm 2010.

KOLLO QUIUM 17 Genesis und Geltung rechtlicher Normen Kolloquiumsleitung: Stephan Kirste

Stephan Kirste Rechtsbegriff und Rechtsgeltung Marietta Auer Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse Dietmar von der Pfordten Kritik der Geltung Matthias Mahlmann Geschichtlichkeit und Geltung von Grundrechten Thomas Gutmann Genesis, Geltung, Genealogie

Rechtsbegriff und Rechtsgeltung Stephan Kirste (Salzburg)

Über die Bedeutung der Begriffe des Rechts und der Geltung besteht seit langem Uneinigkeit in der Rechtstheorie. Diese Differenzen betreffen nicht nur die Kriterien für das, was Recht ist und wann dieses Recht gilt; sie beziehen sich darüber hinaus auf die grundlegendere Frage, ob Rechtsbegriff und Rechtsgeltung notwendig zusammenhängen oder gar zusammenfallen. Dann wäre nur geltendes Recht Recht, bzw. der Begriff der Rechtsgeltung vielleicht sogar entbehrlich. Die Antwort auf diese Frage setzt eine Bestimmung dessen voraus, was überhaupt mit Rechtsgeltung gemeint ist, welches ihre Funktion ist. Diese Problematik wird in rechtstheoretischen Diskussionen häufig vorausgesetzt. Stattdessen beginnen sie mit einer Unterscheidung von verschiedenen Arten der Rechtsgeltung und bestimmen dann deren Verhältnis. Die Auffassung, dass nur geltende Normen Recht seien, Geltung also ein notwendiges Merkmal des Rechtsbegriffs sei, wird damit begründet, dass nur geltende Normen wirklich existierten.1 Nur sie könnten die Funktion des Rechts erfüllen, motivierend auf das Handeln der Rechtssubjekte zu wirken.2 Geltung wird dann im Sinne der sozialen Wirksamkeit verstanden.3 Josef Raz begründet anders. Er nimmt an, dass Normen nur dann wahr sind, wenn diese Normen auch wirklich existieren, wie ein nicht-existierender Stein kein Stein sei. Diese Existenz werde aber mit dem Begriff der Geltung ausgesagt.4 Jedoch ist die Aussage, dass ein nicht-existierender Stein ein Stein sei, nur insofern falsch, als seine Existenz ausgesagt wird. Den Begriff des Steines kann ich ganz unabhängig von einem Stein bestimmen. Ebenso die Norm: Warum sollte es nicht möglich sein, zu bestimmen was eine Norm ist, auch wenn die Norm nicht, oder jedenfalls nicht in den üblichen In jüngerer Zeit etwa Raz 1977, S. 339: »A rule which is not legally valid is not a legal rule at all. A valid law is a law, an invalid law is not«. Zuvor neben vielen anderen etwa: Jellinek 1959, S. 20: »Die Rechtsnormen nämlich sind geltende, d. h. in Kraft stehende Normen, denen Garantien ihrer Erfüllung zur Seite stehen. Diese Geltung erhebt sie zu einem Teile des Seienden, so darf sie eine Doppelstellung einnehmen. Das positive Recht unterscheidet sich von irgendwelchen anderen Willensnormen dadurch, daß es als reale Macht bestimmte berechenbare Wirkungen ausübt«. 2 Jellinek 1959, S. 333: »Alles Recht hat als notwendiges Merkmal das der Gültigkeit. Ein Rechtssatz ist nur dann Bestandteil der Rechtsordnung, wenn er gilt; ein nicht mehr geltendes Recht oder ein Recht, das erst Geltung gewinnen soll, ist nicht Recht im wahren Verstande des Wortes. Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen. Diese Fähigkeit entspringt aber aus der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen«. 3 Nochmals Jellinek 1959, S. 334. 4 Raz 1977, S. 341: »Rules […] are things the content of which is described by some normative statements and such statements are true if the rules exist, i.e. are valid, and not true if the rules do not exist, i.e. are not valid. Hence our original observation that an invalid rule is not a rule: A non-existent stone is not a stone, though we can talk about such stones and describe some of their properties as we can do about invalid rules«. 1

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Weisen der Geltung existiert? Gegenüber diesen Auffassungen unterscheiden andere die Begriffe von positivem Recht und geltendem Recht, weil das letztere nur den normativ gerechtfertigten Teil des ersteren bezeichne.5 Hier soll demgegenüber die These vertreten werden, dass der Rechtsbegriff (nur) die Funktion hat, zu bestimmen was Recht ist. Er legt die Kriterien für das Verständnis einer geltenden Norm als Recht fest. Der Begriff der Rechtsgeltung ordnet hingegen die Rechtsnorm in eine konkrete Rechtsordnung ein. Rechtsbegriff und Rechtsgeltung sind mithin unabhängig voneinander zu bestimmen und haben unterschiedliche Bedeutung. Beide sind aber notwendige Voraussetzungen für die Verbindlichkeit des Rechts. Eine Norm ist also nur dann rechtlich verbindlich, wenn sie erstens Recht ist und zweitens als Recht gilt. Juristische, soziale und moralische Geltungsart betrachten Rechtsnormen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven6 und beurteilen die Frage, ob die betreffende Rechtsnorm als Teil von sozialen Praktiken oder der Moral zugeordnet werden kann. Entsprechend gliedert sich der folgende Aufsatz in (I.) Ausführungen zum Rechtsbegriff, (II.) zur Rechtsgeltung und hierbei (1.) zur Bedeutung von Geltung, (2.) zur Unterscheidung von Geltungsarten und ihrer Bedeutung für die Rechtsgeltung und schließlich (III.) und zusammenfassend zur rechtlichen Verbindlichkeit.

I. Der Begriff des Rechts Der Rechtsbegriff bestimmt mittels einer Definition, was Recht ist und wie es von anderen Ordnungen unterschieden werden kann. Sieht man einmal von Theorien ab, die bezweifeln, dass man etwas so Heterogenes wie das Recht überhaupt begrifflich bestimmen kann,7 bleiben aber genügend Probleme übrig. Sie betreffen sowohl die allgemeinen Merkmale des Rechts wie auch die besonderen abgrenzenden Kriterien. Hier soll dem nicht allzu vertieft nachgegangen werden, sondern nur gezeigt werden, was der Rechtsbegriff immerhin leisten kann.8

Stammler 1922, S. 143: »Ein solches positives Recht kann aber entweder an einem bestimmten Orte in Geltung stehen oder nicht mehr gelten oder noch nicht in Kraft getreten sein. Wenn die Ausdrücke ›positives‹ und ›geltendes‹ Recht zuweilen verwechselt oder in übereinstimmender Bedeutung eingesetzt worden sind, so ist die sachliche Scheidung der beiden Begriffe doch überall festzuhalten. Das geltende Recht ist nur ein Teil des positiven Rechtes«. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen Begriff und Geltung des Rechts, Stammler 1922, S. 144. 6 Verdroß 1950, S. 98: »Die Frage der Geltung (Wirksamkeit) einer Rechtsordnung führt uns in die Soziologie, die Frage der positiv-rechtlichen Geltung einer einzelnen Norm bildet ein Problem der Rechtstheorie, die Frage der Verbindlichkeit einer Norm aber ein Problem der Wertphilosophie«. 7 Henkel 1977, S. 13 u. 15: »Die Unmöglichkeit, den Begriff des Rechts in einer einzigen und einheitlichen Bestimmung zu artikulieren, liegt bereits in unserem Betrachtungsgegenstand begründet, der uns nicht eindimensional, sondern als zweiseitiges Phänomen entgegentritt. Es wird späterhin darauf einzugehen sein, daß das Recht eine Wirklichkeitsseite und eine Ideenseite aufweist«. 8 Näheres etwa bei Kirste 2010, S. 62 ff.; Hoerster 2009, S: 79 ff.; Alexy 1992, S. 27 ff.; zu verschiedenen Rechtsbegriffen auch Griller/Rill 2011, S. 1–81. 5

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Schon das allgemeine Merkmal des Rechtsbegriffs ist von den unterschiedlichen wissenschaftlichen Grundpositionen beeinflusst. Eine soziologisch orientierte Rechtstheorie wird Recht als Form sozialer Handlung oder Kommunikation bestimmen. Die meisten Theorien gehen jedoch vom Begriff der Norm aus. Dafür spricht, dass die normative Steuerung das Recht von anderen faktischen Sozialordnungen unterscheidet. Recht soll das Verhalten nicht bloß durch Befehl und Macht, sondern durch Verpflichtungen, seien sie nun Verbote, Gebote oder Erlaubnisse anleiten. Sekundär mögen so Erwartungen stabilisiert werden.9 Allerdings ist diese Abgrenzung noch nicht spezifisch genug; denn auch die Moral steuert Verhalten durch Normen. Ganz abgesehen von möglichen inhaltlichen Übereinstimmungen, liegt hierin eine formale Gemeinsamkeit zwischen Recht und Moral. Damit stellt sich aber die Frage, ob rechtliche von moralischen Normen abgegrenzt werden und welches mögliche Abgrenzungskriterien sein könnten. An dieser Stelle unterscheiden sich bereits die Antworten von positivistischen und nichtpositivistischen Rechtstheorien. Insbesondere erkenntnisskeptische, non-kognitivistische Theorien sehen Recht als Gegenstand möglicher Erkenntnisse an, Moral hingegen nicht.10 Andere, insbesondere die Prinzipientheorien Dworkins und Alexys bezweifeln die grundsätzliche Unterscheidbarkeit von rechtlichen und moralischen Normen und verweisen zum Beleg auf Prinzipien, die sich in beiden Bereichen finden11 wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit.12 Wiederum kann und soll hier nicht die ganze Debatte aufgerollt werden; die von der Prinzipientheorie angenommenen inhaltlichen Gemeinsamkeiten mögen durchaus zugestanden werden. Dennoch bleibt ein Unterschied in der Form dieser Prinzipien bestehen. Prinzipien sind in der Moral je nach theoretischem Zugang Ausdruck von Werterkenntnis, rationalen Diskursen oder allen möglichen Interessen oder Überzeugungen.

»Recht wird also nicht einfach mit mächtiger politischer Unterstützung nur behauptet und dann, mehr oder weniger, durchgesetzt. Sondern es ist überhaupt nur Recht, wenn erwartet werden kann, daß normatives Erwarten normativ erwartet wird« (Luhmann 1993, S. 144) und weiter: »Wir können das Recht […] definieren als Struktur eines Gesellschaftssystems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht«, Luhmann 1987, S. 105. 10 Hoerster 1993, S. 418. Skeptisch gegenüber der Werterkenntnis und eine relativistische Wertlehre vertretend etwa Kelsen 1960, S. 71: »Eine relativistische Wertlehre bedeutet nicht […], dass es keine Werte und insbesondere keine Gerechtigkeit gebe, sondern nur, dass es keine absoluten, dass es nur relative Werte, keine absolute, sondern nur eine relative Gerechtigkeit gibt«. 11 Dworkin 1986, S. 413: »What is law? […] Law is not exhausted by any catalogue of rules or principles, each with its own dominion over some discrete theater of behavior. Nor by any roster of officials and their powers each over part of our lives. Law’s empire is defined by attitude, not territory or power or process […] It is an interpretive, self-reflective attitude addressed to politics in the broadest sense […].« Zu Alexy später. 12 Ich lasse Theorien, die auf eine starke Verbindung von Recht und Moral abzielen wie bestimmte naturrechtliche Ansätze hier außer Betracht. Nicht, weil sie nicht diskussionswürdig wären – das hieße die Augen vor den Wurzeln der heutigen ausdifferenzierten Rechtssysteme verschließen –, sondern weil sie aufgrund ihres Erkenntnisinteresses nicht so viel zur begrifflichen Unterscheidung des gegenwärtigen Rechts von der Moral beizutragen haben. Mir ist natürlich bewusst, dass die Unterscheidung von positivem Recht und Naturrecht oder eben der rechtsbezogenen Moral ihren Ursprung in der naturrechtlichen Tradition hat, vgl. etwa Kirste 2002, S. 7 ff. 9

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Jedenfalls in moderne ausdifferenzierte Verfassungsordnungen mit Grundrechtskatalogen gelangen sie jedoch nur aufgrund von verfassungsrechtlichen oder gesetzgeberischen Entscheidungen. Entsprechende Prinzipien werden also von ihrer moralischen in eine verfassungsrechtliche Form transformiert. Nunmehr bestimmt sich ihre Reichweite auch nach verstärkenden oder beschränkenden anderen verfassungsrechtlichen Prinzipien und nicht mehr (nur?) nach moralischen Einsichten. Also scheint sich Recht von anderen Normen dadurch abzuheben, dass es auf Entscheidungen beruht. In dieser Weise wurde das Recht durch Imperativentheorien13 oder dezisionistische14 von anderen Normen unterschieden. Auch Varianten von Anerkennungstheorien, die auf Akzeptanz abstellen,15 wären hier anzuführen. Andere Theorien haben hingegen Zweifel am Realismus dieser Ansätze und stellen statt auf die Entstehung von Normen auf ihre Wirksamkeit ab. Recht unterscheide sich von der Moral durch seine zwangsmäßige Durchsetzbarkeit.16 Doch leiden sowohl die genetischen als auch die wirksamkeitsorientierten Theorien zur Abgrenzung von moralischen und rechtlichen Normen an zwei Fehlern: Erstens ignorieren sie die seit Hume und Moore17 etablierte Unterscheidung zwischen normativen und empirischen Aussagen und zweitens verkennen sie, dass das moderne Recht sowohl die Entstehung als auch die Durchsetzung von Rechtsnormen regelt. Der erste Punkt wird von Hans Kelsens dualistischem Normativismus hervorgehoben. Recht soll von ihm als ein normativer Erzeugungszusammenhang verstanden werden, bei dem Normen nur aus Normen verstanden werden können. Letzte, transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis einer Normenordnung als Recht ist daher nicht eine Entscheidung, sondern die hypothetische Grundnorm.18 Ihr Problem besteht jedoch darin, dass sie zwar die reine Normativität des Rechts aus sich selbst begründen kann;

In diesem Sinne etwa John Austin: »A law is a command which obliges a person or persons. But, as contradistinguished or opposed to an occasional or particular command, a law is a command which obliges a person or persons, and obliges generally to acts or forbearances of a class […] a law is a command which obliges a person or persons to a course of conduct«, Austin 1832, S. 18. 14 Schmitt, Verfassungslehre, S. 22: »Jedes Gesetz als normative Regelung, auch das Verfassungsgesetz, bedarf zu seiner Gültigkeit im letzten Grunde einer ihm vorhergehenden politischen Entscheidung, die von einer politisch existierenden Macht oder Autorität getroffen wird«. 15 »Recht im juristischen Sinne ist im allgemeinen das, was Menschen, die in irgendwelcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm oder Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen« (Bierling 1894, S. 19). 16 Vgl. etwa Rudolf von Jhering: »Der vom Staat in Vollzug gesetzte Zwang bildet das absolute Kriterium des Rechts, ein Rechtssatz ohne Rechtszwang ist ein Widerspruch in sich selbst, ein Feuer, das nicht brennt, ein Licht das nicht leuchtet«, von Jhering 1877, S. 177. Auch die oft zitierte Definition von Weber: »Eine Ordnung soll heißen […] Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen«, Weber 1980, S. 17. 17 Moore 1903, S. 10. 18 Kelsen 1960, S. 47. Das hatte bekanntlich schon Kant gesehen und eine natürliche Grundnorm vorausgesetzt: »Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter natürliche Gesetze enthielte; alsdenn aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründete«, Kant MS, S. 331. 13

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das Recht jedoch nicht bloß Normativität, sondern eine spezifische Form von Normativität darstellt. Und nach diesem Spezifikum sucht gerade die Abgrenzung von Recht und Moral. Dazu reicht es nicht, non-kognitivistisch moralische Normen als bloß subjektive Tatsachen zu verstehen, die noch einer objektiven Deutung harren. – Diese Kritik an Kelsen bedeutet freilich nicht, dass die Suche danach aufzugeben wäre, Normen aus Normen zu begründen. Dafür spricht auch der zweite Einwand gegenüber genetischen und wirksamkeitsorientierten Theorien der oben geschilderten Lesart: Recht ist nicht einfach eine kontingente Setzung. Auf allen Ebenen einer Rechtsordnung ist das Rechtserzeugungsverfahren normiert. Auch die Verfassunggebung ist ja nicht selbst ein revolutionärer Akt – der kann nur negativ die alte Verfassung beseitigen. Vielmehr sucht auch sie nach Rechtfertigungen in höheren Normen wie den Menschenrechten (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte) oder überkommenen Rechten (Unabhängigkeitserklärung) oder geht aus formalen verfahrensmäßigen Normierungen hervor. Von dort über den Erlass von formellen Gesetzen und materiellen Rechtsverordnungen, die prozessrechtlichen Voraussetzungen von gerichtlichen Entscheidungen bis zum Abschluss von Verträgen – und natürlich auch im Völkerrecht – bestehen für die Entstehung von Normen Verfahrens- und materielle Regelungen in Form von Normen. Freilich gehören sie bei der Verfassunggebung nicht notwendig zur Verfassungsordnung, deren Entstehung sie regeln. Auch auf der Seite der Wirksamkeit fällt auf, dass die Durchsetzung von Normen in Rechtsordnungen selbst wiederum normiert ist. Es ist ein wesentliches Kennzeichen des modernen Rechtsstaats, dass er nicht nur auf das Recht gegründet, sondern dass die Zwangsanwendung zur Durchsetzung seines Rechts rechtlich beschränkt ist. Das Vollstreckungsrecht, der Strafvollzug, auch das Polizeirecht normieren gerade die Durchsetzung des Rechts und notfalls die Sanktionierung seiner Verletzung. Maßgeblich ist nicht die Tatsache, dass das Recht gesetzt und durchgesetzt wird, sondern dass diese Setzung und Durchsetzung normiert ist. Mithin ist es nicht der Zwang, der eine Norm zu Recht macht, sondern umgekehrt, die Norm, die den Zwang zur rechtmäßigen Durchsetzung des Rechts formt; oder kurz: Im Recht bestimmt nicht der Zwang das Recht, sondern das Recht den Zwang. In der Form des Rechts brechen also Normen sowohl mit der Faktizität der Entstehung der rechtlichen Normen als auch mit der Faktizität ihrer Durchsetzung. Über einen vergleichbaren Mechanismus verfügen andere Normenordnungen nicht. Daher kann bestimmt werden: Eine Norm ist dann Recht, wenn ihre Setzung und Durchsetzung normiert ist. Recht bezeichnet also ein System normierter Normen oder ein reflexives Normsystem. Zwei Erläuterungen dazu: Der Staat tritt in dieser Definition nicht auf. Als moderner Rechtsstaat ist er in rechtstheoretischer und staatsrechtlicher Perspektive auf das Recht gegründet, muss also aus ihm rekonstruiert werden. In dieser Perspektive setzt somit der Staat das Recht voraus und kann nicht zur Begründung des Rechts herangezogen werden.19 Die Konsequenz dieses Begriffs des Rechts als einer reflexiven Normenordnung Das schließt nicht aus, dass historisch und politisch gesehen, die Entstehung wirksamer Rechtsordnungen eine politische Macht voraussetzt, die den Willen zu einer derartigen Ordnung artikulieren und durchsetzen kann. Soll jedoch dieser Wille als rechtlicher Wille erklärbar sein, muss er rechtlich rekonstruiert werden. 19

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ist die Annahme eines Rechtspluralismus: Immer dann, wenn eine Norm in einem normierten Verfahren entstanden ist und ggf. in einem normierten Verfahren durchgesetzt werden kann, ist sie Recht. So können verschiedene Rechtsordnungen entstehen, die ggf. inhaltlich miteinander kollidieren. Darauf wird zurückzukommen sein. Zweitens ist nicht erforderlich, dass die die Entstehung der Rechtsnorm regelnde Norm ihrerseits wiederum eine Rechtsnorm ist. Zur Vermeidung des normativistischen Fehlschlusses reicht es aus, dass sie überhaupt Normen sind. Entscheidend ist die Rechtfertigung der Entstehung der Rechtsnorm aus einer Norm – sei sie nun formal im Sinne einer bloßen Regelung des Verfahrens oder inhaltlich im Sinne einer moralischen Rechtfertigung. Die Reflexivität der Normenordnung ist das Entscheidende. Die begründende Norm kann dann durchaus ein Ergebnis von moralischer Erkenntnis oder eines moralischen Diskurses oder aber auch der Entscheidung sein. Naturrecht, wie Moral überhaupt, ist danach kein Recht, sondern bezeichnet die auf das rechtliche Verhalten bezogenen Vorschriften der Moral (Dreier). Ebenso ist auch Gewohnheitsrecht nicht schon dann Recht, wenn zu einer tatsächlichen Praxis die Überzeugung von ihrer Verbindlichkeit tritt; denn das kann auch bei sonstigen sittlichen Praktiken der Fall sein. Vielmehr führt erst die Anerkennung in einem normativ geordneten Verfahren – also regelmäßig in einem Gerichtsverfahren – zur Entstehung von Gewohnheitsrecht als einem juristischen Recht. Ob man dies nun im Einzelnen akzeptiert oder nicht, wird doch an dieser Stelle die Leistungsfähigkeit eines solchen Rechtsbegriffs deutlich. Dieser Rechtsbegriff kann durch das Kriterium der Reflexivität der Norm Rechtsnormen von reinen Zwangsordnungen – wenn es die überhaupt gibt – und von der Moral, die nicht aus derartigen reflexiven Normen besteht, unterscheiden. Er kann aber nicht über Konflikte zwischen in dieser Weise als Rechtsnormen erkannten Normen entscheiden. Die im Rechtspluralismus notwendig auftretende Problematik von Normenkonkurrenzen kann mit dem Rechtsbegriff ebensowenig beurteilt werden, wie die Frage, ob solchermaßen als Rechtsordnungen erkannte Normensysteme auch verbindliches Recht erzeugen. Weder ist also auf der Basis des Rechtsbegriffs eine Entscheidung über die Konkurrenz von staatlicher und privater, von nationaler und inter- oder supranationaler Rechtssetzung begründbar, noch die Frage, ob die Rechtsnormen einer Räuberbande auch verbindliches Recht sind. Für die Beurteilung genau dieser Fragen ist der Geltungsbegriff erforderlich. Nun wird man einwenden, dass damit noch nicht die Notwendigkeit des Geltungsbegriffs bewiesen wurde. Schließlich könne der Rechtsbegriff auch anders gefasst werden. Immerhin konnte hier gezeigt werden, dass geltungsfreie Rechtsbegriffe begründet werden können. Danach ist Geltung kein notwendiges Element des Rechtsbegriffs. Der Grund dafür ist, dass die Geltungsproblematik nicht in der Erkenntnis von Normen als Recht aufgeht. Das gilt für materiale wie für formale Rechtsbegriffe: Angenommen zwei gerechte Rechtsordnungen würden Gerechtigkeit unterschiedlich konkretisieren, sich aber noch im Rahmen begründbarer Konkretisierungen bewegen. Wenn der Einzelne beiden Rechtsordnungen unterworfen ist, würden daraus für ihn unterschiedliche Rechtspflichten resultieren. So müsste der Einzelne, wenn er als Recht nur gerechte Rechtsnormen ansieht, beurteilen, welche Rechtspflicht verbindlich ist. Dazu würde ihm

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sein Rechtsbegriff alleine nicht helfen, denn beide Ordnungen wären Recht. In entsprechender Weise könnte auch ein formaler Rechtsbegriff wie etwa derjenige Kelsens bei zwei sich widersprechenden Rechtsnormen, die jeweils durch einen Erzeugungszusammenhang begründet sind, der sich letztlich auf eine Grundnorm stützt, nicht alleine die Kollision von Verpflichtungen beurteilen und entscheiden, welche nun verbindlich ist. Dass beide Theorieansätze nicht wirklich überzeugend sind, habe ich hier zu begründen versucht; doch auch wer meinen daraus begründeten Rechtsbegriff nicht teilt, muss doch akzeptieren, dass auch andere Probleme die Frage der Zuordnung von Rechtsnormen zu bestimmten Rechtsordnungen und die Problematik von Regelungskonflikten nicht lösen können.20 Diese Aufgabe kommt dem Geltungsbegriff zu. An dieser Stelle kann aber bereits die Auffassung zurückgewiesen werden, dass nur geltendes Recht Recht sei. Recht ist vielmehr eine Norm, die dem Rechtsbegriff genügt. Das kann auch eine Norm, deren Entstehung durch ein entsprechend normiertes Verfahren geordnet ist, vor oder nach ihrem Inkrafttreten sein. Auch Normen, die in Bezug auf einen und denselben Sachverhalt Unterschiedliches anordnen, sind Recht. Sonst könnten sie gar nicht kollidieren. Wie aber eine derartige Rechtsnormkonkurrenz zu lösen ist, ist von weiteren Rechtsnormen abhängig. Selbst extrem ungerechtes Recht ist, solange es die Kriterien des Rechtsbegriffs erfüllt, Recht. Das wird aber häufig bei reinen Willkürakten, die sich nicht an ein Verfahren halten, nicht der Fall sein. Ein Konflikt mit moralischen Normen ist auf der begrifflichen Ebene nicht möglich, da es sich um zwei unterschiedliche Normenarten handelt.

II. Rechtsgeltung 1. Geltung Der philosophische Geltungsbegriff hat keine sehr lange Geschichte. Erst die neukantianische Diskussion hat ihm schärfere Konturen verliehen. Wenn etwas ›geltend gemacht‹oder ›zur Geltung gebracht‹ wird, dann ringt die entsprechende Äußerung um eine objektive Anerkennung.21 Bei der Wiedervergeltung setzt sich das objektive Recht gegen die Rechtsverletzung durch. Es geht also um die Erlangung eines objektiven Status, Dworkin 1967/8, S. 27: »If two rules conflict, one of them cannot be a valid rule. The decision as to which is valid, and which must be abandoned or recast, must be made by appealing to considerations beyond the rules themselves. A legal system might regulate such conflicts by other rules, which prefer the rule enacted by the higher authority, or the rule enacted later, or the more specific rule, or something of that sort«. Vor diesem Hintergrund sei es problematisch von der Geltung von Prinzipien zu sprechen, weil diese eben nicht nach der Alles-oder-nichts-Regel funktionierten. Dworkin 1967/8, S. 42: »lt seems odd to speak of a principle as being valid at all, perhaps because validity is an all-or-nothing concept, appropriate for rules, but inconsistent with a principle’s dimension of weight«. 21 Zum Geltendmachen jedoch etwa schon Hegel GPR, § 217Z, S. 619: »Mein Wille ist ein vernünftiger, er gilt, und dies Gelten soll von dem anderen anerkannt sein. Hier muß nun meine Subjektivität und die des anderen hinwegfallen, und der Wille muß eine Sicherheit, Festigkeit und Objektivität erlangen, welche er nur durch die Form erhalten kann«. 20

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der der Aussage nicht notwendig, nicht von Natur aus, zukommt. Daher sprechen Neukantianer wie etwa Lotze oder Rickert von einer Entgegensetzung von Sein und Gelten. Eine Aussage in Gestalt eines Arguments oder eines Schlusses oder auch einer Norm habe dann Geltung, wenn der subjektive Sinn, den der Sprecher mit ihr verbindet, in irgendeiner Weise objektiv rekonstruiert werden könnte.22 Als derartige Bezüge von Geltung kommen alle möglichen Sinnsysteme in Betracht: soziale Praktiken, anerkannte Ethiken, Rechtssysteme. Geltung würde dann bedeuten, dass eine einzelne soziale Verhaltensweise einem System von sozialen Praktiken, ethischen oder rechtlichen Ordnungen zugeordnet werden kann. Die Zuordnung kann prinzipiell normativ erfolgen durch einen materialen Ableitungszusammenhang von niederen aus höheren Normen oder formal durch einen Erzeugungszusammenhang. Vom staatsrechtlichen Positivismus ist sie dezisionistisch vorgenommen worden, so dass eine Norm etwa durch staatlichen Befehl23 oder staatliche Entscheidung24 der Rechtsordnung dieses Staates zugeordnet wird. Gelten soll danach hier verstanden werden als Zuordnung einer Aussage zu einem Sinnsystem. Geltung ist dann der Status der Zugehörigkeit dieser Aussage zu dem betreffenden Sinnsystem. Die Zuordnung entscheidet zwischen verschiedenen Geltungsansprüchen, die u.U. miteinander konkurrieren: zwischen verschiedenen als wahr behaupteten Erkenntnissen gilt nur diejenige, die sich in einem System von wissenschaftlichen Grundannahmen als wahr begründen lässt. Ein behauptetes Recht gilt nur dann, wenn es in einer Rechtsordnung begründet werden kann. Dadurch werden objektiv zu dem System gehörige von anderen Geltungsansprüchen unterschieden. So behauptet sich die Einheit des betreffenden Sinnsystems gegenüber konkurrierenden Geltungsansprüchen. Demgegenüber wird Geltung oft gleichgesetzt mit Existenz.25 Andere wiederum verstehen Existenz und Geltung als Entgegensetzung: Heinrich Rickert nimmt etwa an, dass

In diesem Sinne schreibt etwa Hegel in den handschriftlichen Notizen zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts: »die subjektive Einsicht ist zugleich etwas Zufälliges, und das Gelten des Rechts kann nicht davon abhängig gemacht werden, ob der eine so meinte und möchte, – oder so. Denn eben sie [sind] das Nichtzufällige, das, worin vielmehr die Zufälligkeit aufgehoben ist«, Hegel, GPR, Handschriftl. zu § 3, S. 48 oder bei § 40: »Recht als allgemein macht sich geltend, gibt sich Realität in und gegen einen besondern Willen«, S. 152, vgl. a. S. 278. Zur Strafe schreibt er im § 99: »Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens also ist das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstellung des Rechts«. 23 Lasson 1882, S. 424: »Aus welcher Quelle auch der Rechtsinhalt stammen mag, er erlangt Rechtskraft erst dadurch, dass der Staat ihn als seinen Willen anerkennt und durchsetzt. Somit ist das Recht immer nur Recht für den bestimmten Staat und für das seinem Herrscherwillen untergebene Gebiet. Dies gilt ganz ebenso vom Gewohnheitsrecht oder von dem Juristenrecht, wie vom Gesetzesrecht«. 24 Schmitt 1993, S. 25: »Den letzten Rechtsgrund aller rechtlichen Geltungen und Werte kann man juristisch in einem Willensvorgang, in einer Entscheidung finden, die als Entscheidung überhaupt erst »Recht« schafft und deren »Rechtskraft« nicht aus der Rechtskraft von Entscheidungs-Regeln abgeleitet werden kann«. 25 Kelsen 1960, S. 9: »Mit dem Worte ›Geltung‹ bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm«. Lippold versucht zu erklären: »Was Kelsen zu meinen scheint (und insoweit wäre ihm dann Recht zu geben), ist, daß die Geltung die Form ist, in der eine Norm normativ existiert; ebenso wie man sagen kann. daß Leben die Form ist, in der Lebewesen biologisch (und nicht bloß chemisch) existieren«. Weinberger 1988, S. 116. 22

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Tatsachen existieren, Normen und Werte hingegen gelten.26 Die Gleichsetzung von Existenz und Geltung droht die Relationalität von Geltung zu verschleiern: Etwas, das existiert, existiert schlechthin; die Geltung hingegen ist der Status des Zugeordnetseins relativ zu einem Sinnsystem. Geltungsaussagen sind somit systemrelativ und immanent. Das soll heißen: Geltung besteht nicht ›überhaupt‹ und ›absolut‹. Sie bezieht sich vielmehr auf ein ganz konkretes Sinnsystem. Denn die Geltungskriterien werden von dem betreffenden System selbst aufgestellt. Die Reichweite der Geltung folgt dabei auch der Art des betreffenden Systems und mag bei moralischen Systemen universell, bei ethischen oder rechtlichen Systemen hingegen kontextabhängig sein.27 Es ist also möglich, dass eine Aussage nicht nur in einer bestimmten Art eines Sinnsystems gilt – ethisch aber nicht moralisch –, sondern auch nur in einem einzelnen solchen System, also etwa in den ethischen Überzeugungen dieser konkreten Gemeinschaft, nicht aber in dem einer anderen. Die Objektivität der Geltung bezieht sich dann nur auf dieses konkrete System und nicht auf andere.

2. Rechtsgeltung Bezogen auf die Geltung des Rechts bedeutet dann Geltung die Zuordnung einer Rechtsnorm zu einem bestimmten Ordnungssystem.28 Diese Zuordnung kann in sachlicher Hinsicht geschehen, insofern Rechtsnormen zwar zu einer bestimmten Ordnung, nicht aber zu einer anderen gehören. Hier kann zwischen konkurrierenden Geltungsansprüchen unterschieden und Recht gegenüber Unrecht abgegrenzt werden.29 Gerade wenn man Rechtsbegriff und Rechtsgeltung unterscheidet, kann zwischen der Differenz von Recht und Nichtrecht einerseits und Recht und Unrecht andererseits unterschieden werRickert 1921, S. 122: »Etwas, das nur existiert, gilt nie […]. Wer sagt, daß ›Tatsachen‹ gelten, die nicht Werte sind, redet ungenau, ja, gedankenlos.« Carl Schmitt referiert diese Unterscheidung zwar (2011, S. 35 f.), verwischt den Unterschied aber sogleich wieder, wenn er schreibt: »Die Setzung ist […] nichts, wenn sie sich nicht durchsetzt; die Geltung muß fortwährend aktualisiert, das heißt: geltend gemacht werden, wenn sie sich nicht in leeren Schein auflösen soll. Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen« (a. a.O., S. 41). 27 Im Sinne unterschiedlicher Geltungskontexte formuliert etwa Forst 1996, S. 53: »Rechtsnormen verlangen die Befolgung von allen Rechtsgenossen als Mitgliedern einer bestimmten Rechtsgemeinschaft und sind Ergebnis eines Gesetzgebungsprozesses innerhalb einer politischen Gemeinschaft, während moralische Normen universale Gültigkeit beanspruchen, das heißt für alle Menschen qua Mitglieder der Menschengemeinschaft verbindlich sind (ohne positiv-rechtlich zu gelten). Ethische Werte dagegen haben einen anderen Geltungsanspruch: Sie sind nur für die Individuen gültig, die sich mit diesen Werten identifizieren können, das heißt die sie im Blick auf ihre Lebensgeschichte (als Geschichte innerhalb von Gemeinschaften und bestimmten Kontexten) als Teil ihrer Identität bejahen können«. 28 So auch Lippold 1994, S. 465: »Geltung ist definiert als: Zugehörigkeit einer bestimmten Norm zu einer bestimmten Normenordnung«. 29 Aus der Perspektive des sozialen Begriffs der Rechtsgeltung schreibt daher Jellinek zu Recht: »das Unrecht bricht dasjenige, was unverbrüchlich gelten soll; es zeigt, daß das, was sein soll, nicht sein muß; es beweist, daß die Autorität nicht mächtig genug ist, ihren Geboten unter allen Umständen Geltung zu verschaffen«, Jellinek 1908, S. 62. 26

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den. Nicht-Recht sind Normen, die nicht unter die Kriterien des Rechtsbegriffs fallen. Unrecht sind Normen, die zwar unter den Begriff des Rechts fallen, jedoch nicht rechtlich gelten. Schon Hegel hat deutlich gemacht, dass ein Rechtsbrecher im weitesten Sinn nicht das Recht als solches bestreitet, also etwa leugnet, dass es überhaupt Eigentum gibt, sondern nur einen (Rechts-)Geltungsanspruch erhebt, der vor dem objektiven Recht nicht besteht.30 Das Gerichtsurteil bestätigt danach die bestrittene Geltung des Rechts, indem es diesen zu Unrecht erhobenen Geltungsanspruch zurückweist. Umgekehrt kämpft auch der Kläger nicht um die Sache, sondern macht sein Recht geltend, das durch den unrechtmäßigen Geltungsanspruch des Beklagten bestritten wurde.31 Unrecht ist daher Recht, nur eben ein nur subjektiv geltend gemachtes Recht, das der Rechtsordnung nicht objektiv zugerechnet werden kann. Die Zuordnung zu einem Ordnungssystem kann aber auch in zeitlicher Hinsicht erfolgen, insofern Rechtsnormen noch nicht oder nicht mehr dieser Ordnung zugehören. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie noch nicht in oder bereits außer Kraft getreten sind.32 Weil Prinzipien, die mit anderen Prinzipien kollidieren, optimiert werden können und sich nicht wechselseitig ausschließen, meint Dworkin, dass auf sie der Geltungsbegriff nicht passe.33 Doch auch hier gehören Prinzipien zu einer bestimmten Rechtsordnung und nicht zu einer anderen. Ihre Reichweite und die Parameter des Optimierungsprogramms werden durch diese bestimmte Rechtsordnung und nicht durch eine andere bestimmt. Entsprechend können beispielsweise grund- und menschenrechtliche Prinzipien der EMRK anders entfaltet werden als diejenigen der Europäischen Grundrechtecharta oder der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Anders als in Case-Law-Systemen kann hier sehr wohl eine abschließende Liste der Prinzipien angegeben werden, auch wenn sich hieraus eine unbestimmte Zahl von Konkretisierungen ergeben mag.34

Hegel GPR, § 81, S. 272 u. § 82Z, S. 279. Rudolf von Jhering schreibt daher zutreffend: »[N]icht darum ist es ihm [sc. dem Kläger] zu thun, bloß das Object wieder zu erlangen […], sondern darum, sein gutes Recht zur Geltung zu bringen«, Jhering 1872, S. 19. 32 Vgl. hierzu Heckmann 1997. 33 Dworkin 1967/8, S. 42. 34 Anders eben Dworkin 1967/8, S. 45: »If […] we tried actually to list all the principles in force we would fail. They are controversial, their weight is all important, they are numberless, and they shift and change so fast that the start of our list would be obsolete before we reached the middle. Even if we succeeded, we would not have a key for law because there would be nothing left for our key to unlock. I conclude that if we treat principles as law we must reject the positivists’ first tenet, that the law of a community is distinguished from other social standards by some test in the form of a master rule […]. We might want to say that a legal obligation exists whenever the case supporting such an obligation, in terms of binding legal principles of different sorts, is stronger than the case against it.« 30 31

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3. Geltung und Gültigkeit des Rechts Folgt man diesem Geltungsbegriff besteht keine Notwendigkeit zwischen Gültigkeit und Geltung zu unterscheiden. Diese Differenzierung wird zuweilen – jedoch mit sehr unterschiedlichen Kriterien – vorgenommen. Manche Autoren gehen davon aus, dass ›Gültigkeit‹ den Begründungszusammenhang einer Norm innerhalb einer Rechtsordnung bezeichne, während ›Geltung‹ die faktische Wirksamkeit dieser Norm ausdrücken soll. Andere wie Heinrich Zoepfl etwa meinten, dass »Gültigkeit« gerade den Geltungsanspruch des überpositiven Naturrechts zum Ausdruck brächte, während »Geltung« das wirkliche Recht bezeichne,35 was wiederum bei Positivisten auf heftige Kritik stieß.36

4. Die Arten der Geltung des Rechts 4.1 Gründe für die Einteilung Bisher ist nur unscharf von Geltung als Zugehörigkeit zu einem Ordnungssystem gesprochen worden. Dies ist nun zu spezifizieren. Während als Recht zu verstehen ist, was die Kriterien des Rechtsbegriffs erfüllt, ermöglicht der Begriff der Geltung, das Recht bestimmten Ordnungssystemen zuzurechnen. Danach können verschiedene Arten der Rechtsgeltung unterschieden werden. Zumeist wird zwischen der juristischen, der sozialen und der moralischen Geltung unterschieden. Die Liste dieser drei Arten der Rechtsgeltung dürfte aber nicht abschließend sein. Man könnte auch von einer politischen oder kulturellen Geltung des Rechts sprechen,37 wenn man nach der entsprechenden Bedeutung des Rechts für diese Sinnsysteme sucht. Juristische Geltung liegt vor, wenn eine Rechtsnorm nach den dafür vorgesehenen formellen und materiellen Normen zustande gekommen ist. Soziale Geltung38 besteht, wenn die Rechtsnorm Teil einer sozialen Praxis und in diesem Sinne wirksam ist. Moralische Zoepfl 1878, S. 59: »Somit bildet sich alsbald in der Geschichte ein Gegensatz des geltenden d. h. wirklich historisch bestehenden und gehandhabten Rechtes, und eines giltigen d. h. auf Geltung Anspruch nehmenden, als auf sittlicher Grundlage ruhenden, gewünschten, aber vorläufig nur in der Idee bestehenden Rechtes«. Ohne den Begriff der Gültigkeit zu verwenden, differenziert Lorenz von Stein zwischen einfacher, positivrechtlicher Geltung und »wirklicher Geltung«: »Was wir gesagt haben, gilt vom Begriff und Wesen des geltenden Rechts. Das wirkliche geltende Recht ist dagegen ein vielfach verschiedenes; nicht bloss im einzelnen, sondern auch in Charakter und Prinzip«, Von Stein 1869, S. 25. 36 Lasson 1882, S. 424: »Es ist wohl vorgekommen, dass man das Lehrbuch eines fremden Naturrechtslehrers als subsidiäre Rechtsquelle gesetzlich anerkannt hat; ja, im vorigen Jahrhundert war man überhaupt geneigt, an ein allgemein für alle Völker und Staaten gültiges Recht zu glauben, ohne dass freilich eine solche Meinung auf das wirkliche Rechtsleben einen tieferen Einfluss hätte gewinnen können. Dergleichen lässt sich doch nur als eine historisch motivirte Abnormität betrachten«. 37 So etwa Larenz 1967, S. 19: »Das Recht als historische Gegebenheit ist eingegliedert einer Welt, die wir als die Welt der Kultur, eine Welt objektiver Geistesgebilde kennzeichnen, und die ›Geltung‹ des Rechtes ist an seinem zeitlichen Bestand in dieser Welt der Kultur gebunden, ohne daß darum freilich an einem Sein im Sinne der Naturwirklichkeit zu denken wäre«. 38 Hier wird auch von soziologischer oder – irreführend – von ›faktischer‹ Geltung gesprochen. 35

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Geltung setzt die Rechtfertigung einer Norm innerhalb der Moral voraus oder wie Alexy schreibt: Moralisch »[r]ichtig und damit gültig sind genau die Normen, die in einem idealen Diskurs von jedem als richtig beurteilt werden würden«.39 Je nach Erkenntnisinteresse betonen Rechtstheorien eher die eine oder die andere Art der Rechtsgeltung. Häufig wird jedoch angenommen, dass Recht nur dann gelte, wenn mehrere Geltungsarten vorliegen.40 Einige positivistische Rechtstheorien nehmen etwa an, dass Voraussetzung der Rechtsgeltung sei, dass das Recht juristisch gelte und zudem sozial in einem bestimmten Umfang wirksam sei.41 Nicht-positivistische Theorien gehen davon aus, dass zur juristischen Geltung jedenfalls ein Mindestmaß an moralischer Rechtfertigung und in diesem Sinne Geltung treten müsse.42 Dialektische Geltungstheorien wie die von Schönfeld oder Larenz im Neuhegelianismus behaupten, dass sowohl das Sein des Rechts sein Sollen, wie umgekehrt das Sollen des Rechts sein Sein einschließe.43 So soll der neukantianische Dualismus zwischen Sollen und Sein überwunden werden. Sodann finden sich Theorien, wie etwa die von Norbert Hoerster, die unterschiedliche Kriterien für die Geltung einer Rechtsnorm und diejenige einer Rechtsordnung postulieren. Auch Hans Kelsen unterscheidet zwischen der juristischen Geltung einer Rechtsnorm durch den Erzeugungszusammenhang der Rechtsordnung und der Geltung dieser Rechtsordnung selbst, die deren Wirksamkeit voraussetzt.44 Allerdings ist für Kelsen in neukantianischer Perspektive die Wirksamkeit der Norm der empirische Veranlassungsgrund, um den Sinn dieses subjektiven Phänomens zu prüfen. Ohne Wirksamkeit also kein Erkenntnisproblem, weil gar kein Erkenntnisgegenstand.45 Gemeinsam ist diesen Theorien also, die wenig überraschende Annahme, dass Recht dann nicht gilt, wenn ihm juristische Geltung fehlt. Die juristische Geltung kann somit als Kern der Geltung von Alexy 2009, S. 156. Hoerster 2006, S. 63: »Unter einer Geltung besitzenden Rechtsnorm wird […] eine zur Rechtsordnung gehörende Sozialnorm verstanden, die […] tatsächlich Geltung innerhalb der Bevölkerung hat«. 41 Kelsen 1960, S. 219: »Die Normen einer positiven Rechtsordnung gelten, weil die die Grundregel ihrer Erzeugung bildende Grundnorm als gültig vorausgesetzt wird, nicht weil sie wirksam sind; aber sie gelten nur, wenn, das heißt nur solange als diese Rechtsordnung wirksam ist. Sobald die Verfassung, und das heißt die auf ihrer Grundlage gesetzte Rechtsordnung als Ganzes ihre Wirksamkeit verliert, verlieren die Rechtsordnung und damit jede einzelne ihrer Normen ihre Geltung. Eine Rechtsordnung verliert aber nicht dadurch ihre Geltung, daß eine einzelne Rechtsnorm ihrer Wirksamkeit verliert, das heißt überhaupt nicht oder in einzelnen Fällen nicht angewendet wird. Eine Rechtsordnung wird als gültig angesehen, wenn ihre Normen im großen und ganzen wirksam sind, das heißt tatsächlich befolgt und angewendet werden«. Kelsen unterscheidet jedoch: »Wirksamkeit ist eine Bedingung der Geltung, aber ist nicht diese Geltung selbst«, Kelsen 1960, S. 220. 42 Alexy 1992, S. 83 f. 43 Larenz 1967, S. 22: »›Sollen‹ und ›Sein‹ im Begriffe der ›Rechtsgeltung‹ vereint« denken, denn »[i] m positiven Rechte tritt uns […] ein Seiendes entgegen, dessen ›Sein‹ gerade ein ›Sollen‹ bedeutet, dessen Sinn es ist, Soll-Geltung zu beanspruchen. Dieser Widerspruch ist nur zu begreifen, wenn der Gegensatz von ›Sollen‹ und ›Sein‹ als ein ›dialektischer‹ begriffen wird, d. h. als ein Gegensatz, der sich selbst aufhebt, der ebenso notwendig ein Gegensatz als eine Einheit darstellt, so, daß ein jeder der gegensätzlichen Begriffe den anderen schon in sich schließt.« Modell dafür ist das Selbst-Bewußtsein, in dem das Selbst ebenso ein Bewußtsein seiner selbst gewinnt, wie eben dadurch sich selbst weiterentwickelt. 44 Kelsen 1960, S. 219. 45 Kelsen 1960, S. 215 f. 39 40

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Recht bestimmt werden. Rechtsgeltung ist der Oberbegriff für die drei geschilderten Arten der Geltung von Recht. Dieses Verständnis der Rechtsgeltung ggf. als einer Kombination von mehreren Geltungsarten ist insofern jedoch überraschend, als die Merkmale der Geltungsarten sowie ihr Verhältnis untereinander alles andere als unproblematisch sind.

4.2 Juristische Geltung des Rechts Juristisch gilt Recht, wenn es einer konkreten Rechtsordnung in sachlicher oder zeitlicher Hinsicht zugeordnet werden kann. Diese Zuordnung ist keine Sache der bloßen Dezision, sondern der normativen Regelung.46 Am deutlichsten scheint sich noch die juristische Geltung bestimmen zu lassen. Eine Norm ist danach durch ihren Erzeugungszusammenhang als geltend ausgewiesen. In der formalistischen Lesart Hans Kelsens bedeutet dies, dass die niederrangige Norm gilt, wenn sie die dafür aufgestellten Kriterien einer Erzeugungsnorm erfüllt, was für diese Erzeugungsnorm ebenfalls gilt. Der drohende infinite Geltungsregress soll durch die Annahme der bereits erwähnten Grundnorm vermieden werden. Sie ist selbst nicht mehr erzeugt, sondern nur als transzendentale Bedingung der Rechtserkenntnis gesetzt.47 Die jeweilige Grundnorm – aber können die Grundnormen wirklich unterschiedliche Inhalte haben, die nicht aus einer Setzung (»Du sollst DIESER Verfassung gehorchen«) entstammen? – soll die Einheit der Normenordnung verbürgen.48 Hier tritt wiederum das oben schon erwähnte Problem auf, dass diese Grundnorm zwar die Normativität logisch und nicht rechtlich begründen kann und auch die Geltung nur hypothetisch, nicht aber realiter begründet. Wie soll denn die nur hypothetisch oder fiktiv geltende Grundnorm eine ganz andere Geltung, nämlich die rechtliche Geltung des Rechts begründen?

46 Anders gesetzespositivistische Auffassungen. Vgl. etwa Adolf Lasson: »Da es kein Recht giebt, das durch sich selber selbstverständlich gälte, alles Recht vielmehr erst durch positive Satzung zum Rechte wird, so hat alles Recht seine Gültigkeit nur innerhalb der vom Urheber der Satzung beherrschten Grenzen und in der von ihm gewollten Ausdehnung. Danach kann das Recht für alle Angehörigen eines Staates gelten oder nur für einige oder für einen einzelnen; es kann für das ganze Staatsgebiet oder nur für einen Theil desselben, für unbestimmte Dauer, d. h. bis es ausdrücklich durch neue Satzung aufgehoben wird, oder nur für einen bestimmten Zeitraum gelten, mit dessen Ablauf es von selbst erlischt«, Lasson 1882, S. 423. 47 Kelsen 1960, S. 203: »Da der Grund der Geltung einer Norm nur wieder eine Norm sein kann, muß diese Voraussetzung eine Norm sein: keine von einer Rechtsautorität gesetzte, sondern eine vorausgesetzte Norm[…]«. 48 Kelsen 1960, S. 197: »Alle Normen, deren Geltung auf eine und dieselbe Grundnorm zurückgeführt werden kann, bilden ein System von Normen, eine normative Ordnung. Die Grundnorm ist die gemeinsame Quelle für die Geltung aller zu einer und derselben Ordnung gehörigen Normen, ihr gemeinsamer Geltungsgrund. Daß eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Grundnorm gehört, beruht darauf, daß ihr letzter Geltungsgrund die Grundnorm dieser Ordnung ist. Diese Grundnorm ist es, die die Einheit einer Vielheit von Normen konstituiert, indem sie den Grund für die Geltung aller zu dieser Ordnung gehörigen Normen darstellt«.

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Man könnte vertreten, dass sich anders die Geltung der Rechtsordnung nur begründen lasse, indem man in der einen oder anderen Weise eine Setzung an den Anfang der Rechtordnung stelle. Dieses Argument trägt jedoch die Grundnorm nicht. Sie ist auch entbehrlich. Wenn man wie hier einen immanenten Geltungsbegriff vertritt, der Rechtsgeltung als Zugehörigkeit einer Rechtsnorm zu einer Ordnung, juristische Rechtsgeltung als Zugehörigkeit zu einer Rechtsordnung versteht, obliegt es dieser Rechtsordnung, die Geltungskriterien festzulegen. Sie schließt sich an ihrer Spitze normativ ab, wenn sie Änderungen bestimmter Verfassungsnormen verbietet. Eine Verfassungsänderung kann dieser Verfassung nur zugeordnet werden und damit rechtlich gelten, wenn die Verfassung hierfür eine Erzeugungsregel/Änderungsregel enthält. Soweit dies nicht der Fall ist – etwa bei formalen oder materialen ›Ewigkeitsklauseln‹ (wie etwa Art. 20 III GG) – würden die durch eine Verfassungsänderung geschaffenen Normen nicht mehr dieser Verfassung zugeordnet werden können. Sie wären nicht nach dieser Rechtsordnung juristisch geltend. Das gilt auch für die Ewigkeitsklausel selbst: Für ihre Änderung gibt es keine Verfahrensregeln. Ihrem Sinn nach schließt sie ihre eigene Änderung aus, weil sie sonst nicht die Änderung der ausdrücklich genannten Verfassungsnormen verbieten könnte. Sie normiert zumindest implizit ihre eigene Nichtänderbarkeit. Weder kann diese NichtÄnderungsregel noch einer ›höheren‹ Rechtsnorm zugeordnet werden, noch könnte eine ›höhere‹ Norm dieser Rechtsordnung, die durch die Nicht-Änderungsregel normativ abgeschlossen wird, zugeordnet werden. Damit bedarf es keiner Grundnorm, denn der drohende normative infinite Geltungsregress wird von der höchsten Änderungsregel selbst und zwar normativ unterbrochen. Die oberste Änderungsregel gilt juristisch, weil sie selbst ihre Änderung (und diejenige bestimmter weiterer Normen) ausgeschlossen hat. Ihre Änderung könnte ihr selbst nicht mehr zugeordnet werden und hätte danach keine juristische Geltung in dieser Rechtsordnung. Dass eine solche Änderung dennoch sozial oder moralisch gelten mag, steht auf einem anderen Blatt.

4.3 Die soziale Geltung des Rechts Recht gilt sozial, wenn es entweder anerkannt oder gegen seine Nichtanerkennung durchgesetzt wird.49 Nach dem institutionalistischen Rechtsverständnis soll Recht nur dann gelten, wenn es »als Handlungsrahmen wirksam ist«.50 Der Anerkennung soll damit geltungserzeugende Kraft zukommen, wie etwa Georg Jellinek annimmt.51 49 Geiger 1964, S. 205: »Als ›geltendes Recht‹ erscheint hier der Inbegriff der Gebarensmodelle, die innerhalb eines […] Gesellschaftsintegrates tatsächlich beachtet werden, und der Normen, sofern ihr Inhalt tatsächlich den Handlungsverlauf innerhalb des Gesellschaftsintegrats beeinflußt« und weiter heißt es »Daß eine Norm verbindlich ist, bedeutet: es besteht eine Wahrscheinlichkeit dafür, daß entweder ihr gemäß gehandelt wird, oder eine Reaktion auf Zuwiderhandlung folgt«. 50 Weinberger 1988, S. 119. 51 In seiner bekannten Vorstellung von der normativen Kraft des Faktischen, Jellinek 1959, S. 339 f.: »Weil das Faktische überall die psychologische Tendenz hat, sich in Geltendes umzusetzen, so erzeugt es im ganzen Umfange des Rechtssystems die Voraussetzung, daß der gegebene soziale Zustand der zu

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Auch die Begründung der sozialen und der moralischen Rechtsgeltung stößt auf Schwierigkeiten. Am ehesten kann man sich noch auf den Begriff der Anerkennung einigen.52 Weitergehende Fragen bleiben aber offen: Soll es bei der sozialen Geltung auf die Anerkennung53 oder auf den Zwang ankommen? Wenn auf die Anerkennung, soll die Anerkennung durch die Bürger maßgeblich sein54 oder diejenige des Rechtsstabes,55 so dass die Irrelevanz der Anerkennung durch den Bürger geradezu zum Bestimmungsmerkmal des Rechts gegenüber der Konvention wird?56 In welchem Umfang soll die Anerkennung bestehen? Soziale Geltung ist anders als die moralische und die juristische Geltung des Rechts immer relativ zu den tatsächlichen Verhaltensweisen. Demgegenüber sind die letzteren beiden Arten disjunktiv und führen daher klare Ergebnisse herbei: Eine Norm gilt moralisch oder juristisch oder sie gilt nicht. Reicht die durchschnittliche Anerkennung57 oder ist eine Anerkennung Aller erforderlich? Wenn nur eine teilweise AnRecht bestehende sei, so daß jeder, der eine Veränderung in diesem Zustand herbeiführen will, sein besseres Recht zu beweisen hat«. 52 Bierling 1877, S. 8: »Anerkennung (ohne weiteren Zusatz) ist mir ein stetiges, ununterbrochenes, habituelles Respectiren, sich gebunden oder unterworfen Fühlen in Beziehung auf einen gewissen Gegenstand, insbesondere auf gewisse Grundsätze. Speziell rechtliche Anerkennung aber oder Anerkennung als Recht ist mir das dauernde Anerkennen von Grundsätzen innerhalb eines gewissen Kreises, einer gewissen Mehrheit zusammenlebender Personen als Norm und Regel dieses Zusammenlebens«. 53 Bierling 1877, S. 7: »Recht besteht nur so lange, als es gilt, d. h. so lange es anerkannt (respektirt, geachtet, als bindend oder maßgebend angesehen, empfunden) wird«. 54 Bierling 1894, S. 47: »Wenn wir einer Norm überhaupt »Geltung« zuschreiben, so setzen wir damit notwendig voraus, dass im gedachten Falle auch lebendige Menschen da sind, in deren Geiste diese Normen ›gelten’. Hiermit wird aber sofort weiter vorausgesetzt, dass diese lebendigen Menschen die betreffenden Normen, falls nicht geradezu selbst aufgestellt, so doch mindestens sich angeeignet haben und fortan an ihnen als an einem dauernden geistigen Besitztume festhalten, mit Einem Worte sie anerkennen […] Es kann ferner keinem Zweifel unterliegen, dass eine Geltung als Rechtsnormen immer nur denjenigen Normen zukommt, die […] als Regel des Zusammenlebens gelten innerhalb eines bestimmten Kreises von Menschen«. 55 Ross 1958, S. 35: «Only the legal phenomena in the narrower sense, however the application of the law by the courts are decisive in determining the validity of the legal norms. In contrast to generally accepted ideas it must be emphasized that the law provides the norms for the behavior of the courts, and not of private individuals. The effectiveness which conditions the validity of the norms can therefore be sought solely in the judicial application of the law, and not in the law in action among private individuals«. 56 Stammler 1896, S. 129: »Das Recht will formal als Zwangsgebot über dem einzelnen in Geltung stehen […] Die Konventionalregel gilt nach ihrem eigenen Sinne lediglich zufolge der Einwilligung des Unterstellten« und S. 492: »Wer soziale Regeln in ihrem Geltungsanspruche darauf gründet, daß ihnen faktische Anerkennung der den Regeln Unterstellten zu teil wird, der hat von Konventionalnormen geredet, aber nicht von rechtlicher Satzung; denn diese erhebt den Anspruch auf eine von der thatsächlichen Zustimmung der Rechtsgenossen unabhängigen Geltung«. 57 Max Weber: Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie. Max Weber: Gesammelte Werke, S. 443: »Das Entscheidende für die empirische ›Geltung‹ einer zweckrational gesatzten Ordnung ist also nicht: daß die einzelnen Handelnden ihr eigenes Handeln kontinuierlich dem von ihnen subjektiv gedeuteten Sinngehalt entsprechend orientieren. Sie kann vielmehr zweierlei Dinge bedeuten: 1. daß tatsächlich (subjektiv) die Einzelnen im Durchschnitt wie die Falschspieler und Diebe die Erwartung hegen, daß die anderen Vergesellschafteten ihr Verhalten durchschnittlich so gestalten werden: ›als ob‹ sie die Innehaltung der gesatzten Ordnung zur Richtschnur ihres Handelns nähmen; 2. daß sie, nach der durch-

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erkennung ausreichen soll, wie ist dann die soziale Rechtsgeltung gegenüber denjenigen, die nicht anerkennen, zu begründen? Zu bedenken ist ferner, dass eine Norm juristisch auch dann gilt, wenn weder aktive Anerkennung noch Ablehnung besteht, sondern schlicht niemand an sie denkt: Der Normsetzer hat seine Arbeit erledigt; an die Anwendung denkt vielleicht noch niemand.58 Gerhard Husserl hat das auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: »Ein Recht gilt, auch wenn alle seinem Bann unterworfenen Rechtssubjekte traumlos schlafen.«59 Es liegt also gar keine aktuelle soziale Reaktion vor. Hier kann dann nicht mehr auf Wirksamkeit, sondern allenfalls auf den nicht mehr empirischen Begriff der Wirksamkeitschance abgestellt werden. Da der Zwang von dazu befugten Rechtsorganen ausgeübt wird, kann ohnehin nicht der Zwang schlecht, sondern derjenige der zu seiner Anwendung ermächtigten Organe unter Beachtung der dafür relevanten Verfahren für die faktische Geltung relevant sein. Damit kommt es aber auf die Anerkennung der für diese Organe wirkenden Personen an. Oder soll es in einer Demokratie gar nicht auf diese, sondern auf die vom Recht betroffenen Bürger ankommen? Doch ergibt die Unterscheidung zwischen rechtsdurchsetzenden Organen und rechtsunterworfenem Bürger nur dann Sinn, wenn man dualistisch zwischen primären Verpflichtungsnormen und sekundären Erzeugungsnormen unterscheidet. Rechtstheoretisch ist dieser von Hart geprägte Normendualismus jedoch nicht sinnvoll. Vielmehr ist rechtstheoretisch entscheidend, dass beide, Bürger wie Durchsetzungsorgane, Verpflichtungssubjekte von Rechtsnormen sind. Eine Strafnorm z. B. enthält das Verbot an den Bürger, bestimmte Rechtsgüter nicht zu verletzten und das Gebot an das zuständige Gericht, eine dennoch erfolgte Verletzung zu sanktionieren. ›Sekundär‹ ist die an das Gericht adressierte Verpflichtung nur insofern, als sie tatbestandlich die Verletzung des an den Bürger gerichteten Verbots voraussetzt. Beide sind Verpflichtungsadressaten von Rechtsnormen.60 Insofern unterscheidet sich die Anerkennung der Verpflichtung durch den Bürger nicht von der Anerkennung durch den Rechtsstab. Unterschiede ergeben sich freilich bei Anerkennungsdefiziten: bei einer überwiegenden Anerkennung von Rechtsnormen durch den Bürger kann der Rechtsstab die abweichenden Geltungsbehauptungen der Bürger korrigieren und das Recht durchsetzen. Eine lediglich durchschnittliche Anerkennung durch den Rechtsstab hingegen lässt sich insschnittlich anzuwendenden Beurteilung von Chancen menschlichen Sichverhaltens, solche Erwartungen objektiv hegen konnten (eine besondere Formung der Kategorie der ›adäquaten Verursachtheit‹)«. 58 Kelsen 1960, S. 10: »Die ›Existenz‹ einer positiven Norm, ihre Geltung, ist von der Existenz des Willensaktes, dessen objektiver Sinn sie ist, verschieden. Die Norm kann gelten, wenn der Willensakt, dessen Sinn sie ist, nicht mehr existiert. Ja, sie tritt erst in Geltung, wenn der Willensakt, dessen Sinn sie ist, aufgehört hat, zu existieren Das Individuum, das mit seinem intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Akt eine Rechtsnorm erzeugt hat, muß nicht fortfahren, dieses Verhalten zu wollen, damit die Norm, die der Sinn seines Aktes ist, gelte. Wenn die Menschen, die als Gesetzgebungsorgan fungieren, ein bestimmte Angelegenheiten normierendes Gesetz beschlossen und so in Geltung gesetzt haben, wenden sie sich in ihren Beschlüssen der Normierung anderer Gegenstände zu; und die von ihnen in Geltung gesetzten Gesetze können gelten, wenn diese Menschen längst gestorben sind, also überhaupt nichts wollen können«. 59 Husserl 1925, S. 6. 60 Und nicht nur das Gericht, wie auch Ross meint: Ross 1958, S. 35.

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tanziell, nicht jedoch dann korrigieren, wenn sie auch in der letzten gerichtlichen oder Verwaltungsinstanz besteht. Das legt es nahe, dass maßgeblich für die soziale Geltung die Anerkennung der Normen durch den Rechtsstab ist. Anerkennt er, gilt die Norm sozial; anerkennt er nicht, bleibt der Bevölkerung nur der Protest und das ambivalente Mittel des Widerstandsrechts. Immerhin zeigt dieses Recht den Versuch, auch die soziale Geltung zu verrechtlichen: Voraussetzung und Grenzen der Durchsetzung der sozialen Rechtsgeltung gegen einen die Anerkennung des Rechts verweigernden Rechtsstab sind wiederum rechtlich geregelte. Das Entsprechende gilt aber in ausdifferenzierten Rechtsordnungen für alle Anerkennungsformen. Ihre Voraussetzungen sind im demokratischen Rechtsstaat etwa in Abstimmungen und Wahlen und im Prozeßrecht rechtlich normiert. Die Beobachtung der sozialen Geltung des Rechts insbesondere durch Anerkennung ist also sinnvoll; ihre Kriterien sind jedoch umstritten und das Recht selbst regelt sie und normiert Verfahren bei Anerkennungsverweigerung. Diese Verweigerung ist immer auch eine abweichende Geltungsbehauptung, die anhand der Rechtsordnung als Unrecht identifiziert werden kann. Schon Leonard Nelson hat zutreffend darauf hingewiesen, dass so wenig die Rechtsnorm durch ihre Erfüllung zu einem natürlich Existierenden wird, so wenig sie als Norm ihre Geltung dadurch verliert, dass sie nicht mehr Teil sozialer Praktiken ist.61 Vielmehr ist dafür eine autoritative Aufhebung ihrer Geltung erforderlich, wie dies auch zu ihrer Begründung notwendig ist. Auch Gustav Radbruch differenziert sehr genau zwischen der Faktizität der Rechtsdurchsetzung und ihrer normativen Bedeutung. Nur wegen der Bedeutung der Rechtsdurchsetzung für den Wert der Rechtssicherheit ist Wirksamkeit relevant für die Rechtsgeltung, nicht jedoch als reine Faktizität: nur ein effektives Recht kann Rechtssicherheit als einem der drei Elemente der Rechtsidee schaffen.62 Selbst die Systemtheorie, die bekanntlich das Recht von vorneherein als Form von Kommunikation untersucht, betrachtet Geltung nicht als gleichbedeutend mit dieser Praxis, sondern als ein Symbol, das mit jeder rechtlichen Kommunikation weitergereicht wird.63 Die Faktizität, die der sozialen Geltung des Rechts zugrunde liegt, ist also eine normativ gebrochene Faktizität. Nelson 1917, S. 9: »Der Fehler liegt hier in dem Schluß von der »Geltung« der Rechtsnormen auf ihre Zugehörigkeit zum »Seienden«. Daß eine Rechtsnorm Geltung hat, soll heißen, daß ihre Erfüllung garantiert ist. Ihre Erfüllung aber bedeutet, daß das, was geschehen soll, auch wirklich geschieht. Hört aber die Rechtsnorm darum auf, ein Sollen zu sein, weil das, was sie fordert, wirklich geschieht? Wird sie dadurch ihrerseits zu einem Gegenstand der Wissenschaft vom Seienden? Wenn eine Norm gilt, so ist das, was sein soll, ein Seiendes. Keineswegs aber wird dadurch das Sollen selbst zu einem Seienden« und S. 154 sagt er, »daß eine Rechtsordnung nicht auch unabhängig von der Anerkennung seitens der Rechtsgenossen garantiert sein könne, ist eine durch nichts bewiesene Behauptung«. 62 Radbruch 1993, S. 314: »Das Recht gilt nicht, weil es sich wirklich durchzusetzen vermag, sondern es gilt, wenn es sich wirksam durchzusetzen vermag, weil es nur dann Rechtssicherheit zu gewähren vermag«. 63 Luhmann 1993, S. 107: »Im Anschluß an Talcott Parsons kann man Geltung daher auch als ein zirkulierendes Symbol bezeichnen, das mit jeder Verwendung zu weiteren Operationen weitergereicht wird – so wie Zahlungsfähigkeit in der Wirtschaft oder kollektive Bindung in der Politik« und S. 98: »Den Begriff »Symbol« wählen wir deshalb, weil es darum geht, in der Verschiedenheit der Operation die Einheit des Systems zu wahren und zu reproduzieren. Dies leistet im Rechtssystem das Symbol der Rechtsgeltung«. 61

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4.4 Die moralische Geltung des Rechts Das Recht gilt moralisch, wenn seine Normen moralisch gerechtfertigt werden können. Sie erscheinen dann geradezu als Verdinglichung von Moral.64 Schließlich ist die moralische Geltung von Rechtsnormen umstritten. Das betrifft vor allem die Geltungskriterien. Schon die Begründbarkeit oder auch Nicht-Begründbarkeit von moralischen Normen, denen dann Rechtsnormen zugerechnet werden könnten, wird unterschiedlich beurteilt. Erkenntnisoptimisten stehen Nonkognitivisten gegenüber. Prozedurale Theorien versuchen zu vermitteln, sind aber auf moralische Unterstellungen bei der Begründung der Verfahren angewiesen. Selbst wenn sich dann prinzipiell moralische Normen begründen lassen, ist doch ihr Inhalt im Streit: Was bedeutet z. B. Gerechtigkeit? Und wenn dies geklärt sein sollte, stellt sich die Frage, ob nur eine Rechtsnorm gilt, die ein Maximum an Gerechtigkeit verwirklicht oder soll ein Minimum ausreichen? Das kann hier weder vertieft werden, noch soll hier die Suche nach Moral kritisiert werden, die an sich schon eine Fülle an Werten und Normen hervorgebracht hat. Angesichts dieser moralischen Kontroversen liegt es nahe, dass moderne Rechtsordnungen inhaltlich moralische Fragen in Menschen- und Grundrechten und weiteren Wertentscheidungen selbst normieren. Tun sie dies nicht, bedeutet dies auch ein Stück Entdifferenzierung des Rechts und Überantwortung dieser Fragen an andere Ordnungen, die zu ihrer Entscheidung verfahrensmäßig vielleicht viel weniger geeignet sind und daher zufällige und unausgewogene Ergebnisse hervorbringen können. Es fällt also auf, dass vom Kern der juristischen Rechtsgeltung aus die anderen Arten der Rechtsgeltung zunehmend verrechtlicht werden, weil deren eigene Kriterien unklar und strittig sind und das Recht kraft seiner reflexiven Struktur, besonders legitime und wirksame Verfahren zu ihrer Entscheidung bereithält. Die Arten der Rechtsgeltung als wissenschaftliche Perspektiven der Rechtssoziologie und der Rechtsethik aufrechtzuerhalten, bleibt für eine Rechtskritik dennoch sinnvoll. Der Beobachtung der sozialen oder der moralischen Geltung des Rechts rechtlichen Einfluss auf die juristische Geltung einzuräumen, wäre jedoch problematisch.

4.5 Das Verhältnis der Arten der Rechtsgeltung zueinander Das führt zum Verhältnis der Geltungsarten. Als Beispiel für eine Geltungsbegründung aus sozialem Verhalten wird oft das Gewohnheitsrecht angeführt. Doch ist zunächst zu bedenken, dass Gewohnheitsrecht nach dem oben entwickelten Rechtsbegriff nur dann Recht ist, wenn seine Entstehung normiert ist. Das ist bei gesellschaftlich für verbindlich gehaltenen Normen aber häufig nicht der Fall. Eine aus gesellschaftlichen Praktiken Und nach dem oben gebildeten Begriff des Naturrechts als der auf das rechtliche Verhalten bezogenen Moral, als »verdinglichtes Naturrecht«. »Die formelle Rechtspositivität ist nichts anderes als eine Art des Geltens. Eine Art des Geltens erscheint darum hier als »empirische Realität« und folglich als naturrechtliches Verdinglichungsprodukt«, Lask 1905, S. 5. 64

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entstandene und für verbindlich gehaltene Norm wird mithin erst dann Recht, wenn sie von einem dafür zuständigen Organ oder auch durch Gruppen- und Minderheitenrechte als Recht anerkannt wird. Die gesellschaftliche Praxis ist mithin die Veranlassung für die Rechtsentstehung durch richterliche oder etwa völkerrechtliche Anerkennung. Das scheint sich nun direkt gegen Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus zu richten. Doch kann Rechtspluralismus auch auf der Grundlage des hier vertretenen Rechtsbegriffs begründet werden. Es reicht aus, dass die Normen reflexiv werden. Wenn sich solche normierten Verfahren ergeben, etwa Schiedsgerichte gebildet werden, sind die daraus hervorgehenden Normen Recht. Teilweise wird angenommen, dass ein Verlust an sozialer Rechtsgeltung auch zu einem Verlust der juristischen Geltung führt.65 Viele positivistische66 und nicht-positivistische Geltungstheorien nehmen an, dass der Wegfall eines Mindestmaßes an sozialer Wirksamkeit oder Wirksamkeitschance bei Rechtsordnungen oder auch bei Einzelnormen zum Wegfall auch der juristischen Geltung führt. Seit H.L.A. Hart verbreitet sich die Auffassung, dass hinsichtlich der Wirksamkeit zwischen der Geltung einer Einzelnorm und der Rechtsordnung insgesamt zu unterscheiden ist: Während die Wirksamkeit für die Einzelnorm außer Betracht bleibt, ist sie für die Geltung der Rechtsordnung insgesamt entscheidend.67 Die Erkenntnisregel (»rule of recognition«) des Rechts legt für die sog. interne Perspektive die Kriterien der Rechtsgeltung der Rechtsnorm fest. Sie ist unabhängig von der Wirksamkeit. Die Rechtsordnung insgesamt muss wirksam sein. Bei der Erkenntnisregel soll sich hingegen – ähnlich wie bei der Grundnorm die Geltungsfrage nicht stellen. Sie sei eine Regel der Erkenntnis.68 Dworkin meint, dies mit dem Hinweis rechtfertigen zu können, dass die höchste Erkenntnisregel nicht die höchste wäre, wenn es Kriterien für ihre Geltung gäbe.69 Sie könnte freilich Geltungskriterien aufstellen, die 65 Hierzu kritisch etwa Heckmann 1997, S. 417 ff. mit der treffenden Unterscheidung zwischen sozialen Veränderungen als Anlass für ein Obsoletwerden von Rechtsnormen, nicht jedoch als deren Grund, als den er alleine die autorisierte Entscheidung des dazu berufenen Rechtsstabs ansieht. 66 Ein frühes Beispiel einer positivistischen Geltungstheorie findet sich bei Thomas Hobbes. Er nimmt an, dass es ohne positive Verfassung keine geltenden Verträge und damit keine Verfassung gebe: »And therefore where there is no own, that is, no propriety, there is no injustice; and where there is no coercive power erected, that is, where there is no Commonwealth, there is no propriety, all men having right to all things: therefore where there is no Commonwealth, there nothing is unjust. So that the nature of justice consisteth in keeping of valid covenants, but the validity of covenants begins not but with the constitution of a civil power sufficient to compel men to keep them: and then it is also that propriety begins«, Hobbes1968, S. 202 f. 67 »Validity is a function in part of the internal point of view: a law is valid if it passes all the tests provided by the rule of recognition. The criteria for efficacy is different, however: a law is efficacious if it is obeyed more often than not. That a law is valid is no guarantee that it is efficacious, and that it is not efficacious is no proof that it is invalid«. »It would however be wrong to say that statements of validity ‹mean‹ that the system is generally efficacious. For though it is normally pointless or idle to talk of the validity of a rule of a system which has never established itself or has been discarded, none the less it is not meaningless nor is it always pointless […]«, Hart 1991. 68 »No such question can arise as to the validity of the very rule of recognition which provides the criteria; it can neither be valid nor invalid but is simply accepted as appropriate for use in this way«, Hart 1991, S. 109. 69 Dworkin 1977, S. 21: »Of course, a rule of recognition cannot itself be valid, because by hypothesis

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nur sie selbst erfüllt. Raz nimmt an, das Rechtssystem beantworte die Frage, was Recht sei, während die Einzelnorm gelten würde.70 Jedoch muss ein Rechtssystem, wenn es nicht nur ein System von Rechtserkenntnissen – letztlich von Aussagesätzen über Recht – sein soll, ebenfalls rechtlich gelten, um die Geltung von Rechtsnormen begründen zu können. Sowohl auf der Ebene der Einzelnorm als auch auf der Ebene einer Rechtsordnung ist es aber nicht verständlich, wenn der Verpflichtungsadressat der Norm durch die Verweigerung der Erfüllung der Verpflichtung über deren Wegfall entscheiden könnte. Sicherlich gebieten es Legitimationsgesichtspunkte, dass derjenige, der einer Verpflichtung unterworfen ist, an deren Begründung unmittelbar oder mittelbar beteiligt ist oder sie etwa als Amtsträger freiwillig übernimmt. Ist sie aber einmal begründet, kann er sich nicht einseitig von ihr lossagen. Daher ist es überzeugend, dass auch in Fällen von sozialen Veränderungen nur derjenige über Modifikationen oder Wegfall der Geltung befinden kann, der dazu rechtlich befugt ist. Schließlich ist auch das Verhältnis der moralischen zur juristischen Geltung des Rechts problematisch. Was sind die Kriterien für die moralische Geltung von Rechtsnormen? Sollen nur grob ungerechte, überhaupt nicht zu rechtfertigende Rechtsnormen auch ihre juristische Geltung verlieren oder reicht jeder Gerechtigkeitsverstoß oder Verstoß gegen die guten Sitten aus? Radbruch hat hierauf mit der Unerträglichkeitsformel eine Antwort zu geben versucht und damit sicherlich das Rechtsgefühl vieler wiedergegeben.71 Doch das Kriterium des ›unerträglichen Maßes‹ ist bis heute nicht hinreichend konkretisiert worden. Der Verweis auf die Menschenrechtstradition könnte aber zielführend für dauerhaft anerkannte Maßstäbe sein.

III. Zusammenfassung Rechtsbegriff und Rechtsgeltung sind also rechtstheoretisch zu unterscheiden. Während der Rechtsbegriff die Kriterien zur Beurteilung der Frage enthält, ob eine Norm Recht oder Nicht-Recht, also etwas anderes als Recht ist, betrifft die Rechtsgeltung die Frage der Zuordnung von so als Recht klassifizierten Normen zu bestimmten Sinnsystemen. Die Kriterien, die der Begriff der Rechtsgeltung enthält, erlauben also die Entscheidung it is ultimate, and so cannot meet tests stipulated by a more fundamental rule. The rule of recognition is the sole rule in a legal system whose binding force depends upon its acceptance«. 70 Raz 1977, S. 341: »These remarks may Iead one to conclude that explaining what is legal validity is no more nor less than explaining what is law. This, however, is a mistake. The nature of law is explained primarily by explaining what are legal systems. Validity, on the other hand, pertains to the rules of the system«. 71 Nach der hier vertretenen Lesart würde die Radbruchsche Formel einen moralischen Rechtsbegriff in der Verleugnungsformel mit einem moralischen Geltungsbegriff in der Unerträglichkeitsformel verbinden. Denn die Verleugnungsformel gibt Auskunft darüber, wann eine Norm keine Rechtsnorm mehr ist; nämlich dann, wenn ihr Geber Gerechtigkeit nicht einmal mehr erstrebt. Sie ist also ein Kriterium zur Unterscheidung von Recht und Nicht-Recht. Die Mißbrauchs- oder Unerträglichkeitsformel hingegen entzieht in »unerträglichem Maße« ungerechten Normen ihre Geltung, unterscheidet also zwischen Recht und Unrecht.

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über die Frage, ob eine Rechtsnorm nach einer bestimmten Ordnung Recht oder Unrecht ist. Die Rechtsgeltung entscheidet damit den Streit zwischen rechtlichen Geltungsansprüchen. Hierbei können nach den Ordnungssystemen, denen Rechtsnormen zugehörig sein können, verschiedene Geltungsarten des Rechts unterschieden werden. Das sind jedenfalls die juristische, die soziale und die moralische Rechtsgeltung. So wenig prinzipiell etwas gegen die Analyse des Rechts aus der Perspektive dieser Geltungsarten gesagt werden sollte, so muss doch festgehalten werden, dass die internen Probleme der Begründung der Kriterien dieser Geltungsarten sowie ihr Verhältnis zueinander dazu geführt haben, dass auch ihre Kriterien zunehmend verrechtlicht werden. So ist festzuhalten, dass die juristische Rechtsgeltung den Kern der Rechtsgeltung bildet und die Tendenz hat, die anderen Geltungskriterien seiner Normierung zu unterwerfen. Nur eine Rechtsnorm, deren Rechtsgeltung begründet wurde, erzeugt gegenüber ihrem Adressaten eine rechtliche Verbindlichkeit. Ohne den Rechtsbegriff könnte nicht begründet werden, dass eine Norm rechtliche Verbindlichkeit erzeugt; ohne den Begriff der Rechtsgeltung könnte nicht begründet werden, dass es sich um eine Verpflichtung nicht irgendeiner, sondern gerade dieser Rechtsordnung handelt und könnten Kollisionen rechtlicher Verpflichtungen nicht entschieden werden. Rechtsbegriff und Rechtsgeltung sind also notwendige Bedingungen der Begründung der Rechtspflicht. Die Rechtsverpflichtung ist aber nicht gleichbedeutend mit der Rechtsgeltung, denn es mag geltende Rechtsnormen wie subjektive Rechte geben, die zwar eine Verpflichtung enthalten, den Begünstigten aber berechtigen, d. h. eine Erlaubnis statuieren;72 Faktisch durchgesetzte Normen, denen die Rechtsgeltung fehlt, erzeugen diese Verbindlichkeit ebensowenig, wie moralisch als richtig erkannte Normen. Das moderne, ausdifferenzierte Recht transformiert beide Normarten durch seine reflexive Form und verleiht ihnen eine in geordneten und gerechten Verfahren legitimierte juristische Geltung und damit rechtliche Verbindlichkeit.

72 Gerade umgekehrt meint Jhering, dass eine Norm weil nur einseitig verpflichtend, nur einseitig gilt und sich der nicht verpflichtete Adressat der Rechtsnorm über sie hinwegsetzen könne: »Es ist der zwischen der einseitig und zweiseitig verpflichtenden Geltung der Rechtsnorm. Die Absicht der Staatsgewalt bei Erlassung der Rechtsnorm kann dahin gehen, daß sie dadurch bloß denjenigen binden will, an den sie gerichtet ist, nicht aber sich selber, so daß sie sich vorbehält, sich über dieselbe im einzelnen Fall nach Gutdünken hinwegzusetzen« 1893, S. 338 f.

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Rechtsbegriff und Rechtsgeltung

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Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse Marietta Auer (Gießen)∗

I. II.

III.

Problemaufriss: Drei Dimensionen der Rechtsgeltung Aporien der Geltungsdebatte 1. Kritik des juristischen Geltungsbegriffs 2. Kritik des sozialen Geltungsbegriffs 3. Kritik des moralischen Geltungsbegriffs Rechtsgeltung: Was bleibt?

I. Problemaufriss: Drei Dimensionen der Rechtsgeltung Der Begriff der Rechtsgeltung stellt einen der Schlüsselbegriffe der modernen Rechtsphilosophie dar, der immer wieder auftaucht, wenn es um Fragen der Definition des Rechtsbegriffs an der Schnittstelle zu außerrechtlichen Normenordnungen geht. Meist ist es dabei üblich, drei Geltungsdimensionen zu unterscheiden, nämlich die rechtliche, faktische und moralische Geltung des Rechts.1 Die rechtliche, oft auch als juristische oder rechtspositivistische bezeichnete Geltungsdimension beschreibt dabei das ordnungsgemäße Zustandekommen einer Rechtsnorm nach den innerrechtlich gültigen Maßstäben wirksamer Rechtsentstehung. Die faktische, soziale oder auch soziologische Geltung bezeichnet die faktische Wirksamkeit einer Norm als tatsächlich eingehaltener sozialer Handlungsmechanismus. Von der moralischen, ethischen oder philosophischen Geltung ist schließlich dann die Rede, wenn eine Rechtsnorm oder Rechtsordnung nicht nur rechtlich wirksam in Kraft gesetzt, sondern auch moralisch oder ethisch gerechtfertigt ist.2 Die Unterscheidung dieser drei Geltungsdimensionen prägt mit einiger Regelmäßigkeit die Diskussion typischer Hauptprobleme der Rechtsphilosophie, nament∗ Prof. Dr. iur., M.A., LL.M., S.J.D. (Harvard), Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 1 Grundlegend Gustav Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 159 ff.; in der Folge etwa Carl August Emge: »Über den Charakter der Geltungsprobleme in der Rechtswissenschaft«, Teil I, ARWP (Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie) 14 (1920/21) S. 146 ff.; Teil II, ARWP 14 (1920/21) S. 277 ff.; Teil III, ARWP 15 (1921/22) S. 54 ff.; aus neuerer Zeit Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl. 2005, S. 139 ff.; Ulfrid Neumann: »Theorien der Rechtsgeltung«, in: Hassemer/Gessner (Hg.): Gegenkultur und Recht, 1985, S. 21 ff.; Stephan Kirste: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 100 ff.; in der Sache ähnlich, wenngleich unter Vermeidung der Begriffe der sozialen und moralischen Geltung auch Rainer Lippold: »Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit von Rechtsnormen«, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 463 ff. 2 Statt aller Alexy: Begriff, S. 139 ff.

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lich die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Macht und das Problem gesetzlichen Unrechts. Seit wann der Begriff der Rechtsgeltung in dieser dreigliedrigen Form expliziert wird, lässt sich relativ genau nachweisen. Der Geltungsbegriff selbst erlebte seine wissenschaftliche Hochkonjunktur im Neukantianismus des späten 19. Jahrhunderts. Hermann Lotzes 1879 erschienene Logik gehört zu den frühesten philosophischen Abhandlungen, die den Geltungsbegriff als eigenständigen Existenzmodus des Ideellen neben der Welt des physischen Seins entfalteten.3 Dem folgten in den darauffolgenden Jahrzehnten zahlreiche weitere Äußerungen zum Geltungsproblem im Rahmen der neukantianischen Zweiweltenlehre, namentlich die Monographie Arthur Lieberts Zum Problem der Geltung aus dem Jahr 1914 sowie die Werke Emil Lasks und Heinrich Rickerts.4 In die Rechtsphilosophie gelangten diese neukantianischen Überlegungen soweit ersichtlich erstmals durch Gustav Radbruch. Radbruchs ebenfalls 1914 erschienene Grundzüge der Rechtsphilosophie befassten sich in einem ausführlichen Kapitel mit dem Problem der Geltung des Rechts und führten dabei die erwähnte Dreiteilung zwischen einer juristischen, soziologischen und philosophischen Geltungsdimension ein.5 Auf dieser Grundlage beruht die Diskussion des Geltungsbegriffs letztlich bis heute. Repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der Debatte ist nach wie vor Robert Alexys erstmals 1992 erschienene Monographie Begriff und Geltung des Rechts, wo wiederum die drei Dimensionen der Rechtsgeltung in verdichteter Form als juristischer, soziologischer und ethischer Geltungsbegriff erscheinen.6

II. Aporien der Geltungsdebatte Ziel der vorliegenden Abhandlung ist eine Kritik dieser Art der Problemdarstellung. Es soll gezeigt werden, dass der bemerkenswerten begrifflichen und theoretischen Konstanz innerhalb der Debatte um die Rechtsgeltung entgegen dem ersten Anschein kein wissenschaftlich fruchtbarer Ertrag entspricht. Dies wird im Folgenden Anlass zu der Frage geben, ob es nicht grundsätzlich ein Missverständnis ist, Probleme wie das des gesetzlichen Unrechts als Fragen der Rechtsgeltung zu konzeptionalisieren, oder ob eine solche Begriffsverwendung nicht vielmehr in die Irre führt und die Leistungsfähigkeit des Geltungsbegriffs überspannt. Zu diesem Zweck seien im Folgenden die drei Geltungsdimensionen einzelnen untersucht.

Hermann Lotze: System der Philosophie, Erster Teil: Logik, 1. Aufl. 1879, S. 511 ff. Arthur Liebert: Das Problem der Geltung, 1914, S. 6 ff.; Emil Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form, 1911, S. 5 ff., S. 82 ff.; Heinrich Rickert: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, 1921, S. 121 ff. 5 Radbruch: Grundzüge, S. 159 ff. 6 Alexy: Begriff, S. 139 ff.; vgl. auch die weiteren Nachweise vorstehend Fn. 1. 3 4

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1. Kritik des juristischen Geltungsbegriffs Betrachtet man zunächst den rechtlichen oder juristischen Geltungsbegriff und kehrt nochmals zu Radbruchs »Grundzügen der Rechtsphilosophie« zurück, so findet sich dort bereits das Hauptproblem entfaltet, das sich seitdem jeder rechtspositivistischen, d. h. auf der rechtsimmanenten Gesetztheit des Rechts fußenden Rechtstheorie stellt, nämlich »die Geltung des Rechts darzutun, ohne die Geltung des Rechts zu überschreiten«.7 Lässt sich die Geltung von Rechtnormen nur auf der Grundlage anderer Rechtsnormen begründen, stellt sich notwendig wieder die Frage nach der Geltung der letzteren usw., so dass der rechtliche Geltungsbegriff unvermeidlich in ein Münchhausen-Trilemma mit den drei bekannten Optionen infiniter Begründungsregress, willkürlicher Begründungsabbruch oder zirkuläre Normbegründung führt. Radbruch erkennt das Problem, lässt es jedoch letztlich ungelöst. Hans Kelsen, der bedeutendste neukantianische Rechtstheoretiker und Rechtspositivist des 20. Jahrhunderts, hat an dieser Stelle bekanntlich versucht, mit seiner Theorie der »Grundnorm« anzusetzen, wonach die Geltung der Rechtsordnung insgesamt nur aus einer transzendentalphilosophisch vorauszusetzenden Grundnorm folgen könne.8 Kehrt man indessen noch einmal zu Radbruch zurück, so folgt aus dem Letztbegründungsproblem bereits in den »Grundzügen der Rechtsphilosophie« eine wesentliche Einschränkung der positivistischen Geltungstheorie: Der rechtliche Geltungsbegriff kann sich notwendig nur auf die Geltung einzelner Rechtssätze innerhalb eines bestimmten Rechtssystems, dagegen niemals auf die Geltung des Rechtssystems über seinen eigenen Geltungsanspruch hinaus beziehen.9 Ganz entsprechend stützt in der Folge auch Kelsen die Rechtsgeltung innerhalb des Rechtssystems allein auf die Begründung aus einer höherrangigen Rechtsnorm, während die Letztbegründung nach der Grundnormtheorie auf die Geltung des Rechtssystems im Ganzen beschränkt bleibt.10 Und auch bei Hart bleibt der normale Rechtsanwender von Letztbegründungsfragen verschont, indem für ihn stets die interne sogenannte Teilnehmerperspektive, niemals hingegen die Geltung des Gesamtsystems aus der externen Beobachterperspektive relevant ist.11 Im Ergebnis besitzt der juristische oder positivistische Geltungsbegriff damit durchaus einen sicheren und zuverlässigen Anwendungsbereich, dessen Leistungsfähigkeit sich jedoch – und dies ist die entscheidende Einschränkung – ausschließlich auf die Geltung einzelner Rechtssätze innerhalb des Rechtssystems beschränkt. Ob ein Rechtssystem als

Radbruch: Grundzüge, S. 159. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 196 ff. 9 Radbruch: Grundzüge, S. 159: »Rein immanent, wie sie ist, […] kann sie die Geltung von Rechtssätzen immer nur an anderen Rechtssätzen derselben Rechtsordnung, die Geltung der ganzen Rechtsordnung nur an ihrem eigenen Geltungsanspruch messen, niemals aber über den Geltungsanspruch der ganzen Rechtsordnung im Verhältnis zu anderen Ordnungen unparteiisch entscheiden.« 10 Kelsen: Rechtslehre, 197; dazu etwa Matthias Jestaedt: »Geltung des Systems und Geltung im System«, JZ (Juristenzeitung) 2013, S. 1009 ff. 11 H.L.A. Hart: The Concept of Law, 3. Aufl. 2012, S. 88 ff. 7 8

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Unrechtssystem insgesamt der Rechtsgeltung entbehrt oder entbehren sollte, ist vom Standpunkt einer rein positivistischen Geltungstheorie aus hingegen unentscheidbar.

2. Kritik des sozialen Geltungsbegriffs Aus rechtsphilosophischer Perspektive kann das aber kaum befriedigen. An dieser Stelle wendet sich daher nicht nur Radbruch, sondern wiederum namentlich Hart den faktischen Voraussetzungen der Rechtsgeltung und damit soziologischen Geltungskriterien zu, um dort weiterzukommen, wo eine rein rechtliche Geltungstheorie nicht weiterführt. Als faktische Geltungskriterien werden dabei ebenfalls schon seit Radbruch immer wieder dieselben zwei genannt, nämlich einerseits die Macht zur faktischen Rechtsdurchsetzung und andererseits die Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen.12 Kann es nun aber überzeugen, diese oder ähnliche Kriterien zur Grundlage eines faktischen Begriffs der Rechtsgeltung zu machen? Das Grundproblem ist ein offenkundiger naturalistischer Fehlschluss: Aus der bloßen Faktizität der Normbefolgung folgt nicht, dass die Normbefolgung auch normativ geboten ist; aus einer bloßen Machttheorie folgt noch keine Rechtstheorie. Anders wäre nur auf der Grundlage rechtsrealistischer oder normnihilistischer Theorien zu entscheiden, die genau dies annehmen.13 Nun wäre der Verweis auf solche Theorien allein kein zwingender Einwand, solange diese nicht abschließend widerlegt sind. Die Frage kann jedoch letztlich dahinstehen, da das Problem des soziologischen Geltungsbegriffs bereits im Begriff der Geltung selbst in Verbindung mit der Faktizität des Sozialen liegt. Um über den Begriff der Geltung sinnvoll zu sprechen, ist es wesentlich, sich nochmals vor Augen zu halten, dass es sich dabei seiner neukantianischen Herkunft entsprechend um einen rein normativen Begriff handelt, der die Trennung von Sein und Sollen zwingend voraussetzt. Wie erwähnt waren es neukantianische Autoren wie Hermann Lotze, Emil Lask und Heinrich Rickert, die den Geltungsbegriff gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur fundamentalen Systemkategorie innerhalb der Zweiweltenlehre ausgebaut haben.14 Die Verwendung des Geltungsbegriffs ist an diesen Bedeutungshorizont gebunden und setzt voraus, dass es neben der von der Seinskategorie determinierten Sphäre des Faktischen eine zweite Sphäre des Übersinnlichen, Werthaften, Normativen gibt, in der die epistemische und ontologische Leitkategorie nicht die des Seins, sondern die des Geltens ist. Sein ist der Existenzmodus des Faktischen, Gelten dagegen immer nur und ausschließlich der des Werthaften, Normativen und damit niemals Maßstab empirischer Tatsachen als solcher. Tatsachen können nicht gelten; oder, in den Worten Heinrich Rickerts: »Werte allein können gelten. Etwas, das nur existiert, gilt nie.«15

12 Radbruch: Grundzüge, S. 163 ff.; ähnlich Alexy: Begriff, S. 32 ff., S. 141; Neumann: Theorien, S. 21 (S. 24 ff.). 13 Zur Diskussion etwa Alexy: Begriff, S. 32 f.; Hart: Concept, S. 65, S. 136 ff. m.w.N. 14 Nachweise vorstehend Fn. 3 f. 15 Rickert: Grundlegung, S. 122.

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Nun ist dies allein allerdings noch kein hinreichender Einwand gegen das zweite mögliche Kriterium sozialer Rechtsgeltung neben der faktischen Durchsetzung, nämlich die Anerkennung durch die Rechtsunterworfenen. Man könnte argumentieren, dass sich auf der Grundlage des Anerkennungskriteriums im Gegensatz zum Machtbegriff durchaus ein sinnvoller Begriff der sozialen Rechtsgeltung bilden lässt.16 So fällt es bereits unter Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs wesentlich leichter, zu sagen, Recht gilt, wenn es von der Mehrzahl der Rechtsunterworfenen anerkannt und befolgt wird, als zu sagen, es gelte, soweit es mit Zwangsgewalt durchgesetzt wird. Doch gerade an dem allgemeinsprachlichen Unterschied zwischen Zwang und Anerkennung erschließt sich das Problem des Anerkennungskriteriums: Letztlich handelt es sich nicht oder jedenfalls nur teilweise um ein faktisches Kriterium. Mit der Feststellung der Anerkennung einer Norm ist niemals ein rein faktischer Sachverhalt, sondern immer zugleich eine Dimension der Zustimmung, der Billigung, der Akzeptanz, der Freiwilligkeit und damit ein normativer Sinngehalt ausgesprochen.17 Was an der Anerkennung geltungsbegründend wirkt, ist gerade nicht die bloße soziale Tatsache der faktischen Befolgung der Norm, sondern vielmehr der normative Sinn dieser Zustimmung. Verstünde man die Rede von der geltungsbegründenden Anerkennung rein faktisch, wäre etwa nicht zu begreifen, weshalb dann auch eine Norm gelten soll, die von einzelnen Normadressaten nicht anerkannt wird.18 Und damit sind die eigentlichen Schwierigkeiten des Anerkennungskriteriums bereits angesprochen: Auf wessen Anerkennung kommt es an? Auf die aller Normunterworfenen? Oder nur der Meisten? Oder der Richtigen? Oder der Besten? Und weiter: Reicht schon die konkludente Anerkennung, oder ist deren ausdrückliche Betätigung erforderlich? Was ist mit bloßem Schweigen? Die Fragen ließen sich unschwer fortsetzen.19 Ein faktisch interpretierter Anerkennungsbegriff liefert daher schon deshalb kein taugliches Kriterium einer Rechtsgeltungstheorie, weil er aufgrund seiner quantitativen Abstufbarkeit derart interpretationsoffen ist, dass er zu seiner Ausfüllung doch wieder zwingend der normativen Wertung bedarf, die dann eigentlich darüber entscheidet, welches Maß an Anerkennung für die Annahme normativer Geltung hinreichend ist. Mehr noch: Die im Schrifttum vertretenen Anerkennungstheorien setzen das Maß nötiger Anerkennung durchgehend so niedrig an, dass die tatsächliche Anerkennung letztlich nicht mehr von deren normativer Fiktion im Dienste der Rechtsbegründung zu unterscheiden ist. Wenn Anerkennung auf diese Weise schleichend in Anerkennensollen oder Anerkennenmüssen übergeht, verlässt jedoch die Anerkennungstheorie die Ebene der soziologischen Geltungskriterien und wandelt sich in eine rechtsethische Geltungstheorie um, der

Grundlegend zur Anerkennungstheorie Ernst Rudolf Bierling: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 1, 1877, S. 3 ff., S. 66 ff. und passim; ders., Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, 1894, S. 41 ff., S. 107 ff.; aus dem jüngeren Schrifttum Hart: Concept, S. 100 ff.; Klaus Lüderssen: Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 1996, S. 20 ff. m.w.N. 17 Radbruch: Grundzüge, S. 168 ff.; Neumann: Theorien, S. 25 ff. 18 Dazu Neumann: Theorien, S. 26. 19 Dazu bereits Bierling 1877: Kritik, S. 81 ff.; aus jüngerer Zeit Neumann: Theorien, S. 26 ff. 16

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es in Wirklichkeit gar nicht mehr um die faktische Anerkennung, sondern vielmehr um die normative Rechtfertigung der Geltung von anerkennungswürdigem Recht geht.20

3. Kritik des moralischen Geltungsbegriffs Damit sei abschließend noch die letzte Teilkategorie des Geltungsbegriffs, nämlich die sogenannte philosophische, moralische oder ethische Geltungsdimension betrachtet, die im Schrifttum seit Radbruch als Kurzformel für das Problem der Geltung ungerechten Rechts oder staatlichen Unrechts verwendet wird.21 Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich dabei wiederum die Frage, ob sich dieses Problem im Rahmen des Geltungsbegriffs sinnvoll verhandeln lässt. Dabei fängt man am besten mit der umgekehrten Beobachtung an, dass sich der Geltungsbegriff jedenfalls auf den ersten Blick noch eher für die Konzeptionalisierung der Gerechtigkeit oder ethischen Rechtfertigung des Rechts als für die Frage nach seiner faktischen Wirksamkeit eignet. Warum das so ist, erschließt sich ohne weiteres bei nochmaliger Berücksichtigung der neukantianischen Bedeutung des Geltungsbegriffs als spezifischer Existenzmodus des Normativen, Wert- und Sinnhaften.22 Jedenfalls unter der Voraussetzung, dass man mit der neukantianischen Zweiweltenlehre von einer unüberschreitbaren Grenze zwischen der Welt des Seins einerseits und des sinnhaften, werthaften Geltens andererseits ausgeht, scheint es daher nahezuliegen, dass Geltung die richtige Kategorie ist, um das Verhältnis von geltendem Recht und rechtsethischer Kritik zu verhandeln. Dennoch ist nach hier vertretener Auffassung auch dies abzulehnen, und zwar unabhängig davon, ob und inwieweit man sich der Zweiweltenlehre als ontologisches, epistemisches, sprachphilosophisches oder auch nur heuristisches Modell der Welterklärung anschließen will. Betrachtet man zunächst die moralische Geltung allein ohne Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur juristischen Geltung, so wäre erstere ungerechtem oder – falls es so etwas gibt – ›unrichtigem‹ Recht wohl jedenfalls dann abzusprechen, wenn es sich in wesentlichem Widerspruch zu allgemein anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien befindet. Die Kategorie der moralischen Geltung des Rechts ist damit offensichtlich bereits mit der Schwierigkeit konfrontiert, sich mit der inhaltlichen Debatte darüber auseinandersetzen zu müssen, ob es solche Gerechtigkeitsprinzipien überhaupt gibt und ob sie erkennbar, begründbar und universalisierbar sind. Selbst unter der Voraussetzung, dass man sich schließlich auf solche Prinzipien einigen könnte, impliziert der Begriff der moralischen Geltung des Rechts jedoch noch eine weitere Bedingung, nämlich die stillschweigende Annahme einer umfassenden Normenhierarchie, die sowohl rechtliche als auch außerrechtliche Normen und Normenordnungen widerspruchsfrei innerhalb einer einzigen Wertordnung umfasst. Die Vorstellung der Existenz einer solchen allumfassen20 21 22

Treffend Radbruch: Grundzüge, S. 169. Statt aller Alexy: Begriff, S. 141 f. Nachweise vorstehend Fn. 3 f.

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den, pyramidenförmig strukturierten Normenhierarchie aller inner- und außerrechtlicher Normenordnungen ist jedoch selbst vom Standpunkt einer Normentheorie im Sinne Kelsens – wiederum unabhängig von deren Tragfähigkeit innerhalb ihres eigentlichen, rechtsimmanenten Anwendungsbereichs – kaum haltbar.23 Vielmehr handelt es sich bei der Vorstellung, dass die gesamte Welt der Normen als kohärentes, hierarchisches System zu denken sei, in der es vorrangige Normen gibt, gegen die durch nachrangige Normen eindeutig verstoßen werden könne, so dass der Geltungsbegriff als eindeutige Ja/NeinKategorie subsumierbar sei, um eine weitere typische Idealisierung des Neukantianismus, die im Rechts- und Normenpluralismus der Gegenwart zu Recht als überwunden gelten kann.24 Und damit ist die letztlich entscheidende Frage, nämlich das Verhältnis zwischen der moralischen und der juristischen Geltung des Rechts im oben diskutierten Sinne, noch gar nicht angesprochen. Um sich dieser Frage anzunähern, sei zunächst bemerkt, dass sich nahezu alle modernen Rechtstheorien einschließlich nichtpositivistischer Ansätze darin einig sind, dass es jedenfalls keine automatische Verbindung zwischen Recht und Gerechtigkeit gibt.25 Selbst bei bestehenden Gerechtigkeitsverstößen müssen besondere Hürden überwunden werden, bevor eine rechtsethisch kritikwürdige Rechtsnorm auch die rechtliche Geltung verliert. Es gibt, und darin sind sich ebenfalls alle Ansätze einig, einen spezifisch moralischen Wert der juristischen Geltung als solcher, der bei Verstößen gegen über- und außerpositive Gerechtigkeitsprinzipien als Gegengewicht in die Waagschale tritt und für die Erhaltung der Norm als geltendes Recht streitet. Die Frage ist, wie hoch dieser Wert im Konflikt mit der überpositiven Gerechtigkeit zu veranschlagen ist. Dabei handelt es sich um einen der Hauptstreitpunkte in der Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, der Radbruch nach 1945 zu einem vieldiskutierten Meinungswandel veranlasst hat, so dass zur Veranschaulichung der gegensätzlichen Positionen instruktiv wiederum auf sein Werk zurückgegriffen werden kann: Der frühe Radbruch, 1914 und jedenfalls bis zum Erscheinen der dritten Auflage der Rechtsphilosophie 1932 fest auf dem Boden des Rechtspositivismus stehend, räumt der rechtlichen Geltung noch weitgehenden Vorrang vor der Gerechtigkeit ein.26 Nach Radbruchs früher Rechtstheorie bildet die Rechtssicherheit neben Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit einen der drei Bestandteile der »Rechtsidee«27. Danach ist es ein grundlegendes rechtsethisches Gebot, das positive Recht gerade nicht der überpositiven Gerechtigkeit weichen zu lassen. Vielmehr rechtfertigt die Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang des positiven Rechts vor der Gerechtigkeit, indem sie selbst teilweise notwendige Bedin23 Zur Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung Kelsen: Rechtslehre, S. 228 ff. sowie bereits ders., Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 248 ff.; Adolf Julius Merkl: Die Lehre von der Rechtskraft, 1923, S. 207 ff.; ders., in FS Kelsen, 1931, S. 252 ff. 24 Zur Kritik der Lehre vom Stufenbau Marietta Auer: »Die primärrechtskonforme Auslegung«, in: Neuner (Hg.) Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 2007, S. 27 (S. 34 ff.) m.w.N. 25 Statt aller Alexy: Begriff, S. 148 ff. 26 Radbruch: Grundzüge, S. 173 ff.; ähnlich ders.: Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, S. 70 ff. (»Antinomien der Rechtsidee«). 27 Radbruch: Rechtsphilosophie, S. 70.

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gung seiner »Richtigkeit«28 ist. Der späte Radbruch des Jahres 1946 hat diese Frage jedoch bekanntlich anders entschieden. Nach der ›Radbruchschen Formel‹ hat extrem ungerechtes Recht jedenfalls in zwei Fällen doch der Gerechtigkeit zu weichen: Einerseits soll es bei Vorliegen eines unerträglichen Widerspruchs gegenüber der Gerechtigkeit zurücktreten, dabei aber immerhin begrifflich Recht bleiben, während es andererseits sogar seine Rechtsnatur insgesamt verlieren soll, wenn es derart gerechtigkeitsfeindlich ist, dass es Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt.29 Für die vorliegenden Zwecke kommt es nun wiederum nicht darauf an, ob man die Radbruchsche Formel in der Sache als geeignete Lösung des Problems des gesetzlichen Unrechts ansieht. Selbst wenn man sich Radbruchs Lösung anschließt, ist nach hier vertretener Ansicht jedenfalls wiederum der Geltungsbegriff die falsche Kategorie, um das Spannungsverhältnis von Recht und Gerechtigkeit aufzulösen. Dafür spricht bereits, dass Radbruch – was meist übersehen wird – in seiner eigenen Darstellung völlig ohne den Begriff ›Geltung‹ auskommt. Die Radbruchsche Formel besagt wörtlich, dass zwischen Recht und Gerechtigkeit in dem genannten ersten Konfliktfall so zu entscheiden sei, dass extrem ungerechtes Recht der Gerechtigkeit »zu weichen«30 habe. Mit der inhaltlichen Akzeptanz dieser Formel ist also keinerlei Notwendigkeit verbunden, den Begriff der rechtlichen Geltung mit dem der moralischen Geltung zu verknüpfen oder überhaupt einen Begriff der moralischen Geltung einzuführen. Vielmehr ist es ohne weiteres möglich, die Radbruchsche Formel etwa so zu interpretieren, dass extrem ungerechtes Recht, soweit es begrifflich Recht bleibt, auch seine Rechtsgeltung behält, aber der Gerechtigkeit etwa im Wege eines Anwendungsvorrangs zu weichen hat. Damit ist dem Erfordernis des Vorrangs der Gerechtigkeit vollauf genügt, ohne die juristische Geltung des Rechts anzutasten. Der Begriff der moralischen Geltung fällt hingegen dem Ockhamschen Rasiermesser anheim. Mehr noch: Er muss dies sogar, da der dualistische Ja/Nein-Rigorismus des Geltungsbegriffs mit Radbruchs bewusst grenzunscharfer, abwägungsbedürftiger Formel letztlich nicht vereinbar ist, sondern wiederum eine Scheinklarheit über die Rechtsfolgen ungerechten Rechts suggeriert, die der komplexen Rechtswirklichkeit nicht gerecht wird.

III. Rechtsgeltung: Was bleibt? Fasst man kurz zusammen, bleibt nach hundertjähriger Debatte über den Begriff der Rechtsgeltung folgendes Ergebnis bestehen: Sinnvoll und fruchtbar erscheint allenfalls der Begriff der juristischen oder rechtlichen Geltung, zu dessen Ausfüllung ausschließlich innerrechtliche Kriterien heranzuziehen sind. Die Begriffe der faktischen und der moralischen Geltung sind dagegen irreführend und überflüssig. Die Annahme einer faktischen Geltung des Rechts scheitert bereits daran, dass Faktizität keine normative Kategorie ist. Radbruch: Grundzüge, S. 175 f.; ähnlich ders.: Rechtsphilosophie, S. 72 f. Gustav Radbruch: »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, SJZ (Süddeutsche Juristenzeitung) 1946, S. 105 (S. 107). 30 Radbruch: Unrecht, S. 107. 28 29

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Die moralische Geltung des Rechts ist hingegen neben der wie auch immer zu begründenden Heranziehung außerrechtlicher Gerechtigkeitsmaßstäbe überflüssig und verschleiert den Blick auf das Problem des gesetzlichen Unrechts. Wie auch immer man letzteres beurteilt: Im Geltungsbegriff ist es sicherlich falsch verortet.

Literatur Alexy, Robert: Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl., Freiburg/Br. 2005. Auer, Marietta: »Die primärrechtskonforme Auslegung«, in: Jörg Neuner (Hg.): Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, Tübingen 2007, S. 27-54. Bierling, Ernst Rudolf: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, Bd. 1, Gotha 1877. – Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, Freiburg/Br. 1894. Emge, Carl August: »Über den Charakter der Geltungsprobleme in der Rechtswissenschaft«, Teil I, ARWP (Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie) 14 (1920/21) S. 146-171; Teil II, ARWP 14 (1920/21) S. 277-285; Teil III, ARWP 15 (1921/22) S. 54-63. Hart, H.L.A.: The Concept of Law, 3. Aufl., Oxford 2012. Jestaedt, Matthias: »Geltung des Systems und Geltung im System: Wozu man die Grundnorm benötigt – und wozu nicht«, JZ (Juristenzeitung) 2013, S. 1009-1021. Kelsen, Hans: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925. – Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960. Kirste, Stephan: Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010. Lask, Emil: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre. Eine Studie über den Herrschaftsbereich der logischen Form, Tübingen 1911. Liebert, Arthur: Das Problem der Geltung, Berlin 1914. Lippold, Rainer: »Geltung, Wirksamkeit und Verbindlichkeit von Rechtsnormen«, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 463-489. Lotze, Hermann: System der Philosophie, Erster Teil: Logik, 1. Aufl., Leipzig 1879. Lüderssen, Klaus: Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt/M. 1996. Merkl, Adolf Julius: Die Lehre von der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff: Eine rechtstheoretische Untersuchung, Leipzig, Wien 1923. – »Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues«, in: Alfred Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht: Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre. Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252-294. Neumann, Ulfrid: »Theorien der Rechtsgeltung«, in: Winfried Hassemer/Volkmar Gessner (Hg.): Gegenkultur und Recht, Baden-Baden 1985, S. 21-41. Radbruch, Gustav: Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914. – Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Leipzig 1932. – »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht«, in: SJZ (Süddeutsche Juristenzeitung) 1946, S. 105-108. Rickert, Heinrich: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921.

Kritik der Geltung Dietmar von der Pfordten (Universität Göttingen)

I. Einleitung Eine Rechtsnorm weist folgende Phasen bzw. Eigenschaften auf: Sie existiert erstens als menschliche Sprachhandlung sowie deren Resultat in Raum und Zeit, etwa Urteile oder Gesetzestexte. Eine Rechtsnorm verpflichtet, erlaubt, ermächtigt usw. zweitens die Rechtsunterworfenen aufgrund des in ihr ausgedrückten Willensaktes des Rechtssetzers, und zwar als bestimmter Typus eines Sprechaktes, welchen wir mit Hilfe semantischer und pragmatischer Regeln der Bedeutung verstehen. Eine Rechtsnorm bedarf drittens der Rechtfertigung, weil wir als freie Wesen unsere Handlungen zunächst einmal nur durch unseren eigenen Willen leiten lassen bzw. lassen wollen. Eine Rechtsnorm erlangt schließlich viertens Wirksamkeit indem sie anerkannt und zumindest teilweise befolgt wird.1 Diese vier Phasen bzw. Eigenschaften einer Rechtsnorm, also (1) Existenz, (2) Verpflichtung/Erlaubnis/Ermächtigung usw., (3) Rechtfertigung und (4) Wirksamkeit (Anerkennung und Befolgung), sind sowohl natürlich als auch sozial außerordentlich tief verankerte Phänomene. Und die ihnen korrespondierenden Begriffe sind zum Teil antike, jedenfalls altehrwürdige Begriffe der Alltagswelt und der Wissenschaft, die eine unzweifelhafte Funktion und eine einigermaßen klare Bedeutung haben. Alle diese vier Phasen bzw. Eigenschaften einer Rechtsnorm lassen sich aus einer naturwissenschaftlichen, einer soziologischen, einer historischen, einer ethisch-philosophischen Perspektive und vielleicht noch aus weiteren Perspektiven analysieren. Wozu brauchen wir dann neben diesen vier anerkannten und unzweifelhaften Phasen bzw. Eigenschaften der Rechtsnorm noch den sehr viel obskureren und problematischeren Kunstbegriff der Geltung, der zum einen die deutlichen Unterschiede zwischen Existenz, Verpflichtung usw., Rechtfertigung und Wirksamkeit des Rechts sowie die Perspektiven von Natur, Recht, Ethik und Soziologie/Geschichte verwischt und zum anderen weitgehend ein theorieerzeugter Parvenü des 19. Jahrhunderts ist? Im Laufe der Beschäftigung mit dem Thema haben sich bei mir immer mehr Zweifel gegenüber dem Begriff der Geltung entwickelt. Man sollte deshalb angesichts seiner gegenwärtig zu konstatierenden Hypertrophie zumindest probeweise versuchen, wie weit man ohne den Begriff der Geltung auskommt. Weil starke Thesen die Diskussion zu befeuern vermögen, seien die Zweifel hier noch deutlicher formuliert: Der GeltungsbeNeben dieser Wirksamkeit im engeren Sinn gibt es eine Wirksamkeit im weiteren Sinn: (1) die allgemeine Autorität des Rechtssetzers, (2) die Sanktionsdrohung oder Belohnungsankündigung zur Sicherung der Anerkennung und Befolgung und (3) die tatsächliche Sanktionierung im Falle der Nichtbefolgung oder die tatsächliche Belohnung im Fall der Befolgung. 1

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Kolloquium 17 · Dietmar von der Pfordten

griff scheint weitgehend eine allgemeinphilosophische Kopfgeburt zu sein, welche einige Rechtsphilosophen und Rechtstheoretiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr zum Schaden als zum Nutzen ihrer Untersuchungen und der Rechtsphilosophie übernommen und aufgewertet haben, und die wir nun in allen heutigen Arbeiten zur Rechtsphilosophie – meine bisherigen eigenen Versuche schließe ich ausdrücklich ein – mit viel zu großer Bedeutsamkeit weiterschleppen. Es gibt meiner Meinung nach nur einen sehr begrenzten, technischen Anwendungsbereich des Geltungsbegriffs in der Rechtspraxis: Wie andere nachträglich aus pragmatischen Gründen eingeführte Zusammenfassungsbegriffe, etwa ›etwas‹ oder ›Entität‹ oder ›Interesse‹, die sich viel weniger unmittelbar auf die Realität beziehen, fasst der Geltungsbegriff zum einen Verpflichtung, Erlaubnis, Ermächtigung, Recht und Statusbestimmung zusammen und lässt zum anderen Urheber wie Adressat der Norm offen, bezieht also auch drei- und mehrdimensionale Normen ein. Dieser sinnvolle Anwendungsbereich der pragmatischen Zusammenfassung wird nachfolgend in einem ersten Teil zur Rechtspraxis erläutert. Dann wird in einem zweiten Teil die historische Entwicklung des Geltungsbegriffs in kritischer Absicht nachgezeichnet. In einem dritten Teil wird schließlich das Verhältnis der Genesis zu einer verpflichtenden Norm diskutiert.

II. Rechtspraxis Nimmt man als Beispiel das deutsche Grundgesetz, so findet sich der Begriff der Geltung hauptsächlich an zwei Stellen, und zwar in der Präambel und in Art. 146 GG. Die Präambel schließt bekanntlich folgendermaßen: »Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk.« [Hervorhebung DvdP]. Und in Art. 146 GG heißt es: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Warum wird in diesen Artikeln nicht einfach von der ›Verpflichtung‹ des Grundgesetzes, sondern von der »Geltung« gesprochen? Man kann annehmen, dass »Geltung« hier im Kern ›Verpflichtung‹ meint, aber wenigstens zweifach darüber hinausgeht: Er umfasst zum einen zusammenfassend nicht nur Gebote und Verbote, also Pflichten, sondern auch Erlaubnisse, Ermächtigungen, die Anerkennung bzw. Statuierung von subjektiven Rechten, Statusbestimmungen usw., also verschiedene Sprechakttypen, die einzelne Rechtsnormen annehmen können. Und zum anderen muss, anders als im Fall der Verpflichtung, bei der Geltung nicht klar festgelegt bzw. angegeben werden, wer Urheber und wer Adressat einer Rechtsnorm ist. Da moderne Rechtsordnungen aber in zunehmendem Maße nicht nur Pflichten, sondern auch Erlaubnisse, Ermächtigungen, Rechte, Statusbestimmungen usw., also sehr unterschiedliche Sprechaktformen enthalten, und auch immer öfter eine Mehrzahl von Verpflichteten und Berechtigten besteht – etwa bei den Grundrechten der Staat auf der einen Seite und mehrere Bürger auf der anderen Seite –,

Kritik der Geltung

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ist der zusammenfassende Geltungsbegriff ähnlich wie der Normbegriff gegenüber dem Pflichtbegriff kürzer und damit effizienter, um diese Pluralität von Sprechaktformen und angesprochenen Personen zu bezeichnen, als der einfache Verpflichtungsbegriff. Praktisch taucht der Geltungsbegriff dann z. B. im seltenen Falle einer Kollision zweier Rechtsnormen auf. Hier stellt sich die Frage der Geltung, etwa wenn es zweifelhaft ist, ob ein Gesetz gegen die Verfassung verstößt. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Frage nach der zeitlichen und räumlichen Ausdehnung bzw. Reichweite einer Rechtsnorm, ob also etwa ein Gesetz schon in Kraft getreten ist oder bereits außer Kraft gestellt wurde oder ob ein Gesetz sich auch räumlich auf einen Fall erstreckt, eine Frage, die etwa für das Zivilrecht die Metanormen des Internationalen Privatrechts beantworten. In all diesen Fällen bis auf den letzteren könnte man aber statt von ›Geltung‹ auch von ›Verpflichtung‹ sprechen, wenn es sich bei den fraglichen, zu Grunde liegenden Rechtssätzen um Pflichten handelt. Und entsprechend bei Erlaubnissen, Ermächtigungen usw. Der Geltungsbegriff dient also auch in derartigen Fällen nur der effizienten Zusammenfassung verschiedener Sprechakttypen. Dieses höhere Maß an pragmatischer Effizienz der Wortwahl sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Geltung im Kern die Sprechaktform der Verpflichtung meint und dann noch Erlaubnis, Ermächtigung, subjektives Recht und Statusbestimmung hinzunimmt. Das bedeutet aber, dass die Geltung keinen neuen bzw. anderen Aggregatszustand des Rechts neben diesen Sprechaktformen sowie der bereits erwähnten Existenz, der Rechtfertigung und der Wirksamkeit darstellt. Man muss hier meiner Ansicht nach Ockhams Rasiermesser ansetzen und alle Versuche der ontologischen bzw. metaphysischen Hypostasierung eines solchen neuen obskuren Aggregatszustands der Geltung kritisieren. Um diese grundsätzliche Kritik am Geltungsbegriff deutlicher werden zu lassen, soll nun kurz seine Historie skizziert werden.

III. Historie des Geltungsbegriffs Der Begriff der Geltung ist philosophisch und juristisch ein Kind des 19. Jahrhunderts und dort der Wertphilosophie des Neukantianismus. Der Begriff hat kein griechisches oder lateinisches bzw. römisch-rechtliches Äquivalent. Und im Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts, etwa bei Grotius und Pufendorf, kommt der Begriff noch nicht vor. Ebenso nicht bei Hobbes oder Locke. Für Hobbes gilt »auctoritas, non veritas facit legem«. Von »validitas« ist nirgends die Rede. 2 Das gleiche gilt für den Kern von Kants Rechtsphilosophie. Kant entwickelt das Kriterium des Rechts, die Willkür des einen mit der Willkür des anderen unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zu vereinigen, als materiales Kriterium, ohne dass die Geltung des Rechts erwähnt würde. Auch bei Hegel spielt in der Rechtsphilosophie die Geltung keine Rolle. Ebenso nicht bei Fichte. Erst im 19. Jahrhundert taucht die Geltung in der Philosophie des Neukantianismus auf, aber interessanterweise nicht bei dem Rechtspositivisten John Austin in England, bei 2

Vgl. Thomas Hobbes: Leviathan, Cambridge 1991, hrsg. v. Richard Tuck, Kap. 26.

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dem man es eher erwarten würde. Für die Neukantianer ist ein begrifflicher Referenzpunkt Kants Qualifizierung von Urteilen als objektiv gültig. Kant schreibt an einer Stellen in der Kritik der reinen Vernunft: »Dadurch allein [durch die Einheit der Apperzeption] wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist, und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjektive Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Assoziation, hinreichend unterscheidet.«3 Urteile die wahr sind, haben nach Kant also objektive Gültigkeit. Oder man könnte auch sagen, sie sind ›allgemeingültig‹. Diese Verbindung der Wahrheit von Urteilen, Sätzen oder Vorstellungen mit ihrer Qualifikation als gültig bzw. allgemeingültig bzw. geltend hat dann vor allem der im 19. Jhd. einflussreiche Göttinger Neukantianer Hermann Lotze zu einer Zweiweltentheorie von Sein und Geltung hypostasiert. Innerhalb der umfassenden Wirklichkeit soll es nach Lotze außer der Sphäre des Seins auch eine eigene Sphäre des Geltens geben, die nicht Teil des Seins ist. Insbesondere im dritten Teil seines in mehreren Auflagen erschienenen Buchs Logik, welcher das Erkennen behandelt, wird unter der Zwischenüberschrift »Die Ideenwelt« näher erläutert, dass der Inhalt bzw. die Wahrheit von Sätzen bzw. Vorstellungen nicht wie diese selbst wirklich sei, sondern gelte.4 Die Wirklichkeit der Geltung soll eine eigene Weise der Wirklichkeit sein.5 Das Gelten soll sich nach Lotze nicht mehr von anderem ableiten lassen.6 Es soll sich um einen auf sich beruhenden Grundbegriff handeln.7 Platon soll nicht die Existenz der Ideen behauptet haben, sondern nur ihr Gelten als spezifische Form der Wirklichkeit. Lotze wird hier zum Ausgangspunkt einer neuen Platoninterpretation. Und er folgt Platon auch in einem anderen entscheidenden Punkt. Logik und Metaphysik sollen nur Mittelglieder sein, während der höchste Anfang der Erkenntnis in der Ethik liegen soll, nämlich in den Werten, im Guten. Lotze vertrat also letztlich einen ethischen bzw. teleologischen Idealismus. Er war nicht nur Urheber des besonders gesteigerten Geltungsbegriffs, sondern auch des besonders gesteigerten Wertbegriffs. Und beide Begriffe verbinden sich: Die letzte Wahrheit von allem und aller Erkenntnis soll in den geltenden Werten liegen. Lotzes neoplatonische, aber kaum kantianische Hypostasierung einer eigenen Sphäre der Wahrheit, des Geltens und der Werte wurde dann verschiedentlich aufgegriffen: Lotzes Schüler in Göttingen, Gottlob Frege, hat die Bedeutung von Sätzen in ihrem Wahrheitswert gesehen.8 Wilhelm Windelband, ebenfalls ein Schüler Lotzes, hat seine

3

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. III/IV, 6. Aufl. Frankfurt/M. 1982, B

142. Hermann Lotze: Logik, Hamburg 1912, S. 511. Ebd., S. 514. 6 Ebd., S. 512. 7 Ebd., S. 513: »Man muss auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Konstruktion aus Bestandtheilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten.« (S. 501). 8 Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hrsg. v. Günther Patzig, 6. Aufl., Göttingen 1986, S. 48. 4 5

Kritik der Geltung

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Lehre nach Süddeutschland, v. a. nach Heidelberg getragen. Er unterscheidet wie Lotze zwei Sphären, die er als Gelten und Sein, Sollen und Sein, Wert und Wirklichkeit bezeichnet.9 Der bei Lotze noch übergreifende Wirklichkeitsbegriff wird also auf das Sein eingeschränkt. In Heidelberg wurde diese Lehre von Windelbands Schülern Heinrich Rickert und Emil Lask aufgegriffen. Lask schreibt 1911: »Lotzes Herausbildung der Geltungssphäre hat der philosophischen Forschung der Gegenwart den Weg vorgezeichnet.«10 Und bereits in seiner Rechtsphilosophie von 1905 heißt es: »Die formelle Rechtspositivität ist nichts anderes als eine Art des Geltens.«11, wobei Lask dann kurz darauf an einer Stelle verräterisch statt von »Geltung« wieder von der »Verbindlichkeit« spricht.12 Der Marburger Neukantianer Arthur Liebert hat dann 1914 in der Reihe der Ergänzungshefte der Kantstudien ein Buch mit dem Titel Das Problem der Geltung veröffentlicht, das die, soweit ersichtlich, umfangreichste Monographie zum neuen Begriff der Geltung darstellt. Dort heißt es an einer Stelle – und diese zeigt schon die Unbestimmtheit und Fragwürdigkeit des Geltungsbegriffs: »Man könnte mit dem gleichen Rechte statt des Wortes Geltung auch ›Sinn‹, ›Wert‹, ›Gehalt‹, ›Bedeutung‹, ›Rechtfertigung‹, ›Begründung‹, ›Grundlegung‹ setzen.«13 Den Gipfelpunkt seiner mehr als obskuren Hypostasierung erreicht der Geltungsbegriff dann ohne Zweifel in Kelsens sogenannter »Reiner Rechtslehre«. Nach Kelsen soll ein Akt der Rechtssetzung als bloßes subjektives Wollen durch eine übergeordnete positive Rechtsnorm in ein »objektives« Sollen, eine »geltende«, den Adressaten bindende Norm verwandelt werden.14 Die übergeordneten Normen bis hin zur Grundnorm sollen die »objektive Geltung« der untergeordneten Normen erzeugen.15 Der Geltungsgrund einer Norm soll nach Kelsen nur eine andere Norm sein.16 Unter Geltung will Kelsen die »spezifische Existenz« einer Norm verstehen, ein »Sollen« im Gegensatz zu einem bloßen »Sein«.17 In der posthum veröffentlichten Allgemeinen Theorie der Normen spricht Kelsen von der Geltung als »ideeller Existenz«.18 Dabei wird der Unterschied von Sein und Sollen als nicht weiter erklärbare Grundlage behauptet19 und damit auch das Gelten. Geltung bedeutet für Kelsen nicht Wirksamkeit. Allerdings muss nach ihm die Wirksamkeit hinzutreten, damit die Rechtsnorm ihre Geltung nicht verliert.20

Wilhelm Windelband: Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920, S. 213, 426. Emil Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, in: Gesammelte Schriften II, Tübingen 1923, S. 15. 11 Emil Lask: Rechtsphilosophie, in: Gesammelte Schriften I, Tübingen 1923, S. 283. 12 Ebd. 13 Arthur Liebert: Das Problem der Geltung, Berlin 1914, S. 4. 14 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 7. 15 Ebd., S. 8. 16 Ebd., S. 196. 17 Ebd., S. 9. 18 Hans Kelsen: Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979, S. 22. 19 Ebd., S. 5. 20 Ebd., S. 11. 9

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Wie ein weiteres tatsächliches Wollen aus einem subjektiven Wollen ein objektives Sollen erzeugen kann, ist allerdings vollkommen unklar und außerordentlich zweifelhaft. Streiten sich zum Beispiel zwei Jungen und holt der eine seinen größeren Bruder, so transformiert der unterstützende Willensakt des größeren Bruder das subjektive Wollen des kleineren Bruders nicht in eine völlig andere Sphäre der Objektivität. Kelsen verstärkt hier die metaphysische Hypostasierung des zweiten Reichs des Sollens durch den Geltungsbegriff. Das als nicht weiter erklärbarer Grundbegriff immunifizierte »Sollen« wird enorm ausgeweitet und soll auch das »Dürfen« und »Können« mitumfassen.21 Gustav Radbruch hat bekanntlich § 10 seiner Rechtsphilosophie von 1932 der Geltung des Rechts gewidmet, wobei der Unterschied zu Kelsens Hypostasierung der Geltung ins Auge springt: Für Radbruch spielt die Geltung für die Konstitution des Rechts in den §§ 1 bis 9, anders als bei Kelsen, keine Rolle. Erst bei der Konkretisierung der Rechtssicherheit in § 10 wird die Geltung eingeführt. Radbruch leitet die Behandlung der Geltung mit einem Verweis auf die Rechtssicherheit als Teil der Rechtsidee ein. Er erwähnt neben der juristischen Geltungslehre des Wollens des Rechtssetzers eine soziologisch-historische Geltungslehre der Macht und Anerkennung und schließlich eine philosophisch-naturrechtliche bzw. ethische Geltungslehre des richtigen Rechts (also die heute behauptete ›Dreidimensionalität‹ der Geltung). Radbruch stellt verschiedene Relationen zwischen diesen Aspekten der juristischen Gesolltheit, der soziologischen Wirksamkeit und der philosophisch-naturrechtlichen Richtigkeit auf. Nur diejenige Rechtsordnung gelte faktisch, die sich als ganze auch faktische Wirksamkeit zu verschaffen vermöge.22 Da der Relativismus eine letzte inhaltliche Entscheidung über die Richtigkeit nicht zulasse, könne niemand feststellen, was gerecht ist. Somit müsse jemand festsetzen, was rechtens sein soll.23 Während der Einzelne seinem Gewissen folgen und den Gehorsam verweigern dürfe, solle der Richter durch den unbedingten Rechtsgehorsam zumindest der Rechtssicherheit dienen.24 Wie eingangs dieses Aufsatzes geschehen, soll diese faktische, juridische und ethische Dimension des Rechts nicht in Frage gestellt werden. Und ebenfalls nicht die angesprochenen vier Phasen bzw. Eigenschaften der Rechtsnorm, also die Phasen bzw. Eigenschaften der Existenz, Verpflichtung usw., Rechtfertigung und Wirksamkeit. Es soll nur behauptet werden, dass es sinnvoller und wissenschaftlich geboten ist, bei der Analyse der Verhältnisse auf den solchermaßen disziplinär und deskriptiv entdifferenzierenden Geltungsbegriff zu verzichten. Es erscheint vorzugswürdig, je nach dem jeweiligen Typ einer Rechtsnorm jeweils aus den fünf Perspektiven von Natur, Soziologie, Geschichte, Recht und Ethik nach dem Verhältnis von Existenz, Verpflichtung, Rechtfertigung und Wirksamkeit zu fragen. Hier wird man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, etwa wenn man zwischen Verpflichtung, Erlaubnis und subjektivem Recht unterscheidet. Während z. B. eine bloße Verpflichtung vielleicht irgendwann mangels allgemeiner Befolgung ihre verpflichtende Kraft einbüßt, scheint das bei einer Erlaubnis oder Ebd., S. 5. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. v. Ralf Dreier und Stanley Paulson, Heidelberg 1999, S. 79. 23 Ebd., S. 82. 24 Ebd., S. 84 f. 21 22

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einem Recht nicht der Fall zu sein. Eine Erlaubnis bleibt bestehen, selbst wenn sie nie genutzt wird. Und auch ein Recht verliert seine juridische Verbürgung keineswegs, selbst wenn es permanent missachtet wird. Eine solche dreifache Differenzierung zwischen dem Sprechakttyp der Verpflichtung, Erlaubnis, Ermächtigung, Recht und Statusbestimmung, der Dimension von Existenz, Sprechakttyp, Rechtfertigung und Wirksamkeit und der disziplinären Perspektive von Natur, Soziologie, Geschichte, Recht und Ethik erscheint nun auch hinsichtlich der Frage der Genesis geboten. Das kann hier angesichts des beschränkten Raums nicht weiter ausgeführt werden. Es wird nur kurz und paradigmatisch auf die Genesis der verpflichtenden Rechtsnorm eingegangen. Vorher aber noch zu einem möglichen Einwand: Auch H. L. A. Hart hat den Geltungsbegriff aufgegriffen und eine Dimension, die bereits bei Kelsen angelegt war, noch stärker betont. Die »rule of recognition« soll über die Geltung einer Norm und damit die Zugehörigkeit zum Rechtssystem entscheiden.25 Hat der Geltungsbegriff also nicht wenigstens – wie Kelsen und Hart meinten – als Kennzeichnung der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rechtssystem seine eigene Bedeutung? Voraussetzung dieser Annahme ist natürlich, dass man das Recht überhaupt – so wie Kelsen und Hart – als ein relativ geschlossenes System ansieht, was etwa Eugen Ehrlich und die Freirechtsschule um Hermann Kantorowicz bestritten haben. Um diese Frage zu erörtern, müsste man fragen, was eigentlich gemeint ist, wenn das Recht als System angesehen wird, was hier selbstredend nicht zu leisten ist. Aber sofern man zumindest zugesteht, dass das Recht als eine bestimmte Rechtsordnung einen solchen Systemcharakter annehmen kann, stellt sich die Zugehörigkeitsfrage. Nun scheint es aber Fälle zu geben, in denen eine Rechtsnorm zu einem Rechtssystem gehört, aber ihre Geltung verliert. Man denke an eine gesetzliche Bestimmung, die vom Verfassungsgericht in Teilen für verfassungswidrig und damit nichtgeltend also nicht verpflichtend erklärt wird. Dadurch wird nicht behauptet, dass das Gesetz nicht zum fraglichen Rechtssystem gehört, sondern nur, dass es nicht mehr rechtlich verpflichtet, also gilt. Es kann also Rechtsnormen geben, die nicht gelten und doch zu einem Rechtssystem gehören.

IV. Das Verhältnis von Genesis und verpflichtender Rechtsnorm Unterscheidet man klar zwischen Existenz, Verpflichtung, Rechtfertigung und Wirksamkeit einer Rechtsnorm, so kann man den Einfluss der Genesis viel rationaler analysieren. Handelt es sich bei der verpflichtenden Rechtsnorm um menschliches Recht und nicht etwa um ein göttliches Gebot, so ist die Genesis der Norm sowohl für ihre Existenz als ihre Verpflichtung wesentlich. Die Norm existiert aufgrund der sprachlichen Handlung und sie verpflichtet, weil der Willen des Urhebers im spezifischen Sprechakt der Verpflichtung durch semantische und pragmatische Regeln der Interaktion und der Sprache zum Ausdruck kommt. 25

H. L. A. Hart: The Concept of Law, 2. Aufl. Oxford 1994, S. 103.

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Diese Existenz einer verpflichtenden Norm und ihre Kraft als verpflichtend hat aber bisher nur eine Art Befehl erzeugt. Damit jemand nicht nur verpflichtet wurde, sondern auch verpflichtet ist und sich legitim für verpflichtet hält, ist eine Rechtfertigung erforderlich. Diese kann rechtsintern oder rechtsextern erfolgen. Bei der rechtsinternen Rechtfertigung ist eine Ermächtigung notwendig, deren Genesis ebenfalls Existenz und Verpflichtung zur Bedingung hat. Eine solche Rechtfertigung durch andere Rechtsnormen ist möglich und sinnvoll, aber in verschiedener Hinsicht beschränkt. Es handelt sich zum einen auch nur um eine weitere rechtliche Rechtfertigung und es besteht zum anderen das Regressproblem bzw. das Problem des willkürlichen Abbruchs, sofern man eine Grundnorm annimmt. Der Versuch Kelsens, jede Legitimation auf eine solche Rechtfertigung durch höherrangige Normen zu beschränken, ist deshalb offensichtlich verfehlt.26 Neben der rein rechtlich-hierarchischen Legitimation gibt es eine demokratische Rechtfertigung, die ebenfalls rechtlich ausgestaltet sein kann, den Kern ihrer rechtfertigenden Kraft aber in der wenigstens indirekten demokratischen Zustimmung der Verpflichteten findet. Hier ist natürlich die tatsächliche aber auch sinnhafte Genesis des demokratischen Prozesses entscheidend. Was für eine Rolle spielt die Genesis für die ethische Rechtfertigung der verpflichtenden Rechtsnorm? Grundsätzlich liefert die bloße Entstehung einer Rechtsnorm jenseits von positivem Recht und Demokratie keine ethische Rechtfertigung. Es ist ja gerade das Kennzeichen der Ethik, dass sie tatsächliche Pflichten unabhängig von ihrer Entstehung beurteilt. Setzt ein Tyrann ungerechte Rechtsnormen in die Welt, die rechtlich verpflichten, so wird die Ethik die Ungerechtigkeit dieser Rechtsnormen dennoch kritisieren. Die ethische Rechtfertigung und damit ein wichtiger Aspekt des problematischen Konglomerats des Geltungsbegriffs kann also nicht auf die Entstehung zurückgeführt werden. Allerdings ist hier eine wichtige Einschränkung erforderlich: Das Recht reichert sich im Laufe seiner langen Entstehungszeit mit positiven Wertungen nicht nur der Urheber, sondern auch der allgemein und damit in abstracto Verpflichteten an. So wie eine Lampe eine sinnvolle und damit wertvolle Lösung für die Beleuchtungsbedürfnisse der Menschen ist, so ist das Recht im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende eine sinnvolle und damit wertvolle Lösung zur Vermittlung gegenläufiger, widerstreitender Belange der Menschen geworden. Diese Lösung durch das Recht ist wie alles Menschenwerk nicht perfekt und vielfach verbesserungsbedürftig, nicht zuletzt auf Grund geänderter tatsächlicher Verhältnisse und Werthaltungen. Aber diese Lösung durch das Recht hat ein gewisses Maß an positiven Wertungen erfahren. Diese im Rahmen der Entstehung quasi aufgespeicherten positiven Wertungen geben dem Recht auch ein nicht unerhebliches Gewicht an ethischer Rechtfertigung, weil eine soziale Institution wie das Recht immer die Sache aller in einer Rechtsgemeinschaft ist und eine lange historische Dimension verkörpert. Das Recht ist insofern stets auch Ausdruck gemeinschaftlicher Entscheidungen des guten Lebens. Allerdings können diese positiven Wertungen der Vergangenheit die ethische Beurteilung natürlich nicht erschöpfen. Das liegt daran, dass am Grund jeder ethischen Vgl. zu einer Kritik: Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, 2. Aufl. München 2011, S. 150 ff.; ders., Rechtsphilosophie. Eine Einführung, München 2013, S. 39 ff. 26

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Rechtfertigung das liegt, was man »Normativen Individualismus« der Ethik nennen kann. Jedes einzelne Individuum ist letzter Punkt der ethischen Rechtfertigung.27 Insofern können die Wertungen anderer nicht allein ausschlaggebend sein. Das gilt insbesondere für nicht mehr Lebende, die keine tatsächlichen Belange mehr zur Abwägung der Interessen beitragen. Deshalb kann auch jeder einzelne Mensch niemals absolut ethisch zur Befolgung des Rechts verpflichtet sein. Es gibt – wie Radbruch zutreffend konstatiert hat28 – einen letzten Rest der legitimen ethischen Beurteilung des Rechts durch das Gewissen des einzelnen Individuums. Welchen Einfluss hat die Genesis des Rechts schließlich auf die Wirksamkeit einer verpflichtenden Rechtsnorm? Es dürfte kein Zweifel bestehen, dass die Art und Weise, wie eine Rechtsnorm entstanden ist, großen Einfluss auf die Anerkennung und Befolgung seitens der Bürger hat. Wenn das Verfahren der Entstehung fair, transparent und partizipativ, also v. a. demokratisch bzw. normativ-individualistisch im weitesten Sinne war, dann wird auch die Anerkennung und Befolgung seitens der Bürger umfassender ausfallen. Man kann zusammenfassen: Die Genesis spielt eine entscheidende Rolle für die Existenz, Verpflichtung, rechtliche Legitimation sowie Wirksamkeit verpflichtender Rechtsnormen. Allein bei der ethischen Rechtfertigung des Rechts seitens der Individuen bleibt wegen des normativen Individualismus, also der letzten Rückführung auf die betroffenen Individuen, ein entscheidender, entstehungsunabhängiger Rest.

Literatur Frege, Gottlob: »Über Sinn und Bedeutung«, in: Günther Patzig (Hg.): Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, 6. Aufl., Göttingen 1986, S. 40–65. Hart, H.L.A.: The Concept of Law, 2. Aufl., Oxford 1994. Hobbes, Thomas: Leviathan, hg. v. Richard Tuck, Cambridge 1991. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe Bd. III/IV, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1982. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960. – Allgemeine Theorie der Normen, Wien 1979. Lask, Emil: Rechtsphilosophie (1905), in: ders.: Gesammelte Schriften I, Tübingen 1923. – Die Logik der Philosophie und der Kategorienlehre (1911), in: ders.: Gesammelte Schriften II, Tübingen 1923. Liebert, Arthur: Das Problem der Geltung, Berlin 1914. Lotze, Herrmann: Logik, Hamburg 1912. Pfordten, Dietmar von der: Normative Ethik, Berlin 2010. – Rechtsethik, 2. Aufl., München 2011. – Rechtsphilosophie. Eine Einführung, München 2013. Vgl. Dietmar von der Pfordten: Normative Ethik, Berlin 2010; Dietmar von der Pfordten und Lorenz Kähler (Hg.): Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht, Tübingen 2014. 28 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 84. 27

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Kolloquium 17 · Dietmar von der Pfordten

Pfordten, Dietmar von der/Kähler, Lorenz (Hg.): Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht, Tübingen 2014. Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie. Studienausgabe, hg. v. Ralf Dreier/ Stanley Paulson, Heidelberg 1999. Windelband, Wilhelm: Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1920.

Geschichtlichkeit und Geltung von Grundrechten Matthias Mahlmann (Zürich)

1. Ambivalenz der Historisierung Eine Grundfrage der Reflexion über Recht und Ethik lautet: Wie können grundlegende Rechte von Menschen gerechtfertigt werden? Wenn man über diese Frage nach der Legitimation von Grundrechten nachdenkt, stellt sich eine Vielzahl von Problemen. Auch epistemologische und ontologische Fragen sind zu beantworten, um darzulegen, welche Reichweite menschliche praktische Erkenntnis eigentlich besitzt und welche Annahmen zur Struktur der Welt ihr zugrunde liegen. In der philosophischen Gegenwartsdebatte zur Reichweite theoretischer und praktischer Erkenntnis wird von manchen dabei die Historisierung von Erkenntnisansprüchen als grosser Gewinn verbucht. Dahinter liegt nicht zuletzt die Einschätzung, dass diese Historisierung deswegen von beträchtlichem Wert sei, weil sie das klassische Projekt der Philosophie transzendiere, einen Begriff der Vernunft zu entwickeln, der universal, für alle Zeiten und Kulturen schlechthin gelte. Dieses Projekt einer universalen Vernunftkritik wurde von unterschiedlichen Ansätzen betrieben und vereint Sokrates, Platon oder Aristoteles mit Descartes oder Kant. Es ist gerade für die Philosophie der Neuzeit von Bedeutung. Es gehört insbesondere zu den Kernaspekten der Aufklärung, die damit andere Traditionen der Geistesgeschichte fortsetzte, universale Erkenntnisansprüche nicht zuletzt in der Vernunftkritik zu erheben. Diese Erkenntnisansprüche wurden vielleicht in bestimmten Theorien nicht eingelöst, sie wurden aber als grundsätzlich gerechtfertigt, ja als alternativlos aufgefasst. Die eigentliche Aufgabe, das proprium sozusagen der Reflexion bildet aus dieser Sicht die Selbstreflexion der Vernunft und zwar aus universaler Perspektive: Den Gegenstand der Überlegungen bilden die Struktur und Eigenschaften menschlichen Denkens schlechthin, die in jedem Denken aufzufinden sind, egal welcher Zeit es entstammt.1 Dieses universale Erkenntnisinteresse war etwa ein zentraler Aspekt des Projektes der philosophischen Vernunftkritik Kants.2 In der theoretischen Vernunft erscheint die Kausalität nicht nur für eine bestimmte historische Epoche als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung schlechthin, sondern als ein Element des Erkenntnisprozesses, das in je-

1 Vgl. die paradigmatische Analyse des Geistes, René Descartes: »Principia philosophiae«, I, VIII ff., in: Charles Adam/Paul Tannery (Hg.): Oeuvres de Descartes,Vol. VI, Paris, 1956. 2 Immanuel Kant: Kritik der Reinen Vernunft, (1. Aufl. 1781), Akademie Ausgabe, Bd. IV, Nachdruck Berlin 1968, S. 9: die Vernunftkritik ist eine Forderung »der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu übernehmen.«

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der Zeit die Voraussetzung von menschlichen Einsichten bildet.3 In der praktischen Vernunft – um beim Kantischen Beispiel zu bleiben – ist der Kategorische Imperativ nicht nur das ethische Ornament einer spezifischen Zeit. Der Kategorische Imperativ in seinen formalen und materiellen Varianten ist vielmehr ein gerechtfertigtes Prinzip jeder Vernunftansprüchen genügenden moralischen Selbstgesetzgebung, das selbst nicht historisch relativ ist, sondern »als objectiv, d. i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird«.4 Die Vernunftkritik behauptet so substantielle humane Gemeinsamkeiten, die ein Band zwischen den verschiedenen Zeiten und Kulturen weben. Sie leugnet historische und kulturelle Unterschiede nicht, beschreibt aber einen geteilten Kern menschlichen Vernunftgebrauchs, der die Geschichte am Ende zu einer menschlichen und durch das Humane bei aller Vielgestaltigkeit innerlich verbundenen Geschichte macht.

2. Relativität und Historisierung Historisierung von Theoriebildungen bedeutet zunächst nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit: Die geschichtliche Einbettung von menschlichen Theorien wird mitbedacht. Diese Einbettung bildet eine Grundvoraussetzung kritischer Reflexion: Keine Theorie, auch keine Theorie der Vernunft entsteht im luftleeren Raum. Selbstverständlich kann man etwa Kants Ansichten zur Stellung von Frauen nicht erklären, ohne die Zeit mitzubedenken, in der sie entstanden sind. Keine Selbstverständlichkeit ist dagegen der nächste Schritt, um den es hier eigentlich geht, nämlich die Behauptung einer unüberwindbaren Relativität von Erkenntnisansprüchen durch den Aufweis ihrer Historizität. Die Einbettung solcher Erkenntnisansprüche in Zeitzusammenhänge führt aus dieser Perspektive dazu, dass nicht nur einige Aussagen, sondern die Idee der Möglichkeit einer universalen Analyse der geistigen Vermögen der Menschen in praktischer und theoretischer Hinsicht selbst historisch relativ wird. Die Relativierung kann dabei in verschiedener Form auftreten, wobei sowohl der theoretische Rahmen als auch die mit der Relativierung verbundenen Untertöne vielfältig sind. Die Relativierung kann spöttisch und mit einer allerdings ein wenig aufgesetzten Fröhlichkeit – wie bei Nietzsche – erfolgen, gewonnen aus der angenommenen Überlegenheit seines Perspektivismus gegen über dem »Dogmatiker-Irrthum« Platos (und seiner Nachfolger) »vom reinen Geiste und vom Guten an sich«.5 Sie kann auch ganz anders grundiert werden, nämlich mit dem Gefühl der Erfassung des kulturellen Kerns einer Menschheitstragödie wie es etwa in der Kritischen Theorie der Dialektik der Aufklärung 3 Immanuel Kant: Kritik der Reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), Akademie Ausgabe Bd. III, Nachdruck Berlin 1968, S. 166 ff. 4 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe, Bd. V, Nachdruck Berlin 1968, S. 20. 5 Friederich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1995, S. 12.

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geschieht, nach der die Vernunft der Aufklärung sich als Herrschaftsverhältnis über Welt und Menschen konstituiere und sich dadurch in Schuld verstricke.6 Die historische Relativierung kann auch positiv gewendet werden, etwa philosophisch-hermeneutisch in den Theorien von Heidegger7 oder Gadamer.8 Sie kann auch wissenschaftstheoretisch zur Unausweichlichkeit erklärt werden, mit einem durchaus konstruktiven Potential wie in der Wissenschaftstheorie Thomas Kuhns.9 In der postmodernen Dekonstruktion10 oder in systemtheoretischen Analysen11 herrscht der Tonfall kritischer Entlarvung gegenüber universalen Vernunftansprüchen vor. Dies sind nur einige Beispiele, wobei die Relativierung von Vernunftansprüchen nicht notwendig nur mit einer Historisierung einhergehen muss. In den genannten Beispielen ist etwa der Zusammenhang bei Nietzsche loser als bei anderen Theorien, etwa der philosophischen Hermeneutik. Heute ist diese Perspektive – wie angedeutet – von einigem Einfluss. Historisierung scheint tiefere Einsichten zu eröffnen, da sie einen Schritt weiter als ahistorischer erkenntnistheoretischer Universalismus geht, in dem sie die Zeitgebundenheit nicht nur jeder partikularen Einsicht, sondern auch der Struktur menschlicher Einsicht insgesamt versteht, voraussetzt und zur Grundlage weitergehender Analysen macht. Sie ist damit nicht in naiver Weise in der Illusion gefangen, partikulare, relative, zeitgebundene Ansichten und »Erzählungen« für universale Wahrheiten zu halten. Das scheinbar zeitenthobene, transzendentale Subjekt wird von seinem transzendentalen Schein befreit und zeigt sein wahres zeitlich bedingtes Gesicht. Sachliche Analysen von Problemen scheinen solche historisierend-relativierenden Überlegungen unausweichlich zu machen, denn kann es wirklich eine Theorie ohne Zeitkolorit geben? Und gibt es wirklich andere Wurzeln der Struktur und Bedingungen menschlicher Erkenntnis als Kulturprozesse, soziale Konstruktionen und das Fortspinnen kontingenter Erzählungen, geboren aus dem unbestimmten und fernen Ungefähr geschichtlicher Entwicklungen?

3. Geschichte und Rechte Interessanterweise und aus bestimmten Gründen nicht überraschender Weise ist diese Frage auch zu einem wichtigen und in der unmittelbaren Gegenwart besonders intensiv diskutierten Thema des internationalen rechtlichen, philosophischen und historischen Menschenrechtsdiskurses geworden. Ausgangspunkt ist der Versuch, das bemerTheodor W. Adorno/ Max Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969. Vgl. zum Zirkel des Verstehens Martin Heidegger, Sein und Zeit, 15. Aufl, Tübingen 1984, S. 152 ff. 8 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 6. Aufl., Tübingen 1990, S. 270. 9 Vgl. Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolution, 2. Aufl., Chicago 1970. 10 Jacques Derrida: Force of Law: »The mystical foundations of Authority«, in: Drucilla Cornell/ Michel Rosenfeld/David Gray Carlson (Hg.): Deconstruction and the possibility of justice, New York 1992, S. 13 ff.; 59 ff. 11 Vgl. z. B. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 239 ff. 6 7

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kenswerte Faktum des Siegeszuges der Idee der Menschenrechte nach dem 2. Weltkrieg historisch, soziologisch, politisch und theoretisch zu erklären. Dabei ist eine Eigenschaft der modernen Menschenrechtskonzeption von besonderem Interesse. Menschenrechte erheben einen Anspruch auf Universalität und zwar, dass ist wichtig zu betonen, in mehr als einer Hinsicht. Wenn über die Universalität der Menschenrechte nachgedacht wird, gerät häufig vor allem ihr gegenwärtiger Geltungsanspruch über politische und kulturelle Grenzen hinweg in das Blickfeld. Diese Aufmerksamkeit ist durch die praktischen Probleme der gegenwärtigen Welt und des internationalen Menschenrechtsschutzes ohne Zweifel gerechtfertigt. Die Universalität der Menschenrechte hat aber auch eine zeitliche Dimension. Hinsichtlich dieser diachronen Universalität der Menschenrechte tauchen naturgemäß zwei Fragen auf: Macht es erstens Sinn, historisch oder jedenfalls geltungstheoretisch davon zu sprechen, dass Menschenrechte schon in der Vergangenheit existierten oder galten, genauer in einer Vergangenheit, die weit vor der expliziten Formulierung der Menschenrechte in den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts und ihren unmittelbaren ideengeschichtlichen Vorläufern lagen? Es gibt viele Studien, die der Ideen- und Begriffsgeschichte der Menschenrechte gelten, die dies implizieren, z. B. wenn nach den vorneuzeitlichen, vielleicht auch antiken Wurzeln der Menschenwürdeidee gefragt wird. Die zweite Frage betrifft die Zukunft: Bilden die Menschenrechte normative Leitideen auch für die Zeiten, die noch kommen werden? Sind mit ihnen geltungstheoretisch unhintergehbare Maßstäbe nicht nur für die gegenwärtige, sondern auch für jede kommende menschliche Zivilisation formuliert worden? Bedeutet die Idee der Menschenrechte in bestimmter Hinsicht ein Ende der Geschichte der normativen Reflexion? Auch der zweite Aspekt dieser diachronen Universalität hat eine unmittelbar praktische Dimension: Wenn Menschenrechte als ein dauerhafter Leitfaden für humane Ordnungen legitimiert werden können, dann begründet das Pflichten für die Gegenwart – z. B. dafür zu sorgen, dass bestehende Menschenrechtsregime erhalten und funktionstüchtig bleiben, woraus Normen wie Rechtsmissbrauchsverbote wie z. B. in Art. 17 EMRK oder die sog. Ewigkeitsklausel des deutschen Grundgesetzes, Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 1 GG praktische Konsequenzen ziehen, indem sie mit unterschiedlichen rechtstechnischen Mitteln der Veränderung von Grundrechtspositionen normative Grenzen setzen. Die These der Universalität der Menschenrechte wird in der Gegenwart in verschiedenen Hinsichten attackiert. Die Idee einer Geltungskraft von Menschenrechten über politische und kulturelle Grenzen hinweg erscheint theoretisch verschieden abgesicherten Kulturrelativismen abwegig. Die Suche nach den Spuren der Menschenrechtsidee schon in der neuzeitlichen Geschichte wird als schlechtes Beispiel naiver teleologischer Geschichtsschreibung kritisiert, die in der Vergangenheit finde, was eine andere Gegenwart in sie hinein projiziert habe.12 Auch die Perspektive auf eine Zukunft, die aus normativer Sicht durch Menschenrechte geprägt sein müsse, wird von manchem als theoretisch oberflächlich empfunden.13 Die Menschenrechte sind aus dieser Sicht eine letzte Utopie, 12 13

Vgl. z. B. Samuel Moyn:, The Last Utopia, Cambridge 2011, S. 5 ff. Vgl. Ebd., S. 225 ff.; Samuel Moyn: »The Continuing Perplexities of Human Rights«, in: Qui Parle.

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die das Schicksal ihrer Vorgängerinnen ereilen werde, nämlich von anderen Leitvorstellungen zur richtigen, gerechten, guten menschlichen Ordnung abgelöst zu werden,14 vielleicht durch eine andere Ordnung des Post-Humanismus. Diese Kritik drückt weit verbreitete theoretische Annahmen aus. Besonders wichtig ist dabei die These, dass Genese und Geltung nicht unabhängig voneinander seien, die historische Genese vielmehr mit dem geltungstheoretischen Anspruch verwoben sei. Diese Sicht hat in der Gegenwart viele Wurzeln. Ein gutes Beispiel dafür ist die historisierende Wendung in der Wissenschaftstheorie, in der selbst die Geltung naturwissenschaftlicher Aussagen an den Rahmen eines wissenschaftlichen Paradigmas zurückgebunden wird, in dem Wahrheitsansprüche eingelöst werden, das aber selbst als historisch geworden und insofern relativ konzipiert wird.15 Das gilt erst recht für sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, die sich etwa an konstruktivistischen, post-strukturalistischen oder systemtheoretischen Theoriekonzeptionen orientieren. Eine Geltungstheorie verfängt sich aus dieser Sicht notwendig im unlösbaren Letztbegründungsproblem, dass jeder Rechtfertigungsversuch dem Trilemma aus dogmatischem Abbruch des Begründungsweges, Tautologie oder infinitem Regress nicht entgehen kann,16 und somit zwingend auf die Unumgehbarkeit historisierender Rekonstruktion verwiesen wird. Die Geltungstheorie erhebt sich nicht über die historische Genese, sie ist selbst ihr Kind. Historisierung ist deshalb theoretische Aufklärung, auch über das Projekt, die blosse Nachzeichnung der historischen Genese geltungstheoretisch zu überwinden. Diese Perspektive findet sich selbst in Ansätzen, die durch historisierende Rückbindung einen affirmativen Universalismus zu begründen suchen, also eine Theorie entwickeln wollen, die gerade dem Universalismus der Menschenrechte den Rücken stärken soll.17 Auf der anderen Seite – und diese ist ebenfalls festzuhalten – gibt es grundlegende Vorbehalte gegen die Historisierung menschlicher Erkenntnis, gerade auch in praktischer Hinsicht. Eine interessante Analyse ist die von Albert Camus, der argumentiert hat, dass das 20. Jahrhundert als »siècle de la peur«18 gerade dadurch bedroht werde, dass menschliche Einsicht, und nicht zuletzt ethische Einsicht, der Geschichte ausgeliefert werde. Dies bereite historisierenden Ideologien den Boden, die meinten, Menschen beliebig formen zu können und von diesem Ausgangspunkt aus in Systemen der Unfreiheit, Unterwerfung

Critical Humanities and Social Science 22 (2013), S. 107 ff. unterstreicht diese Skepsis, mit einigen Qualifikationen in Anbetracht von Kritik. 14 Moyn: The Last Utopia, S. 227. 15 Vgl. die Kritik an Poppers Unterscheidung des Entdeckungs- und Rechtfertigungszusammenhangs, Karl Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1934 in Kuhn: The Structure of Scientific Revolution, S. 8 f; Paul Feyerabend: Against Method, 4th ed., London, New York 2010, S. 149 ff. 16 Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl., Tübingen 1991, S. 15. 17 Hans Joas: Die Sakralität der Person, Berlin 2011. 18 Albert Camus: »Combat, 19 Novembre 1946«, in: Jacqueline Lévi-Valensi, (Hg.): Cahiers Albert Camus 8, Camus à Combat, Paris 2002, S. 608.

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und Verletzung wesentlicher Menschenrechte endeten.19 Historische Relativierung aller Erkenntnisansprüche ist aus dieser Perspektive keine Befreiung, sondern eine Gefahr.

4. Grenzen der historisierenden Relativierung Die Frage nach der Geschichtlichkeit menschlicher Erkenntnis ist eines der großen Themen systematischer menschlicher Selbstreflexion, die in der Gegenwart sogar mit besonderem Nachdruck von ganz unterschiedlichen theoretischen Strömungen gestellt wird. Die Frage, um die es dabei geht, ist keine, die nur das wissenschaftliche Nachdenken beschäftigen würde. Sie ist von grundsätzlicher Bedeutung für das menschliche Selbstverständnis überhaupt. Denn es ist für die Einschätzung der Bedeutung eigener Einsichten von einigem Belang, inwieweit Menschen tatsächlich den Kopf aus den Fluten ihrer Zeit erheben und etwas wie auch immer umrisshaft erkennen können, dass mehr ist als eine theoretische Flüchtigkeit, die eine kurze Weile wie eine Einsicht wirkt und dann mit der Zeit vergeht, die sie geschaffen hat. Wenn man die unterschiedlichen Ansichten, wie diese Frage am besten zu beantworten sei, bedenken will, ist es wichtig zuerst Folgendes festzuhalten: Es gibt keinen Grund, der a priori für oder wider die Historisierung von Erkenntnisansprüchen sprechen würde. Dabei muss vielleicht unter den gegenwärtigen geistigen Voraussetzungen vor allem betont werden, dass es insbesondere keinen Grund gibt, der a priori für eine Historisierung menschlicher Erkenntnis streiten könnte, also dafür, dass eine Historisierung anderen Perspektiven per se und überhaupt überlegen sei. Es kommt für die Beantwortung der Frage nach der Reichweite von Historisierungsversuchen vielmehr darauf an, konkrete Problemanalysen vorzulegen und in diesem Rahmen zu erwägen, in wie weit eine Historisierung von Erkenntnisansprüchen überzeugend ist und wie weit vielleicht auch nicht. Man kann deswegen die geltungstheoretische historische Relativität der normativen Grundlagen der Grund- und Menschenrechte nicht einfach als offensichtlich behaupten, sondern muss sich auf die sachliche Auseinandersetzung mit Grundlagen von Erkenntnisansprüchen einlassen. Die zu beantwortende Frage lautet dann: Was lehrt uns die Legitimationstheorie der Menschenrechte über die Historizität menschlicher praktischer Erkenntnis? In dieser Hinsicht sollte man sich das erkenntniskritische Geschäft nicht zu leicht zu machen. In diesem Zusammenhang gilt es insbesondere darauf zu achten, dass das Faktum der historischen Entwicklung von Grundrechtskataloge und das Faktum aktueller, offensichtlich zeitgebundener Einschläge in die Fassung von Grundrechtskatalogen nicht mit dem Nachweis der Relativität legitimationstheoretischer Gültigkeitsquellen verwechselt werden. Offensichtlich sind konkrete Grundrechtskataloge historisch bedingt und zwar sowohl in der Ethik als auch im Recht. Es gibt keinen anderen Grund dafür, dass im III. Amendment der Bill of Rights der US-amerikanischen Verfassung das Recht aufge19

Albert Camus: L’Homme Révolté, Paris 2009, S. 37.

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führt wird, nicht mit militärischen Einquartierungen belästigt zu werden, als eine spezifische historische Situation, die heute der Vergangenheit angehört. Auch die dynamische Entwicklung des Datenschutzes, etwa vorangetrieben durch die Google-Entscheidung des EuGH,20 ist nur unter den Bedingungen einer spezifischen historischen Situation verständlich, in der der Datenschutz in besonderer Weise notwendig geworden ist. Fragen der Legitimationstheorie liegen eine Stufe tiefer als diese Art von zeitbedingten Prägungen von konkreten Grundrechtskatalogen. Es geht in dieser legitimationstheoretischen Hinsicht darum zu klären, in wie weit universale Prinzipien existieren, die unter spezifischen historischen Bedingungen bestimmte Rechte und vielleicht sogar bestimmte Rechte unter allen denkbaren historischen Bedingungen rechtfertigen. Man kann deshalb Fragen nach der Reichweite und möglichen Historizität praktischer Erkenntnis nicht klären, ohne die Erkenntnisansprüche und ihre Kritik an einer konkreten Legitimationstheorie zu erproben. Eine Legitimationstheorie der Grundrechte wenigstens zu skizzieren wird dadurch unumgänglich.

5. Elemente einer Legitimationstheorie der Grundrechte Die theoretische Auseinandersetzung um die Legitimation von Grund- und Menschenrechten ist anspruchsvoll und vielfältig. Sie kann im Einzelnen hier nicht nachvollzogen werden.21 Stattdessen soll in drei Thesen der mögliche Umriss einer vielversprechenden Legitimationstheorie von Grund- und Menschenrechten skizziert werden. Wichtig sind danach mindestens die folgenden Elemente:

a) Gütertheorie der Ethik und des Rechts Erstens muss eine Legitimationstheorie von Grund- und Menschenrechten eine Gütertheorie der Ethik und des Rechts inkorporieren. Rechte sind Rechte auf etwas und deswegen muss geklärt werden, welche möglichen Objekte, die Gegenstand des Schutzbereichs von Rechten werden, gerechtfertigter Weise als menschliche Güter angesehen werden. Da es sich bei Grund- und Menschenrechten um Rechte handelt, die besonders wichtige Güter schützen sollen, ist zudem eine Theorie notwendig, die menschliche Güter jedenfalls in zentraler Hinsicht gewichten kann. Es ist nicht ersichtlich, dass eine solche Gütertheorie möglich wäre ohne einen Rückgriff auf anthropologische Annahmen oder anders formuliert, auf Annahmen zur Substanz menschlicher Natur. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Ein Kernbestandteil moderner Menschenrechtsregime ist die rechtliche Bewehrung menschlicher Freiheit in differenzierten Ordnungen. Diese Bewehrung macht nur Sinn, Vgl. EuGH, Rs. C-131/12, 13.5.2014 (Google Spain and Google v. AEPD and Mario Costeja González). 21 Vgl. zu einigen Bemerkungen Matthias Mahlmann: »Mind and Rights« (im Erscheinen). 20

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wenn Freiheit zu den unverzichtbaren Grundgütern der menschlichen Existenz gehört, Unfreiheit also keine grössere Wohltat bildet als eine Freiheitsordnung. Das ist keineswegs eine selbstverständliche Annahme. In der Ideengeschichte ebenso wie in der politischen Realgeschichte gibt es eine Vielzahl von Ansätzen, die ganz andere Vorstellungen verfolgten. Das Heil der Menschen lag danach gerade in menschlicher Unfreiheit. Ein wichtiges Beispiel ist für diese Tendenz die Verteidigung von religiösem Zwang zum Wohl der Menschen, eine Rechtfertigungsfigur, die seit Augustinus im christlichen Zusammenhang immer wieder bemüht wurde, mit weitreichenden praktischen Folgen für Betroffene und die Kultur geistiger Freiheit.22 Ein anderes Beispiel ist ein diktatorischer Staatssozialismus, in dem Freiheit wenig erheblich erscheint23 oder ein autoritärer Institutionalismus (und seine Nachfahren), der die »Mängel« der Menschen durch machtvolle Institutionen ausgleichen zu müssen meint.24 Für ein Wesen, das seine Erfüllung in Unterordnung und heteronomer Bestimmung findet, ist der Schutz von Freiheitsrechten ein sinnloses Projekt.

b) Politische Theorie der Verwirklichungsbedingungen von Grund- und Menschenrechten Ein weiteres Element einer solchen Legitimationstheorie bildet zweitens eine politische Theorie, die aussagt, wie eine politische Ordnung verwirklicht wird, die humanen Grundgütern dient. Keine Geltungstheorie der Menschenrechte kann ohne politische Theorie menschlicher Vergesellschaftung und Institutionenbildung entworfen werden. Eine solche Theorie ist notwendig zur Spezifizierung der politischen und institutionellen Verwirklichungsbedingungen grundlegender existentieller Güter von Menschen und der Beantwortung der Frage, ob Grund- und Menschenrechte zu diesen Verwirklichungsbedingungen gehören und wenn ja, in welcher Weise dies der Fall ist. Es ist zu begründen, warum Menschenrechte zu einer politischen Ordnung gerechtfertigt gehören und für welche Menschenrechtskonzeption dies gilt. Auch dies ist keine nur theoretische Frage. Wie kann zum Beispiel, vorausgesetzt man nimmt ein derartiges existenzielles Interesse an Freiheit an, dieses Interesse in einer bestimmten politischen Ordnung geschützt werden? Das ist keineswegs offensichtlich, insbesondere, wenn man sich auf ein bestimmtes Konkretionsniveau der Gesellschaftsgestaltung begibt. Das gilt auch und gerade für Grund- und Menschenrechte, bei denen die genaue Bestimmung ihres Gehaltes eine entscheidende Herausforderung bildet. Die höchst anspruchsvolle und umfangreiche juristische Literatur und Rechtsprechung zu Grund- und Menschenrechtsverbürgungen auf

22 Vgl. Augustinus: De Correctione Donatistarum Liber, Seu Epistula CLXXXV, in: Patrologiae cursus completus, series latina, tomus XXXIII, 792, 804; dazu Matthias Mahlmann: »Ethische Duldsamkeit und Glauben«, in: Matthias Mahlmann/Hubert Rottleuthner (Hg.): Ein neuer Kampf der Religionen?, Berlin 2006, S. 75 ff. 23 Vgl. Vladimir Lenin: Staat und Revolution, Berlin 1918. 24 Vgl. z. B. Arnold Gehlen: Der Mensch, Gesamtausgabe, Bd. 3.1. und 3.2., Frankfurt/M. 1993.

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nationaler, supranationaler und internationaler Ebene illustrieren diesen Befund ebenso wie entsprechende rechtsethische Reflexionen.25 Dabei gerät man häufig schon nach wenigen Schritten in axiologisch unwegsames Gelände. Zwei Beispiele: Ein klassischer Streitpunkt der Grundrechtstheorie, der auch die Gegenwart umtreibt, betrifft etwa die Frage, ob Freiheits- und Persönlichkeitsrechte nicht sozialen Rechten untergeordnet werden sollten, mindestens im Rahmen von grundlegenden nachholenden ökonomischen Entwicklungsprozessen von Gesellschaften. Es ist beispielsweise auch keineswegs einfach genau zu bestimmen, ob Kommunikationsgrundrechte die Freiheit zum rechtsbrechenden Whistleblowing im Gemeininteresse umfassen oder nicht, oder, genauer, unter welchen Umständen dies zulässig ist und unter welchen nicht.26 Denn es spricht viel dafür anzunehmen, dass es auf spezifische Einzelheiten der Konstellation ankommt, um diese Frage zu entscheiden, etwa um welche Gemeinschaftsgüter es geht und welchen Rang sie haben, welcher Art die Gefährdung ist, die für sie besteht oder welche anderen Interessen entgegenstehen, z. B. das Leben von Dritten, das durch Enthüllungen gefährdet werden kann. Solche Problemstellungen werden heute in anspruchsvollen Grundrechtsdogmatiken, oder, weniger traditionell juristisch ausgedrückt, Grundrechtstheorien entfaltet.27 Solche Grundrechtstheorien habe verschiedene Elemente, nicht zuletzt aber auch solche einer politischen Theorie der Bedingungen der Verwirklichung grundlegender humaner Güter.

c) Theorie normativer Prinzipien Drittens bedarf es normativer Prinzipien, die bestimmen helfen, nach welchen Maßstäben Güter in einer Gesellschaft als schützenswert identifiziert und bei Knappheit verteilt werden, zum Beispiel das fundamentale Immaterialgut der Freiheit. Die anthropologisch plausible Auszeichnung eines Gutes sagt selbst ja noch nicht aus, ob Menschen dieses Gut normativ berechtigter Weise erstreben dürfen und in welchem Maße es ihnen im Verhältnis zu anderen zusteht. Bei aller durch beschränkte Erkenntnisse und die kulturelle Wandelbarkeit menschlicher Existenzformen gebotenen Vorsicht bildet es eine einigermaßen plausible Grundthese einer realistischen, historisch informierten und deswegen illusionslosen Anthropologie, dass die menschliche Existenz nicht nur durch Antriebe gekennzeichnet ist, die ohne weiteres gemeinschaftsverträglich wären. Macht und Privilegien können etwa bemerkenswerte Anziehungskraft auf Menschen entfalten und zu den geschichtlich wichtigen und manchmal sogar entscheidenden Bestimmungsgründen sozialen Handelns von Menschen werden. Eine kritische Gütertheorie setzt deshalb norma-

25 Vgl. zum Erkenntnisziel der Rechtsethik der ethischen Rechtfertigung und Kritik von Recht Dietmar v. d. Pfordten: Rechtsethik, 2. Auflage, München 2011, S. 8. 26 Vgl. z. B. David Cole: »The Three Leakers and What to Do About Them«, in: New York Review of Books, February 5, 2014. 27 Vgl. dazu Matthias Mahlmann: Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, Baden-Baden 2008, S. 17 ff.

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tive Prinzipien voraus, die die ethischen Grundsätze liefern, die darüber entscheiden, welche menschlichen Güter berechtigterweise durch Grund- und Menschenrechte geschützt werden und welche nicht. Auch wenn ein Gut wie etwa Freiheit – anders als das Verlangen nach Macht und Privilegien – berechtigterweise durch Rechte geschützt wird, ist damit die Frage nach seiner Verteilung noch nicht beantwortet, die sich bei knappen Gütern zwangsläufig stellt. Auch Freiheit gehört dabei zu diesen knappen Gütern, denn in einer Gesellschaft ist nicht jede Freiheit unbegrenzt gewährleistbar: Die Freiheit, eine Meinung in der eigenen Subjektivität zu entfalten, ist keinen Grenzen unterworfen, weil sie mit der Freiheitsausübung von anderen nicht kollidiert. In Bezug auf die Freiheit, seine Meinung zu äußern ist dies nicht zwangsläufig der Fall – seine Meinung in den frühen Morgenstunden in einem Wohngebiet herauszubrüllen, kann deswegen bestimmten Schranken unterworfen werden, wie wichtig diese Ausdrucksform dem Einzelnen auch sein mag. Dabei geht es in der Grundrechtskonkretisierung regelmäßig um Prinzipien der Verhältnismässigkeit. Eine damit notwendige Gerechtigkeitstheorie wird nicht ohne einen Gleichheitsbegriff auskommen, und zwar mindestens in vier Dimensionen:28 Erstens setzt Gerechtigkeit die Wahrung von Gleichheit bei der Anwendung von Verteilungs- oder Behandlungsstandards voraus. Zweitens bildet Gleichheit ein Defaultprinzip der Verteilung bei fehlenden Kriterien für eine Verteilung knapper Güter, zu denen etwa Freiheiten in einer Gesellschaft regelmässig gehören. Drittens muss Gleichheit im Verhältnis zwischen dem Maß der Gegebenheit eines Verteilungskriteriums und der entsprechenden Behandlung unter der Bedingung der Rationalität des Verteilungskriteriums für das betreffende Gut erhalten werden. Viertens bildet Gleichheit das Prinzip, das den Maßstab für korrektive oder restitutive Gerechtigkeit schafft. Eine Kriterientheorie der Gerechtigkeit bestimmt, welche Kriterien für bestimmte Verteilungsgüter vernünftigerweise in bestimmten Verteilungssphären29 relevant sein können. Das (biologische) Geschlecht bildet beispielsweise seit – in historischer Perspektive – kurzer Zeit kein legitimes Kriterium mehr für die Verteilung von Grund- und Menschenrechten. Gerechtigkeitsprinzipien spielen eine wichtige Rolle in der Legitimationstheorie von Grund- und Menschenrechten. Sie bilden aber nicht die einzigen relevanten normativen Maßstäbe. Wichtig sind etwa auch Grundsätze gebotener mitmenschlicher Solidarität. Grund- und Menschenrechte schützen zentrale Güter von Menschen. Es gehört deswegen zu den plausiblen Solidaritätspflichten, diese Schutzinstrumente durch eigenes Handeln soweit möglich zu schaffen und zu erhalten. Ihre soziale Gewährleistung ist deshalb legitim.30 Auch eine normative Theorie menschlichen Eigenwerts bildet ein wichtiges Element einer Legitimationstheorie der Grund- und Menschenrechte, da letztere voraussetzen, 28 Vgl. dazu im Überblick: Matthias Mahlmann: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 3. Auflage, Baden-Baden 2014, S. 310 ff.; allgemein zu Gleichheit und Gerechtigkeit Stefan Gosepath: Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2004. 29 Vgl. zu diesem Begriff Michael Walzer: Spheres of Justice, New York 1983. 30 Vgl. zu diesen Argumenten Mahlmann: Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, S. 509 ff.

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dass Menschen einen solchen Wert besitzen, um dessen willen die Rechte überhaupt existieren und institutionalisiert werden.31

6. Theorie und Historizität Offensichtlich muss jeder Versuch auf diesem schwierigen Terrain voranzukommen, durch historische Kenntnisse so weit wie möglich gesättigt sein.32 Es muss auch das methodisch selbstkritische Bewusstsein erhalten bleiben, dass jede theoretische Annäherung von einem persönlichen, notwendig beschränkten Standpunkt aus erfolgt. Die Frage kann deswegen nicht sein, ob ein konkreter theoretischer Vorschlag Anspruch auf eine mehr als nur begrenzte, geschichtlich geprägte Einsicht gewonnen hat, da jeder theoretische Entwurf grundsätzlich fallibel und tatsächlich unvollkommen bleibt. Die Frage kann vielmehr nur sein, ob überhaupt sinnvoll und ohne erkenntnistheoretische Peinlichkeit ein Geltungsanspruch erhoben werden kann, der eine jeweils gegebenen historische Perspektive transzendiert und dessen Einlösung sich ein theoretischer Entwurf so weit wie möglich anzunähern versucht. Betrachtet man die drei notwendig zu einer Geltungstheorie der Menschenrechte gehörenden Theoriebereiche, die angedeutet wurden, kann jedenfalls umrissen werden, warum ein solcher Geltungsanspruch entgegen der Ansicht verschiedener theoretischer Ansätze der Gegenwart keine Unmöglichkeit markiert. Um das oben genannte Beispiel aufzugreifen: Die Beantwortung der Frage, inwieweit Freiheit zu den existentiellen Grundbedürfnissen von Menschen gehört, ist, wie schon angedeutet eine, kein leichtes Unterfangen. Ohne historisches Bewusstsein der diversen, z.T. sehr dauerhaften Unfreiheitsordnungen, die nicht nur durch Gewaltverhältnisse aufrechterhalten wurden, sondern auch – machtsoziologisch gesprochen – durch den anhaltenden Glauben an ihre Legitimität wird man hier keine differenzierten Aussagen treffen können, die nach mehr als anthropologischem Wunschdenken schmecken. Immerhin kann man es aber trotzdem wohl plausibel machen, dass Unfreiheit existentielle Bedürfnisse von Menschen verletzt – davon legen die Kämpfe um ihre Überwindung ein sehr eindrückliches Zeugnis ab. Nicht umsonst spielen deshalb in jüngeren Rekonstruktionen der Geschichte der Menschenrechte beispielsweise die abolitionistische Bewegung gegen die Institution der Sklaverei im 18. und 19. Jahrhundert oder die Frauenbewegung prominente, weil paradigmatisch wichtige Rollen.33 Dabei geht es nicht nur darum, Freiheit überhaupt abstrakt als Grundbedürfnis von Menschen sichtbar zu machen, sondern darum, den Freiheitsbegriff in seiner radikalen Kraft anschaulich zu machen, indem mehr oder auch nur minder versteckte Unfreiheiten aufgespürt und benannt werden, die ganze 31 Matthias Mahlmann: »The Good Sense of Dignity«, Proceedings of British Academy, 192 (2013), S. 593 ff. 32 Grundlegend zur gegenwärtigen Debatte um die Geschichte der Grundrechte Christopher McCrudden: »Human Rights Histories«, in: Oxford Journal of Legal Studies (2014), S. 1 ff. 33 Vgl. z. B. Lynn Hunt: Inventing Human Rights, New York 2008, S. 160 ff.; Joas: Die Sakralität der Person, S. 132 ff.

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Menschengruppen vom Genuss von Autonomie ausgeschlossen haben. Die Beziehung der Menschen verschiedener Hautfarbe nach dem Ende der Sklaverei etwa in den USA oder der lange Weg zu einer wirklichen Gleichstellung von Frauen auch und gerade in Hinsicht auf von der Gesellschaft gewährte Freiheitsrechte illustrieren wie wichtig diese kritische Perspektive ist. Anthropologische Ideologie wurde –zuweilen unter der Fahne eines Liberalismus – nicht selten verwandt, um die andauernde Unfreiheit von Menschen dunkler Hautfarbe oder von Frauen zu begründen, etwa durch die Behauptung eines wenn auch im Grundsatz gegebenen, aber sich auf andere Lebenssphären richtenden Wunsch nach freier Selbstverwirklichung, bei Frauen etwa beschränkt auf Ehe und Familie. Eine kritische Anthropologie muss versuchen, diese ideologischen Konstrukte zu überwinden, um nicht als Freiheit, nach der ein menschliches Bedürfnis besteht, auszugeben, was Unfreiheit geblieben ist. Auch eine politische Theorie der sozialen und institutionellen Verwirklichungsbedingungen von Grundgütern wie Freiheit muss historisch informiert sein. Man wird die Rolle von Menschenrechten für die politische Ordnung kaum zutreffend einschätzen können, wenn man nicht eine Vorstellung von der Praxis einer politischen Ordnung hat, die Menschenrechte systematisch verletzt, wie es etwa im Nationalsozialismus oder im Stalinismus geschehen ist, um nur die offensichtlichsten Beispiele zu nennen. Die nicht zuletzt aus solchen historischen Erfahrungen gebildete Theorie ist aber nicht notwendig selbst historisch relativ. Im Gegenteil: Die These, dass eine menschenrechtliche Sicherung von normativen Grundpositionen zentral ist, um Menschen ein einigermaßen zivilisiertes Leben zu ermöglichen, ist eine, die Beispiele wie der Nationalsozialismus und Stalinismus gerade über historische Kontingenz und Relativität hinausheben. Dass Menschenrechte zu den notwendigen Verwirklichungsbedingungen menschlichen Wohlergehens nicht nur aus der Perspektive einer Zeit gehören, haben die genannten Gewaltregime des 20. Jahrhundert mit unerbittlicher Anschaulichkeit deutlich gemacht. Die dritte These besagt, dass die Theorie der Menschenrechte notwendig mit Fragen der Gerechtigkeit, Fürsorge und Menschenwürde verbunden ist. Menschenrechte werden universal konzipiert, es sind die Rechte, die aus dem Menschsein erwachsen und damit die gleichen Rechte aller. Der Anspruch auf die gleichen Rechtssphären, der die Menschenrechtsidee konstituiert, kann ohne Gerechtigkeitstheorie nicht gerechtfertigt werden, die deutlich macht, warum diese Gleichheit der Rechte tatsächlich geboten ist. Auch Elemente menschlicher Fürsorge spielen bei der Rechtfertigung von Menschenrechten eine Rolle. Aufgrund der Bedeutung von Menschenrechten für Individuen ist ihr Schutz eine normativ gerechtfertigte Pflicht. Ohne Theorie des Eigenwertes der Menschen und damit ohne Theorie der Menschenwürde kommt eine Theorie der Menschenrechte ebenfalls nicht aus, weil in ihr erläutert wird, warum Menschen überhaupt durch die Menschenrechte zum obersten Zweck einer Rechtsordnung werden können. Nun sind die Vielzahl der Theorien der Gerechtigkeit, Fürsorge oder des Eigenwerts von Menschen, die in der Ideengeschichte formuliert wurden, offensichtlich in hohem Maße historisch geprägt. Dies ist aber, wie angedeutet, nicht die entscheidende Frage, sondern ob sich nicht gewisse Grundeinsichten durch die Arbeit der Jahrhunderte, wie

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Radbruch formulierte,34 herausgeschält haben, die plausible Geltungsansprüche über eine Zeit hinaus erheben können. Dass dies ausgeschlossen wäre, ist keineswegs offensichtlich. In der Geschichte nicht anders als in der Gegenwart wird ein intensiver Streit über den Gehalt von Gleichheitsbeziehungen geführt. Dieser Streit dreht sich aber nicht um das normative Gleichheitsprinzip als solches, das jedenfalls implizit durchweg vorausgesetzt wird. sondern im Kern um die relevanten Kriterien für Verteilungsfragen und ihre Bedeutung im Einzelfall, etwa was in konkreten Situationen in welchen Hinsichten als gleich gelten soll und welche Behandlung daraus gefolgert werden müsse. Dieser Streit wird faktisch in seiner Gestalt durch die geschichtlichen Bedingungen geformt unter denen er stattfindet. Er ist aber in keiner offensichtlichen Weise legitimationstheoretisch historisch geprägt. Selbstverständlich wird etwa die Diskussion um die Rechte von Frauen durch die jeweiligen historische Umstände bestimmt, unter denen sie geführt wird. Legitimationstheoretisch ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Kriterien für die berechtigte Zuschreibung gleicher Rechte von Frauen, ihre Personalität, humane Subjektivität oder ihr Freiheits- und Autonomieverlangen, die im Zusammenspiel mit den genannten Gerechtigkeitsprinzipien und Solidaritätsgeboten gleiche Rechte fordern, historisch relativ wären. Wieder liefern die Gewaltregime des 20. Jahrhunderts (aber natürlich nicht nur diese) weiteres Anschauungsmaterial. In welchem Sinne, muss man fragen, sind etwa die stalinistischen –»Säuberungen«, wie es so zynisch heisst, nur historisch relativ Verletzungen des aus Gerechtigkeitsgründen gebotenen Schutzes gleicher Rechte von Menschen? Können sie mit anderen Worten wirklich so plausibel gerechtfertigt werden, wie die These, dass es sich bei ihnen um Verletzungen von Rechten handelt, die grundsätzlich und auch in der Zukunft aus guten Gründen verhindert werden müssen? Kann man nicht ähnliche Argumente für die gebotene Fürsorge und den Respekt vor der Würde von Menschen finden? Gibt es dann nicht doch einen normativen Gehalt der Menschenrechte, der über einen Zeitkern hinausweist und der den eigentlichen Stachel bildet, der die Menschenrechtsidee so unbequem und zivilisierend macht? Offensichtlich werfen solche Überlegungen vielfältige Fragen auf, etwa zum Ursprung, zur näheren Gestalt, zur epistemologischen Absicherung und zum ontologischen Status solcher moralischer Prinzipien, deren Beantwortung nicht ohne eine gehaltreiche Theorie des menschlichen Geistes als Teil, wenn auch nicht als Ganzes einer plausiblen Moral- und Rechtsepistemologie und -ontologie gelingen kann.35 Diese Andeutungen sollten

34 Gustav Radbruch: »Fünf Minuten Rechtsphilosophie«, in: ders.: Rechtsphilosophie, hg. v. Ralf Dreier und Stanley Paulson, 2. Aufl., Heidelberg 2003, S. 209 f. 35 Hier stehen verschiedene theoretische Möglichkeiten offen. Zu einer mentalistisch konzipierten Theorie vgl. Mahlmann: »Minds and Rights«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (im Erscheinen); Matthias Mahlmann: »Ethics, Law and the Challenge of Cognitive Science«, in: German Law Journal 8 (2007), S. 593 ff.; ders.: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, S. 363 ff.; John Mikhail: Elements of Moral Cognition, New York 2011; John Mikhail: »Moral Grammar and Human Rights: Some Reflections on Cognitive Science and Enlightenment Rationalism«, in: Ryan Goodman/Derek Jinks/Andrew Woods (Hg.): Understanding Social Action, Promoting Human Rights, Oxford 2012, S. 160 ff. Zur Kritik dieser Perspektive vgl. z. B. Michael Pardo/Dennis Patterson: Minds, Brains, and Laws, New York 2013, S. 63 ff.

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aber auf jeden Fall hinreichen, um klar zu machen, dass die historisierende Relativierung von Grundrechten nicht ohne Alternative ist. Im Gegenteil, es spricht viel dafür, dass eine substanzielle Legitimationstheorie den Historismus der Grund- und Menschenrechte selbst historisch macht. Die genealogisch-relativistische Perspektive, die heute manchen Anhänger hat, erscheint aus dieser Sicht das Produkt einer bestimmten kulturellen Konstellation zu sein, nicht zuletzt geprägt von der Rezeption einer aus vielfältigen Quellen gespeisten, nicht nur post-modernen Vernunftkritik, die aber nicht durch theoretische Notwendigkeit begründet ist. Die Vernunftkritik ist zu selbstsicher geworden. Sie lässt das theoretisch Mögliche an fallibeler, aber belastbarer praktischer Erkenntnis auf eine unbefriedigende Weise unausgeschöpft. Die epistemische Widerstandsfähigkeit bestimmter legitimationstheoretischer Aussagen, etwa zur Begründung von Grund- und Menschenrechten durch eine plausible Anthropologie und politische Theorie sowie normative Prinzipien der Gerechtigkeit, humanen Solidarität und Würde, gegenüber systematischem, unnachgiebigen, theoretisch wie historisch aufgeklärtem Zweifel bildet dabei die erkenntnistheoretische Alternative zu infinitem Regress, willkürlichem Begründungsabbruch, Tautologien oder formaler Prozeduralisierung des Begründungsunterfangens. Diese Widerstandsfähigkeit stößt die Tür zur Möglichkeit der Einsicht weit auf. Es gibt deswegen gute Gründe, das Projekt einer universalistischen Legitimationstheorie von Grund- und Menschenrechten voranzutreiben, wohlwissend dass jeder Versuch unvollkommen, vorläufig und verbesserbar bleiben wird, aber in der Hoffnung, dass er doch vielleicht zu kleinen Fortschritten und – auch das ist wichtig – erneuernder Bestätigung gewonnener Einsichten führt, von denen eine Kultur der Menschenrechte letztendlich lebt.36 Der blutige Wahn religiöser und politischer Ideologien, der in den letzten Jahren mit neuer Wucht auf der Bühne der Welt aufgetreten ist, macht ein solches Bemühen um universale Vernunftgrundlagen von Grund- und Menschenrechten dabei zu einer Aufgabe, für deren Vernachlässigung ein hoher Preis zu zahlen sein wird.

Zur heuristschen Funktion von Menschenrechten im Rahmen einer rekonstruktiven Genealogie Lutz Wingert: »Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften«, in: Ralf Elm (Hg.): Ethik, Politik, Kulturen im Globalisierungsprozess, Bochum 2003, S. 392, 398, 401 ff.. 36

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Literatur Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl., Tübingen 1991. Augustinus: De Correctione Donatistarum Liber, Seu Epistula CLXXXV, in: Patrologiae cursus completus, series latina, S. 792 ff. Camus, Albert: »Combat, 19 Novembre 1946«, in: Jacqueline Lévi-Valensi, (Hg.): Cahiers Albert Camus 8, Camus à Combat, Paris 2002.– L’Homme Révolté, Paris 2009. Cole, David: »The Three Leakers and What to Do About Them«, in: New York Review of Books, February 5, 2014. Derrida, Jacques: Force of Law: »The mystical foundations of Authority«, in: Drucilla Cornell/ Michel Rosenfeld/David Gray Carlson (Hg.): Deconstruction and the possibility of justice, New York 1992. Descartes, René: »Principia philosophiae, in: Charles Adam/Paul Tannery (Hg.): Oeuvres de Descartes, Vol. VI, Paris, 1956. Feyerabend, Paul: Against Method, 4th ed., London, New York 2010. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode, 6. Aufl., Tübingen 1990. Gehlen, Arnold: Der Mensch, Gesamtausgabe, Bd. 3.1. und 3.2., Frankfurt/M. 1993. Gosepath, Stefan: Gleiche Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2004. Heidegger, Martin: Sein und Zeit, 15. Aufl, Tübingen 1984. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Die Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1969. Hunt, Lynn: Inventing Human Rights, New York 2008. Joas, Hans: Die Sakralität der Person, Berlin 2011. Kant, Immanuel: Kritik der Reinen Vernunft (2. Aufl. 1787), Akademie Ausgabe Bd. III, Nachdruck Berlin 1968. – Kritik der Reinen Vernunft, (1. Aufl. 1781), Akademie Ausgabe, Bd. IV, Nachdruck Berlin 1968. – Kritik der praktischen Vernunft, Akademie Ausgabe, Bd. V, Nachdruck Berlin 1968. Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolution, 2. Auflage, Chicago 1970. Lenin, Vladimir: Staat und Revolution, Berlin 1918. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993. Mahlmann, Matthias: Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie, Baden-Baden 2008. – »Ethische Duldsamkeit und Glauben«, in: Matthias Mahlmann,/Hubert Rottleuthner (Hg.): Ein neuer Kampf der Religionen?, Berlin 2006, S. 75 ff. – »Ethics, Law and the Challenge of Cognitive Science«, German Law Journal 8 (2007), S. 577ff. – Rechtsphilosophie und Rechtstheorie 3. Auflage, Baden-Baden 2014. – »The Good Sense of Dignity«, Proceedings of British Academy, 192 (2013), S. 593ff. – »Mind and Rights« (erscheint in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie). McCrudden, Christopher: »Human Rights Histories«, in: Oxford Journal of Legal Studies (2014), S. 1 ff. Mikhail, John: Elements of Moral Cognition, New York 2011. – »Moral Grammar and Human Rights: Some Reflections on Cognitive Science and Enlightenment Rationalism«, in: Ryan Goodman/Derek Jinks/Andrew Woods (Hg.): Understanding Social Action, Promoting Human Rights, Oxford 2012, S. 160 ff.

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Moyn, Samuel: »The Continuing Perplexities of Human Rights«, in: Qui Parle. Critical Humanities and Social Science 22 (2013), S. 96 ff. – The Last Utopia, Cambridge 2011. Nietzsche, Friederich: Jenseits von Gut und Böse, Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1995. Pardo, Michael/ Patterson, Dennis: Minds, Brains, and Laws, New York 2013. Pfordten, Dietmar v. d.: Rechtsethik, 2. Auflage, München 2011. Popper, Karl: Logik der Forschung, Tübingen 1934. Radbruch, Gustav: »Fünf Minuten Rechtsphilosophie«, in: ders., Rechtsphilosophie, hg. v. Ralf Dreier und Stanley Paulson, 2. Aufl., Heidelberg 2003. Walzer, Michael: Spheres of Justice, New York 1983. Wingert, Lutz: »Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften«, in: Ralf Elm (Hg.), Ethik, Politik, Kulturen im Globalisierungsprozess, Bochum 2003, S. 392 ff.

Genesis, Geltung, Genealogie Thomas Gutmann (Münster)

I. Genesis, Geltung und der Teufel Dass »in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung« nicht »der Teufel« stecke, »der auszutreiben sei«, hat Jürgen Habermas gegen Horkheimer und Adorno betont.1 Dabei wäre gegen den Teufel gar nichts einzuwenden. Niklas Luhmann hat ihn immer für seine Fähigkeit gelobt, feine Unterscheidungen zu handhaben2 – eine Tugend, die auch in der Wissenschaft knapp ist. Die deutsche Jurisprudenz hat sich lange an den Äquivokationen und der scheinbaren Unterbestimmtheit des Begriffs der Rechtsgeltung abgearbeitet, der zwischen juridischer, moralischer und faktischer Geltung zu oszillieren scheint, aber letztlich nur drei methodisch unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand ›Recht‹ bezeichnet: (a) eine rechtswissenschaftliche im engeren Sinne, die danach fragt, ob der Akt der positiven Setzung einer Rechtsnorm den hierfür geltenden, ihrerseits rechtlich definierten verfahrens- und materiellrechtlichen Bedingungen entspricht, (b) die rechts- und politikphilosophische Frage danach, ob für ihren normativen Verpflichtungsanspruch gute, d. h. legitime Gründe sprechen, und schließlich (c) die soziologisch beobachtbare Dimension ihrer tatsächlichen Wirksamkeit, also ihrer faktischen Anerkennung, Befolgung, Anwendung und Durchsetzung. Diese drei Perspektiven3 sind nicht aufeinander reduzierbar, weshalb die Frage nach einem Vorrangverhältnis zwischen ihnen sinnlos ist. Der vorliegende Beitrag will das Moment der geschichtlichen Dynamik des Verhältnisses von Genesis und Geltung skizzieren. Je nach der Richtung des analytischen Blicks werden sich auf diese Weise nicht nur untergründige Verbindungen zwischen den Geltungsdimensionen des Rechts, sondern auch unterschiedliche Relationen zwischen Genesis und Geltung zeigen, in denen die beiden Begriffe sich wechselseitig bedingen oder aber vollständig auseinandertreten, und schließlich eine, in der der Geltungsbegriff dem der Genealogie zum Opfer fällt.

Jürgen Habermas: »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno«, in ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 130–157, hier S. 156. 2 Vgl. Niklas Luhmann: »Die Unterscheidung Gottes«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionellen Differenzierung der Gesellschaft, Wiesbaden 32005, S. 226–253, 243. 3 Zum Überblick: Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg i.Br. 32011, S. 137 ff.; Stephan Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010, S. 100 ff. und Matthias Mahlmann: Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, Baden-Baden 32014, § 23. Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, S. 45 ff. 1

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II. Die Ausdifferenzierung des Rechts Geschichtlich geworden ist zunächst schon der eben in Bezug genommene positivistische Geltungsbegriff des »authoritas, non veritas, facit legem« (Hobbes4), auch wenn ihn schon Kreon der Antigone entgegenhalten musste. Die durchgehende Umstellung des Rechts auf Positivität ist ein spezifisch modernes Phänomen, ja die zunehmende Positivierung des Rechts ist ein Basisprozess seiner Modernisierung.5 Die »Positivität der Rechtsgeltung […] bedeutet, daß das Recht kraft Entscheidung gilt; und zwar […] deshalb, weil es jederzeit geändert werden kann«.6 Damit ist eine spezifische Trennung von Genesis und Geltung des Rechts ausgesprochen, weil seine »Geltung überhaupt nicht mehr auf einem Rückblick in die Geschichte beruht, sondern auf gegenwärtigen und künftigen Änderungsmöglichkeiten, die mit jeder Geschichte kompatibel sind.«7 Die Umstellung des Rechts auf Positivität und der Aufstieg des Gesetzes zur einzig legitimen Rechtsquelle8 haben sozialstrukturelle, also historische Gründe: Es ist der mit funktionaler Differenzierung einhergehende Möglichkeitsüberschuss an Handlungsoptionen, vor allem aber der enorme Zuwachs an Entscheidungsproblemen, auf den das Recht mit erhöhter Selektivität, zeitlicher und sachlicher Komplexität sowie Kontingenz antworten muss.9 Die Voraussetzung hierfür ist, dass das Recht mit der Normierung der Normsetzung, also von Sekundärregeln für Kompetenzen und Verfahren, reflexiv geworden ist: Die Dynamik des positiven Rechts besteht darin, dass es seine Genesis, d. h. die Verfahren seiner eigenen Erzeugung und Änderung, selbst regelt. Rechtliche Normen gelten eben, weil sie gemäß – ihrerseits rechtlich definierter – höherstufiger Regeln durch Willensakt erzeugt und gesetzt wurden. Dieser Zusammenhang, idealtypisch reflektiert von Hans Kelsen10 und H.L.A. Hart11, markiert zugleich den Ort der Ko-Evolution des Rechts mit dem politischen System. Damit ist bereits angesprochen, dass eine wesentliche Dimension der Trennung von Genesis und Geltung des Rechts in der Ausdifferenzierung des Rechts zu suchen ist. Diese

Thomas Hobbes: Leviathan [1651], lat. 1670, in: Opera philosophica quae latine scripsi omnia (W. Molesworth, Hg.), London 1839–1845, vol. III, cap. XXVI, S. 202 [sic]. 5 Niklas Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1981, S. 113 ff. Siehe zum Modernebegriff der Rechtswissenschaft Thomas Gutmann: »Rechtswissenschaft«, in: Friedrich Jaeger/Wolfgang Knöbl/Ute Schneider (Hg.): Handbuch der Moderneforschung. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2015, S. 216–230. 6 Niklas Luhmann: »Weltzeit und Systemgeschichte«, in: ders.: Soziologische Aufklärung 2, Wiesbaden 52005, S. 128–166, hier S. 152; ders.: Ausdifferenzierung des Rechts, S. 113 ff. Vgl. Stephan Kirste: »Der Beitrag des Rechts zum kulturellen Gedächtnis«, in: ARSP 94 (2008), S. 47–69, hier S. 59 f. 7 Luhmann: »Weltzeit und Systemgeschichte«, S. 152. 8 Helmut Coing: Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500–1800), München 1985, S. 76 ff.; polemisch hiergegen Paolo Grossi: Das Recht in der europäischen Geschichte, München 2010, S. 238, vgl. ebd., S. 109 ff. und ders.: Mitologie giuridiche della modernità, Milano 2007. 9 So Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, Opladen 31987, S. 190 f. 10 Hans Kelsen: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik [1934], Studienausgabe, hg. und eingel. von M. Jestaedt, Tübingen 2008, Kap. VII. 11 Herbert L.A. Hart: The Concept of Law [1961], Oxford 21994. 4

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hat eine beobachtbare Seite (III) und eine Tiefenstruktur, die sich nur rechtsphilosophisch rekonstruieren lässt (IV).

III. Die Trennung von Recht und Kultur Beobachten lässt sich der Prozess, in dem sich (modernes) Recht von seiner im Medium der Kultur tradierten Umwelt abhebt und der fließende Übergang von den praktischen Geltungsansprüchen12, etablierten Praktiken und implizit geteilten Erwartungshaltungen, die kulturelle Gemeinschaften definieren, zu rechtlich verfassten Formen von Normativität durchbrochen wird.13 Auch dies hat sozialstrukturelle, also historische Gründe: Bei der Integration moderner Gesellschaften müssen Probleme funktionaler Koordinierung bewältigt werden, die mit der Stabilisierung kollektiver Identitäten allein noch nicht thematisiert sind.14 Komplexe Gesellschaften werden nicht primär normativ, sondern durch die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen integriert. Die Reproduktion moderner Gesellschaften ist deshalb nicht schlechthin »an die Bedingung einer gemeinsamen Orientierung an tragenden Idealen und Werten gebunden«15, weil Wertorientierungen viel zu unspezifisch sind, um die Steuerung und Koordinierung ausdifferenzierter sozialer Teilsysteme leisten zu können.16 Rechtssysteme, die sich an dieser Aufgabe versuchen wollen, müssen anders und komplexer strukturiert sein als ihre Hintergrundkulturen. Deshalb hat sich das moderne Recht im Prozess seiner Institutionalisierung und eigenlogischen Ausdifferenzierung von der ›Kultur‹ getrennt.17 Im Recht vollzieht sich der Übergang zu einer reflexiven Thematisierung von Bezugsgegenständen und Überzeugungen, durch die normatives Wissen »seine Form ändert, seinen Geltungsmodus, seine Handlungsnähe und seine spezifische Form der Referenz«.18 Im Recht werden normative Gehalte, die in der lebensweltlichen Kultur als implizite enthalten sind, zu expliziten und zugleich sehr spezifischen Geltungsansprüchen – nämlich rechtlichen – ausdifferenziert, artikuliert, 12 Vgl. Matthias Kettner: »Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen«, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Stuttgart 2004, S. 219–211. Zur Erklärungskraft des Konventionalismus für die Normentstehung und -geltung siehe Ludwig Siep: »Normerzeugende Praxis«, in: Frank Brosow/T. Raja Rosenhagen (Hg.): Moderne Theorien praktischer Normativität. Zur Wirklichkeit und Wirkungsweise des praktischen Sollens, Münster 2013, S. 329-345. 13 Siehe hierzu Thomas Gutmann: Recht als Kultur? Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, hg. v. Horst Dreier und Dietmar Willoweit, Band 50), Baden-Baden 2015. 14 Vgl. Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, S. 92 ff., 229 ff. 15 So aber Axel Honneth: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt/M. 2011, S. 18. 16 Für viele: Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997; ders.: Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. 17 Zu den »Entbettungsprozessen« der Moderne siehe Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford CA 1991, S. 18 ff. 18 Vgl. Joachim Renn: »Wissen und Explikation. Zum kognitiven Geltungsanspruch von Kulturen«, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Stuttgart 2004, S. 232–248, hier S. 236 und 243.

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formalisiert, institutionell verfestigt19 und in Verfahren und Organisationen der Rechtssetzung und -anwendung zu Gegenständen rationaler Rechtfertigung und/oder Entscheidung gemacht. Nur in der Sprache des Rechts können normativ gehaltvolle Botschaften gesellschaftsweit zirkulieren;20 nur das Recht kann die Funktionen der Steuerung und Sozialintegration übernehmen, die kulturelle Ordnungen nicht mehr aus eigener Kraft leisten können.21 Mit der bereits angesprochenen zunehmenden Positivierung des Rechts im Sinne der Institutionalisierung der Beliebigkeit seiner Änderung und vor allem mit der Normierung der Normsetzung, also von Sekundärregeln für Kompetenzen und Verfahren, wird das Recht auf eine Weise reflexiv, die der ›Kultur‹ nicht gegeben ist. Dabei schließt sich das Rechtssystem insoweit normativ, als es sich »gegen die unbeständige Flut und Ebbe« kultureller (moralischer, wertorientierter) Kommunikationen differenzieren und sich von diesen anhand rechtseigener Kriterien unterscheiden muss – schon weil sich die Pluralität und mangelnde Konsensfähigkeit der in der Gesellschaft vorfindlichen kulturellen Wertorientierungen und Moralprogramme nicht mit dem Ziel hinreichender Konsistenz rechtlichen Entscheidens vertragen.22 Es führt nach alledem kein direkter Weg von der Kultur zum Rechtssystem oder von kulturellen Werten zum Gehalt juridischer Normen. Kulturelle Genesis und rechtliche Geltung sind auseinandergetreten. Dies spiegelt sich in der konstitutiven Funktion, die dem Prozess der Enttraditionalisierung23 für das Selbstverständnis der Moderne und ihres Rechts zukommt. Spätestens im 19. Jahrhundert setzt sich die Einsicht durch, dass sich die Gehalte der praktischen (auch der rechtlichen) Vernunft, »weder in der Teleologie der Geschichte, noch in der Konstitution des Menschen auffinden, noch aus dem zufälligen Fundus gelungener Überlieferungen begründen«24 lassen. Die Moderne ist, in den Worten Anthony Giddens’, die Institutionalisierung des Zweifels, d. h. eine Entwicklung, die tendenziell alle tradierten Gehalte unter Reflexionsdruck setzt.25 Alles kann hinterfragt, jeder Geltungsanspruch kann überprüft werden. In dieser Perspektive kann die »Form des modernen Rechts als eine Verkörperung postkonventioneller Bewusstseinsstrukturen begriffen werden.«26 In der »Normativen Moderne«27 haben sich die Erwartungen an die Modi und die Inhalte Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, S. 146–151; Neil MacCormick: Institutions of Law. An Essay in Legal Theory, Oxford 2008 und Massimo La Torre: Law as Institution, Berlin/Heidelberg/New York 2010. 20 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 78. 21 Ebd., S. 56 ff. 22 Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 78 ff. 23 Paul Heelas/Scott Lash/Paul Morris (Hg.): Detraditionalization, Oxford 1996; Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995, S. 54 ff. 24 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 17. 25 Giddens: Konsequenzen der Moderne, S. 54 ff. 26 Jürgen Habermas: »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«, in: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 260–267, 266. 27 Vgl. Thomas Gutmann: »Religion und Normative Moderne«, in: Ulrich Willems/Detlef Pollack/ Thomas Gutmann/Helene Basu/Ulrike Spohn (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, S. 447–488. 19

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normativen Begründens deshalb auf eine Weise verändert, die einem bloßen Rekurs auf lebensweltliche Hintergrundgewissheiten und eingelebte Normalitätsspielräume den Erfolg versagt. Wir haben gelernt, »zwischen sozial geltenden und gültigen, faktisch anerkannten und anerkennungswürdigen Normen zu unterscheiden«.28 Auch eingewöhnte Lebensformen als Ensembles sozialer Praktiken und kultureller Orientierungen lassen sich mit Gründen kritisieren,29 und die kulturellen Umweltbedingungen, auf die der demokratische Rechtsstaat angewiesen ist, sind ohnehin nicht in fraglos hingenommenen Traditionen, sondern allenfalls in einer »rationalisierten Lebenswelt« zu finden.30 Hierin liegt zugleich der wesentliche Grund dafür, warum die Entwicklung des modernen Rechts sich nicht in einer Pfadabhängigkeit von kulturellen Traditionskreisen fassen lässt.31

IV. Die Zäsur der »Normativen Moderne« Mit dem Hinweis, dass sich in der »Normativen Moderne« die Erwartungen an die Modi und die Inhalte normativen Begründens verändert haben, ist nun jene Tiefenstruktur des Geltungsanspruchs modernen Rechts angesprochen, die sich nur rechtsphilosophisch rekonstruieren lässt.32 Auf dieser Ebene geht es um die Frage der materialen Begründungs-

Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 137; vgl. ders.: Faktizität und Geltung, S. 57 f. 29 Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Frankfurt/M. 2014. 30 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 366. 31 Die Zentralthese der »Multiple Modernities«-Schule, dass sich unterschiedliche, je kulturell geprägte, in ihren Formierungsbedingungen teils bis auf die Achsenzeit zurückführende Realisierungspfade für soziale Modernisierung aufzeigen lassen (vgl. Shmuel N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; ders.: »Multiple Modernities«, in: Daedalus 129, 2000, S. 1–29 und Björn Wittrock: »Modernity: One, None, or Many? European Origins and Modernity as a Global Condition«, im selben Heft, S. 31–60) hat für die Rechtstheorie bisher kaum fruchtbare Ergebnisse gezeitigt (vgl. etwa Lyana FrancotTimmermans/Ubaldus de Vries, Eds.: Multiple modernities and law, Utrecht Law Review 7/2, 2011). Dass der »Multiple Modernities«-Ansatz einen einheitlichen Begriff dessen, was Moderne bedeutet, eigentümlich unterbelichtet lässt (vgl. dazu Volker H. Schmidt: »Modernity and Diversity: Reflections on the Controversy Between Modernization Theory and Multiple Modernists«, in: Social Science Information 49 2010, S. 511–538) erscheint mit Blick auf die normative Dimension des Begriffs des modernen Rechts besonders problematisch. Als wenig ergiebig erweist sich auch die These von Hans Joas (Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011), die »affirmative Genealogie« der Menschenrechte sei in einem Prozess der Wertegeneralisierung zu verankern, der sich primär als innerchristliche Lerngeschichte darstelle. Siehe hierzu die Rezension von Thomas Gutmann, in: Soziologische Revue 37 (2014), S. 503–506, Bijan Fateh-Moghadam: »Sakralisierung des Strafrechts? Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Émile Durkheims«, in: Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, S. 129–150 sowie bereits Horst Dreier: Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen 2013, S. 103 ff. 32 Vgl. zum Folgenden Thomas Gutmann: »Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte«, in: ders./Ludwig Siep/Bernhard Jakl/Michael Städtler (Hg.): Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012, S. 295–313 und 28

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strukturen des Rechts, die seit dem Vernunftrecht des 17. Jahrhunderts virulent ist und als eine eigenständige Entwicklungs- und Modernisierungsdimension des Rechts verstanden werden muss.33 Diese Ebene ist insbesondere mit der Frage angesprochen, wie sich der universelle Geltungsanspruch bestimmter rechtlicher Normen - insbesondere der Menschenrechte der ersten Generation oder grundlegender rechtsstaatlicher Prinzipien - zu dem Umstand ihrer geschichtlichen Herkunft verhält, dazu also, dass diese Prinzipien zum einen unter kontingenten historischen Umständen, zum zweiten vor dem Hintergrund einer bestimmten hegemonialen Kultur (der christlichen) und zum dritten lokal - in Europa und seinen Ablegern - entstanden sind. Die Antwort liegt in einem Transformationsprozess, der Genesis und Geltung auf eine spezifische Weise auseinandertreten ließ. Die wesentlichen Bausteine der normativen Moderne wurden, wie schon Hegel betonte34 – in christlich-theologischem Rahmen (wenngleich zum großen Teil vermittels einer »Theologisierung«, also Entsäkularisierung von Konzepten antiker Philosophie und römischen Rechtsdenkens) herausgebildet oder doch in diesem Rahmen transformiert – darunter die Vorstellungen universal geltender Normen, einer fundamentalen Gleichheit aller Menschen, der Person und ihrer Würde, der Zurechnung individueller Verantwortung, des freiwilligen Handelns oder der Gerechtigkeit.35 Und doch sind die spezifisch christlichen bzw. theologischen Gehalte dieser Begriffe aus dem Recht heute vollständig verschwunden. Genauer: Sie wurden entweder restlos transformiert oder entfernt. Das Recht wurde in seinen Fundamenten (re-)säkularisiert. In diesem Prozess der Modernisierung des Rechts haben sich vor allem die Anforderungen an das verändert, was als normative Begründung gelten kann. Dies lässt sich nicht zuletzt an dem eigensinnigen Vorgang der Säkularisierung der Normenbegründung36 im Recht exemplifizieren. Hier zeigt sich exemplarisch ein universaler (wenngleich zunächst okzidentaler) Vorgang: Die Vernunftrechtstheorie stellt den Modus rechtlichen Begründens in einem komplexen (und keineswegs geradlinigen) Prozess, den man spätestens im 17. Jahrhundert beginnen lassen muss, auf das neue Fundament einer Rechtswissenschaft, die Transzendenz nicht länger als Begründungsressource benötigt und ihr auch keinen Platz mehr zuweisen kann. Die zentralen Sinnbezüge der Konzepte werden nun auf den Funktions- und Begründungszusammenhang der Handlungskoordinierung auders.: »Säkularisierung und Normenbegründung«, in: Nils Jansen/Peter Oestmann (Hg.): Gewohnheit, Gebot, Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart – Eine Einführung, Tübingen 2011, S. 221–248. 33 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band I, Frankfurt/M. 1981, S. 355 ff. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], in: ders., Werke VII, Frankfurt/M. 1986, § 185; ders.: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften [1830], in: ders., Werke X, Frankfurt/M. 1986, § 552. Siehe hierzu nunmehr Ludwig Siep: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015. 35 Für viele: Jürgen Habermas: »Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?«, in: ders.: Philosophische Texte, Band V, Frankfurt/M. 2009, S. 387–407, 404. 36 Vgl. die Rekonstruktionen in: Gutmann/Siep/Jakl/Städtler (Hg.): Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, sowie Dreier: Säkularisierung und Sakralität.

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tonomer, sich als Rechtspersonen wechselseitig anerkennender Individuen umgestellt und hierdurch in ihren Fundamenten säkularisiert. Dies markiert einen Unterschied ums Ganze. Was sich verändert, ist die Art der Geltungsansprüche, der Begründungserwartungen und Begründungsressourcen, die sich nicht in der Ersetzung einer theo- durch eine anthropozentrische Blickrichtung erschöpft. Die zentralen Kategorien des Rechts werden gerade durch ihre veränderten Begründungsrelationen von ihrem geschichtlichen Herkunftskontext getrennt. Hieran wird das wesentliche Moment des Säkularisierungsprozesses deutlich: Genesis und Geltung der Rechtsbegriffe fallen auseinander. Die westliche Rechtswissenschaft hat sich von ihren einstmals theologischen »Voraussetzungen«37 auf ihrer Begründungsebene gelöst. Das lässt sich etwa am Begriff der Menschenwürde demonstrieren. Im gegenwärtigen deutschen Diskurs findet sich eine Fülle von Beispielen für die These, dass die Würde der menschlichen Person im Rechtssinn (Art. 1 Abs. 1 GG), also das normative Fundament der deutschen Rechtsordnung, ohne ihre spezifisch christliche Interpretation bodenlos bleibe und mit den Mitteln der profanen Vernunft allein, das heißt unter Verzicht auf ihre theologische Begründung, nicht einsichtig gemacht werden könne.38 Tatsächlich zeichnet sich Menschenwürde als Rechtsbegriff jedoch durch eine Struktur und Funktion39 aus, die sie in religiösen Begründungszusammenhängen weder hatte noch haben konnte. Die christliche Vorstellung von Menschenwürde hat nie hingereicht, jene Unverfügbarkeit des Einzelnen, die die normative Substanz ihres religiösen Gehalts markieren soll,40 auch – was Art. 1 Abs. 1 GG verspricht – hinsichtlich seiner irdischen Rechtsgüter zu garantieren. Christenmenschen darf man foltern, Rechtspersonen nicht. Auch der egalitäre Charakter des Konzepts ist für irdische Angelegenheiten nie funktional geworden. Schließlich war Würde im christlichen Sinn immer eine ausschließlich pflichtengenerierende Konstruktion, die der Freilassung des Einzelnen aus heteronomen Bindungen entgegenstand. Der christliche Würdebegriff hat niemals Würde, wie die deut-

37 Harold J. Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M. 1991, S. 273. 38 Wolfgang Huber: »Menschenwürde/Menschenrechte«, in: Theologische Realenzyklopädie XXII, Berlin 1992, S. 577–602, 593; Josef Isensee: »Die katholische Kritik an den Menschenrechten«, in: ErnstWolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 138–174, 165 (»Die dignitas humana hat keine andere Begründung als den christlichen Glauben«). Vgl. Arnd Uhle: Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2004, S. 146 zu der Behauptung, dass »die These, die Menschenwürde sei in der Neuzeit ›säkularisiert‹ worden, insoweit unzutreffende Assoziationen zu wecken vermag, als sie suggeriert, die Menschenwürde könne zukünftig unabhängig von ihren religiösen Wurzeln aus sich heraus leben«. Zum Ganzen vgl. auch Tatjana Hörnle: »Die Menschenwürde: Gefährdet durch eine ›Dialektik der Säkularisierung‹ oder ›Religion der Moderne‹?«, in: Walter Schweidler (Hg.): Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg/ München 2007, S. 170–188. 39 Vgl. Thomas Gutmann: »Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff«, in: Carl F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft (Beiträge des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, Essen 2008). Deutsches Jahrbuch Philosophie 2, Hamburg 2011, S. 309–330. 40 Tine Stein: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt/M. 2007, S. 335 ff.

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sche Rechtsordnung es heute tut, als »Grundnorm personaler Autonomie«41 zu begreifen vermocht. Die normativen Fundamente des Würdebegriffs des Grundgesetzes sind letztlich mit keiner religiösen Tradition kompatibel. Sie gehören gänzlich in den Bereich postkonventioneller (und damit postreligiöser) Normenbegründung. Dasselbe gilt für den konstruktiven Begriff der Person als Adressat der Zuschreibung von individuellen Rechten, wie wir ihn in rechts- und moraltheoretischen Zusammenhängen verwenden. Jürgen Habermas greift diesen Gedanken in dem Satz auf, dass die Menschenrechte jene normativen Gehalte darstellten, die gleichsam »übrigbleiben, wenn die normative Substanz eines in religiösen und metaphysischen Überlieferungen verankerten Ethos durch den Filter posttraditionaler Begründungen hindurchgetrieben worden ist.«42 Einer Rechtsperson die Gleichheit in der Freiheit zu verweigern, bedarf der Rechtfertigung durch gute Gründe, die nicht mehr einfach solche der Tradition sein können, sondern Bedingungen der Reziprozität und Allgemeinheit erfüllen müssen. Dabei ist die Säkularisierung der Normenbegründung kein isoliertes Phänomen. Sie ist spannungsreicher Teil eines Syndroms der »moralischen Ordnung der Neuzeit«, das sich – wie das etwa Charles Taylor tut – auf der Ebene eines Wandels »sozialer Vorstellungsschemata« (social imaginaries) analysieren lässt, die mit der Vernunftrechtsphilosophie des 17. Jahrhunderts eingesetzt haben.43

V. Genesis und Geltung: diachron und synchron Deutlich wird also zweierlei: Die normative Moderne verändert die Art der Geltungsansprüche, der Begründungserwartungen und Begründungsressourcen und scheidet so hinsichtlich der zentralen Begriffe des Rechts Genesis und Geltung in diachroner Hinsicht voneinander. Zugleich wird die synchrone Tiefenstruktur des Verhältnisses von Genesis und Geltung beibehalten, aber verändert. Diese Tiefenstruktur liegt in dem Umstand, dass Normen (oder Normsetzer) Geltungsansprüche erheben, die nur (oder: nur mehr) mit Gründen eingelöst werden können. Fragen der Genesis und der Geltung sind demnach immer schon miteinander verbunden, weil im Akt des Hervorbringens von rechtlichen Normen mindestens implizit Ansprüche auf normative Richtigkeit44 erhoben werden, die wir unter der Überschrift der »Legitimität« behandeln. Die Rechtfertigung von Normen verweist auf die Einlösung von Geltungsansprüchen in der Praxis des Gebens und Forderns Horst Dreier: »Art. 1 GG«, in: ders. (Hg.): Grundgesetz Kommentar, Band I, Tübingen 22004, Rn. 40; vgl. Martin Morlok: Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993, S. 287. 42 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 129. 43 Charles Taylor: Modern Social Imaginaries, London/Durham 2004; ders.: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009, S. 275 ff., 703 ff. Siehe zur verwandten These, dass »die Grundbegriffe von Moral und Recht gleichzeitig auf ein postkonventionelles Begründungsniveau um[ge]stellt« wurden, Habermas: Faktizität und Geltung, S. 96 f. 44 Vgl. Robert Alexy: Begriff und Geltung des Rechts, S. 64 ff., 124, 132. 41

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von Gründen. Normativität existiert im Modus guter Handlungsgründe.45 Gründe sind keine Tatsachen. Die Dynamik ihrer Entwicklung entzieht sich einer bloß empirischen Beschreibung. Wir können sie nur in der Teilnehmerperspektive nachvollziehen und uns zu ihr verhalten. Dass sich jedoch die Art der Geltungsansprüche, der Begründungserwartungen und Begründungsressourcen historisch verändert hat, hat das innere Verhältnis von Genesis und Geltung transformiert. Dabei ist zweitrangig, ob man die Legitimitätsressourcen moderner Gesellschaften und ihres Rechts primär in politischen Verfahren (also in der »demokratische[n] Genese« des Gesetzes bzw. der »geltungsbegründenden Legitimität des Rechtssetzungsprozesses«46) oder aber in der Institutionalisierung materieller rechtlicher Prinzipien (der Menschenrechte auf Freiheit und Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit) verortet.

VI. Normative Lernprozesse Aus der Beobachterperspektive lassen sich diese Veränderungen als soziale Lernprozesse47 beschreiben. Mit dieser Vorstellung weist die Geltungsdimension nun in der Tat zugleich auf die Faktizität des Rechtsystems zurück. Gesellschaften lernen evolutionär, »indem sie Rationalitätsstrukturen, die in kulturellen Überlieferungen bereits ausgeprägt sind, ›institutionell verkörpern‹, d. h. für die Reorganisation von Handlungssystemen nutzen«.48 Genau dies geschah und geschieht beispielsweise in der Dynamik der Konsti-

Vgl. Peter Stemmer: Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin 2008, S. 87 ff.; Joseph Raz: »Explaining Normativity: On Rationality and the Justification of Reason«, in: ders.: Engaging Reason. On the Theory of Value and Action, Oxford 1999, S. 67–89, 67 und Thomas M. Scanlon: Being Realistic about Reasons, Oxford 2014. 46 Habermas: Faktizität und Geltung, S. 232 und 52. 47 Solche sind auch in der materiellen Regelungsdimension des Rechts anzutreffen. Einer ihrer Auslöser war (und ist) die ›soziale Frage‹, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Entwicklung hin zum Wohlfahrtsstaat und zu einer Re-Materialisierung auch des Privatrechts geführt hat. Marietta Auer (Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, Tübingen 2014) schlägt mit der These einer »ambivalenten Modernität« vor, eine erste Moderne des Rechts, die seit dem 16. Jahrhundert durch rechtliche Diskurse geprägt war, die auf die Rationalisierung und Säkularisierung der Institutionen sowie auf einen methodischen und normativen Individualismus zielten, im Sinne von Ulrich Beck von einer im 19. Jahrhundert einsetzenden ›zweiten‹ oder ›reflexiven‹ Moderne des Privatrechts zu unterscheiden, die mit den Steuerungsund Legitimationsproblemen der nationalstaatlich verfassten Industriegesellschaft die funktionellen Grenzen des egalitären Individualismus und die Nebenfolgen der ›ersten‹ Moderne des Rechts abarbeite. 48 Habermas: »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«, S. 260. Zu einer alternativen, hier nicht zu würdigenden ›kritischen‹ Theorie der Rechtsentwicklung, die kollektive normative Lernprozesse in einer Dialektik aus gradueller sozialer Evolution und revolutionär-emanzipativen, konstitutionellen Veränderungen der normativen Ordnung analysiert, siehe Hauke Brunkhorst: Critical Theory of Legal Revolutions. Evolutionary Perspectives, London 2014 und die Diskussion des Buchs in Social & Legal Studies 23/4 (2014). Eine kritische Theorie sozialer und normativer Modernisierung, die deren Dynamik – auf der Grundlage eines radikalisieren Kritischen Rationalismus – in der erfolgreichen Zurückweisung von Geltungsansprüchen lokalisiert, bietet Masoud Mohammadi Alamuti: Critical Rationalism and Globalization: Towards the Sociology of the Open Global Society, London, New York 2015. 45

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tutionalisierungs- und Institutionalisierungsprozesse von Grund- und Menschenrechten im Recht (das, anders als die Moral, Lerneffekte in Institutionen speichern kann). Dieser Lernprozess ist geographisch nicht beschränkbar. Die Normative Moderne hat ihre (partielle) Herkunft aus der christlichen Tradition durch ihre Säkularisierungsleistungen längst abgestreift. Weil deshalb Fragen der normativen Geltung nicht durch Verweise auf die historische Genese der vorgebrachten Gründe und verwendeten Konzepte entschieden werden können, steht dem universellen Geltungsanspruch der Normativen Moderne ihre Herkunft aus der Kultur des Okzidents nicht entgegen. Die Begründungen und Geltungsansprüche, die mit dem Konzept der menschenrechtlichen Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit verbunden sind, sind nicht westlich, sondern eben: modern.49

VII. Genealogien Nun lässt sich die Entstehung von Normen und normativen Ordnungen auch so beschreiben, dass diese die Möglichkeit, sich durch gute Gründe auszuweisen, verlieren. Man kann dies auf unterschiedliche Weise tun. Im Vordergrund stehen drei Paradigmata, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie die Rechtfertigbarkeit von Normen in Frage stellen, indem sie diese auf den Kontext ihrer Genese zurückführen. Das erste Paradigma besteht im Gestus einer ideologiekritischen Entlarvung, der zufolge normative Geltungsansprüche nicht mehr als ein notwendig falscher (d. h. ideologischer) Ausdruck ihrer Zeit sind und ihre Einlösbarkeit einbüßen, wenn sie unter veränderten sozialen Verhältnissen praktisch kritisierbar werden. Hierfür steht das Programm des jungen Marx, der in seinem Text über die »Judenfrage«50 die Figur des subjektiven (Menschen-) Rechts als Spiegelung der gewaltsamen Aneignungsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft sowie als Ausdruck falscher Abstraktion und der Entfremdung des Einzelnen von seinem Gattungswesen analysiert. Das zweite Paradigma ist durch die These gekennzeichnet, dass normative Ordnungen immer auf vorgängigen Gewaltakten beruhten, die die Frage ihrer Begründbarkeit naiv erscheinen ließen. Die moderne Linie dieses Denkens reicht von Walter Benjamins

Lawrence M. Friedman: »One World: Notes on the Emerging Legal Order«, in: Michael Likosky (Ed.): Transnational Legal Processes, London 2002, S. 23–40, 37. 50 Karl Marx: »Zur Judenfrage« [1843], in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 347–377. Siehe hierzu Micha Brumlik: »Genesis und Geltung der Menschenrechte – eine Debatte nach Marx«, in: Thomas Gutmann/Sebastian Laukötter/Arnd Pollmann/Ludwig Siep (Hg.): Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen 2016, im Druck. Mit Georg Lukács beginnt nach dem 1. Weltkrieg eine Linie, welche nicht nur die Funktion des Rechts der bürgerlichen Gesellschaft im Dienste des Kapitalismus, sondern die spezifische Form dieses Rechts - sein Abstellen auf die abstrahierten Konzepte der Rechtssubjektivität und des subjektiven Rechts - als Spiegelung der Warenform, d. h. der verdinglichten Realabstraktion begreift, den der marktförmige Tauschakt verlangt: »Erst in der Warenwirtschaft wird die abstrakte Rechtsform geboren, d. h. die allgemeine Fähigkeit, ein Recht zu besitzen« (Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Wien/Berlin 1929, S. 117). 49

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verzweifelter Denunziation des Rechts als Ort »mythischer Gewalt«51 über Jacques Derridas dekonstruierende Rückführung des Rechts auf die violence performative et interprétative am »mystischen Grund der Autorität«52 bis zu Giorgio Agambens Behauptung, dass sich hinter der politischen Souveränität und ihrer rechtlichen Fassade nur nackte Gewalt verberge 53, sowie von Carl Schmitts Verortung der »Trägersubstanz rechtlicher Normativität«54 im primordial ›Politischen‹, d. h. in dem über den Ausnahmezustand entscheidenden, mit den Mitten des Rechts nicht einhegbaren ›Souverän‹,55 bis zu den Endmoränen des Schmittianismus, etwa in der ›agonalen‹ Demokratietheorie Chantal Mouffes.56 Das dritte Paradigma schließlich bildet jener Begriff von »Genealogie«, für den der Foucault der 1970er Jahre steht, der in der Tradition Nietzsches zeigen will, dass »es hinter allen Dingen« und hinter allen Normen »›etwas ganz anderes‹ gibt«57 – nämlich die Relationen agonaler Willen zur Macht. Für Foucault ist jeder Geltungsanspruch und »jede Wahrheit[sbehauptung] zirkulär an Machtsysteme gebunden, die sie produzieren und stützen, und an Machtwirkungen, die von ihr ausgehen und sie reproduzieren«.58 In dieser Perspektive können Geltungsansprüche nichts anderes mehr als Machtansprüche sein. Beschreiben lässt sich allenfalls ihre Genesis als ihre »niedere« Herkunft59, die sich in der Äußerlichkeit des Zufälligen und »immer innerhalb eines bestimmten Kräfteverhältnisses«, immer im Rahmen von »Unterwerfungssystemen« vollzog und weiter vollzieht.60 Kurz: Normengenese und normative Interpretation sind nie etwas anderes als ein »Hasardspiel der Überwältigungen«61. Dass Theorien dieses Typs von vorneherein außerstande sind, ihre eigenen, zumindest implizit erhobenen normativen Geltungsansprüche einzulösen, war Gegenstand einer Diskussion, die schon in den 1980er Jahren – etwa von Nancy Fraser, Jürgen Habermas,

51 Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt« [1920–1921], in: ders.: Gesammelte Schriften, Band II.1, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1999, S. 179–204. 52 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M. 1991. 53 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002; ders.: Ausnahmezustand, Frankfurt/M. 2004. 54 Matthias Jestaedt: »Carl Schmitt«, in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Wolff (Hg.): Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 313–336, 321. 55 Carl Schmitt: Verfassungslehre, München, Leipzig 1928; ders.: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München, Leipzig 21934. Siehe hierzu (d. h. zu Benjamin, Derrida und Schmitt) Matthias Mahlmann: »Law and Force: 20th Century Radical Legal Philosophy, Post-Modernism and the Foundations of Law«, in: Res Publica 9 (2003), S. 19–37, 21 ff. 56 Chantal Mouffe: The Return of the Political, London/New York 1993; dies.: The Democratic Paradox, London, New York 2000. 57 Michel Foucault: »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et écrits 1954–1988 par Michel Foucault, tomes I–IV, Paris 1994, tome II, S. 137–156, 138 (Übersetzung nach Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 71). 58 »Entretien avec Michel Foucault« [mit A. Fontana und P. Pasquino, 1977], in: Daniel Defert/François Ewald (Ed.), Dits et écrits 1954–1988 par Michel Foucault, tomes I–IV, Paris 1994, tome III, S. 140– 160 (160; Übersetzung nach Foucault: Dispositive der Macht, S. 54). 59 Foucault: »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, S. 140 f. (dt. S. 73). 60 Ebd., S. 141 (dt. S. 74). 61 Ebd., S. 143 (dt. S. 76).

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Charles Taylor und Michael Walzer62 – am Beispiel Foucaults intensiv geführt wurde. In der Tat kann eine genealogische Analytik der Macht vom Typ Foucault per se nicht wertend zwischen akzeptablen und nicht akzeptablen Formen der Machtausübung63, nicht zwischen Gewalt in Form der Anwendung von rechtsstaatlich kontrolliertem Zwang zur Sicherung rechtsförmiger Zustände und anderen Formen der Gewalt, nicht zwischen potestas und violentia unterscheiden. Wenn alles gleichermaßen Macht ist und alle Geltungsansprüche nur Machtfunktionen darstellen, gibt es keine normativ privilegierte Seite, und eine Parteinahme im universellen Spiel der Macht ist nur noch als dezisionistischer Akt denkbar. Daran wird letztlich auch eine Perspektive auf Emanzipation zuschanden. Dies ist die Foucault’sche Falle, von der aus sich die Relation von Genesis und Geltung nicht einmal mehr thematisieren lässt, weil der genealogische Zugriff schon die bloße Möglichkeit normativen Begründens zurückweist und vom Begriff der Normgeltung nur noch die Beobachtung der faktischen Durchsetzung von Normalisierungsdispositiven und Formen sozialer Kontrolle übrig lässt.

Literatur Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand, Frankfurt/M. 2004. – Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Alamuti, Masoud Mohammadi: Critical Rationalism and Globalization: Towards the Sociology of the Open Global Society, London, New York 2015. Alexy, Robert: Begriff und Geltung des Rechts, 3. Auflage, Freiburg i. Br. 2011. Auer, Marietta: Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, Tübingen 2014. Benjamin, Walter: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band II.1, Frankfurt/M. 1999, S. 179–204. Berman, Harold J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt/M. 1991. Brumlik, Micha: »Genesis und Geltung der Menschenrechte – eine Debatte nach Marx«, in: Thomas Gutmann/Sebastian Laukötter/Arnd Pollmann/Ludwig Siep (Hg.): Genesis und Geltung. Historische Erfahrung und Normenbegründung in Moral und Recht, Tübingen 2016, in Druck. Brunkhorst, Hauke: Critical Theory of Legal Revolutions. Evolutionary Perspectives, London 2014. Coing, Helmut: Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500–1800), München 1985. Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt/M. 1991. Vgl. Nancy Fraser: »Foucault on Modern Power: Empirical Insights and Normative Confusions«, in: Praxis International 1 (1981), S. 272–287; Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 327 ff.; Charles Taylor: »Foucault über Freiheit und Wahrheit« [1984], in: ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, S. 188–234 und Michael Walzer: »The Politics of Michel Foucault«, in: David C. Hoym (Hg.): Foucault: A Critical Reader, Oxford 1986, S. 51–68. 63 Vgl. Fraser: »Foucault on Modern Power«, S. 285 f. 62

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Dreier, Horst: »Art. 1 GG«, in: ders.: Grundgesetz Kommentar, Band I, 2. Auflage, Tübingen 2004. – Säkularisierung und Sakralität. Zum Selbstverständnis des modernen Verfassungsstaates, Tübingen 2013. Eisenstadt, Shmuel N.: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. – »Multiple Modernities«, in: Daedalus 129 (2000), S. 1–29. Fateh-Moghadam, Bijan: »Sakralisierung des Strafrechts? Zur Renaissance der Rechts- und Moralsoziologie Émile Durkheims«, in: Hermann-Josef Große Kracht (Hg.): Der moderne Glaube an die Menschenwürde. Philosophie, Soziologie und Theologie im Gespräch mit Hans Joas, Bielefeld 2014, S. 129–150. Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. – »Nietzsche, la généalogie, l’histoire«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.): Dits et écrits 1954–1988 par Michel Foucault, tomes I–IV, Paris 1994, tome II, S. 137–156. Francot-Timmermans, Lyana/de Vries, Ubaldus: Multiple modernities and law (Utrecht Law Review 7/2), 2011. Fraser, Nancy: »Foucault on Modern Power: Empirical Insights and Normative Confusions«, in: Praxis International 1 (1981), S. 272–287. Friedman, Lawrence M.: »One World: Notes on the Emerging Legal Order«, in: Michael Likosky (Ed.): Transnational Legal Processes, London 2002, S. 23–40. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995. – Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford CA 1991. Grossi, Paolo: Das Recht in der europäischen Geschichte, München 2010. – Mitologie guiridiche della modernità, Milano 2007. Gutmann, Thomas: »Normenbegründung als Lernprozess? Zur Tradition der Grund- und Menschenrechte«, in: ders./Ludwig Siep/Bernhard Jakl/Michael Städtler (Hg.): Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen. Zum Verhältnis von Religion und Politik in der Philosophie der Neuzeit und in rechtssystematischen Fragen der Gegenwart, Tübingen 2012, S. 295–313. – »Rechtswissenschaft«, in: Friedrich Jaeger/Wolfgang Knöbl/Ute Schneider (Hg.): Handbuch der Moderneforschung. Interdisziplinäre und internationale Perspektiven, Stuttgart, Weimar 2015, S. 216–230. – Recht als Kultur? Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, hg. v. Horst Dreier und Dietmar Willoweit, Band 50), Baden-Baden 2015. – »Religion und Normative Moderne«, in: Ulrich Willems/Detlef Pollack/Thomas Gutmann/ Helene Basu/Ulrike Spohn (Hg.): Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, S. 447–488. – »Rezension zu Hans Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte«, in: Soziologische Revue 37 (2014), S. 503–506. – »Säkularisierung und Normenbegründung«, in: Nils Jansen/Peter Oestmann (Hg.): Gewohnheit, Gebot, Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart – Eine Einführung, Tübingen 2011, S. 221–248. – »Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff«, in: Carl F. Gethmann (Hg.):

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Lebenswelt und Wissenschaft (Beiträge des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, Essen 2008). Deutsches Jahrbuch Philosophie 2, Hamburg 2011, S. 309–330. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985. – »Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne?«, in: ders.: Philosophische Texte, Band V, Frankfurt/M. 2009, S. 387–407. – »Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno«, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 130–157. – Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992. – Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983. – Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1981. – »Überlegungen zum evolutionären Stellenwert des modernen Rechts«, in: ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S. 260–267. Hart, Herbert L.A.: The Concept of Law, 2. Auflage, Oxford 1994. Heelas, Paul/Lash, Scott/Morris, Paul (Hg.): Detraditionalization, Oxford 1996. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: ders.: Werke X, Frankfurt/M. 1986. – Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.: Werke VII, Frankfurt/M. 1986. Hobbes, Thomas: Leviathan (1651, lat. 1670), in: Opera philosophica quae latine scripsi omnia (William Molesworth, Hg.), London 1839–1845, vol. III. Hörnle, Tatjana: »Die Menschenwürde: Gefährdet durch eine ›Dialektik der Säkularisierung‹ oder ›Religion der Moderne‹?«, in: Walter Schweidler (Hg.): Postsäkulare Gesellschaft. Perspektiven interdisziplinärer Forschung, Freiburg, München 2007, S. 170–188. Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt/M. 2011. Huber, Wolfgang: »Menschenwürde/Menschenrechte«, in: Theologische Realenzyklopädie XXII, Berlin 1992, S. 577–602. Isensee, Josef: »Die katholische Kritik an den Menschenrechten«, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde/Robert Spaemann (Hg.): Menschenrechte und Menschenwürde, Stuttgart 1987, S. 138– 174. Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Frankfurt/M. 2014. Jestaedt, Matthias: »Carl Schmitt«, in: Peter Häberle/Michael Kilian/Heinrich Wolff (Hg.): Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 313–336. Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt/M. 2011. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934), Studienausgabe, hg. und eingel. von Matthias Jestaedt, Tübingen 2008. Kettner, Matthias: »Werte und Normen – Praktische Geltungsansprüche von Kulturen«, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Stuttgart 2004, S. 219–231. Kirste, Stephan: »Der Beitrag des Rechts zum kulturellen Gedächtnis«, in: ARSP 94 (2008), S. 47–69.

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– Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt 2010. La Torre, Massimo: Law as an Institution, Berlin, Heidelberg, New York 2010. Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt/M. 1981. – Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993. – Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1997. – »Die Unterscheidung Gottes« in: ders.: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionellen Differenzierung der Gesellschaft, 3. Auflage, Wiesbaden 2005, S. 226–253. – Ökologische Kommunikation, Opladen 1986. – Rechtssoziologie, Opladen 1987. – »Weltzeit und Systemgeschichte«, in ders.: Soziologische Aufklärung 2, 5. Auflage, Wiesbaden 2005, S. 128–166. MacCormick, Neil: Institutions of Law. An Essay in Legal Theory, Oxford 2008. Mahlmann, Matthias: »Law and Force: 20th Century Radical Legal Philosophy, Post-Modernism and the Foundations of Law«, in: Res Publica 9 (2003), S. 19–37. – Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 3. Auflage, Baden-Baden 2014. Marx, Karl: »Zur Judenfrage«, in: ders./Friedrich Engels: Werke, Band 1, Berlin 1976, S. 347– 377. Morlok, Martin: Selbstverständnis als Rechtskriterium, Tübingen 1993. Mouffe, Chantal: The Democratic Paradox, London, New York 2000. – The Return of the Political, London, New York 1993. Paschukanis, Eugen: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Wien, Berlin 1929. Peters, Bernhard: Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993. Raz, Joseph: »Explaining Normativity: On Rationality and the Justification of Reason«, in: ders.: Engaging Reason. On the Theory of Value and Action, Oxford 1999, S. 69–89. Renn, Joachim: »Wissen und Explikation. Zum kognitiven Geltungsanspruch von Kulturen«, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch/Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 1, Stuttgart 2004, S. 232–248. Scanlon, Thomas M.: Being Realistic about Reasons, Oxford 2014. Schmidt, Volker H.: »Modernity and Diversity: Reflections on the Controversy Between Modernization Theory and Multiple Modernists«, in: Social Science Information 49 (2010), S. 511–538. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München, Leipzig 1934. – Verfassungslehre, München, Leipzig 1928. Siep, Ludwig: Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015. – »Normerzeugende Praxis«, in: Frank Brosow/T. Raja Rosenhagen (Hg.): Moderne Theorien praktischer Normativität. Zur Wirklichkeit und Wirkungsweise des praktischen Sollens, Münster 2013, S. 329–345. Stein, Tine: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt/M. 2007.

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Stemmer, Peter: Normativität. Eine ontologische Untersuchung, Berlin 2008. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2009. – »Foucault über Freiheit und Wahrheit«, in: ders.: Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1992, S. 188–234. – Modern Social Imaginaries, London, Durham 2004. Uhle, Arnd: Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, Tübingen 2004. Walzer, Michael: »The Politics of Michel Foucault«, in: David C. Hoym (Hg.): Foucault: A Critical Reader, Oxford 1986, S. 51–68. Wittrock, Björn: »Modernity: One, None, or Many? European Origins and Modernity as a Global Condition«, in: Daedalus 129 (2000), S. 31–60.

KOLLO QUIUM 18 Was ist eine kulturelle Tatsache? Kolloquiumsleitung: Ralf Konersmann

Ralf Konersmann Einführung: Rhetorik des Tatsächlichen Ralf Becker Kulturelle und natürliche Tatsachen Dirk Rustemeyer Wirklichkeit entwickeln Dirk Westerkamp Kulturelle Faktizität

Einführung: Rhetorik des Tatsächlichen Ralf Konersmann (Kiel)

Pragmatisch gesehen, ist der Begriff der kulturellen Tatsache eine Analogiebildung. Historiker pflegen ihre Gegenstände als historische Tatsachen, Sozialwissenschaftler ihre Gegenstände als soziale Tatsachen anzusprechen. Maurice Merleau-Ponty kennt ›visuelle Tatsachen‹, Siegfried Kracauer den Begriff des fait cinématographique. Angesichts der prominenten Beispiele wirkt die Frage, ob nicht das Feld der Kultur nach einer ähnlich klaren Gegenstandsbestimmung verlangt, beinahe schon rhetorisch. Womit, wenn nicht mit so etwas wie ›kulturellen Tatsachen‹ sollten es die philosophischen Beobachter der Kultur denn zu tun haben? So wäre es also die folgerichtige Aufgabe der Kulturphilosophie, den Begriff der kulturellen Tatsache, der sich bei Nietzsche und Dilthey, bei Cassirer und Max Weber unter diesem Namen bereits findet,1 systematisch zu bestimmen und auszubuchstabieren. Thema und Auftrag dieses Symposions wären damit umrissen. Bei der Umsetzung treten allerdings sogleich Probleme auf, von denen ich im Rahmen dieser Einführung die aus meiner Sicht entscheidenden benennen will. Auf charakteristische Weise ungewiss ist schon, was der Begriff der Tatsache philosophisch besagen soll. Von Tatsachen ist in der Philosophie immer nur am Rande die Rede gewesen, der in den empirischen Wissenschaften einschlägige Begriff führt philosophisch ein Schattendasein. So kreist der sprachanalytische Tatsachenbegriff um die Frage, wie die Sprache wahre Sachverhalte repräsentiert und inwieweit Wahrheit, um Wahrheit überhaupt sein zu können, der sprachlichen Explikation bedarf. Dieser Begriff von Faktizität ist, wie Dirk Westerkamp im Anschluss an Peter Strawson gezeigt hat,2 semantisch doppelt besetzt. Faktizität wird zugestanden, sofern es die angesprochenen Dinge ›gibt‹, und ebenso, sofern sie – methodisch gesichert – ›wahr‹ sind. Ganz anders – und latent polemisch – ist der Faktizitätsbegriff der Hermeneutik. Die Hermeneutik versucht, kurz gesagt, die Bedingungen freizulegen, die es dem Betrachter überhaupt erst erlauben, Welt und Wirklichkeit im Schema der Faktizität zu denken. Die Bestimmung des SinnlichSichtbaren als Versammlung positiver Tatsachen tritt als kulturspezifische Intervention hervor. Sie mündet in die Forderung, einen über seine Voraussetzungen aufgeklärten Begriff des Faktischen zu gewinnen – eben, um mit Heidegger und Gadamer zu sprechen, eine genuine ›Hermeneutik der Faktizität‹.

1 Vgl. Ralf Konersmann: »Thesen zum fait culturel«, in ders.: Kulturelle Tatsachen. Frankfurt/M. 2006, S. 13–69; Nikolai Mähl: Tatsache, kulturelle, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart 2012, Sp. 375–383 2 Vgl. Dirk Westerkamp: Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache, Hamburg 2014, insbes. S. 213 ff.

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Wenn ich recht sehe, schwingt in diesen Thematisierungstraditionen ein Phänomen mit, das man die ›Rhetorik des Tatsächlichen‹ nennen könnte. Die Geschichte des Tatsachenbegriffs, der im Laufe des 18. Jahrhunderts aus der Sprache der Religion in die Prosa der Wissenschaft gewechselt ist, richtet auf diese rhetorische Unterströmung ein scharfes Licht. Das Wahrheitsversprechen dessen, was das Tatsächliche ist, beruft sich sowohl in der Religion als auch in der Wissenschaft auf die Zusicherung, vom Tun der Menschen unabhängig zu sein und rein von sich aus zu gelten: sei es als vestigium Dei, sei es als Naturerscheinung. Voraussetzung dieser Zusage ist eine unbedingte und sich mit dieser Unbedingtheitsbehauptung vor sich selbst verbergende Reduktion. Das Faktische soll gerade nicht kontingent sein, oder genauer: es ist so präpariert, dass man ihm ungeachtet seiner Kontingenz die Ermöglichung universalisierbarer Aussagen zutrauen zu dürfen glaubt. Eben dieses Versprechen ist es, das die Unterstellung der Faktizität zu einem Akt undurchschauter Rhetorik macht. Das Kriterium der Faktizität fingiert die Maßgeblichkeit kontextbefreiter Gegenstände, die dem Methodenideal der empirischen Forschung von sich aus entgegenkommen. So tritt uns heute, um wenigstens dieses Beispiel zu geben, das Klima mit entwaffnender Selbstverständlichkeit als Datenmeer entgegen: als statistisch aufbereitete Wetterbeobachtung. Diesem ›Klima‹ ist kaum mehr anzusehen, was ideengeschichtlich versierte Ökologen inzwischen mühsam wieder aufzubauen versuchen: das Wissen um das Eingebundensein des Menschen in die ›Mitwelt‹, das noch Alexander von Humboldt in seiner Begriffsverwendung fraglos vorausgesetzt hat.3 Die Verbindung der Begriffe ›Kultur‹ und ›Tatsache‹ ist, vor dem skizzierten Hintergrund betrachtet, äußerst spannungsgeladen, um nicht zu sagen: sie ist oxymoral. Allein dadurch, dass wir die Begriffe zusammenziehen und von ›kulturellen Tatsachen‹ sprechen, verstoßen wir gegen die Verabredung zur Reduktion. Wenn wir Gegenstände als

Vgl. Ralf Konersmann: »Unbehagen in der Natur. Veränderungen des Klimas und der Klimasemantik«, in: Petra Lutz u. Thomas Macho (Hg.): 2º. Das Wetter, der Mensch und sein Klima. Eine Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden 2008, Göttingen 2008, S. 32–37. – Eine Genealogie des Faktischen müsste hinter die angedeuteten Routinen szientistischer Selbstbeglaubigung zurückgehen. Kronzeuge einer solchen Vergewisserungsgeschichte könnte Lessing sein, der zwischen der »Wahrscheinlichkeit« der Kunst und der »Wahrheit« historischer Tatsachen unterscheidet, um dann selbst diese auf die Bestätigung durch die »innere Wahrscheinlichkeit« zu verpflichten (vgl. Gotthold Ephraim Lessing: »Über das Wörtlein Tatsache«, in: Arno Schilson u. Axel Schmitt (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Werke Bd. 10, Frankfurt/M. 2001, S. 320–321; s. a. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Kommentar von Anselm Haverkamp, Berlin 2014, S. 137 f.). Den Vorstoß Lessings verdeutlicht ein vergleichender Blick auf Rousseau. Die berühmte Erklärung im Exordium zum zweiten Discours, alle Tatsachen beiseite lassen zu wollen (écarter tous les faits), weil sie die entscheidende Frage nicht berührten, bezog sich auf biblische Aussagen, genauer: auf religiöse Strategien der Autorisierung. In diesem Sinn wurde der Satz zunächst auch aufgenommen und verstanden. In seiner frühen, unter dem Pseudonym Philopolis veröffentlichten Reaktion auf den zweiten Discours setzte sich Charles Bonnet 1755 noch einmal für das klassische Begriffsverständnis ein. Bonnet, ein erklärter Naturforscher und Mann der Wissenschaft, kleidete seine Replik in eine rhetorische Frage: »Les faits sont-ils autre chose que l‹expression de cette volonté adorable?« (Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l‹inégalité, hg. v. Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn 1993, S. 70 u. 454; s. a. S. 465). Genau an dieser Stelle interveniert Lessing: In der Verwendung des Tatsachenbegriffs zeige sich, dass die Säkularisierung physikotheologischer Spekulationen misslungen sei. 3

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kulturelle Tatsachen ansprechen, wollen wir nicht nur wissen, welches rein für sich betrachtet ihre Eigenschaften sind, woraus sie bestehen oder wie sie unter künstlich vereinfachten Bedingungen miteinander reagieren, sondern auch, welches die Lebensformen sind, in denen ihnen Relevanz zukommt – wie also ein bestimmtes Etwas mit Bedeutsamkeit belehnt und als Zeichen lesbar werden konnte. Wir wollen die Praxis freilegen,4 in die sie sich einfügen und in deren Vollzug sie bedeutsam geworden sind. Was aber ist an den kulturellen Tatsachen ›kulturell‹, und worin tritt das Kulturelle zutage? Die Perspektive der Kultur erweitert, kurz gesagt, die Dimensionen der Faktizität um den Aspekt der Monumentalität. Monumente entstehen da, wo die Auszeichnung dessen gelingt, was, rein als ›roher Stoff‹ (Kant) betrachtet, ohne Anspruch und Bedeutung ist. Die Werke der Kunst sind nur das eminente Beispiel für diese Kulturtechnik der Monumentalisierung, die im Rahmen bestimmter Lebensformen ausgesuchten Gesten, Worten oder Sachen Qualitäten beimisst, die sich weder über die Analyse der reinen Faktizität noch durch die Angaben des Lexikons erschließen: Qualitäten wie Verbindlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Maßgeblichkeit, Verlässlichkeit, Wichtigkeit. Kulturelle Tatsachen sind, mit dem Wort von Bruno Latour, matters of concern: Dinge, sofern sie Menschen etwas angehen – »Dinge von Belang«5. Damit wäre ein weiterer wichtiger Unterschied markiert. Nackte Tatsachen zählen, der Idee nach, bedingungslos und für sich: ihr Medium ist, wenn der Pleonasmus gestattet ist, die isolierte, die streng dekontextualisierte Information. Bei kulturellen Tatsachen hingegen ist das, was sie sind, stets mit dem verbunden, was sie den Menschen (im umfassendsten Sinn dieses Wortes) bedeuten; ihr Medium sind die Geschichten. Wir können deshalb sagen: Die durch den Begriff der kulturellen Tatsache eröffnete Perspektive zeigt die Gegenstände in ihrer Situation. Ich möchte, ohne Anspruch auf Vollzähligkeit, abschließend vier Konfliktfelder hervorheben, die sich aus meiner Sicht vor dem Hintergrund dieser genealogischen Skizze abzeichnen. Dazu gehört zunächst die Frage nach der Abhängigkeit kultureller Tatsachen von dem, was Menschen an Vorstellungen und Überzeugungen in sie investieren. Auf dem Spiel steht die Dignität kultureller Tatsachen, zugespitzt zu der in den Diskussionen mit den Kulturwissenschaften geradezu unvermeidlichen Frage: Sind kulturelle Tatsachen Konstruktionen? Und lassen sie sich dementsprechend nach Belieben besetzen? Andersherum formuliert: Wie steht es um die Struktur und die materielle Präsenz der kulturellen Tatsachen, um das, woran und wodurch sie sich zeigen? Damit stellt sich die zweite Frage, die Frage nach dem Zeugnischarakter kultureller Tatsachen. Was repräsentieren kulturelle Tatsachen – und für wen? Offensichtlich erfüllen sie ihre Aufgaben in bestimmten Räumen und unter bestimmten Umständen, aber ebenso in Vgl. Christian Bermes: »Deutung oder Praxis? Die Tatsachen der Kultur und Wittgensteins Kulturphilosophie«, in: Christian Krijnen, Massimo Ferrari u. Pierfrancesco Fiorato (Hg.): Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, Würzburg 2014, S. 85–99. 5 Vgl. Bruno Latour: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich 2007. – Die Intuition ist nietzscheanisch: »Wir erst haben die Welt, die den Menschen Etwas angeht, geschaffen!« (»Die fröhliche Wissenschaft«, § 301, in: Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe Bd. 3, Berlin, New York, 1988, S. 343–651, hier S. 540). 4

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jenem übergeordneten Rahmen der Kultur, der diese Situationen zugehören. Analytisch müssen wir offenbar unterscheiden zwischen einer basalen Ebene – der Ebene der Liebe und des Lebens, der Ebene der Freude und des Leids – und einer zweiten Ebene der förmlichen Ausgestaltung: der Ebene der Begriffe und der Bilder, der Ebene der Festtage und der Routiniertheit alltäglicher Verrichtungen. Natürlich ist diese Unterscheidung der Ebenen nur analytisch und lässt entscheidende Fragen offen: Wie hängen Mikro- und Makroebene, wie bestimmte Gegenstände und die Bestimmtheit ihrer Thematisierung zusammen? Und, philosophisch besonders brisant: Wie steht es um das Verhältnis von epistemischer und kultureller Geltung? Drittens: Es ist maßgeblich Georg Simmel (und, rezeptionsgeschichtlich aufschlussreich, der junge Georg Lukács6) gewesen, der die Spreizung zwischen Sachwelt und Kulturwelt historisch ermessen und daraus die These gewonnen hat, dass die Verselbständigung der ›geistigen Gebilde‹ zu dekontextualisierten Fakten im Prozess der westlichen Kultur selbst angelegt sei. Demnach ist die Welt des Menschen genau in dem Augenblick zu einer Welt von Tatsachen geworden, als sie sich ihrer selbst bewusst wurde und einen Begriff von sich gewann. Simmels ursprüngliche Einsicht hat neben der historischen auch eine ontologische Pointe. Indem sie Kultur wurde und sich als solche verstehen lernte, sah sich die Menschenwelt in der Lage, sich zu objektivieren und sich, was zuvor niemandem in den Sinn gekommen wäre, als Versammlung von Tatsachen zu begreifen. Das aber würde bedeuten: Die Verselbständigung der »Kultur«, die nun die unzerstörbare Weltordnung des ›Kosmos‹ und der ›Schöpfung‹ nicht mehr sein konnte, und die Freisetzung von Tatsachen gehören zusammen. Dies vorausgesetzt, müssen wir das genealogische Verhältnis von kulturellen Tatsachen und Tatsachen umkehren. In den kulturellen Tatsachen tritt nicht, wie die Statistikfürchtigen meinen, eine allenfalls vorläufige, weil nur unzureichend reduzierte Form des Faktischen zutage, sondern umgekehrt: Nackte Tatsachen sind ebenfalls und sogar in eminenter Weise kulturelle Tatsachen – kulturelle Tatsachen nämlich, denen es unter angebbaren Umständen gelungen ist, ihre kulturelle Provenienz als eine für den eigenen Zweck verzichtbare Größe zu neutralisieren. Die Rhetorik des Tatsächlichen hat ihren Zweck erreicht, sobald die Spuren der Entstehung im Horizont der Beteiligten gelöscht sind. Als viertes und letztes Problemfeld will ich die Qualifikation des Beobachters ansprechen. Wie viel Bewusstsein, oder genauer: welche Art des Bewusstseins braucht es, um für kulturelle Tatsachen empfänglich zu sein? Müssen wir so etwas unterstellen wie ein kulturelles und für jede Kultur eigens zu spezifizierendes Wissen, über das man verfügen muss, um an der kulturellen Idiomatik raumzeitlich begrenzter Signalwerte teilzuhaben? Und wie steht es um die übrigen Beteiligten, etwa um die Produzenten? Offenbar braucht es weder Kulturphilosophen noch Kulturwissenschaftler, ja nicht einmal ein Wissen um die Geläufigkeit der ›Kultur‹, um kulturelle Tatsachen hervorzubringen. Wer kulturelle Tat6 Tatsächlich besuchte Lukács von 1906 an die Berliner Vorlesungen Simmels und betrachtete sich zeitweise als dessen »persönlichen Schüler« (vgl. Georg Simmel: »Kolleghefte, Mit- und Nachschriften«, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 21, Berlin 2010, S. 1075 f.). In seinen Frühschriften Die Seele und die Formen (1910) und in der Theorie des Romans (1916) agiert Lukács diese Bindung aus.

Einführung: Rhetorik des Tatsächlichen

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sachen herstellen oder sie ernennen will, benötigt dazu anderes als hochkulturelles Fachwissen, und nicht selten vollziehen sich solche Vorgänge anonym, ohne Kenntnis und Zutun der einstmaligen Produzenten. Was aber bedeutet dieses Zusammenspiel von Wissen und Nichtwissen für das kulturelle Wissen, für seine Voraussetzungen und Bedingungen? Müssen wir, Kleists Aufsatz über das Marionettentheater im Sinn, vielleicht sogar befürchten, dass ein Zuviel an Reflexion, dass also die kulturanalytische Extasis aus der gelebten Situation die kulturelle Ansprechbarkeit irritiert und sogar zerstört? Kurzum: In welchem Verhältnis stehen das Erfassen von Kultur und das Gelingen von Kultur?

Literatur Bermes, Christian: »Deutung oder Praxis? Die Tatsachen der Kultur und Wittgensteins Kulturphilosophie«, in: Christian Krijnen, Massimo Ferrari u. Pierfrancesco Fiorato (Hg.): Kulturphilosophie. Probleme und Perspektiven des Neukantianismus, Würzburg 2014. Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Berlin 2014. Konersmann, Ralf: »Thesen zum fait culturel«, in ders.: Kulturelle Tatsachen. Frankfurt/M. 2006, S. 13–69. Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich 2007. Lessing, Gotthold Ephraim: »Über das Wörtlein Tatsache«, in: Arno Schilson u. Axel Schmitt (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing. Werke Bd. 10, Frankfurt/M. 2001, S. 320–321. Mähl, Nikolai: Tatsache, kulturelle, in: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart 2012, Sp. 375–383. Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft«, in: Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (Hg.): Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe Bd. 3, Berlin, New York, 1988, S. 343–651. Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit / Discours sur l‹inégalité, hg. von Heinrich Meier, 3. Aufl., Paderborn 1993. Simmel, Georg: »Kolleghefte, Mit- und Nachschriften«, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe Bd. 21, Berlin 2010. Westerkamp, Dirk: Sachen und Sätze. Untersuchungen zur symbolischen Reflexion der Sprache, Hamburg 2014.

Kulturelle und natürliche Tatsachen Ralf Becker (Ulm)

Es gibt Dinge, die von Natur aus vorhanden sind, und es gibt Dinge, die hergestellt wurden. Zu den Naturdingen zählt Aristoteles Pflanzen, Tiere sowie die vier Elemente Erde, Feuer, Luft und Wasser; als Beispiele für Artefakte nennt er Liege, Kleid und Haus. Das Natürliche (to physikon) ist dadurch bestimmt, dass es das Prinzip (archê) seiner Veränderung (kinêsis) und seines Bestandes (stasis) in sich selbst (en heautô/kath’ auto) hat. Entsprechend liegt bei einem Werk (to technikon) der Grund seiner Herstellung (poiêsis) außerhalb seiner.1 Was von Natur aus ist, besteht und verändert sich von selbst, d. h. ohne das Zutun eines Herstellers. Dagegen gründen Bestand und Veränderung eines Artefakts in einer Fertigung (technê). Holz, sich selbst überlassen, nimmt niemals die Form einer Liege an. Dinge hervorbringen (poiein) können auch Tiere, wie die Spinne ihr Netz oder die Ameisen ihren Bau. Kunstfertigkeit (technê) aber besitzt nach Aristoteles nur der Mensch, da sie Absicht (bulêsis) und Untersuchung (zêtêsis) voraussetzt.2 Typische Artefakte sind neben den genannten handwerklichen Erzeugnissen auch Texte, Bilder und Skulpturen. Tanz- und Theateraufführungen bringen kein sie selbst überdauerndes Werk hervor, vielmehr vollziehen sie das menschlich Hervorgebrachte nur für die Dauer der Aufführung. Ein Garten ist zwar absichtsvoll angelegt und bewusst gestaltet, zur Verwirklichung aber auf das Entgegenkommen natürlicher Prozesse – das Gedeihen der Pflanzen – angewiesen. Ähnliches gilt auch für die Medizin, die zwar eine Technik ist, Patienten genesen zu lassen, aber Gesundheit selbst nicht zu machen imstande ist. Die medizinische Intervention leistet nach Aristoteles eigentlich nur Hilfe zur Selbsthilfe des organischen Körpers.3 Wie diese Beispiele zeigen, provoziert Aristoteles’ Unterscheidung zwischen physis und technê in ihrer Anwendung auf den einzelnen Fall zum Nachdenken. Das gilt umso mehr für eine Zeit, in der die Technik so massiv in natürliche Bestände und Prozesse eingreift, dass sie gar beansprucht, Organe und Organismen erzeugen zu können. Die Fragestellung dieses Beitrags lautet, ob es zulässig ist, die Differenz von Naturding und Artefakt zur Grundlage zweier Tatsachentypen zu machen. Demnach wären Tatsachen, die Naturdinge betreffen, natürliche und solche, die Artefakte zum Gegenstand haben, artifizielle oder kulturelle Tatsachen. Beispiele für die erste Klasse wären: ›Menschen haben (normalerweise) zwei Augen‹ (Bestand) oder: ›Aus Kaulquappen werden (normalerweise) Frösche‹ (Veränderung). Beispiele für die zweite Klasse wären: ›Ein Stuhl hat (üblicherweise)

Vgl. Aristoteles: Physik, 192a 8–32. Vgl. ebd., 199a 20–23. 3 Zum Beispiel der Medizin vgl. ebd., 192a 23–27. Grundsätzlich ist Handeln von bloßem Verhalten und unter dem so abgegrenzten Handeln noch einmal Hervorbringung (poiêsis) von Handlung im engeren Sinne (praxis) zu unterscheiden. 1

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Kolloquium 18 · Ralf Becker

vier Beine‹ (Bestand) oder: ›Goethe vollendete 1831 den zweiten Teil des Faust‹ (Veränderung). So weit, so gut. Aber wie verhält es sich mit den folgenden beiden Sätzen? ›Der Erdumfang beträgt am Äquator ca. 40.000 km‹ (Bestand) und: ›Die Erde ist vor ca. 4,5 Milliarden Jahren entstanden‹ (Veränderung). Zwar betreffen diese Aussagen Naturdinge (in beiden Fällen die Erde), aber sie werden erst durch Artefakte möglich. Bei der Bestimmung des Erdumfangs greift im dritten vorchristlichen Jahrhundert bereits Eratosthenes auf Messtechnik und Messinstrumente wie das Gnomon zur Ablesung des Schattens zurück, um aus dem Winkel, in dem die Sonnenstrahlen auf einen Punkt (Alexandria) treffen, und aus dem Abstand zu einem Vergleichsort (Syene) Radius und Umfang der Erde zu berechnen. Noch ausgetüftelter sind die Methoden, derer sich moderne Geologen bedienen, um aus bestimmten Isotopen chemischer Elemente auf das Erdalter zu schließen. Hinzu kommt, dass abhängig von Vorannahmen, eingesetzten Methoden und Instrumenten auch die Messdaten variieren, so dass die hier zur Diskussion stehenden Tatsachenbehauptungen keineswegs so feststehen, wie es zunächst scheint, sondern geschichtlich bedingt sind. Man kann daher gute Gründe anführen, um Tatsachen, die wir durch Messungen an Naturdingen feststellen, auch als kulturelle Tatsachen zu beschreiben. Dasselbe gilt a fortiori für die experimentelle Forschung, da das Experiment im Labor allererst das Phänomen hervorruft, das erklärt werden soll. Die Apparatur des Experimentators, ohne die er sein Experiment gar nicht durchführen kann, ist kein Naturding, sondern ein Artefakt. Die Kulturabhängigkeit ›natürlicher Tatsachen‹ zeigt sich auch bei allen Aussagen über die Naturgeschichte. Da man nicht die Vergangenheit selbst, sondern nur gegenwärtig vorhandene Objekte beobachten kann, die man als Spuren von Vergangenem deutet, entwickelt man im Lichte einer passenden ›Erzählung‹ Theorien über selbst nicht beobachtbare Ereignisfolgen (nichts anderes gilt übrigens auch für die Kulturgeschichte, deren Erforschung auf aktuell verfügbare Dokumente und Monumente angewiesen ist). Dass feststehende Interpretationen gelegentlich dazu führen können, Artefakte für Naturdinge zu halten, wirkliche Naturdinge hingegen zu ignorieren, zeigt eindrücklich das Beispiel des Piltdown-Man: 1912 wurde nahe des südenglischen Piltdown ein Schädel gefunden und für den Überrest eines stammesgeschichtlichen Vorfahren des modernen Menschen gehalten. Weil die Schädelform die herrschende Vorstellung bestätigte, dass die Menschwerdung mit einer Hirnvergrößerung einsetzte und dieser Prozess außerdem von Europa ausgegangen sei, verweigerten viele in der scientific community dem ersten, 1924 in Südafrika gefundenen Rest eines Australopithecus die Anerkennung als Überbleibsel eines Vormenschen. Neben dem Fundort auf dem ›falschen‹ Kontinent spielte eine Rolle, dass der Schädel auf ein Wesen schließen ließ, das sich zwar aufrecht hielt, aber noch das Hirnvolumen eines Schimpansen besaß. Wie sich schließlich herausstellte, war der Piltdown-Man eine geschickte Täuschung, zusammengesetzt aus einem mittelalterlichen Menschenschädel und dem Unterkieferknochen eines Affen (nebst weiteren Zugaben). Das Artefakt galt als Naturding, weil es der vorherrschenden Theorie besser entsprach. Sehen wir einmal davon ab, dass die sprachliche Äußerung einer Tatsache (Aussage) ja eo ipso etwas menschlich Hervorgebrachtes ist, ist auch der behauptete Sachverhalt gar

Kulturelle und natürliche Tatsachen

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nicht festzustellen ohne den Einsatz von Artefakten, wie bei der Messung, im Experiment und in der naturgeschichtlichen Narration. Wie wir noch sehen werden, ist selbst die einfache Beobachtung in eine kulturelle Praxis eingebettet, die die Distinktion von natürlichen und kulturellen Tatsachen problematisch erscheinen lässt. Denn was der Aristotelischen Begriffsklärung zufolge für Naturdinge gilt, gilt nicht ebenso für Tatsachen, die Naturdinge betreffen: dass das, was sie zu Tatsachen macht (ihre archê), allein im Natürlichen selbst enthalten sei. Zumindest teilweise ist das Feststellen von Tatsachen ein Herstellen.4 Es hieße freilich, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wollte man Tatsachen, die Naturdinge betreffen, in menschlichen Fertigungen aufgehen lassen. Vielmehr kann die genauere Kennzeichnung dessen, was an behaupteten natürlichen Tatsachen gerade nicht natürlich ist, dabei helfen, im Lichte kultureller Tatsachen natürliche Faktizität besser zu verstehen. Der folgende Gedankengang hat drei Schritte. Zuerst geht es um das naturalistische Missverständnis ›natürlicher Tatsachen‹. Es besteht grob gesagt darin, Tatsachenbehauptungen über Naturdinge wie Naturdinge zu behandeln. Wir treffen auf dieses Missverständnis allenthalben, nicht nur, aber gerade in der populären Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die oft vorgetragen werden, als ob ein ohne menschliches Zutun vorliegender Sachverhalt durch aufwendige Forschungsbemühungen lediglich aufgefunden worden sei (›die Wissenschaft hat festgestellt‹) (I). Der Antinaturalist muss sich freilich seinerseits mit dem drohenden kulturalistischen Missverständnis auseinandersetzen, dass jede Aussage über Naturdinge allein von kulturellen Faktoren abhängig sei. Ein solcher Kulturalismus würde menschliche Produktivität von den Bedingungen abkoppeln, denen sie unterworfen, und aus den Situationen lösen, in die sie eingebettet ist. Paradoxerweise wird so aus Kultur Natur: etwas, das Anfang und Ursache seines Bestehens und seiner Veränderung in sich selbst hat (II). Die Diskussion beider Missverständnisse legt ihre gemeinsamen Voraussetzungen frei und führt zugleich im dritten und letzten Schritt auf die Frage zurück, welchen Sinn die Rede von natürlichen (und kulturellen) Tatsachen haben kann (III).

I. Das naturalistische Missverständnis Naturalistisches Denken kennt viele Formen.5 Ich beschränke mich auf das naturalistische Missverständnis von Tatsachen, die Naturdinge betreffen. Es liegt dann vor, wenn für Aussagen über Natürliches ein Geltungsanspruch erhoben wird, der unabhängig von einer kulturellen Praxis erfüllbar sein soll. Solche Reden erklingen allerorten, wo über Atome gesprochen wird, als könne man sie mit einer starken Brille sehen, über ›die Evolution‹, als sei man dabei gewesen, oder über Naturgesetze, als offenbare sich uns ›die NaVgl. Peter Janich: Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt, Frankfurt/M. 2006, S. 179. 5 Vgl. Dirk Hartmann/Peter Janich (Hg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt/M. 1996, S. 14–27. 4

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Kolloquium 18 · Ralf Becker

tur‹ selbst durch mathematische Chiffren. Beispiele dieser Art Reden sind Legion, man muss nur die populäre Berichterstattung verfolgen. Doch ist das naturalistische Missverständnis keineswegs auf den Wissenschaftsjournalismus begrenzt, es findet sich auch unter Wissenschaftlern und Philosophen, die gerne naturwissenschaftliches Wissen zur Grundlage ihrer Erkenntnistheorie machen, oft genug, ohne allzu viel von empirischer Forschung zu verstehen. So ist denn auch das naturalistische Missverständnis nicht wissenschaftlich begründet, sondern beruht vielmehr auf einer Ontologie, die stillschweigend vorausgesetzt wird. Um die Fehlannahmen des Naturalismus methodologisch aufzuklären, lohnt es sich, an eine Kritik zu erinnern, die nicht ein Philosoph, sondern ein Kenner naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden geübt hat. Der polnische Arzt, Immunologe und Medizinhistoriker Ludwik Fleck legt in dem seinerzeit wenig beachteten Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) dar, wie abhängig unsere Tatsachenüberzeugungen von einem »Denkstil« in einem »Denkkollektiv« sind. In unserem Sinne dezidiert antinaturalistisch hält der Naturforscher Fleck fest: »In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.«6 Was Fleck damit meint, lässt sich anschaulich an so genannten ›naturgetreuen‹ Abbildungen der menschlichen Anatomie zeigen. Diese ändern über die Jahrhunderte hinweg und in verschiedenen Kulturen (Fleck zieht auch ältere persische und arabische Darstellungen heran) ihr Aussehen nicht nur nach Detailfülle, sondern auch nach Charakteristika wie der Anordnung der Körperteile, der Symbolik (z. B. Todesmotive bei Darstellungen des Skeletts), der Symmetrie, der Bedeutung von Anzahlen oder dem FigurGrund-Verhältnis. Der Wandel hält bis in die Gegenwart (z. B. bei der Darstellung von Zellen) an. Anatomische Abbildungen, selbst wenn sie, wie heute üblich, vermeintlich naturgetreuere bildgebende Verfahren nutzen, sind nach Fleck grundsätzlich Sinnbilder. Der Unterschied zwischen den mittelalterlichen und den modernen Sinnbildern »beruht nicht einfach darauf, daß wir mehr wissen«; die älteren sind nicht in größerem Maße Sinnbilder als die heutigen. Vielmehr berichten sie mehr von dem, »was in ihrer Wirklichkeit mehr Wert besitzt als in unserer«.7 Anatomische Lehrbücher zeigen nicht einfach das, was man sieht, sondern das, was man sehen soll, genauer: was der Medizinadept sehen soll. Der Schüler, der in eine Wissenschaft eingeführt wird, erwirbt nicht nur Wissensbestände, sondern erlernt auch ein »gerichtetes Wahrnehmen«, das Fleck »Denkstil« nennt.8 »Es gibt kein anderes Sehen als das Sinn-Sehen und keine anderen Abbildungen als die Sinn-Bilder. In allen osteologischen Figuren der modernen Anatomie klingen technisch-mechanische Motive mit. So wird das Knochensystem zum Stützgerüst gemacht. Diese Auffassung ist uns aus der Schule und aus unserem Denkstil so geläufig, daß sich hier jedem ein Ausruf geradezu aufzwingt: ›Es ist ja auch das Stützgerüst!‹ Sicher ist es Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 92012, S. 48. 7 Ebd., S. 183. 8 Ebd., S. 130. 6

Kulturelle und natürliche Tatsachen

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das Stützgerüst – wenn man im modernen wissenschaftlichen Denkstil denkt. Doch ist es nicht schwer, sich ein Wissenssystem vorzustellen, für das das Skelett kein Stützgerüst des Körpers wäre.« Man könnte z. B. die Stütze des Körpers bei »luftigen und feurigen Geisterlein […] suchen, die hinaufstreben und den Körper aufrecht erhalten. Die Knochen wären dann eigentlich das Widerstrebende, das Tote, ›Metallische‹, Nicht›Begeistete‹. […] Als unbegeistetes Prinzip des Körpers, als Ballast fände das Skelett viel weniger Beachtung und würde anstatt des Gerüstes der heutigen Anatomiebilder als Knochenhaufen etwa abgebildet werden. Etwa so wie heute Fettgewebe nicht als zusammenhängendes System, sondern als eine Art Negativ an anatomischen Bildern zu sehen ist: als das, was wegpräpariert wurde.«9 Auch »das einfachste Beobachten« ist »denkstilbedingt«, d. h. »an eine Denkgemeinschaft gebunden«, Denken daher »eine soziale Tätigkeit katexochen«.10 Die Prägung durch einen Denkstil übt einen sanften Zwang auf den Wahrnehmenden aus, die entsprechenden Gestalten unmittelbar zu sehen. Fleck spricht bei diesem Vorgang der Einführung in einen Denkstil überspitzt von Dressur.11 Hat sich die Sehgewohnheit etabliert, kommen dem »naiv vom eigenen Denkstil befangenen Forscher« »fremde Denkstile wie freie Phantasiegebilde vor, da er nur das Aktive, fast Willkürliche an ihnen sieht. Der eigene Denkstil erscheint ihm dagegen als das Zwingende, da ihm zwar eigene Passivität bewußt, eigene Aktivität aber durch Erziehung, Vorbildung und durch Teilnahme am intrakollektiven Denkverkehr selbstverständlich, fast unbewußt wie das Atmen wird.«12 Der emblematische Fall der Abbildungen in Anatomiebüchern demonstriert ganz grundsätzlich, dass Erkenntnis an einen bestimmten Denkstil in einem Denkkollektiv gebunden ist. Unter dem Denkkollektiv versteht Fleck die »Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen«. Das Denkkollektiv ist der »Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles.«13 Im Rahmen seiner eigenen Fallstudie zur Geschichte eines Syphilis-Nachweisverfahrens widerspricht Fleck den Logischen Empiristen und bestreitet, dass es so etwas wie einfache Protokollsätze gibt. Bereits der Begriff der Syphilis, ihre Einordnung als »Lustseuche« und ihre Beschreibung durch einen Komplex von Symptomen ist einem historisch-sozialen Denkstil in einem Überzeugungssystem mit eigener Beharrungstendenz unterworfen: »›Syphilis an sich‹ existiert nicht.«14 Alle Erkenntnisse über die Krankheit dieses Namens, ihre Ursachen und Wirkungen sind in den Rahmen einer wissenschaftlichen, therapeutischen und allgemeinen (ethischen) Praxis eingebettet, aus dem man sie nicht als etwas Eigenständiges herauslösen kann.

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Ebd., S. 186 f. Ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 185 f. Ebd., S. 54 f. Ebd., S. 55.

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Bündig definiert Fleck eine wissenschaftliche Tatsache als »denkkollektives Widerstandsavisio«, das größten Denkzwang bei kleinster Denkwillkürlichkeit ausübt.15 Als Tatsache gilt, »was nicht anders gedacht werden kann«, ohne in Widersprüche zu anderen Kenntnissen zu geraten. Tatsachenbehauptungen erheben einen Geltungsanspruch: Aussagen über Tatsachen beanspruchen, wahr zu sein. Gemäß seinem Tatsachenbegriff bestimmt Fleck Wahrheit als »stilgemäße[n] Denkzwang«.16 Sie ist das stets vorläufige Ergebnis einer sozialen Tätigkeit. Wer dies ausblendet, verfällt dem naturalistischen Missverständnis, Geltungsansprüche außerhalb einer kulturellen Praxis erheben und erfüllen zu können. Zu dieser Praxis zählen: das (ab)gerichtete Wahrnehmen des »Sinn-Sehens« (Beobachtung), wissenschaftliche Modellbildung, Experiment, Messung, naturgeschichtliche Interpretation, die Veröffentlichung von Ergebnissen in Fachzeitschriften, Handbüchern und populären Darstellungen, Bildungseinrichtungen wie Schule und Hochschule, poietische Kontexte wie die ärztliche Praxis und nicht zuletzt gesellschaftliche Handlungsräume mit ihren Werten und Normen.

II. Das kulturalistische Missverständnis Angesichts ihres stilmäßigen Zwangscharakters stellt Fleck die wissenschaftliche Tatsache in eine Reihe mit Sachverhalten in Mythos und Kunst: »Jedes Produkt geistiger Schöpfung enthält […] Beziehungen, ›die gar nicht anders sein können‹ und die den zwangsweisen, passiven Koppelungen in den wissenschaftlichen Sätzen entsprechen.«17 Der Begriff der ›passiven Koppelung‹ leitet zur Diskussion des dem naturalistischen analogen kulturalistischen Missverständnisses über, jede Tatsache sei eine soziale Konstruktion, eine bloß geistige Schöpfung. Ein solcher Kulturalismus ist das genaue Spiegelbild zum zuvor beschriebenen Naturalismus. Blendet dieser den Anteil der kulturellen Praxis (von Fleck ›soziale Tätigkeit in einem Denkkollektiv‹ genannt) aus und führt den Zwangscharakter des Faktischen allein auf den Naturzusammenhang zurück, so identifiziert der Kulturalist den Zwang mit sozialem Zwang. Das Widerständige einer Tatsache ist dann nur der Widerstand der Anderen im Denkkollektiv, den jeder Andersdenkende für seine Häresie zu spüren bekommt. Erneut können wir bei Fleck studieren, wie man dem naturalistischen Missverständnis entkommen kann, ohne dem kulturalistischen zu verfallen. Dies führt auf den Begriff der passiven Koppelung zurück. Fleck unterscheidet aktive und passive Koppelungen im Erkenntnisprozess. Zu den aktiven Koppelungen zählen die in einem Denkkollektiv gemachten Voraussetzungen, sie bilden den »kollektiven Anteil des Erkennens«. Die passiven Koppelungen bilden demgegenüber das, »was als objektive Wirklichkeit empfunden

15 16 17

Ebd., S. 129. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132.

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wird«:18 Zusammenhänge im Erkenntnisinhalt, »die weder psychologisch (individuellund kollektivpsychologisch), noch geschichtlich erklärbar sind. Sie muten deshalb wie ›reale‹, ›sachliche‹, ›wirkliche‹ Beziehungen an.«19 Das Ineinandergreifen von aktiven und passiven Anschlüssen bzw. Koppelungen illustriert Fleck an einem Beispiel aus der Chemie. »Die Zahl 16 für das Atomgewicht des Sauerstoffs ist fast bewußt konventioneller, willkürlicher Herkunft. Wird aber für das O das Atomgewicht 16 angenommen, so ergibt sich für das H das Atomgewicht 1,008 mit zwangsläufiger Notwendigkeit. Die Verhältniszahl beider Gewichte ist also ein passives Wissenselement.« Eine wissenschaftliche Tatsache lässt sich daher inhaltlich nie allein aus »geschichtlichen, individuell- und kollektiv-psychologischen Standpunkten« konstruieren.20 Erkennen bedeutet für Fleck, »bei bestimmten aktiv vorgenommenen Voraussetzungen die zwangsmäßig, passiv sich ergebenden Zusammenhänge festzustellen.«21 In diesem Prozess sind die passiven und aktiven Elemente »weder logisch noch geschichtlich […] vollständig voneinander zu trennen.«22 Genau diesen logischen wie historischen Fehler begehen Naturalismus wie Kulturalismus gewissermaßen nur mit unterschiedlichen Vorzeichen: Der Naturalist beleuchtet allein die passiven Elemente und blendet die aktiven aus, der Kulturalist verfährt umgekehrt. Diese Kritik trifft freilich nur Spielarten des Kulturalismus, die Tatsachen auf bloße Konstruktionen reduzieren, und somit ausdrücklich nicht den methodischen Kulturalismus, wie er von Peter Janich und seiner Marburger Arbeitsgruppe entwickelt wurde. Der methodische Kulturalismus wird von seinen Vertretern seinerseits als eine Kulturkritik verstanden, die sich in unserer wissenschaftlich geprägten Welt gleichermaßen gegen Natur- wie gegen Kulturontologien wendet.23 In der nachmetaphysischen Moderne haben wir eine starke Neigung, Natur- oder Kulturwissenschaften metaphysisch aufzuladen und aus ihren Theorien Repräsentationen der ›Wirklichkeit an sich‹ zu machen. Diese ist dann wahlweise entweder das, was uns die Naturwissenschaften sagen, oder eine kulturrelative soziale Konstruktion. Die methodischen Kulturalisten packen solche Metaphysik an ihrer Wurzel und sehen in Theorien keine »strukturisomorphe[n] oder adäquate[n] Bilder« einer beobachterunabhängigen Realität, sondern ein »empirisch bewährtes technisches Bewirkungs- und Prognosewissen«.24 Wissenschaften sind selbst Praxisformen, die unter erkenntnisleitenden Interessen zu bestimmten Zwecken spezifische Mittel einsetzen. Die Mittel sind genau dann zweckdienlich, wenn sich mit ihrer Hilfe zutreffende Vorhersagen machen oder gewünschte Effekte erzielen lassen. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein Ebd., S. 56. Ebd., S. 16. 20 Ebd., S. 110. 21 Ebd., S. 85. 22 Ebd., S. 125. 23 Vgl. Hartmann/Janich: Methodischer Kulturalismus, S. 12, 26, 30, 69; sowie dies. (Hg.): Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M. 1998, S. 21. 24 Hartmann/Janich: Methodischer Kulturalismus, S. 21. 18 19

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Instrument »zur Systematisierung von Handlungswissen. […] Der Handlungserfolg determiniert also die theoretische Wirklichkeit, nicht umgekehrt.«25 Ein Erklärungsmodell ist dann und nur dann erfolgreich, wenn sich mittels dieses Modells das zu erklärende Phänomen (realiter oder virtuell) erzeugen lässt. Das bedeutet, dass das Herstellen des Phänomens über den Erfolg des eingesetzten Modells entscheidet. »Der [methodisch-] kulturalistische Versuch läuft darauf hinaus, alles Wissen auf Handlungserfolg und Mißerfolg zurückzuführen bzw. aus diesem zu begründen.«26 Der Geltungsanspruch einer wissenschaftlichen Theorie wird durch erfolgreiche Handlungen eingelöst. Daher sind die Vollzüge von Handlungen, die die Gültigkeit einer Theorie belegen, »theoretisch nicht hintergehbar.«27 Gegen die Umkehrung dieses Abhängigkeitsverhältnisses formuliert Janich das »Prinzip der methodischen Ordnung«, das fordert, »beim Reden über Handlungsabfolgen nicht anders zu reden, als es der pragmatischen Ordnung entspricht, die durch den für die Handlungsabfolge jeweils zugrundeliegenden Zweck vorgegeben ist.«28 Im alltäglichen Leben wohlbekannt (etwa bei Rezepten: erst marinieren, dann braten) und nachgerade trivial (erst die Weinflasche entkorken, dann einschenken), kommen Verstöße gegen dieses Prinzip in szientifischer Rede regelmäßig vor; z. B. wenn behauptet wird, Farben seien ›in Wirklichkeit‹ elektromagnetische Wellen bestimmter Länge (während man zuerst sichtbare und qualitativ unterscheidbare Farbproben benötigt, um sie dann spektrometrisch zu vermessen), oder das Gehirn würde rechnen (während man zuerst richtige von falschen Rechungen unterscheiden muss, bevor man anhand des Rechnermodells kognitive Leistungen beschreiben kann) usw. Wo Gelingen ist, da ist auch Scheitern. Stützt sich die Gültigkeit von Theorien auf erfolgreiche Handlungen, so geht sie durch wiederholte Misserfolge verloren. Genau an diesem Punkt widersetzt sich der methodische Kulturalismus dem zuvor diskutierten kulturalistischen Missverständnis von Tatsachen, indem er das »Widerfahrnis des Scheiterns« als »außerdiskursives Element« anerkennt.29 Es liegt auf der Hand, darin den natürlichen Anteil in Tatsachenbehauptungen über Naturdinge zu identifizieren. Entsprechend versteht Janich unter Natur »dasjenige, was bzw. insofern es vom Menschen nicht handelnd verändert wird, bzw. ohne sein Zutun von selbst geschieht.«30 Handlungen, die Theorien bewähren sollen, können scheitern. Das ändert zwar nichts an der skizzierten methodischen Ordnung, erinnert aber daran, dass das Feststellen von Tatsachen nicht im Herstellen aufgeht, sondern mit Widerständen rechnen muss, ja, dass es gerade diese Widerstände sind, die die wissenschaftliche Praxis am Leben erhalten. Die Grabungsarbeit über dem ›festen Boden der Tatsachen‹ gibt es, wie wir bei Ludwik Fleck lesen können, deshalb nur als Fortsetzung, nie als Ende.31 25 26 27 28 29 30 31

Hartmann/Janich: Die Kulturalistische Wende, S. 20. Hartmann/Janich: Methodischer Kulturalismus, S. 33. Janich: Kultur und Methode, S. 65. Hartmann/Janich: Methodischer Kulturalismus, S. 46. Ebd., S. 29; Hartmann/Janich: Die Kulturalistische Wende, S. 19. Hartmann/Janich: Methodischer Kulturalismus, S. 39. Vgl. Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, S. 125.

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III. Methode und Sein Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Die Frage lautete, ob es sinnvoll ist, zwischen natürlichen und kulturellen Tatsachen zu unterscheiden, wenn ›natürliche Tatsachen‹ Naturdinge und ›kulturelle Tatsachen‹ menschliche Werke betreffen. Die Schwierigkeit, mit der wir uns auseinandergesetzt haben, ergibt sich daraus, dass das Feststellen auch von ›natürlichen Tatsachen‹ häufig, wenn nicht meistens, seinerseits durch ein Herstellen bedingt ist: sei es das Herstellen von Sinnbildern und Instrumenten (wie Mikroskop und Teleskop) in der Beobachtung, sei es das Herstellen von Messgeräten in der Vermessung, sei es das Herstellen einer Apparatur (und des zu untersuchenden Phänomens) im Experiment, sei es das Herstellen einer Geschichte in der naturhistorischen Interpretation. Die nachträgliche Ablösung des aktiven Prozesses der Herstellung (der Tat) vom scheinbar passiven der Feststellung (der Sache) führt leicht entweder zum naturalistischen oder zum kulturalistischen Missverständnis. Entweder wird der Aspekt des Hervorbringens oder der des Widerständigen wegpräpariert. Bevor man aber den Begriff der natürlichen Tatsache angesichts dieser Verwicklungen aufgibt, sollte man bedenken, dass die Verselbständigung des hervorbringenden oder des widerständigen Konstituens auch kulturelle Tatsachen infiziert. Denn so wie wir den poietischen Anteil an der Feststellung natürlicher Tatsachen betont haben, so sind umgekehrt auch die widerständigen Aspekte kultureller Tatsachen in ihrer ganzen Ambivalenz zu bedenken. Zum einen gibt es, wie Ludwik Fleck bemerkt, auch in Kunstwerken stilgemäße und narrative Zwänge, die dem Verhältnis zweier Atomgewichte nahekommen (etwas, das sich gleichsam ›von selbst einstellt‹, weil es ›gar nicht anders sein kann‹). In diesem Sinne spricht Aristoteles etwa von der natürlichen Form der Tragödie.32 Und vergessen wir nicht, dass Vico, dessen verum-factum-Axiom gerne als Erstbeschreibung kultureller Tatsachen herangezogen wird, die vermeintlich von Menschen ›gemachte‹ Geschichte dem idealistischen Formprinzip seiner Zyklentheorie unterwirft. Zum anderen wird der naturale Anteil an kulturellen Tatsachen oft genug für ideologische Naturalisierungen in den Dienst genommen und als naturgesetzlicher Zwang ausgewiesen, was eigentlich auf menschlichem Handeln beruht (z. B. ›der Markt‹). Darauf haben die Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule zu Recht immer wieder hingewiesen. Wir müssen keineswegs die Distinktion zweier Typen von Faktizität aufgeben, so lange wir sie nicht hypostasieren, d. h. Tatsachen nicht wie Dinge behandeln. Statt dessen ist es gerade Aufgabe der Kulturphilosophie, Verdinglichungen beider (naturalistischer wie kulturalistischer) Couleurs über sich selbst aufzuklären, damit wir – mit einem Wort Husserls – nicht »für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist«.33 Die Unterscheidung von Methode und Sein wird in besonderer Weise da virulent, wo sich TatsachenüberAristoteles: Poetik, 1449a 15. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. von Walter Biemel, Haag 1954, S. 52. 32 33

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zeugungen auf wissenschaftliches (ob nun natur- oder kulturwissenschaftliches) Wissen gründen, wie es in unserer von den Wissenschaften stark durchdrungenen Welt der Fall ist. Aber sie greift auch dort, wo das Gestiftetsein von gesellschaftlichen Denkstilen mit ihrer handlungsnormierenden Kraft verschleiert wird. Die kulturphilosophische Aufklärung verschiedener Faktizitätstypen kann dabei helfen, in Tatsachen aktive und passive Koppelungen zu identifizieren, also in kulturellen Tatsachen die naturalen, außerdiskursiven und in natürlichen Tatsachen die poietischen, denkkollektivabhängigen Elemente aufzuweisen. Die Kulturphilosophie hilft dabei, das Aktive am eigenen Denkstil zu erkennen und anzuerkennen und ihm dadurch etwas von dem Zwingenden zu nehmen, das von ihm ausgeht. Wenn die eigene Aktivität tatsächlich, wie Fleck formuliert, durch »Erziehung, Vorbildung und Teilnahme am intrakollektiven Denkverkehr selbstverständlich, fast unbewußt wie das Atmen wird«, dann geht es darum, das denkkollektiv Unbewusste bewusst zu machen. Ex negativo heben sich durch diese Bewusstwerdung auch die naturalen Anteile am Faktischen ab. Die Kulturphilosophie könnte man daher auch als negative Naturphilosophie auffassen. Ihr Anliegen ist die Besinnung auf das, was wir gemeinsam tun.

Literatur Aristoteles: Physik. Vorlesung über die Natur, Griechisch-Deutsch, übers. von Hans Günter Zekl, 2 Bde., Hamburg 1987/1988. – Poetik, Griechisch-Deutsch, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2012. Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt/M. 92012. Hartmann, Dirk und Peter Janich (Hg.): Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt/M. 1996. –/–— (Hg.): Die Kulturalistische Wende. Zur Orientierung des philosophischen Selbstverständnisses, Frankfurt/M. 1998. Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana. Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. von Walter Biemel, Haag 1954. Janich, Peter: Kultur und Methode. Philosophie in einer wissenschaftlich geprägten Welt, Frankfurt/M. 2006.

Wirklichkeit entwickeln Dirk Rustemeyer (Trier/Witten)

1 Literatur, Wissenschaft, Philosophie und Theater markieren Darstellungsformate, in denen Wirkliches sichtbar wird. Indem dieser Vortrag sie der Reihe nach unterscheidet, entwickelt er eine Darstellung, die Wirklichkeitsformate vergleichbar macht. Im Mittelpunkt der Formate stehen jeweils Ideen, die Unterscheidungsfelder strukturieren: Repräsentation, Methode, Gegenwart und Inszenierung. Pointe ist es, Differenzen von Wirklichkeitsformaten in Reflexionsgewinne umzuformen. Zweck dieser Darstellungen wäre es, Bilder des Wirklichen zu entwickeln, die ihre Differenz zum im Bild Erscheinenden, zum Betrachter und zu anderen Bildern markieren.

2 2.1 Ireneo Funes vergaß nichts. Gleichmäßig erfaßte seine Wahrnehmung alle Einzelheiten. »Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und vermochte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband zu vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend des Querbracho-Gefechtes aufgewühlt hatte.«1 Funes erfindet Zeichensysteme, die jedes Phänomen einzeln markieren. Unerbittliche Erinnerung verlangt unendliches Vokabular. Für Abstraktionen oder Allgemeinheiten ist kein Raum. Was Zeichen ermöglichen: Auswahl, Fokussierung, Bedeutungsverschiebungen, Metaphern, Abstraktionen und Rekombinationen, geht verloren. Zeichen wohnt, weil sie wiederholbar sind, Allgemeines inne. Im Laufe ihrer Wiederholung sorgen Zeichen dafür, dass vergessen wird, was einmal zum Phänomen zu gehören schien. Vergessen sorgt für ein Erinnern, das neue Verbindungen knüpft, um Gestalten zutage treten zu lassen. Neu ist das, dessen Gewordensein vergessen ward. An dieser Paradoxie geht Ireneo Funes zugrunde.

Jorge Luis Borges: »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: Gesammelte Werke Bd. 3/I. Erzählungen 1935–1944, München, Wien 1981, S. 178. 1

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Funes besitzt zwar Gedächtnis, doch keine Erinnerung. Er hat keine »Dauer«2, weil er nicht lebt, sondern beobachtet. Im Jetzt gelebter »Dauer« wird, wie Henri Bergson zeigt, Erinnerung so organisiert, dass diese zum Leben der Gegenwart beiträgt. Sein Zuschauen jedoch realisiert ein Modell idealer Repräsentation. Es ist das Modell eines absoluten Zeit-Raums. Gelebte Gegenwart kann deshalb für Funes nicht existieren. Erst erzählte ›Geschichte‹ verleiht der Dauer Profil, artikuliert symbolisch Erfahrung und zieht aus Lücken der Erinnerung Gewinn. So betrachtet, verleihen Erzählungen über Funes wegen ihres fragmentarischen, auf die Perspektive und das Erleben der Erzählenden bezogenen Charakters ›Wirklichkeit‹: Sie beziehen den Erzählten in den Prozess bewussten, zeichenhaft strukturierten ›Lebens‹ ein. Symbolisch verdichtet Erinnertes sich zu einem Bedeutungskern, in dem Welt erscheint. Welt ist dabei keine Gesamtheit von Entitäten und Sachverhalten, deren Strom im absoluten Gedächtnis repräsentiert wäre. Literatur wird zu einer Praxis der Reflexion von Weltordnungen, in deren Licht auch wissenschaftliche oder philosophische Ordnungsmodelle bewahrt und transformiert werden können.

2.2 Borges’ Erzählung spiegelt im Medium der Literatur Fragen, die sich in wissenschaftlichen Kontexten ebenfalls stellen. Darum liegt es nahe, das literarische Beispiel mit einer wissenschaftstheoretischen Diskussion von vor hundert Jahren zu kontrastieren. Es geht um die Frage, was es heißt, etwas zu erkennen, was eine Tatsache ausmacht und inwiefern jede Tatsache ein kulturelles Phänomen ist. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Borges und der wissenschaftstheoretischen Konstellation erschließen sich in der Frage wie Wirklichkeit, Sinn und Zeichen zusammenhängen. Tatsachen sind Entitäten, die nur im Kontext von Sinn vorkommen. Sinn aber ist eine Struktur, die sich in Verweisungsräumen entfaltet, in denen es weder Zentralperspektive noch ideale Repräsentation gibt. Weil Sinn-Ordnungen Zeichen-Ordnungen sind, ist keine Ordnung absolut oder identisch im Wandel der Zeit. Zwischen Beobachtung, Beobachtungsobjekt und Beobachter existieren zirkuläre Abhängigkeiten. Die Zeichenart selbst ist dabei von größter Bedeutung. Welt existiert als Sinn in Darstellungen. Die erste Position beschreibt eine wissenschaftslogische Auffassung. Rudolf Carnap hat 1931 zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen unterschieden.3 Als sinnvoll gelten nur solche Sätze, die auf genau angebbare Weise mit beobachtbaren Erfahrungen verbunden sind. Sprache und Wirklichkeiten erwiesen sich als homolog, weil Erfahrung homogen ist und Sätze entweder wahr oder falsch sind.

Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 141. Vgl. Rudolf Carnap: »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in: Schleichert, H. (Hg.): Logischer Empirismus – der Wiener Kreis, München 1975, S. 149–171. 2

3

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Die zweite Position argumentiert wissenschaftsgeschichtlich. Diametral steht sie der ersten gegenüber. Ludwik Fleck weist in einer medizingeschichtlichen Studie von 1935 auf Verschränkungen von Tatsachen, kollektiven Handlungsvollzügen, sozialen Denkstilen und sprachlichen Gepflogenheiten hin.4 Demzufolge ist eine strenge Unterscheidung zwischen Tatsachen und Beschreibungen prinzipiell unmöglich. Die dritte Position teilt mit den beiden ersten Einsichten in die Bedeutung von Zeichen, mit deren Hilfe Erfahrung organisiert werden kann. Ebenfalls 1935 entwickelt Edmund Husserl in einem Vortrag den Gedanken, die Geschichte abendländischer Vernunft drohe einer unreflektierten Mathematisierung zum Opfer zu fallen. Konsequenz ist die Nivellierung von Erfahrung.5 Ernst Cassirer hatte 1929 ein ähnliches Bild entworfen, indem er die Wissensformen der modernen Gesellschaft genealogisch aus der Entwicklung von Symbolformen heraus begriff. Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie entfalten sukzessiv einen Kosmos simultaner Zeichenordnungen.6 Die vierte Position ist eine wissenssoziologische. Was, fragt Emile Durkheim, ist eine soziale Tatsache? Es ist ein Ding, das nicht »von Natur aus« zugänglich ist und sich reinem Denken nicht erschließt, weil es experimentelle Anstrengungen verlangt.7 Komplexes erschließt sich nur aus Komplexem.8 Max Weber hebt hervor, der Welt fragend Sinn zu verleihen. Um Sinn zu schaffen, muss Wirklichkeit denkend geordnet werden.9 Doch nicht irgendeinen Sinn, wie Max Horkheimer einwendet: Menschen suchen nach einer besseren Alternative zum Gegenwärtigen. Deshalb muss jede Gegenwart sich ihr Bild der Zukunft machen. Dies verlangt einen »Eigensinn der Phantasie«.10

2.3 Zwanzig Zuschauer betreten eine Art Filmset, nachdem sie ein iPad ausgehändigt bekommen haben. Auf dem Bildschirm verfolgen sie einen Film, der die Räume und Gegenstände zeigt, die sie durchwandern. Der Film erzählt jeweils die Geschichte einer Person. Wir lernen unterschiedliche Personen und deren Sichtweisen kennen, deren Rolle wir nach und nach einnehmen. Es handelt sich um eine Performance von »Rimini Protokoll« mit dem Titel »Situation Rooms«.11 4

Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt/M.

1980. Vgl. Edmund Husserl: »Die Krisis der europäischen Menschentums und die Philosophie«, in: Husserliana VI, Den Haag 1976, S. 314–348. 6 Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1953 (Bd. I und II), 1954 (Bd. III.). 7 Emile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 1984, S. 90. 8 Emile Durkheim: Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976. 9 Max Weber: »Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1987, S. 146–214, hier: S. 155. 10 Max Horkheimer: »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI, H. 2, Reprint München 1980, S. 245–294, hier: S. 273. 11 Gesehen habe ich das Stück auf der Ruhrtriennale 2013. 5

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Alle Personen sind ›real‹. Ihre Biographie wurde dokumentarisch recherchiert. Alle haben, in verschiedener Funktion, mit Krieg und Waffenhandel zu tun. Sie spielen jeweils eine Rolle bei Ereignissen, die wir aus den Massenmedien kennen. Wir suchen nach Passungen zwischen Bild und Wirklichkeit, die zugleich eine offensichtlich artifiziell erzeugte Realität ist, die wiederum mit einer Wirklichkeit außerhalb des Theaters zusammenhängt. Geschichten, Orte, Ereignisse und Logiken verschlingen sich zu einem labyrinthisch anmutenden Geflecht. Alles scheint verständlich, doch führt es nicht zum Verstehen. Fotografien in einer Schublade, die schwer verstümmelte Menschen zeigen, verlangen ein eigenes Recht gegenüber der Logik eines Drohnenpiloten, der davon spricht, wie viele Menschenleben er rettet. Ohne Worte, Bilder oder Zahlen haben wir keinen Zugang zu einer Wirklichkeit, die wir verstehen möchten. Die Inszenierung verwandelt die Vagheit der Erfahrung in eine Darstellung, die solche Formen der Reflexion verfügbar macht, weil sie auf Kontraste statt Synthesen setzt. Zuschauer bewegen sich durch einen Kontext ohne Zentralperspektive. Eindeutige Urteile erscheinen unmöglich, Erklärungen misslingen. Wirkliches begegnet als dissonanter Bedeutungsraum. Je mehr wir wissen, desto schwieriger werden Bewertungen. Von Besonderem gelangen wir zu Besonderem. Wir müssen uns, im Theater wie außerhalb des Theaters, zu etwas verhalten, was uns in seinem Unterscheidungsreichtum überfordert. Kontingenzen sichtbar zu machen und zu ertragen ist etwas, was zur Grunderfahrung moderner Gesellschaften gehört. Rimini Protokoll macht uns den konstitutiven Zusammenhang von Erinnerung und Imagination, Rahmung und Wirklichkeit erfahrbar.12 Zum Erinnern und zum Wissen gehören Perspektivität, Erfahrung und Erwartungen ebenso wie eine Darstellung, die dazu verhilft, Rahmungen zu vollziehen.

3 Die Gedankenfigur, die ich mit einer Erzählung von Jorge Luis Borges eingeleitet, wissenschaftstheoretisch kontrastiert und am Beispiel einer Theaterperformance weiterentwickelt habe, möchte ich abschließend in ihrem Maßstab vergrößern. Der größte verfügbare Maßstab ist wohl der kosmologische. Seine Schlussreflexion über den »Prozeß der Realität« widmet Alfred North Whitehead einem Verständnis von Gott und Welt. Dieser kosmologische Gott betrachtet mit Nachsicht und Liebe die Welt. Zufrieden schaut er auf die Gegenwart, ohne diese im Lichte einer besseren Zukunft zu entwerten. Welt nämlich »ist« die Realisierung ihrer unendlichen Potentiale je jetzt. Unendliche Formen verlangen nach unendlicher Geduld. Geduld, nicht Urteil ist der Modus einer Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart als immerwährender Transformation, deren Ordnung wiederum der Gedanke Gottes ist. Vgl. Gerald Siegmund: »Die Kunst des Erinnerns«, in: Dreysse, M./Malzacher, F. (Hg.): Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 182–205; Miriam Dreysser: »Die Aufführung beginnt jetzt. Zum Verhältnis von Realität und Fiktion«, in: ebd., S. 76–97. 12

Wirklichkeit entwickeln

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Mit seiner Geduld wird Gott zur Vision der Welt, die einem Gedicht ähnelt. »Retter« der Welt ist er als »Poet der Welt«.13 Das Bild poetischen Erinnerns ist tröstlich, weil es auf messianische oder politische Ambitionen der Erlösung verzichtet. Wenn nichts vergebens war und alles mit allem verbunden bleibt, ist Aktualität der Modus des Vergangenen wie des Zukünftigen.14 Wo Natur und Geist unendliche Transformationen von Formen sind, muss für Vergangenes so wenig gekämpft werden wie Erinnern Erlösung verheißt.15 Es ist die Poesie, die im Kleinsten das Größte und im Wirklichen das Unendliche darstellend zu erkennen vermag. Verstehen wir Welt als dynamische Ordnung dessen, was jeweils unterschieden werden kann, benötigt sie Formen der Darstellung. Darstellungen sind, nach Schlegel, universalpoetische Experimente, die auch einmal Register eingewöhnter Ontologien durcheinanderwürfeln. Zwischen Wissenschaft, Kunst und Philosophie gibt es dann keine strikten, wohl aber kontextuelle Grenzen. Tatschen erscheinen als Herausforderungen, Wirkliches sinnhaft zu entfalten. Darstellungen erlauben es, verschiedene Formen zeichenhafter Organisation von Erfahrung zu vergleichen, Ontologien und Kategorien auf die Probe zu stellen, indem Dinge den Akteuren beigesellt werden, Entitäten als Prozesse zu beschreiben, simultane Perspektiven im Spiel zu halten und die wirklichkeitskonstitutive Rolle von Beobachtungen im Blick zu behalten. Darstellungen gleichen Inszenierungen des Unterscheidens im gegenwärtigen Vergleichsraum einer Kultur mit Hilfe symbolischer Ordnungen. Sie sind kulturelle Tatsachen, weil sie Tatsachen erschaffen und relativieren.

Literatur Benjamin, Walter: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt/M. 1991, S. 691–704. Bergson, Henri.: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991. Borges, Jorge Luis.: »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: Gesammelte Werke Bd. 3/I. Erzählungen 1935–1944, München, Wien 1981. Carnap, Rudolf: »Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache«, in: Schleichert, H. (Hg.): Logischer Empirismus – der Wiener Kreis, München 1975, S. 149–171. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1953 (Bd. I und II), 1954 (Bd. III.). Dreysse, Miriam: »Die Aufführung beginnt jetzt. Zum Verhältnis von Realität und Fiktion«, in: Dreysse, M./Malzacher, F. (Hg.): Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 76–97. Durkheim, Emil: Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 1984, S. 90. – Soziologie und Philosophie (1924). Frankfurt/M. 1976. Alfred North Whitehead: Prozeß und Realität, Frankfurt/M. 1987, S. 618. Vgl. Charles S. Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, Hg. v. K.-O. Apel, Frankfurt/M. 1976, S. 474. 15 Vgl. Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2, Frankfurt/M. 1991, S. 691–704. 13 14

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Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt/M. 1980. Horkheimer, Max: »Traditionelle und kritische Theorie«, in: Zeitschrift für Sozialforschung VI, H. 2, Reprint München 1980, S. 245–294. Husserl, Edmund: »Die Krisis der europäischen Menschentums und die Philosophie«, in: Husserliana VI, Den Haag 1976, S. 314–348. Peirce, Charles S.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. K.-O. Apel, Frankfurt/M. 1976. Siegmund, Gerald: »Die Kunst des Erinnerns«, in: Dreysse, M./Malzacher, F. (Hg.): Rimini Protokoll, Berlin 2007, S. 182–205. Weber, Max: »Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1987, S. 146–214. Whitehead, Alfred North: Prozeß und Realität, Frankfurt/M. 1987.

Kulturelle Faktizität Dirk Westerkamp (Kiel)

I. Beobachterabhängigkeit Dass der Begriff kultureller Faktizität der Klärung bedarf, macht ihn bereits verdächtig. Klarstellungen, Rechtfertigungen, Begründungen sind gewöhnlich Problemindices. Das gilt nicht weniger für die Philosophie, deren raison d’être im Denken guter Gründe liegt. Was sich rechtfertigen muss, hat seine Legitimation entweder noch nicht gewonnen oder schon wieder verloren. In diesem Sinne sind kulturelle Tatsachen »nicht Besitztümer, sondern Herausforderungen«1. Dass ihre eigentliche Sache allererst bestimmt werden muss, nicht einfach vorliegt, wirft Licht auf die Eigenart der Kulturphilosophie, vielleicht auf die Kulturwissenschaften im Ganzen. Vergleichbar mit der Situation der 1930er Jahre, in der Ernst Cassirer das Unternehmen einer »Logik der Kulturwissenschaften« gegen den logischen Positivismus verteidigen musste, steht auch die Legitimität kulturphilosophischen Denkens nach wie vor zur Diskussion. Auch hierin der damaligen Situation nicht unähnlich, sind es die institutionellen Erfolge der experimentellen Kognitionswissenschaften und der empirischen Sozialwissenschaften einerseits, die unbekümmerte Betriebsamkeit der zu Kulturwissenschaften umfunktionierten Geisteswissenschaften andererseits, die die kritische Frage nach dem Sinn von Kulturphilosophie aufkommen lassen. Mit ihr eng verknüpft ist die Frage nach einem spezifisch kulturphilosophischen Gegenstandsbereich und einer gesicherten Methode seiner Erforschung. Allein zur Klärung der zweiten Frage können die folgenden Überlegungen etwas beizutragen beanspruchen. Gleichwohl scheint auch die erste diskutierbar nur unter Voraussetzung einer Klärung der zweiten. Von »kultureller Realität«, ihrer »Faktizität« und der »Logik« ihrer wissenschaftlichen Behandlung zu reden, gleicht heute wie damals einer Reaktionsbildung auf den positivistischen Vorwurf der Sinnlosigkeit »geisteswissenschaftlicher Philosophie«. Schon Durkheim hatte den Begriff der »sozialen Tatsache« (fait social) eingeführt, um seiner geschichtlich noch jungen Disziplin der Soziologie einen empirisch feststellbaren Gegenstand, eine »chose« zu verschaffen und mit ihr deren Autorität als Wissenschaft zu festigen.2 Vor dem »unerbittlichen Urteil der neuen Logik«, schreibt Carnap 1930, erweise sich die »geisteswissenschaftliche Philosophie« als »nicht etwa nur inhaltlich falsch, sondern als logisch unhaltbar, daher sinnlos«. Wohl gibt es in Carnaps Unterscheidung ein Drittes zu wahren und falschen Sätzen. Doch sind diese Sätze, bar dessen, was sein Ralf Konersmann: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006, S. 67. Vgl. Émile Durkheim: Montesquieu et Rousseau, précurseurs de la sociologie (1892), Paris 1953, S. 29–30. 1 2

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Lehrer Frege ihren »beurtheilbaren Inhalt«3 nannte, sinnlos. Mindestens aber lassen sie sich nicht sinnvoll erfahrungswissenschaftlich verrechnen und gehörten deshalb in den Bereich »metaphysischer Begriffsdichtung«4. Dabei scheint Carnaps »neuester Angriff auf die Metaphysik«5 selbst auf einer uneingestanden metaphysischen Voraussetzung zu beruhen. Sie betrifft den Begriff der Faktizität. Sollen sich nämlich nicht nur die empirischen, sondern auch die Geisteswissenschaften auf »das ›Gegebene‹, die unmittelbaren Erlebnisinhalte«6 reduzieren lassen, so verrät seine Forderung, jeder Satz der Wissenschaft müsse sich »in einen Satz über das Gegebene« rückübersetzen lassen, ein wo nicht vorwissenschaftliches, so doch erheblich vormodernes Verständnis von Faktizität. Wo alles Faktische ein Gegebenes sein soll, da weist es notwendig auf einen Geber zurück, impliziert ein metaphysisches Verständnis von Gabe. Fakten im metaphysischen Sinne sind als data, nicht facta verstanden worden, während der moderne Begriff der Tatsache präzise der des Faktums, eines Hervorgebrachten ist – geschaffen sicher nicht in dem kruden Sinne ihres physischen Hervorbringens, wohl aber ihres Hervorgerufenseins durch den Beobachter. Modern gedacht weisen Tatsachen nicht auf einen Geber, sondern auf Beobachter. Facta wären, so verstanden, sprachlich zusammengefasste und vermittelte phaenomena. Demgegenüber glaubte das positivistische Ideal der Tatsachenwissenschaften noch festhalten zu können an der Hypostase eines unparteiischen Beobachters, der das Beobachtete selbst in keiner Weise beeinflusse, sondern rein zurückspiegele. Eine der sozialwissenschaftlich einflussreichen Unterscheidungen von Tatsache und Phänomen stammt von Talcott Parsons: »[A] fact is not itself a phenomenon at all, but a proposition about one or more phenomena.«7 Als Phänomene sind soziale Tatsachen äußere Begebenheiten, die sich beobachten lassen, während sich soziale Tatbestände wie »Rolle«, »Gesellschaftssystem« wesentlich Handlungen verdanken, aber als Phänomene nicht der Begebenheiten, sondern ihrer Bedeutung einen anderen ontologischen Status genießen. Soziale Tatsachen sind nicht selbst Geschehnisse, sondern deren propositionale Vermittlung in der symbolischen Ordnung einer Sprache. Am philosophischen Diskurs der Moderne hat Ernst Cassirer beide Hypostasen aufgedeckt: die positivistische Reduktion aufs Gegebene und die Fiktion einer beobachterinvarianten Tatsachenfeststellung. In seiner Hamburger Rektoratsrede über die Formwandlungen des Wahrheitsbegriffs (1929) verfolgt Cassirer, gewiss etwas al fresco, die Transformation des hierarchischen Wahrheitsbegriffs der Antike über den rationalistischen der Neuzeit hin zum positivistischen der Moderne. Letzteren kennzeichnet die Forderung des empirischen Belegs durch vermeintlich unmittelbare Wahrnehmungstatsachen. Wo die Antike Wahrheit als aufzusuchenden Grund, Mittelalter und Neuzeit sie als Grund und Gabe dachten, da versteht der moderne logische Empirismus die Fakta als Gottlob Frege: Begriffsschrift (1879), § 2, Hildesheim 1964, S. 2. Rudolf Carnap: »Die alte und die neue Logik«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 12–26. 5 Max Horkheimer: »Der neueste Angriff auf die Metaphysik« (1936), in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Max Horkheimer Gesammelte Schriften [GS] 4, Frankfurt/M. 1988, S. 108–161. 6 Carnap: »Die alte und die neue Logik«, S. 24. 7 Talcott Parsons: The Structure of Social Action, Glencoe/Ill. 1937, S. 41. 3 4

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das Unmittelbare und Vorfindliche, sich durch sein Da- und So-Sein vermeintlich schon selbst Gebende und Begründende. So vermochte das positivistische Wahrheitsideal zwar überhaupt erst alle Schätze des empirischen Wissens zu heben. Doch es saß, so Cassirers Einwand, dem Irrglauben der Möglichkeit reiner Wiedergabe des Faktischen auf. Mag dies schon in anderen Wissenschaften heikel sein (man denke an den Versuch der Eliminierung aller anthropomorphen Elemente aus dem Weltbild der modernen Physik), so wird es vollends problematisch in den Kulturwissenschaften, deren Begriff des Faktischen nicht auf der Wiedergabe eines Gegebenen, sondern auf dessen »Neugestaltung«8 beruht. Dies sei als erste von fünf Vorklärungen zum Begriff kultureller Faktizität festgehalten: Sätze sind zwar »logische Bilder der Tatsachen« (Wittgenstein), aber Tatsachen nicht schlierenlose Spiegelbilder »unmittelbarer Erlebnisse« (Carnap).

II. Urteilszusammenhänge Tatsachen sind sprachlichen Wesens. Wir können Tatsachen weder riechen, hören, schmecken noch können wir auf sie zeigen. Tatsachen lassen sich schlecht singen, zeichnen oder tanzen, wohl aber sprachlich feststellen. Gegenstände, Ereignisse, Personen können erfahren, Tatsachen nur benannt werden. Als Erfahrungsgegenstand ist uns Cäsars Überschreitung des Rubikon ursprünglich entzogen, als Tatsache aber weiterhin zugänglich. Der innere Doppelcharakter des von der Sprachanalyse aufgehellten Tatsachenbegriffs besteht näher darin, dass das, wovon Tatsachen handeln, selbstverständlich auch Un- oder Außersprachliches sein kann, es aber nur als Angesprochenes für uns zur Tatsache wird. Allerdings ist nicht alles Angesprochene auch schon eine Tatsache, sondern zunächst Sachverhalt. Besteht dieser Sachverhalt tatsächlich, dann erst nennen wir ihn eine Tatsache. Diese ist nicht das bezeichnete Phänomen selbst, sondern dessen Beschreibung. Dies wiederum macht Faktizität von ihrer symbolischen Darstellung im Satz abhängig, weswegen verschiedene Sätze auch dieselbe Tatsache meinen können oder derselbe Satz sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen lässt.9 Unser vortheoretisches Bewusstsein kontaminiert zuweilen das Bestehen von Sachverhalten mit Erfahrungsgegenständen. Sagt Sherlock Holmes: »We have established a most important fact by these questions, Watson«10, so ist dieses Faktum durch den sprachlichen Akt ihrer investigativen Konversation allererst entstanden. Als solches hat es dieses Faktum zuvor nicht gegeben. Wer sagt: ›Sehen wir uns noch einmal die Fakten‹ an, der wird nicht unter den Teppich sehen, um nach Spuren zu suchen.11 Gegenstände, Ereignisse und Situationen sind daher noch keine Tatsachen. Sie werden es in dem Moment, da wir sie als solche, und zwar in einer bestimmten Absicht, ansprechen – als philosophi8 Ernst Cassirer: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe [ECW], Hamburg 2004, Bd. 17, S. 354. 9 Vgl. Günther Patzig: »Satz und Tatsache« (1964), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV, Göttingen 1996, S. 9–43. 10 Arthur Conan Doyle: The Hound of the Baskervilles, V. Kap. 11 Ähnlich das Beispiel in John Langshaw Austin: Philosophical Papers, Oxford 1961, S. 92.

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sche Beispielobjekte etwa; oder, weniger abstrakt, als Gegenstände zu diesem oder jenem Gebrauch. Und sie werden zu Tatsachen, wenn wir, wie Holmes und Watson, nach ihnen fragen. Ernst Cassirer hat eine aus dieser Unterscheidung folgende Einsicht formuliert, die eigentlich eine philosophische Binsenweisheit ist, doch in manchen Kreisen, vielleicht aus Furcht vor konstruktivistischen Konsequenzen, noch auf taube Ohren stoßen mag: dass es Tatsachen als solche nicht geben kann. Dazu heißt es in Cassirers Logik der Kulturwissenschaften (1942): »Es gibt keine ›nackten‹ Fakta – keine Tatsachen, die anders als im Hinblick auf bestimmte begriffliche Voraussetzungen und mit ihrer Hilfe feststellbar sind. Jede Konstatierung von Tatsachen ist nur in einem bestimmten Urteilszusammenhang möglich, der seinerseits auf gewissen logischen Bedingungen beruht.«12 Bliebe der Tatsachenbegriff an bloße »Dingwahrnehmung geknüpft«, so könnte er nur die »Feststellung physischer Tatbestände« meinen. Dann aber, sieht Cassirer scharf, kann es für Russell, Carnap und die Logischen Empiristen entweder so etwas wie »Kulturobjekte« gar nicht geben oder keine »wissenschaftliche Erkenntnis« von ihnen.13 Was Carnap in seiner für die Kultur- und Geisteswissenschaften aporetischen Zuspitzung schlicht verwechselt – und wohl aufs Konto sprachanalytischer Nachlässigkeit geht –, ist die mögliche Dinghaftigkeit, d. h. Objektität, dessen, wovon Tatsachen handeln oder worüber sie sind (aboutness) und dem, woraus Tatsachen selbst bestehen: aus sprachlichen Zuschreibungen. Zu dieser Verwechslung von sprachlicher Form und den (zuweilen)14 dinglichen Referenten von Faktizität tritt eine weitere: die Vermengung von dinglichem Phänomen und kategorialer Tatsachenfeststellung. Gerade empirisch arbeitende Forschungsdisziplinen wissen aus ihrer wissenschaftlichen Alltagspraxis, dass Tatsachenfeststellung nicht unabhängig von den »Prinzipien und Prozeduren der Tatsachenfindung« geschieht,15 ja dass es ihnen zur wissenschaftlichen Ehre gereicht, genau diese Prozeduren der Tatsachenfindung auch in denen der Tatsachenfeststellung zum Vorschein kommen zu lassen statt zu verschleiern. Noch das roheste Datenmaterial wird nicht einfach vorgefunden, sondern ist bereits durch Instrumente ihrer Erhebung vermittelt, in die bestimmte Vorentscheidungen und Kategorien – Cassirers »Urteilszusammenhänge« – schon eingegangen sind. Daher wirkt noch die auf den ersten Blick eingängige Unterscheidung zwischen beobachterunabhängigen und beobachterabhängigen Tatsachen unglücklich, die Searle zur Bestimmung dessen dient, was er soziale oder eingerichtete Tatsachen (institutional facts) genannt hat.

Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942), in: ECW 24, S. 373. Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie (1939), in: Nachgelassene Manuskripte und Texte [ECN], Hamburg 2004, Bd. 5, S. 84. 14 Es ist, trivial zu sagen, auch ein selbst rein sprachliches Substrat von Tatsachen möglich, etwa dort, wo sich Tatsachen auf grammatische Kategorien beziehen. Ockham hatte dies Ausdrücke zweiter Ordnung (nomina secundae impositionis) bzw. materiale Supposition genannt (Summa logicae I, S. 11), etwa: »›Mensch‹ ist ein Name«. Auch dies würden wir eine Tatsache nennen dürfen. Doch das, wovon sie eine Tatsache ist, ist eben kein Ding, sondern bereits eine grammatische Kategorie. 15 Ute Daniel: Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt/M. 2001, S. 387. 12 13

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Reine Tatsachen (brute facts) heißen sprach- und beobachterunabhängige Phänomene wie die 93 Millionen Meilen betragende Entfernung der Erde von der Sonne. Zu den sprach- und beobachterabhängigen Tatsachen (institutional facts) zählt Searle hingegen solche, die überhaupt erst durch die Übertragung genuin sprachlicher »Statusfunktionen« (z. B. »Präsidentschaft«) entstehen, etwa das Faktum: Clinton war im Jahre 1995 der 42. Präsident der USA. Zwar erkennt Searle, dass auch die pseudo-natürliche Tatsächlichkeit seiner brute facts der sprachlichen Vermittlung bedarf, um für uns Tatsachen sein zu können. Doch seine Beispiele verraten noch jenen fragwürdig positivistischen Zug zur Objektität des Faktischen. Denn mögen Erde und Sonne unabhängig von unseren Auffassungen und sprachlichen Zuschreibungen existieren, so ist doch ihr in Meilen oder Kilometern gemessener, also festgestellter Abstand radikal abhängig von den symbolischen Ordnungen, in welchen dieser Abstand repräsentiert wird. Cassirers weitreichende Einsicht in die Sphären- und Symbolsystemabhängigkeit von Faktizität besagte auch, dass jede Tatsachenfindung und -feststellung stets auf ihre symbolischen Ordnungen als eines Mediums der Repräsentation von Phänomenen zurückbeziehbar sein sollte, kraft dessen etwas erst für uns zu etwas werden kann. Für das Verständnis von etwas als etwas bzw. von etwas als etwas anderes sind diese symbolischen Ordnungen unhintergehbar. Daraus ergibt sich eine zweite Vorklärung: Tatsachen sind vermittelt durch konkrete symbolische Formen. Entsprechend wären symbolsystemtranszendente Fakta geradeso reine Postulate (entia rationis) wie die Vorstellung eines von seinen Bezugskategorien abgelösten Faktums an sich. Freilich stellt sich jeder Theorie der Sphärenabhängigkeit von Faktizität ein Problem, das Cassirer selbst nicht hat lösen können – weil es gar nicht abschließend zu lösen ist. Denn es bleibt die Frage, welche und wie viele Sphären bzw. symbolische Tatsachenordnungen wir unterstellen wollen, um nicht jeder Tatsache eine eigene Sphäre zuschreiben zu müssen. Hinzu kommt ein zweites Problem, das sich allerdings nur sprachanalytischen Interpretationen des Tatsachenbegriffs stellt: das Problem des hybriden Charakters kultureller Tatsachen, die Simmel und Cassirer als »Werke der Kultur«16, als Tatsachen einer »von Menschen geschaffene[n] Welt«17 bestimmt haben. Dann nämlich wohnt dem Begriff der kulturellen Tatsache eine weitere Spannung inne insofern, als er Werke, Formen und Einrichtungen anspricht, die sich zwar sprachlicher Übertragung kultureller Statusfunktionen verdanken, aber auch aus nichtsprachlichen Substraten bestehen. Dann nämlich können, wie bei Simmel, sowohl »materielle Kulturgüter« (Möbel, Kulturpflanzen, Kunstwerke) als auch objektive Kulturformen (Sprache, Sitte, Religion, Recht) kulturelle Tatsachen genannt werden.18 Beide Probleme, vielleicht auch ihre möglichen Lösungsperspektiven, lassen sich in die Terminologie Cassirers rückübersetzen. Dann wären, könnte man sagen, Tatsachen allein in der symbolischen Form der Sprache und näher in ihrer symbolischen Funktion der Darstellung zugänglich. Dessen ungeachtet kann das Substrat solcher Tatsachen in höchst Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24, S. 456. Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie, in: ECN 5, S. 30. 18 Georg Simmel: Philosophie des Geldes (1900), in: Gesamtausgabe [GA], Frankfurt/M. 1989, Bd. 6, S. 618. 16 17

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verschiedenen symbolischen Formen und Funktionen auftreten. Dann ließe sich auch die Deutung kultureller Tatsachen als »Werke der Kultur«19 kohärent denken, weil diese Werke kraft der bereits objektivierenden symbolischen Formen als Handlungen nicht nur eines Einzelnen, sondern zugleich als solche einer überindividuellen Rezeptionsleistung angemessen bestimmt werden könnten.

III. Symbolisierungen Als Max Weber im Zuge seiner Analyse okzidentaler Rationalisierungsprozesse deren Effekte an der unaufhaltsamen Ausdifferenzierung kultureller »Wertsphären« aufzeigte, da war Diltheys harmonistischer Auslegung der »Kultursysteme«20 als Organisationen verstehbarer »Lebensäußerungen« der soziologische Boden entzogen. Auch für die kulturphilosophische Analyse der Tatsachensphären konnte kein Weg mehr hinter Webers antagonistische Konzeption der Wertsphären zurückführen. In seiner Analyse bilden moderne kapitalistische Gesellschaften eigene Bereiche (Wissenschaft/Technik, Kunst/Literatur und Recht/Moral) mit je eigenen Rationalisierungsmodi aus: Systematisierung von Weltbildern, Beherrschung der Realität durch abstrakte Begriffe, Erreichung praktischer Ziele durch präzise Berechnung der adäquaten Mittel, effiziente Verwaltungsbürokratie und rationeller Arbeitskräfteeinsatz.21 Diese entwickeln nicht nur ihre eigene Logik, sondern geraten auch in Konflikt zueinander. Nicht nur treten Wissenschaft und »Lebensführung«22 tendentiell auseinander, nicht nur bilden ästhetische Wertsphären Gegenkulturen zu den bürokratisch durchrationalisierten Subsystemen aus, sondern schon die Rationalisierungskriterien selbst lassen sich nur relativ zu den geschichtlich gewordenen Wertmaßstäben einer Sphäre bestimmen. Irrational, schreibt Weber, »ist etwas stets nicht an sich«, sondern einzig im Verhältnis zu dem in einer Wertsphäre oder einem »Kulturkreis«23 für rational Gehaltenen. Konflikte entstehen aufgrund der Unverträglichkeit von Wertmaßstäben, deren Differenz wiederum zum Motor der Ausdifferenzierung kultureller Sphären wird. Webers Interesse musste gerade den als »irrational« erscheinenden Elementen gelten – etwa der Resilienz priesterlichen Zölibats inmitten moderner Lebensformen –, weil an ihnen der »spezifisch geartete ›Rationalismus‹ der okzidentalen Kultur«24 zum Vorschein kommt; mit ihm aber auch jene »Eigenlogik« ihrer Wertsphären, deren Konflikte durch die kulturelle Sphäre teils gemildert, teils überdeckt werden. Unbeeindruckt von möglichen

Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24, S. 456. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), in: Gesammelte Schriften [GS], Leipzig, Berlin 1927, Bd. 7, S. 166. 21 Vgl. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1963, S. 265. 22 Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904), Bd. II, Hamburg 1972, S. 325. 23 Weber: Die protestantische Ethik, Bd. I, Hamburg 1973, S. 20. 24 Ebd. 19 20

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Psychologismus-Vorwürfen im Sinne Freges und Husserls konnte Max Webers nüchterner empirisch-soziologischer Blick die Relativität und Eigenart sich ausdifferenzierender kultureller Wertsphären schlicht konstatieren. Mit seiner Analyse tritt der von Dilthey begonnene Diskurs über kulturelle Faktizität zugleich in eine neue, seine entscheidende Phase. Denn hinter den einzelnen Sphären stehen nicht nur verschiedene Weltperspektiven und Rationalitätskonzepte, sondern auch unterschiedliche Handlungssysteme: zweckrationales und wertrationales Handeln, formale und materiale Rationalisierung. Ihren Maßstäben folgen jene Taten, die Sachen entstehen lassen; und sie werden selbst zu sozialen Tatsachen einer von uns geteilten Welt. Was aber könnten, vor dem Hintergrund der Weberschen Begrifflichkeit, dann spezifisch kulturelle Tathandlungen sein? Zu welchen Präzisierungen, darf man fragen, soll das vage Epitheton ›kulturell‹ dienen können? Gut ein Jahrzehnt vor Cassirers Vorlesungen über Probleme der Kulturphilosophie (1929) hat Florian Znanieckis Hauptwerk Cultural Reality (1919) eine »Philosophie kultureller Tätigkeiten« als Wissenschaft »kultureller Erfahrung« (cultural experience) zu umreißen gesucht.25 Culturalism nennt der polnisch-amerikanische Sozialphilosoph die methodische Einstellung, die jenseits binärer methodologischer Oppositionen weder blind wird für eine nicht bloß kausalistisch zu verstehende Realität (wie der Naturalismus) noch leer bleibt, weil die überkommenen Substanzbegriffe auf den rasanten Wandel kultureller Institutionen keine Anwendung mehr finden (wie der Idealismus). Einmal sind »kulturelle Fakten« (cultural data) nicht Naturgegenstände, sondern Artefakte; und sie sind auch nicht einfach Objekte, sondern zugleich Handlungen und deren Systeme. Sie liegen nicht einfach vor, sondern sind, wenngleich geschichtlich geworden und kontingent, bewusst produziert. Überdies sind wir, schreibt Znaniecki, »unfähig, […] jedes Wesen anders denn durch das Prisma der Kultur wahrzunehmen«26. Znaniecki unterscheidet drei Formen kultureller Faktizität: produzierte Artefakte, geschichtlich-kulturelle Formen der Weltsicht (auch z. B. der Naturwissenschaften),27 kulturformierende Handlungssysteme (z. B. Recht). Kulturelle Realität bildete dann so etwas wie eine Verbindungssphäre der konkurrierenden Handlungssysteme sozialer Realität. Im Ganzen ergibt sich eine begrifflich noch etwas tastende Unterscheidung zwischen natürlichen, sozialen und kulturellen Tatsachen. Zu einer konziseren Bestimmung fehlt Znanieckis Theorie kultureller Faktizität schlicht die symbolphilosophische Grundlage. Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead haben sie fast gleichzeitig geschaffen. Es ist vielleicht zu wenig bekannt, dass Whitehead seinem naturphilosophischen Hauptwerk Process and Reality (1929) mit Symbolism (1927) ein kulturphilosophisches Prolegomenon vorangeschickt hat. Faktizität ist auch für Whitehead eine von Symbolprozessen durchdrungene Realität – realitas mithin verstanden als: actualitas, Tätigkeit. Die Bedenken, auch des Freundes Russell, hat er vorausgesehen: Der nüchterne Verstand verlange Florian Znaniecki: Cultural Reality, Chicago 1919, S. x; 12. Ebd., S. 16. 27 Auch sie sind kulturellem Wandel unterworfen: »Our astronomical, physical, geological, biological theories hold true of nature only for the relatively short historical period during which the character of reality has not fundamentally changed« (ebd., S. 19). 25 26

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»Fakten, nicht Symbole«.28 Das verstandene Faktum aber, denn andere kennen wir nicht, ist stets schon sprachlich-symbolisch vermittelt. Zu diesem Zweck unterscheidet Whitehead vier Relationsformen »symbolischer Referenz«, die verschiedene Möglichkeiten der Beziehung innerhalb des semiotischen Dreiecks von Symbolform, Bedeutung und Symbolbenutzer/in darstellen: algorithmische Beziehungen, die ohne Symbolnutzer/in auskommen; vorsymbolische Instinkthandlungen, deren Bedeutung keine konventionelle Symbolform gewinnen muss; scheinbar sinnlose Symbolhandlungen, die keiner Beziehung zwischen Bedeutung und Symbol bedürfen; symbolische Reflexivität, die das Verhältnis von Symbol und Bedeutung offen lässt.29 Jedwede Erfahrung, selbst Reflexhandlungen, sind für Whitehead immer schon irgendwie symbolisch verkörpert: »We do not perceive disembodied colour or disembodied extensiveness: we perceive the wall’s colour and extensiveness. The experienced fact is ›colour away on the wall for us‹.«30 Generell kennzeichnet »präsentative Unmittelbarkeit« alle höheren Spezies der Natur. Sie ist, wie Whitehead bemerkt, eine »physikalische Tatsache«, die sich im Falle der menschlichen Gattung primär der »Tätigkeit begrifflicher Funktionen« verdankt, kraft derer »physische Erfahrung und begriffliche Einbildungskraft zur Erkenntnis verbunden«31 werden. Ähnlich Weber, Simmel und Freud diagnostiziert Whitehead ein zunehmendes Unbehagen (repulsion) in den fortschreitenden, stets reflexiver werdenden, sich virtualisierenden symbolischen Formen der europäischen Kultur. Zugleich erinnert er, dass der Widerwille gegen kulturelle Symbolisierungen seinerseits ein »ausgezeichnetes Element in der Kulturgeschichte der zivilisierten Völker«32 sei – ein hintersinniges Argument, das erlaubt, die beständige »Anpassung aller Symbole an Änderungen der sozialen Struktur«33 selbst noch als Antidot gegen das Unbehagen in der Kultur zu verstehen. Der unhintergehbare Symbolismus menschlicher Institutionen verlangt stets die Distanznahme sowohl zum Symbolisierten als auch zum Symbol und setzt diese Differenz als ein zentrales Moment kultureller Faktizität selbst: die Notwendigkeit ihrer Kritik. Denn zu den Paradoxien des Begriffs der Faktizität gehört das modale Moment ihres Andersseinkönnens. Tatsachenwahrheiten sind kontingent; jede von ihnen könnte auch anders sein; ihr SoSein hat keineswegs den Charakter von Notwendigkeit. Zugleich aber nennen wir eine Tatsache, was so und nicht anders ist. Unsere kulturellen Praktiken sind also kritisch und symbolisch-reflexiv in dem doppelten Sinne, dass wir etwas als etwas anderes bestimmen und Symbolhandlungen auch dann vollziehen können, wenn wir nicht mit ihnen einverstanden sind. Whitehead nennt diesen Umstand »sekundäre Symbolisierung«: »Man mag die Etikette eines königlichen Hofes mit ihren Vorgaben persönlicher Unterwerfung abschaffen, um dennoch bei offizi-

28 29 30 31 32 33

Alfred North Whitehead: Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1927, S. 60. Ebd., S. 10. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61.

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ellen Empfängen zeremoniell die Hand des Gouverneurs zu schütteln.«34 Für Whitehead besteht die Kunst freier Gesellschaften zuletzt darin, ob ihnen gelingt, die »Ehrfurcht« gegenüber ihren symbolischen Codes mit der Freiheit zu deren »Revision« zu versöhnen.35 Diesem theoriehistorischen Rückblick lässt sich eine dritte Vorklärung entlehnen: Die von Weber, Znaniecki und Whitehead begründete Unterscheidung verschiedener Tatsachensphären wirkt plausibel, ist aber keineswegs unproblematisch. Historikerinnen oder Politologen dürften sogleich Vermisstenanzeigen aufgeben: Wären historische Tatsachen, dieser kategorialen Ordnung gemäß, soziale Tatsachen der Vergangenheit? Wichtiger vielleicht noch die Frage: Was schützt vor der nominalistischen Willkür der Erfindung stets neuer Tatsachenbereiche?36 Vermutlich wenig, aber als wissenschaftstheoretische Pragmatiker dürfen wir konzedieren, dass es hier auch nicht willkürlicher zugeht als in anderen theoriesprachlichen Unterscheidungen; dass wir also mit solchen Unterscheidungen dort, wo sie uns etwas aufschließen, das anders verschlossen bliebe, erst einmal fortfahren können. Was also wäre, abermals gefragt, mit einem Begriff kultureller Faktizität gewonnen? Was schließt er anderes auf als der bereits eingeführte der sozialen Tatsache?

IV. Geltungsfunktionen Kulturelle Tatsachen werden nicht subjektiv in die Welt gesetzt. Ihr Substrat mag das Werk eines Einzelnen sein, seine Geltung als kulturelle Tatsache ist es nicht. Als Werk ist die kulturelle Tatsache »eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat«37. Wir können uns aber nicht vornehmen, eine kulturelle Tatsache schaffen zu wollen. Was als eine solche angesprochen wird, ist Sache ihrer Rezeption durch ein »plurales Subjekt«38. Simmel hat dazu ein doppeltes Gedankenexperiment formuliert. Gewiss hat das »Gravitationsgesetz gegolten, bevor Newton es aussprach« und dennoch ruhte »das Gesetz als solches […] nicht in den realen Materiemassen«; das war im Blick auf das Problem der Beobachter(un)abhängigkeit natürlicher Tatsachen gesagt. Aber angenommen, »jene Entdeckung Newtons stünde nur in einem Buch, von dem niemand weiß«, dieses den Menschen unbewusste Gravitationsgesetz hätte keinerlei »praktische Kulturbedeutung«, es könnte nie zu einer kulturellen Tatsache werden. Zweifellos wäre es eine natürliche Tatsache an sich, nicht aber auch für uns. Daraus lassen sich zwei Einsichten ableiten: (i) Die Entdeckung und die Formulierung natürlicher Tatsachen können selbst zu kulturellen Tatsachen werden. (ii) Werke mögen individuell oder gemeinschaftlich produziert sein (und sind insofern auch soziale Handlungen), aber zu kulturellen Tatsachen werden sie erst durch ihre kollektive Rezeption gemacht. Ebd., S. 62. Ebd., S. 88. 36 Einen anderen Vorschlag macht Tegtmeiers »negative kategoriale Ontologie der Tatsachenbereiche« (Grundzüge einer kategorialen Ontologie. Dinge, Eigenschaften, Beziehungen, Sachverhalte, Freiburg, München 1992, S. 138–183). 37 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24, S. 486. 38 Margaret Gilbert: On Social Facts, Princeton, NJ 1989. 34 35

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Eine solche Rezeption durch ein quantitativ vielleicht nicht immer genau bestimmbares plurales Subjekt heißt Geltung. Kulturelle Tatsachen existieren nicht, sie gelten. Von Hegel stammt die Formulierung, »daß das unmittelbare Wissen als Tatsache genommen werden soll.«39 Sie wiederholt sich im Stechlin Fontanes, wo gefragt wird: »Ja, ist es eine Tatsache?« »Schwer zu sagen. Aber es wird als Tatsache genommen. Und das ist ebensogut.« Prägnanter wird man die Logik kultureller Faktizität kaum fassen können: Sie zehrt von dem Einverständnis in ein Gelten-für oder Genommen-als. Philosophisch freilich ist sie schwer zu ertragen: Da muss etwas nicht unbedingt stimmen oder feststehen, um dennoch kulturell gelten zu können. Schlimmer noch scheint diese Zumutung für die zuvor getroffene semantische Unterscheidung zwischen möglichen und wirklichen Sachverhalten: von einem Sachverhalt ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob er besteht – und wird dennoch als Tatsache genommen. Aus diesem Grund verlangt die symbolische Als-Struktur der Geltung nach genauerer Analyse. Ernst Cassirer hatte Kultur als die »Welt des ›Menschen‹«40, als die symbolische Sphäre seiner Produkte, Handlungen und objektivierten Gedanken bestimmt und den Kulturwissenschaften die Aufgabe zugewiesen, »Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.«41 Während die Substrate der natürlichen Tatsachen einer von uns nicht selbst produzierten Welt durch quantitative Messung bestimmbar werden, sind die »Werke der Kultur«42 durch ihre Deutung konstituiert, sie können nur »als Symbole überhaupt Tatsachen sein«.43 Das ist der entscheidende Unterschied: Mögen die Substrate natürlicher Tatsachen – Erfahrungsgegenstände wie Sonne, Mond und Sterne oder Dinge, Teilchen und Wellen – auch vorsymbolisch da sein und werden dann für uns zu Gegenständen kraft der symbolischen Formen von Sprache und Wissenschaft (denn auch die »Wahrnehmung des Physikers [bezieht] sich nicht mehr auf ein Objekt, sondern auf Zahlenkolonnen, die ein Computer bereits vorausgewertet ausgibt«)44, so entstehen die Substrate kultureller Tatsachen allererst durch die uns zur Verfügung stehenden symbolischen Formen selbst. Und diese sind, das ist der zweite entscheidende Punkt, als »Anschauungs-, Begriffs- und Lebensformen«45 ihrerseits schon kulturelle Tatsachen. John Searle hat die Logik sozialer Faktizität, bei der wir Anleihen machen können, auf die Formel gebracht: »X gilt für Y in einem Kontext C« (X counts as Y in C).46 Searles notorische Beispiele sind bekannt: Ein Streifen Papier wird zur sozialen und ökonomischen Tatsache des Geldes, etwa zu einer 10€-Banknote, kraft jener »Statusfunktionen«, die ein 39 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830), TheorieWerkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M. 1986, § 66, S. 156. 40 Cassirer: Probleme der Kulturphilosophie, in: ECN 5, S. 68. 41 Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, in: ECW 24, S. 445. 42 Ebd., S. 456. 43 Ralf Becker: Der menschliche Standpunkt, Frankfurt/M. 2011, S. 276. 44 Ebd., S. 271. 45 Ebd., S. 277. 46 John Searle: The Construction of Social Reality, New York [u. a.] 1995, S. 55.

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plurales Subjekt auf es überträgt. Dieser selbst schon symbolische Vorgang kann sich in den aufgedruckten Zahlenwerten zugrunde liegenden Wertbedeutungen, in der Autorisierung durch die Europäische Zentralbank durch die Unterschrift ihres Präsidenten etc. symbolisieren. Zuweilen müssen alle diese Funktionen auch zusammen auftreten.47 Der Schritt von einer Sache X zu einer bestimmten Konvention (›gilt für Y‹) ist in jedem Fall der Schritt über das Stadium bloßen Daseins hinaus in eine Sphäre, in der Bedeutungen durch symbolisch-linguistische Systeme festgelegt werden. Bedeutungsfixierung wird durch den jeweiligen sozial kodierten Kontext C fundiert. Indem solche Statusfunktionen nur kraft der konventionell geregelten Symbolisierungen der Sprache gestiftet werden, ist der Schritt von den reinen Gegenständen zu den sozialen Tatsachen »eo ipso ein sprachlicher«, weil der X-Term nunmehr etwas symbolisiert, was jenseits seiner selbst liegt und nicht durch Kopfnicken oder Osmose festgelegt werden kann.48 Searles Modell ist zu allgemein, zu evident, um falsch sein zu können. Auch mag es nicht hinreichend komplex sein, um einer Theorie kultureller Faktizität zu genügen. Gleichwohl macht es den Ort sichtbar, an dem sie situiert werden kann – in den Statusfunktionen, Geltungskontexten und Kontextzuschreibungen selbst: X

counts as

Y

in C (Geltungskontexte)

Statusfunktionen Kontextzuschreibung Statusfunktionen, Geltungskontexte (Webers kulturelle Wertsphären) und deren Kontextzuschreibungen können kulturelle Tatsachen in einem emphatischen Sinn genannt werden. Denn sie gelten nicht nur, sondern sie bringen auch allererst etwas zur Geltung. Denn nur innerhalb solcher Kontexte kann ein Streifen bedruckten Papiers X die Funktion Y überhaupt durch Sprech- oder Schriftakte zugewiesen werden. Das schließt übrigens ein, dass sowohl die Statusfunktionen als auch die Geltungskontexte als auch deren Zuschreibungen der Kritik und damit ihrer möglichen Veränderung unterworfen sind. Sie markieren den Ort nicht abreißender, diskursiver Kulturkritik. Statusfunktionen und Kontextzuschreibungen, vor allem aber die Kontexte selbst erschöpfen sich deshalb auch nicht schon darin, soziale Fakten im Sinne Searles zu sein. Vielmehr entsprechen sie dem, was Simmel und Cassirer »Kulturformen«49 genannt haben. Sie stiften jene »Bedeutungszusammenhänge«, in denen »alles Faktische […] seinen klar bestimmten Sinn« erhält. Diese Kontexte stiften jene Bezüge, die sich auf die Beziehung von X und Y selbst richten. Kulturelle Faktizität, so der vierte Klärungsvorschlag, meint damit auch, dass wir jederzeit affirmativ oder kritisch, beschreibend oder problematisierend auf diese Kontexte selbst Bezug nehmen können; wir können auf unsere Kultur und ihre Tatsachen selbst reflek47 Margaret Gilbert spricht von »derived joint commitments« (vgl. Gilbert: Joint Commitment. How We Make the Social World, Oxford 2013). 48 Searle: The Construction of Social Reality, S. 63. 49 Vgl. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, ECW 24, S. 456; Simmel: Philosophie des Geldes, GA 6, S. 618.

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tieren. Darin schlummert das zunächst nur abstrakt zu formulierende Prinzip kultureller Faktizität: Es ist der Bezug auf die Beziehung der Bezogenen. Insofern Statusfunktionen und Kontexte immer auch die sedimentierte Geschichte der in ihnen abgelagerten Kritik-, Anerkennungs- und Geltungsprozessen enthalten, reicht eine bloß synchrone Perspektive sozialer Faktizität nicht aus. Sie muss – jedenfalls für kulturphilosophische Zwecke – um die diachrone Perspektive kultureller Faktizität ergänzt werden.

V. Logofaktizität Im Anschluss an Marcel Mauss und Emile Durkheim hat Claude Lévi-Strauss den Tausch als eine »totale soziale Tatsache« (fait social total) bezeichnet. Total deshalb, weil das Tauschverhältnis, etwa in seiner ritualisierten Form des potlatch indigener Stämme, nicht nur »zu einer Institution werden kann«, sondern »durch diesen grundlegenden Schritt den Übergang von der Natur zur Kultur« definiert.50 Denn hier werden in einer Art »Spiel des Tausches« (jeu d’échange) Gegenstände, soziale Werte oder Ehefrauen gleichsam zweckfrei getauscht. Genauer gesagt: Zweck dieses Spiels ist kein anderer als die Bestätigung des rituellen und sozialen Selbstverständnisses des Stammes. Eben dadurch aber ist er nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Tatsache: Geregelt wird nicht allein die Tauschbeziehung der Stammesangehörigen, sondern es wird darin zugleich auf diese Beziehung als Wesen der Gemeinschaft selbst reflektiert. Vielleicht erlaubt dieses Prinzip kultureller Faktizität als das einer meist virtuellen, aber prinzipiellen Reflexion auf die Beziehung der Bezogenen selbst nun auch, die zweifelsfrei sozialen Formen unserer gattungsgeschichtlichen Verwandten, der Primaten und ihrer Gemeinschaften, sehr wohl als Gebilde komplexer sozialer Gemeinschaften, nicht aber auch schon als solche der Kultur zu beschreiben. Dies nicht nur, weil Kultur per definitionem als eine »von Menschen geschaffene[.] Welt« (Cassirer), als »produktive Gestaltung der objektiven Welt« (Recki) verstanden werden soll, sondern auch, um anthropologisch wie ethologisch sinnvollen Unterscheidungen nicht ihren heuristischen Nutzen zu rauben. Kulturelle Tatsachen, so lässt sich festhalten, gewinnen überhaupt nur in Gestalt ihrer symbolischen Formen eine Gegenwart. Umgekehrt sind symbolische Formen selbst schon kulturelle Tatsachen. Mit natürlichen Tatsachen haben die kulturellen gemein, dass sie auf Erfahrungsgegenstände referieren können, mit sozialen Tatsachen, dass sie menschlichen Handlungen entspringen. Als ›Kultur‹ sprechen wir an, was sich weder in Artefakten noch in sozialen Handlungen erschöpft. Gemeint ist etwas, das weder nur instantan geschieht noch aber einfach sich herbeiführen lässt, sondern auch seine eigene Geschichte ist. Der Erfahrungsgegenstand eines Sitzungssaals mitsamt seiner Stuhlverteilung könnte demnach, anders vielleicht als noch seine Errichtung, nicht nur als eine soziale, sondern auch als eine kulturelle Tatsache angesprochen werden. Dann nämlich, wenn er im Ganzen etwas von der kulturellen Physiognomie etwa unserer republikanischen Claude Lévi-Strauss: Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1949, S. 73; dt. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981, S. 121. 50

Kulturelle Faktizität

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Institutionen sehen lässt; etwas davon, was und wie in diesem Saal verhandelt wird; etwas von den Hierarchien und Rücksichten, von den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der in ihm stattfindenden Diskurse. Natürliche Tatsachen sind; soziale Tatsachen geschehen; kulturelle Tatsachen gelten. Diese notwendig unterkomplexe Pointierung nutzt die ganze Doppelsinnigkeit des Tatsachenbegriffs und seiner Unterscheidung in das, worin ein Faktum besteht und das, woraus es besteht. Auch der Begriff der kulturellen Tatsache partizipiert an dem Doppelcharakter dieses Begriffs von Faktizität, der auf Gegenstände referiert, die vorfallen (Ereignisse, Situationen, Dinge) und zugleich Sachverhalte meint, die bestehen.51 Es mag helfen, dieses verwirrende Janusgesicht unseres Tatsachenverständnisses nicht als ein terminologisches Ärgernis, sondern als Explikationsgewinn zu verstehen, dessen Erklärungspotential die ›Logik‹ kultureller Tatsachen erschließt. Sprach- und Schriftlichkeit hat für kulturelle Tatsachen eine vielleicht noch stärkere Bedeutung als für soziale (unbewusst-intentionale Handlungen mögen auch ohne explizite Sprache auskommen). Zugleich aber können kulturelle auch die dingliche Gestalt natürlicher Tatsachen gewinnen. Man könnte, so der fünfte und letzte Klärungsvorschlag, diese ihre Gestalt die Form der ›Logofaktizität‹ nennen. Kulturelle Tatsachen sind Tatsachen und sie sind Tatsachen. Angemessen begreifen lassen sie sich nur in ihrer logofaktischen Doppelnatur als sprachliche Vergegenwärtigung von etwas, das sowohl Artefakt, Handlung und Sprache sein kann, aber erst kraft bestimmter Statusfunktionen in kulturellen Kontexten zur Geltung kommt. Dazu muss es von einem pluralen Subjekt als eine Tatsache rezipiert werden, welche zugleich die Möglichkeit der Reflexion auf dessen eigenes, humanes Selbstverständnis einschließt. Vielleicht lässt sich so ein Gegenstand begrifflich präzisieren, der gleichwohl nicht dazu verleiten darf, aus der Kulturphilosophie eine Disziplin der Verbuchung von faits culturels zu machen.

Literatur Austin, John L.: Philosophical Papers, Oxford 1961. Becker, Ralf: Der menschliche Standpunkt, Frankfurt/M. 2011. Carnap, Rudolf: »Die alte und die neue Logik«, in: Erkenntnis 1 (1930), S. 12–26. Cassirer, Ernst: »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs«, in: Birgit Recki (Hg.): Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe [ECW] Bd. 17, Hamburg 2004, S. 342–359. – »Zur Logik der Kulturwissenschaften«, in: ECW Bd. 24, Hamburg 2007, S. 357–486. – »Probleme der Kulturphilosophie«, in: Klaus Christian Köhnke/John Michael Krois/Oswald Schwemmer (Hg.): Nachgelassene Manuskripte und Texte [ECN] Bd.5, Hamburg 2004, S. 29– 104. Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt/M. 2001. 51

Vgl. Patzig, »Satz und Tatsache«, S. 24.

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Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Bernhard Groethuysen (Hg.): Gesammelte Schriften [GS] Bd. 7, Leipzig, Berlin 1927. Durkheim, Émile: Montesquieu et Rousseau, précurseurs de la sociologie, hg. von Armand Cuvillier, Paris 1953. Frege, Gottlob: Begriffsschrift, Hildesheim 1964. Gilbert, Margaret: On Social Facts, Princeton 1989. – Joint Commitment. How We Make the Social World, Oxford 2013. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: TheorieWerkausgabe, Bd.8, Frankfurt/M. 1986. Horkheimer, Max: »Der neueste Angriff auf die Metaphysik«, in: Alfred Schmidt/Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Max Horkheimer Gesammelte Schriften [GS] Bd. 4, Frankfurt/M. 1988, S. 108–161. Konersmann, Ralf: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt/M. 2006. Lévi-Strauss, Claude: Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1949. – dt. Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt/M. 1981. Ockham, Wilhelm von: Summa logicae I, hg. von Philotheus Boehner, St. Bonaventure, NY 1950. Parsons, Talcott: The Structure of Social Action, Glencoe/Ill. 1937. Patzig, Günther: »Satz und Tatsache«, in: ders.: Gesammelte Schriften Bd. IV, Göttingen 1996, S. 9–42. Searle, John R.: The Construction of Social Reality, New York [u. a.] 1995. Simmel, Georg: »Philosophie des Geldes«, in: Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel Gesamtausgabe [GA] Bd. 6, Frankfurt/M. 1989. Tegtmeier, Erwin: Grundzüge einer kategorialen Ontologie. Dinge, Eigenschaften, Beziehungen, Sachverhalte, Freiburg, München 1992. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 1963. – Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus Bd. I–II, hg. von Johannes Winckelmann, Hamburg 1972/1973. Whitehead, Alfred N.: Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1927. Znaniecki, Florian: Cultural Reality, Chicago 1919.

KOLLO QUIUM 19 Moralischer Realismus und politische Philosophie Kolloquiumsleitung: Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin Einführung Charles Larmore Die moralische Grundlage des politischen Liberalismus Barbara Zehnpfennig Wahrheit in der Demokratie Elif Özmen Pluralismus und das Ringen um Wahrheit Eine kurze Apologie der liberalen Demokratie Lutz Wingert Gut für alle zusammen? Oder was könnten Demokraten in einer Demokratie erkennen?

Einführung »Moralischer Realismus und politische Philosophie« Julian Nida-Rümelin (München)

Ethik und normative politische Philosophie sind die beiden bedeutendsten Subdisziplinen desjenigen Feldes, das heute meistens als praktische Philosophie bezeichnet wird. Zu dieser gehören zudem die Handlungs- und Rationalitätstheorie, die Philosophie kollektiver Intentionalität, die Sozialphilosophie, die Rechtsphilosophie u.v.m. Anlass, dem Veranstalter ein Kolloquium zum Thema »Moralischer Realismus und politische Philosophie« für diesen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie vorzuschlagen, ist eine auffällige Divergenz. Diese Divergenz möchte ich in dieser Einführung umreißen. Mit dem Soziologen Max Weber und dem Philosophen George Edward Moore beginnt eine lange Phase des Niedergangs der philosophischen Ethik unter dem Vorzeichen des Subjektivismus. Weber ist der Autor, dessen Relevanz im philosophischen Fach vielleicht am deutlichsten unterschätzt wird. Er hat in vielen Schriften – exemplifiziert in soziologischen Studien, deren berühmteste Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904) ist – für die Objektivität und Wertfreiheit1 plädiert und dabei suggestive Formulierungen gefunden, die bis heute jedenfalls außerhalb des Faches Philosophie nachwirken. Da ist einmal von der prinzipiellen Trennung der Wert- und der Tatsachensphäre die Rede (eine Trennung, die auch Moore mit seiner Kritik des naturalistischen Fehlschlusses in Principia Ethica substanziiert), vor allem von dem existenziellen Charakter von Wertentscheidungen und der Rationalisierung normativer Fragen durch die Reduktion auf Mittel-Ziel-Bestimmungen, wobei die Ziele in letzter Instanz der rationalen Kritik nicht mehr zugänglich sind. Weber fordert eine Verantwortungsethik, die sich klar macht, welche Ziele welche Kosten hätten, und formuliert mit einigem frühexistenzialistischen Pathos zwei heroische Figuren: desjenigen, der Wissenschaft zum Beruf erkoren hat2, und desjenigen, der Politik zum Beruf erkoren hat. Letzterer braucht ein Ethos des geduldigen Bohrens dicker Bretter unter Bedingungen interessengesteuerter Meinungsmache und ersterer braucht ein Ethos der Distanz, auch in den eigenen Wertungen. Ein Begleitphänomen der Weber’schen Rationalisierung von Wissenschaft und Politik ist die radikale Subjektivierung der Werte im doppelten Sinne: als Produkte der Kultur (wobei Weber die Kulturbedeutung der Gegenstände nur für die Sozialwissenschaften, nicht aber für die Naturwissenschaften als konstitutiv ansieht) und als Entscheidung für die eine oder andere Werteordnung. Dezisionismus, Kulturalismus und Existenzialismus Vgl. Weber, Max: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis.« und »Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften.«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. 2 Vgl. ebd.: »Wissenschaft als Beruf«. 1

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gehen eine frühe und brisante Mischung ein.3 Webers wissenschaftstheoretische Auffassungen sind überaus komplex und sie passen nicht in das Schema einer positivistischen Wissenschaftsauffassung. Mit den Weber’schen Idealtypen wird eine Kategorie eingeführt, die erst viele Jahrzehnte später in Gestalt von Thomas S. Kuhns Paradigmen-Theorie und den sich darauf stützenden Versuchen, wenigstens einen Teil wissenschaftlicher Rationalität zu retten, bei Imre Lakatos oder Wolfgang Stegmüller, ihren systematischen Niederschlag findet. Aber die Trennungs-These überlebt, jedenfalls außerhalb der Philosophie, besonders in den Sozialwissenschaften. Die Nicht-Universalisierbarkeit von Wertentscheidungen, die Kulturgebundenheit von Werten und Normen, die Subjektivität der jeweils gewählten Lebensform und der damit verbundenen Wertungen, die prinzipielle Unzugänglichkeit letzter Ziele, die sich nicht mehr rational aufhellen lassen, das existenzialistische Motiv des Standhaltens und der Selbsterfindung, dies wirkt bis in die Gegenwart nach, es erfasst nicht nur den damaligen Zeitgeist. Weber, so scheint es, hat das Spezifikum moderner Wissenschaft und moderner Politik in Gestalt einer doppelten Wert-Freiheit erfasst. Fast zeitgleich erarbeitet der Philosoph Moore, einer der beiden Gründerväter des britischen Zweigs der entstehenden analytischen Philosophie, seine Principia Ethica.4 Man kann diese umfassende Schrift im Rückblick als ein letztes Aufbäumen eines objektivistischen Werteverständnisses vor dem dann in der analytischen Philosophie dominant werdenden Subjektivismus ansehen. Moore teilt mit Weber die These der Trennung der Wert- und der Tatsachensphäre, aber Moore interpretiert die Wertsphäre ganz anders, nämlich in Analogie zu sekundären Qualitäten, z. B. Farbeigenschaften. Eine Farbeigenschaft wie z. B. gelb zu sein ist nicht mehr weiter analysierbar oder definierbar. Wer gelb durch das Frequenzspektrum der elektromagnetischen Strahlen definiert, die Gelb-Wahrnehmungen auslösen, verwechselt die Eigenschaft gelb zu sein mit den physikalischen Ursachen der Gelb-Wahrnehmung. Farbeigenschaften sind unmittelbar wahrnehmbar und ganz analog verhält es sich mit moralischen Eigenschaften, genauer mit Werteigenschaften. Mit anderen Worten: Wir alle wissen, was gelb ist, vor aller Physik, und wir alle wissen, was gut ist, vor aller (philosophischen) Ethik. Die philosophische Ethik kommt nach Moore erst ins Spiel, wenn es darum geht zu bestimmen, welches die richtige Handlung ist, wobei diese das Gute in der Welt optimiert. Was das Gute in der Welt jeweils optimiert, ist jedoch eine oft schwierig zu beantwortende Frage, die sich aber nicht auf Werte bezieht, sondern auf die empirischen Bedingungen ihrer Realisierbarkeit. Moore kann als Anti-Existenzialist, Anti-Dezisionist, Anti-Subjektivist, also gerade als das Gegenteil Webers charakterisiert werden. Die Klischees passen hier: Britischer common sense gegen deutsche Maßlosigkeit. Aber während Weber für den Stil der intellektuellen Debatten auf Jahrzehnte hinaus in Europa prägend wirkt, trifft der lebensweltlich verankerte ethische Intuitionismus Moores den damaligen philosophischen Zeitgeist nicht und das hält an bis in die 1980er Jahre. Der Fokus philosophischer Forschung verschiebt sich jedenfalls im englischen Sprachraum in Richtung Sprachphilosophie, Lo3 4

Vgl. ebenso Leo Strauß: Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, 1.Kapitel. Vgl. G.E. Moore: Principia Ethica, Cambridge 1959.

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gik, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie und als Residuum normativer Ethik bleibt die Analyse moralischer Prädikate wie good. Die Überführung von Ethik in Sprachphilosophie ist die Antwort auf den erkenntnistheoretischen Subjektivismus hinsichtlich normativer Fragen. Dieser Subjektivismus scheint wohlbegründet zu sein: Fakten sind empirische Fakten. Jenseits natürlicher Tatsachen gibt es nichts, kein synthetisches a priori, keine Werte, keine Normen, allenfalls Logik, aber auch dies wird von dem jungen Ludwig Wittgenstein zurückgewiesen.5 Wenn es keine normativen Tatsachen, keine normativen Sachverhalte, keine Wahrheitsfähigkeit normativer Stellungnahmen gibt, dann bleibt nur die subjektivistische Interpretation. So plausibel dieser Subjektivismus aus der Perspektive der auf die Physik fokussierten analytischen Wissenschaftstheorie erscheint, so verwunderlich ist, dass das Gros der ethischen Beiträge analytischer Provenienz der sogenannten ordinary language philosophy angehört, also desjenigen in Großbritannien lange Zeit deutlich dominierenden Zweiges der analytischen Philosophie, der den Ausgang philosophischer Klärung in der Analyse der Normalsprache sucht. Subjektivisten wie Alfred Jules Ayer6 oder Charles Stevenson7 schlagen tatsächlich eine Bedeutungsanalyse von good vor, die zwar dem subjektivistischen Programm gerecht wird, aber nicht dem Sprachgebrauch. Dieser auffällige Missstand hält über Jahrzehnte an. Etwas besser wird es mit dem Aufkommen des sogenannten universellen Präskriptivismus Richard Mervyn Hares8, der die Moralsprache als imperative Sprache versteht, aber moralische Imperative von gewöhnlichen Imperativen dadurch unterscheidet, dass jene, anders als letztere, Begründungspflichten mit sich bringen und in vergleichbaren Situationen jeweils Geltung beanspruchen müssen. Hare glaubt, aus dieser logischen Analyse der Moralsprache eine ganze Theorie hervorzaubern zu können, nämlich den Akt-Präferenz-Konsequentialismus – was allerdings mit dem Verbot kreativer Schlüsse in der Logik nur schwer in Einklang zu bringen ist.9 Erst John Mackie, der Kausalitäts-, Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker, bereitet diesem Spuk in seiner kleinen Schrift Ethics: Inventing Right And Wrong (1977) ein Ende: Er akzeptiert, dass die Moralsprache zweifellos objektivistisch zu interpretieren ist. Da Mackie aber an den wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Argumenten, die vermeintlich gegen eine Objektivität von Werten und Normen sprechen, festhält, bleibt ihm nun der Ausgang einer Hybrid-Theorie: Objektivismus erster Ordnung (in der normativen Ethik) und Subjektivismus zweiter Ordnung (in der Metaethik). Das damit verbundene sacrificium intellectus liegt auf der Hand – ein Heroismus ganz eigener, vielleicht australischer Art. Diese Intervention Mackies, durch keine anspruchsvollen metaethischen Argumente gestützt, war überaus erfolgreich: Das Programm der Überführung von Ethik in Sprachphilosophie kann seitdem als gestoppt gelten. Aber der Vorschlag, eine objektivistische normative Ethik mit einer subjektivistischen Metaethik zu verbinden, überzeugte nur die Vgl. Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 1922, Frankfurt/M. 1963. Vgl. A.J. Ayer: Freedom and Morality and Other Essays, Oxford 1984. 7 Vgl. Charles Stevenson: »The emotive meaning of ethical terms«, in: Mind, 46 (1937): S. 14–31. 8 Vgl. Richard M. Hare: The Language of Morals, Oxford 1952. 9 Franz von Kutschera hat dies in aller Klarheit und Kürze in ders.: Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, Freiburg, München 1973 ausgedrückt. 5 6

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wenigsten und so ist es nicht verwunderlich, dass wenige Jahre später eine für unmöglich gehaltene Renaissance des moralischen Realismus einsetzt. Dieser moralische Realismus ist ganz überwiegend naturalistisch geprägt oder jedenfalls von einer naturalistischen Metaphysik angeleitet, versteht es aber, mit mehr oder weniger Geschick die Klippen des naturalistischen Fehlschlusses zu umgehen und die Kluft zwischen erkenntnistheoretischem Subjektivismus und moralischer Objektivität, wie wir sie in unserer Sprachpraxis voraussetzen, zu überbrücken.10 Da die naturalistische Prägung durch die analytische Philosophie nach wie vor stark bleibt und die Kritik naturalistischer Ethik als Programm der Überführung von Ethik in Sozialwissenschaft oder gar Naturwissenschaft fortwirkt, bleibt die Skepsis gegenüber diesem Programm weit verbreitet. Aber auch die Skeptiker sehen sich gezwungen, dem objektivistischen Charakter unserer Moralsprache und dem argumentativen Gehalt normativer Diskurse in der einen oder anderen Form gerecht zu werden. Ein prominenter Versuch hierzu ist das, was man heute meist als Kantian constructivism bezeichnet, den ursprünglich John Rawls in den Dewey-Lectures eingeführt hat, um seine Position zu umreißen. Sowohl Rawls als etwa auch Christine Korsgaard legen Wert darauf, dass diese Form des Kantian constructivism beides sei, nämlich vereinbar mit der naturalistischen Metaphysik und Erkenntnistheorie, aber auch mit dem objektivistischen Charakter normativer Diskurse.11 Subjektivisten mutieren zu Quasi-Realisten (Simon Blackburn12) oder Norm-Expressivisten (Allan Gibbard13). Auch im deutschen Sprachraum werden mehr oder weniger hybride Formen des moralischen Realismus entwickelt (Peter Schaber, Olaf Müller, Tatjana Tarkian, Gerhard Ernst14). Und beiderseits des Atlantiks gibt es vereinzelte, explizit nicht-naturalistische ethische Realisten, wie Ronald Dworkin, Thomas Scanlon oder in Deutschland Franz von Kutschera.15 Auffällig ist nun der Kontrast zur politischen Philosophie: Selbst in dem ureigenen Feld realistischer Interpretationen, nämlich im Menschenrechtsdiskurs, gibt es realistische Positionen allenfalls im Umfeld katholisch geprägten Naturrechts-Denkens.16 Gerech-

10 Vgl. Richard Boyd: »How to Be a Moral Realist.«, in: Geoffrey Sayre-McCord (ed.): Essays on Moral Realism, Ithaca, London 1988, S. 181–228 und Peter Railton: »Moral Realism«, in: The Philosophical Review, Vol. 95, No. 2 (1986), S. 163–207. 11 Vgl. John Rawls: »Kantian Constructivism in Moral Theory«, in: ders.: Collected Papers. Edited by Samuel Freeman, Cambridge 2001, S. 303–358. Christine Korsgaard: Self-Constitution, Oxford 2009. 12 Vgl. Simon Blackburn: Essays in Quasi-Realism, Oxford 1993. 13 Vgl. Alan Gibbard: Wise Choices, Apt Feelings, Cambridge, MA 1992. 14 Vgl. Peter Schaber: Moralischer Realismus, Freiburg 1997; Olaf Müller: Arten ethischer Erkenntnis: Plädoyer für Respekt vor der Moral, Paderborn 2007; Tatjana Tarkian: Moral, Normativität und Wahrheit: Zur neueren Debatte um Grundlagenfragen der Ethik, Paderborn 2009; Gerhard Ernst: Die Objektivität der Moral, Paderborn 2008. 15 Vgl. Thomas Scanlon: What we owe to each other, Cambridge MA 2000; Ronald Dworkin: Justice for Hedgehogs, Cambridge MA 2013; Franz von Kutschera: Grundlagen der Ethik, Berlin 1982. Meine eigene Position eines nicht-naturalistischen, kohärentistischen ethischen Realismus wird demnächst in dem Diskussionsband: Dietmar von der Pfordten (Hg): Moralischer Realismus? Zur kohärentistischen Metaethik Julian Nida-Rümelins, Münster 2015 präsentiert. Vgl. auch Julian Nida-Rümelin: Ethische Essays, Frankfurt/M. 2001, 1.Teil. 16 Vgl. John Finnis: Natural Law and Natural Rights, Oxford 1980.

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tigkeit wird über die Kontingenzen eines geteilten Gerechtigkeitssinns charakterisiert17, vor allem aber kulturalistisch und kommunitaristisch gefasst18 oder auch postmodern als Kontingenz spezifischer kultureller Praktiken, ironisch und ohne Objektivitätsanspruch eingebracht19. Auch Jürgen Habermas enthält sich weitgehend der inhaltlichen Stellungnahme, wohl aus einer republikanischen Haltung heraus, wonach es Sache der jeweiligen Bürgerschaft ist, zu bestimmen, was ihr gut und begründet erscheint. Eine realistische Interpretation normativer Regeln würde diesem kollektiven Selbstbestimmungsrecht zuwider laufen.20 Ich sehe nur zwei Residuen eines normativen Realismus in der politischen Philosophie der Gegenwart: Zum einen die Schrumpfform in Gestalt libertärer politischer Philosophie, wonach die Locke’schen Individualrechte unbezweifelbar und fundamental seien, alles übrige (Solidaritätspflichten, Kooperationsregeln, Gerechtigkeit), aber lediglich den Status subjektiver Handlungsmotive habe.21 Zum anderen sind auch in der marxistisch inspirierten zeitgenössischen Philosophie realistische Argumente präsent.22 Eines der Hindernisse für eine stärkere Annäherung realistischer Ethik und politischer Philosophie mag darin liegen, dass eines der zentralen Ziele politischen Denkens und politischer Praxis die Moderation von Konflikten ist. Die zivile Gesellschaft ist durch friedlichen Konfliktaustrag charakterisiert. Wie aber können Konflikte in friedlicher Form ausgetragen werden, wenn sie als Konflikte unvereinbarer normativer Wahrheitsansprüche gelten? Die Befriedung durch normative Indifferenz und die Überführung von Wertungsin Interessenkonflikte hat eine starke Tradition im europäischen politischen Denken. Auch die Zurückdrängung des Religiösen und des Spirituellen aus der politischen Sphäre kann man als Ausdruck dieser Form der Befriedung interpretieren. In dieser Sichtweise erscheint dann Wahrheit als Fremdkörper in der Demokratie.23 Erst die Rationalisierung von Konflikten, ihre Reduktion auf Subjektives und Ökonomisches, erlaubt den Kompromiss. Dem steht allerdings die Praxis der Begründung im öffentlichen Raum gegenüber. Hier werden Argumente vorgebracht, warum das eine oder das andere politische Projekt gerecht oder ungerecht sei, dem Gemeinwohl diene oder nur Partikularinteressen. Die Form der politischen Diskurse ist offenkundig objektivistisch, wie auch die Form der moralischen. Ist dann die institutionell gestützte Deliberation politischer Fragen nichts anderes als ein großes Illusionstheater, eine Bühne, hinter der sich die nackten ökonomischen Interessen, eingebracht von Lobbygruppen, Berufsverbänden, Konzernen und Gewerkschaften verbergen? Sogenannte pluralistische Demokratietheorien haben diese

Vgl. John Rawls: Political Liberalism, New York 1993. Vgl. Michael Walzer: Spheres of Justice: a defense of pluralism and equality, New York 1983 und Alasdair MacIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981. 19 Vgl. Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989. 20 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1998, S. 600–631. 21 Vgl. Robert Nozick: Anarchy, State, and Utopia, New York 1974. 22 Vgl. etwa Gerald Cohens letztes Buch If you’re an Egalitarian, how come you’re so rich?, Cambridge MA 2001. 23 Etwas ausführlicher habe ich mich damit insbesondere im ersten Kapitel von Demokratie und Wahrheit, München 2006 auseinandergesetzt. 17 18

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Interpretation zum Ausgangspunkt ihrer Analysen genommen. Während sich also der Konflikt zwischen objektivistischer Moralpraxis und Moralsprache und subjektivistischer Metaethik zugunsten ersterer auflösen lässt, scheint eine analoge Auflösung für die politische Philosophie unmöglich. Ist die Ewigkeitsgarantie von Artikel 1, Absatz 1 des Deutschen Grundgesetzes nur Rhetorik, wie die Rede von der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte? Ist das erkenntnistheoretische Schisma zwischen Ethik und politischer Philosophie unaufhebbar? Ist die Demokratie nur ohne normative Wahrheitsansprüche, jedenfalls in der politischen Sphäre, zu haben? Lassen sich Wertungsdifferenzen in Interessendifferenzen auflösen? Ist die politische Sphäre am Ende als Markt mit Produzenten und Konsumenten zu verstehen, auf dem es Interessenoptimierung, aber keine Klärung normativer Sachfragen gibt? Ist das deliberative Moment der Demokratie nur eine irreführende Form des Interessenaustrags? Diese hier skizzierte Problemstellung war das Motiv, vier Kolleginnen und Kollegen einzuladen, ihre Gedanken zum Verhältnis von Ethik und politischer Philosophie und speziell die realistische Herausforderung zur Diskussion zu stellen. In seinem Beitrag »Die moralische Grundlage des politischen Liberalismus« legt Charles Larmore dar, welches die normative Grundannahme ist, ohne die auch eine freistehende politische Theorie wie der politische Liberalismus – d. h. eine Theorie, die nicht beansprucht, »eine umfassende Theorie des guten menschlichen Lebens auf den Bereich des Politischen anzuwenden« – nicht auskommt. Larmore zufolge handelt es sich hierbei um das Prinzip des Respekts vor Personen. Personen gilt es ernst zu nehmen und zwar gerade in derjenigen Fähigkeit, die sie zu Personen macht, d. h. in ihrer Fähigkeit, »aufgrund von Gründen zu denken und zu handeln.« Im politischen Kontext, der dadurch gekennzeichnet ist, dass der Staat die Bürger zur Befolgung seiner Gesetze zwingen kann, bedeutet dies, dass nur solche Gesetze erlassen und erzwungen werden dürfen, die einzuhalten alle Bürger Grund haben. Nur vor dem Hintergrund dieses moralischen Prinzips wird verständlich, warum sich zeitgenössische liberale Theorien, wie etwa die von Rawls und Habermas, so sehr darum bemühen, nicht auf umstrittene Auffassungen über das menschlich Gute zurückzugreifen. Denn in Zeiten vernünftiger Meinungsverschiedenheiten hieße dies, hinter das Prinzip des Respekts vor Personen zurückzufallen. Larmores Beitrag deckt also nicht nur die moralischen Grundlagen des politischen Liberalismus auf, sondern versucht auch zur Selbsterkenntnis seiner prominentesten Vertreter beizutragen. Dabei behauptet Larmore aber nicht, dass jeder Mensch über Gründe verfügt, das Prinzip des Respekts vor Personen einzusehen. Denn obwohl es universelle Geltung beanspruchen kann, »brauchen wir manchmal eine bestimmte Geschichte und müssen bestimmte Erfahrungen gemacht haben«, um die Gründe für ein Prinzip einsehen zu können. In ihrem Beitrag »Wahrheit in der Demokratie« legt Barbara Zehnpfennig in einem ersten Teil (I und II) offen, dass auch in Demokratietheorien, die eigentlich die Frage nach dem Wahrheitsanspruch normativer Aussagen vertagen wollen, normative Weichenstellungen getroffen werden. Anders als Joseph Schumpeter, Ernst Fraenkel, die moderne Vertragstheorie, der Konstruktivismus, die deliberative und die postmoderne Demokratietheorie behaupten, kommen auch ihre Ansätze nicht ohne Wahrheit aus – »hinter allen Versuchen, die normative Grundlage der Demokratie in Verständigungs-

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prozesse zwischen den Beteiligten oder in Verfahren aufzulösen, verbergen sich doch wieder Setzungen, die absolut genommen werden.« Doch auch wenn das Beanspruchen von Wahrheit für Demokratietheorien unausweichlich scheint, bleibt die Frage offen, wie dieser Anspruch einzuholen ist. Dieser Frage geht Zehnpfennig im zweiten Teil ihres Textes nach (III), in dem sie untersucht, welches der »Ort« von Wahrheit sein könnte. Als Inspiration dient ihr die Prämissenprüfung, zu der Platons Sokrates seine Dialogpartner nötigt. In dieser offenbart sich, dass wir zwar noch nicht wissen, was richtig ist, aber davon ausgehen, dass diese Frage beantwortet werden kann und in der widerspruchsfreien Begründung beantwortet werden wird. In der »Möglichkeit, seine Freiheit zur Wahrheitssuche zu nutzen« liegt nach Zehnpfennig der »unendliche Wert der Demokratie«. In ihrem Text »Pluralismus und das Ringen um Wahrheit. Eine kurze Apologie der liberalen Demokratie« will Elif Özmen die liberale Demokratie vor denjenigen verteidigen, die ihr trotz ihrer Erfolgsgeschichte eine Krise attestieren. Özmen zufolge gibt es keine akzeptable Alternative zu einer liberalen Demokratie, weil deren epistemischer und moralischer Kern – »ein normativer Individualismus, eine Konzeption gleicher Freiheit, eine Minimal-Moral dessen, was wir uns wechselseitig schulden sowie eine von epistemischem Optimismus getragene Norm rationaler Akzeptabilität« – objektiv begründet ist. Damit wendet sich Özmen gegen einen demokratischen Subjektivismus, der zwar auch bestimmte Normen für die Demokratie voraussetzt, für diese aber keine objektive Geltung beansprucht, sondern sie lediglich als »einen (historisch und gesellschaftlich) kontingenten Konsens« betrachtet. Der demokratische Subjektivismus kam Özmen zufolge auf, um eine Antwort auf das Faktum des Pluralismus zu geben. Doch obwohl ein umfassender Pluralismus der normativen Annahmen für die liberale Demokratie wenn nicht ein Problem, so doch zumindest eine Herausforderung darstellt, darf diese hieraus nicht den Schluss ziehen, dass ihr wohlbegründeter moralischer Kern nicht gelte. An diesem ist festzuhalten und nur vor diesem kann Pluralismus Özmen zufolge letztlich als Wert erscheinen. Denn nur die »gleiche Freiheit der Menschen, zu tun, was ihnen beliebt, zu begehren, was ihnen vernünftig, nützlich und gut erscheint, führt eben zu Individualisierungen, Unterschieden und Differenzen ihrer Interessen, Überzeugungen und Weltanschauungen, oder anders gesagt: führt eben zu Pluralismus.« In seinem Aufsatz »Gut für alle zusammen? Oder was könnten Demokraten in einer Demokratie erkennen?« widmet sich Lutz Wingert schließlich einem erkenntnistheoretischen Aspekt der Demokratie. Denn man kann nicht nur fragen, ob im Verhältnis von Politik und Moral wechselseitige Stützung oder Konflikt vorliegen, sondern auch, ob bestimmte Politikformen wie etwa die Demokratie erkenntnisfördernd sind. Wingert bejaht diese These. Denn die Demokratie erfordert mit anteilnehmender Kritik und entrelativierendem Perspektivenwechsel »erkenntnisbezogene Einstellungen«, die auf Objektivität ausgerichtet sind. Durch diese Einstellungen können dabei insbesondere Kollektivgüter erkannt werden, die Wingert zufolge die Antwort auf die Fragen darstellen »Was ist das Gemeinwohl? Was ist gut für alle zusammen?« Die Einsicht, dass bei der Bereitstellung von Kollektivgütern sichtbare Reziprozität geboten ist, ist für Wingert eine normative Wahrheit, welche die Demokratie ihren Mitgliedern aufdrängt.

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Die moralische Grundlage des politischen Liberalismus1 Charles Larmore (Providence)

I. Einführung Die Veröffentlichung der Debatte zwischen John Rawls und Jürgen Habermas in The Journal of Philosophy (1995) war ein wichtiges und lang erwartetes intellektuelles Ereignis.2 Die beiden bedeutendsten politischen Philosophen unserer Zeit bezogen wechselseitig Stellung zu ihren Konzeptionen politischer Legitimität und sozialer Gerechtigkeit, des Wesens von Bürgerschaft und der Ziele politischer Argumentation. Wir erfuhren, was Rawls und Habermas – zu Recht oder zu Unrecht – für die philosophischen Stärken und Schwächen des jeweils anderen hielten, wobei Habermas den Fokus eher auf die Differenzen beider Konzeptionen legte, während Rawls, trotz wichtiger Differenzen, deren Gemeinsamkeiten zu akzentuieren suchte. Meiner Ansicht nach sind sie sich weit ähnlicher als Habermas annahm, auch wenn diese Ähnlichkeit nicht so geartet ist, wie Rawls sich das vorstellte. Die grundlegende Übereinstimmung der beiden Denker liegt meines Erachtens in einem gemeinsamen Versäumnis begründet. Sowohl Rawls als auch Habermas verfolgen das Ziel, mit den überkommenen ethischen bzw. religiösen Fundamenten des Politischen zu brechen und die Kernprinzipien liberaler Demokratie im Rahmen einer ›freistehenden‹ oder ›autonomen‹ Konzeption neu zu formulieren. Der Liberalismus muss in den Augen beider eine strikt politische Basis haben, um von den Bürgern, die er bindet, akzeptiert werden zu können. Dieses Projekt eines »politischen Liberalismus« verfolge auch ich.3 Allerdings verlieren sowohl Rawls als auch Habermas, auch wenn ihre Theorien nicht auf einer allgemeinen Auffassung des Menschen beruhen, die moralischen Annahmen aus den Augen, die diesem Projekt vorausgehen und auf denen die Prinzipien liberaler Demokratie beruhen müssen. Die Übereinkunft vernünftiger Bürger kann nicht, wie von Rawls und Habermas angenommen, der letzte Quell politischer Autorität sein. Sie beruht ihrerseits auf dem Prinzip wechselseitigen Respekts, dessen Geltung dem demokratischen Willen vorausgeht. Da ich mit Rawls’ Position, wie er sie zu Beginn seines Werkes Politischer Liberalismus formuliert, übereinstimme, möchte ich seine Argumentationslinie kurz nachzeichnen.4 Dieser Text ist eine gekürzte, übersetzte Version des sechsten Kapitels aus Charles Larmore: The Autonomy of Morality, Cambridge 2008. Übersetzung durch Elizabeth Bandulet. 2 Vgl. für die deutsche Übersetzung Jürgen Habermas: »Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch«, in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1997, S. 169–195 und John Rawls: »Erwiderung auf Habermas«, ebenda, S. 196–262. 3 Vgl. Charles Larmore: The Morals of Modernity, Cambridge 1996, Kap. 6. 4 Vgl. John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 2003, S. 76 f. 1

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Eine politische Konzeption ist Rawls zufolge freistehend, sofern sie nur jene Prinzipien umfasst, die das politische Leben der Gesellschaft regeln sollen. Sie beansprucht nicht, eine umfassende Theorie des guten menschlichen Lebens auf den Bereich des Politischen anzuwenden. Natürlich lässt sich eine so verstandene politische Konzeption in ein umfassenderes ethisches, religiöses oder metaphysisches Weltbild einbetten. Tatsächlich ist Rawls der Meinung, dass eine solche Konzeption nur dann völlig gerechtfertigt wird, wenn sie Ausdruck eines gemeinsamen Nenners oder eines »überlappenden Konsenses« der in unserer Gesellschaft gängigen unterschiedlichen Vorstellungen vom guten Leben ist. Nur dann nämlich können die Bürger aufgrund ihrer unterschiedlichen Gesamtauffassungen des Sinns des Lebens Gründe erkennen, diese Konzeption zu akzeptieren. Zugleich müssen die grundlegenden Prinzipien einer politischen Gemeinschaft aber auch ohne Rekurs auf irgendeinen bestimmten umfassenden Standpunkt formuliert und legimitiert werden können. Wie gesagt stimme ich mit Rawls darin überein, dass die eine liberale Demokratie kennzeichnenden Ideale in diesem Sinne »freistehend« sein sollten. Denn das liberale Denken zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass es ein wesentliches Merkmal unseres modernen Selbstverständnisses aufgreift. Heute gehen wir davon aus, dass vernünftige Personen bezüglich grundlegender Fragen des menschlichen Lebens natürlich unterschiedlicher Meinung sind. Während der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts mussten viele Menschen die schmerzvolle Erfahrung machen, dass sie trotz bester Absichten weiterhin über das Wesen und die Ansprüche des wahren Glaubens uneinig sein würden. Seitdem hat sich diese Einsicht noch auf weitere Bereiche ausgeweitet. Wir scheinen, je intensiver wir frei und offen über menschliches Wohlergehen und die Natur des Guten diskutieren, in umso gravierendere Meinungsverschiedenheiten (auch mit uns selbst) zu geraten. Was diese Fragen betrifft, führt die Tatsache, dass wir vernünftig sind – und damit meine ich, dass wir aufrichtig miteinander kommunizieren und unser allgemeines Vermögen des Schließens und Urteilens in bester Absicht einsetzen – eher zu Uneinigkeit als zu Zustimmung. Aus dieser Erfahrung haben liberale Denker geschlossen, dass es nicht mehr die Aufgabe einer politischen Gemeinschaft sein soll, eine Auffassung der letzten Ziele menschlicher Existenz zu verkörpern und zu fördern, und dass sie ihre Prinzipien lieber auf eine Minimalmoral gründen sollte, welche vernünftige Menschen trotz divergierender religiöser und ethischer Überzeugungen teilen können. Nur so wird das politische Leben, das notwendigerweise durch zwangsbewehrte, durch die Staatsgewalt gebilligte Regeln bestimmt wird, zu mehr als einer reinen Zwangsherrschaft. Nur so kann es die Art von Transparenz genießen, aufgrund derer die Bürger die sie bindenden politischen Prinzipien als Ausdruck eigener Überzeugungen anerkennen. Obgleich zentral für die Erfahrungen der Moderne, lässt sich das Phänomen der vernünftigen Meinungsverschiedenheiten nicht leicht erklären. Es steht im Widerspruch zu einer der am weitesten verbreiteten Vorannahmen unserer philosophischen Tradition. Warum sollte uns die Vernunft – ausgerechnet dann, wenn es um Fragen von größter Bedeutung geht – nicht zur Übereinkunft führen, sondern uns vielmehr spalten? Historische Kontingenzen spielen dabei sicherlich eine wichtige Rolle. Da wir durch unterschiedlichste kulturelle Traditionen geprägt und immer komplexeren Formen der

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Arbeitsteilung ausgesetzt sind, ist es nicht überraschend, dass wir uns divergierende Meinungen darüber bilden, was im Leben wichtig ist. Zweifelsohne ist es auch die von Toleranz und öffentlichen Debatten geprägte liberale Lebensform selbst, welche die soziale und kulturelle Heterogenität befördert und somit jene Umstände verstärkt hat, auf die sie eine Antwort geben möchte. Wir könnten uns allerdings auch fragen, ob die Vernunft nicht notwendigerweise zu Meinungsverschiedenheiten bezüglich schwieriger Fragen führt. Spiegelt nicht der Konsens, der vormoderne Gesellschaften bezüglich der großen Lebensfragen scheinbar einte, die Grenzen wider, welche hier der offenen Diskussion gesetzt waren? Womöglich ist – das jedenfalls behaupten ›Wertepluralisten‹ wie Isaiah Berlin – die Uneinigkeit vernünftiger Personen darauf zurückzuführen, dass das für den Menschen Gute nicht in einem, sondern in vielen verschiedenen letzten Zielen besteht, die sich weder auf einen gemeinsamen Maßstab reduzieren noch nach einer vorgegebenen Rangordnung hierarchisieren lassen, und die durchaus miteinander in Konflikt geraten können. Der Wertepluralismus ist nicht gleichzusetzen mit der Erwartung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten, da er selbst eine Lehre über die Natur des Guten darstellt, aber er kann vielleicht gut erklären, weshalb solche Meinungsverschiedenheiten häufig auftreten.5 Dass andererseits die modernen Naturwissenschaften in Bezug auf komplexe Fragen eine überraschende Einstimmigkeit aufweisen, mag damit zusammenhängen, dass sie die Beobachtung der Natur den Methoden des kontrollierten Experimentierens und der Mathematisierung unterwerfen, die mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Konsens führen als andere Herangehensweisen an die Natur, die ebenso wertvoll aber weniger geeignet sind, zu gesicherten Ergebnissen zu führen.6 Der Versuch, die Verbreitung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Natur des für den Menschen Guten zu erklären, ist notwendigerweise ein spekulatives Unterfangen, doch es bedarf keiner zufriedenstellenden Erklärung, um das Phänomen als solches und sein Fortbestehen anzuerkennen. Ja, der Wertepluralismus selbst ist eine jener philosophischen Ansichten, über die vernünftige Personen geteilter Meinung sein werden. Er mag richtig sein (ich selbst zähle mich zu seinen Anhängern), aber sicherlich gibt es viele plausible religiöse und philosophische Lehren, die den Wertepluralismus auch weiterhin ablehnen, da sie das für den Menschen Gute in einem einzigen, letzten Ziel verorten, wie etwa Gott zu dienen, die Vernunft auszuüben oder Lust zu genießen. Wenn die Hoffnung des Liberalismus darin besteht, eine Form des politischen Zusammenlebens zu entwerfen, welche die Menschen befürworten können, obwohl sie unter5 Zu diesem Unterschied vgl. Larmore: Morals of Modernity, Kap. 7. Zur Auffassung, der Wertepluralismus könne die Existenz vernünftiger Uneinigkeit erklären, vgl. George Crowder: Liberalism and Value Pluralism, London 2002 sowie William Galston: Liberal Pluralism, Cambridge 2002. 6 Im Gegensatz zur Meinung von Galston: Pluralism, S. 47 bestreite ich nicht, dass es den modernen Naturwissenschaften gelungen ist, »den Weg der Wahrheit« zu gehen (vgl. Larmore: Morals of Modernity, S. 171). Ich denke nur, dass die Untersuchung der Natur eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Ziele verfolgen könnte, dass sich aber die moderne Naturwissenschaft spezialisiert hat, nur solche Wahrheiten zu ermitteln, die es ihr ermöglichen, zu einem kumulativen Unternehmen zu werden. Vgl. Larmore: Autonomy of Morality, S. 19–32.

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schiedlichen Lehren folgen, dann wäre er wohlberaten, den Wertepluralismus nicht zu einer seiner wesentlichen Voraussetzungen zu machen.7 Diese Hoffnung zu erfüllen ist jedenfalls kein einfaches Unterfangen. Im Gegenteil, das liberale Ideal verlangt nach einer Neubestimmung der Idee politischer Ordnung. Ziel politischer Institutionen war es seit jeher, zum Wohle der Gemeinschaft die Gewalt der Leidenschaften und den Kampf um persönliche Vorteile in Grenzen zu halten. In der Vergangenheit herrschte aber noch die Meinung vor, die Bestimmung des Gemeinwohls setze eine umfangreiche Konzeption der Ziele menschlichen Daseins voraus. Diese gehörte zum wertvollsten Wissen einer Gesellschaft, wurde durch die intellektuelle Elite (oft eine Priesterklasse) interpretiert und propagiert und durch die staatliche Autorität sanktioniert. Als man aber begann, vernünftige Meinungsverschiedenheiten ernst zu nehmen, schienen die fundamentalen Aufgaben der Politik komplexer zu sein. Von Belang sind nicht mehr allein in erster Linie Interesse und Leidenschaft, denn die Verbreitung verschiedener vernünftiger Ansichten darüber, worin ein gutes Leben bestehe, stellt ein eigenes politisches Problem dar. Obwohl Menschen ihre eigenen Interessen verfolgen oder durch ihre Leidenschaften hingerissen werden können, wenn sie anderen ihre Konzeption des Guten aufzudrängen versuchen, kann sie doch auch dabei der selbstlose Wunsch leiten, ihre Mitmenschen mögen im Einklang mit der Wahrheit leben, die sie entdeckt haben. Die Frage, wie vernünftige Menschen in einer politischen Gemeinschaft zusammenleben können, obwohl ihnen unterschiedliche Dinge wichtig sind, ist eine spezifisch moderne Frage. Heute muss das Allgemeinwohl als eine Lebensform verstanden werden, die es den Menschen ermöglicht, unterschiedliche und mitunter auch konfligierende Konzeptionen menschlichen Wohlergehens zu verfolgen. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass ich, wenn ich von Vernünftigkeit (reasonableness) spreche, damit nicht dasselbe meine wie Rawls. Er versteht darunter die Bereitschaft, sich – insbesondere in Anbetracht der großen Bandbreite unterschiedlicher Auffassungen darüber, worin menschliches Wohlergehen bestehe – um faire Bedingungen sozialer Kooperation zu bemühen und diese zu befolgen. Rawls unterscheidet folglich zwischen vernünftig (reasonable) und rational (rational), wobei er unter rational das effiziente Verfolgen eigener Ziele, unabhängig von Überlegungen der Fairness, versteht.8 Ich hingegen verwende den Begriff hier, wie auch in älteren Schriften,9 in einem weiteren Sinne und meine damit die freie und offene Ausübung unserer grundlegenden Vernunftvermögen. ›Vernünftige‹ Menschen sind meiner Terminologie zufolge also ›rational‹, obwohl sie Crowder behauptet, dass, »da der Wertepluralismus die plausibelste Erklärung für die Existenz vernünftiger Meinungsverschiedenheiten über das Gute« liefere, »vernünftige Meinungsverschiedenheiten einen Wertepluralismus voraussetzen« (Crowder: Liberalism, S. 170, Übersetzung E.B.). Ich stimme hier nicht mit Crowder überein: Die Existenz eines Phänomens anzuerkennen bedeutet nicht zwangsläufig, auch eine bestimmte Erklärung dafür – selbst wenn dies die bestmögliche wäre – akzeptieren zu müssen. Denn hinsichtlich der Wahrheit oder Plausibilität dieser Erklärung kann es, wie sicherlich auch im Falle des Wertepluralismus, diverse Zweifel geben. Wir sollten die »beste« Erklärung nicht immer bevorzugen. Entgegen Galston und Crowder bleibe ich also bei meinem, auch in Morals of Modernity, Kap. 7 dargelegten Standpunkt, dass der Liberalismus sich nicht auf die umstrittene Lehre des Wertepluralismus stützen sollte. 8 Vgl. Rawls: Politischer Liberalismus, S. 120–132. 9 Vgl. Larmore: Morals of Modernity, Kap. 6 und 7. 7

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auch ›vernünftig‹ im Rawlsschen Sinne sein können, wenn sie sich darum bemühen, fair zu sein (wobei dieses Bekenntnis zur Fairness seinen Ursprung nicht alleine darin hat, dass sie vernünftig sind; darauf komme ich in Teil V zurück). Daraus folgt, dass ›vernünftig‹ sein, wie Rawls es versteht, eine moralische Antwort auf das Problem divergierender Konzeptionen des menschlichen Guten ist, welches durch die Ausübung der umfassenderen Vermögen entsteht, die ich meinerseits als Vernünftigkeit bezeichne. An sich handelt es sich um eine rein terminologische Differenz. Ich bestreite nicht, dass der Liberalismus nur aufgrund bestimmter moralischer Annahmen das Problem vernünftiger Meinungsverschiedenheiten ernst nehmen kann. Im Gegenteil ist es gerade das, was ich in diesem Text verdeutlichen will. Diese moralischen Annahmen werden allerdings in der Verwendung eines so weitgreifenden Begriffes wie ›Vernünftigkeit‹ nicht explizit (weshalb ich diesem Begriff eine andere Bedeutung gegeben habe). Deshalb ist es auch kein Wunder, dass es Rawls nicht gelingt, die wahre Natur der moralischen Annahmen zu erfassen, die seinem Projekt zugrunde liegen. Um sich ihrer Bedeutung gewahr zu werden, muss man sich nur Folgendes vor Augen führen: Der politische Liberalismus erzwingt es, auf das zu fokussieren, was vernünftige Personen trotz unterschiedlicher Auffassungen des guten Lebens noch teilen können. Es wäre aber sicherlich ein Missverständnis, liberale Prinzipien als den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verstehen zwischen vernünftigen Menschen mit ansonsten ganz unterschiedlichen Überzeugungen. Noch grundlegender als die politischen Prinzipien, auf die sie sich einigen können, ist ihre Absicht selbst, das politische Leben entlang solcher Linien zu organisieren, nach Prinzipien zu streben, die Gegenstand einer vernünftigen Übereinkunft sein können. Diese Absicht bildet den moralischen Kern des liberalen Denkens und beinhaltet meines Erachtens ein Prinzip des Respekts vor Personen.10 Dies wird das zentrale Ergebnis meiner Analyse der berühmten Debatte zwischen Rawls und Habermas sein, in deren Mittelpunkt folgende Frage steht: Was genau bedeutet die Forderung, eine politische Gemeinschaft solle eine freistehende, von den anhaltenden Kontroversen über die Natur des menschlich Guten unabhängige Grundlage haben?

10 Ich sollte erwähnen, dass dieses moralische Prinzip, trotz seiner philosophischen Wichtigkeit, keine hinreichende Grundlage für eine liberale Staatsordnung bildet. Es erklärt nicht, weshalb sich Bürger, die einer solchen Überzeugung sind, als ein ›Volk‹ fühlen sollten, das ein gemeinsames politisches Schicksal teilt. Diesem Selbstverständnis muss aber nicht irgendeine spezifische, umfassende Vorstellung des menschlichen Guten zugrunde liegen. Es kann, wie es sogar für moderne liberale Demokratien typisch ist, auf einer gemeinsam geteilten historischen Erfahrung beruhen, insbesondere auf dem Gedenken an vergangene Konflikte, die befeuert wurden durch den Willen, anderen einen bestimmten Glauben oder ein sonstiges Lebensideal aufzuzwängen. Ausführlicheres zu diesem wichtigen Aspekt in Larmore: Morals of Modernity, S. 141–144.

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II. Klassischer und politischer Liberalismus Zuerst müssen wir uns aber klar machen, warum diese Frage für das liberale Denken heute so wichtig geworden ist. Deshalb zunächst ein paar Sätze zum historischen Hintergrund. Seit John Locke haben liberale Theoretiker ihrer politischen Philosophie oft einen umfangreichen Individualismus zugrunde gelegt, der eine kritische Distanz gegenüber überkommenen Formen des Glaubens und kulturellen Traditionen verlangt. Das ist nicht überraschend, denn der Individualismus ist in unserer Kultur zu einer allgegenwärtigen Strömung geworden. Er entspringt grundlegenden Merkmalen moderner Gesellschaften, insbesondere den Markt-Institutionen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Er stützt sich auch auf die Wahrnehmung des Umfangs vernünftiger Meinungsverschiedenheiten, sofern Menschen deshalb zu der Überzeugung gelangt sind, dass sie ihre eigene Vorstellung vom guten Leben ausarbeiten müssen. Folglich hat man gedacht, dass eine individualistische Lebensauffassung zur Bestimmung der grundlegenden Prinzipien unseres Zusammenlebens dienen sollte. Diesen Ansatz verfolgte der klassische Liberalismus von Locke, Immanuel Kant und J.S. Mill. Nach ihrer Ansicht sollten die Prinzipien des politischen Lebens einen Rekurs auf Ideen des Guten unbedingt vermeiden, um den individualistischen Geist, der das Ganze unseres Lebens bestimmen sollte, zum Ausdruck zu bringen. Selbstverständlich gibt es zwischen den klassischen Liberalen wichtige Unterschiede, die die spezifische Ausgestaltung des Individualismus betreffen. Sie teilen aber die grundlegende Auffassung, dass unsere Übernahme irgendeiner substantiellen Vorstellung vom Guten – irgendeiner konkreten Lebensform, die eine bestimmte Struktur von Zielen, Bedeutungen und Tätigkeiten umfasst (z. B. ein Leben, das durch bestimmte kulturelle Traditionen geprägt oder einer bestimmten Religion gewidmet ist) – immer kontingent und revisionsfähig sein müsse. Solche Lebensformen könnten, dachten die klassischen Liberalen, nur dann wirklich wertvoll sein, wenn wir sie von einem Standpunkt der kritischen Reflexion wählen oder wählen würden. Vor allem waren sich Kant, Locke und Mill darin einig, ihre politischen Prinzipien innerhalb des Rahmens dieses umfassenden Individualismus zu verteidigen. Unser Status als politische Subjekte bzw. Bürger sollte unabhängig von der von uns verfolgten Vorstellung des menschlichen Guten sein, da politische Prinzipien auf diese Weise der fallibilistischen, autonomen, oder experimentellen Lebenseinstellung gerecht werden, die unser fundamentales Selbstverständnis als Personen ausmachen soll. Die Dinge sind aber komplizierter geworden. Individualistische Sichtweisen sind selbst zum Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten geworden. Vor allem im Zuge der romantischen Bewegung ist ein neuer Sinn für die Bedeutung der Zugehörigkeit entstanden, sowie auch ein neues Traditionsbewusstsein, für das die individualistische Hochschätzung der kritischen Reflexion eine Art moralische Blindheit zu verkörpern scheint.11 In Wirklichkeit sei eine distanzierte und prüfende Einstellung gegenüber Vgl. dazu detaillierter Charles Larmore: The Romantic Legacy, New York 1996, Kap. 2 und Larmore: Morals of Modernity, S. 127–134. 11

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überlieferten Lebensweisen nur ein Wert unter anderen. Messen wir ihr in allen Fällen den Vorrang zu, laufen wir Gefahr, andere, ebenso wertvolle Dinge zu übersehen. Also ist argumentiert worden, dass wir die Bedeutung bestimmter Lebensweisen nur dann schätzen können, wenn wir unsere Übernahme davon nicht als eine Sache der Entscheidung betrachten, sondern als konstitutiv für das, was wir für wertvoll halten, als begründet in einem Gefühl von Zugehörigkeit. Die Bedeutung religiöser Überzeugungen, gemeinsamer Sitten, der Verbundenheit zu einem Ort und zu einer Sprachgemeinschaft möge darin liegen, dass sie das Werteverständnis formen, auf dessen Grundlage wir überhaupt Entscheidungen treffen können. Drängt sich nicht zumindest die Frage auf, ob wir wirklich unsere innersten Moralvorstellungen als etwas begreifen können, das wir – ausgehend von einer kritischen Abwägung ihrer Vor- und Nachteile – wählen oder wählen würden? Sie aus kritisch-reflektierender Distanz zu betrachten würde bedeuten, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus wir gar nicht mehr über die notwendigen Ressourcen verfügen, moralische Überlegungen anzustellen.12 Sollten sie folglich nicht eher als die tradierte Basis unseres moralischen Denkens begriffen werden, denn als Bindungen, die wir gewählt haben? Obwohl das Lob der Zugehörigkeit seine Kritik am Individualismus oft mit einer Ablehnung des aufklärerischen Denkens verbindet, impliziert es nicht wirklich eine Rückkehr zu vormodernen Denkweisen. Die in diesem Zusammenhang gepriesenen Lebensformen waren selten selbst traditionalistisch geprägt, sondern beriefen sich vielmehr auf eine transzendentale Quelle, wie die Stimme der Vernunft oder den Willen Gottes. So paradox es auch klingen mag: Der Traditionalismus ist eine Neuheit der Moderne, weshalb damit zu rechnen ist, dass er ein fester Bestandteil unserer Kultur bleiben wird. Trotz ihres anhaltend großen Einflusses sind individualistische Denkweisen heute kontrovers geworden. Sie wurden zweifelsohne schon immer bestritten, aber jetzt sind die mit ihnen verbundenen philosophischen Probleme deutlich sichtbar. Wie auch immer wir uns für uns selbst Klarheit verschaffen über die Vorzüge des Individualismus und die Bedeutung von Traditionen als Konzeptionen des Guten und des Richtigen, können wir doch nicht verneinen, dass hinsichtlich dieser Fragen vernünftige Menschen unterschiedlicher Meinung sein werden. Der Liberalismus steht also vor einer neuen Herausforderung. Soll er weiterhin für eine individualistische Lebensauffassung einstehen? Oder soll er, ausgehend von der modernen Erfahrung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten, nach einer Neuformulierung seines Selbstverständnisses streben, die beiden Seiten dieser neuen Kontroverse gefällig sein kann? Den zweiten Weg geht der politische Liberalismus, wie Rawls und auch ich ihn verstehen. Das Ziel ist es, die Prinzipien politischer Gemeinschaft nicht nur unabhängig von religiösen Überzeugungen und substantiellen Ideen des Guten zu bestimmen, sondern auch unabhängig von umfassenden Moralkonzeptionen, sofern diese – ob inDieses Argument hat der große Skeptiker Pierre Bayle bereits Ende des 17. Jahrhunderts als eine vorausgreifende Kritik der Aufklärung entwickelt. Vgl. Pierre Bayle: »Takiddin«, Anmerkung A, in: ders.: Dictionnaire historique et critique. Vgl. dazu auch meinen Artikel »Pierre Bayle« in: Monique CantoSperber (Hg.): Dictionnaire d´éthique et de philosophie morale, Paris 1996, S. 133–137. 12

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dividualistisch oder nicht – selber Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten geworden sind. So verstanden, stellt der politische Liberalismus keineswegs eine radikale Abkehr von seinen klassischen Vorreitern dar. Die zugrundeliegende Kontinuität besteht im Bewusstsein der Disharmonie der Vernunft, und die Differenzen rühren daher, dass wir mit der Zeit gelernt haben, wie allgegenwärtig dieses Phänomen eigentlich ist. Es ist deshalb kein Wunder, dass der politische Liberalismus nicht schon früher auf den Plan trat: Erst die romantische Kritik des Individualismus und ihr Eingang in unsere Kultur offenbarte, für wie problematisch man die umfassende Moralkonzeption, die der klassische Liberalismus vertrat, vernünftigerweise halten kann.13

III. Politische Legitimität und moralischer Respekt Die historische Erfahrung hat den Liberalismus dazu geführt, sich von seiner individualistischen Auffassung des Menschen zu verabschieden. Als freistehende politische Konzeption im Rawlsschen Sinne beachtet das liberale Denken allerdings nicht lediglich den immer größeren Umfang vernünftiger Meinungsverschiedenheiten. Wie von mir behauptet, muss es sich auch auf bestimmte moralische Überzeugungen stützen, die nahelegen, dass dies der richtige Weg ist, den man einschlagen soll. Denn schließlich drängt sich die Frage auf, warum die Antwort des Liberalismus auf diese Kontroverse eine Neuformulierung seiner Prinzipien sein soll. Warum sollte der Liberalismus »politisch« in Rawls’ und meinem Sinne werden? Weshalb sollten liberale Denker stattdessen nicht stur bleiben und, ausgehend von der korrekten Beobachtung, dass keine politische Konzeption jedem Standpunkt gerecht werden kann, an der Überzeugung festhalten, dass der Liberalismus mit einem allgemeinen Bekenntnis zum Individualismus steht oder fällt? Die Antwort kann nur lauten, dass die grundlegenden Überzeugungen des liberalen Denkens auf einer tieferliegenden moralischen Ebene angesiedelt sind. Folglich müssen wir offenlegen, was diese Überzeugungen sind. Rawls führte einmal aus, der Liberalismus strebe nach einer freistehenden politischen Konzeption, da er »das Toleranzprinzip auf die Philosophie selbst anwendet«. Da sein Ziel eine Gerechtigkeitskonzeption sei, der vernünftige Personen zustimmen könnten, müsse diese Konzeption »möglichst unabhängig sein von den entgegengesetzten und konfligierenden philosophischen und religiösen Lehren, welchen die Bürger anhängen«.14 D. h. der Liberalismus müsse sich deshalb von einem umfassenden Individualismus verabschieden und strikt politisch werden, weil die grundlegenden politischen Prinzipien für diejenigen, die sie binden, akzeptabel sein müssen. Diese Idee hat Rawls als »das liberale Legitimitätsprinzip« bezeichnet:

Mit der Betonung dieser historischen Perspektive weiche ich vielleicht von Rawls ab, der sagte, er war von der späten Entwicklung des politischen Liberalismus überrascht. Vgl. Rawls: Erwiderung. 14 Rawls: Politischer Liberalismus, S. 74. 13

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»Die Ausübung politischer Macht ist nur dann angemessen und daher zu rechtfertigen, wenn sie in Übereinstimmung mit einer Verfassung geschieht, von deren Wesensgehalten wir vernünftigerweise erwarten können, dass alle Bürger, soweit sie vernünftig und rational sind, dieselben im Lichte der von ihnen bejahten Grundsätze und Ideale anerkennen würden.«15 Mit einigen kleinen Änderungen bildet ein solches Prinzip in der Tat den beständigen moralischen Kern des liberalen Denkens.16 Ich denke aber, dass Rawls das Wesen dieser moralischen Grundlage und ihre genaue Stellung im politischen Liberalismus nicht deutlich genug herausgestellt hat. Um den Sinn des liberalen Legitimitätsprinzips tiefer zu erfassen, fragen wir uns, warum wir eigentlich glauben (wenn dem denn so ist), dass die grundlegenden Bedingungen des politischen Lebens Gegenstand einer vernünftigen Übereinkunft sein sollen. Durch die Beantwortung dieser Frage werden wir auch besser begreifen, was hier genau unter einer vernünftigen Übereinkunft verstanden werden soll. Akzeptieren wir das liberale Legitimitätsprinzip, weil wir denken, dass Menschen grundsätzlich nur an moralische Regeln gebunden sind, die sie vernünftigerweise nicht ablehnen können?17 Dieses Verständnis von Moral, ob am Ende korrekt oder nicht, ist viel zu kontrovers, um im vorliegenden Zusammenhang angemessen zu sein. Zu viele gute Argumente scheinen dagegen zu sprechen. Beispielsweise könnte man einwenden, dass es als eine Erklärung der Grundlagen moralischer Verpflichtung zirkulär erscheint: Können wir wirklich Gründe finden, die Grundregeln der Moral zu akzeptieren, ohne uns darauf zu stützen, dass es nicht richtig ist, sie nicht zu befolgen? Erklärt dann nicht ihre Richtigkeit, warum wir sie vernünftigerweise nicht ablehnen – und nicht andersherum?18 Darüber hinaus scheint es schwierig, einen solchen Ansatz von dem umfassenderen Ideal individueller Autonomie oder Selbstbestimmung zu trennen, gegenüber dem der politische Liberalismus neutral sein soll. Jedenfalls sind allgemeine Konzeptionen moralischer Verpflichtung nicht, zumindest nicht direkt, die Grundlage unserer Überzeugung, dass politische Prinzipien auf einer Übereinkunft vernünftiger Bürger beruhen müssen. Diese Überzeugung spiegelt vielmehr das besondere Merkmal politischer Prinzipien wider, das diese von den anderen moralischen Regeln unterscheidet, denen Menschen unterliegen sollen.19 Moralische Prinzipien lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Zur Ebd., S. 223. Vgl. ebenso die Seiten 226–227, 231, 317 und 326. Wie Rawls bin auch ich der Ansicht, dass dieses Prinzip in erster Linie die Grundstruktur der Gesellschaft bestimmen soll. Innerhalb dieser Struktur dürfen politische Entscheidungen bisweilen auch unter Berufung auf weniger strenge Regeln getroffen werden, etwa im Rahmen einer Mehrheitsabstimmung, in der sich dann auch kontroverse Vorstellungen vom Guten manchmal durchsetzen dürfen. 17 Eine solche Vorstellung von Moral vertritt Thomas Scanlon in: ders.: What We Owe to Each Other, Cambridge MA 1998. 18 Ich führe dieses Argument detaillierter aus in Larmore: Autonomy of Morality, Kap. 5. 19 Bernard Williams moniert, in unserer Kultur werde politische Philosophie oft als »angewandte Moralphilosophie« missverstanden (vgl. Bernard Williams: In the Beginning Was the Deed, Princeton 32007, S. 77). Ich stimme hier mit Williams grundsätzlich überein, denke aber, dass er seine Kritik unglücklich formuliert. Man sollte eher sagen: In unserem politischen Denken sollen wir uns nicht auf 15 16

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Einhaltung von einigen können Menschen zu Recht gezwungen werden. Im Falle anderer moralischer Prinzipien hingegen halten wir eine erzwungene Durchsetzung für nicht zulässig, gleichgültig welches Missfallen oder gar welche Empörung wir im Falle ihrer Verletzung auch verspüren mögen. Allein die erste Gruppe genießt den Status politischer Prinzipien. Denn eine Gemeinschaft gilt als politisch, insofern sie auf dem – angeblich legitimen – Einsatz von Zwang zur Sicherstellung der Einhaltung ihrer Regeln beruht.20 Diesen zwingenden Charakter politischer Prinzipien haben wir vor Augen, wenn wir – welche Meinung wir auch von dem Gedanken haben mögen, dass Menschen nur nach denjenigen Handlungsregeln beurteilt werden dürfen, die sie auch akzeptieren könnten – daran festhalten, dass solche Prinzipien Gegenstand einer vernünftigen Übereinkunft sein müssen. Wir glauben, dass nur so die Anwendung von Zwang zur Durchsetzung dieser Prinzipien zu rechtfertigen ist. Damit erklärt sich übrigens, warum der politische Liberalismus, auch wenn es sein Ziel ist, strikt politisch zu verfahren, die politische Sphäre nicht als einen im Voraus definierten Teilbereich der Gesellschaft begreift:21 Wir sind es, die entscheiden, was »politisch« ist, und zwar dadurch, dass wir erst festlegen, welche sozialen Verhaltenserwartungen durch die Anwendung von Zwang durchzusetzen sind. Diesen letzten Ausführungen hätte Rawls zugestimmt. So hat er einmal bemerkt, dass die liberale Idee von Legitimität auf der Tatsache beruhe, dass politische Macht eine zwangsbewehrte Macht sei.22 Trotzdem muss unsere Analyse dieses zentralen liberalen Gedankens noch tiefer gehen. Wir müssen deutlich machen, weshalb die Geltung von Zwangsprinzipien von einer vernünftigen Übereinkunft abhängen soll. Meines Erachtens ist die Quelle dieser Überzeugung ein Prinzip des Respekts vor Personen. Ich möchte erklären, warum.23 Zunächst einmal ist zu bemerken, dass die Anwendung bzw. Androhung von Zwang nicht per se unzulässig sein kann, da es andernfalls keine politische Gemeinschaft gäbe. Unzulässig ist es, die Befolgung von Regeln alleine durch Zwang und ohne eine vernünftige Übereinkunft hinsichtlich dieser Regeln erreichen zu wollen. Nun zeichnen sich Personen durch ihre Fähigkeit aus, aufgrund von Gründen zu denken und zu handeln.24 Versuchen wir, die Einhaltung einer Handlungsunser Verständnis der Moral im ganzen berufen, sondern auf das fokussieren, was das Politische von anderen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens unterscheidet – und das ist vor allem die öffentliche Ausübung der Macht (wie Williams dann auch argumentiert). Trotzdem müssen wir auch hinterfragen, welche moralischen Prinzipien die Ausübung von Zwang regeln sollten. 20 Hier folge ich Max Weber: vgl. ders.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972, S. 29. 21 Habermas wirft Rawls – in meinen Augen unberechtigterweise – vor, er hänge dieser Vorstellung einer Vordefiniertheit des Politischen an. Vgl. Habermas: Vernunftgebrauch, S. 191 f. 22 Vgl. Rawls: Politischer Liberalismus, S. 226. 23 Hier folge ich meiner in Larmore: Morals of Modernity, S. 136–141 dargelegten Argumentationslinie. Meine Betonung der Bedeutung des Respekts vor Personen für die liberale politische Philosophie nimmt Anleihen bei Ronald Dworkin, der seit seinem 1973 veröffentlichten Artikel über Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit in diese Richtung argumentiert (vgl. Ronald Dworkin: Taking Rights Seriously, Cambridge MA 1978). Allerdings habe ich versucht, die Bedeutung von ›Respekt‹ genauer zu beleuchten, insbesondere auch im Hinblick auf den Zwangscharakter politischer Prinzipien. 24 Dies ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung dafür, eine Person zu sein. Ich stimme mit Harry Frankfurt darin überein, dass der Begriff der Person zudem die Fähigkeit impliziert, zu unseren Überzeugungen und Wünschen wertende Einstellungen zweiter Stufe einzunehmen. (Harry

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regel ausschließlich durch die Androhung von Zwang zu erreichen, dann behandeln wir Personen bloß als Mittel, als Gegenstände des Zwangs und nicht auch als Zwecke dadurch, dass wir ihre wesentliche Fähigkeit als Personen direkt ansprechen. Natürlich können sie durch die Androhung von Zwang nur dann zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden, wenn sie gute Gründe einsehen, unsere Reaktion zu fürchten, wenn sie gegen die Regel verstoßen. Aber in diesem Fall appellieren wir an ihre charakteristische Fähigkeit, aufgrund von Gründen zu handeln, nur deshalb, um die Ziele zu erreichen, die in der Befolgung der fraglichen Regel bestehen – die Sicherstellung öffentlicher Ordnung und vielleicht auch das Reformieren ihres Charakters. Wir würden dann ihre spezifische Fähigkeit als Personen nicht in derselben Weise beanspruchen, wie wir unsere eigene beanspruchen, indem wir erfordern, dass die Regel mit ihrer Vernunft übereinstimmt, ebenso wie wir unterstellen, dass sie mit der unseren übereinstimmt. Wenn es sich um Zwangsprinzipien handelt, respektieren wir andere als Personen, insofern wir verlangen, dass die Prinzipien, die wir als gerechtfertigt ansehen, auch ihnen als gerechtfertigt erscheinen werden. Dies ist sicherlich nicht die einzige Bedeutung, die der Begriff des Respekts haben kann.25 Es beschreibt auch nicht erschöpfend, was im Rahmen einer umfassenden Moraltheorie unter Respekt zu verstehen sein könnte. Aber es ist das Prinzip, das einer liberalen Konzeption des politischen Lebens zugrunde liegt. Obwohl es bei Kant – insbesondere seinem Gedanken, Personen immer auch als Zwecke, nie nur als Mittel zu behandeln – Anleihen nimmt, hat es einen spezifischeren Anwendungsbereich (nämlich die Einführung politischer Zwangsprinzipien) und vermeidet die vielen Eigentümlichkeiten, welche die Kantische Ethik insgesamt prägen.

IV. Metaphysik und Politik Wie schon Rawls bemerkt hat, entspringt das Habermassche Verständnis politischer Autonomie einer weiteren philosophischen Haltung, die man als post-metaphysisch bezeichnen könnte. Habermas zufolge haben metaphysische Theorien, welche die Existenz von ›idealen‹ (also nicht-physischen und nicht-psychologischen) Entitäten behaupten, ebenso wie religiöse Konzeptionen, die die Welt als Werk Gottes und als durch Vorsehung bestimmt betrachten, heutzutage ihre Plausibilität verloren. Damit meint er nicht lediglich,

Frankfurt: »Freedom of the Will and the Concept of a Person« in: ders.: The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, S. 11–25) Allerdings setzt diese Fähigkeit zur Reflexion ihrerseits das Vermögen voraus, sich von Gründen leiten zu lassen, denn ansonsten hätten solche Stellungnahmen keinen Sinn. Vgl. dazu auch Charles Larmore: Les pratiques du moi, Paris 2004, S. 135–137. 25 William Galston etwa weist darauf hin, dass wir einer Person in einem anderen Sinne bereits dann Respekt zollen, wenn wir ihr die Gründe für das Prinzip darlegen, auf dessen Grundlage wir ihr Verhalten beurteilen – unabhängig davon, ob sie diese Gründe akzeptieren kann oder nicht (vgl. William Galston: Liberal Purposes, Cambridge 1991, S. 109). Meine Absicht ist es nicht, zu klären, was Respekt »wirklich« bedeutet, da dieser Begriff ganz unterschiedliche Dinge bedeuten kann. Ich will beschreiben, was er bedeuten soll, wenn es sich um die Grundlagen des liberalen Denkens handelt.

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dass solche Theorien, soweit sie Gegenstand scheinbar nicht enden wollender Kontroversen geworden sind, die Gesellschaft als Ganze nicht mehr beherrschen. Für Habermas ist das Zeitalter metaphysischer und religiöser Weltanschauungen in dem tieferen Sinne vorbei, dass ein rationaler Glaube daran streng genommen nicht mehr möglich ist. Die Vernunft selbst, so Habermas, erweise sich als endlich, fehlbar, prozedural und auf intersubjektive Übereinstimmung ausgerichtet. Sie bestehe darin, uns in unserem Denken und Handeln von Gründen leiten zu lassen, die wir für stichhaltig halten, nicht weil wir meinen, sie seien durch eine objektive Weltordnung gebürgt, sondern weil wir der Auffassung sind, dass andere ihnen unter idealen Bedingungen auch zustimmen würden. Die Normen der Vernunft liegen also nicht mehr in einem idealen Bereich begründet, der unabhängig von unserem Denken bestünde, sondern in den Idealisierungen, die wir selbst in unserem Sprechen miteinander vornehmen.26 Eine ganze Reihe von philosophischen Argumenten, unter dem Namen einer ›Diskurstheorie‹, soll die Notwendigkeit dieser postmetaphysischen Neuformulierung des Vernunftbegriffs erklären und rechtfertigen. Für Habermas hat die Idee politischer Autonomie ihren Ursprung in diesem allgemeinen philosophischen Standpunkt. Die Prinzipien politischer Gemeinschaft seien dadurch festzulegen, dass wir das eben beschriebene Vernunftkonzept auf die grundlegende Aufgabe der Politik, nämlich den Umfang der Gesetzesherrschaft zu bestimmen, übertragen. Da es keine höhere Begründungsinstanz geben kann als einen unter idealen Bedingungen erzielten vernünftigen Konsens, müssen wir uns selbst, im politischen Bereich wie überall, als die Autoren der Verhaltensregeln begreifen, an die wir gebunden sind. Rawls distanziert sich zu Recht von diesem Ansatz, der mit einer umfassenden Vorstellung der Stellung des Menschen in der Welt und der Natur der Autorität der Vernunft einhergeht. Wie Rawls schreibt, folgt Habermas in seinem post-metaphysischen Ansatz dem Projekt Hegels, »eine philosophische Analyse der Voraussetzungen eines rationalen Diskurses darzubieten […] die alle die vermeintlich wichtigen Elemente religiöser und metaphysischer Lehren mit einschließt«27. Anhänger dieser Lehren werden sie in der Form, in die sie übersetzt worden sind, kaum erkennen oder akzeptieren, zumal Habermas sie zu Weltanschauungen degradiert, »deren Bedeutung sich eher an der Glaubwürdigkeit der durch sie verkörperten Lebensstile bemessen lässt, als an der Wahrheit ihrer Aussagen.«28 Habermas’ Vorstellung einer post-metaphysischen Vernunft läuft also Rawls zufolge (und hier schließe ich mich diesem an) Gefahr, eben die Art von Kontroversen anzufeuern, die wir hinter uns lassen sollten, wenn wir akzeptable politische Prinzipien formulieren möchten. Darüber hinaus ist Habermas’ Konzept eines idealen Diskurses alles andere als selbsterklärend. Die idealen Diskursbedingungen, so wie er es tut, unter Bezugnahme auf die besten Meinungsstandards zu definieren, die wir je haben könnten, und nicht auf diejenigen, die wir derzeit als am besten begründet betrachten,29 ist weder die einzige Möglichkeit noch eine, die anders als metaphysisch anmuten kann. 26 Vgl. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S. 24–37, sowie ders.: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988. 27 Rawls: Erwiderung, S. 201. 28 Habermas: Versöhnung, S. 188. 29 Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 30–31, 36, 202 sowie 566.

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In der Tat: Hinsichtlich der Frage der Aktualität bzw. Hinfälligkeit metaphysischer und religiöser Weltanschauungen besteht unter vernünftigen Personen natürlicherweise die Tendenz zu Meinungsverschiedenheiten. Zwar kann keine dieser Konzeptionen heutzutage für die Gesellschaft als Ganze maßgeblich sein. Aber wie Habermas zu behaupten, dass derlei Konzeptionen als Gegenstände rationaler Überzeugung nicht mehr in Frage kämen, sondern nur noch als Lebensstile eine Rolle spielten, bedeutete allerdings, in diesen Kontroversen selbst Stellung zu beziehen. Habermas hat das wesentliche Merkmal der modernen Erfahrung, das für die Grundlagen politischen Zusammenlebens von zentraler Bedeutung ist, falsch interpretiert. Entscheidend ist nicht so sehr das Schwinden metaphysischer und religiöser Weltanschauungen (obwohl das stattgefunden hat). Ausschlaggebend ist vielmehr die Erkenntnis, dass sowohl diese Weltanschauungen als auch die Versuche, sich ihrer unter Berufung auf ein post-metaphysisches Vernunftkonzept zu entledigen, zum Gegenstand anhaltender Kontroversen geworden sind. Meines Erachtens irrt Habermas mit seiner Konzeption post-metaphysischer Vernunft in zwei wichtigen Punkten.30 Erstens muss unsere Weltauffassung Raum für ideale Entitäten haben. Denn nur wenn Gründe (die selbst weder physischer noch psychologischer Natur sind) existieren, kann es auch so etwas wie normatives Wissen geben, also Wissen darüber, wie wir handeln und – noch grundlegender – wie wir denken sollten. Zweitens kann die Idee des idealen Diskurses keinen integralen Bestandteil einer Theorie der Rechtfertigung bilden. Freilich können wir sagen, wenn wir wollen, dass Meinungen dann begründet sind, wenn alle Teilnehmer eines »idealen« Diskurses mit ihnen übereinstimmen würden. Aber unter diesen idealen Diskursbedingungen – sofern wir deren Bedeutung überhaupt greifbar machen können – müssen wir unsere besten Begründungsstandards verstehen, so dass wir direkter und einfacher sagen können, jene Meinungen seien begründet, wenn sie diesen Standards entsprechen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber nicht so sehr darum, ob Habermas’ Vernunftkonzept zutreffend ist, sondern darum, ob es eine geeignete Grundlage für die Formulierung politischer Prinzipien bildet. Diese beiden Fragestellungen müssen sorgfältig voneinander getrennt werden, sind wir einmal davon überzeugt, dass eine politische Gemeinschaft auf Prinzipien beruhen soll, denen vernünftige Personen trotz unterschiedlicher Meinungen über die Grundfragen menschlicher Existenz zustimmen können. Beim Versuch, für dieses politische Problem eine Lösung zu finden, können wir nicht auf alles zurückgreifen, was wir über diese Fragen zu wissen glauben. Dem Unterschied zwischen diesen beiden Perspektiven schenkt Habermas wenig Beachtung, so dass er sie regelmäßig vermischt. Das Ergebnis ist eine politische Konzeption, die – welche Vorteile sie auch haben und wie plausibel die ihr zugrundeliegende Vernunftkonzeption auch sein mag – immer Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten bleiben wird. Insofern wird Habermas’ politische Theorie dem nicht gerecht, was nötig ist.

Meine ausführliche Kritik an Habermas ist nachzulesen in Charles Larmore: »Der Zwang des besseren Arguments« in: Lutz Wingert/Klaus Günther: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas., Frankfurt/M. 2001, S. 106–125. 30

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V. Freiheit und Moral Moderne Demokratien sind Staatsformen, in denen die Bürgerschaft sich selbst regiert. Sie zeichnen sich durch das Ideal aus, dass die Grundregeln des politischen Lebens nur dann legitim sind, wenn diejenigen, die durch diese Regeln gebunden werden, sie auch vernünftigerweise akzeptieren können. Aber wie ich betont habe, werden wir den Gehalt dieses demokratischen Ideals falsch verstehen, wenn wir annehmen, dass ihm zufolge der kollektive Wille der Bürger die letzte Quelle politischer Autorität sei. Betrachten wir das Konzept des kollektiven Willens genauer, das in diesem Kontext verwendet wird, erkennen wir, dass es moralisch zu verstehen ist. Wenn Volkssouveränität so verstanden wird, dass sie sich in der vernünftigen Übereinkunft der Bürger manifestieren soll, dann nur deshalb, weil angenommen wird, dass sie dabei die Pflicht zum Respekt vor Personen beachtet. Damit wird Demokratie zu einem moralischen Konzept, und nicht nur in dem trivialen Sinne, dass die Prinzipien und Werte, an denen ein demokratisches Volk sein politisches Leben ausrichtet, erkennbar moralischen Charakter haben. Vielmehr beinhaltet Demokratie die Festlegung auf ein moralisches Prinzip, dem sich die Bürger auch unabhängig von ihrem demokratischen Willen verpflichtet fühlen müssen. Denn nur durch das Prinzip des Respekts vor Personen erhält ihr demokratischer Wille seine charakteristische normative Gestalt. Ich habe behauptet, dass Habermas diese moralische Basis moderner Demokratien entgeht und dass Rawls, obwohl er diese Basis zum Teil erkannt hat, sie nicht so deutlich zum Vorschein bringt wie er sollte.31 Mir geht es nicht darum, die Ausarbeitung einer Konzeption liberaler Demokratien als politisch freistehend abzulehnen. Dieses Projekt verfolge ich auch. Aber seine moralischen Vorannahmen müssen explizit gemacht werden. Warum, könnten wir uns fragen, gibt es eine solche Scheu davor, sich diese Vorannahmen einzugestehen? Ein Grund liegt auf der Hand. Liberale Denker, die weiterhin mit früheren individualistischen Auffassungen der liberalen Demokratie sympathisieren, zögern nicht davor, die moralischen Grundlagen dieses Ideals offenzulegen, so wie sie sie verstehen.32 Aber sowohl Habermas als auch Rawls versuchen, jeder auf seine Weise, eine politische Konzeption auszuarbeiten, die nicht auf umfassenden moralischen Ansichten basiert und insbesondere nicht auf individualistischen Annahmen über den Sinn des Lebens. Im Zuge der Bemühungen, eine politische Konzeption zu entwickeln, die auf diese Art und Weise freistehend ist, neigt man leicht dazu, die moralischen Festlegungen zu übergehen, die diese Unternehmung erst befeuern. 31 Weil Rawls die Rolle des Prinzips wechselseitigen Respekts nicht klar genug herausgearbeitet hat, konnte ihm Habermas (fälschlicherweise) vorwerfen, die vernünftige Übereinkunft bzw. den »überlappende Konsens« als Herzstück einer liberalen politischen Ordnung auf eine zufällige Konvergenz der Auffassungen zum menschlich Guten zurückzuführen, die in der Bürgerschaft vertreten werden (vgl. Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M 1996, S. 105–111). Habermas hat Recht, dass die Bürger einen gemeinsamen normativen Standpunkt einnehmen müssen, auch wenn er diesen, wie ich dargelegt habe, nicht richtig identifiziert. 32 Dies ist Jeremy Waldrons Vorgehen in Liberal Rights, Cambridge MA 1993, S. 56–57 sowie S. 163– 168.

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Freilich drückt das Prinzip des Respekts vor Personen weder eine umfassende moralische Philosophie aus, noch impliziert es eine solche. Es lässt sich in eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Auffassungen des menschlichen Guten einfügen. Insbesondere ist erwähnenswert, dass es in solchen Konzeptionen (vgl. II) auftreten kann, die der kritischen Reflexion nicht den höchsten Rang einräumen und stattdessen auf Formen moralischer Verbundenheit aufbauen, die in einem Gefühl der Zugehörigkeit wurzeln: Wir können davon ausgehen, dass unsere tiefsten moralischen Überzeugungen für uns konstitutiv sind, anstatt ein Gegenstand unserer Wahl zu sein, und dass sie unserem Selbstverständnis und den von uns getroffenen Entscheidungen zugrunde liegen, und trotzdem zugleich glauben, dass politische Prinzipien, da sie auf Zwang beruhen, derart sein müssen, dass sie von allen Personen, die ihnen unterstehen, vernünftigerweise akzeptiert werden können, sogar von jenen, die anderer Meinung über die Wichtigkeit kritischer Reflexion sind. Natürlich gibt es Theorien des menschlich Guten, die dieses Prinzip des Respekts vor Personen ablehnen. Viele von diesen legen zweifellos Wert darauf, kritische Reflexion zu beschränken, und predigen stattdessen den Gehorsam vor traditionellen, oft religiösen, Autoritäten. Aber diese beiden Auffassungen gehen nicht notwendigerweise Hand in Hand. Tatsächlich gibt es auch individualistische Positionen, die den Willen zur Macht des kreativen Individuums verherrlichen, den Großteil der Menschheit verachten, und sich deshalb gleichermaßen als illiberal erweisen. Ehrfurcht vor Tradition steht liberalen Idealen ebenso wenig wesentlich entgegen wie das Pflegen von Individualität mit diesen wesentlich harmoniert. Daher gilt es auch festzuhalten, dass vernünftige Menschen, die ihre grundlegenden Vernunftvermögen ausüben und mit anderen aufrichtig kommunizieren, nicht schon allein deswegen davon überzeugt sein müssen, dass der politische Zwang im Rahmen der Zustimmung der Bürger gehalten werden soll. Vernünftigsein in meinem Sinne impliziert nicht das Prinzip des Respekts vor Personen. Auch wenn die moralische Basis der Demokratie auf keiner umfassenden moralischen Lehre beruht, sind ihre Annahmen doch nicht derart, dass jeder die Gründe erkennen kann, die für deren Akzeptanz sprechen. In diesem Sinne sind sie nicht als universell zu betrachten. Der Begriff ›universell‹ bzw. ›allgemein‹ hat allerdings zwei unterschiedliche Bedeutungen, die unglücklicherweise oft miteinander verwechselt werden. Prinzipien können als allgemein verbindlich gelten, unabhängig von Zeit und Ort, doch allgemeine Verbindlichkeit impliziert nicht notwendigerweise allgemeine Rechtfertigbarkeit: Um die Gründe für die Geltung bestimmter Prinzipien einzusehen, brauchen wir manchmal eine bestimmte Geschichte und müssen bestimmte Erfahrungen gemacht haben.33 Dies gilt meiner Ansicht nach auch für das Prinzip wechselseitigen Respekts, ebenso wie für die Auffassung des politischen Lebens, der es zugrunde liegt. Das Prinzip hat universelle Geltung, aber es gibt keinen Anlass anzunehmen, dass alle vernünftigen Personen über Gründe verfügen müssen, um es zu akzeptieren. Daher ist mein Text auch nicht in einem problematischen Sinne ›fundamentalistisch‹, selbst wenn ich mehrfach von moralischen Grundlagen gesprochen habe. Es

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Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Larmore: Morals of Modernity, Kapitel 2, § 5.

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wurde nicht auf Überlegungen, die a priori oder rational unbezweifelbar sein sollen, sondern stattdessen auf historische Kontingenzen verwiesen. Heutzutage mag uns die Festlegung auf das Prinzip des Respekts vor Personen so sehr zur zweiten Natur geworden sein, dass wir – so wie Habermas und Rawls – versäumen, dieses Prinzip am Werke zu erkennen oder zu erwähnen. Es könnte sein, dass wir einfach durch es hindurchsehen, wenn wir über die Verfassungsgrundsätze nachdenken, die sich ein demokratisches Volk geben soll, um sein politisches Leben zu steuern. Oder es kann uns entgehen, wie sehr wir weiterhin auf dieses Prinzip angewiesen sind, wenn wir stattdessen liberale Denker auffordern, sich weniger darum zu bemühen, universelle Prinzipien festzulegen, und mehr darum, die vielerlei Weisen zu erkennen, in denen Menschen mit unterschiedlichen moralischen Auffassungen in einem Geist der Toleranz zusammenleben können.34 Und selbst wenn wir aufgrund der Einsicht, dass Konzeptionen der Gerechtigkeit nicht weniger als Vorstellungen des guten Lebens Gegenstand vernünftiger Meinungsverschiedenheiten sind, zu dem Schluss kommen, dass die Gesetzgebung eine größere Rolle spielen sollte als nicht gewählte Verfassungsgerichte, wenn es darum geht, umstrittene Fragen zu individuellen Rechten zu entscheiden – selbst dann ergibt sich die moralische Autorität, welche der Gesetzgebung angeblich zukommt, eben daraus, dass Mehrheitsentscheidungen den Parlamentariern einen gleichen Respekt zollen, wenn sie abstimmen, ebenso wie den Bürger, wenn sie diese wählen.35 Kurz, das Prinzip des Respekts vor Personen definiert das spezifisch moralische ›Wir‹, zu welchem wir in der demokratischen Welt geworden sind, selbst wenn wir nach wie vor aufgrund wichtiger Differenzen uneins sind bezüglich anderer grundlegender Fragen. Hier wie in anderen Fällen erfordert Selbsterkenntnis, dass wir unseren Blick auf das richten, was uns so naheliegt, dass es unerkannt bleibt. Nur dann können wir verstehen, warum diese moralische Haltung, auch wenn sie uns selbst in Fleisch und Blut übergegangen ist, nicht allgemein zugänglich und auf die aufrichtige Ablehnung von anderen gestoßen ist. Für viele auch heute, und erst recht für einen großen Teil der Menschheitsgeschichte, erfordert eine richtige Einschätzung unseres Platzes in der Welt, dass die Regeln des politischen Lebens vor allem Gott gefallen, gleichgültig ob sie auch Gegenstand einer vernünftige Übereinkunft derjenigen sind, die sie verpflichten sollten. Dennoch frage ich mich, ob es nicht noch einen weiteren Grund gibt, aus dem Habermas und Rawls die moralischen Grundlagen ihrer Auffassungen von liberaler Demokratie nicht explizit machen. Vielleicht erschwert ihnen, so wie sicherlich anderen auch, ein weiteres zeitgenössisches Ideal, unsere grundlegenden Festlegungen als das zu erkennen, was sie sind. Die Freiheit der Selbstbestimmung erfreut sich heute eines hohen Ansehens, sowohl als individueller wie auch als kollektiver Wert. Sie findet eine so spontane Anerkennung, dass alle anderen Werte eine untergeordnete Bedeutung zu haben scheinen. InVgl. als Beispiel hierfür John Gray: Two Faces of Liberalism, New York 2000. Jeremy Waldron musste bspw. eingestehen – als er für die »Würde« der Gesetzgebung argumentierte und sich dafür aussprach, dass diese besser auf unsere andauernden vernünftigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Rechten und des Guten eingehen könnte als die Verfassungsgerichtsbarkeit –, dass die Mehrheitswahlregel letztlich auf das Prinzip des Respekts vor Personen zurückgeht. Vgl. Jeremy Waldron: Law and Disagreement, Oxford et al. 1999, S. 107–114. 34

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dividuen, so wird behauptet, können nur von denjenigen Regeln verpflichtet werden, die sie sich selbst gegeben haben. Ebenso hören wir ständig, dass Bürger in ihrer Eigenschaft als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft die Regeln, nach denen sie leben werden, selbst festlegen sollen.36 Ich bezweifle, dass die Moral im Allgemeinen sinnvoll sein kann, wenn ihre Wurzeln in Freiheit als dem höchsten Wert vermutet werden.37 Ich bin sicher, wie ich hier dargelegt habe, dass unser Bekenntnis zu Demokratie oder politischer Selbstbestimmung nicht verstanden werden kann ohne Rückbezug auf eine höhere moralische Autorität, welche in der Pflicht besteht, uns als Personen wechselseitig zu respektieren.

Literatur Bayle, Pierre: »Takiddin«, Anmerkung A, in: ders.: Dictionnaire historique et critique. Crowder, George: Liberalism and Value Pluralism, London 2002. Dworkin, Ronald: »Justice and Rights« in: Ders.: Taking Rights Seriously, Cambridge, MA 1978. Frankfurt, Harry: »Freedom of the Will and the Concept of a Person« in: ders.: The Importance of What We Care About, Cambridge 1988. Galston, William: Liberal Purposes, Cambridge 1991. – Liberal Pluralism, Cambridge 2002. Gray, John: Two Faces of Liberalism, New York 2000. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/M. 1988. – Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992. – »Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch« in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M 1997, S. 169–195. – Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/M. 1996. – Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M. 2005. Larmore, Charles: The Morals of Modernity, Cambridge 1996. – The Romantic Legacy, New York 1996. – »Pierre Bayle« in: M. Canto-Sperber (Hg.): Dictionnaire d´éthique et de philosophie morale, Paris 1996, S. 133–137. – »Der Zwang des besseren Arguments« in: Lutz Wingert/Klaus Günther: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas., Frankfurt/M. 2001, S. 106–125. – Les pratiques du moi, Paris 2004. – The Autonomy of Morality, Cambridge 2008. So etwa Habermas: Einbeziehung, S. 301: »Menschenrechte mögen moralisch noch so gut begründet werden können, sie dürfen aber einem Souverän nicht paternalistisch übergestülpt werden. Die Idee der rechtlichen Autonomie der Bürger verlangt ja, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren verstehen können. Dieser Idee widerspräche es, wenn der demokratische Verfassungsgeber die Menschenrechte als so etwas wie moralische Tatsachen schon vorfinden würde, um sie nur noch zu positivieren.« 37 Vgl. Larmore: Autonomy of Morality, Kap.5. 36

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Rawls, John: »Erwiderung auf Habermas« und in: Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/ Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1997, S. 196–262. – Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 2003. Scanlon, Thomas M.: What We Owe to Each Other, Cambridge MA 1998. Waldron, Jeremy: Liberal Rights, Cambridge MA 1993. – Law and Disagreement, Oxford et al. 1999. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 51972. Williams, Bernard: In the Beginning Was the Deed, Princeton 32007.

Wahrheit in der Demokratie Barbara Zehnpfennig (Passau)

Als Francis Fukuyama vor gut 25 Jahren von einem möglichen Ende der Geschichte sprach,1 gab er damit der Erwartung Ausdruck, das demokratische Modell werde sich allmählich über den Globus verbreiten und der geschichtlichen Dynamik, die aus den Systemgegensätzen herrührte, ein Ende bereiten. Dass Fukuyama zugleich die Befürchtung äußerte, die weltweite Demokratisierung könne auch den Nietzscheschen »letzten Menschen« auf den Plan rufen,2 jene mittelmäßige, selbstzufriedene und hedonistische Existenz, die nichts mehr will und nichts mehr wagt, wurde dabei oft übersehen. Tatsächlich war Fukuyamas Zukunftserwartung aber keineswegs uneingeschränkt positiv. Vielmehr erblickte er innerhalb der Demokratie selbst eine Gefährdung, eine Tendenz zur Vermittelmäßigung und Verflachung, welche ihre Selbstbehauptungskräfte schwächen und ihre Überlegenheit gegenüber anderen Systemarten in Frage stellen könnte. Gegenwärtig ist diese Binnengefährdung der Demokratie allerdings etwas aus dem Blick geraten. Denn der westlichen Demokratie sind bedrohliche Gegner von außen erwachsen. Der Islamismus, der sich als globale Bewegung etabliert hat und mit schlechterdings schrankenloser Brutalität ein Terrorregime zu errichten versucht, hat ganz dezidiert »den Westen« zum entscheidenden Gegner deklariert, den es mit buchstäblich allen Mitteln zu bekämpfen gelte. Wie fundamental dieser Angriff ist, brachte am deutlichsten der australische Premierminister Tony Abbott auf den Begriff, als er ein geplantes islamistisches Attentat mit den Worten kommentierte: »Diese Leute hassen uns nicht für das, was wir tun, sondern dafür, wer wir sind und wie wir leben.«3 In der Tat ist es die westliche Lebensweise als solche, das Leben in der liberalen Demokratie, das nun von einem neuen ideologisch begründeten Hass in Frage gestellt wird. Die früheren ideologisch motivierten Attacken auf das liberale System, die des Kommunismus und des Nationalsozialismus, hatte die Demokratie überstanden. Sie hatte dem totalitären Wahrheitsanspruch, der beiden Bewegungen zugrunde lag, das liberale Offenhalten der Wahrheitsfrage, die Meinungsfreiheit, den demokratischen Diskurs entgegengehalten. Beanspruchten die beiden Ideologien, Antworten auf alle Fragen zu haben, so sollten in der Demokratie gerade keine fertigen Antworten gegeben werden. Schloss der ideologische Dogmatismus jede Form der Kontroverse aus, sah die Demokratie gerade in der Auseinandersetzung über den richtigen Weg ihre ratio essendi. War mit dem Absoluten, das Kommunismus und Nationalsozialismus politisch realisieren wollten, ein quasiVgl. Francis Fukuyama: »Das Ende der Geschichte?«, in: Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte, 17. Jhrg., Nr. 4/89, S. 3–25. 2 Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, S. 383–464. 3 DIE WELT vom 18.09.2014. 1

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religiöser Heilsanspruch verbunden, so verstand sich der säkulare Staat als nicht zuständig für die letzten Dinge und überließ diese den dafür vorgesehenen Institutionen. Der Bereich des Politischen sollte freigehalten werden von der Erwartung, hier könne die für alle erkennbare und verbindliche Wahrheit in politische Aktion umgesetzt werden. Dass dieses Modell der politischen Selbstbescheidung so erfolgreich war, hing sicherlich auch damit zusammen, dass es mit einem überaus effizienten Wirtschaftssystem verbunden war, welches einen bis dahin unbekannten Massenwohlstand sicherte. Doch genau diese Kombination, der Verzicht auf letzte Wahrheiten und die – möglicherweise kompensatorische – Konzentration auf die Schaffung von Wohlstand, liefert den entscheidenden Angriffspunkt für die islamistische Aggression. Hier ist auf einmal eine Gegenmacht zur liberalen Demokratie entstanden, die das, was diese selbst für ihre Stärken hält, als Schwäche wahrnimmt. So wird Meinungsfreiheit zur Beliebigkeit, das von Überlebensängsten befreite, angenehme Leben zum oberflächlichen Hedonismus, die Suspension der Wahrheitsfrage zur Gottvergessenheit und grenzenlosen Überschätzung der Individualität. Die Trennung von Politik und Religion, eine Folge westlicher Aufklärung, trifft auf eine globale Gegnerschaft, die nicht nur seitens der radikalen, sondern auch seitens der gemäßigten Variante des Islam gehegt wird. Konsequent wird eine der wesentlichen Errungenschaften der westlichen Moderne, die Menschenrechte, in vielen islamischen Ländern nicht als verbindlicher Maßstab anerkannt. Es gibt eine höhere Wahrheit als die menschliche – und diese soll sich auch politisch niederschlagen. Angesichts der neuen Front, welche sich nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation für die westliche Demokratie aufgetan hat, stellen sich auch neue Fragen. Was hat der Westen, was hat die Demokratie dem Hass, den sie auf sich gezogen hat, entgegenzusetzen? Welches sind die Werte, die in der Demokratie für so überlegen gehalten werden, dass es sich lohnt, für sie zu kämpfen? Und wie tief ist der Glaube an diese Werte verankert, wenn in vielen demokratischen Ländern die Wahlbeteiligung, also die Wahrnehmung des entscheidenden demokratischen Rechts, immer weiter im Rückgang begriffen ist? Die Bedrohungen, die fremder Fundamentalismus wie eigene Gleichgültigkeit für die liberale Demokratie darstellen, lassen es sinnvoll erscheinen, sich der Grundlagen des freiheitlichen Systems noch einmal zu versichern. Das soll im Anschluss ansatzweise versucht werden, und zwar auf der Ebene der philosophischen und demokratietheoretischen Reflexion. Dazu ist zunächst zu analysieren, welches Bild die gängigen Demokratietheorien vom liberalen System zeichnen. Danach ist zu fragen, wie schlüssig die dargestellten Positionen sind. Und abschließend soll geprüft werden, ob jenseits dieser Theorien eine Begründung des Guten, das wir der Demokratie zuschreiben, möglich ist, die dies Gute weder als objektivistisch gegeben noch als subjektivistisch oder intersubjektivistisch auflösbar denkt. Letztlich geht es um die Wahrheitsfrage, um die, wie es scheint, auch die Demokratie nicht herum kommt.4

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Dies ist auch die Kernthese von Julian Nida-Rümelin in: Demokratie und Wahrheit, München 2006.

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I. Demokratietheorien Nicht immer ist ganz klar, ob die Theorien, die sich mit der Funktionsweise der Demokratie befassen, deskriptiv oder präskriptiv zu verstehen sind. Ist das, was hier dargestellt wird, die Bestandsaufnahme des Gegebenen oder ist es die Konstruktion eines Ideals? Sofern mit der Deskription keine Kritik verbunden ist, kann man annehmen, dass das Beschriebene auch das Gesollte sein soll oder, dass sich in den Augen der jeweiligen Theoretiker zumindest keine Alternative abzeichnet. Dies scheint ohnehin der Generalnenner der gängigen Demokratietheorien zu sein: Sie beziehen sich auf eine Staatsform, die von ihnen für konkurrenzlos gehalten wird. Insofern muss in diesen Theorien auch aufscheinen, was die Konkurrenzlosigkeit begründet. Unter diesem Aspekt sollen nun zwar nicht alle, aber zumindest einige wichtige und verbreitete Demokratietheorien betrachtet werden. In der ökonomischen Theorie der Demokratie, die auf Joseph Schumpeter zurückgeht,5 wird die Demokratie auf ein Verfahren und dieses wiederum auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül zurückgeführt. Frühere Theorien, so Schumpeter, seien von einem vorgegebenen Gemeinwohl ausgegangen, das es demokratisch zu ermitteln gelte. Tatsächlich gebe es so etwas wie ein eindeutig bestimmbares Gemeinwohl aber nicht, und deshalb müsse die Perspektive umgekehrt werden: Es geht in der Demokratie nicht darum, dem auf das Gemeinwohl gerichteten Volkswillen durch die Wahl von Repräsentanten Geltung zu verschaffen. Die Wahl der Repräsentanten, also letztlich die Hervorbringung einer Regierung, ist vielmehr der Zweck des demokratischen Verfahrens und nicht das Mittel.6 Hier kommt nun das ökonomische Prinzip zum Tragen. Die Repräsentanten konkurrieren um die Stimmen der Wähler, indem sie ihnen einen entsprechenden Nutzen von ihrer Wahlentscheidung versprechen. Bei Anthony Downs, der Schumpeters Theorie weiterentwickelt hat,7 werden die verschiedenen ökonomischen Kalküle noch genauer durchgespielt. Nicht nur die Wähler denken nutzenorientiert, sondern ebenso die Gewählten. »Die Parteien treten mit politischen Konzepten hervor, um Wahlen zu gewinnen; sie gewinnen nicht die Wahlen, um mit politischen Konzepten hervortreten zu können.« 8 Die Rationalität, die den Handelnden, Politikern wie Wählern, seitens der ökonomischen Theorie der Politik attestiert wird, ist die der Eigennutz-Optimierung. Worin jeder seinen Nutzen sieht, ist eine Frage individueller Präferenzen, und für diese Präferenzen gibt es keinen Maßstab außer dem individuellen Wohlgefallen. Der Ausgleich der Interessen erfolgt nach dem Prinzip des Marktes, so dass das Verhältnis von Angebot und Nachfrage darüber entscheidet, welche Ergebnisse der demokratische Prozess zeitigt. In dieser Theorie werden Inhalte also ganz ausgeblendet. Sie erscheinen beliebig, wenn sie doch nur Mittel zum Zweck sind – Wohlstandsgewinne o. ä. auf Seiten der Wähler, Machtgewinn auf Seiten der Politiker. Als Wert einer so verstandenen Demokratie bleibt 5 Vgl. Joseph Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7., erw. Aufl., Tübingen und Basel 1993. 6 Vgl. Schumpeter: Kapitalismus, S. 427 f. 7 Vgl. Anthony Downs: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968. 8 Downs: Ökonomische Theorie, S. 27 f.

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die Freiheit, seine eigenen Vorstellungen auszuleben, und als Vermittlungsinstanz zwischen den Individualegoismen die – vermeintliche – Vernunft des Marktes bzw., wie bei Schumpeter, eine marktmäßig ermittelte Elite, bei der die Demokratie besser aufgehoben ist als beim zu klarem Urteil unfähigen Volk. In der Pluralismustheorie, z. B. in der Version Ernst Fraenkels, wird das Gemeinwohl nicht schlechthin verabschiedet. Es wird als eine Art regulative Idee bewahrt. Auf jeden Fall existiert es aber nicht a priori, sondern es stellt sich erst a posteriori heraus, nämlich als Resultante des gesellschaftlichen Kräfteparallelogramms.9 Nach diesem Modell hat die Demokratie bspw. gegenüber totalitären Staatsformen den Vorzug, nicht seitens einer unanfechtbaren politischen Führung das Richtige verordnet zu bekommen, sondern von der Pluralität der gesellschaftlich vorhandenen Meinungen und Interessen zu leben. Die Nachteile der pluralistischen Gesellschaft, nämlich Heterogenität der Masse und Vereinsamung des Individuums, werden dadurch aufgewogen, dass die Freiheit besteht, sich in Interessengruppen, Verbänden etc. zusammenzuschließen. Diese Gruppierungen werden politisch relevant, wenn sie sich entsprechend organisieren und um ihre Durchsetzung kämpfen. Weil sie sich in diesem Kampf aber wechselseitig hemmen, kann keine ein Monopol gewinnen. So entsteht aus dem durch Regeln eingehegten Kampf am Ende ein Gleichgewicht. Dieses kann im Grunde nicht viel anderes als das Marktgleichgewicht in der vorgenannten Theorie sein, da in beiden Fällen keine inhaltliche Gewichtung der miteinander ringenden Positionen vorgenommen wird und das Ergebnis daher von der quantitativ bestimmten Stärke abhängt. Damit aber doch nicht ganz Beliebiges als »Gemeinwohl« herauskommt, fordert Fraenkel einen nichtkontroversen Sektor von Wertvorstellungen als Grundlage des Pluralismus.10 Dazu gehören die Rechtsnormen, die Regeln der Fairness im politischen Wettbewerb, letztlich die Grundprinzipien eines gesitteten Zusammenlebens. Im nicht-kontroversen Sektor findet der Pluralismus ganz offensichtlich seine Grenzen, denn die Grundlagen des Systems stehen dem gesellschaftlichen Aushandelsprozess nicht offen und sind letztlich monistisch. In kontraktualistischen Demokratietheorien ist es wieder das Eigennutzkalkül, das den Vertrag schließen und die Verpflichtung auf Gegenseitigkeit eingehen lässt. Die klassischen Varianten der Vertragstheorie (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Fichte etc.) haben nicht unbedingt bereits das demokratische Modell vor Augen, wenn sie die politische Gemeinschaft aus einer gemeinsamen Willenserklärung hervorgehen lassen. Da der Vertrag, auf dessen Grundlage die politische Gemeinschaft ruht, aber die Gleichheit der Vertragspartner voraussetzt, ist die Demokratie die konsequenteste Umsetzung dieses Prinzips. In allen klassischen Formen der Vertragstheorie geht es beim Vertragsschluss um die Sicherung des Eigentums und damit des Überlebens. Das gilt nicht nur, wie man annehmen könnte, für Hobbes, der bekanntlich einen vorgesellschaftlichen Zustand entwirft, 9 Vgl. Ernst Fraenkel: »Möglichkeit und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Demokratie und Pluralismus, Alexander v. Brünneck, Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler (Hg.), Baden-Baden 2000, S. 293. 10 Vgl. Ernst Fraenkel: »Das amerikanische Regierungssystem«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Amerikastudien, Alexander v. Brünneck, Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler (Hg.), Baden-Baden 2000, S. 831.

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in dem der Krieg aller gegen alle herrscht.11 Das gilt sogar für Rousseau, dessen Schilderung eines vorgesellschaftlichen Idylls am Ende doch umschlägt in eine Kampfsituation, die es erfordert, klare Eigentumsregeln zu erlassen, um das Überleben zu sichern.12 Doch nicht bloß die Grundlage des Vertrags ist bei den entsprechenden Theoretikern dieselbe, sondern auch dessen Funktionsweise. Um des eigenen Überlebens willen akzeptieren die Vertragspartner das Prinzip der Reziprozität, also einer gegenseitigen Verpflichtung, sich auf bestimmte Regeln zu einigen und diese einzuhalten. Bei der modernen Variante der Vertragstheorie von John Rawls ist der vorgesellschaftliche Zustand ein reines Gedankenkonstrukt. Es simuliert die Bedingungen, unter denen rationale Personen eine gerechte Gesellschaft entwerfen würden.13 Aber auch hier geht es um eine »Fairness«, nach der primär Eigentum oder Eigentumschancen verteilt werden. Der »Schleier des Nicht-Wissens«, hinter dem bei der Verteilung verborgen ist, wer einmal welche gesellschaftliche Position einnehmen wird, dient dazu, den als selbstverständlich vorausgesetzten Eigennutz ›wohltätig‹ zu kanalisieren: Da man nicht weiß, welches Schicksal einem selbst einmal zugedacht ist, sorgt man dafür, dass alle einigermaßen gut versorgt sind. Der Vertragsgedanke, das trifft ganz generell zu, lässt die (demokratische) Gesellschaft aus einer freien Übereinkunft von Individuen entstehen, die sich aus Eigeninteresse Regeln geben, deren Einhaltung sie sich wechselseitig versprechen. Das Partikularinteresse steht also am Anfang, und der Ausgleich der Interessen bestimmt, welche Normen gelten sollen. Im Konstruktivismus – auch hier kann man auf Rawls zurückgreifen14 – wird noch einmal ganz deutlich betont, dass es keine vorgegebenen Werte gibt, die dem demokratischen Zusammenleben zugrunde liegen. Moralische Tatsachen o. ä. sind reine Fiktion. Insofern wäre hier auch ein Wahrheitsanspruch völlig verfehlt. Gerechtigkeitsbegriffe und Ähnliches müssen durch Konstruktionsverfahren festgelegt werden, die vernünftigen Anforderungen genügen.15 Das Demokratische daran ist, dass alle an diesem Prozess beteiligt werden. Grundlage des Konstruktionsverfahrens ist das Verständnis von Personen als Freie und Gleiche, außerdem wird vorausgesetzt, dass es sich bei Personen um rationale Akteure handelt. Die so definierten Personen sollen ihre Grundsätze nun so konstruieren, dass sie in einer wohlgeordneten Gesellschaft Geltung haben. Das, was sich aus diesen Grundsätzen ergibt, soll für alle akzeptabel sein, und das bedeutet, dass es dem Anspruch genügen muss, vernünftig zu sein. Rawls spricht von einem »overlapping consensus«, also einem trotz Pluralismus von allen geteilten Kanon von Überzeugungen, auf dessen Grundlage dann der öffentliche Diskurs stattfinden soll. Dieser Konsens muss rein politischen ChaVgl. Thomas Hobbes: Leviathan, Iring Fetscher (Hg.), Frankfurt/M.41991. Vgl. Jean-Jaques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Herausgegeben und übersetzt von Philipp Rippel, Ditzingen 1998. 13 Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1979. 14 Genauer gesagt, auf den späten Rawls, der mit seinem Buch Political Liberalism von 1993 einige seiner früheren Positionen revidiert hat (John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998). 15 Vgl. John Rawls: Die Idee des Politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt/M. 1994, S. 81 f. 11

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rakter haben; metaphysische, moralische und religiöse Überzeugungen haben hier nichts zu suchen. Im Konstruktivismus werden die Inhalte und Ziele des demokratischen Systems also dem Verfahren überantwortet. Ein objektives Bezugssystem für die Grundsätze, nach denen sich das gesellschaftliche Zusammenleben regelt, gibt es nicht. Kombiniert mit dem Kontraktualismus, der die freiwillige Verpflichtung auf Wechselseitigkeit beinhaltet, ist die Demokratie in dieser Theorie also Ergebnis einer Übereinkunft, die nicht bloß den gesellschaftlichen Zusammenschluss, sondern ebenso alle weitergehenden Grundlagen des Zusammenlebens betrifft. Die deliberative Demokratietheorie, deren prominentester Vertreter nach wie vor Jürgen Habermas ist, setzt ebenfalls auf den gesellschaftlichen Konsens, der das, was als richtig oder gut zu gelten hat, erst festlegt.16 Vorausgehen muss der rationale Diskurs, ein herrschaftsfreier, öffentlich ausgetragener Austausch von Argumenten, in dem nur der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« gelten soll. Bei Habermas ist also eine ideale Sprechsituation vorausgesetzt. Teilnehmen am Diskurs soll nur, wer die Geltungsansprüche erfüllt, die an Beiträge zum Diskurs zu stellen sind, nämlich Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, oder anders ausgedrückt: Vernünftigkeit.17 Innerhalb eines so festgelegten Rahmens sind alle Diskursteilnehmer als gleichberechtigt zu behandeln. Mit dem öffentlich geführten Diskurs soll die Teilhabe der Bürger am politischen Geschehen erhöht werden. Allerdings steht dabei nicht das Subjekt im Mittelpunkt, sondern etablierte Verfahrensweisen der politischen Willensbildung sollen den Einfluss der Zivilgesellschaft auf das politische System sichern. Richtig institutionalisiert, kann der Diskurs auf die an ihm Beteiligten positiv, d. h. rationalitätssteigernd zurückwirken. Das ist auch nötig, denn es ist schließlich nicht der faktische Konsens, der zählt, sondern nur diejenigen Normen können Geltung beanspruchen, denen alle Beteiligten zustimmen können müssten. Vermutlich findet sich das entsprechende Wissen eher bei einer Bewusstseinselite, die dann auch den Diskurs adäquat einrichten muss. Die Deliberation erscheint somit zwar einerseits ergebnisoffen, andererseits folgt sie einem klaren, normative Geltung beanspruchenden Regelsystem. Hinter die als emanzipatorisch verstandenen Prinzipien darf sie im Ergebnis dann auch nicht zurückfallen. Die Postmoderne politische Theorie – etwa von Jean-François Lyotard – hat mit ihrer Rede vom Ende der großen Erzählungen im Grunde jeden Universalismus verabschiedet. Metaerzählungen wie die der Aufklärung, die eines hermeneutisch zu ermittelnden Sinns oder die einer dem Geist innewohnenden, sich geschichtlich verwirklichenden Zielgerichtetheit, sind obsolet geworden. Von daher glaubt diese Theorie auch nicht mehr an die Einigung durch den Diskurs bzw. an den Konsens.18 Sie verharrt in der Vielheit der Diskurse oder Sprachspiele, die alle untereinander inkommensurabel sind und schon 16 Vgl. Jürgen Habermas: »Drei normative Modelle der Demokratie«, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1999, S. 277–292. 17 Vgl. Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 104. 18 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Graz, Wien 1986.

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deshalb nicht in einen Konsens münden können.19 Konsequent wittert sie überall dort, wo sich Eines durchsetzt, Herrschaftsinteressen. Noch deutlicher wird diese Furcht vor der hinter den Diskursen stehenden Macht in Michel Foucaults Variante der postmodernen Theorie. Nach dieser lässt sich letztlich alles auf das – grundsätzlich negativ bewertete – Phänomen der Macht zurückführen, vor allem aber die Beschränkung oder Nicht-Zulassung bestimmter Diskurse durch den jeweils herrschenden Diskurs.20 Welche politische Konsequenz daraus zu ziehen ist, bleibt offen; bei Lyotard muss der Widerstreit, der sich aus der Vielheit der Diskurse ergibt, eben ausgehalten werden. Umso nicht alles der völligen Beliebigkeit auszuliefern, soll aber Eines unbestritten bleiben bzw. als jenseits des gesellschaftlichen Streits angesiedelt bewahrt werden: die Achtung vor den Menschenrechten. Auf diese möchte auch die postmoderne Theorie nicht verzichten, selbst wenn die Menschenrechte sich letztlich nicht in einer Weise begründen lassen, der allgemeine Geltung zugesprochen werden könnte. In der postmodernen Demokratietheorie spiegelt sich demnach eine gewisse Ratlosigkeit angesichts des Verlusts der Gewissheiten, welche die Moderne noch trug. So bleiben nur die Akzeptanz der miteinander unvereinbaren Pluralitäten und der Verweis auf etwas dennoch Verbindendes – die Menschenrechte – das freilich als Fundament der politischen Ordnung nur behauptet werden kann.

II. Prüfung So verschieden die genannten Theorien auch sein mögen – sie alle geben mehr oder weniger der Überzeugung Ausdruck, dass es sich bei der Demokratie um die zu bevorzugende Regierungsform handelt. Schon von ihrer Anlage her lassen sie für die Annahme, auch nicht-demokratische Systeme könnten als Alternative in Frage kommen, keinen Raum. Was Grund für die Bevorzugung der Demokratie ist, sind die spezifisch westlichen Werte wie (Wahl-)Freiheit, Gleichheit, soziale Gerechtigkeit, Individualismus etc., Werte, die letztlich in den Menschenrechten zum Ausdruck kommen. Zugleich lassen die genannten Theorien diese Werte aber wieder aus dem demokratischen Prozess selbst hervorgehen – durch Konstruktion, durch Konsensverfahren, durch Vertrag, durch den Ausgleich des Marktes etc. Das erscheint schon einmal zirkulär. Tatsächlich aber reicht der Widerspruch noch tiefer. Denn hinter allen Versuchen, die normative Grundlage der Demokratie in Verständigungsprozesse zwischen den Beteiligten oder in Verfahren aufzulösen, verbergen sich doch wieder Setzungen, die absolut genommen werden. Das lässt sich an allen genannten Theorien durchdeklinieren. In der ökonomischen Theorie der Demokratie ist zwar nicht mehr von Gemeinwohl die Rede, die Vorstellung davon schwingt aber mit, wenn der so hochgelobte Eigennutz doch nicht sich selbst überlassen, sondern via Markt praktisch ausgehebelt wird. Das war bereits bei Adam Smith 19 20

Vgl. Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, 2. Aufl., München 1989. Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, München 1974.

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so, dessen »unsichtbare Hand« für die Vernunft sorgen sollte, die dem Einzelnen offenbar nicht innewohnt. Der Markt soll einen vernünftigen Ausgleich der Interessen zustande bringen, das Prinzip ist keineswegs als rein mechanisches oder bloß quantitativ operierendes gedacht. Schumpeter erhofft sich durch entsprechende Anlage des Wahlsystems sogar die Installation einer Elite, die sich durch Urteilskraft oder Ähnliches auszeichnet und dadurch für ein vernünftiges Ergebnis sorgt. Immer ist also das, was Resultat des Marktgeschehens sein soll, schon vorausgesetzt und wirkt damit als dessen vorgeordneter Maßstab. Bei der Pluralismustheorie ist bemerkenswert, dass die Vielheit ihre Grenze an einem Monismus findet, der den Pluralismus erst möglich macht. Nur auf Grundlage eines nicht-kontroversen Sektors kann die gesellschaftliche Kontroverse geführt werden. Der Pluralismus gilt also nicht unbeschränkt, sondern er muss auf Werten ruhen, die eben nicht diskutabel sind. Insofern können sie schlecht nur Ergebnis des Interessenausgleichs sein, sondern müssen Geltung jenseits individueller Meinungen und Vorstellungen haben. Ähnliches gilt für die Vertragstheorie. Auch hier kommt die Einigung nur durch Rückgriff auf etwas ihr Vorausliegendes zustande. Der Vertrag setzt die Akzeptanz des Rechts voraus, das durch ihn installiert, aber nicht konstruiert wird. Ohne diese Voraussetzung kommt es gar nicht zum Vertrag. Und selbst wenn der Vertragsschluss nur aus Eigennutz erfolgt, bricht sich dieser Eigennutz doch ganz offensichtlich an einem anderen, allgemeinen Prinzip, welches die Einschränkung des eigenen Nutzens gebietet, indem man sich auf Reziprozität verpflichtet. Im Konstruktivismus sieht es zunächst so aus, als stünde alles der Konstruktion offen, als gäbe es nichts, was nicht der Setzung der gesellschaftlichen Akteure entspringt. Das Bild ändert sich aber sehr schnell, wenn man sieht, dass als Akteure ›rationale Personen‹ vorausgesetzt werden. Zudem soll die Konstruktion ›vernünftigen Anforderungen‹ genügen, damit bei dem Ganzen eine ›wohlgeordnete Gesellschaft‹ herauskommt. Rationalität, Vernunft und Wohlgeordnetheit sind also nicht konstruiert. Sie zugrunde zu legen, ist allerdings unabdingbar, wenn die geschilderten Verfahren nicht völlig Beliebiges hervorbringen sollen. Auch die deliberative Demokratietheorie leidet unter diesem Dilemma. Wird der Diskurs als die eigentliche Quelle aller gesellschaftlich zu verwirklichenden Grundsätze ausgegeben, so spricht schon der Verweis auf die Diskursregeln eine andere Sprache. Denn die Regeln gehen dem Diskurs immer voraus. Das zeigt sich auch an dem geforderten Konsens. Nicht der faktische Konsens kann Maßstab sein, sondern nur der vernünftige. Denn nur dieser ist es, der potentiell von allen gutgeheißen werden könnte, da alleine ein solcher die Überwindung von Partikularinteressen verspricht. Selbst in der postmodernen Demokratietheorie bleibt die unendliche Vielheit der entweder nebeneinander stehenden oder miteinander in Streit befindlichen Diskurse nicht das letzte Wort. Es gibt doch etwas, das nicht dem Widerstreit ausgesetzt werden soll, dem also offenbar eine übergeordnete Verbindlichkeit zukommt: die Menschenrechte. Und sogar wenn sich wie bei Foucault schlechthin alles auf Machtverhältnisse und -diskurse reduziert, wird der darin wirkende Wille zur Macht doch als letztlich böse und als

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zu unterlaufender charakterisiert, womit indirekt, und sicher auch uneingestanden, das Gute wieder als vorgängiger Maßstab installiert wäre. Kurzum: Das Absolute, das alle diese Theorien leugnen, setzen sie selbst doch wieder voraus. Ohne Vernunft, Gerechtigkeit, Gemeinwohl etc. kommen sie nicht aus, und zwar nicht als Ergebnis der von ihnen beschriebenen Prozesse, sondern als deren Grundlage. Das ist auch gar nicht anders denkbar, denn sie alle verfallen einem Grundwiderspruch. Mit ihrer Verlagerung der Gewichte auf Aushandelsprozesse, Diskurse und Verfahren des Interessenausgleichs suggerieren sie eine Ergebnisoffenheit, die faktisch nicht besteht, wenn als Ergebnis doch nur die Demokratie akzeptiert wird. Und da Letztere für bestimmte Werte steht, sind es eben diese Werte, die von Anfang an als wirksam gedacht sein müssen. Sie sind weder subjektiver Konstruktion noch intersubjektiver Verhandlung zuzurechnen. Welche Konsequenz ist aus diesem Befund zu ziehen? Dass diese Theorien im Gegensatz zu ihrem Selbstverständnis das Eigentliche doch wieder voraussetzen, dass ihr faktischer Relativismus von einem implizit angenommenen Absoluten unterlaufen wird, legt den Schluss nahe, dass man es im Denken tatsächlich voraussetzen muss. Auch wer die Möglichkeit von Wahrheit leugnet, beansprucht die Wahrheit für sich. Doch was ist die Wahrheit? Was ist das Gute, das sich in den Menschenrechten, dem Gemeinwohl, der Vernunft äußert?

III. Die Alternative(?) Die Werte, die der Demokratie zugrunde liegen, subjektivistisch aufzulösen kann nicht gelingen, denn für das Zusammenleben braucht man natürlich gemeinsame Werte. Sie aus der Intersubjektivität entstehen zu lassen, scheitert aus den eben genannten Gründen.21 So liegt die Vermutung nahe, dass es doch so etwas wie objektive Werte geben muss. Aber wo sind diese verortet? Der Realismus als Position innerhalb der Metaethik macht hierzu verschiedene Vorschläge. Realistischen Positionen gemein ist die Annahme, dass es objektive Werttatsachen gibt, also Tatsachen, die unabhängig davon bestehen, ob sie subjektiv als solche anerkannt werden oder nicht.22 Insofern unterliegen Aussagen, die sich auf diese Tatsachen beziehen, auch dem Wahrheitskriterium. Von dieser kognitivistischen Grundposition aus entfaltet sich ein großes Spektrum von Varianten, wie der Status von Werttatsachen bestimmt wird. Man kann z. B. »starken« und »schwachen« Realismus unterscheiden. Einige Vertreter des »starken« moralischen Realismus, etwa Max Scheler23 und Nicolai Hartmann24, sprechen Werten eine ontologische Wirklichkeit zu. Ein »schwacher« moralischer Realismus hebt dagegen nur auf die Wahrheitsfähigkeit moralischer Urteile ab. In 21 »Demokratie ist ohne Wahrheitsansprüche inhaltsleer. Demokratie ist kein bloßes Spiel der Interessen.«, Nida-Rümelin: Demokratie, S. 7. 22 Vgl. Franz von Kutschera: »Moralischer Realismus«, in: Logos, N. F. I (1994), S. 241–258. 23 Vgl. Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1916), 6. Aufl. Bern 1980. 24 Vgl. Nicolai Hartmann: Ethik. Berlin, Leipzig (1925), 3. Auflage 1949.

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der naturalistischen Variante des Realismus (z. B. Cornell-Realismus)25 werden Werte als natürliche Tatsachen betrachtet, in der nicht-naturalistischen Variante als Wirklichkeiten sui generis (G. E. Moore)26. Für einen prozeduralen Realisten (z. B. Christine Korsgaard)27 liegt die Richtigkeit der moralischen Aussagen in den Verfahren, gemäß derer diese Aussagen zustande kommen, für den substantiellen Realisten besteht die Richtigkeit moralischer Aussagen in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit usw. Das Feld ist unübersichtlich, die Positionen sind vielfältig und die verwendeten Kategorien nicht immer von der wünschenswerten Eindeutigkeit. Doch das noch viel tiefergehende Problem bei all diesen Ansätzen ist: Sie bewegen sich grundsätzlich auf der MetaEbene und setzen das, worum es gehen soll, wieder voraus. Man kann trefflich darüber streiten, ob das, worauf sich das moralische Urteil bezieht, eine natürliche Tatsache ist oder nicht, ob es substantiell ist oder sich erst prozedural erzeugt usw. Aber woher weiß man, dass sich das Urteil tatsächlich auf etwas bezieht und nicht nur auf die eigenen Projektionen? Ist nicht bereits die Primärebene des moralischen Urteilens so umstritten, dass es sich geradezu verbietet, diese als gegeben vorauszusetzen und sich gedanklich auf die Metaebene zu begeben? Schließlich kann man sich keineswegs sicher sein, ob bspw. das, was man für gerecht hält, schon gerecht ist. Angesichts der Zweifel, die man daran haben kann, wieder auf den Konstruktivismus zurückzufallen, hilft allerdings aus den zuvor genannten Gründen nicht weiter. Dogmatismus und Skeptizismus sind Kehrseiten derselben Medaille, feindliche Brüder, die doch wie aneinander gekettet erscheinen. Was also tun? Der hier unterbreitete Vorschlag mag überraschend erscheinen: Werfen wir auf der Suche nach einer Alternative einen Blick auf Platon. Damit ist nicht das überholte Bild vom Ideentheoretiker Platon gemeint, der eine ›Hinterwelt‹ aus substantialisierten Ideen konstruiert hat, welche durch eine Art mystischer Schau zu erfassen sind. Die Verdinglichung der Idee geht auf das aristotelische Missverständnis der platonischen Philosophie zurück, und Letzteres verliert in der Forschung glücklicherweise zunehmend an Bedeutung. Gemeint ist vielmehr die sokratische Frage, die das platonische Werk prägt. Wenn man die »Idee« von dieser Frage her versteht, verliert sie sofort ihren metaphysischen oder gar mystischen Charakter. Sie ist schlicht ein Synonym für den Sachverhalt, auf den die sokratische Frage zielt. Auch Sokrates setzt an den moralischen Urteilen an, betrachtet sie aber nicht von der Meta-Ebene aus, sondern geht ganz im Gegenteil auf deren Grundlage zurück, indem er nach den Prämissen fragt, auf denen das Urteil beruht. Was setzt derjenige voraus, der Gerechtigkeit als »Wiedergeben, was man empfangen hat« 28 definiert, der also mit der Reziprozitätserwartung den Vertragsgedanken propagiert?29 Eine solche Prämissenprü-

Dazu gehören die Philosophen Nicholas Sturgeon, Richard Boyd und David Brink; s. Alexander Miller: An Introduction To Contemporary Metaethics, Cambridge 2013, S. 4. 26 Vgl. G. E. Moore: Principia Ethica, Cambridge 1903. 27 Vgl. Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. 28 Das ist die Definition des Kephalos im ersten Buch der »Politeia« 331 c. Platon: Politeia, in: Werke, Bd. 4, Gunther Eigler (Hg.), Darmstadt 1990. 29 Dass Sokrates sich hier tatsächlich mit dem Vertragsdenken auseinandersetzt, bestätigt noch ein25

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fung wird nur möglich durch das Beharren auf der »Was-ist«-Frage: Was ist eigentlich die Sache (der in Rede stehende Wert), über die hier geurteilt wird? Damit ist über den ontologischen Status des betreffenden Wertes, z. B. die Gerechtigkeit, noch überhaupt nichts gesagt. An der sokratischen Frage wird nur deutlich, dass das Wissen um die Sache immer schon unterstellt ist, wenn über sie Aussagen getroffen werden. Das ist aber die normale Alltagssituation: Jeder fällt fortwährend moralische Urteile, und zwar implizit mit der Haltung, sich im Stand des Wissens zu befinden. Dass die Urteile sich widersprechen, dass der eine dies, der andere jenes für gerecht hält, ist jedoch ein Indiz dafür, dass nicht dasselbe gemeint sein kann. Daraus könnte nun wieder die skeptische Konsequenz gezogen werden: Die Sache selbst gibt es gar nicht, sondern nur Meinungen darüber, Meinungen, die irgendwie zu einem Konsens zusammengeführt werden müssen. Genau diese Konsequenz verbietet sich jedoch angesichts der Tatsache, dass jedermann, selbst der Skeptiker, für sein Urteil implizit doch wieder Wahrheit beansprucht und vor allem auf eines nicht verzichten mag: »Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder.«30 Die Frage danach, was die Sache selbst ist, ist demnach nicht oktroyiert. Sokrates zieht mit ihr nur die logische Schlussfolgerung aus der normalen Gesprächssituation, die von – mitunter unbewussten oder uneingestandenen – Wahrheitsansprüchen geprägt ist. Das ist auch gar nicht anders denkbar. Denn immerhin folgen dem Urteil in der Regel Taten; schon deshalb muss, wer handelt, für richtig halten, was seinem Handeln zugrunde liegt. Und selbst wenn er seine nominell vertretenen Prinzipien verrät, offenbart seine praktisch bewiesene Präferenz, was ihm im konkreten Fall als das Richtige erscheint. Dieses ist dann aller Relativität enthoben: Es ist das Richtige, auf jeden Fall im Selbstverständnis des Handelnden. Was kennzeichnet nun das sokratische Verfahren, das sich an die Was-ist-Frage anschließt?31 Es besteht in der Erforschung und Prüfung der Grundlagen, von denen her der Dialogpartner denkt. Passen die Folgen, die sich aus seinem Urteil ergeben, zu den Prämissen, von denen er ausging? Ist, um auf das eben genannte Beispiel zurückzukommen, Kephalos bereit, die Konsequenzen aus seinem Vertragsgedanken zu ziehen, nämlich den Vertrag auch dann zu erfüllen, wenn aus ihm nach seinem eigenem Verständnis Unrecht erwächst?32 Hier wird also die Wahrheitsfrage gestellt, und zwar, indem nur auf logische Konsistenz gesehen wird. So ist eine denkbar voraussetzungsarme Prüfung möglich, was schon deshalb nötig ist, um nicht irgendwelche metaphysischen Annahmen machen zu müssen, die ihrerseits wieder begründungsbedürftig wären. Der Logos muss mal die pointierte Zusammenfassung der im ersten Buch entwickelten Positionen durch den Dialogpartner Glaukon in 359 a. 30 Platon: Politeia 505 d. 31 Näheres zu diesem Verfahren in: Barbara Zehnpfennig: »Die Begründung des Politischen in der Antike: Die sokratische Suche nach Begründung«, in: Julian Nida-Rümelin/Elif Özmen (Hg.): Welt der Gründe, Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 4 , Hamburg 2012, S. 846–860. 32 Im konkreten Fall geht es darum, ob man jemandem eine einst geliehene Waffe zurückgeben soll, obwohl der Betreffende sie in rasendem Zustand zurückfordert.

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zunächst einmal mit sich selbst zusammenstimmen, denn ansonsten hat der, der ihn ausspricht, nichts gesagt. Dass der Logos in aller Regel nicht mit sich zusammenstimmt, dass die sokratische Prüfung grundsätzlich auf Selbstwidersprüche stößt, kennzeichnet allgemein den Stand des Menschen in der Welt: Wir fällen fortwährend Urteile, ohne sie bei genauer, bei sokratischer Prüfung begründen zu können. Von daher ist schon erkennbar, dass ein Konsens nicht weiterhelfen würde. Es wäre wahrscheinlich ein Konsens über unsere uneingesehenen Irrtümer. Was trägt aber eine solche Prüfung zur Beantwortung der Frage nach dem Status von Werten bei? Zunächst einmal wird deutlich, dass wir selbst unseren Werturteilen stets den Status der Wahrheit zuschreiben; wir reden immer über die Gerechtigkeit, gerade wenn wir uns über tatsächliche oder vermeintliche Ungerechtigkeiten erregen. Niemals kämen wir auf die Idee, in solchen Fällen von unserer unmaßgeblichen, falliblen Meinung über Gerechtigkeit zu sprechen. Zugleich macht die Prüfung deutlich, dass dieser Anspruch zu Unrecht erhoben wird. Tatsächlich wissen wir nicht, was die Sache selbst ist. Wenn man nun die oben beschriebenen Fallstricke in puncto Dogmatismus und Skeptizismus vermeiden will, gibt es nur einen Ausweg: Das zu Unrecht Beanspruchte muss gesucht, muss erkannt werden. Das bedeutet einen fundamentalen Paradigmenwechsel. Dann kann man nicht länger Theorien über eine Sache entwerfen, die man gar nicht hat; man muss sich erst einmal darum bemühen, sie zu erreichen. Und hier kann, wie bei Platon vorgeführt, der Weg offenbar nur die via negationis sein: Das Durchdenken des Irrtums führt zur Wahrheit, die Vernunft muss in der Verabschiedung liebgewonnener Vorurteile erst gewonnen werden. Sie ist nicht schon da. Doch gelangt man mittels der sokratischen Frage, die man zunächst einmal an sich selbst zu richten hätte, tatsächlich zu einem Ergebnis? Enden die als »sokratisch« bezeichneten Dialoge Platons, also die des Frühwerks, nicht alle aporetisch? Dieser Einwand ist naheliegend und geht dennoch fehl. Denn bei genauerem Hinsehen erweist sich die Aporie nur als die Ausweglosigkeit dessen, der seine Meinung gegenüber dem sokratischen Beharren auf einen Sachgrund nicht widerspruchsfrei durchhalten kann. Nur der falsche Anspruch scheitert, nicht aber die Untersuchung. Denn diese fördert in der Widerlegung ex negativo zutage, wie gedacht werden muss, um eben nicht dem Selbstwiderspruch zu verfallen. So zeigt sich am Beispiel des Kephalos, dass die Identifikation von Gerechtigkeit mit dem Vertrag zu unhaltbaren Konsequenzen führt. Nicht der Vertrag als solcher ist gerecht, sondern nur der gerechte Vertrag. Das klingt banal, ist aber eine Einsicht von grundstürzenden Folgen. Denn wenn man im Reziprozitätsprinzip den Grundsatz des liberalen Rechtsgedankens erkennt, sieht man, dass eine rechtspositivistische Begründung des Rechts nicht hinreicht – jedenfalls dann nicht, wenn mit dem Recht auch Gerechtigkeit beabsichtigt ist.33 Letzteres ist aber unverzichtbar, da der demokratische Rechtsstaat Vgl. dazu Barbara Zehnpfennig: »Die Bedeutung des ersten Buches der Politeia für das platonische Staatskonzept«, in: Peter Nitschke (Hg.): Politeia. Staatliche Verfasstheit bei Platon, Baden-Baden 2008, 33

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seine Existenzberechtigung gerade aus der Entgegensetzung zum Unrechtsstaat bezieht. Und auch das Konsensprinzip ist von der Widerlegung betroffen. Denn die Verpflichtung auf wechselseitige Anerkennung ist ebenfalls kein Garant dafür, dass das, worauf man sich geeinigt hat, tatsächlich gut und rechtens ist. Lässt sich nun gemäß der zuvor verwandten Kategorien charakterisieren, welcher Status grundlegenden Werten oder Tugenden wie Gerechtigkeit und Vernünftigkeit aus sokratisch-platonischer Sicht zukommt? Rein subjektiv können solche Werte nicht sein, da sie implizit immer mit einem Wahrheitsanspruch verbunden sind und verbunden sein müssen, um lebbar zu sein. Objektiv im Sinne des Schon-Gegeben-Seins können sie auch nicht sein, denn die sokratische Prüfung zeigt, dass man über sie eben nicht schon verfügt. Als außerhalb des Menschen und damit absolut bestehend sind sie ebenfalls nicht denkbar, denn dann gäbe es keinen Zugang zu ihnen, und bereits die Rede über sie wäre selbstwidersprüchlich.34 Und natürlich scheidet auch ihre Lokalisierung in der Intersubjektivität aus, weil diese bloß in einer Vermittlung zwischen den Subjekten besteht, welche bereits als Urheber verbindlicher Werte ausgeschlossen wurden. Das erscheint nun allerdings aporetisch; schließlich sind damit alle Möglichkeiten, sich den »Ort« von Werten vorzustellen, ausgeschöpft. Aber genau das ist wohl auch der Grund der Aporie: Der Versuch, sich das Gesuchte vorzustellen, ohne über es zu verfügen, muss immer in Widersprüchen enden. Die Position des Sokrates besteht darin, sich kein »Bild« zu machen, wie das Gesuchte zu sein hat. Es ist nur präsent als das Notwendige, aber noch Fehlende. Derart von problematischen Vormeinungen befreit, versucht Sokrates im Dialog, sich dem Gesuchten geistig zu nähern, indem er gegen den verfehlten Wissensanspruch seines Gegenübers die Ausrichtung auf die Suche nach der noch mangelnden Sache durchficht. Auf diese Weise bildet sich jene Vernünftigkeit aus, die es erlaubt, begründete Werturteile zu fällen. Der Wert zeigt sich erst in der – widerspruchsfreien – Begründung. Sein »Ort« ist dann diese Begründung bzw. der Mensch, der diese Begründung zu leisten imstande ist.

IV. Schluss Eingangs wurde auf die zwei großen Gefährdungen der Demokratie verwiesen, die gegenwärtig Anlass zur Besorgnis geben: der Dogmatismus, der dem liberalen Staat im islamischen Fundamentalismus begegnet, und der heimische Skeptizismus, der sich im geringen Einsatz für das eigene System zeigt. Für beides liefert unsere Demokratie einen Anlass, wenn denn die genannten Theorien für unser Denken symptomatisch sind. Der Islamismus verachtet eine Selbstüberhebung des Menschen, der keinen Maßstab über sich anerkennt und die so gewonnene Freiheit primär für Wohlleben verwendet. In S. 35–58. 34 Diese drei Möglichkeiten, sich die »Sache« oder die »Ideen« vorzustellen, werden in Platons Parmenides durchgespielt und allesamt als logisch nicht haltbar verworfen. Platon, Parmenides 131 a – 135 c, in: Werke, Bd.. 5, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1990, S. 195–315.

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der Tat ist es bequem, der Wahrheitsfrage auszuweichen, indem man sich auf den Konsens beruft. Faktisch bedeutet dies allerdings ein Nachgeben gegenüber den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, denn den herrschaftsfreien Diskurs gibt es nicht. Auch in der Demokratie kann das Recht des Stärkeren herrschen, ob sich nun irgendwelche Interessengruppen durchsetzen oder ob die Mehrheit dominiert. Und was das Wohlleben angeht, so muss es zu denken geben, wenn das ökonomische Paradigma auch noch die Demokratie erklären soll. Hier hat offenbar ein Bereich unserer Wirklichkeit alle anderen überwuchert, der ›rationale‹ Nutzenmaximierer wird zur Schlüsselkategorie, mit der sich letztlich alles erklären lässt. Dem Westen nackten Materialismus und Egoismus vorzuwerfen, fällt da nicht schwer. Und die andere Reaktion, sich für das eigene System nicht engagieren zu wollen, ist ebenfalls ein Kind dieses Systems. Wenn es keine Wahrheit gibt, die man erkennen muss, wenn es immer nur um die Aushandlung von Interessen o. ä. geht, dann ist das wenig begeisternd. Wer sich in dem allgemeinen »Bargaining«-Prozess keine Chancen ausrechnet, seine Interessen nachdrücklich ins Spiel zu bringen, sieht unter diesen Bedingungen wenig Anlass, sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Außerdem wiegt beim Verzicht auf jedes Wahrheitskriterium eine Meinung so viel wie die andere, also ist genauso der im Recht, dem es gleichgültig ist, ob man wählt oder nicht. Was aber tatsächlich den unendlichen Wert der Demokratie ausmacht, ist die Möglichkeit, seine Freiheit zur Wahrheitssuche zu nutzen. Diese Freiheit gibt es in fundamentalistischen Systemen nicht. Wenn man die demokratische Freiheit allerdings dazu verwendet nachzuweisen, dass es keine Wahrheit geben kann, dass alles Verhandlungssache ist, dass Werte immer nur über relative Geltung verfügen, dann muss man sich fragen, ob man hinreichend schätzt, was die Demokratie an Möglichkeiten gewährt. Ein dogmatischer Wahrheitsanspruch ist sicher immer problematisch, aber das ist auch nicht die Alternative. Die Alternative wäre eine Nutzung des mit dem liberalen System verbundenen Pluralismus zur gemeinsamen Auseinandersetzung über die fundamentalen Fragen unserer Gesellschaft – eine Auseinandersetzung, in der die grundlegenden Werte wie die Gerechtigkeit als erst zu findende betrachtet werden und nicht als etwas, was es entweder nicht gibt oder worüber man selbstverständlich und fraglos befinden kann.

Wahrheit in der Demokratie

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Pluralismus und das Ringen um Wahrheit Eine kurze Apologie der liberalen Demokratie Elif Özmen (Regensburg)

Wenn alte Wahrheiten ihren Einfluß auf das Denken der Menschen behalten sollen, müssen sie von Zeit zu Zeit in der Sprache und den Begriffen der nachfolgenden Generationen neu formuliert werden. Ständiger Gebrauch beraubt selbst die Ausdrücke, die sich einst als die wirkungsvollsten erwiesen haben, immer mehr ihrer Bedeutung, bis sie schließlich kaum mehr Überzeugungskraft haben. Friedrich August von Hayek

In diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, ein objektivistisches Verständnis der freiheitlichen Demokratie gegen seine zahlreichen, auch politikphilosophischen, Verächter zu verteidigen. Ich beschränke mich hierbei auf eine argumentative Skizze in vier Überlegungsschritten: Beginnend mit der Krisen- und Kritik-Rhetorik gegen die Demokratie (1) und der Unterscheidung von demokratischem Objektivismus und Subjektivismus (2) wird das Faktum, Problem und Wert des Pluralismus reflektiert (3), um abschließend die normative Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie zu erläutern und ihre ›realistische‹ Interpretation zu verteidigen (4).1

1. Krise und Kritik der Demokratie Seit den 1970er Jahren gehört der Topos »Krise der Demokratie« zum festen Vokabular nicht nur der Tagespolitik, sondern auch der politikwissenschaftlichen Diagnostik und der politischen Philosophie.2 Der Stetigkeit und Hartnäckigkeit dieser Krisenrhetorik Die gründliche Ausarbeitung der ideengeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Hintergründe sowie der philosophischen Argumente, die ich hier nur andeute, habe ich an anderer Stelle vorgelegt. Siehe Elif Özmen: Truth matters! Zu den begründungstheoretischen Grundlagen des politischen Liberalismus (Habilitationsschrift, in Überarbeitung für die Publikation); »Wahrheit und Kritik. Über die Tugenden der Demokratie«, in: studia philosophica 74/2015; »Zum Verhältnis von Demokratie und Wahrheit. Versuch einer realistisch-kohärentistischen Interpretation«, in: Dietmar von der Pfordten (Hg.): Philosophie und Lebensform. Festschrift für Julian Nida-Rümelin, Münster 2015, S. 209–224; »Zwischen Konsens und Dissens. Zeitgenössische politikphilosophische Perspektiven auf die Demokratie«, in: Michael Reder und Mara-Daria Cojocaru (Hg.): Zukunft der Demokratie. Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen?, München 2014, S. 125–137; Politische Philosophie zur Einführung, Hamburg 2013; »Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie«, zus. mit Julian Nida-Rümelin, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19/2011, S. 51–63. 2 Zu den breit rezipierten Krisen-Diagnosen zählen Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im 1

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zum Trotz kann von einer akuten, die politische Ordnung als solche gefährdenden, oder einer latenten, langwierige Erosions- und Verfallserscheinungen der Demokratie bezeichnenden Krise weder aus empirischer, noch aus historischer oder systematischer Perspektive gesprochen werden. Die vergleichende Demokratieforschung belegt die gelungene institutionelle und bürgerschaftliche Etablierung der Demokratien im OECD-Raum; hier ist keine Tendenz zum Qualitätsverlust oder zur Abnahme der Zufriedenheit auszumachen.3 Zudem dient »Demokratie« in Fortsetzung der Funktion, die sie als normative Idee jahrhundertelang erfüllte, auch gegenwärtig als Referenzpunkt weltweiter emanzipatorischer und revolutionärer Bewegungen.4 Eine historische Betrachtung führt zudem vor Augen, dass die Geschichte der Demokratie, sei es als normative Idee, sei es als Regierungs- und Lebensform, von einer Geschichte der Demokratie-Kritik flankiert wird. Schon Platon konstatiert gefährliche Entwicklungstendenzen, denen der demokratische Bürger und der demokratische Staat (oder konkret: die attische Polis) ausgesetzt seien. Aristoteles, Thomas Hobbes, Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill, Karl Marx, Max Weber und Carl Schmitt setzen die Reihe der politischen Denker, die (mutmaßliche) Probleme und Pathologien der Demokratie kritisch evaluieren und die demokratische Ordnung negieren, bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein fort. Die humanitären Katastrophen der beiden Weltkriege, der Totalitarismus und die völkermörderischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit markieren allerdings einen tiefen historischen und systematischen Einschnitt, auch für die politische Philosophie. Im Wissen um die »Akte der Barbarei (…), die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben«5, wird in den 1950er und 1960er Jahren ein Demokratie-Paradigma entwickelt, demzufolge die Demokratie die am wenigsten schlechte Herrschaftsform darstellt. »Democracy is the worst form of government, except for all those other forms that have been tried from time to time«6 – hinter dieses evaluative Urteil Winston Churchills wird die Philosophie nicht mehr zurückfallen. Im Unterschied zu den historischen Formen der Kritik mit ihren prinzipiellen Infragestellungen und Zurückweisungen wird Kritik nunmehr in konstruktiver Absicht vorgebracht. ›Kritisch‹ sind die zeitgenössischen philosophischen Kritiken, insofern sie die Realität der Demokratie an einem Ideal messen, ›konstruktiv‹ hingegen, insofern ihre normative Richtigkeit gegenüber den faktischen Verhältnissen, HerausforSpätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973; Michel Crozier/Samuel Huntington/Joji Watanuki: The Crisis of Democracy, New York 1975; Alasdair MacIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981; Samuel Huntington: Clash of Civilizations, New York 1996; Chantal Mouffe: The Democratic Paradox, London, New York 2000; Colin Crouch: Postdemocracy, Cambridge, Malden 2004; John Keane: The Life and Death of Democracy, New York 2009; David Runciman: The Confidence Trap: A History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton 2013. 3 Vgl. die Meta-Studie von Wolfgang Merkel und Werner Krause: »Krise der Demokratie? Ansichten von Experten und Bürgern«, in: Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise: zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 45–65. 4 Zum Beispiel in den 1980er Jahren bei den Dissidentenbewegungen der mittel- und osteuropäischen sozialistischen Staaten, den politischen Umbrüchen der 1990er, den Farbrevolutionen der frühen 2000er Jahre, im arabischen Frühling wie auch gegenwärtig in den Gezi-Park-, Occupy-, Indignados- und Umbrella-Bewegungen. 5 Aus der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. 6 So Winston Churchill in einer Rede vor dem House of Commons am 11. November 1947.

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derungen und Problemen verteidigt wird. Man bleibt eben nicht bei der Krisen-Diagnose bzw. der kritischen Analyse stehen, sondern nimmt diese als Ausgangspunkt für die Entwicklung ›besserer‹ oder gleich ganz neuer Demokratie-Konzepte. Die normative Theorie der Demokratie befindet sich jedenfalls nicht in einer Krise, sondern ist, wie die politische Philosophie im Ganzen, von einer beeindruckenden Lebendigkeit.

2. Der demokratische Subjektivismus Die Anerkennungswürdigkeit der Demokratie als souveräne Herrschaft der Bürger-/innen über sich selbst mag gegenwärtig unbestritten sein. Aber bezüglich der institutionellen, organisatorischen und normativen Arrangements und Ausgestaltungen der demokratischen Ordnung – über Verfassungen, Gewalten, Rechte, Freiheit, Gleichheit, Partizipation, Wahlen, Repräsentation, Märkte – ist mit diesem allgemeinen Lob noch nichts festgelegt. Während im politikphilosophischen Demokratie-Paradigma gemeinhin eine Verfassung der Freiheit, d. h. konstitutionalisierte Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit wie elementare Menschenrechte, Teilung und gesetzliche Bindung der drei Gewalten oder die Herrschaft des Rechts identifiziert und verteidigt werden, ist die politische Praxis (bzw. ihre Rhetorik) mehrdeutig. Wenn sich »Berlusconi und Bush, Derrida und Balibar, italienische Kommunisten und Hamas« gleichermaßen zur Demokratie bekennen können, fungiert sie wohlmöglich nur noch als »leerer Signifikant«, der keine zwingende inhaltliche Bedeutung oder normative Kontur hat. So schlussfolgert jedenfalls Wendy Brown: »Wir sind jetzt alle Demokraten…«. Die Demokratie erfreut sich heute einer nie dagewesenen weltweiten Popularität und ist gleichzeitig nie zuvor konzeptuell vager beziehungsweise substanzärmer gewesen.7 Allerdings kann die zeitgenössische Debatte über Objektivismus und Subjektivismus in der politischen Philosophie durchaus als eine grundsätzliche Debatte über die normative Substanz der Demokratie und ihren Geltungsanspruch verstanden werden. Meines Erachtens stellt diese Debatte zugleich einen politikphilosophischen Beitrag zu der Frage dar, ob und in welchem Sinne es eine kognitive, epistemische, phänomenale und moralische Wirklichkeit gibt (eine Frage, die unter dem Stichwort Realismus gegenwärtig alle Bereiche der Philosophie erfasst hat).8 Der demokratische Objektivismus betrachtet etwa die Freiheit und Gleichheit der Menschen als einen normativen Sachverhalt, als eine moralische Tatsache, die uns auch bei der Beantwortung der Frage nach der gerechten politischen Ordnung normativ anleitet und historische, gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Interessenlagen übertrumpft.9 Der deontologische Charakter der Abwehr- und Partizipationsgrundrechte, die in den Verfassungen freiheitlicher Demokratien garantiert werden, steht für diesen 7 Wendy Brown: »Wir sind jetzt alle Demokraten…«, in: Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012, S. 55–71, hier S. 55 f. 8 Für einen Überblick über die aktuelle Debatte siehe Markus Gabriel (Hg.): Der Neue Realismus, Frankfurt/M. 2014. 9 Vertreter eines politikethischen Realismus sind etwa Ronald Dworkin: Justice for Hedgehogs, Cambridge, Mass., London 2011 und Julian Nida-Rümelin: Demokratie und Wahrheit, München 2006.

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objektivistischen Geltungsanspruch der normativen Grundprinzipien der Demokratie. Demgegenüber ist der Gehalt und Geltungsanspruch des demokratischen Subjektivismus, der davon Abstand nimmt, seine eigenen Normen für wahrheitsfähig zu halten, moralisch und epistemisch schwächer. Diese Schwäche macht aber seine argumentative Stärke aus, wenn die Unvereinbarkeit moderner, d. h. pluralistischer, heterogener, postmetaphysischer Gesellschaften mit absoluten Wahrheitsansprüchen (bzw. mit einem moralischen Realismus) herausgestellt wird. Insbesondere das späte Werk von John Rawls hat diese Selbstbescheidung der liberalen Demokratietheorie motiviert.10 Eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger/-innen könne angesichts des Faktums des Pluralismus nur dann eine gemeinsame Grundlage finden, wenn Wahrheitsfragen ausgeklammert würden. Daher müsse eine politische, nicht metaphysische Theorie der Demokratie11 unabhängig von weltanschaulichen, religiösen und ethischen Lehren (z. B. auch der ›Lehre‹ des moralischen Realismus) formuliert werden. Ihr Geltungsanspruch resultiert nicht aus einer (philosophischen) Wahrheit, sondern aus der (politischen) Vernünftigkeit eines allgemeinen und verbindlichen Konsenses über die politischen, rechtlichen und sozialen Regeln des Zusammenlebens. In den politischen Ordnungen des Westens mit ihrer langen Geschichte der Bürger- und Menschenrechte, der Rechts- und Verfassungsprinzipien und des Konstitutionalismus kann, so Rawls’ Hoffnung, der öffentliche Vernunftgebrauch der Bürger/-innen eine faktische Akzeptanz der grundlegenden Ideen der Freiheitlichkeit und der Demokratie (d. h. der Prinzipien der Gerechtigkeit) offenlegen. Auch eine genuin politische (oder subjektivistische) Demokratie hat ein normatives Ethos, das sich allerdings nicht aus einem rationalen Minimalkonsens oder einem moralischen Fundament speist, sondern aus einem hermeneutischen Verfahren, das einen (historisch und gesellschaftlich) kontingenten Konsens offenlegt.12

3. Faktum, Problem und Wert des Pluralismus Aus einer historisch informierten und (inter)kulturell sensiblen Perspektive erscheint der demokratische Subjektivismus nicht ohne Anziehungskraft, da er eine Antwort auf zwei zentrale demokratietheoretische Probleme zu bieten scheint: das Problem des Relativismus und das Problem des Pluralismus. Der Relativismus weist darauf hin, dass die demokratischen Normen (etwa die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Konstitutionalismus und Parlamentarismus, das Repräsentationsprinzip und die ihnen zugeordnete individuelle wie auch kollektive Bindungsfunktion) letztlich »unserem« (z. B. westlichen, christliWeitere Vertreter des demokratischen Subjektivismus sind Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992; in gewisser Weise auch Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/M. 1998. 11 John Rawls: »Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch«, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt/M. 1994, S. 255–292. 12 Ich kritisiere die diesem Verfahren zugrundliegende Unterscheidung von Rechtem und Gutem (oder Politischem und Metaphysischem) in Elif Özmen: »Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten«, in: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus, Berlin 2015, S. 113–129. 10

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chen, säkularen, kapitalistischen) Verständnis von einer gerechten, ergo: demokratischen Gesellschaft entsprechen. Damit entziehe sich diese (und jede) Form der Demokratie einer universellen Rechtfertigung, allgemeinen Verbindlichkeit und Objektivierung, ebenso wie alle anderen kontingenten Traditionen, Sittlichkeitsvorstellungen, Sozialnormen und Vokabulare. Der Pluralismus beginnt mit der Feststellung, dass sich moderne Gesellschaften durch eine Vielfalt von Interessen, Werten, Weltanschauungen, Lebensorientierungen und ethischen Praktiken auszeichnen, die als normative Systeme nebeneinander existieren, aber häufig nicht miteinander vereinbar sind. Diese faktische Diversität und Heterogenität wird zu einem Problem der politischen und sozialen Integration (einem Problem der Stabilität, wie es Rawls nennt), wenn sich die Frage nach den inneren Bindungskräften der pluralistischen Gesellschaft stellt: »Wie können einander zutiefst entgegengesetzte, aber vernünftige Lehren zusammen bestehen und alle dieselbe politische Konzeption einer konstitutionellen Ordnung bejahen?«13 Insofern die sich in verschiedenen sozialen und kulturellen Gruppen verkörpernden partikularen Überzeugungen, Normen und Werte nicht ohne weiteres vereinbar sind mit den Werten und Normen der Demokratie, generiert das Faktum des Pluralismus zwar ein Problem (zunächst für die Theorie) der Demokratie. Aber zugleich ist der Pluralismus selbst kein Problem. Jedenfalls gilt für die liberale Demokratie, dass sie pluralistisch ist, insofern sie die Vielfalt individueller Werte und Lebensformen respektiert und ausdrücklich schützt.14 Auf den ersten Blick mag es überraschen, aber es lässt sich bei näherer Betrachtung plausibel machen, dass Individualismus und Pluralismus zwei Seiten einer Medaille darstellen. Wenn der Einzelne nicht mehr (wie im antiken und mittelalterlichen politischen Denken) als Teil von statischen Natur-, Kosmos- oder Schöpfungsordnungen vorgestellt wird, dann kann die politische Ordnung als eine vernünftige Konvention betrachtet werden, deren Legitimität von der Zustimmung der von Herrschaft gleichermaßen Betroffenen abhängig ist. Die Verkoppelung dieses normativen Individualismus mit den Normen der Freiheit und Gleichheit bestärkt die Dynamisierung noch, die dieses Herausfallen aus statischen Ordnungen bewirkt. Die gleiche Freiheit der Menschen, zu tun, was ihnen beliebt, zu begehren, was ihnen vernünftig, nützlich und gut erscheint, führt eben zu Individualisierungen, Unterschieden und Differenzen ihrer Interessen, Überzeugungen und Weltanschauungen, oder anders gesagt: führt eben zu Pluralismus. Daher ist Pluralismus ein zentrales normatives Prinzip der Demokratie, das mit dem Postulat der gleichen individuellen Freiheit aller Bürger/-innen ebenso verknüpft ist wie mit der Erwartung, dass nur ein freier, offener, vielstimmiger, durchaus auch streitbarer Prozess der öffentlichen Meinungsbildung wirklich demokratisch genannt werden kann. Die Anerkennung des Pluralismus erfolgt also im Rahmen der Anerkennung anderer normativer John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1995, S. 14. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wird der Begriff ›Pluralismus‹ zwar nicht ausdrücklich genannt, aber er ist als Verfassungswert Ausdruck der Freiheitlichkeit unseres demokratischen Gemeinwesens. So wird dem Pluralismus der Überzeugungen (Art. 4 GG), Meinungen (Art. 5 GG), Interessen (Art. 9 GG) und der politischen Willensrichtungen (Art. 21 GG) durch Grundrechte entsprochen. Siehe hierzu Joachim Detjen: Verfassungswerte. Welche Werte bestimmen das Grundgesetz, Bonn 2009, Kap. III.6: »Pluralismus – Ausdruck der Freiheitlichkeit des Gemeinwesens«. 13 14

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Prinzipien, die das moralische und epistemische Fundament der Demokratie ausmachen. Diese im Lichte des Pluralismus allgemein rechtfertigen zu wollen – im Bewusstsein der Probleme der Integration und Kohäsion, die ich gar nicht leugnen will – setzt also voraus, diesen systematischen Zusammenhang von Pluralismus und dem Individualismus gleicher Freiheit vor Augen zu haben. Pluralismus geht also über die Feststellung der faktischen Diversität hinaus, insofern diese Vielfalt als legitimes Phänomen verstanden und im Umkehrschluss jeder Eingriff, jede Beschränkung, jede Einflussnahme als legitimierungsbedürftig begriffen wird. Wird Pluralismus in diesem Sinne nicht nur als gegeben und unausweichlich, sondern als wünschenswert und förderungswürdig begriffen, kann man vom Wert des Pluralismus sprechen. Und wenn Pluralismus wertvoll ist, müssen auch die Dissense und Konflikte, zu denen er führt, durch den Einzelnen, aber vor allem durch den Staat, der mit der Befugnis zu zwingen potentiell in der Lage wäre, diesen durch weitgehende Begrenzungen der individuellen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit zu vermindern, toleriert werden. Die liberale Demokratie ist die Regierungs- und Lebensform, die diese Toleranz in hohem Maße leistet, ja mehr noch: als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit betrachtet.15

4. Die (normative) Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie Zu Beginn wurde darauf hingewiesen, dass keine ernstzunehmende zeitgenössische politische Theorie oder Philosophie daran zweifelt, dass die Demokratie die am wenigsten schlechte Herrschaftsform darstellt. Sie hat vorläufig keine normativ akzeptable Alternative. Ich bin davon überzeugt, dass die Alternativlosigkeit der Demokratie nur an zweiter Stelle in solchen Merkmalen begründet ist, die man aus politikwissenschaftlicher Perspektive gemeinhin als typische Stärken einer nicht defekten Demokratie betrachtet (z. B. die Begründung der kollektivbindenden politischen Entscheidungen durch den empirischen Willen der Bürger/-innen, die Berechenbarkeit politischer Institutionen, Vorgänge, Ergebnisse, Herrschaftsaufträge auf Zeit, eine verlässliche Vermittlung zwischen Gesellschaft und Politik, Offenheit, Lernfähigkeit, Effizienz des politischen Systems).16 An erster Stelle steht der bereits thematisierte epistemische und moralische Kern der Demokratie: ein normativer Individualismus, eine Konzeption gleicher Freiheit, eine Minimal-Moral dessen, was wir uns wechselseitig schulden sowie eine von epistemischem Optimismus getragene Norm rationaler Akzeptabilität. Diese (wie ich im Folgenden verkürzt sagen werde) liberalen Prinzipien können, dem demokratischen Objektivismus folgend, reaWie es in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts heißt, sind Pluralismus und Dissens das »Lebenselixier der Demokratie«, insofern die »vielfältigen, sich möglicherweise widersprechenden, ergänzenden, gegenseitig beeinflussenden Wertungen, Auffassungen und Äußerungen des Einzelnen, der Gruppen, der politischen Parteien, Verbände und sonstigen gesellschaftlichen Gebilde (die) öffentliche Meinung (bilden, die) man als ›Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes‹ bezeichnen kann«, BVerfGE 8, 104 (113). 16 Siehe hierzu die Ausführungen von Manfred S. Schmidt: »Stärken und Schwächen der Demokratie und der Demokratietheorien«, in: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 20084, S. 453–471. 15

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listisch-kohärentistisch begründet werden (auch wenn ich das an dieser Stelle nicht ausführen werde). Hingegen vermag der demokratische Subjektivismus mit seinem Verzicht auf eine kognitiv gehaltvolle Begründung weder den normativen Gehalt der Demokratie noch ihre Praxis adäquat zu erfassen. Die liberalen Prinzipien sind wahrheitsfähig: Was als normativ richtig und geboten anmutet, ist nicht (nur) das Ergebnis eines historisch und kulturell angeleiteten Spiels der Interessen. Die epistemische Bescheidenheit der Demokratie darf nicht als epistemische Abstinenz missverstanden werden. Im demokratischen Zeitalter haben fundamentalistische Begründungen (und sei es der Demokratie) ebenso ausgedient wie metaphysisch hypostasierte Wahrheitsbegriffe. Die Normen des Zusammenlebens sind nicht als von den Betroffenen unabhängige Sachverhalte ›da draußen‹ in einer Welt metaphysischer Entitäten (vor-)gegeben (z. B. in einer ›Realität‹ von Ideen, Natur/-gesetzen, eines historischen Materialismus, des Göttlichen oder des Weltgeistes). Ein solcher begründungstheoretischer Rekurs auf ›übermenschliche‹ Wahrheiten hat jede legitimatorische Kraft verloren, und das nicht nur, weil der metaphysische Realismus ontologisch und erkenntnistheoretisch wenig überzeugend ist, sondern auch, weil (so etwa Hannah Arendt oder Karl Popper) die Entwertung von Meinungen zugunsten von Wahrheiten (in der Theorie) die reale Entwertung von Menschen (in der Praxis) anleiten kann.17 Die Demokratie gilt auch deswegen als die am wenigsten schlechte Regierungs- und Lebensform, weil sie solche Ansprüche auf Wahrheit aus der Politik verbannt. Sie schafft eine Grundlage für das friedliche Zusammenleben; sie ist die am wenigsten schlechte Methode des Lösens konkreter gesellschaftlicher Probleme, des Verfolgens und Aushandelns konkurrierender und konfligierender Interessen und des politischen Wettbewerbs auf allen Ebenen der öffentlichen Willensbildung. Die ergebnisoffene, lernbereite und korrekturfähige freiheitliche Demokratie spricht der politischen Ordnung jeden objektiven Sinngehalt und (in dieser Hinsicht) auch jeden Wahrheitsanspruch ab. Diese epistemische Bescheidenheit als Zurückweisung von Wahrheiten zugunsten von Meinungen – pluralistisch, abhängig von Interessen und Interpretationen, wie sie nun einmal sind – steht der freiheitlichen Demokratie gut zu Gesicht. Meinungen kann man, anders als ›zwingende‹ oder ›alternativlose‹ Wahrheiten, zur Diskussion stellen, kritisieren, verteidigen; man kann sich einigen, den Disput bestehen lassen oder abstimmen. Demokratische Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung stehen für diesen Primat der Meinungen, der sich in der gleichen Freiheit der Bürger/-innen ausdrückt, über ihre Belange selbst zu entscheiden. Aber gerade deswegen und paradox anmutend, müssen bestimmte Wahrheitsansprüche aufrechterhalten werden. Weder unsere deskriptiven, noch normativen Aussagen, Urteile oder Begründungen sind epistemisch ›abstinent‹, ›politisch‹ (im Sinne von Rawls) oder ›ironisch‹ (im Sinne von Rorty), sondern wahrheitsimprägniert. Sie legen eine objektivistische Interpretation nahe, ohne dass das schon zu fundamentalistischen (metaphysischen, ontologischen, metaethischen) Begründungen und Bekenntnissen verpflichtet. Aber es verpflichtet uns zur RechtAm Beginn der Formulierung des modernen Demokratie-Paradigmas steht eine fundamentale Selbstkritik der Philosophie im Sinne einer Kritik der ideengeschichtlichen Voraussetzungen geschlossener Gesellschaften und totalitärer Herrschaftsformen. 17

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fertigung unserer Überzeugungen, ohne Anspruch auf Letztbegründung oder Gewissheit, aber als ein ernsthaftes und kritisches Ringen um Wahrheit im Sinne des empirisch und normativ Richtigen. Für dieses Ringen um die richtigen politischen Fragen und Antworten bietet die liberale Demokratie ein Rechtfertigungsverfahren an, das einen Weg aufzeigt zur Begründung von allgemeinen und verbindlichen normativen Regeln des Zusammenlebens gegenüber und durch freie und gleiche Individuen. Dieses Legitimationserfordernis ruht dem moralischen und epistemischen Fundament der liberalen Demokratie auf. Der Pluralismus, d. h. auch die Dissense und Konflikte, die Herausforderungen und auch die Krisen-Diagnosen, die die Normalität der freiheitlichen Demokratie ausmachen, stellen dieses enge Verhältnis von Demokratie und Wahrheit nicht in Frage. Dass wir unsicher sind, uns irren können, Fehler machen, Argumente abwägen, unsere Überzeugungen revidieren, versteht sich von selbst, denn eine offene demokratische Gesellschaft ist korrekturfähig. Hierfür spielt Kritik als Praxis des Überprüfens von Sachverhalten auf ihre Richtigkeit, Angemessenheit und Akzeptabilität eine entscheidende Rolle. Kritik als ein im Prinzip auf Unendlichkeit gestellter Prozess der Infragestellung, Überprüfung und auch Relativierung der bisherigen Überzeugungen, Entscheidungen und Argumentationen, ist der Modus einer funktionierenden und lebendigen Demokratie. Hierbei wird dem citoyen nicht nur zugemutet, sondern vor allem zugetraut, dass er an Deliberations- und Entscheidungsprozessen partizipiert und sich dabei dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments unterwirft. Wir wissen, dass wir hierbei Fehler machen können, unter anderem, weil wir nicht alles wissen können. Das nimmt den Gründen, die wechselseitig rational akzeptabel sind, jedoch nicht ihren objektiven Gehalt, sondern bestätigt ihn. Freiheit, Gleichheit, das damit verbundene individuelle Recht auf die Rechtfertigung von politischem oder rechtlichem Zwang, die Beschränkung der Rechtfertigung auf das Geben und Nehmen von Gründen, das Kriterium der rationalen Akzeptabilität – alles das, was nicht nur den normativen Gehalt der Philosophie der Demokratie, sondern auch die Praxis in der freiheitlichen demokratischen Ordnung ausmacht – wäre in seinem Rang und seiner Bedeutung gar nicht zu erfassen, wenn man nicht ihre Objektivierbarkeit, und somit in einem unaufgeregten Sinne ihre Wahrheitsfähigkeit, unterstellt. Für die liberale Demokratie stellt also nicht jeder Pluralismus ein Problem dar, sondern nur die Fälle, in denen konkurrierende gesellschaftliche Werthaltungen die liberalen Prinzipien ernsthaft tangieren und zur Disposition stellen. Es ist daher eine Aufgabe der Philosophie der Demokratie, den Vorrang der liberalen Prinzipien, den Vorrang des Rechten vor dem Guten, herauszustellen und zu begründen. Die Frage der politischen und sozialen Integration, der Stabilität und Kohäsion ist nur mit gewichtigen Einschränkungen geeignet, diesen demokratischen Objektivismus herauszufordern. Das gemeinhin als ›Problem des Pluralismus‹ betrachtete wirft nämlich kein (politikphilosophisch zu lösendes) Begründungs- oder Geltungsproblem für die liberale Demokratie auf, sondern ein (nichtsdestoweniger ernstzunehmendes) Anerkennungsproblem, mit dem jede alternative politische Ordnung ebenfalls konfrontiert ist und welches durch die Sozialwissenschaften, die Pädagogik, die Psychologie – also im besten Sinne praktisch-politisch – zu behandeln wäre. Politische Bildung und öffentliche Wertediskurse sind der demokrati-

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sche Königsweg, um für die Anerkennung der liberalen Prinzipien und Grundwerte bei hinreichend vielen Bürger/-innen zu werben und sich gegen die populistischen Verächter der freiheitlichen Demokratie argumentativ und emotional zu wappnen. Gelingt das nicht oder nicht in ausreichendem Maße, zerfasern die gemeinschaftlichen Bande, die das Gemeinwesen stiften, bürgerschaftliches Engagement motivieren und gemeinwohlorientiertes und solidarisches Handeln anleiten – und das ist ein ernsthaftes praktisches Problem für die Demokratie. Der politische Wert des vielbeschworenen gesellschaftlichen Zusammenhalts erhellt sich überhaupt erst aus diesem Zusammenhang: Ohne faktische Anerkennung der liberalen Prinzipien bei dem Gros der Bürgerschaft keine faktische Anerkennung der freiheitlichen Demokratie. Aber die Gültigkeit (oder Anerkennungswürdigkeit) der liberalen demokratischen Prinzipien und Normen ist nicht von einer solchen sozialen Geltung abhängig, sondern von guten Gründen, denen alle freien und gleichen Individuen zuzustimmen gleichermaßen guten – objektiven – Grund haben.

Literatur Brown, Wendy: »Wir sind jetzt alle Demokraten …«, in: Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012, S. 55–71. BVerfGE 8, 104 (113). Crouch, Colin: Postdemocracy, Cambridge, Malden 2004. Crozier, Michel et al.: The Crisis of Democracy, New York 1975. Detjen, Joachim: Verfassungswerte. Welche Werte bestimmen das Grundgesetz, Bonn 2009. Dworkin, Ronald: Justice for Hedgehogs, Cambridge, Mass., London 2011. Gabriel, Markus (Hg.): Der Neue Realismus, Frankfurt/M. 2014. Habermas, Jürgen: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973. – Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/M. 1998. Huntington, Samuel: Clash of Civilizations, New York 1996. Keane, John: The Life and Death of Democracy, New York 2009. MacIntyre, Alasdair: After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 1981. Mouffe, Chantal: The Democratic Paradox, London, New York 2000. Nida-Rümelin, Julian: Demokratie und Wahrheit, München 2006. Özmen, Elif: »Zur Normativität des Politischen in der säkularen, liberalen und sozialen Demokratie«, zus. mit Julian Nida-Rümelin, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 19/2011, S. 51–63. – Politische Philosophie zur Einführung, Hamburg 2013; – »Zwischen Konsens und Dissens. Zeitgenössische politikphilosophische Perspektiven auf die Demokratie«, in: Michael Reder und Mara-Daria Cojocaru (Hg.): Zukunft der Demokratie. Ende einer Illusion oder Aufbruch zu neuen Formen?, München 2014, S. 125–137. – Truth matters! Zu den begründungstheoretischen Grundlagen des politischen Liberalismus (Habilitationsschrift, in Überarbeitung für die Publikation). – »Wahrheit und Kritik. Über die Tugenden der Demokratie«, in: studia philosophica 74/2015 – »Zum Verhältnis von Demokratie und Wahrheit. Versuch einer realistisch-kohärentistischen

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Interpretation«, in: Dietmar von der Pfordten (Hg.): Philosophie und Lebensform. Festschrift für Julian Nida-Rümelin, Münster 2015, S. 209–224. – »Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten«, in: Otfried Höffe (Hg.): John Rawls: Politischer Liberalismus, Berlin 2015, S. 113–129. Runciman, David: The Confidence Trap: A History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton 2013. Merkel, Wolfgang und Krause, Werner: »Krise der Demokratie? Ansichten von Experten und Bürgern«, in: Wolfgang Merkel (Hg.): Demokratie und Krise: zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie, Wiesbaden 2015, S. 45–65. Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992 . Rawls, John: »Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch«, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt/M. 1994, S. 255–292. – Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1995, S. 14. Schmidt, Manfred S.: »Stärken und Schwächen der Demokratie und der Demokratietheorien«, in: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 20084, S. 453–471.

Gut für alle zusammen? Oder was könnten Demokraten in einer Demokratie erkennen? Lutz Wingert (Zürich)

I. Moral und Politik Politik hat es selten mit Moral zu tun. Zyniker mögen hinzufügen: Und Politik hat es immer mit der Unmoral zu tun. Das ist eine intellektuell preiswerte Politikschelte. Sie kursiert zwar auch in akademischen Kreisen als eine handelsübliche Ware, aber ich will meine Überlegungen nicht an ihr ausrichten. Denn Politik hat es auch deshalb selten mit Moral zu tun, weil sich politische Fragen häufig nicht in moralischen Fragen erschöpfen. Nur einige Beispiele: Banken leihen Unternehmen oft Geld in vielfacher Höhe dessen, was verschuldete Unternehmen aus ihrer bilanzierten Tätigkeit erzielen. Soll es eine gesetzliche Obergrenze dafür geben, eine Grenze für sogenannte »leverage loans«, um desaströse Kaskadeneffekte durch Insolvenzen auf dem Finanzmarkt zu vermeiden, und wenn ja, wo soll diese Obergrenze liegen? Oder eine andere politische Frage: Sollen die Steuermehreinnahmen in Deutschland (2014/2015) bevorzugt in die Sanierung öffentlicher Haushalte gesteckt werden oder in die Sanierung von Brücken, Kanalsystemen, Schulen und öffentlichen Krankenhäusern? Sind Parallelwährungen in den Krisenländern der Eurozone ( 2010–?) dazu geeignet, Lohneinbußen und Preisentwicklung zeitlich so zu synchronisieren, dass massive Kaufkraftverluste in Bezug auf nicht-importierte Waren vermieden werden? All das sind Fragen, die nicht unmittelbar moralische Fragen sind so wie die Frage, ob eine Präimplantationsdiagnostik zur Ermöglichung von so genannten Rettungsgeschwistern1 eingesetzt werden darf, oder ob man das Völkerrecht aus moralischen Gründen missachten darf. In Zeiten verwissenschaftlichter Politikberatung kann kein Zweifel bestehen, dass zumindest dem Anspruch nach (wissenschaftliche) Erkenntnisse in der Politik eine Rolle spielen. Aber die Erkenntnis, was der Fall war, ist oder sein wird, ist im Kontext dieses Kolloquiums nicht gemeint. Es geht um normative Wahrheiten, die bewertenden oder vorschreibenden Urteilen, darunter moralischen Urteilen, zukommen sollen. Natürlich kann jede politische Frage als eine praktische Frage auch unter moralische Aspekte gebracht werden. Das hat seinen Grund darin, dass die Moral unsere soziale Lebensform so durchzieht, wie Sauerstoff die Atmosphäre durchzieht, die zur Umwelt unserer biologisch beschreibbaren Lebensform gehört. Wir sind versehrbare Wesen, die in die Lebensform Es werden Embryonen in vitro erzeugt und dann nach einer entsprechenden Präimplantationsdiagnostik unter dem Aspekt ausgewählt, wie sehr sie genetisch einem kranken Kind ähneln. Dieser Embryo entwickelt sich dann zu einem Geschwister des kranken Kindes. Sein Gewebe ist mit den Gewebeeigenschaften des kranken Geschwisterkindes kompatibel. Es kann deshalb als Spender fungieren. 1

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des gemeinschaftlichen Tätigseins eingelassen und verwickelt sind. Deshalb ist die Moral für uns so unverzichtbar wie die Luft zum Atmen. Es ist übrigens diese Unverzichtbarkeit, die einen Inhalt moralischer Erkenntnis ausmacht. Zunächst möchte ich Politik und Moral und damit auch politisches Handeln und moralische Erkenntnis auf Distanz zueinander halten. Es werden dann aber hoffentlich Stellen im politischen Terrain deutlich werden, an denen in der Politik Kandidaten für normative Wahrheiten und sogar für moralische Einsichten auftreten. Dem vorgeordnet sind einige Begriffsklärungen, eine Überlegung zum Verhältnis zwischen theoretisch angeleiteten moralischen Argumentationen und Demokratie sowie eine knappe Stellungnahme zum moralischen Realismus.

II. Zu den Begriffen Moral, Politik und Demokratie Zum Moralbegriff und zum Begriff der Politik möchte ich an dieser Stelle nur so viel sagen: Eine Moral ist ein Gefüge aus individuellen Einstellungen (zum Beispiel Ehrlichkeit oder Fairness) und aus sozialen Normen wie beispielsweise dem Tötungsverbot oder der Norm, gleiche Fälle gleich zu behandeln. Für diese Einstellungen und Normen wird beansprucht: (i) Sie beinhalten das, was Personen einander schulden oder voneinander gegenseitig verlangen dürfen in Ansehung der Bedingungen für ein gutes Leben Anderer und (ii) sie beinhalten das, was sie versehrbaren Lebewesen in Ansehung von deren Verletzlichkeit als Schutz schulden. »Politik« ist der Name für ein kollektiv verbindliches Entscheiden unter Fremden. Die Ergebnisse von politischen Entscheidungsprozessen sind Beschlüsse für ein Kollektiv – für eine Polis, für eine res publica, eine polity, ein Gemeinwesen. Die Mitglieder dieses Kollektivs teilen nicht das Leben, so wie Familienangehörige, die Mitglieder einer Sekte, eines Lebensbundes oder enge Freunde es tun. Die Mitglieder eines politischen Kollektivs teilen nur Lebensbedingungen und sind in diesem Sinn füreinander Fremde. In der Demokratie ist das Entscheiden unter Fremden dem Anspruch nach ein Fall kollektiver Selbstbestimmung, die sich in rechtlicher Form vollzieht. Diese Spezifikationen des politischen Entscheidens – kollektive Selbstbestimmung und eine rechtliche oder Gesetzesform – ergeben sich aus einem ebenso traditionellen wie anspruchsvollen Verständnis von Demokratie: Demokratie ist Regierung über das Volk, durch das Volk, und für das Volk. »Über das Volk« meint ein Willkürverbot. Keiner, auch nicht Vladimir Putin oder Silvio Berlusconi, steht über dem Gesetz und ist völlig ausgenommen von der Bindung an die Entscheide und an Regeln, die das Entscheiden steuern. Diese Regeln sind die sekundären Regeln von Herbert L. Hart.2 Sie machen eine rechtliche Form des Entscheidens aus. »Regierung durch das Volk« bedeutet, dass die Menschen über die Gesetze entscheiden, die für sie gelten sollen. Das ist die Autonomiebedingung demokratischer Politik. Die Autonomiebedingung ist uns in europäischen Kulturen letztlich seit RousHerbert L. Hart: Der Begriff des Rechts, Berlin 2011, Kap. V. »Recht als Einheit von primären und sekundären Regeln«, insbesondere S. 115 ff. 2

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seau geläufig. »Regierung für das Volk« meint: Die Gesetze sollen gut für alle zusammen sein und nicht bloß für die Starken oder für die Lobbyisten. Hinter diesem Egalitarismus des Wohls steht ein interventionistischer Wille, der für die Demokratie wesentlich ist. Soziale Lebensumstände sind schicksalhaft für die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben des Einzelnen. Nur ein Beispiel, das an diese simple und doch gerne vergessene soziale Tatsache erinnern soll: Kinder, die in Familien mit einem niedrigen Einkommen und niedriger Bildung aufwachsen, sind bereits in ihren exekutiven Funktionen wie Handlungsplanung und Impulskontrolle und in ihrem Sprachvermögen erheblich beeinträchtigt. Armut schlägt sich bei 9- bis 13-Jährigen nieder im biologischen Stress eines zu hohen Blutdrucks und eines überhöhten Cortisolspiegels, wie einschlägige Studien belegen.3 Diese Schicksalhaftigkeit sozialer Lebensumstände soll durch eine intentionale Beeinflussung gesellschaftlicher Verhältnisse gebrochen werden. Dieses antifatalistische Gebot setzt einen Grundsatz vom gleichwertigen Status eines jeden Gesetzesadressaten als Bürger voraus. Der Grundsatz lautet: Jeder Bürger und jede Bürgerin soll die gleiche Chance haben, Einfluss auszuüben auf diejenigen gesellschaftspolitisch gezogenen Rahmenbedingungen, unter denen er bzw. sie das eigene Leben eigenverantwortlich führen muss. Kurz, jeder Bürger und jede Bürgerin eines Gemeinwesens soll gleichermaßen Einfluss auf die Gesetzesautoren nehmen können. Das ist das Prinzip vom gleichwertigen Bürgerstatus.4

III. Zum Verhältnis von moralischen Argumentationen und demokratischer Politik: Stützung und Konflikt Man sieht hier schon genügend Einsatzstellen für eine auch theoretische angeleitete moralische Argumentation: Was sind die Begründungen für das Willkürverbot, für die Autonomie der Gesetzesadressaten und für die tendenziell egalitäre Ausrichtung der demokratischen Politik auf das, was gut für alle zusammen ist? Man könnte eine argumentative Vorführung, dass es sich beim Willkürverbot, bei dem Autonomiegebot und bei dem Egalitarismus um moralische Einsichten handelt, nur willkommen heißen. Sie wäre eine wertvolle Zulieferleistung für eine normative politische Theorie der Demokratie, die von einer kognitivistischen Moraltheorie erbracht werden würde. (Eine kognitivistische Moraltheorie geht davon aus, dass es erkennbare Wahrheiten und Irrtümer in Fragen der Moral gibt.) Die moralphilosophisch begründeten moralischen Gebote und Verbote würden entsprechend eine normative Demokratietheorie stützen.5 Vgl. hier nur D. A. Hackman/M. J. Farah: »Socioeconomic Status and the Developing Brain«, in: Trends in Cognitive Sciences 13/2009, S. 66–73. 4 Wenn nicht anders vermerkt, meint »Bürger« im Folgenden einen politischen Bürger (Staatsbürger) mit politischen Beteiligungsrechten und nicht z. B. einen Wirtschaftsbürger. 5 Und sie könnte zu einem vertieften Verständnis für bestimmte etablierte Prinzipien verhelfen. Darauf macht Charles Larmore aufmerksam: »Heutzutage mag uns die Festlegung auf das Prinzip des Respekts vor Personen so sehr zur zweiten Natur geworden sein, dass wir – so wie Habermas und Rawls – versäumen, dieses Prinzip am Werke zu erkennen oder zu erwähnen. Es könnte sein, dass wir einfach 3

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Es ist ja nicht so, dass die Anhänger einer normativen Theorie der Demokratie sich heutzutage nicht mehr die Frage stellen müssen: Warum soll es eigentlich Demokratie geben? Denn es gibt keine Sperrklingeneffekte in der menschlichen Geschichte. »Einmal Demokratie, immer Demokratie« stimmt nicht. Die Frage »Warum soll es eigentlich Demokratie geben?« wird gegenwärtig wieder dringlicher. Denn nicht nur religiöse, insbesondere aktuell islamistische Fundamentalisten6, sondern auch eine wachsende Zahl von Mitgliedern der Funktionseliten in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sagen mit Blick auf Länder wie Singapur oder China oder mit Blick auf den Klimawandel, dass die Demokratie nicht alternativenlos ist.7 Es gibt auch in der westlichen Welt keinen consensus omnium mehr, dass Demokratie die einzig legitime politische Herrschaftsform ist. Julian Nida-Rümelin erinnerte in der Diskussion dieses Kolloquiums mit Recht eindringlich daran. Die Begründungen für ein Willkürverbot, für die Autonomiebedingung und für einen gewissen Egalitarismus würden eine Rechtfertigung moralischer Grundsätze für die demokratische Politik bedeuten. Man könnte diese Begründungen vielleicht bündeln in einer Begründung dafür, dass jeder Bürger einen gleichen Anspruch auf Freiheiten hat: Das Willkürverbot hätte dann zur Kehrseite den Anspruch auf Freiheit als Nicht-Beherrschung im Sinne von Rousseau und von Philip Pettit.8 Die Autonomiebedingung hätte Freiheit im Sinne eines Anspruches auf individuelle Selbstbestimmung zur Kehrseite. Und der Verpflichtung auf einen Egalitarismus des Wohls der Bürger entspräche dann der Anspruch auf einen gleichen reellen Wert der Freiheit, vorausgesetzt, es soll die Freiheit der Bürger durch eine intentionale Beeinflussung sozialer Lebensumstände ermöglicht und nicht bloß bewahrt werden. Ich kann eine solche Begründung hier nicht vorführen. Wenn sie gelänge, könnte man sagen: Der Grundrechtsteil politischer Verfassungen von real existierenden Demokratien hat eine Begründung hinter sich, die die normativen Aussagen dieses Verfassungsteils als Inhalte moralischer Einsichten ausweist. Wie bei politischen Verfassungen üblich, würde dann der Spielraum des politischen Entscheidens begrenzt werden, und zwar eben durch moralische Einsichten. Diese Begrenzung gehört zu einer oft anzutreffenden Auffassung davon, was Politik und Moral unterscheidet. In der Politik werden Beschlüsse gefällt, die in der Demokratie einen Willen aller Bürger zusammen bekunden sollen. In der Moral hingegen werden Urteile gefällt, die eine Einsicht aller erwachsenen und gesunden Personen ausdrücken können sollen,

durch es hindurchsehen, wenn wir über die Verfassungsgrundsätze nachdenken, die sich ein demokratisches Volk geben soll, um sein politisches Leben zu steuern.« (Vgl. Larmores Beitrag in diesem Band) 6 Vgl. hierzu den Beitrag von Barbara Zehnpfennig zu diesem Kolloquium in diesem Band. 7 Ich stimme also nicht mit Elif Özmen überein, wenn sie bemerkt: »Die Demokratie erfreut sich heute einer nie dagewesenen weltweiten Popularität (..)« Özmen fügt hinzu: »und (die Demokratie) ist gleichzeitig nie zuvor konzeptuell vager beziehungsweise substanzärmer gewesen.« Dieses Urteil teile ich jedoch. Vgl. Özmens Beitrag in diesem Band. 8 Jean-Jacques Rousseau: Du Contrat Social ou, Principes Du Droit Politique, in: ders., Oeuvres Complètes. Vol. III, Paris 1979, S. 289–294; Philip Pettit: Gerechte Freiheit. Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt, Berlin 2015, Kapitel. 2: »Freiheit mit Tiefe«.

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sofern man von einer kognitivistischen und überdies universalistischen Moralauffassung ausgeht. Gewiss, beides – politische Beschlüsse ebenso wie moralische Urteile – sind auch Festlegungen. Aber im Fall eines Beschlusses darf die Festlegung auch eine sein, bei der ein »Ich will das so!« bzw. »Wir wollen das so!« das letzte Wort in der Begründung für die Festlegung hat. Das gilt nicht für solche Urteile, die Einsichten ausdrücken sollen. Dieser Unterschied zwischen Festlegungen bei Beschlüssen einerseits und Festlegungen bei Urteilen andererseits bildet die Grundlage für einen Konflikt zwischen Moral und demokratischer Politik.9 Der Konflikt ist seit langem als Konflikt zwischen demokratischem Rechtspositivismus und Naturrecht bekannt und zeigt sich auch als Widerstreit zwischen Volkssouveränität und Moral. In der Schweiz wird gegenwärtig (2014–2015) diskutiert, ob das Land bestimmte völkerrechtliche Konventionen, darunter die Europäische Menschenrechtskonvention kündigen soll. Der Anlass sind Volksabstimmungen zu Fragen der Einwanderungspolitik. Diese Abstimmungen als Akte der Volkssouveränität kollidieren augenscheinlich mit bestimmten völkerrechtlichen Konventionen und werden in der Konsequenz durch diese Konventionen rechtlich nichtig. Das möchten einige im Namen der Demokratie aber nicht. Sie wollen deshalb, dass die Schweiz diese Konventionen kündigt. Es soll zum Beispiel gelten können: »Wir wollen keine kulturell fremdartigen Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen. Punkt!« Oder auch für den – hypothetischen – Fall einer arabischen Demokratie: »Wir wollen keine satirischen Darstellungen des Propheten!«. So soll der Wille des demokratischen Souveräns uneingeschränkt gelten. Wenn man davon ausgeht, dass die Europäische Menschenrechtskonvention moralische Einsichten enthält, dann kann man augenscheinlich diesen Konflikt auch als einen Konflikt zwischen Demokratie und Moral ansehen. Allerdings ist dieser Ausgangspunkt nicht jedermanns Standpunkt. Wer einen moralischen Realismus verwirft, wird diesen Ausgangspunkt vielleicht nicht akzeptieren. Aber darf man nur von moralischen Einsichten sprechen, wenn man einen solchen Realismus annimmt? Nein, wie hoffentlich sogleich ein wenig klarer werden wird.

IV. Moralischer Realismus und Objektivität Mit »moralischem Realismus« ist hier nicht ein nüchternes Verständnis von Moral gemeint – dass die Moral in der realen Welt wenig gilt; dass sie »Moralunternehmer« (Niklas Luhmann) so anzieht, wie die Motten das Licht; dass sie wegen ihrer Heterogenität keine klare Orientierung verschafft. Moralischer Realismus meint hier die ontologische Auffassung, dass es wahrmachende moralische Tatsachen gibt. Wohlwollend betrachtet wird eine moralische Realistin von zwei Motiven geleitet: Erstens vom Streben nach einer Unparteilichkeit des moralisch Urteilenden. Und zweitens von einem Misstrauen gegen die Bereitschaft zur Unparteilichkeit und gegen die AnJulian Nida-Rümelin erläutert diesen Konflikt am Beispiel der Kontroverse zwischen Ronald Dworkin und Jürgen Habermas. Vgl. seinen Aufsatz »Veritas filias temporis« in diesem Band. 9

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nahme beständig günstiger Umstände, unter denen die Möglichkeit zur Unparteilichkeit realisiert werden kann. Mit dem Streben nach Unparteilichkeit verbindet sich eine Überzeugung. Eine Äußerung wie »Wir wollen das nicht – dass Menschen demütigend bestraft werden, dass Menschen als rechtlose Knechte behandelt werden!« ist nicht das letzte Wort in den möglichen Verteidigungen unserer moralische Urteile und Affekte. Im moralischen Realismus werden diese Motive kultiviert in einer bestimmten Auffassung von der Wahrheit moralischer Urteile. Das Streben nach Unparteilichkeit zielt auf eine Wahrheit des Urteils ab. Diese Wahrheit liegt vor, wenn das Urteil eine moralische Tatsache konstatiert. Eine moralische Tatsache wird dabei als etwas verstanden, was den Status von Wahrheitsbedingungen für ein moralisches Urteil hat und was keinerlei Beziehungen zu normativen Stellungnahmen des Urteilenden, z. B. in Form von Gefühlen, von artikulierten Zurückweisungen und von bekräftigten Wertschätzungen, aufweist.10 Die Rede eines moralischen Realisten lautet: »Es ist moralisch wahr, dass kein Mensch als rechtloser Knecht behandelt werden soll, ganz unabhängig davon, was Menschen, darunter Herren und Knechte und moralische Realisten, von einer solchen Behandlung mit welchen Gründen auch immer halten.« Oder: »Es ist moralisch falsch, gegen Gott zu freveln, ganz unabhängig davon, was Menschen, darunter Ungläubige, Häretiker, negative Theologen, moralische Realisten von diesem Tun halten.« Die Wahrheit eines moralischen Urteils hängt für den moralischen Realisten allein von moralischen Tatsachen ab. Sie ist von jeder Rechtfertigung abgetrennt.11 Es kann immer der Fall sein, dass man etwas mit tatsächlich rechtfertigenden moralischen Gründen tut und gleichwohl etwas moralisch falsch macht. Für den moralischen Realisten kann es sein, dass wir Sünder sind und es niemals wissen werden! Mit dem angegebenen Begriff von moralischer Tatsache soll das Streben nach Unparteilichkeit und das Misstrauen gegen die Bereitschaft und Möglichkeit zur Unparteilichkeit in einer Auffassung des moralischen Urteils berücksichtigt werden. Ich will hier nicht in die Einzelheiten der Diskussion um den moralischen Realismus gehen, auch weil das von der Frage abführen würde, ob es in der demokratisch verstandenen Politik normative Wahrheiten und sogar moralische Wahrheiten geben kann. Nur Peter Railton spricht davon, dass – so verstanden – ein wahres moralisches Urteil etwas erfasst, was »radically nonsubjective« ist und was nicht »essentially connected with the existence or experience of subjects« ist. Vgl. Peter Railton: »Subjective and Objecitve«, in: Brad Hooker (Hg.): Truth in Ethics, Cambridge 1996, S. 55. 11 Julian Nida-Rümelin geht an dieser Stelle d’accord mit den moralischen Realisten, weil er »wahr sein« nicht mit »gerechtfertigt sein« expliziert sehen will. Vgl. »Veritas filias temporis« in diesem Band. Man muss allerdings zwischen einem Unterscheiden und einem Isolieren trennen − ein alter Punkt von Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), in: ders.: Hauptwerke in sechs Bänden, Hamburg 1999, §§ 117, 119, S. 148 f. Man kann den Gebrauch des Wahrheitsprädikats im Sprachspiel des Behauptens lokalisieren und damit auf Rechtfertigungen bezogen sein lassen, ohne deshalb Wahrheit mit Rechtfertigungen gleichzusetzen. Ohne diese Bezogenheit des Wahrheitsprädikats kann man jedoch die Funktion von rechtfertigenden Gründen, Erfüller von Wahrheitsbedingungen anzuzeigen, nicht beachten. Wenn man diese Indikatorfunktion von Gründen ausklammert, läuft man Gefahr, gute Gründe nur noch kommunitaristisch als Konsensstifter zu verstehen. Vgl. auch Lutz Wingert, »Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?«, in: Dieter Sturma (Hg.): Vernunft und Freiheit. Zur praktischen Philosophie von Julian Nida-Rümelin, Berlin, Boston 2012. 10

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so viel: Eine gravierende Schwierigkeit des moralischen Realismus hat damit zu tun, dass Tatsachen auf Sprache und damit auf sprachfähige Subjekte bezogen sind. Sie sind Gebilde mit einem aussageförmigen Gehalt. Man kann Tatsachen nicht so anfassen wie eine Katze oder schmecken wie eine Frucht, und man kann sie auch nicht so spüren wie einen elektrischen Strom oder eine Druckwelle. Tatsachen sind etwas, was den Gehalt möglicher wahrheitsfähiger Überzeugungen oder Aussagen ausmacht.12 Man kann den Bezug von Tatsachen auf sprachfähige Wesen nicht kappen. Nun will die moralische Realistin mit dem Begriff der Tatsache das Erfordernis epistemischer Objektivität berücksichtigen. Dieses Erfordernis ergibt sich daraus, dass wir unser moralisches Handeln und Urteilen nicht subjektivistisch verstehen und dass wir Unparteilichkeit in unserem Tun beanspruchen. Aber dieses Erfordernis kann man auch anders erfüllen. Man sollte die Wahrheitsbedingungen eines moralischen Urteils nicht als eine Unabhängigkeit von jedwedem Urteilssubjekt auffassen, sondern als Gleichgültigkeit oder Indifferenz gegenüber jedem bestimmten Urteilssubjekt. Wahre moralische Urteile sind dann solche Urteile, deren Gründe für diese Urteile auch dann noch sprechen, wenn das Urteilssubjekt durch andere Subjekte ersetzt wird. Moralische Einsichten hat man, wenn man solche Gründe hat. Bei dieser These steht die Auffassung Pate, dass Objektivität ganz allgemein die Invarianz von etwas bei Transformation oder Ersatz durch etwas anderes ist.13 Die epistemische Objektivität eines praktischen Grundes ist demgemäß – unter anderem – die Eigenschaft, dass der Grund seinen epistemischen Status bewahrt, für eine Handlung von A zu sprechen, wenn A durch jemanden anderen ersetzt wird. Man kann diese Ersetzung und Prüfung der epistemischen Qualität eines Grundes einen »Objektivitätstest« nennen. Dieser Test kann variieren und tut es in einer Demokratie auch, je nachdem welche Akteure und Betroffene als Substitute dienen. Der ersetzende Andere kann der Advokat meines besseren Selbst sein, also zum Beispiel eine kundige Ratgeberin. Er kann auch von einer Reihe von Bürgern eines Gemeinwesens mit ihren eigenen Interessen und normativen Erwartungen gebildet werden, die bei der Frage, was ist gut für alle zusammen, zählen. Oder der ersetzende Andere kann irgendein Mensch sein, der bei der Frage nach menschenrechtlichen Ansprüchen zählt. Der Kreis der substituierenden Anderen kann also unterschiedlich gezogen werden und mit den Geltungsansprüchen für Urteile variieren. Eine universalistische Moral der Menschenrechte mit ihrem Bezug nicht auf Bürger, sondern auf Menschen, ist in der demokratischen Politik aber nicht permanent im Spiel. Das wird deutlich werden, wenn man von dem Ausflug in den moralischen Realismus zur Demokratietheorie zurückkehrt. Um ein Zwischenresümee zu ziehen: Bislang habe ich Moral und demokratische Politik unterschieden und dabei zwei Beziehungen skizziert: erstens eine argumentative Stützung oder Rechtfertigung demokratischer Grundsätze durch eine kognitivistische Moral, Sie sind »believables«, wie Robert Brandom sagt. Vgl. R. Brandom: »Study Guide«, in: Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge 1997, S. 122 f., FN 3. 13 Vgl. Robert Nozick: Invariances, Cambridge 2001; Friedel Weinert: The Scientist as Philosopher, Berlin, Heidelberg 2005, S. 72 ff. 12

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zweitens einen Konflikt zwischen demokratischer Politik und Moral. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Einmal sprechen moralische Argumente für eine demokratische Politik, andermal gegen eine demokratische Politik. Man kann darüberhinaus aber auch fragen: Gibt es nicht nur für, sondern auch in einer demokratischen Politik Erkenntnisse normativer Wahrheiten?

V. Erkenntnisbezogene Einstellungen und normative Erkenntnisinhalte in der Demokratie Wie schon gesagt, gilt in einer normativen Demokratietheorie für die Demokratie: Das kollektiv verbindliche Entscheiden soll eine rechtsförmige Selbstbestimmung von denjenigen sein, für die die Entscheidungen gelten. Demokraten müssen deshalb aus der Perspektive eines Mit-Gesetzgebers auf den politischen Entscheidungsprozess einwirken. Ein Demokrat muss fragen: Was ist gut für jeden Bürger und jede Bürgerin? Es reicht allerdings nicht aus, dass ein Demokrat fragt: »Was ist gut für mich und was sagen die anderen Bürger, was gut für sie sei?« In diesem Fall müsste er nur für sich überlegen und anderen das Recht einräumen, zu sagen, was sie für sich für gut halten. Aber Gut-Sein für jemanden fällt nicht immer mit Für-gut-Halten zusammen. Der Demokrat muss gelegentlich auch anteilnehmende Kritik oder, wie Ursula Wolf sagt, »interessierte Kritik«14 üben an dem, was andere über ihr Wohl sagen. Bei dieser anteilnehmenden Kritik werden auch die Gründe des Kritisierten einem Objektivitätstest unterzogen. Aber hier ist der ersetzende Andere nur ein Anwalt des Kritisierten, zum Beispiel jemand, der die betreffende Person gut kennt, ihr wohlgesonnen ist und der vielleicht sogar in seinem Wohl mit ihr verschwistert ist wie eine bestimmte Sorte von Freunden. Warum muss eine Demokratin bereit sein, gelegentlich die erkenntnisbezogene Einstellung der anteilnehmenden Kritik einzunehmen? Weil eine demokratische Politik dem Anspruch nach durch kollektive Anstrengung solche sozialen Lebensumstände beeinflussen will, die die Chance des einzelnen auf ein individuell selbstbestimmtes Leben beeinflussen; und weil diese Umstände auch Irrtümer des einzelnen bewirken können, Irrtümer, über das, was gut für ihn ist. Der epistemische Unterschied zwischen Für-gut-Halten und Gut-Sein wandert in die Politik nicht über eine paternalistische Einstellung ein, also über eine wohlmeinende Fremdbestimmung. Der epistemische Unterschied zwischen Gut-Sein und Für-gutHalten kommt ins Spiel, wenn man die Grundaufgabe der demokratischen Politik ernst nimmt, nämlich naturwüchsige soziale Lebensumstände mit Blick auf individuelle Lebenschancen gemeinschaftlich zu beeinflussen. Diese Aufgabe ergibt sich aus dem Prinzip vom gleichwertigen Bürgerstatus. Mit der Unterscheidung zwischen Gut-Sein und Für-gut-Halten tritt eine erste epistemische Dimension von Politik zutage. Sie hat beispielsweise die Konsequenz, dass eine Urteilsenthaltung gegenüber Angehörigen fremder Kulturen nicht strikt sein kann.

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Ursula Wolf: Das Problem des moralischen Sollens, Berlin 1984, S. 19.

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VI. Die Kollektivgutperspektive: Was ist gut für alle zusammen? Eine Demokratin muss aber nicht bloß fragen: Was ist jeweils gut für jeden Bürger und jede Bürgerin? Sie muss auch überlegen, was gut für alle zusammen ist. »x ist gut für alle zusammen« besagt, dass x gut ist für jeden einzelnen zusammengenommen mit allen anderen. »Zusammengenommen mit anderen« heißt so viel wie »unter der anerkennenden Berücksichtigung dessen, (i) was anderen widerfährt, (ii) was sie tun und (iii) was sie wollen«. Zu dieser Berücksichtigung gehört auch die Beachtung bestimmter Folgen; nämlich derjenigen wechselseitigen Folgen, die sich ergeben, wenn jeder das tut, was er für sich als gut erachtet und was für jeden für sich betrachtet auch tatsächlich gut ist. Es ist sicherlich gut, sogar gut für jeden Bürger im kalifornischen Lancaster (bei Los Angeles), so viel Wasser aus dem öffentlichen Trinkwassersystem zu entnehmen, wie er oder sie glaubt zu brauchen, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und sich Komfort zu verschaffen. Aber es ist – vor allem unter den Bedingungen einer Dürre – nicht für alle zusammen gut. Und man kann das auch erkennen, wenn man die aggregierten Folgen des individuellen Verhaltens beachtet: Der Grundwasserspiegel wird gesenkt mit der Folge, dass der Boden als Wasserreservoir unumkehrbar beeinträchtigt wird und damit weniger Wasser für alle zur Verfügung steht.15 Die individuell kluge Strategie, das eigene Wohlbefinden zu steigern, erscheint im Licht dieser Perspektive auf die Folgen nicht als gut für alle zusammen. Die Überlegung, was gut für alle Bürger zusammen ist, ergibt sich aus der Rolle des Mit-Gesetzgebers, die der Demokratin in einer kollektiven Selbstbestimmung zugestanden und zugemutet wird. (Es ist damit noch offengelassen, ob Bürger diese Rolle delegieren dürfen oder sogar sollten.) Einer Demokratin wird in der Rolle einer Mit-Gesetzgeberin die Anstrengung aufgebürdet, zu erkennen, ob eine Handlungsweise voraussichtlich gut für alle Bürger zusammen ist und was Bedingungen bzw. Hindernisse für ihre Realisierung sind. Ein Bestandteil dieser Bürde ist die kognitive Übung der Entrelativierung. Man muss die Perspektive des einen Akteurs A durch die Perspektive des anderen passiv Betroffenen B ersetzen und dann prüfen, ob der Grund für A, so und so zu handeln, auch aus der Perspektive von B ein guter Grund bleibt, dass so gehandelt wird. Ebenso muss man aus einer Wir-Perspektive die Effekte der Handlungen von A und B überprüfen am Leitfaden der Frage, was gut für alle Bürger zusammen ist. Der Perspektivenwechsel und die damit oft konfliktreiche Übung der Entrelativierung ist eine weitere epistemische Di-

15 In Dürrezeiten wird das Wasser vermehrt dem Grundwasser entnommen. Durch diese Entnahme werden wasserhaltige Erdschichten zusammengedrückt. Denn die porenartigen Kanäle in solchen Erdschichten, die als Wasserreservoir fungieren, werden zunehmend mit der Wasserentnahme geleert und brechen infolgedessen zusammen. Das Regenwasser kann dann nicht mehr von den Poren der Erdschichten als Speicher aufgenommen werden. Dadurch wird die Balance zwischen der Entnahme von Wasser aus dem Boden und der Aufnahme von Wasser durch den Boden gestört. Für den aktuellen, kalifornischen Fall dieser Übernutzung – aktuell in den Jahren 2015–10216: vgl. http://californiawaterfoundation. org/uploads/1397858037-SubsidenceShortReportFINAL%2800248030xA1C15%29.pdf Ich danke Jérôme Léchot für wertvolle Erläuterungen zu diesem Fall.

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mension in der Demokratie.16 Allerdings handelt es nicht zwingend schon um die Einnahme einer menschenrechtlichen und somit universalistischen moralischen Perspektive. Eine anteilnehmende Kritik und ein entrelativierender Perspektivenwechsel sind erkenntnisbezogene Einstellungen; erkenntnisbezogen sind sie, weil sie Teil eines Objektivitätstests sind. Was könnten aber normative Erkenntnisinhalte sein? Man kommt in dieser Frage, was Demokraten erkennen könnten, weiter, wenn man Kollektivgüter ins Spiel bringt. Denn der Begriff des Kollektivgutes kann als eine Erläuterung davon dienen, was »gut für alle zusammen« meint. Mit Kollektivgütern sind allerdings Probleme verbunden. Diese Probleme bilden eine Sorte von Hindernissen dafür, das zu verwirklichen, was gut für alle Bürger zusammen ist. Das, was es ermöglicht, diese Hindernisse zu beseitigen, ist ebenfalls gut für alle zusammen. Entsprechend handelt es sich bei der Erkenntnis, was diese Hindernisse beseitigt, auch um eine Erkenntnis von dem, was gut für alle zusammen ist. Die Idee ist also: Zur Erkenntnis von Demokraten gehört die Erkenntnis von solchen Bedingungen, deren Erfüllung die Bereitstellung und Nutzung von Kollektivgütern ermöglicht.

VII. Zum Begriff des Kollektivgutes Bevor ich auf einige dieser Bedingungen eingehe, sei kurz der Begriff des Kollektivguts erläutert.17 Beispiele für Kollektivgüter sind technische Artefakte wie Brücken, Leuchttürme, Parks; technische Systeme wie eine flächendeckende Energieversorgung oder ein gefahrensenkendes Verkehrsleitsystem; natürliche Systeme wie eine Erdatmosphäre, die den Menschen das Leben in einer ökologischen Nische ermöglicht; Ressourcen der Natur wie reiche küstennahe Fischgründe oder Böden mit dicker humushaltiger Schicht. Ebenfalls zu Kollektivgütern zählen gewisse soziale Praktiken wie eine eingespielte medizinische Seuchenprävention oder der Einsatz eines städtischen Kältebusses für Obdachlose im Winter. Auch gehört zur Kategorie der Kollektivgüter ein Gefüge von Institutionen, also von regelbasierten Schematismen der sozialen Interaktion wie ein funktionierender Finanzmarkt oder wie eine umlagen- und steuerfinanzierte Gesundheitsversorgung nach dem Prinzip der Bedürftigkeit und nicht nach dem Prinzip der kostendeckenden Bei16 Ein solcher Perspektivwechsel ist leichter gefordert als praktiziert. Diana Mutz macht darauf aufmerksam, dass die Bereitschaft von Bürgern, sich für Politik zu interessieren, in den USA negativ korreliert mit der Bereitschaft, sich auf Andersdenkende einzulassen. Deshalb lautet der Untertitel Ihres Buches »Deliberative versus Participatory Democracy«. Vgl. Diana C. Mutz: Hearing the Other Side. Deliberative versus Participatory Democracy, Cambridge 2006. 17 Aus der Flut der Literatur sei hier nur die wichtigste konstruktive Arbeit nach Richard A. Musgrave und Mancur Olson genannt, nämlich die von Elinor Ostrom: Die Verfassung der Allmende, Tübingen 1999. Eine wirtschaftswissenschaftliche Standarddarstellung findet sich in Joseph E. Stiglitz/Jay K. Rosenfeld: Economics of the Public Sector, New York, London 2015, v.a. S. 101 ff. Mit moralphilosophischen Mitteln, aber auch in Kontakt mit der sozialwissenschaftlichen Empirie bearbeitet das Thema Peter Rinderle: »Die Dramen der Allmende«, in: Zeitschrift für Politik 1/2013), S. 4–1. Eine praktisch-politisch äußerst konstruktive Überlegung zu Kollektivgütern stammt von Julian Nida-Rümelin mit dem Aufsatz: Öffentliche Güter, Ms 2004. Vgl. auch Angela Kallhoff: Why Democracy Needs Public Goods, Lanham 2011 und Christian Blum: Die Bestimmung des Gemeinwohls, Berlin 2015.

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tragsleistung. Soziale Zustände wie Frieden und öffentliche Sicherheit oder ein gutes Betriebsklima sind weitere Beispiele für Kollektivgüter. So verschiedenartig diese Güter sein mögen, so werden ihnen allen doch gemeinhin zwei Eigenschaften zugeschrieben: erstens, dass der Konsum oder die Inanspruchnahme eines solchen Kollektivguts von einer Seite nicht die Möglichkeit für eine andere Seite schmälert oder gar beseitigt, das Gut in Anspruch zu nehmen; und zweitens, dass keine Seite die andere Seite von dieser Inanspruchnahme fernhalten kann. Das sind die so genannten Eigenschaften der (i) Nicht-Rivalität des Konsums und der (ii) Nicht-Ausschließbarkeit vom Konsum eines Kollektivgutes. Beide wesentlichen Eigenschaften oder wenigstens eine davon, kommen einem Kollektivgut aber stets nur mehr oder weniger stark zu. Man spricht in diesem Fall von unreinen Kollektivgütern und unterstellt damit, dass es auch reine Kollektivgüter gibt. Rein wären solche Kollektivgüter, bei denen die zusätzliche Inanspruchnahme des Guts gar keine Schmälerung der Möglichkeit für andere bedeutet, dieses Gut ebenfalls in Anspruch zu nehmen. Und es wären Güter, von deren Genuss niemand ausgeschlossen werden könnte. Die Annahme, es gäbe reine Kollektivgüter, ist zweifelhaft. So ist es eine offene Frage, ob das globale Kollektivgut »intakte Erdatmosphäre« nicht ›übernutzt‹ werden würde, wenn unbegrenzt viele Menschen auf der Erde lebten, die sich alle vegan ernähren und energiesparend bewegen würden und die ressourcenschonend wirtschaften würden. Und selbst das Standardbeispiel für ein reines Kollektivgut, ein öffentlich zugängliches Wissen, ist fragwürdig.18 Man sollte deshalb dabei bleiben, von unreinen Kollektivgütern zu sprechen. Ihr Konsum ist mehr oder weniger rivalisierend oder die Möglichkeit, jemanden von ihnen auszuschließen, besteht mehr oder weniger. Brücken und Parks können bekanntlich überfüllt sein, so dass ihre Inanspruchnahme durch die einen die Inanspruchnahme durch andere schmälern oder gar unmöglich machen kann. Energieversorgungssysteme können unter einem Benutzeransturm zusammenbrechen. Stark humushaltige Böden können wegen ihrer Bewirtschaftung durch viele auszehren und Fischgründe können überfischt werden. Eine ähnliche potenzielle Übernutzung gilt für Finanzmärkte. Deren Funktionen, Kapital bereitzustellen, Risiken zu streuen und wirtschaftliche Unternehmungen zu bewerten, sind zwar gut für alle Wirtschaftsbürger in einer kreditbasierten Ökonomie. Aber ihre Erfüllung wird gefährdet, wenn zum Beispiel die zum Markt gehörende Vertragsfreiheit zu riskanten Kreditverbriefungen mit guten und schlechten Risiken genutzt wird.19 Eine solche Übernutzung mag für eine effektive Seuchenprävention mit entsprechend dickem finanziellen Polster nicht gelten. Aber hier ist die zweite Eigenschaft von KolDenn aussagenförmiges Wissen ist an rechtfertigende Gründe gebunden. Auf dem Weg seiner unbegrenzten Weitergabe können diese Gründe sich zunächst wandeln. Zum Beispiel kann die Berufung auf weitergebende, legitimierte Autoritäten wie Lehrerinnen, Ärzte, Wissenschaftlerinnen die Rolle von Gründen übernehmen. Aber auch diese Autoritäten können zu bloßen Tradierungsinstanzen werden. Dann hat man zutreffende Meinungen vom Hörensagen. Das Wissen geht verloren und an seine Stelle tritt die doxastische Gewohnheit, etwas für wahr zu halten, was tatsächlich wahr ist. 19 Vgl. ausführlicher Lutz Wingert: »Citizenship and the Market Economy: Or What is Really Systemically Important in Democracy?«, in: Las Torres de Lucca. Revista Internacional de Filosfia 2/2012, S. 7–31. 18

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lektivgütern, die der Nicht-Ausschließbarkeit, nur in Graden gegeben. Die Inanspruchnahme der Seuchenprävention, also der Genuss ihrer vorteilhaften Folgen ist beschränkt. Nicht alle Menschen leben im Wirkungskreis der Seuchenprävention zum Beispiel gegen das Ebola-Virus, auch wenn sich dieser Kreis in einer Welt erhöhter Mobilität ausdehnt. Ebenso wenig ist die Zugänglichkeit zu einem umlage- und steuerfinanzierten Gesundheitsdienst unbeschränkt, sofern dieser Dienst staatlich organisiert ist. Das gilt wegen der räumlichen Dimension auch für Verkehrsleitsysteme und natürliche Ressourcen. Allerdings sollte hieraus nicht ein falscher Schluss gezogen werden, nämlich der Schluss, dass die begrenzte Zugänglichkeit zu einem Kollektivgut, also die begrenzte Ausschließbarkeit von seiner Inanspruchnahme die dauerhafte Verfügbarkeit des Gutes für alle sicherstellt. Auch eine nur begrenzte Zugänglichkeit zusammen mit einer gewissen Rivalität des Konsums kann zur Folge haben, dass die dauerhafte Verfügbarkeit des Gutes gefährdet ist. Man denke an eine Krankenkasse mit ihren Gesundheitsleistungen, die überwiegend umlagen- und steuerfinanziert nach dem Prinzip der Bedürftigkeit erbracht werden. Mit der Berechtigung von Bürgern eines Nationalstaates, Mitglied in einer solchen Krankenkasse zu sein, zusammen mit dem Recht auf Kassenwechsel kann es zu dem kommen, was Ökonomen »Klumpenrisiken« nennen: Die jungen, gesunden Bürger gehen in die Kassen mit niedrigen Beitragssätzen für junge Menschen und mit hohen Sätzen für Ältere. Mit zunehmendem Alter wechseln sie in die steuerfinanzierten, öffentlichen Kassen, um niedrigere Beiträge zahlen zu können. Damit sammeln sich die kostenträchtigen, älteren Versicherten in den öffentlichen Kassen, die zunehmend kostspieliger werden und so gefährdet sind. Das ist der bekannte Effekt der bestandsgefährdenden Übernutzung eines Kollektivgutes, der sich aus dem Zusammenspiel von einer ausgeprägteren Rivalität des Konsums und einer hohen Nicht-Ausschließbarkeit ergibt. Dieser Effekt ist ein gravierendes Hindernis für eine dauerhafte Verfügbarkeit eines Kollektivgutes. Wie das Hindernis überwunden oder niedrig gehalten werden kann, ist eine Erkenntnisaufgabe aus der Perspektive von Demokraten, die fragen, was gut für alle zusammen ist. Bevor ich darauf eingehe, seien die Eigenschaften von Kollektivgütern zusammenfassend noch etwas genauer als durch die genannten beiden Eigenschaften beschrieben: »x ist ein Kollektivgut für An, An+1« bedeutet so viel wie (1) x ist geeignet, ein Bedürfnis, einen Wunsch, einen Anspruch, eine normative Erwartung von An, An+1 zu erfüllen.20 (2) x hört nicht auf, für A1 (An+1) gut zu sein und zugänglich zu sein, wenn x auch für An+1 (An) zugänglich ist.21 (3) x ist für An und An+1 zugänglich, wenn x für An oder für An+1 zugänglich ist.22

x ist in diesem Sinn von »geeignet« gut für An, An+1. Das beschreibt die so genannte Eigenschaft der Nicht-Rivalität des Konsums. 22 Das beschreibt die Eigenschaft der Nicht-Ausschließbarkeit vom Konsum. Mit der »Zugänglichkeit von x« ist die Gewährleistung gemeint, dass x ein Bedürfnis, einen Wunsch, einen Anspruch, eine normative Erwartung von An , An+1 erfüllt. 20

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Die erste Erläuterung (1) fehlt oft in der Literatur, weil mit der Rede vom »Kollektivgut« ja schon ausgedrückt wird, dass etwas gut für jemanden ist. Die Erläuterung (1) erlaubt jedoch, im Bewusstsein zu halten, dass man unter einem Kollektivgut nicht immer ein Konsumgut verstehen muss: In Großstädten wie Frankfurt am Main sind in sehr kalten Winternächten so genannte Kältebusse unterwegs. Sie nehmen Obdachlose auf, die im Freien übernachten und die – bisweilen aus guten Gründen – nicht in die Obdachlosenheime wollen. Man muss nicht zu solchen Obdachlosen gehören, damit der verlässliche Einsatz eines steuerfinanzierten Kältebusses auch für einen selbst ein Gut ist. Denn man kann als behüteter Bürger durchaus die normative Erwartung hegen, dass dafür gesorgt werden muss, niemanden in der Stadt sehenden Auges der Gefahr auszusetzen zu erfrieren. Wer das erwartet, für den ist ein Kältebus ebenfalls ein Gut. Mit den Eigenschaften (1) – (3) von Kollektivgütern wird deutlich, dass Kollektivgüter etwas sind, was gut für alle zusammen sind. Denn diese Güter büßen ihren Status, etwas Gutes je für mich zu sein, nicht ein, wenn andere in dem, was sie wollen und was ihnen widerfährt, berücksichtigt werden. Ebenso wenig verlieren die Kollektivgüter diesen Status, wenn die aggregierten Folgen des Verhaltens von anderen und mir für sie bzw. für mich beachtet werden. Die Ermittlung von Kollektivgütern ist eine Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist mit solchen Gründen verbunden, die einen erweiterten Objektivitätstest bestehen (erweitert im Vergleich zur anteilnehmenden Kritik). Denn der Grund für An, das Gut in Anspruch zu nehmen, hört nicht auf, für die Inanspruchnahme zu sprechen, wenn an die Stelle von An andere Bürger mit ihren Bedürfnissen, Wünschen etc. treten und er hört auch nicht auf, dafür zu sprechen, wenn man die aggregierten Folgen für An und An+1 beachtet.

VIII. Ermöglichende Bedingungen für Kollektivgüter Wenn man eine weitere, häufig anzutreffende Eigenschaft von Kollektivgütern beachtet, stößt man auf ermöglichende Bedingungen, die ihrerseits gut für alle zusammen sind: Kollektivgüter sind etwas, was oft ein kollektives Handeln benötigt, das diese Güter dauerhaft verfügbar macht. Dem kollektiven Handeln stehen unter anderem zwei Hindernisse entgegen, die sich psychologisch beschreiben lassen: ein Anreiz zum Trittbrettfahren und ein Mangel an Ermutigung zu einer bedingten Kooperationsbereitschaft. Eine sichtbare Reziprozität der am kollektiven Handeln Beteiligten ist eine ermöglichende Bedingung für Kollektivgüter. Das Gebot einer sichtbaren Reziprozität gehört deshalb zu den normativen Wahrheiten, die Demokraten erkennen könnten, wenn sie sich um eine Erkenntnis bemühen, was gut für alle zusammen ist. Aber der Reihe nach. Für die dauerhafte Verfügbarkeit eines Kollektivgutes ist es oft nötig, dass kollektiv gehandelt wird. »Kollektiv handeln« meint hier, dass die Handlungen und Unterlassungen von verschiedenen Akteuren mit der Orientierung an dem Ziel koordiniert werden, ein solches Gut nicht episodisch, sondern dauerhaft verfügbar zu machen. (Dieses Handeln sei im Folgenden abkürzend »kollektives Bereitstellungshandeln« genannt.) Verschiedene Akteure müssen minimal kooperieren. Viele Kollektivgüter werden durch staatliche In-

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stanzen, zum Beispiel durch eine Behörde, eine kommunale Einrichtung oder durch ein städtisches Unternehmen bereitgestellt. Entsprechend werden diese Kollektivgüter auch als öffentliche Güter aufgefasst. Öffentliche Güter sind nicht nur öffentlich, also allgemein zugänglich, sondern sie werden auch von der öffentlichen Hand mit Steuergeldern verfügbar gemacht. Die Bürger sind an dem kollektiven Bereitstellungshandeln oft nur über ihre Steuerzahlungen aktiv beteiligt.23 Kollektives Handeln benötigt eine gewisse Reziprozität. Jeder muss einen gewissen Beitrag leisten. Etwas abstrakter beschrieben ist Reziprozität die Einstellung eines Akteurs (B), etwas zu erwidern – eine bestimmte Handlung eines anderen (A), seine Haltung oder auch bloß seine Äußerung: ein Wort, ein Blick, eine Geste. Die Erwiderung ist mit einem Gedanken verbunden, nämlich, dass sie zu der Bedeutung der Handlung, der Haltung, der Äußerung des anderen, kurz: zu dessen intentionalem Verhalten gehört. Diese Bedeutung besteht darin, dass das intentionale Verhalten eine bestimmte soziale Beziehung mit akzeptierten normativen Erwartungen knüpfen, bewahren oder verfeinern soll: Ein Dank erwidert eine angenommene nachbarschaftliche Hilfeleistung, die auch die Bedeutung haben kann, eine Beziehung des Wohlwollens zu knüpfen. Der Dank ist sinnhaft komplementär zur Hilfe, weil mit ihm die Bereitschaft zu dieser angebahnten Beziehung bekräftigt bzw. ausgedrückt wird. Wie der dankende Nachbar übt derjenige in Deutschland oder Dänemark Reziprozität, der darauf verzichtet, die Höhe der eigenen Steuerzahlungen auf unpolitischem Weg diskret selbst festzulegen, zum Beispiel mit Hilfe der Bank UBS und der Regierung in Luxemburg. Seine Steuern wie andere auch zu zahlen gehört der Bedeutung nach zu Steuerzahlungen, wenn man Steuerzahlungen versteht als Beiträge zu Kollektivgütern und nicht als Gebühren für eine nur privat nutzbare Leistung, wie es zum Beispiel die Ausstellung von Reisepässen ist. Nun gefährdet bekanntlich insbesondere die Eigenschaft (2) von Kollektivgütern, also deren Zugänglichkeit, ein kollektives Handeln, das die dauerhafte Verfügbarkeit der Güter bewirken soll. Warum etwas beitragen, zum Beispiel in Form einer Einkommenssteuer, wenn man doch als Däne auch mit einem steuerbefreiten Anlagekonto in Luxemburg die intakte Infrastruktur in Dänemark nutzen kann? Warum nicht zwischen öffentlichen und privaten Kassen trotz einer drohenden Auszehrung der öffentlichen Kassen je nach Alter oder Einkommensstand hin und her springen, wenn doch die anderen auch diese Option haben? Hier liefert ebenfalls die Zugänglichkeit des Gutes einen Anreiz zum Trittbrettfahrertum, der das kollektive Handeln behindert. Aber darüber hinaus spielt auch eine behindernde Rolle, dass eine bedingte Kooperationsbereitschaft nicht unterstützt wird. Diese fehlende Unterstützung kann die Übernutzung des Gutes zur Folge haben und also ein kollektives Handeln behindern, das auf die dauerhafte Verfügbarkeit des Kollektivgutes abzielt. Wie kann dennoch ein solches kollektives Handeln zu Stande kommen kann? Das ist nicht bloß eine offene Frage. Die Frage hat auch den heuristischen Status, erfüllte ermögliDie Rolle von Steuern für Kollektivgüter wird bisweilen vernachlässigt, nicht aber von David Miller: »Justice, democracy and the public good«, in: Keith Dowding/Robert E. Goodin/Carole Patemann (Hg.): Justice and Democracy, Cambridge 2004, S. 131. 23

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chende Bedingungen für diese Art von Handeln ausfindig zu machen. Denn es ist ja nicht so, dass in der sozialen Welt mit einem demokratischen Gemeinwesen die Bereitstellung und die Nicht-Übernutzung kollektiver Güter so selten vorkommt wie in der physikalischen Welt zum Beispiel eine drehende und taumelnde Münze, deren Bewegungsenergie dazu verwendet wird, die Münze wiederaufzurichten und sie auf ihrem Rand stehenzulassen.24 Eine sehr allgemeine Bedingung für Kollektivgüter ist die sichtbare Reziprozität von einigen handlungsfähigen Personen, die am kollektiven Bereitstellungshandeln beteiligt sind.25 Gewiss, unterstellt ist mit dieser Bedingung, dass Reziprozität geübt wird. Aber mit dieser Unterstellung werden wir Menschen nicht zu Engeln verklärt. Denn Menschen sind in einer moralbedürftigen Lebensform des gemeinschaftlichen Tätigseins involviert, zu der Reziprozität gehört. Diese vorpolitische Basis für Gegenseitigkeit bedeutet natürlich nicht, dass Reziprozität immer und gegenüber jedem geübt wird. Je verzweigter nun die kooperativen Handlungszusammenhänge und je länger die Kausalketten zwischen Handlungen sind, beispielsweise durch eine soziale Teilung der Arbeit, desto unsichtbarer wird diese Reziprozität.26 Die Sichtbarkeit von Reziprozität ist deshalb nötig, um das Vertrauen zu wecken, dass andere nicht dem Anreiz zum Trittbrettfahrertum erliegen. Ebenso ist die Sichtbarkeit von Reziprozität nötig, um eine bedingte Kooperationsbereitschaft zu befestigen, also die Bereitschaft, seinen Beitrag trotz einiger Trittbrettfahrer zu leisten, wenn andere mitziehen. So wird die »kritische Masse« gesichert, die es für das kollektive Handeln braucht. Zu dem, was für alle zusammen gut ist, gehört also die sichtbare Reziprozität von Akteuren, die durch ihr kooperatives Verhalten Kollektivgüter dauerhaft verfügbar machen. Das Gebot der sichtbaren Reziprozität gehört deshalb zu den normativen Einsichten, die Demokraten haben könnten. Diese Einsicht ist nicht ganz so trivial, wie sie vielleicht erscheint. Sie hat zur Folge, dass die Größe demokratischer Gemeinwesen von zentraler Bedeutung ist. »Größe« meint dabei nicht bloß die Zahl von Bürgern, sondern ein Ausmaß an möglichen Handlungs- und Ereignisverläufen, also an Komplexität der sozialen Interaktionen mitsamt ihren physischen Nebenfolgen. Denn die sichtbare Reziprozität schließt eine Zurechenbarkeit von Handlungsbeiträgen ein und diese Zurechenbarkeit kann nicht immer mit der sozialen Größe oder Komplexität Schritt halten. Das Gebot sichtbarer Reziprozität schließt deshalb das Erfordernis ein, die Größe eines Gemeinwesens auf ein Maß zu beschränken, das zur Erfüllung dieses Gebots passt.

24 Das physikalische Beispiel stammt von Adrian Beckert aus seiner Hausarbeit zu quantenmechanischen Aspekten des Determinismus im Sommersemester 2015 an der ETH Zürich. 25 Mancur Olson betont einen Mangel an Sichtbarkeit der Reziprozität und nicht so sehr den Egoismus des Trittbrettfahrers als Hindernis für das kollektive Handeln: »The standard for determining whether a group will have the capacity to act (..) in its group interest (..) depends on whether the individual actions of any one or more members in a group are noticeable to any other individuals in the group.« Mancur Olson: The Logic of Collective Action. Public Goods and the Theory of Groups, Cambridge 1971, S. 45. Elinor Ostrom hat als eine der wenigen daran erinnert, vgl. Ostrom, Allmende, S. 7. 26 Darauf hat Émile Durkheim aufmerksam gemacht: Über soziale Arbeitsteilung (1930), Frankfurt/M. 1988, S. 344 ff.

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Oft wird mit dem Status eines Bürgers unterstellt, dass der jeweilige Bürger eine gewisse Reziprozität zeigt. Die Sichtbarkeit der Reziprozität verlangt dann lediglich die Erkennbarkeit als Bürger. Diese Unterstellung ist nicht haltlos. Denn mit dem Status als Bürger sind ja auch gesetzliche Kooperationspflichten verbunden. Überdies können Bürger als Personen der Reziprozitätszumutung in vorpolitischen Bereichen gar nicht durchgehend entkommen. Das Gebot der sichtbaren Reziprozität hat nicht nur für die Größe eines Gemeinwesens Folgen. Es hat zum Beispiel auch die politische Konsequenz, kein unbedingtes Grundeinkommen zuzulassen. Denn damit wird die Verbindung zwischen Bürgerstatus und Reziprozität gelöst. Wer auf dieser Verbindung besteht, kultiviert keineswegs politisch den bäuerlichen, frühbürgerlichen oder proletarischen Affekt des »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen«. Es gibt menschenrechtliche Ansprüche, die von einer Reziprozität bei der Kollektivgutproduktion abgetrennt sind. Der Frankfurter Kältebus ist nichts, was Obdachlose mitorganisieren müssen oder wofür sie sich anderweitig erkenntlich zeigen müssen. Seine Bereitstellung ergibt sich aus einem menschenrechtlichen Anspruch auf elementarsten Schutz. Diese Überlegungen zum Zusammenhang zwischen sichtbarer Reziprozität und sozialer Größe sowie zur Beziehung von Bürgerstatus und Reziprozität sind zugegeben recht skizzenhaft. Sie sollten mit der angedeuteten Konsequenz in Sachen unbedingtes Grundeinkommen nur eine These stützen: Die Erkenntnis, sichtbare Reziprozität sei geboten und ihr komme die Eigenschaft zu, gut für alle zusammen, ist keine Binsenweisheit. Es macht in einigen politischen Hinsichten durchaus einen Unterschied, ob man diese Erkenntnis hat. Das wird auch deutlich, wenn man eine naheliegende Frage stellt: Kann ein individuelles Handeln an die Stelle des kollektiven Bereitstellungshandelns treten? Wenn die Antwort durchgehend »ja« lautet, dann wäre das Gebot der sichtbaren Reziprozität überflüssig. Denn das kollektive Handeln, das der Reziprozität von kooperierenden Akteuren bedarf, besäße ein funktionales Äquivalent. Wer diese Frage bejaht, kann auf zwei bekannte Typen von individuellen Akteuren hinweisen: auf den reichen Philanthropen und auf den mächtigen Hegemon. Der Philanthrop Bill Gates könnte doch mit seiner Stiftung ein kleines, sozialstaatliches Gesundheitssystem nach dem Solidar- und Bedarfsprinzip oder wenigstens das US-amerikanische Obamacare finanzieren. Ein Hegemon wie eine marktdominante Firma mit einem starken Eigeninteresse an technischen Standards könnte technischen Normen für alle entwickeln und etablieren.27 Man ist bei dieser individualistischen Strategie ersichtlich nicht auf die für das kollektive Handeln nötige sichtbare Reziprozität angewiesen. Allerdings sind diejenigen, für die das Kollektivgut gedacht ist, auf das Wohlwollen der Philanthropen und privaten Investoren angewiesen. Und dieses Wohlwollen verlangt zumindest im Kontext einer sozialen Ordnung mit privatrechtlicher Autonomie und kapitalistischer Ökonomie aufwändigere Argumente als das Gebot der Reziprozität im Kontext einer Demokratie, die den Grund27 Vgl. Christoph Knill/Dirk Lehmkuhl: »Governance and Globalization: Conceptualizing the Role of Public and Private Actors«, in: Adrienne Héritier (Hg.): Common Goods, Lanham 2002, S. 89. Die Autoren schließen an Jack Hirshleifer an: »From weakest-link to best-shot: The voluntary provision of public goods«, in: Public Choice 41/1983, S. 380 f.

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satz vom gleichen Wert des Bürgerstatus akzeptiert. Auch müssten nachteilige Nebenfolgen wie eine Konzentration von gesellschaftlichem Einfluss solcher Akteure beachtet werden. Es kann zum Beispiel eine Drift in der medizinischen Forschung geben, wenn ein reicher Privatmann wie Bill Gates einen Teil des Gesundheitssystems betreibt. Und wer am Markt technische Standards bereitstellt, kann durch deren Verwaltung seine Marktmacht vielleicht bis zur Blockade von Markteintritten steigern. Das alles sind aber keine Argumente für eine These der begrifflichen Notwendigkeit: dafür, dass Kollektivgüter notwendigerweise kollektives Bereitstellungshandeln, mithin sichtbare Reziprozität erfordern. Gleichwohl ist dieses Erfordernis gerechtfertigt.

XI. Kategoriale Kollektivgüter und eine normative Wahrheit über Abhängigkeit und Kooperation in der Demokratie Bislang gestattete ich mir eine Naivität, die nicht dauerhaft zulässig ist. Es ist die Naivität, anzunehmen, dass klar ist, wer mit »alle« in »gut für alle zusammen« gemeint ist. Die Standardantwort lautete: alle Bürger eines Gemeinwesens. Auch hier verhilft der Begriff des Kollektivgutes zu einer größeren Klarheit. Kollektivgüter sind oft so genannte kategoriale Güter. Diejenigen, für die sie gut sind, fallen in bestimmte Kategorien28: Eine Niedrig-Zins-Politik ist gut für die Kategorie der Schuldner und schlecht für die Kategorie der Sparer. Kommunale, und damit teilweise steuerfinanzierte Kindertagesstätten sind gut für alle Bürger, die Eltern kleiner Kinder sind, aber nicht für die Kategorie der Kinderlosen. Stromtrassen für Windenergie sind gut für die Kategorie der Energiekonsumenten, nicht aber ebenso gut für die Anwohner. Bei kategorialen Kollektivgütern kann man nicht einfach sagen: »gut für alle Bürger zusammen«, weil nicht alle Bürger in jede Kategorie fallen. Und selbst da, wo alle Bürger in ein und dieselbe Kategorie fallen, wie zum Beispiel in die Kategorie der Energiekonsumenten, sind Stromtrassen für die Windenergie nicht gleichermaßen gut für alle Bürger; die Anwohner fahren dabei schlechter. Folgt daraus, dass es falsch ist zu sagen: »Demokraten könnten erkennen, dass die erfüllten Ermöglichungsbedingungen Bereitstellung für Kollektivgüter etwas ist, was gut für alle zusammen ist«? Ich glaube, dass das nicht so ist, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Die Bürger einer Demokratie mögen die Nutznießer unterschiedlicher kategorialer Güter sein. Aber das schließt nicht aus, dass sie als Demokraten erkennen können, wie sehr sie von einem größeren gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang abhängen. Das ist dann der Fall, wenn dieser Kooperationszusammenhang Güter für die Kategorie derer gewährleistet, in die man selber fällt, auch wenn er ebenfalls Güter für Personen anderer Kategorien sicherstellt. Die erste Bedingung ist, dass jeder gewisse Früchte eines komplexen Kooperationszusammenhanges genießt, wenn auch nicht alle Früchte, Claus Offe spricht von verschiedenen Gemeinschaften, die den jeweiligen Bezugspunkt für das gemeinschaftliche Interesse oder das Gemeinwohl bilden: C. Offe: »Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?« in: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 2001, S. 459 ff. 28

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und dass er gewisse Lasten trägt, wenn auch nicht alle Lasten. Die zweite Bedingung liegt darin, dass Ungleichheiten in den Vorteilen nicht gegen das egalitäre Prinzip vom gleichen Wert des Bürgerstatus verstoßen. Es muss unter anderem eine faire Verteilung von kategorialen Kollektivgütern geben, bei der jeder gleich viel zählt.29 Es müsste demnach durch die Verteilung von kategorialen Gütern zum Beispiel sichergestellt werden, dass die norddeutschen Anwohner von Stromtrassen nicht weniger zählen mit ihren Interessen als die oberbayerischen Seeuferbewohner mit ihren stromintensiven Villen. Das grundgesetzliche Gebot von den annähernd gleichen Lebensverhältnissen in den deutschen Bundesländern lässt sich als ein schwacher, rechtswirksamer Widerhall davon verstehen, dass man ein solches Gebot fordert. 30 Der komplexe Kooperationszusammenhang, der unterschiedliche kategoriale Kollektivgüter bereitstellt und bewahrt, steht uns allerdings nicht stets vor Augen. Er ist nicht einfach der Gehalt von bewussten Wir-Intentionen. Deshalb ist die Erkenntnis von Demokraten, dass sie auf diesen Zusammenhang angewiesen sind, schwer zu gewinnen. Die Möglichkeit zu einer solchen Erkenntnis verlangt unter anderem, dass sich Einkommensungleichheiten nicht zu getrennten Erfahrungswelten auswachsen. Wenn Jugendliche auf teure Privatschulen gehen und junge Erwachsen auf teure Privatuniversitäten, wenn Kinder wohlhabender Eltern keinen Kontakt zu Kindern aus anderen Schichten im gemeinsamen Sportverein mehr haben, dann verlieren die Heranwachsenden und Erwachsenen die Vorstellung von anderen Lebenslagen, von anderen Berufen und deren andersartigen Kooperationsbeiträgen. Die tiefe Trennung von Erfahrungswelten begünstigt eine gefährliche Vorstellungsarmut. Ebenso verlangt die Möglichkeit, zu erkennen, dass man auf einen übergreifenden gesellschaftlichen Kooperationszusammenhang angewiesen ist, eine vielfältige Öffentlichkeit, die nicht in segmentäre Teilöffentlichkeiten zerfällt.31 Beides, die umfassende Trennung von Erfahrungswelten und Parallelöffentlichkeiten beeinträchtigen eine solche Erkenntnis der fundamentalen reziproken Angewiesenheit von Bürgern eines Gemeinwesens. Sozialstaatliche Einrichtungen und Massenmedien auf non-profit-Basis sind deshalb Institutionen, die vielleicht die Erkenntnis befördern, dass kategoriale Güter Teil eines übergreifenden Kooperationszusammenhanges bleiben. Wenn sie das tatsächlich tun, kann das Gebot, sie etablieren und zu bewahren, ebenfalls Inhalt einer normativen Einsicht sein.

Pierre Rosanvillon spricht von Beziehungsgleichheit bzw. »égalite-relation« (im Unterschied z. B. zur Einkommensgleichheit). Vgl. Pierre Rosanvillon: Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013, S. 303 ff. 30 »Die (finanziellen, L.W.) Deckungsbedürfnisse des Bundes und der Länder sind so aufeinander abzustimmen, daß (…) die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird.« Vgl. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 106, Absatz 4, Ziffer 3. 31 Ob die zunehmende Dominanz interaktiver elektronischer Medien wie Facebook, von Internetportalen, Twitter und von Fernsehsendungen unter direkten Einbeziehung der Zuschauer eine solche Öffentlichkeit fördert oder zersetzt, ist eine noch offene empirische Frage. Vgl. die nicht-optimistische empirische Studie von Diana C. Mutz: In-Your-Face Politics. The Consequences of Uncivil Media, Princeton, Oxford 2015. 29

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X. Eine menschenrechtliche normative Erkenntnis in der Demokratie Kollektivgüter und ihre ermöglichenden Bedingungen sind etwas, was gut für alle zusammen ist. Die Erkenntnis, was ihre dauerhafte Zugänglichkeit ermöglicht, ist zum Teil wenigstens auch eine Einsicht in normative Wahrheiten, wie z. B. dass sichtbare Reziprozität beim Bereitstellungshandeln geboten ist. Das ist eine zentrale These der bisherigen Überlegungen. Aber der Kreis derjenigen, für die Kollektivgüter gut sind, ist beschränkt. Er wird von Bürgern eines Gemeinwesens gebildet. Manchmal besteht er auch aus Bürgern verschiedener staatlicher Gemeinwesen wie im Falle eines funktionierenden Finanzmarkts oder einer wirksamen Seuchenprävention. Nicht immer sind es alle Bürger eines Gemeinwesens, wie der Fall kategorialer Güter zeigt. Und schon gar nicht sind es immer alle Menschen. Diese Tatsachen machen zwei Fragen dringend, die hier noch erörtert werden sollen: (1) Enthält eine Demokratie eine universalistische Moral, so dass »gut für alle zusammen« das gleiche wie »gut für alle Menschen zusammen« bedeuten kann? (2) Und wenn ja, was ermöglicht den Demokraten, dieses menschenrechtliche Ingredienz der Demokratie zu erkennen? Zu (1): In den Kooperationen, die für kollektive Güter oft gebraucht werden, stecken bereits moralische Elemente wie das befolgte Gebot der Reziprozität. Die bedingte Kooperationsbereitschaft kann auch von einem Sinn für Fairness genährt werden. Ein weiteres Element ist das Gebot einer Responsivität. Es verlangt, sich ein Stück weit die Ziele anderer zu eigen zu machen und sich uneigennützig für ihre Lebenslagen und Perspektiven zu interessieren. Dieses Gebot wird auch befolgt, indem man sich vergegenwärtigt, welche Güter von Personen anderer sozialer Kategorien gebraucht werden, und indem man entsprechende politische Allokationsentscheidungen unterstützt. Aber die aufgezählten moralischen Elemente machen noch keine universalistische Moral aus. Denn »gut für alle Bürger zusammengenommen« bedeutet nicht das gleiche wie »gut für alle Menschen zusammengenommen« oder »gut für alle leidensfähigen Kreaturen zusammengenommen.« Deshalb ist nicht nur historisch, sondern auch begrifflich eine Demokratie nicht schon mit einer universalistischen Moral verschwistert.32 Allerdings bietet ein individualistisches Element in der demokratischen Politik einen Brückenkopf hin zu einer universalistischen, menschenrechtlichen Moral. Deshalb lautet die Antwort auf die erste Frage: Demokratie enthält nicht notwendig eine universalistische Moral. Aber sie enthält notwendigerweise ein Element, das zu einer solchen Moral führen kann. Dieses Element besteht in einer Unvertretbarkeit. Von Demokraten wird nämlich verlangt, dass sie auch in eigener Stimme sprechen. Das folgt aus der Autonomiebedingung für politische Legitimität. Die Repräsentation von Bürgern in der Demokratie hat mindestens dort ihre Grenze, wo sie ihre Repräsentanten unvertretbar selbst wählen müssen. Ein Wahlrecht zum Beispiel, dass männlichen Familienoberhäuptern Stimmrechte in der Zahl der erwachsenen Familienmitglieder einräumt, Michael Mann spricht mit Blick auf den aggressiven, schädigenden Ausschluss von Fremden aus einer demokratischen Rechtsgemeinschaft von der dunklen Seite der Demokratie. Vgl. Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007. 32

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ist mit einer Demokratie unvereinbar. Bei aller Gemeinwohlzumutung an Bürger werden diese doch auch als unvertretbar einzelne Personen behandelt. Diese Behandlung passt zu einer schlichten, existenzialistischen Wahrheit: Kein Mensch geht in seinem Status auf, Mitglied oder Angehöriger zu sein. Er ist eben auch ein Wesen, das unvertretbar sich zu sich verhält und unvertretbar leben muss. Menschenrechte schützen den einzelnen Menschen vor Verletzungen und Missachtungen.33 Diese können sich auch daraus ergeben, dass man nicht bloß Mitglied und Teil eines Wir ist. Man hat menschenrechtliche Ansprüche ja nicht als Schweizer, Irakerin oder Chilene, sondern eben als Mensch. In manchen historischen Zeiten werden Menschenrechte nach blutigen politischen Kämpfen in die positivierte Rechtsform von Grundrechten gebracht. Dann unterscheiden politische Gemeinschaften bei ihren Angehörigen selbst zwischen einerseits menschenrechtlich geschützten Individuen und andererseits Bürgern oder Mitgliedern mit gewährten Rechten und auferlegten Pflichten. Solche politischen Rechtsgemeinschaften verbinden den Bürgerstatus mit einem sanktionsbewehrten, menschenrechtlichen Schutz. Diese Verbindung zeigt sich beispielsweise daran, dass man als deutscher Staatsbürger das Recht hat, seinen Staat vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu verklagen. Bürger in der Demokratie, so das Argument, werden als unvertretbar Einzelne behandelt mit eigener Stimme und Gesicht. Das »Wir in dem politischen »Wir wollen das so!« der kollektiven Selbstbestimmung schließt deshalb ein, dass die Mitglieder auch noch einmal als individuelle Lebewesen angesehen werden, die von ihrem Mitgliedsstatus verschieden sind. Sie sind nicht bloß politische Bürger (Staatsbürger) und Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft, also eines Kollektivs. Zu (2): Damit ist schon fast die Frage beantwortet, was Demokraten ermöglicht, das menschenrechtliche Ingredienz in einer Demokratie zu erkennen und anzuerkennen. Demokraten können erkennen, dass sie die gewährten positivierten Menschenrechte unverzichtbar brauchen, wenn sie sich etwas vergegenwärtigen, was sie als Personen immer schon wissen: dass jeder nicht bloß Bürger, also Mitglied ist. Auch das ist eine normative Wahrheit, die Demokraten erkennen können: Bürger müssen in ihrer Versehrbarkeit als unvertretbar Einzelne menschenrechtlich geschützt werden. Jeder kann sehr rasch als nicht mehr dazugehörig behandelt werden und benötigt auch deshalb solche Schutzrechte. Die Erkenntnis, dass je ich etwas unverzichtbar benötige, schließt natürlich nicht die Erkenntnis ein, dass das auch für andere gilt. Und schon gar nicht schließt die Erkenntnis die Anerkennung anderer in ihrer Bedürftigkeit ein. Man kann sich ja auch taub stellen »gegen die draußen«. Aber diese anderen draußen können sich immerhin etwas Gehör verschaffen. Die Abgrenzung eines bürgerschaftlichen Kollektivs der Mitgesetzgeber nach außen hin wird nämlich etwas durchlässiger, wenn seine Mitglieder den Schutz positivierter Menschenrechte genießen. Denn in der Sprache der Menschenrechte können auch diejenigen Gehör finden, die nicht zu diesem Kreis der Mitgesetzgeber zählen. Das liegt Vgl. zum Folgenden Lutz Wingert: »Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften. Bemerkungen zum Begriff der Menschenrechte«, in: Ralf Elm (Hg.): Ethik, Politik und Kulturen im Globalisierungsprozess, Bochum 2003, S. 392–407. 33

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daran, dass auch diejenigen, die sich in diesem Kreis befinden und die einen politischen Bürgerstatus haben, nicht bloß als Mitglieder, sondern eben als Individuen mit positivierten Menschenrechten Gehör finden. Damit wird es zumindest nicht mehr ganz so leicht, zu begründen, warum nur sie diesen menschenrechtlichen Schutz in Form von verfassungsmäßigen Grundrechten beanspruchen dürfen. Demokraten ist deshalb das Taubstellen erschwert.

XI. Schluss Es ist nicht so, dass sich der Gewinn neuer Erkenntnisse in einer Demokratie auf Tatsachenwissen beschränkt, z. B. zu wissen, welche Höhe von Staatsschulden welche volkswirtschaftlichen Folgen haben oder welche geologischen Auswirkungen die FrackingTechnologie hat. Einsichten von Demokraten in einer Demokratie müssen sich auch nicht darin erschöpfen, faktisch geteilte normative Überzeugungen von Bürgern zu artikulieren. Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit normativer Einsichten in der Demokratie sollte nicht übertrieben werden. Die vorgetragenen Argumente dienten dazu, diese antiskeptische Sicht zu stützen. Die Unterscheidung zwischen Gut-Sein und Für-gut-Halten ist ebenso wenig hinfällig wie ein Objektivitätstest für praktische Gründe und die damit verbundene Einstellung eines entrelativierenden Perspektivenwechsels. Man stößt auf handfestere Kandidaten für erkennbare normative Wahrheiten, wenn man die tendenziell pathetische Frage: »Was ist das Gemeinwohl? Was ist gut für alle zusammen?« in die nüchterne Frage übersetzt: Was sind Kollektivgüter und was ermöglicht ihre dauerhafte Verfügbarkeit? »Es muss eine sichtbare Reziprozität von Beiträgen von Nutznießern eines Kollektivguts gewährleistet werden« war ein solcher Kandidat; ebenso die dazugehörigen Gebote einer passenden Größe des Gemeinwesens oder Kooperationszusammenhanges und eine Verbindung von Bürgerstatus und Kooperationspflichten. Die Diskussion von kategorialen Kollektivgütern führte auf einen weiteren Kandidaten für eine sehr allgemeine normative Wahrheit: »Ungleichheiten im Zugang zu Kollektivgütern und bei der Belastung mit kollektiven Übeln müssen akzeptiert werden, wenn gilt: Sie sind erkennbar Teil eines übergreifenden Kooperationszusammenhanges, der allen Bürgern Güter gewährt und Übel aufbürdet und der den gleichen Wert des Bürgerstatus wahrt.« Dieses sehr allgemeine Gebot hat eine Konsequenz und mit ihr tritt ein weiterer Kandidat für eine normative Wahrheit auf: »Man soll seine Zustimmungen zu politischen Entscheidungen an dem ausrichten, was einen solchen Kooperationszusammenhang voraussichtlich bewahrt oder etabliert.« In den Überlegungen, die zu diesen und anderen möglichen normativen Wahrheiten führten, habe ich etwas ausgeklammert: Wie kommt überhaupt das Urteil zu Stande, etwas sei ein Kollektivgut? Mit der Ausklammerung dieser Frage soll nicht behauptet werden, es sei offenkundig, was ein Kollektivgut ist, oder seine Identifikation sei eine Sache des politischen Theoretikers. Tatsächlich ist es so, dass oft allererst in dem politischen Streit über das, was gut für alle zusammen ist, die gesellschaftlichen Abhängigkeiten der Menschen voneinander sichtbar

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werden, die zu einer Erkenntnis des kollektiv Guten verhelfen. Rechte und Pflichten, die die Teilnahme am politischen Streit über Kollektivgüter ermöglichen und regulieren; Tugenden und Prozeduren, die diesen Streit gewaltfrei und epistemisch produktiv werden lassen, sind deshalb ebenfalls etwas, was Inhalt einer Erkenntnis von Demokraten sein kann.34 Ich habe sie hier nicht behandelt. Das soll nicht besagen, dass sie in einer vollständigen Antwort auf die Frage fehlen dürfen, was Demokraten in einer Demokratie erkennen könnten.

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KOLLO QUIUM 21 Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte Kolloquiumsleitung: Dominik Perler

Marcel van Ackeren Philosophie und die historische Perspektive Methodische und metaphilosophische Aspekte Dina Emundts Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel Stefan Roski / Benjamin Schnieder Gründe aller Arten? Der Anspruch auf Vereinheitlichung in Bolzanos Abfolgetheorie

Philosophie und die historische Perspektive Methodische und metaphilosophische Aspekte Marcel van Ackeren (Köln/Münster)

In welchem Verhältnis steht die Erforschung der Geschichte der Philosophie zur Behandlung von systematischen Fragestellungen in aktuellen Debatten? Eine Gruppe von philosophischen Arbeiten widmet sich historischen Texten ohne dabei auf aktuelle Debatten zu verweisen. Ebenso gibt es viele Beiträge zu gegenwärtigen systematischen Debatten, die keinerlei Rekurse zu historischen philosophischen Texten enthalten. Eine dritte und größer werdende Gruppe von Beiträgen allerdings bemüht sich darum, zwischen der historischen und systematischen Perspektive Brücken zu schlagen. Wie viele Brücken, sind auch diese in zwei Richtungen nutzbar: Einerseits kann erforscht werden, ob und wie aktuelle, systematische Debatten dazu beitragen können, die Geschichte der Philosophie besser zu erforschen.1 In diesem Rahmen sind beispielsweise Anachronismen2 und sog. Antiquarianismen3 ein Thema. In die andere Richtung, um die allein es im Folgenden gehen soll, wird erörtert, ob und wie die historische Perspektive für aktuelle Debatten hilfreich sein kann. Vier Fragenkomplexe sind hier von Interesse: (i) Trägt die historische Perspektive zu aktuellen, systematisch orientierten Debatten bei? Wenn ja, tut sie das notwendigerweise oder kontingent (unter welchen Bedingungen)? (ii) Worin genau besteht der Beitrag der historischen Perspektive? Oder gibt es gar verschiedene Beiträge? Brauchen wir die historische Perspektive, um eine aktuelle Debatte fortzuführen, um neue zu eröffnen oder um überhaupt zu lernen, was Philosophie ist? (iii) Wie ist die historische Perspektive methodisch in die Philosophie zu integrieren, damit sie einen Beitrag leistet? (iv) Was bedeutet die Verbindung von historischen und analytischen Perspektiven für die Metaphilosophie und vice versa? Welcher Teil der Philosophie ist die historische Perspektive? Gibt es in der Geschichte der Philosophie und gegenwärtig nur ein Philosophiekonzept, nur eine richtige Art der Philosophie? Soll es Pluralismus geben? Seit dem Aufkommen der sogenannten analytischen Philosophie sind diese Fragen besonders kontrovers und antagonistisch diskutiert worden. Jüngst zeichnet sich jedoch

1 Vgl. Andreas Graeser: »Altes und Neues«, in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie Verstehen – Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 19–33. 2 Vgl. Michael Ayers: »Analytical Philosophy and the History of Philosophy«, in: Jonathan Rée/ Michael Ayers/Adam Westonby (Hg.): Philosophy and Its Past, Hassock 1978, S. 42–66; Andreas Speer: Anachronismen, Würzburg 2003. 3 Vgl. Charles Broad: Five Types of Ethical Theory, London 1930.

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eine neue Phase der Debatte ab,4 in der gerade auch die vermittelnden Positionen der dritten Gruppe an Gewicht zunehmen. Im Folgenden wird es um drei zentrale Aspekte gehen, und zwar erstens um die Frage nach der Bedeutung von Kontext(en). Hier ist schon fraglich, was Kontext meint und von was etwas ein Kontext ist. Inwieweit sind Kontexte zu berücksichtigen, damit ein Beitrag zu einer aktuellen Debatte erzielt werden kann? Zweitens ist Pluralität ein wichtiges Thema, nämlich einmal als diachrone Pluralität in Form von Wandel in der Philosophiegeschichte und dann als Frage nach synchroner Pluralität in Form verschiedener Positionen, die zeitgleich bestehen, eventuell auch aktuell. Schließlich sind mit Annahmen über diese ersten beiden Aspekte bestimmte Auffassungen über Philosophie verbunden. Es soll daher drittens um die Beziehung von Kontextbedeutung und der Frage nach dem historischen Wandel bzw. der aktuellen Pluralität einerseits und Metaphilosophie andererseits gehen. In Frage steht hier vor allem die These des metaphilosophischen Essentialismus. Diese drei Aspekte sind nicht nur von grundsätzlicher Bedeutung für das Thema, sie sind darüber hinaus noch aus einem anderen, spezielleren Grund wichtig. Denn innerhalb der dritten Gruppe, die an Verbindungen der historischen und systematischen Perspektive interessiert ist, gibt es in Bezug auf die vier Leitfragen große Differenzen. Ein Fokus auf die genannten drei Aspekte lässt diese Differenzen deutlicher werden. Die drei Aspekte sind auch wichtig, um die Debatte vorantreiben zu können. Die drei erwähnten Standardpositionen der Debatte vertreten unterschiedliche Positionen, aber es eint sie, dass sie je einen Beitrag der historischen Perspektive aufgrund einer Methode annehmen und demnach andere Positionen ausschließen. Diese Ausschließlichkeitsansprüche beruhen auf unplausiblen Annahmen über die drei genannten Aspekte. Diese zu untersuchen ist also auch wichtig, um eine vierte Position besser begründen zu können, die sich als pragmatisch versteht, weil sie die drei Positionen aufnimmt und alle fallspezifisch für anwendbar hält.5 Zum besseren Verständnis der Stellung der drei Aspekte werden hier (I) die Debatte und die drei erwähnten Standardpositionen kurz geschildert. Dann (II) wird auf die Frage, was Kontext ist und welche Bedeutung er für den fraglichen Beitrag der historischen Perspektive für aktuelle Debatten ausmacht, eingegangen. Hier soll gezeigt werden, dass eine Kontextberücksichtigung nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden sollte. Anschließend (III) wird die Frage nach dem historischen Wandel beleuchtet, den es genauso gibt wie historisch übergreifende Identitäten, um schließlich Probleme des metaphilosophischen Essentialismus im Zusammenhang mit den ersten beiden Aspekten kritisch zu beleuchten.

4 Vgl. z. B. Tom Sorrell/G.A.J. Rogers: Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005 sowie dazu Dominik Perler: »Eine Beziehung mit Risiken«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 139–145 und Morgens Laerke/Justin E.H. Smith/Eric Schliesser (Hg.): Philosophy and Its History, Oxford 2013; Marcel van Ackeren: »Was bedeutet der aktuellen Philosophie ihre Geschichte? Positionen – Probleme – Pragmatismus«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 68 (2014), S. 305–327. 5 Vgl. van Ackeren: Was bedeutet der aktuellen Philosophie ihre Geschichte?, S. 320 ff.

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I. Die Debatte und ihre zentralen Positionen6 1. Der Steinbruch der analytischen Philosophie Es ist höchst umstritten, ob und wie analytische Philosophie trennscharf bestimmbar ist.7 Einem sehr schwachen Verständnis zufolge zeichnet sich die analytische Philosophie durch die Orientierung an Sachfragen und argumentative Genauigkeit aus. Dieses Verständnis ist für die hier betrachtete Fragestellung wohl weitgehend unproblematisch. Dem starken Verständnis zufolge ist analytische Philosophie antihistorisch.8 Da es aber keineswegs ausgemacht ist, was antihistorisch bedeutet, ist es zunächst ratsam, diverse Positionen zu unterscheiden. Zum einen findet sich eine, von Glock Historiophobie genannte, vollständige Ablehnung der historischen Perspektive.9 Prägnantester Ausdruck dieser Einstellung ist ein Schild in Princeton, auf dem aufgefordert wird: »Just say No to the History of Philosophy«. Gilbert Harmann hat für sein Schild metaphilosophische Gründe angeführt, denen zufolge Philosophie wie eine Wissenschaft sei, und bei Wissenschaften sei die Ausübung der Wissenschaften von der Erforschung der Geschichte der Wissenschaft getrennt.10 Zum anderen gab es triumphierenden Anachronismus,11 der durch die Überzeugung gekennzeichnet ist, »dass die vergangenen Denker genau das taten, wofür man sich selbst interessiert – nur eben nicht ganz so gut«.12 Als Beispiel sei auf die Kritik verwiesen, Platons ethisches Argument in der Politeia sei obsolet, weil die grundlegende Tugend der Gerechtigkeit zur Gruppe der Güter gezählt wird, die um ihrer selbst willen und ihrer Folgen wegen angestrebt wird.13 Der Kritik zufolge wisse Platon noch nicht, dass normative ethische Theorien entweder nur konsequentialistisch oder nur deontologisch sein müssen.14 Diese eigentümliche Art, die Vorgänger als inferior zu betrachten, ist aber weder mit der analytischen Philosophie aufgekommen, noch war sie innerhalb der Strömung durchsetzungsfähig.15 Ryle hat für einen faireren Umgang mit historischen Texten plä-

Dieser Abschnitt fasst Ergebnisse in van Ackeren 2014 modifzierend und ergänzend zusammen. Vgl. Hans-Johann Glock: What is Analytic Philosophy, Cambridge 2008. 8 Zur Unterscheidung dieser Auffassungen vgl.: Julia Annas: »Ancient Philosophy for the TwentyFirst-Century«, in: Brian Leiter (Hg.): The Future for Philosophy, Oxford 2004, S. 25–43. 9 Vgl. Hans-Johann Glock: »Analytic Philosophy and History: A Mismatch?«, in: Mind 117 (2008), S. 885–897. 10 Vgl. Tom Sorell: »On Saying No to the History of Philosophy«, in: Sorell/Rogers: Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 43–59. 11 Vgl. Bernard Williams: »Descartes and the Historiography of Philosophy«, in: John Cottingham (Hg.) Reason, Will and Sensation, Oxford 1994, S. 19–27, hier S. 20. 12 Andreas Graeser: Altes und Neues, S. 20. 13 Vgl. Politeia II. 14 Vgl. M.B. Foster: »A Mistake of Plato’s in the Republic«, in: Mind 46 (1937), S. 386–398; David Sachs: »A Fallacy in Plato’s Republic«, in: The Philosophical Review 72 (1963), S. 141–158. 15 Andreas Graser erwähnt hier Aristoteles, Hegel und Heidegger als historische Vorläufer, vgl. Graeser: Altes und Neues, S. 20 ff. 6 7

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diert, demzufolge es sich nicht notwendig um Texte von Anfängern im Sinne von Schülern handelt.16 Wenn von einer Standardposition in der analytischen Philosophie gesprochen werden kann, dann ist das der Steinbruch. Hier wird die Philosophiegeschichte als ein Reservoir betrachtet, aus dem Argumente entnommen und dann in einer aktuellen Debatte verwandt werden können. Im Steinbruch wird oftmals vorausgesetzt, dass es historisch übergreifend identische Fragestellungen gibt, und dass Antworten auf diese Fragen kontextunabhängig verstanden werden können und isolierbar sind. Denn dann können sie in einer modernen Debatte zur selben Frage verwandt werden. Die abgelehnte Kontextberücksichtigung und die Voraussetzung von diachroner Identität können, wenn sie verabsolutiert werden, problematisch werden. Dahinter steht die Annahme, dass es nicht nur einen, Zitat Strawson, »ahistorischen Kern des menschlichen Denkens gebe, der keine Geschichte habe«17, sondern noch weitergehend, dass nur ein historisch invarianter Kanon philosophischer Fragen, sowie Methoden und Kriterien für deren Beantwortung, Philosophie ausmache. Der Steinbruch kann also aufgrund seiner Verbindung mit dem metaphilosophischen Essentialismus problematisch sein.18 Oft wird Grice zitiert »we should treat those who are great but dead as if they were great and living, as persons who have something to say to us now«19. Der Steinbruch folgt dem Diktum von Grice leider nicht. Denn bei dem Gespräch mit einer lebenden Person müssen wir davon ausgehen, dass es zwar Gemeinsamkeiten geben mag, aber eben auch andere Perspektiven auf ein Problem, dass andere Aspekte als fragwürdig oder akzeptabel betrachtet werden und dass andere Standards angelegt werden. Und schließlich verbindet sich mit der Annahme, es ginge um eine lebende Person auch die Möglichkeit, dass die Geschichte und die historische Situiertheit der Gesprächspartner beeinflusst, was sie sagen und wie wir dieses Gesagte beurteilen.

2. Das Antiquariat von Daniel Garber Das Antiquariat wird zurzeit von Daniel Garber prominent vertreten. Hierbei soll der Beitrag der Philosophiegeschichte darin bestehen, für die aktuelle Philosophie hilfreiche Alternativen aufzuzeigen. Garber kritisiert die Voraussetzung des Steinbruchs in Bezug auf die historisch übergreifende Identität der Fragestellungen, denn eine umfassende Kontextberücksichtigung20 zeige jeweils, dass nur eine Scheinidentität vorliege und die Voraussetzung des Steinbruchs nie gegeben sei. Die Kontextdependenz ist hier aber so Vgl. Gilbert Ryle: »Autobiographical«, in: Oscar Wood/George Pitcher (Hg.): Ryle, London 1971, S. 10 f. 17 Peter F. Strawson: Individuals, London 1959, S. 10. 18 Vgl. Sektion IV. 19 Paul Grice: »Reply to Richards«, in: Richard E. Grandy/Richard Warner (Hg.): Philosophical Grounds of Rationality. Intentions, Categories, Ends, Oxford 1986, S. 45–108, hier S. 66. 20 Vgl. Daniel Garber: »What’s Philosophical about the History of Philosophy?«, in: Sorell/Rogers: Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 132–137. 16

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stark, dass die Argumente in ihrem Kontext wie eingemauert sind und eben nicht in die Gegenwart transportiert werden können. Die historische Perspektive soll auch gar nicht zu einer speziellen aktuellen Debatte beitragen, sondern zur Philosophie der Philosophie: »[…] the study of the history of philosophy gives us something else. Part of being a good philosopher is being reflective about what exactly philosophy is, what kinds of questions it treats, what kind of enterprise it is, how it relates to other intellectual and non-intellectual enterprises. […] in times like these, where the analytic paradigm is in what many consider a crisis, we need to think larger thoughts; we need a larger vision of what we are doing.«21 Andere Positionen werden ausgeschlossen, weil ohne Kontextberücksichtigung keine korrekte Beschreibung der Positionen möglich sei und Kontextberücksichtigung immer zeige, dass Fragestellungen und Begriffe so stark kontextdependent sind, dass es keine transhistorischen Identitäten bei Fragestellungen oder Maßstäben gibt.22

3. Das Kontrastmittel von Bernard Williams Das Kontrastmittel von Bernard Williams nimmt eine Mittelstellung ein,23 denn es teilt die Nichtbeachtung des Kontextes mit dem Steinbruch und das Interesse an Alternativen als Grundlage für Beiträge zur aktuellen Philosophie mit dem Antiquariat. Die Grundidee des Kontrastmittels, um das es mir geht, lautet: »The contribution [of the history of philosophy to philosophy] was not, as philosophers in the analytic tradition used to think, to indicate voices of yore which could be heard as participating in contemporary debates: precisely not. It was to indicate voices of yore which could not be heard as participating in contemporary debates, and which thereby called into question whatever assumptions made contemporary debates possible.«24 Der Steinbruch will eine bestehende Fragestellung mit einer historischen aber dekontextualisierten Antwort versehen, wobei historisch übergreifende Identitäten vorausgesetzt Ebd., S. 145. Vgl. Ayers: Analytical Philosophy and the History of Philosophy, 54; Alasdair MacIntyre: »The Relationship of Philosophy to its Past«, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hg.): Philosophy in History, Cambridge 1984, S. 31–48, hier S. 33 f. 23 Williams hat noch eine weitere Position, die Genealogie, im Spätwerk entwickelt, die hier ausgeklammert wird, da der Geltungsbereich stark eingeschränkt wird, und zwar erstens auf den praktischen Bereich und zweitens nur auf solche Begriffe, die normativ sind und drittens auf die normativen praktischen Begriffe bei denen, seiner Meinung nach, Geltung und Autorität selbst wieder von der Geschichte des Begriffes abhängen, vgl. Bernard Williams: »Why Philosophy Needs History«, in: London Review of Books (17. Okt 2002), S. 7–9 und Bernard Williams: Truth and Truthfulness, Princeton 2004; kritisch dazu Glock: Analytic Philosophy and History, S. 877 ff. und eher affirmativ Colin Koopmann: »Bernard Williams on Philosophy’s Need for History«, in: The Review of Metaphysics 64 (2010), S. 3–30. 24 Bernard Williams: The Sense of the Past. Essays in the History of Philosophy, hg. v. Myles Burnyeat, Princeton 2006, S. IX. 21 22

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werden. Dem Kontrastmittel geht es erstens darum, Unterschiede durch einen Verfremdungseffekt25 sichtbar und dann nutzbar zu machen26 und zweitens um einen ganz anderen Beitrag zu einer aktuellen Debatte, denn die Fragestellung der Debatte, ihre Prämissen oder die Kriterien der Antwort sollen verändert werden. Williams selbst wendet diese Methode in Ethics and the Limits of Philosophy an: Mit dem Rekurs auf die Antike sollen nicht die aktuell bestehenden Fragen besser beantwortet werden, wie im Steinbruch, sondern die aktuelle Philosophie soll durch andere Fragen und Ansätze in neue Bahnen gelenkt werden. Die Kritik am morality system erschöpft sich nicht darin, falsche Antworten auf richtige Fragen zu geben, sondern setzt früher an, weil Williams zufolge zu eng formulierte Fragen nach falschen Kriterien beantworten werden. Die Sokratische Frage, wie zu leben ist,27 sei da offener und daher ein anderer und besser geeigneter Ausgangspunkt für ethische Überlegungen. Auch gibt es Kritik an den anderen Positionen. Laut Williams sorge die starke Kontextberücksichtigung des Antiquariats dafür, dass die historischen Texte zu fremd werden und also nicht mehr in der aktuellen Debatte verwandt werden können. Kontextberücksichtigung bringe einen Beitrag, der aber nicht der Philosophie zuzurechnen ist, sondern der »history of ideas«28. Gegen den Steinbruch argumentiert Williams, dass er die historischen Texte zu stark aktualisiere. Das Ergebnis sei zwar Philosophie, aber eben oftmals nur die eigene. Es gehe der Grund verloren, sie als historische Texte heute zu lesen. Der Steinbruch finde in den historischen Texten nur, wovon er ausgehe, nämlich die eigenen Fragen.29 Bemerkenswert ist schließlich, dass Williams eine Verbindung der Positionen ausschließt. Die drei Positionen unterscheiden sich in ihren Annahmen über die Bedeutung des Kontextes und die Existenz von historischem Wandel. Es handelt sich dabei nicht nur um einfache Differenzen, denn jede der drei Positionen schließt die anderen beiden vollständig aus, wobei der Ausschluss der jeweils anderen Positionen eben mit diesen Annahmen über Kontext und historischen Wandel begründet wird.30 Aus diesem Grund handelt es sich dabei um zwei zentrale Momente der Debatte. Im Folgenden werden sie, soweit wie möglich getrennt behandelt und dann auf metaphilosophische Positionen eingegangen.

Vgl. Ebd., S. 259. Williams schreibt: »the way the history of philosophy can help to serve this purpose is that basic and familiar one of making the familiar seem strange, and conversely«, ebd., S. 259. 27 Vgl. auch Ernst Tugendhat: Vorlesungen zur Einführung in die Sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 113 und Holmer Steinfath: Orientierung am Guten. Praktisches Überlegen und die Konstitution von Personen. Frankfurt/M. 2001, S. 14 ff. 28 Vgl. Williams: Descartes and the Historiography of Philosophy, S. 19 f. 29 Vgl. ebd., S. 25. 30 Vgl. van Ackeren: Was bedeutet der aktuellen Philosophie ihre Geschichte?, S. 313–320. 25 26

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II. Kontext Was die Berücksichtigung des Kontextes angeht, ist zunächst zu klären, was mit dem Ausdruck überhaupt gemeint ist, denn die Debatte differenziert nicht immer verschiedene Bedeutungen von Kontext: Als Kontext gelten erstens die anderen Argumente und Thesen im selben Text oder, zweitens, in anderen Texten aus der selben Feder sowie drittens die Thesen und Argumente vorheriger oder zeitgenössischer philosophischer Texte von anderen Autorinnen oder Autoren. Viertens können vorherige oder zeitgenössische Texte aus einer anderen akademischen Disziplin gemeint sein und schließlich wird, fünftens, mit Kontext natürlich auch der soziale, politische, ökonomische oder religiöse Zeithorizont des Textes bezeichnet. Für die Zwecke dieses Aufsatzes können drei Arten von Kontext unterschieden werden. Die erste und zweite Bedeutung von Kontext kann als der eigene argumentative Kontext bezeichnet werden. Die Geschichte der Philosophie bildet die zweite Art von Kontext und dann wiederum gibt es andere Geschichten, die ebenfalls einen Kontext bilden, nämlich Historien anderer Fächer als Philosophie. Schließlich ist auch die Realgeschichte mit ihren vielen Aspekten von Bedeutung. Da mit dem Ausdruck Kontext Verschiedenes gemeint sein kann, ist auch anzugeben, welche Kontextberücksichtigung notwendig, hilfreich oder ausgeschlossen werden kann. Darüber hinaus gibt es Kontexte von verschiedenen Dingen, nämlich einmal von Begriffen, dann von einer Problem- bzw. Fragestellung, von einem Argument und einer These sowie von einem Cluster von Begriffsbildungen, Fragestellungen, Thesen und Argumenten, kurz: einer Theorie. Kontextberücksichtigung ist ein interessantes Problem im Rahmen der für den Steinbruch typischen Methode der rationalen Rekonstruktion. Da für den Steinbruch zugleich Kontextnichtbeachtung wesentlich ist, wird rationale Rekonstruktion in der Regel mit dieser Nichtbeachtung des Kontextes verbunden. Betrachten wir zunächst die zweite und dritte Art des Kontextes in Form der Philosophiegeschichte und anderer Historien. Es gibt einen berühmten Aufsatz von Michael Frede, »The Study of Ancient Philosophy« , der die relevanten Probleme mit großer Klarheit und einer Allgemeinheit zur Sprache bringt, die ihn weit über die Erforschung der Antike hinaus relevant machen: Der paradigmatische Fall in der Geschichte der Philosophie ist der eines Philosophen »who adopts a view because he has good reasons to do so. The historian of philosophy will try to identify the reasons for which he adopts the view and will see whether he can reconstruct some line of reasoning […] a philosophical line of reasoning that even one of us might still avail himself of.«31 Michael Frede plädiert bei der rationalen Rekonstruktion für maximale Nichtberücksichtigung des Kontextes. Erst wenn wirklich alle Rettungsversuche bzw. Rekonstruktionen des antiken Arguments gescheitert sind, darf der Kontext als Erklärung für die nicht kurable Irrationalität des antiken Argumentes herangezogen werden. Dabei bezieht er

Michael Frede: »The Study of Ancient Philosophy«, in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen/Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 40. 31

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sich auf die zweite und dritte Art des Kontextes, nämlich einmal die Geschichte der Philosophie und den weiten historischen Kontext.32 Gegen dieses Vorgehen spricht, dass Kontextberücksichtigung ein sinnvoller und wichtiger Bestandteil der rationalen Rekonstruktion sein kann. Damit wird nicht dafür plädiert, die Perspektive der Gründe, die Frede in den Mittelpunkt stellt, zu verlassen. Es wird hier einerseits behauptet, dass für eine Einschätzung, welche Gründe für welche Frage oder These gut sind, Kontextberücksichtung wichtig sein kann. Denn wenn in einem Text auf Fragestellungen, Thesen und Argumente eingegangen wird, hilft es dem Verständnis der Argumente eines Textes, den Kontext zu kennen. Gleiches gilt auch für historische Texte, in denen auf Zeitumstände rekurriert wird. So lässt sich Platons Demokratie-Kritik nur vor dem Hintergrund eines zeitgebundenen Demokratie-Konzeptes verstehen, demzufolge über Ämtervergabe auch durch das Los entschieden wurde. In beiden Fällen kann die Berücksichtigung helfen, schon die Bedeutung der Termini zu verstehen und auch die Argumente, die sie verwenden. Zweitens kann Kontextberücksichtigung nicht nur helfen, Antworten auf bestehende Fragen zu verstehen, sondern auch das Themenfeld, die Fragen der Philosophie und ihre Bedeutung zu erkennen. Dies aber schließt Frede aus: »Nor is it the task of the historian of philosophy to find some explanation or other for the thoughts that enter the history of philosophy.«33 Dass etwa in der Antike Themen wie Folter, politische Rechte von Frauen, Sklaven, universelle Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit oder Welthungerhilfe usw. nicht als zentrale Themen der praktischen Philosophie diskutiert wurden, erklärt sich nicht einfach als Fehler in den Antworten auf bestehende Fragen, also im Bereich der Gründe. Vielmehr ist das aufkommende und verblassende Interesse an Fragen etwas, das durch Kontexte der zweiten und vor allem dritten Art beeinflusst werden kann. Durch neue Zeitumstände können Themen behandelt werden, die früheren Philosophen notwendig unbekannt waren. Der Umstand, dass wir von philosophischen Texten Gründe für eine bestimmte Auffassung erwarten und uns für diese interessieren, schließt nicht aus, dass wir uns für die Gründe interessieren, warum bestimmte Probleme und Fragen im Rahmen von Philosophie behandelt werden. Im Gegenteil: Das Interesse für die Gründe, mit denen eine These zu einem Problem vertreten wird, sollte Gründe einschließen, die deutlich machen, warum etwas ein Problem ist bzw. warum es ein solches wurde und ob das Problem nur in einem bestimmten Kontext ein solches ist. Diese Frage, warum und wann ein Problem in der Geschichte der Philosophie behandelt wird, wird dann weniger bedeutsam, wenn angenommen wird, dass Philosophie einen historisch übergreifenden Kanon an Fragen behandelt. Das aber scheint nicht Fredes Position zu sein. Er scheint Wandel anzunehmen, aber schließt die Erklärung des Wandels vom Aufgabenbereich des Philosophiehistorikers aus. Das jedoch ist eine Einschränkung, die unnötig ist. Die Frage nach dem Wandel der Themen der Philosophie sollte nicht aus der Beschäftigung mit der Philosophie ausgeschlossen werden, denn das, was 32 33

Ebd. Frede: The Study of Ancient Philosophy, S. 40–41.

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Philosophie ausmacht, sind nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragen, auf die geantwortet wird. Mit der Erforschung des Wandels an Themen ist in der Tat nichts über die Richtigkeit von Antworten gesagt, aber diese Erforschung des Wandels kann das Verständnis der Antworten vertiefen und einen Beitrag zur Metaphilosophie liefern. Nun zu der engeren Bedeutung von Kontext im Sinne der Argumente und Thesen eines Textes, die dem Untersuchten zur Seite stehen. Dass rationale Rekonstruktionen zum Ausblenden von umgebenden Argumenten, also zu isolierender Betrachtung neigen, ist unmittelbar für die Geltung von Argumenten wichtig. Brandom schreibt: »If I already know the fruit is a raspberry, then being told that it is red will entitle me to conclude that it is ripe. But if instead I knew to begin with that the fruit is a blackberry, then being told that it is red will entitle me to conclude that it is not ripe. The inferential significance of the claim that the fruit is red depends on the context of background commitments with respect to which it is assessed.«34 Es ist zu betonen, dass dieses Plädoyer für inferentielle Deutungen direkt auf die Bedeutung und Geltung von Argumenten abzielt und nicht nur auf eine genetische Erklärung, warum etwas zum Problem in der Philosophiegeschichte geworden ist. Das Problem dekontextualisierter Betrachtungen lässt sich anhand von zwei Fällen aus der Erforschung der antiken Philosophie illustrieren. In einer Fallstudie zum sogenannten Dritten Mann-Argument in Platons Parmenides konnte Julia Annas zeigen, dass in diesem Sinne dekontextualisierende Untersuchungen seit Vlatos’ berühmtem Aufsatz35 kaum substantielle Resultate gebracht haben: »Yet the ›Third Man‹ does not remain as a pressing unsolved problem. Rather, we can now see that a great deal of the time and fuss was off the point, and that the argument yields far better philosophical understanding if instead of plucking it out of its context and treating it as though it were straightforwardly a modern argument attacking a modern kind of theory, we try to put it into its broader philosophical context.«36 Auch nachdem wir die betreffenden Zeilen aus dem Parmenides nun genauer und besser verstehen, bleiben entscheidende Fragen, wie beispielsweise, ob Platon damit vorherige Positionen modifiziert oder aufgibt oder ob er überhaupt einen systematischen Anspruch auf eine Ideentheorie hat. All diese Fragen lassen sich eben nicht durch eine isolierende Betrachtung des Arguments beantworten. Entscheidend aber ist, dass ihre Beantwortung die Beurteilung der Bedeutung des Argumentes und der Geltung stark beeinflusst. Hinzu kommt in diesem Fall, dass wir die Textgattung des Dialoges berücksichtigen müssen, da Platon nicht, wie moderne Autoren, in eigenem Namen Argumente präsentiert. Dadurch ist es also weniger klar, was Platon zum Ausdruck bringen möchte.

Robert Brandom: Tales of the Mighty Dead, Harvard 2002, S. 95. Gregory Vlatos: »The Third Man Argument in the Parmenides«, in: The Philosophical Review 63 (1954), S. 319–349. 36 Julia Annas: Ancient Philosophy for the Twenty-First-Century, S. 31; zum Hintergrund siehe Gail Fine: On Ideas, Oxford 1993. 34 35

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Ähnliche Beobachtungen ließen sich mit Blick auf eine Kritik an der Was-ist-X-Frage anstellen, die auf isolierenden Betrachtungen beruht. Robinson urteilt, dass die Frage, »when unsupported by a context, the vaguest of all forms of question except an inarticulate grunt« 37 ist. Dagegen ist gezeigt worden, dass der jeweilige Kontext und auch Sokrates’ eigene Erläuterungen sehr klar machen, was er erfragt und mit einer Antwort bezweckt.38 In bestimmten Fällen können rationale Rekonstruktionen, wenn sie dekontextualisierend sind, also problematisch sein, weil sie gar keine gute Beschreibung der Argumente liefern, die sie dann für eine moderne Debatte gewinnbringend einsetzen wollen. Es ist zu betonen, dass dies kein Plädoyer für weniger genaue Analysen einzelner Argumente ist, sondern dafür, dass wir die Qualität der rationalen Rekonstruktion mitunter durch Kontextberücksichtigung noch erhöhen können. Soweit der Steinbruch eine starre Trennung von rationaler Rekonstruktion und Kontextberücksichtigung empfiehlt, ist sie aufzugeben. Stattdessen können Aspekte der anderen beiden Methoden mit aufgenommen werden. Rationale Rekonstruktion bleibt aber auch dann, wenn der Kontext berücksichtigt wird, eine Gratwanderung, z. B. wenn ein Argument nicht einfach direkt übernommen werden kann und mehr rekonstruiert werden muss, etwa weil Prämissen, Logik oder weitere Stützen problematisch erscheinen und ersetzt werden. Dann muss offengelegt werden, in welchen Teilen es sich noch um ein historisches Argument handelt. Es besteht bei der rationalen Rekonstruktion die Gefahr, den zweiten Schritt mit dem ersten zu machen, also die Gefahr, dass die beabsichtigte Aktualisierung eines Argumentes schon so stark von der Beschreibung des historischen Textes gelenkt wird, dass die Beschreibung als Beschreibung problematisch wird.39 Wichtig ist, dass diese Gefahr vor allem den Interpretationen, die der Steinbruch-Methode folgen, droht. Denn diese Methode setzt voraus, dass im historischen Text das gleiche Problem behandelt wird, das auch heute Gegenstand einer aktuellen Debatte ist. Isolierende Betrachtungen, die häufig, aber nicht notwendig sind, erhöhen die Bereitschaft, die Voraussetzung für gegeben zu halten bzw. machen es leichter, dies anzunehmen.

III. Wandel Wandel, um den es hier zunächst gehen soll, kann als eine Sonderform von Pluralität verstanden werden. Wenn es im Laufe der Geschichte der Philosophie Wandel gegeben hat, dann gibt es in der Geschichte der Philosophie eine diachrone Pluralität. Das Verständnis Richard Robinson: Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 21953, S. 59. Vgl. Peter Stemmer: Platons Dialektik, Berlin, New York 1992, 40ff.; Marcel van Ackeren: Das Wissen vom Guten, Amsterdam, Philadelphia 2003, S. 28 ff. 39 Dieses Problem wurde versucht zu umgehen, indem angenommen wurde, dass für gewinnbringende Verwendung in einer aktuellen Debatte gar keine korrekte Beschreibung der historischen Position vorliegen müsse (vgl. Broad: Five Types of Ethical Theory, S. 1 oder Saul Kripke: Wittgenstein on Rules and Private Language, Oxford 1982, S. 5). Diese Position will die historischen Texte nicht ernst nehmen, sondern behandelt sie wie Assoziationsauslöser (so Glock: Analytic Philosophy and History, S. 883). 37 38

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von Wandel als diachroner Pluralität ist deswegen interessant, weil es in der folgenden Sektion um den metaphilosophischen Essentialismus gehen wird, der Pluralität sowohl in Form von historischem Wandel als auch von synchroner Pluralität ausschließt. Die Frage nach dem historischen Wandel ist deswegen von Bedeutung, weil die drei eingangs beschriebenen Grundpositionen der Debatte sich genau hierin unterscheiden. Der Steinbruch nimmt transhistorische Identität an, während das Antiquariat und das Kontrastmittel Wandel annehmen. Wandel bzw. Nicht-Wandel, also historische Kontinuität, scheint es mindestens in Bezug auf folgende drei Aspekte zu geben. Erstens gibt es einen Wandel an Fragestellungen oder Problemen.40 Dieser Wandel kann drei Formen annehmen. Fragestellungen in der Philosophie können wegfallen, weil sie von anderen Disziplinen, z. B. den Naturwissenschaften, behandelt werden, oder gar nicht mehr debattiert werden.41 Wandel von Fragestellung gibt es ferner, weil neue Fragen und Probleme hinzugekommen sind bzw. hinzukommen können. Neue Entwicklungen in anderen akademischen Disziplinen, etwa in Form von neuen Erkenntnissen und infolge neuer technischer Möglichkeiten, können zu neuen philosophischen Fragestellungen führen. Aber auch veränderte Umweltbedingungen, in Form von Klimawandel etc., können hierzu führen. Und schließlich gibt es einen Wandel in Bezug auf philosophische Fragestellungen, weil Fragen neu und anders verstanden werden können, z. B. weil sich die Bedeutung der zentralen Termini der Fragestellung ändert. So ist die Frage nach dem Glück als Frage nach Lust, nach Zielerfüllung, oder einer objektiven Liste verstanden worden. Sie wurde als Frage einer Eigenschaft einer Lebensführung verstanden oder einer Gruppe von Handlungen oder einem mentalen Zustand. Dieser Wandel durch Bedeutungsänderung ist deswegen wichtig, weil die Frage nach dem Glück leichtfertig als erstaunlich kontinuierliche Frage verstanden werden kann, hinter deren historisch übergreifender Identität sich viel Wandel verbergen kann. Dass hier angenommen wird, dass diese drei Arten von Wandel in Bezug auf Fragestellungen bzw. Probleme vorgekommen sind und auch weiterhin vorkommen können, heißt nicht, dass zugleich angenommen wird, dass es auch historisch übergreifende Identitäten gegeben hat. Zweitens gibt es in Bezug auf die Kriterien, die für die Beurteilung der Antworten auf die philosophischen Fragenstellungen herangezogen wurden, Wandel, z. B. hat sich die Auffassung darüber gewandelt, womit Aussagen in einem Text in Widerspruch geraten dürfen. Das Spektrum reicht von Ansichten philosophischer Autoritäten, Aussagen in religiösem Schrifttum, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Common Sense bis hin zu Intuitionen. Auch hier gibt es nicht nur Wandel, sondern ebenso historisch übergreifende Für hiesige Zwecke soll nicht zwischen philosophischen Frage- und Problemstellungen unterschieden werden. Sicher sind nicht alle Fragen philosophische Probleme, so z. B. ob die Anzahl meiner Haare gerade oder ungerade ist. Es ist aber wohl so, dass alle philosophischen Probleme Frageform haben (können). 41 Beispiele für eine solche Dezimierung philosophischer Fragestellungen wären die Fragen nach der Bewegung von Himmelskörpern, der Funktion von biologischen Organen oder der Legitimierung des Ablasshandels. 40

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Identitäten oder sogar Kontinuitäten. So findet sich die These, dass sich Aussagen in demselben Text nicht widersprechen sollten in der Geschichte der Philosophie häufig. Drittens gibt es Wandel in Bezug auf Philosophiekonzepte. Mit Philosophiekonzept ist hier nicht nur die Verbindung von den beiden erstgenannten Aspekten Fragestellung und Antwortkriterien gemeint, sondern auch darüber hinausgehende Momente, die eine Auffassung von Philosophie mitprägen, etwa in Form von gesellschaftlichen Faktoren oder solchen die darauf bezogen sind. Ein solcher Bezug liegt zum Beispiel dann vor, wenn angenommen wird, die akademische Philosophie soll der Gesellschaft nützlich sein oder dass ihre akademische Qualität leiden würde, wenn sie dies versuche.42 Die Rede vom Wandel setzt die Einnahme einer historischen Perspektive voraus, weil es um ein Urteil über einen Zeitraum bzw. eine Abfolge geht, nämlich in Bezug auf die Frage, ob sich eine Fragestellung, ein Begriff etc. über diverse Stadien und Varianten hin verändert hat. Andernfalls kann in einem direkten Vergleich nur konstatiert werden, dass sich zwei Fragestellungen (oder Begriffe o.ä.) unterscheiden, ohne Annahmen darüber zu machen, ob und welche Entwicklung es dazwischen geben hat. In diesem Sinne ist Wandel also eine besondere These in Bezug auf Nicht-Identität. Das Gegenteil von Wandel ist daher nicht notwendig Kontinuität, sondern historisch übergreifende Identität. Kontinuität ist eine besondere Form von historisch übergreifender Identität, die dann vorliegt, wenn zu zwei auseinanderliegenden Zeitpunkten in der Geschichte der Philosophie nicht nur identische Fragestellungen behandelt wurden, sondern es zwischen diesen Zeitpunkten auch eine mehr oder minder kontinuierliche Behandlung dieser Frage gibt. Die Fragen nach Kontinuitäten in Bezug auf die drei erwähnten Aspekte Fragestellungen, Antwortkriterien und Philosophiekonzepte ist besonders relevant für die Einteilung von Perioden oder Strömungen in der Philosophiegeschichte. Mit der Behandlung dieser Frage nach dem Wandel soll weder ausgeschlossen werden, dass es Fortschritt gibt noch dass es zwischen zwei historisch auseinanderliegenden identischen oder (hinreichend) ähnlichen Fragestellungen immer eine historische Transmissionslinie gibt, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass jemand ohne Vorkenntnisse von historischen Vorgängern, die ein ähnliches Problem behandelt haben, dieses für sich neu entdeckt, obwohl er es eigentlich wiederentdeckt. Fraglich ist auch, ob und inwieweit Wandel Identität voraussetzt. Die Frage könnte aufgrund von zwei Argumenten bejaht werden: Zum einen könnte die These vertreten werden, dass ein (identisches) Problem immer wieder aufgegriffen werden muss, um sich so zu wandeln und zu etwas Neuem zu werden. Wenn damit gemeint wäre, dass es Neues in der Philosophie nur im Rahmen einer langsamen Evolution gibt, wäre das eine sehr starke These, die Sprünge und die gerade bereits erwähnten Wiederentdeckungen ausschließt. Zum anderen könnte die These, dass Wandel Identität voraussetzt, grundsätzlicher begründet werden: Um davon zu sprechen, dass eine Fragestellung B eine Wandlung der vorherigen Fragestellung A ist, muss etwas in B mit A noch identisch sein, denn sonst Vgl. Marcel van Ackeren/Jörn Müller: »Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen einer philosophischen und sozialen Frage«, in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller/Theo Kobusch (Hg.): Warum noch Philosophie?, Berlin, Boston 2011, S. 17–38. 42

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könnte nicht erkannt und behauptet werden, dass es sich um eine durch Wandel entstandene Fragestellung handelt. Das letzte Argument greift aber insofern zu kurz als eine Fragestellung A über viele historische Stationen hinweg gewandelt werden kann, so dass zu einem viel späteren Zeitpunkt eine Fragestellung Z stehen kann, die keine Elemente mehr mit der ursprünglichen Fragestellung A gemeinsam hat, aber dennoch durch Wandel entstanden ist. Auch dies kann nur aufgrund einer historisch übergreifenden Beobachtung erkannt werden, die Entwicklungen von A zu Z nachzeichnet und verständlich macht, inwiefern es sich um einen Wandel handelt. Kritisch einwenden ließe sich, dass solche historischen Beobachtungen über den Wandel von Fragestellungen keine Hilfe bei der Beantwortung einer Fragestellung sind. Das muss aber auch nicht behauptet werden. Entscheidend war der Hintergrund der Frage nach der Identität und dem Wandel von Fragestellungen. Auch in metaphilosophischer Hinsicht ist die Frage wie weit- und tiefgehend Philosophie durch Wandel geprägt ist, entscheidend für die Frage, ob es (diachron und synchron) nur eine richtige Philosophie gibt. Die Frage nach Wandel ist gerade für Vertreter des Steinbruches wichtig. Der Steinbruch »presupposes that there is also ›vertical‹ continuity across time. The problems, arguments and claims of remote philosophical theories must be intelligible to us, so that we can assess them for their trans-historical merits.«43 Der komplexen Argumentation von Glock wird es nicht vollumfänglich gerecht, sich auf einen Satz zu konzentrieren. Doch das Zitat ist bemerkenswert, denn es nennt die zentralen Aspekte. Erstens erwähnt Glock Kontinuität, aber für seine These braucht er nur die schwächere These von der historisch übergreifenden Identität. Seine These, dass wir einen historischen Text verstehen müssen, setzt nur voraus, dass es eine historische übergreifende Identität gibt und braucht nicht die stärkere Annahme, dass es zwischen dem historischen Text und uns eine Kontinuität gibt. Zweitens ist fraglich, was mit »trans-historical merits« gemeint ist. In einem schwachen Sinne könnte gemeint sein, dass immer dann, wenn der Rekurs auf einen historischen Text einen Beitrag für eine aktuelle Debatte leistet, ein transhistorisches Verdienst vorliegt. In einem viel stärkeren Sinne könnte gemeint sein, dass philosophische Fragen unveränderlich sind und ein Beitrag darin besteht, überzeitlich gültige Antworten zu finden. Diese starke Bedeutung ist eine Variante des philosophischen Essentialismus, die gleich noch zu diskutieren sein wird. Drittens ist interessant, ob und inwieweit Wandel hier für einen Beitrag der historischen Perspektive für eine aktuelle Debatte ausgeschlossen wird und was dies für die Art des Beitrages und die Methodik, die ihn erzielt, heißt. Glock argumentiert, dass transhistorische Identität vorausgesetzt werden muss, weil nur so die historischen Texte verstanden werden können. Und dieses Verständnis wiederum sei notwendig, um einen Beitrag zu einer aktuellen Debatte zu leisten. Der Schluss von der transhistorischen Identität zum Beitrag der historischen Perspektive ist aber pro43

Glock: Analytic Philosophy and History, S. 885.

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blematisch. Aufgrund der gerade angestellten Überlegungen zum Wandel in der Philosophie ist es zunächst problematisch vorauszusetzen, dass transhistorische Identität vorliegt. Da es neben Wandel auch transhistorische Identität gibt, ist jeweils zu zeigen, ob die Voraussetzung, die Glocks Ansicht zufolge gemacht werden muss, überhaupt gegeben ist. Problematisch ist auch die Annahme, dass transhistorische Identität eine Voraussetzung für Verstehbarkeit ist. Können wirklich nur die Texte verstanden werden, die identische Fragen nach identischen Kriterien beantworten? Transhistorische Identität zur Voraussetzung für die Verstehbarkeit der historischen Texte zu machen erscheint falsch und besonders verhängnisvoll. Falsch ist diese Position, weil wir auch Texte verstehen können, die andere Fragen nach anderen Kriterien beantworten als eine moderne Debatte. Genau an diesem Punkt setzte das Modell des Kontrastmittels von Williams an, das im Rahmen eines alienation effect die Andersartigkeit in den historischen Texten nutzbar machen will. Hier soll weder bezweifelt werden, dass die Verstehbarkeit der historischen Texte essentiell für einen Beitrag ist noch dass sie immer gegeben ist.44 Bezweifelt wird nur, dass Verstehbarkeit der historischen Texte transhistorische Identität bei Fragestellungen voraussetzt. Für Williams sind dem Kontrastmittel aber Grenzen gesetzt, insofern die Thesen und Argumente der historischen Texte nicht zu fremd sein dürfen. Williams zufolge wird die übergroße Fremdheit vom Antiquariat behauptet. Die historische Perspektive kann also einen Beitrag zu aktuellen Debatten leisten, indem sie nicht nur transhistorische Identität feststellt, sondern auch, ob sich ein Wandel vollzogen hat.

IV. Metaphilosophische Aspekte Wir verwenden das Wort ›Philosophie‹ in der Regel im Singular und in den meisten Situationen ist dies ganz unproblematisch. Bedenklich ist aber eine essentialistische und ausschließende Rede von der Philosophie. Ein leider nicht fiktiver Beispielsatz lautet: ›Die Selbstbetrachtungen Marc Aurels repräsentieren keine Philosophie.‹ Hier gibt es eine schwache und eine starke Lesart. Der schwachen Lesart zufolge wäre der Satz ein rhetorisch pointierter Ausdruck für eine Präferenz: Die aussagende Person mag die Art von Philosophie, die Marc Aurel repräsentiert, nicht. Solche sprachlichen Verkürzungen oder Zuspitzungen werden im Alltag leicht verstanden. Wer z. B. sagt ›Kölsch ist kein Bier‹, oder ›Free-Jazz ist keine Musik‹, drückt in der Regel eine Abwertung aus und nur selten wird damit der Anspruch erhoben, einen Schluss zu präsentieren, der aufgrund einer allgemeingültigen Begriffsbestimmung von ›Bier‹ oder ›Musik‹, schließt, dass etwas keine Spezies der zuvor bestimmten Gattung sei. Philosophen halten sich aber – oft zu Recht – etwas darauf zugute, begriffliche Arbeit geleistet zu haben, nur begründete Urteile zu fällen und sprachlich klar zu formulieren. Vor diesem Hintergrund ist eine andere, stärkere Lesart des Satzes möglich. Mit ihr verbindet sich dann die These, dass Marc Aurels Selbstbetrachtungen nicht unter den einen Gerade aufgrund manch unverständlicher Wortsammlungen bei Martin Heidegger wird klar, dass nicht immer der historische Kontext oder die zeitliche Distanz für die Verständlichkeit relevant sind. 44

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alternativlosen Begriff der Philosophie fallen. Das Problem solcher starken Redeweisen ist, dass sie verschleiern, dass wir gar keinen allgemeingültigen Philosophiebegriff haben oder uns über Familienähnlichkeiten bestenfalls nicht klar oder nicht einig sind. Was den Ausdruck Metaphilosophie angeht, gehe ich kurz auf zwei Bemerkungen von Timothy Williamson ein. Erstens kritisiert er das Wort Metaphilosophie: »The philosophy of philosophy is automatically part of philosophy, just as the philosophy of anything else is, whereas metaphilosophy sounds as though it might try to look down on philosophy from above, or beyond.«45 Die bisherigen Ausführungen sind insofern im Einklang mit dieser These, als dass bei der philosophischen Diskussion des Verhältnisses der historischen und systematischen Perspektiven immer wieder grundlegende Ansichten über Philosophie eine zentrale Rolle spielen. Dennoch ist es möglich, eine besondere Aufmerksamkeit für genau diese Ansichten unverfänglich als Metaphilosophie zu bezeichnen, eben ohne dabei eine eigene oder gar außerphilosophische Perspektive vorauszusetzen, von der aus etwas über die Philosophie ausgesagt wird. Während Williamson in der Sache Recht zu geben ist, kann der Terminus Metaphilosophie weiter gebraucht werden, schon weil der Ausdruck die praktische Bildung und Verwendung des Adjektivs ›metaphilosophisch‹ erlaubt.46 Zweitens verzichtet Timothy Williamson zufolge die philosophy of philosophy auf Ratschläge und normative Redeweisen. Aber in der Debatte, um die es hier geht, finden sich nicht nur Analysen von Philosophie, sondern Empfehlungen für ›gute Philosophie‹ oder die ›richtige Art, Philosophie zu betreiben‹. Im Folgenden werden einige metaphilosophische Annahmen, die von Repräsentanten analytischer Philosophie gemacht werden, herausgegriffen. Dabei wird nicht behauptet, dass es die analytische Philosophie im Sinne einer definierbaren Einheit gibt, noch dass alle analytischen Philosophen die folgenden Thesen unterschreiben, die alle Aufsätzen von Ansgar Beckermann entnommen sind. Kritisch soll hier seine These beleuchtet werden, »dass es in der Philosophie darum geht, in systematischer Weise rationale Antworten auf die Sachfragen zu finden, die das Themenspektrum ausmachen; dass es dabei Standards der Rationalität gibt, die für alle in gleicher Weise gelten; und dass es deshalb letzten Endes nur einen großen philosophischen Diskurs geben kann.«47 Diese Position kann in folgende vier Aspekte bzw. Thesen zergliedert werden:

Timothy Williamson: The Philosophy of Philosophy, Malden, Oxford 2007, S. IX. Bei Wittgenstein findet sich: »Man könnte meinen: wenn die Philosophie vom Gebrauch des Wortes ›Philosophie‹ redet, so müsse es eine Philosophie zweiter Ordnung geben. Aber es ist eben nicht so; sondern der Fall entspricht dem der Rechtschreibelehre, die es auch mit dem Wort ›Rechtschreibelehre‹ zu tun hat, aber dann nicht eine solche zweiter Ordnung ist.« (Wittgenstein, PU 121). 46 Die ›Philosophie der Philosophie‹ erlaubt genau das nicht. 47 Ansgar Beckermann: »Analytische Philosophie – Peter Bieris Frage nach der richtigen Art, Philosophie zu betreiben«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), S. 612; siehe Ansgar Beckermann: 45

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(i) Themen: Philosophie behandelt einen historisch invarianten Kanon von überzeitlich aufzufassenden Themen. (ii) Ziel: Philosophie will überzeitliche Wahrheit in Bezug auf Sachfragen oder Probleme erreichen. Sie (a) löst oder antwortet bzw. (b) versteht oder klärt. (iii) Methode: Philosophie analysiert und argumentiert rational gemäß eines allgemeingültigen Verfahrens und allgemeingültiger Standards. (iv) Wissenschaftlichkeit: Die Philosophie ist eine normale (mathematische, empirische) Wissenschaft. Auf diese vier mächtigen Thesen kann hier nicht ausführlich eingegangen werden, ich diskutiere nur einige wenige Aspekte. These (ii) und These (iv) scheinen in einer Hinsicht unverträglich zu sein. Als Ziel (ii) der Philosophie werden sowohl (a) Antworten bzw. Problemlösungen genannt, als auch (b) eine Klärung oder ein Verständnis von Problemen: In beiden Fällen kann die These, dass die Philosophie wie eine normale Wissenschaft sei, nicht aufrechterhalten werden. Denn wenn die Philosophie (IIa) auch allgemeingültige Antworten geben will, muss festgestellt werden, dass sie das nicht einmal im Ansatz so wie die Naturwissenschaften oder die Mathematik schafft. Wenn (IIb) die Philosophie gar keine Antworten geben will, dann ist bereits ihre Zielsetzung eine ganz andere als die einer anderen Wissenschaft. Zunächst zur These (a): Für diese Variante spricht, dass es in der Philosophie tatsächlich sehr viele Versuche gibt, Antworten mit allgemeiner Akzeptanz zu präsentieren. Doch diese Ansprüche in der Vergangenheit oder der Gegenwart konnten nicht oder bestenfalls nur sehr eingeschränkt eingelöst werden. Demgegenüber haben andere Wissenschaften eine Vielzahl solcher allgemein akzeptierten Antworten vorlegen können und das gilt insbesondere für die Zeiten sogenannter normaler Wissenschaft, aber auch über Paradigmenwechsel hinweg. Peter Hacker stellt fest: »[…] if one asks a physicist or biologist, a historian or a mathematician what knowledge has been achieved in his subject, he can take one to a large library, and point out myriad books which detail the cognitive achievements of his subject. But if one asks a philosopher for even a single book that will summarize the elements of philosophical knowledge – as one might ask a chemist for a handbook of chemistry – he will have nothing to present. There is no general, agreed body of philosophical knowledge – alt-

»Einleitung«, in: Peter Prechtl (Hg.): Grundbegriffe der Analytischen Philosophie, Stuttgart, Weimar 2004, S. 1–12 und Ansgar Beckermann: »Philosophie als Analytische Philosophie«, in: van Ackeren/Müller/ Kobusch: Warum noch Philosophie?, S. 105–126.

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hough there are libraries full of philosophical writings from antiquity to the present day, which are in constant use.«48 Zur These (b): Auch wenn Ansgar Beckermann gelegentlich von Antworten und Lösungen spricht, bekennt er sich im Rekurs auf Lewis auch dazu, philosophische Fragen und Probleme nur verstehen zu wollen.49 Wenn Philosophen die Fragen nur verstehen und nicht beantworten (wollen), scheinen diese nicht das Ziel zu verfolgen, das andere Wissenschaften ansteuern. Naturwissenschaftler wollen nicht nur Antworten auf Fragen geben, sondern sie tun es auch, und zwar mit Antworten die zumindest synchron immer auf extrem große Zustimmung stoßen. Und genau das gelang und gelingt Philosophen nicht einmal im Ansatz. Im Falle der These (IIb) gibt es eine Spannung zur These (iii). Mit Blick auf die These, dass Philosophie eine eindeutig bestimmte und allgemeingültige Methode habe, wird im Falle der These (b) nämlich fraglich, warum die Philosophie keine allgemeingültigen Antworten geben kann oder soll. Anders formuliert: Warum können und sollen Philosophen nur Fragen verstehen und nicht beantworten, wenn sie doch eine Methode haben, die nach allgemeingültigen Standards Antworten generiert? Wenn klar festgelegte Sachfragen mit invarianter Bedeutung nach einem alternativlosen Verfahren behandelt werden, das klar und streng ist und für alle Zeiten gilt und das Ergebnisse in Form von absoluten und nicht relativen Antworten nach allgemeingültigen Standards liefert, ist fraglich, warum diese Methodenkennzeichnung nicht auch zum Anspruch führt, dass die Antworten allgemeingültig sind. Sowohl das faktische Bestehen der vielen Dissense als auch der Umstand, dass es in der Philosophie offenbar keine Möglichkeit gibt, das flächendeckende Aufkommen von Dissensen zu verhindern, unterscheidet sie von anderen Wissenschaften.50 Außerdem gibt es nicht nur lokale Dissense, also in Bezug auf einzelne Themen, sondern auch in Bezug auf die Frage, was Philosophie ist. Das Bestehen von Dissensen ist auch methodisch bedeutend, denn erst aufgrund der historischen Perspektive wird ihre diachrone Stabilität deutlich. Angenommen jemand wüsste gar nichts über die Geschichte der Philosophie, sondern würde nur aktuelle Veröffentlichungen kennen. Schnell würde klar, dass es aktuell Dissense gibt. Aber die meisten Autoren versprechen eine Lösung der Probleme und nicht nur ein Verständnis von Fragen. Nur mit Blick auf die aktuellen Debatten gäbe es vielleicht nicht einmal einen Grund, diesen Versprechungen nicht zu glauben; bei den Dissensen könnte es sich um ein Durchgangsstadium handeln. Erst angesichts einer diachronen, also philosophiehistorischen P.M.S. Hacker: »Philosophy: A Contribution, not to Human Knowledge, but to Human Understanding«, in: Anthony O’Hear (Hg.): Conceptions of Philosophy, Cambridge 2009, S. 130. 49 Beckermann schreibt: »Fortschritt besteht in der Philosophie nicht darin, einen Kanon allgemeinverbindlicher Antworten zu entwickeln […] Fortschritt in der Philosophie bedeutetet im Allgemeinen nicht die Lösung, sondern die Klärung von Problemen.« (Beckermann: Analytische Philosophie, S. 609f); vgl. hierzu auch David Lewis: Philosophical Papers Vol. I, Oxford 1983, S. IX–XII. 50 Das heißt nicht notwendig, dass die Philosophie keine Wissenschaft ist, aber, wenn sie eine ist, ist sie eine sehr besondere. 48

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Perspektive wird klar, dass wir es mit flächendeckenden und tiefgreifenden Dissensen als einem Dauerzustand, diachron und synchron, zu tun haben und das gilt insbesondere mit Bezug auf die verschiedenen Vorstellungen von Philosophie selbst. Die Dissense gehören offenbar zur Philosophie.51 Die historische Perspektive liefert somit wichtige Aufschlüsse über die Fragen, die Philosophie behandelt und das, was Philosophie in Bezug auf diese Fragen zu leisten vermag und was nicht. Seit es Philosophie gibt, gibt es Versuche, diesen eher misslichen Zustand zu beenden, aber kein einziger war bis dato erfolgreich. Lewis stellt fest: »And if all indeed is said and done, there will be no hope of discovering still further arguments to settle our differences.«52 Metaphilosophischen Dissens gibt es auch innerhalb der analytischen Philosophie. Kritiker wie Peter Bieri weisen darauf hin, dass es »kontingente Randbedingungen für unser Verständnis von Vernunft gibt.«53 Hier kann die historische Perspektive zeigen, dass auch die Vernunft- oder Wahrheitsorientierung kein archimedischer Punkt ist, denn unter Wahrheit wird weder in der Philosophiegeschichte noch aktuell immer dasselbe verstanden.54 Selbst wenn alle in der Philosophiegeschichte wirklich immer dieselben Fragen beantwortet haben (i), ist die These problematisch, dass alle Antworten durch eine identische Ausrichtung auf einen ahistorischen Wahrheitsbegriff verglichen werden können. Denn die Antworten könnten einfach nach unterschiedlichen Standards entwickelt worden sein. Der Befund der historischen Perspektive spricht sogar dafür, dass es diverse Philosophie-, Vernunft- und Wahrheitskonzepte gegeben hat und gibt, so dass mit Lewis fraglich bleibt, wie sich die metaphilosophischen Dissense überhaupt aufheben lassen. Damit bleibt vor allem fraglich, ob und wie sich zeigen lässt, dass ein bestimmtes Philosophie-, Vernunft- und Wahrheitskonzept den Anspruch erheben kann, nicht mehr Teil des historischen Stroms an Positionen von Vernunft- und Wahrheitskonzepten zu sein. Ein anderer Dissens besteht da, wo einige frühe Vertreter annahmen, dass es gar keine genuinen philosophischen Probleme gibt, während andere annehmen, dass es einen festen, historisch invarianten Kanon an philosophischen Themen und Problemen gibt. Weiter beruht Beckermanns Vorstellung, dass es nur einen einzigen philosophischen Diskurs gibt, auf zwei Thesen in Bezug auf die Themen der Philosophie (i). Die erste These hat die Form einer philosophiehistorischen Beobachtung, nämlich die, dass Philosophie einen historisch invarianten Kanon an Fragen habe. Die zweite These betrifft die Art der Themen oder Fragen bzw. wie sie verstanden werden können und beantwortet werden sollen, nämlich als ahistorische Fragen, deren Gehalt

51 Kant stellt fest, dass die Philosophie keine Einhelligkeit erreiche, sondern ein Kampfplatz ist. Und Husserl schreibt: »[Die Philosophie] verfügt nicht bloß über ein unvollständiges und nur im einzelnen unvollkommenes Lehrsystem, sondern schlechthin über keines. Alles und jedes ist hier strittig, jede Stellungnahme ist Sache der individuellen Überzeugung, der Schulauffassung, des Standpunktes.« (Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. v. Eduard Marbach, Hamburg 2009, 5). 52 Lewis: Philosophical Papers, S. X. 53 Peter Bieri: »Was bleibt von der Analytischen Philosophie?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (2007), S. 341. 54 Siehe Wolfgang Künne: Conceptions of Truth, Oxford 2003; Markus Enders/Jan Szaif (Hg.): Die Geschichte des Philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006.

Philosophie und die historische Perspektive

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historisch invariant ist und die man daher auch mit ahistorisch gültigen Methoden bearbeiten kann.55 Gegen die erste These vom Kanon der philosophischen Themen spricht, dass sie Wandel ausschließt, den es aber, wie erwähnt, auch gegeben hat. Die zweite These zu den Themen, lautet, dass es entscheidend ist »diese Fragen als zeitunabhängige Sachfragen aufzufassen«.56 Diese Annahme ist die Voraussetzung für die Praxis, die Texte der historischen Autoren wie die von lebenden Kollegen zu betrachten, denn wenn ein Thema immer von allen Autoren als dieselbe zeitunabhängige Frage verstanden wird, ist es irrelevant, wann dieses Thema behandelt wurde. Diese These kann also auch als These zur Nichtbeachtung des historischen Kontextes verstanden werden. An dieser Stelle ist auf eine These zurückzukommen, die bereits anhand des Glock-Zitates gestreift wurde, nämlich die Forderung, man solle philosophische Fragen mit überzeitlichem Anspruch beantworten. Fragen, die im Laufe der Geschichte der Philosophie und in der Gegenwart diskutiert werden, seien Fragen nach einer überzeitlichen Antwort und zwar ganz unabhängig davon, ob sie in einem bestimmten historischen Text auch als Frage nach einer überzeitlich gültigen Antwort verstanden worden sind. In diesem Falle würde die historische Frage oder eine historische Antwort nach Kriterien überprüft, die gar nicht notwendig die des historischen Textes sind, sondern vom modernen Standpunkt herangetragen werden. Das ist vollkommen legitim. Aber dieses Verfahren widerspricht dann der Auffassung, dass es nur einen einzigen Standard für die Beurteilung von Argumenten gibt, weil hier akzeptiert wird, dass ein historischer Text vielleicht eine Antwort nach anderen Kriterien entwickelt hat. Damit aber wäre die These von der Einheitsphilosophie bzw. Einheitsmethode in einem anderen Punkt bedroht. In diesem Fall wäre festzuhalten, dass akzeptiert wird, dass es in Bezug auf die Kriterien für die Beurteilung von philosophischen Antworten auch Wandel gegeben hat. Auch hier zeigt sich, dass die Berücksichtigung von Alternativen und Kontext einen anderen Beitrag leisten kann.

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Siehe Beckermann: Einleitung, S. 9. Ebd.

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Philosophie und die historische Perspektive

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Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel Dina Emundts (Konstanz)

In diesem Aufsatz soll es um verschiedene Bedeutungen gehen, die Philosophiegeschichte für aktuelle philosophische Debatten haben kann. Es sollen hierfür verschiedene Weisen des Umgangs mit der Philosophiegeschichte voneinander unterschieden und erläutert werden. Um zu zeigen, dass die Philosophiegeschichte eine Bedeutung für aktuelle Debatten hat, könnte man einen Beitrag von Kant oder Hegel zu einer bestimmten aktuellen Debatte darstellen. Diese Möglichkeit wird kaum jemand bezweifeln, denn es gibt viele Philosophen, die – zum Beispiel beim Thema moralisch richtigen Handelns – Kantische Überlegungen und Ideen aufgenommen haben. Auch für Hegel ließen sich unproblematisch Beispiele aus der Rechtsphilosophie anführen. So kann man von Kant den Gedanken und Begriff der Autonomie übernehmen und von Hegel die Idee, dass wir bei der Frage nach der Richtigkeit unserer moralischen Handlungen nicht von den Institutionen abstrahieren können, in die wir eingebunden sind und in denen wir bestimmte Rollen spielen. Diese Ideen von Kant oder Hegel werden hier nicht weiter verfolgt. In diesem Aufsatz geht es nicht um den Nachweis, dass die Philosophiegeschichte eine Bedeutung für die aktuellen Debatten hat, sondern es soll vielmehr gefragt werden, welche Bedeutung(en) sie hat. Und es geht um die Möglichkeiten und Probleme, die sich stellen, wenn man der Philosophiegeschichte eine Bedeutung für aktuelle philosophische Debatten zuspricht. Hierfür bedarf es primär einer Selbstverständigung darüber, wie man Philosophiegeschichte betreibt und worin die Verbindung zur aktuellen Debatte gesehen werden kann. Erst in diesem Zusammenhang werden einige Beispiele von Beiträgen von Kant und Hegel angeführt. Im ersten Teil dieses Aufsatzes werden verschiedene Weisen des Umgangs mit der Philosophiegeschichte unterschieden. Im zweiten Teil werden mögliche Einwände gegen eine – mir besonders interessant erscheinende – Bedeutung von Philosophiegeschichte diskutiert. Im dritten Teil werde ich über eine noch weitere mögliche Bedeutung der Philosophiegeschichte sprechen und anschließend ein Resümee versuchen.

I. Verschiedene Weisen des Umgangs mit Philosophiegeschichte und ihre Bedeutung für aktuelle Debatten In vielen Beiträgen zur aktuellen Debatte, bei denen Positionen der Philosophiegeschichte beansprucht werden, vertreten die Philosophen nicht Kants oder Hegels Position. Sie folgen diesen nur in einigen Überlegungen und Ideen, die sie selbst in der aktuellen Debatte vertreten oder aus denen sie ihre eigene Position entwickeln. Dies ist eine Möglichkeit, wie Philosophiegeschichte und aktuelle Debatten in der Philosophie zusammenhängen

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Kolloquium 21 · Dina Emundts

können: Überlegungen von Autoren anderer Zeiten werden in die aktuelle Debatte eingebracht. Ich werde dies die synthetische Arbeit in der Philosophiegeschichte nennen. Dieser Ausdruck soll deutlich machen, dass man bei dieser Arbeit Ideen der Geschichte mit heutigen Überlegungen zusammenbringt oder verbindet. Man könnte dies auch – an die Eklektiker denkend – als »eklektisch« bezeichnen, weil die Pointe hier sein soll, dass die Zusammenstellung geschieht, ohne dass man der Herkunft der Gedanken besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der Vorteil wäre sicherlich, dass dieser Ausdruck eindringlicher ist. Es geht mit ihm aber offensichtlich eine negative Konnotation einher, daher werde ich den ersten Ausdruck verwenden. Eine der wichtigsten Fragen, die sich bei dieser Arbeit mit Blick auf das Verhältnis von Philosophie und Philosophiegeschichte stellen, bezieht sich darauf, ob und wie gründlich man die Quelle seiner Überlegung anführen und über sie Rechenschaft abgeben soll. Das kann sowohl eine Frage der wissenschaftlichen Redlichkeit als auch eine Frage der Orientierung sein. Mit der Frage der wissenschaftlichen Redlichkeit ist Folgendes gemeint: Eine möglichst genaue Angabe zur Herkunft von Überlegungen zeichnet unser Verständnis von Wissenschaftlichkeit und Philosophie aus und dabei spielen auch Tugenden wie Genauigkeit und Ehrlichkeit eine Rolle. Das Explizitmachen von Bezügen gehört in diesem Sinn zu unserem Verständnis von Wissenschaft und Philosophie. Allerdings könnte sich dieses Explizitmachen von Bezügen auf Fußnoten beschränken. Mit der Frage der Orientierung ist gemeint, dass man Ideen und Überlegungen in ihrer Reichweite und in ihren Abhängigkeiten von anderen Annahmen besser durchschaut, wenn man ihre Herkunft kennt, selbst dann, wenn sie aus dieser erfolgreich herausgelöst werden können. In dieser Rücksicht können mit den Bezügen zur Geschichte weitere sachliche Fragen zusammenhängen, die man zumindest zugänglich machen oder erhalten möchte, selbst dann, wenn man ihnen nicht weiter nachgeht.1 Kants Autonomiebegriff hängt mit seiner Auffassung des Menschen als einem Vernunftwesen zusammen, und wenn Korsgaard den Autonomiebegriff aufnimmt, so tut sie dies bewusst im Rahmen einer Konzeption, die die Rationalität des Menschen für wesentlich hält.2 Der Kantbezug kann helfen, den entsprechenden Begriff der Rationalität – natürlich durchaus auch in Abgrenzung von Kant – zu entwickeln.3 Zumindest aus der Perspektive der aktuellen Debatten – also wenn man von Fragen absieht wie der, ob man einer Position gerecht wird (darauf werde ich später noch zurückkommen) – ist dieser Rückgriff auf die Philosophiegeschichte unproblematisch,

1 Hier gibt es die Möglichkeit des Übergangs zur nächsten Weise des Umgangs mit der Geschichte, die ich gleich anführen werde. 2 Weiterhin werden Fragen, wie die, auf wen, also auf welche Menschen und Tiere, sich der Autonomiebegriff bezieht, durch den Kantbezug offengelegt, und das kann für die aktuelle Debatte eine Orientierung geben. 3 Ein anderes Beispiel stellt Kants Versuch dar, Objektivität nicht durch radikale Subjektunabhängigkeit, sondern durch Gesetzmäßigkeit bestimmt zu sehen. Man kann darauf Bezug nehmen, ohne den Kantbezug explizit zu machen. Der Kantbezug legt aber Perspektiven auf den Umgang mit einer möglichen subjektunabhängigen Wirklichkeit frei, die zur philosophischen Diskussion des Begriffs der Objektivität dazugehören.

Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel

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oft fruchtbar und vielleicht sogar unverzichtbar. Man kann hier vielleicht von der Philosophiegeschichte als einem Ideengeber sprechen. Ein anderer möglicher Umgang mit der Philosophiegeschichte – und damit sozusagen ein Geschwisterprojekt zum bisher Beschriebenen – besteht in einer systematischen Rekonstruktion einer oder mehrerer Positionen der Geschichte der Philosophie. Diese Position kann man dann in die aktuelle Debatte einzubringen versuchen. Ausgangspunkt ist bei der systematischen Rekonstruktion nicht eine aktuelle Debatte, sondern die Position aus der Geschichte der Philosophie. Aufgabe und Selbstverständnis ist es aber auch nicht, zu untersuchen, woher bestimmte Gedanken kommen und was sie besagen, sondern als Aufgabe wird verstanden, die Ausführungen als Teil einer interessanten und mehr oder weniger konsistenten Position zu sehen. Es geht darum, Texte auf Behauptungen hin zu prüfen und für diese Gründe zu suchen und zwar sowohl im Text als auch im Sinne des Autors. Diese Arbeit lässt sich daher auch einer historischen oder an der Genese interessierten Arbeit mit historischen Texten gegenüberstellen. Allerdings werden systematische Rekonstruktion und historische Untersuchung auch oft gemischt – es gibt sozusagen »Mischformen«. Ich unterscheide also von einer synthetischen Arbeit eine systematische Rekonstruktion und von dieser eine historische Arbeitsweise. Eine andere Abgrenzung ist an dieser Stelle wichtig. Richard Rorty4 hat eine Historiographie der Philosophie aufgestellt, in der es neben einer historischen auch eine rationale Rekonstruktion von Positionen der Geschichte der Philosophie gibt. Die von mir eingeführte systematische Rekonstruktion ist von dieser rationalen Rekonstruktion zu unterscheiden. Rortys Verständnis der (von ihm nicht affirmierten) rationalen Rekonstruktion würde bei den hier vorgeschlagenen Arten des Umgangs mit der Philosophiegeschichte wahrscheinlich5 unter die synthetische Arbeit fallen, weil es so klingt, als würden die Positionen der Geschichte der Philosophie anhand von Fragen behandelt, die Parallelen zur heutigen Debatte betreffen und als ginge es vor allem darum, die Ideen von damals und heute miteinander abzugleichen und zu verbinden. So meint Rorty beispielsweise, dass nach dieser Auffassung der Philosoph aus der Geschichte ein Gesprächspartner wäre, der »had some excellent ideas, but unfortunately couldn’t get them straight because of ›the limitations of his time‹«.6 Dass der Philosoph aus der Geschichte der Philosophie 4 R. Rorty: »The Historiography of Philosophy: Four Genres«, in: R. Rorty/J. B. Schneewind/Q. Skinner (Hg.): Philosophy in History: Essays in the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, S. 49–75. 5 Vielleicht sollte man sie auch als eine wieder andere Weise der Zuwendung zur Philosophiegeschichte verstehen. Bei der rationalen Rekonstruktion kann man nämlich, anders als bei der synthetischen Arbeit, die Rekonstruktion der historischen Position nach rationalen Standards und die eigenen Ideen noch unterscheiden. Diana Fitz Cates führt im Anschluss an Rorty eine »dependent rational reconstruction« ein, die diesem Faktum gerecht werden soll, denn diese »dependent rational reconstruction« besteht in der Entwicklung eigener Ideen im Anschluss an eine rationale Rekonstruktion. Vgl. Cates 2014 »Challenges in Working with Aquinas on Emotion and Religious Experience.« Keynote address. Conference on »Emotion and Religious Experience: Philosophical and Theological Perspectives«, organisiert von Amber Griffioen, Konstanz, Germany. Rortys Idee einer rationalen Rekonstruktion hat zudem einige Berührungspunkte mit dem von mir im dritten Teil beschriebenen teleologischen Verständnis von Positionen der Geschichte der Philosophie. 6 R. Rorty: »The Historiography of Philosophy: Four Genres«, S. 57.

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für uns ein Gesprächspartner sein kann, kann man auch bei der systematischen Rekonstruktion sagen. Aber die Idee der systematischen Rekonstruktion ist eine andere. Diese versucht die Position aus der Perspektive desjenigen zu rekonstruieren, dessen Position sie rekonstruiert und stellt sie als solche dar. Sie muss dabei überhaupt keinen expliziten Bezug zu aktuellen Debatten haben. Man könnte allerdings, was ich »systematische Rekonstruktion« nenne, auch »rationale Rekonstruktion« nennen, wenn man dies von Rortys rationaler Rekonstruktion unterscheidet. Durch den hier gewählten Ausdruck »systematische Rekonstruktion« ist aber nicht nur die Abgrenzung zu Rorty klarer, sondern der Ausdruck erscheint mir auch besser dazu zu passen, dass die Rekonstruktion sich an dem orientiert, was die rekonstruierte Position selbst angenommen hat oder annehmen könnte oder sollte – also quasi in Verbindung mit allen anderen ihren Behauptungen und in diesem Sinn systematisch. Wie sich jetzt schon gezeigt hat, ist die systematische Rekonstruktion nicht notwendig auf aktuelle Debatten bezogen. Sie ist aber auch nicht historisch, weil sie Texte nicht (primär) mit Blick auf Einflüsse und Entwicklungen liest. Dass nicht nur die synthetische und historische Arbeit, sondern auch die systematische Rekonstruktion möglich ist, muss nicht gezeigt werden – es gibt für sie viele Beispiele. Die hier leitende Frage lautet aber, was solche Arbeiten zu einer aktuellen Debatte beitragen können. Natürlich kann man eine systematische Rekonstruktion vornehmen und gleichzeitig, also zusätzlich und mit anderen Arbeiten, mit Ideen der geschichtlichen Position zu aktuellen Debatten beitragen. Das ist vielleicht, was die meisten tun, die in der Geschichte der Philosophie arbeiten. Mit Blick auf die aktuelle Debatte unterscheidet sich das nicht von der synthetischen Arbeit. Aber die Frage ist, ob es auch Beiträge gibt, in denen die systematische Rekonstruktion selbst relevant ist. Ein Kriterium dafür, dass wirklich die systematische Rekonstruktion als solche relevant ist, könnte sein, dass man beanspruchen kann, die entsprechende Position (also etwa die Kants) selbst – wenn auch mit einigen Modifikationen – in die Debatte einzubringen. Anders als bei Rorty soll hier die Frage jedenfalls nicht sein, wie man seinen Gesprächspartner aktualisiert, sondern was der Gesprächspartner aus seiner Position heraus zu den Problemen oder Fragen der aktuellen Debatte sagen kann. Hier bietet sich eine kurze Zwischenbemerkung an. Bei dieser Betrachtung verschiedener möglicher Verhältnisse von Philosophiegeschichte und aktuellen philosophischen Debatten drängt sich die Rede von Orten und Blickrichtungen auf. Diese Rede ist natürlich metaphorisch. Aber sie ist hilfreich für eine Beschreibung der erlebten Situation dessen, der Philosophie und Philosophiegeschichte betreibt. Denn es macht einen Unterschied, wo man sich – metaphorisch gesprochen – verortet. Außerdem ist diese Metapher aufschlussreich für die Beschreibung der Methode, mit der man die Positionen der Geschichte der Philosophie mit aktuellen Debatten verbinden kann. Eine Beschreibung der synthetischen Arbeit impliziert, dass man sich selbst zunächst in der aktuellen Debatte aufhält oder an ihr teilnimmt – vielleicht sogar ganz unabhängig von Auseinandersetzungen mit der Geschichte – und sich von hier aus nach Lösungen oder Ideen in der Geschichte umsieht. Die systematische Rekonstruktion erfordert dagegen eine Verortung in der historischen Position, auch wenn deren Aufarbeitung systematisch, also nach Problemen, Fragen und Zielbestimmungen angelegt sein soll (und es nicht primär um Ein-

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flüsse etc. geht). Soll eine Kombination von systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte gelingen, gehören Standpunktwechsel in beide Richtungen mit zu der Arbeit, die man leisten muss. Mit der Möglichkeit einer solchen Verbindung möchte ich mich im Folgenden noch weiter beschäftigen. Wenn man von Behauptungen und Gründen redet, die man in der Rekonstruktion aufdeckt oder rekonstruiert, so kann dies den Eindruck erwecken, als wäre eine systematische Rekonstruktion immer möglicher Teil einer systematischen aktuellen Debatte – weil es ja dann in beiden Fällen um Gründe, Behauptungen und Rechtfertigungen geht. In gewisser Weise ist das auch so. Aber der Anschluss einer systematischen Rekonstruktion an aktuelle Debatten ist mühsamer und problematischer als man annehmen möchte. Im folgenden II. Teil werde ich zwei Einwände gegen einen solchen Anschluss diskutieren.

II. Einwände dagegen, dass die systematische Rekonstruktion einen Beitrag zur aktuellen Debatte liefern kann 1. Der erste Einwand, den ich diskutieren möchte, lautet, dass die Positionen der Geschichte der Philosophie in zentralen Annahmen nicht mehr vertretbar sind und die Positionen sich deshalb auch nicht in die aktuelle Debatte einbringen lassen. Das damit benannte Problem lässt sich noch klarer erkennen, wenn man bedenkt, dass die Positionen aus der Geschichte der Philosophie selten in der Form von Thesen zu einzelnen Themen oder Fragen auftreten. In der Regel bilden sie vielmehr umfassende Theorien, Philosophien oder Systeme. Man kann die verschiedenen Theoreme, Überlegungen und Behauptungen wie auch die verschiedenen Gründe für diese nicht ohne Weiteres voneinander ablösen. Man kommt leicht in die Situation, dass man Gründe für Behauptungen rekonstruiert, die mit weiteren Behauptungen zusammenhängen, welche zu teilen etwas ganz anderes heißen würde als die Behauptungen, um die es einem eigentlich geht. Es kann daher gut sein, dass man eine philosophische Position interpretiert, deren Idee man in einer aktuelle Debatte ausführen will, dass aber bei der interpretierten Position zum Teil Behauptungen mit Behauptungen begründet werden, die in der aktuellen Debatte entweder undenkbar scheinen oder explizit abgelehnt werden. Für ein Beispiel muss man nur an Kants Transzendentalen Idealismus denken.7 Dies ist die Annahme, dass wir die Dinge nur so erkennen können, wie sie uns erscheinen und wir keine Erkenntnisse von Dingen an sich haben können. Nach Kants eigener Auffassung folgt der Transzendentale Idealismus aus seiner Ästhetik – also aus Kants Auffassung von Raum und Zeit. Zugleich ist er aber auch die Basis für sehr viele andere zentrale Aussagen in allen Teilen von Kants Philosophie. So führt Kant selbst ihn beispielsweise als Basis für 7 Ähnliche Probleme stellen sich bei Hegel. In meinem Buch Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2012, versuche ich, Hegels Erfahrungsbegriff in einer Weise zu rekonstruieren, die einen positiven Anschluss an ihn möglich und attraktiv macht. Gleichzeitig sage ich aber auch, dass dieser Erfahrungsbegriff mit metaphysischen Thesen verbunden ist, die man nicht unangesehen in aktuellen Debatten voraussetzen kann und die ich in dem Buch nicht alle diskutiere.

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die Möglichkeit der Erklärung der Objektivität von Urteilen an, ebenso wie für die Möglichkeit seiner Auffassung von moralisch freien Handlungen und der Kompatibilität der Erklärung anorganischer und organischer Produkte. Bei Kants Behauptungen zu diesen Themen muss man also bedenken, dass sie mit seinen Behauptungen zum Transzendentalen Idealismus zusammenhängen. Der Einwand, mit dem wir uns gerade beschäftigen, lautete in diesem Fall: Kants Transzendentaler Idealismus ist zentral für seine Philosophie, aber er ist aus heutiger Perspektive zugleich unhaltbar, daher sollte man seine Position nicht mehr als solche in die heutigen Debatten einbringen. Stattdessen sollte man gegebenenfalls – in einer synthetischen Arbeit – die Ideen unangesehen ihrer Bedeutung für Kant und in Kants System übernehmen. Tatsächlich ist offensichtlich mit Blick auf die Frage nach einem möglichen Ertrag für die aktuelle Debatte die Situation der systematischen Rekonstruktion nicht einfach. Man muss überlegen, was die betreffenden Behauptungen überhaupt genau heißen, ob sie wirklich nicht vertreten werden können, wie man sie gegebenenfalls ersetzen kann und was an ihnen noch alles hängt. Mit Blick auf Kants Transzendentalen Idealismus ist diese Diskussion von verschiedenen Autoren immer wieder geführt worden. Diese Diskussion ist allerdings selbst zu komplex und zu sehr abhängig von verschiedenen Entscheidungen, als dass es hier ein für alle verbindliches Ergebnis geben könnte: Allein was der Transzendentale Idealismus besagt, ist bekanntlich sehr strittig. Selbst wenn die meisten Philosophen heute eine radikale Zweiweltenlehre ablehnen, ist daher beispielsweise überhaupt nicht klar, ob diese Ablehnung die Ablehnung von Kants Transzendentalen Idealismus impliziert, denn dieser stellt vielleicht keine Zweiweltenlehre dar. Nach diesen Bemerkungen scheint die Situation zwar kompliziert zu sein, der Einwand selbst aber nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, dass die Interpretationen der Texte der Geschichte der Philosophie nicht feststehend sind und es nie eindeutig sein wird, wie der zu interpretierende Philosoph seine etwas komplexeren Aussagen gemeint hat. Es ist darüber hinaus weder von Anfang an klar, was noch vertreten werden kann, noch, dass sich nicht Alternativen finden lassen, die Modifikationen der Position bedeuten würden, mit denen die Position dennoch erkennbar bliebe. Daher scheint es oft möglich und sinnvoll, eine frühere Position in die aktuelle Debatte einzubringen, und der Einwand kann nicht überzeugen. Dennoch bleibt in diesem Zusammenhang ein ernstes Bedenken bestehen: Der Aufwand der Evaluation der früheren Positionen unter den Gesichtspunkten der aktuellen Debatte scheint hoch zu sein. Das wirft die Frage auf, ob sich ein solcher Aufwand lohnt. Wenn dies so ist, lautet die nächste Frage: Was kann denn – über die Behauptungen oder Ideen hinaus, die man auch in einer synthetischen Arbeit einbringen könnte – im besten Fall der Ertrag einer solchen Arbeit sein? Man gewinnt – zumindest im besten Fall – auf diese Weise Einsichten über die Position in der Geschichte der Philosophie, die man sonst vielleicht nicht gehabt hätte – es wird einem beispielsweise klar, warum eine bestimmte Annahme dem Philosophen unverzichtbar schien. Es werden außerdem auch mit Blick auf die aktuelle Debatte neue Einsichten gewonnen: Ausblendungen werden offensichtlich, ebenso Vorentscheidungen, die damit verbunden sind. Damit beides gelingen kann, muss man beide Perspektiven

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einnehmen können und sich sowohl in der Position in der Geschichte der Philosophie als auch in der aktuellen Debatte verorten können. Als Beispiel für die Skizze eines solchen Umgangs wähle ich das Thema Selbstbewusstsein. Es gibt in der heutigen Debatte viele Punkte, bei denen man sich bei diesem Thema auf Kant bezieht. Zu nennen ist die Unterscheidung zwischen einem subjektiven und einem objektiven Gebrauch des Ich-Ausdrucks und dessen Interpretationen und die Rolle von Selbstbewusstsein als notwendiger Bedingung für Erkenntnisse. Mit Ersterem – also der Unterscheidung von subjektivem und objektivem Gebrauch – versucht man Fälle, in denen man sich auf sich als Subjekt bezieht und daher – so die These – immun gegen den Irrtum einer Fehlidentifikation ist, weil es gar nicht zu einer Identifikation kommt, von Fällen zu unterscheiden, in denen man sich auf sich als Objekt bezieht und bei denen man sich – zum Beispiel aufgrund einer visuellen Täuschung – irren kann. Mit der Rolle von Selbstbewusstsein als Bedingung für Erkenntnis ist die von einigen Philosophen auch heute noch vertretene These gemeint, dass man für Erkenntnisurteile Selbstbewusstsein haben muss, sich also seiner selbst als derjenige, der urteilt, bewusst sein oder jederzeit bewusst werden können muss. Ich habe andernorts8 versucht zu zeigen, dass man bei diesen Rückbezügen oft übersieht, dass Kant Selbstbewusstsein nicht nur als Bedingung für Urteile und Erkenntnisse, sondern auch schon für Wahrnehmung von Einheiten behandelt. Seine These ist, dass wir ein Bewusstsein der Handlungen, mit denen wir Mannigfaltiges zu Einheiten synthetisieren, haben müssen und dass dies Selbstbewusstsein ist. Dieses Element seiner Theorie ist ein Grund dafür, warum er annimmt, dass dieses Selbstbewusstsein radikal subjektiv ist – man sich also hier auf sich nur als Subjekt, also als handelnd, nicht als ein handelndes Objekt beziehen kann9 – denn für Objektbezug braucht es schon synthetisierte Einheiten. Die oben erwähnte Unterscheidung von subjektiv und objektiv hängt bei Kant demnach an der These, dass Selbstbewusstsein schon die Bedingung dafür ist, dass wir uns in der Wahrnehmung auf Einheiten beziehen können. Dies ist bei denjenigen, die sich in der Unterscheidung auf Kant beziehen, oft nicht der Fall. Wohlgemerkt: Für eine synthetische Arbeit ist dies nicht problematisch, denn der Unterschied von subjektivem und objektivem Gebrauch kann ja übernommen und in einen anderen Kontext eingebracht werden. Was kann dann aber der Versuch einer Verbindung von systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte dem hinzufügen? Im Zusammenhang der Subjektiv–Objektiv-Unterscheidung muss man genauer sagen: In der heutigen Debatte wird in der Regel behauptet, dass es einen besonderen Gebrauch des Ich-Ausdrucks gibt und wir damit auf uns in einer besonderen Weise Bezug nehmen können. Diese Behauptung führt dazu, dass man sich fragt, wie die besondere Ausdrucksweise zu charakterisieren ist, worin der besondere Bezug besteht und wozu er dient. Kant behauptet dagegen, dass wir bei der Konstituierung der Wirklichkeit eine selbstbewusste Tätigkeit vollziehen, bei der ein besonderer Bezug auf uns gegeben ist, der uns ermögD. Emundts: »Kant über Selbstbewußtsein«, in: dies. (Hg.): Self, World and Art, Berlin, Boston, S. 51–78. 9 Man soll sich auf sich also als handelnd beziehen können, aber nicht als ein Handelnder. 8

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licht, auch urteilend und erkennend auf uns Bezug zu nehmen. Wenngleich mit Selbstbewusstsein offenbar in beiden Fällen ein Bezug von uns auf uns als Subjekt gemeint ist – also ein Bezug, in dem wir uns nicht als ein Objekt identifizieren –, ist nicht dasselbe gemeint. Zum Beispiel sind in der heutigen Debatte alle Fälle gemeint, in denen wir in einem mentalen oder ganz besonderem körperlichen Verhältnis zu uns stehen. Bei Kant sind nur Fälle gemeint, die er zu den Konstitutionsleistungen des Subjekts zählt. In meinen Augen ist dies ein Beispiel dafür, dass ein genaueres Hinsehen die Differenz zwischen Geschichte und Gegenwart größer aussehen lässt. Dennoch ist es hilfreich, diese vergleichende Untersuchung durchzuführen. Sie wirft bei Kant beispielsweise die Frage auf, wie er mit anderen mentalen Zuständen (mit denen, die keine Konstitutionsleistungen der Wirklichkeit sind) umgeht und bringt damit das Thema »innerer Sinn« in neuer Weise ins Blickfeld. Bei der aktuellen Debatte wird man mit Kant fragen, welche Unterschiede es zwischen den hier zunächst gleich behandelten verschiedenen mentalen Selbstzuschreibungen gibt. Außerdem drängen sich durch die vergleichende Untersuchung Fragen auf wie die danach, was man außer der Analyse, dass es einen solchen sogenannten subjektiven Gebrauch des Ich-Ausdrucks gibt, behaupten möchte, also wo und wie man über sprachphilosophische Analysen hinausgehen möchte. Wenn wir Kant mit den aktuellen Debatten konfrontieren, merken wir demnach unter anderem, dass die These der Subjektivität von Selbstbewusstsein für Kant kein primär psychologisches oder sprachliches Phänomen war, sondern im Rahmen einer Erkenntnistheorie stand. Dies schließt Parallelen und Anknüpfungsmöglichkeiten an psychologisch oder sprachphilosophisch ausgerichtete Theorien keineswegs aus. Die Bezüge sind aber hier vor dem Hintergrund einer Distanz zu sehen. An dieser Stelle könnte man auch sagen, dass es naheliegender ist, wenn sich Philosophen im Rahmen einer Erkenntnistheorie auf Kant zurückwenden, und damit komme ich zu einer anderen (wenn auch nicht völlig anderen) Debatte, bei der man sich bezüglich des Themas Selbstbewusstsein auf Kant bezieht. Für die meisten Zeitgenossen ist Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit der These einer Bedingung für Erkenntnis die Fähigkeit, auf sich selbst in einer bestimmten Weise Bezug zu nehmen. Die Anknüpfung scheint mir hier insgesamt möglich. Erstens ist es tatsächlich der Fall, dass ein Bezug auf sich als Denker zufolge mancher heutigen Positionen und nach Kant möglich sein muss. Zweitens gibt es auch unter heutigen Positionen einige, die dies mit der These verbinden, dass schon unsere Wahrnehmungen irgendwie durch Regeln und objektivierbare Verfahren geordnet sein müssen. Auch dies kann man meines Erachtens ganz grob als eine Kantische These ansehen. Auch hier gilt es aber, beim genaueren Hinsehen Unterschiede zu markieren. Die Idee bei Kant ist, dass wir uns auf uns als kontinuierliche Wesen nicht beziehen könnten – was wir aber faktisch tun –, wenn wir nicht alles, also auch das Mannigfaltige für unsere Wahrnehmungen, so geordnet hätten, dass wir auf es in dieser geordneten Weise Bezug nehmen können – also gemäß Regeln, die es erlauben, objektive Zeitverhältnisse herzustellen. Für manche Positionen heute gilt dasselbe. Aber man muss berücksichtigen, dass diese Überlegung Kants der heute auch oft vertretenen Auffassung widerspricht, dass Selbstbewusstsein die Fähigkeit zur Zuschreibung von mentalen Prädikaten ist – anders als in dieser These, kann es bei Kant nur viel allgemeiner um die

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Fähigkeit zu regelgeleiteten Handlungen gehen, nicht ausschließlich um sprachliches Verhalten. Weiterhin ist auch die gerade angesprochene These vom Selbstbewusstsein als einer Fähigkeit genauer zu betrachten: Viele, die sich heute auf Kant berufen, konzipieren Selbstbewusstsein als die Fähigkeit, sich in bestimmter Weise zu verhalten – sie tun dies, weil sie keine suspekten mentalen Entitäten annehmen wollen. Alternativ dazu kann man Selbstbewusstsein als eine besondere Art von Wissen oder Bewusstsein ansehen. In der traditionellen Kantliteratur (und hier schließe ich mich dieser Tradition an) wurde Selbstbewusstsein auch als eine besondere Art von Wissen oder Bewusstsein verstanden – mit diesem Bewusstsein sollten Fähigkeiten einhergehen, aber es sollte nicht darin bestehen. Die Fragen, ob Selbstbewusstsein eine Fähigkeit zu einem bestimmten Verhalten oder etwas anderes – irgendwie Mentales oder sogar Repräsentierendes – ist, sind für eine Theorie des Selbstbewusstseins zentral. Die möglichen Antworten hängen davon ab, was Selbstbewusstsein für eine Funktion haben soll und was man für andere Behauptungen vertritt. Wenn Kant zum Beispiel die These vertritt, dass Handlungen nur dann regelgeleitet sein können, wenn sie dem Handelnden als Handlungen bewusst sind, dann kann er die These, dass Selbstbewusstsein nur die Fähigkeit zu einem bestimmten Verhalten ist, nicht vertreten, weil er behaupten will, dass wir selbstbewusst sind, wenn wir unser Wahrnehmungsmaterial regelgeleitet ordnen. Dies hier auszuführen, ginge zu weit. Und meine Behauptungen zu Kant sind natürlich auch nicht unstrittig. Es scheint mir aber an dieser Stelle bereits deutlich zu werden, dass dies damit erneut ein Beispiel für eine gewinnbringende – diesmal etwas harmonischere – Zusammenführung systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte darstellt. Denn Fragen wie die, ob Selbstbewusstsein eine Fähigkeit ist, eine besondere Art von Bewusstsein oder eine besondere Art von Wissen, gehören zweifellos zu wichtigen Fragen dieses Themas, die man sich ohne den Bezug auf die je andere Zeit wahrscheinlich so nicht vorgelegt hätte. In den Skizzen von Diskussionen hat sich gezeigt, dass die genannten Erträge oft so sind, dass eine Kluft zwischen der aktuellen Debatte und der rekonstruierten Position bestehen bleibt oder sogar größer erscheint als anfangs angenommen. Man hat nicht das Gefühl, dass die Vertreter der Position in der Geschichte der Philosophie auf der einen und die in der aktuellen Debatte auf der anderen Seite einfach Gesprächspartner in derselben Debatte sind. Aber das birgt auch Chancen. Nicht nur für eine Klärung für beide im Hinblick auf Vorentscheidungen und Zielsetzungen. Die aktuelle Debatte kann auf diese Weise auch in ihren Vorentscheidungen und Zielsetzungen verändert werden, oder zumindest kann das versucht werden. Auf den hier bisher diskutierten Einwand gibt es noch eine andere mögliche Antwort. Es ist nämlich bemerkenswert, unter welche Bedingung ich das Verhältnis von Geschichte und aktueller Diskussion gestellt habe. Ich habe vorausgesetzt, dass es in aktuellen Debatten immer darum geht, dass man Behauptungen nicht nur präsentiert, sondern auch vertritt. Das ist vielleicht eine fragwürdige Voraussetzung. Ist es kein philosophischer Beitrag, wenn man eine Position gründlich und verständlich, aber nicht wertend darstellt? Aber wenn dies so ist, dann scheint eine systematische Rekonstruktion immer direkt ein Beitrag zu einer (potentiellen) aktuellen Debatte zu sein – einfach schon dadurch, dass

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es eine an Gründen und Zielsetzung orientierte Rekonstruktion ist. Anders als es bisher aussah, gäbe es dann keine Kluft zwischen systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte. Zwei Dinge gilt es hier zu bedenken: Erstens gehören meines Erachtens zwar nicht unbedingt Meinungen darüber, was richtig ist, wohl aber Einschätzungen und Wertungen darüber, was lohnende Projekte sind, welche Perspektive die richtige ist und was vertretbar ist und andere Einschätzungen solcher Art zur Philosophie. Zweitens kann man in einer systematischen Rekonstruktion auch versuchen, Einschätzungen und Wertungen der dargestellten Position zu übernehmen und seine eigenen zurückzustellen. Ein eigener Beitrag in einer aktuellen Debatte würde das dann nicht sein. Erst wenn man diese Einschätzungen und Gewichtungen mit den eigenen abgleicht, bringt man die systematische Rekonstruktion mit einer heutigen Position ins Gespräch. Und da sich heutige Positionen von früheren oft gerade in Einschätzungen von Projekten und Perspektiven unterscheiden, bleibt hier oft eine Kluft bestehen. Nebenbei möchte ich bemerken, dass man hier sieht, dass die Einschätzung darüber, was Philosophie ist, direkt eine Rolle dafür spielt, was man als den Beitrag der Geschichte der Philosophie zur aktuellen Debatte ansieht. Denn wenn man meint, Philosophie sei ohne eigene Einschätzungen und Wertungen möglich, dann ist jede systematische Rekonstruktion automatisch ein Beitrag zur aktuellen Debatte. Mit der Möglichkeit einer Kluft zwischen systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte hat auch der zweite Einwand zu tun, der hier behandelt werden soll. 2. Ein anderer Einwand besagt, dass eine Verbindung von aktueller Debatte und Positionen in der Geschichte der Philosophie deshalb schwierig ist, weil es oft kein gemeinsames philosophisches Problem, keine gemeinsame Fragestellung und vor allem kein gemeinsames Verständnis der Aufgaben der Philosophie gebe. Ein Beispiel für eine solche Kluft zwischen Gegenwart (der neunziger Jahre) und Kant und dem Deutschen Idealismus gibt es nach Rolf-Peter Horstmanns Text »Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewusstseins?«10 bei dem Thema Selbstbewusstsein. Während Selbstbewusstsein, so die These, gegenwärtig eher als psychologisches Phänomen angesehen wird, das mit empirischen Mitteln und folglich auch von anderen Disziplinen als der Philosophie bearbeitet werden könne, haben Kant und die Deutschen Idealisten Selbstbewusstsein als eine philosophische Konstruktion im Rahmen eines der heutigen Philosophie fremden Verständnisses der Philosophie als einer Gesamtkonzeption angelegt. Mit Gesamtkonzeption ist gemeint, dass die Philosophie eine umfassende Theorie aller möglichen Erkenntnisse oder aller möglichen Seinsweisen liefern sollte. Bedenkt man, dass Selbstbewusstsein eine Rolle in dieser Gesamtkonzeption spielen soll, ist, so Horstmann, klar, dass damit bei Kant und den Deutschen Idealisten nicht empirisches Selbstbewusstsein gemeint sein kann, sondern dieses höchstens ein Beispiel für eine Struktur ist, die beispielsweise (wie bei Kant) unsere Erkenntnis ermöglicht oder (etwa bei Schelling) als Basis der gesamten Wirklichkeit konstruiert wird. Die Gesamtkonzeption ist ein genuin philosophisches Projekt, und weil Kant und die Deutschen Idealisten für diese Konzeption eine SelbstbeR.-P. Horstmann: »Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewusstseins?«, in: K. Cramer/H. F. Fulda/R.-P. Horstmann/U. Pothast (Hg.): Theorie der Subjektivität, Frankfurt/M. 1987, S. 220–248. 10

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wusstsein genannte Konstruktion unabdingbar fanden, gibt es bei Kant und den Deutschen Idealisten ein philosophisches Problem des Selbstbewusstseins. Sieht man, wie die Philosophen laut Horstmann heute, die Aufgabe der Philosophie nicht mehr darin, eine Gesamtkonzeption aller Erkenntnisse oder der Wirklichkeit zu liefern, so ist es schwer zu verstehen, was überhaupt das Problem sein soll. Selbstbewusstsein als empirisches Phänomen interessierte, so Horstmann, Kant und die Deutschen Idealisten dagegen nicht wirklich. Wir haben es, um es mit meinen Worten zu sagen, mit einer nicht oder kaum zu überbrückenden Kluft zu tun, weil schon die Interessen und Themenstellungen nicht kompatibel sind. Horstmann geht es um das Thema Selbstbewusstsein und nicht um die Frage der Anschlussmöglichkeit an aktuelle Debatten insgesamt. Das Thema Selbstbewusstsein könnte also, selbst wenn Horstmann Recht hat, ein besonderer Fall sein. Dennoch gibt es natürlich für eine Anknüpfung an heutige Debatten zu denken, wenn sich das Philosophieverständnis so verschieben kann und de facto so verschoben hat, dass Probleme nicht mehr als solche identifiziert werden können. Die Bedenken scheinen umso begründeter, als Begriffe offenbar extremen Bedeutungsverschiebungen unterliegen. In meinen Augen spitzt Horstmann seine These der Differenz allerdings am Ende zu sehr zu. Auch Kant und die Deutschen Idealisten versuchen zweifellos, dem psychologischen Phänomen Selbstbewusstsein Rechnung zu tragen. Und auch in der heutigen Debatte geht es oft um Fragen zur Möglichkeit des Erkennens und Urteilens und zu verschiedenen Arten des Wissens. Dass es hier Verbindungen zur aktuellen Debatte gibt, ist bei der Diskussion des ersten Einwands bereits herausgestellt worden. Dennoch ist es meines Erachtens richtig, wie ich ebenfalls im Rahmen des ersten Einwands schon angedeutet habe, dass die Hintergründe, die mit Interessen und mit dem Philosophieverständnis zu tun haben, oft andere sind und mit berücksichtigt werden müssen. Wie kann man dies angemessen berücksichtigen? Diese Überlegungen von Horstmann geben (auch in ihrer Zuspitzung) tatsächlich eine Erklärung dafür, warum es so viele Anknüpfungen an Positionen in der Geschichte der Philosophie gibt, die sich bei näherem Hinsehen als ungenau oder falsch erweisen. Dies betrifft allerdings vor allem die synthetische Arbeit, für die aber, wie ich argumentiert habe, die Korrektheit der Darstellung der geschichtlichen Position ohnehin nicht wirklich essentiell ist. Für Richard Morans Theorie des Selbstbewusstseins ist es unerheblich, ob er sich tatsächlich auf Kant beziehen kann.11 Ob Robert Brandom Hegel immer gerecht wird, kann ihm letztlich egal sein, wenn er seinen Holismus verteidigen will.12 Für das, worauf derjenige abzielt, der »synthetisch« arbeitet, ist der Nachweis, dass der Bezug schief oder falsch ist, im Grunde immer nur eine (weitere) Fußnote, und dies, obwohl er vielleicht wiederholt und überzeugt behauptet hat, was er mache, entspreche Kant (oder R. Moran: Authority and Estrangement, Princeton 2001. Matthew Boyle hat Morans Position mit einem Rückgriff auf Kant verteidigt – einem Rückgriff, der keine Exegese von Kants Text darstellen soll, sondern mit einer Kantischen Idee eine aktuelle Debatte entscheiden soll; s. M. Boyle: »Two Kinds of Selfknowledge«, in: Philosophy and Phenomenological Research Vol. LXXVIII (2009). 12 R. B. Brandom: »Holism and Idealism in Hegel’s Phenomenology« (chap. 6) in: Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge, MA 2002, S. 178–209. 11

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einem anderen Philosophen). Das löst, nebenbei bemerkt, oft Frustration auf der Seite der Philosophen aus, die sich mit der Geschichte der Philosophie beschäftigen: Sie können in vielen Fällen überzeugend zeigen, dass jemand mit seinem Anschlussversuch an Kant (oder andere Philosophen) falsch liegt, weil er vieles so darstellt, wie man es aus der Perspektive der gemeinten Position nicht oder nur schwer darstellen kann. Da der Anschluss an die historische Position aber für die Entwicklung der aktuellen Position gar nicht wesentlich ist, kann dieser Nachweis wenig bewirken. Was den Versuch angeht, eine systematische Rekonstruktion mit der aktuellen Debatte in Verbindung zu bringen, so spricht jedoch nichts von dem, was Horstmann sagt, gegen die Möglichkeit oder gegen die Nützlichkeit eines solchen Unterfangens. Im Gegenteil: Die Differenzen zwischen heutiger und früherer Auffassung kann man nur in einer solchen Auseinandersetzung überhaupt aufdecken, und dass diese Differenzen eine Neubelebung der Diskussion bewirken können, scheint Horstmann selbst am Ende nahezulegen.13 Allerdings entsteht, wie schon bei der Diskussion des ersten Einwands – oder sogar noch stärker –, der Eindruck, dass eine Verbindung von systematischer Rekonstruktion und aktueller Debatte mit sehr viel Aufwand verbunden ist. Eine wirkliche Gesprächssituation zu fingieren, scheint kompliziert und mit einer langwierigen Reflexion auf Hintergründe einhergehen zu müssen.

III. Zur teleologischen Bedeutung der Philosophiegeschichte Ich habe bisher drei Weisen unterschieden, wie man Positionen aus der Geschichte der Philosophie betrachten kann, und zwei von ihnen sollten Beiträge zur aktuellen Debatte liefern können: die synthetische und die systematische Rekonstruktion. Die historische Rekonstruktion habe ich davon ausgenommen – sie verfolgt diesen Anspruch in der Regel gar nicht.14 In diesem zweiten Teil möchte ich mich noch mit einer anderen Weise beschäftigen, wie geschichtliche und zeitgenössische philosophische Überlegungen zusammenhängen können. Ich möchte sie die teleologische Bedeutung der Philosophiegeschichte nennen. Es gibt nicht wenige Philosophen, die es für erforderlich halten, ihre Position in eine Beziehung zur Geschichte der Philosophie zu setzen, bei der sie eine Entwicklung hin zu ihrer Position aufzeigen möchten. Anders als in den bisher angeführten Weisen geht es nicht darum, mit den früheren Positionen affirmativ oder abgrenzend umzugehen, also so, als wären diese eine Art Gesprächspartner, sondern es geht um eine Positionierung der eigenen Philosophie in der Geschichte. Dieses Ziel der Positionierung in der Geschichte kann man wiederum auf unterschiedliche Weisen verfolgen: So kann man fragen, wie es dazu gekommen ist, dass bestimmte Fragen zu bestimmten Zeiten nicht gestellt wurden, und beispielsweise beobachten, wie 13 Dasselbe würde ich von den beachtenswerten Gemeinsamkeiten in den heutigen und damaligen Theorien sagen, die bei Horstmann in dem genannten Text, wie gesagt, zu kurz kommen. 14 Und sie tut dies sehr oft deshalb nicht, weil sie diesen Anspruch für verfehlt oder auch für hinderlich für gute historische Arbeit hält. Dabei können zum Teil die Gründe eine Rolle spielen, die ich im zweiten Teil diskutiert habe.

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sich Trends durchsetzen. Man gibt hier somit eine Beschreibung oder auch Analyse der Entwicklung, die die Durchsetzung bestimmter Positionen begünstigt oder ermöglicht. Mit der teleologischen Betrachtung oder Interpretation der Philosophiegeschichte meine ich aber etwas, das hierüber noch hinausgeht und einen anderen Anspruch verfolgt. Eine teleologische Betrachtung hat darüber hinaus die Vorstellung, dass sich das Denken über oder durch die Positionen der Geschichte der Philosophie entwickelt. Es wird eine aufzudeckende Genese angenommen, bei der für das Denken externe Gründe – also etwa wirtschaftliche oder kulturelle – keine Rolle spielen und die in diesem Sinn unhistorisch ist. Dass ein bestimmter Begriff oder eine bestimmte Konzeption vertreten wird, liegt dieser Idee nach beispielsweise daran, dass andere (oder alle anderen) Möglichkeiten in der Geschichte der Philosophie ausgeschlossen worden sind und sich bestimmte Gedanken daher – wenn es vernünftig zugeht – zu dieser Konzeption hin entwickeln mussten. Der Ertrag der Geschichte der Philosophie soll dieser Idee nach in der Entwicklung hin zu einer Position liegen, die auch die eigene ist. Diese Art von Verbindung von Geschichte der Philosophie und aktueller Debatte hat ihre Ahnherren in Kant und Hegel. Sie findet sich aber auch gegenwärtig in vielen Varianten. Ihren gegenwärtig prominentesten Repräsentanten hat sie wohl in Robert Brandom. Diese teleologische Betrachtung oder Interpretation der Philosophiegeschichte hat den Vorteil, dass die Geschichte der Philosophie dadurch selbst sehr stringent wirkt: in manchen Fällen so, als gäbe es eine historisch realisierte argumentativ nachvollziehbare Entwicklung zu den richtigen Einsichten. Auf diese Weise wird der Blick auf die Geschichte und Entwicklung philosophischer Positionen selbst auch genuin philosophisch. Nicht zuletzt deshalb hat, so scheint mir jedenfalls, diese Betrachtungsweise auch immer dazu beigetragen, die Rolle der Philosophiegeschichte aufzuwerten und historische Positionen interessant zu machen. Dennoch lassen sich auch hier wieder Bedenken gegen diese Betrachtungsweise formulieren. Zwei möchte ich hier nennen: 1. Es besteht der Verdacht des metaphysisch Suspekten. Es spielen zwei Gedanken eine Rolle, die diesen Verdacht begründen. Der eine ist der Gedanke der Notwendigkeit der Entwicklung von Inhalten von Gedanken oder Argumenten und der andere (mit dem ersten eng zusammenhängend) ist der Gedanke eines quasi unhistorischen Fortschritts. Ich will nicht sagen, dass man diese Ideen nicht verteidigen kann. Viel spricht dafür, Hegels Logik als einen solchen Versuch anzusehen – aber einfach ist es sicherlich nicht, diese Ideen überzeugend zu verteidigen. Wenn man sie (beide) vertritt, bedeutet das auch, dass man philosophische Thesen und Positionen für schlechthin wahr hält, also unabhängig von bestimmten Vorentscheidungen, Präferenzen und bei verschiedenen Menschen variierenden Intuitionen oder grundlegenden Einschätzungen. Diese Annahme halte ich beim größten Teil philosophischer Fragen und Thesen für nicht überzeugend.15 Es hat beispielsweise nicht Kant oder Hegel Recht. Es entwickelt Hegel auch nicht einfach Kantische Gedanken fort. Hegel hat andere Präferenzen und appelliert an andere IntuitioDies ist auch ein Grund dafür, warum ich lieber von »systematischer Rekonstruktion« anstatt von »rationaler« spreche. Der Ausdruck »rational« legt die Auffassung nahe, dass es nur eine vernünftige Antwort auf unsere Fragen gibt. 15

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nen, und auf dieser Basis setzt er sich mit Kant auseinander und entwickelt bezüglich der meisten Thesen Alternativen. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich des Umgangs mit Philosophiegeschichte, die eine teleologische Bedeutung annimmt, mit der Weise des Umgangs mit Philosophiegeschichte an, die ich systematische Rekonstruktion genannt habe. Die Aufgabe einer systematischen Rekonstruktion liegt darin, diese Vorentscheidungen, Einschätzungen usw. auch freizulegen. Wer eine systematisch rekonstruierte Position in aktuelle Debatten einbringen will, muss diese Vorentscheidungen, Präferenzen etc. mit den eigenen abgeglichen haben. Die Idee der »logischen« Entwicklung hin zur eigenen Positionen widerspricht dieser Idee des Austauschs. 2. Es besteht bei dieser Art der Verbindung von aktueller Debatte mit Positionen der Geschichte der Philosophie immer die Gefahr, dass sie ein Verlust von Perspektiven ist. Denn ein derartiger Fortschrittsgedanke setzt gerade keinen Pluralismus von Vergangenheit und Gegenwart voraus, und er kann dazu führen, dass Positionen der Geschichte zu Vorläufern degradiert werden. Ich will nicht sagen, dass das so sein muss oder dass das immer so geschieht. In meinen Augen ist der gewinnbringendere Umgang mit Positionen der Geschichte der Philosophie aber tatsächlich einer, der auf eine teleologische Einbettung verzichtet. Den Gewinn einer solchen Einbettung müsste man mir daher erst vor Augen führen, und es dürfte nicht der sein, dass man sich in der Geschichte der Philosophie positionieren will, denn das überzeugt nur dann, wenn man diese Positionierung selbst schon im Rahmen einer unhistorischen Genese versteht. Die teleologische Auffassung von Philosophiegeschichte ist damit ein Beispiel, bei dem ich nicht an Kant und Hegel anschließen möchte.

IV. Resümee Damit komme ich zum Resümee der Frage, was der Beitrag der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie für aktuelle Debatten sein kann. Zunächst sollte man bedenken, wie verschieden die intendierten Verbindungen von Geschichte und Gegenwart ausfallen können. Nach meiner Klassifizierung gibt es eine Verbindung, in der man sich in einer teleologischen Entwicklung positioniert, es gibt eine synthetische Arbeit, in der man Ideen der Geschichte der Philosophie in aktuelle Debatten aufnimmt, und außerdem gibt es die Möglichkeit, systematische Rekonstruktionen aus der Philosophiegeschichte in aktuelle Debatten einzubringen. Wie ich zu zeigen versucht habe, halte ich die erste Möglichkeit für problematisch, während die anderen beiden vielversprechend sind. Die synthetische Arbeit ist vergleichsweise unproblematisch. Sie ist zwar aus historischer Perspektive oft Kritik ausgesetzt, aber sie will diesem Anspruch einer historischen Betrachtung nicht gerecht werden, und daher ist die Kritik nicht berechtigt oder höchstens insofern als Einschränkungen im Anspruch auf historische Richtigkeit nicht oder zu wenig explizit gemacht wurden. Vielleicht liegt allerdings auch ein Defizit der synthetischen Arbeit darin, dass sie Möglichkeiten verpasst, die mit einer systematischen Rekonstruktion verbunden sind. Die systematische Rekonstruktion, also die letzte der genannten Möglichkeiten, scheint am ehesten eine »echte« Verbindung von historischer und systematischer Perspektive darzustellen. Zu beachten ist dann allerdings, dass hier oft im Resultat

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die Kluft zwischen Gegenwart und aktueller Debatte bestehen bleibt und sich sogar als größer erweist, als es zu Beginn aussah. Dies ist der Sache nach zwar unproblematisch und widerspricht, wie ich zu zeigen versucht habe, keineswegs einem Ertrag für die aktuelle Debatte. Es bedeutet aber, dass man sich hier von dem Bild einer harmonischen und nahtlosen Verbindung historischer Positionen und aktueller Debatten verabschieden muss und dass man mit Redewendungen wie denen, dass man Ideen in die Debatte »einbringt« oder diese historischen Positionen in zeitgenössischen philosophischen Debatten »zu Lösungen führen« etc. vorsichtig sein sollte. Dennoch spricht die systematische Rekonstruktion der Geschichte der Philosophie von den genannten Möglichkeiten am meisten Ressourcen für die aktuellen Debatten zu und könnte in diesem Sinn der ertragreichste Weg dafür sein, der Philosophiegeschichte Bedeutung zu geben. Allerdings ist es ein aufwendiger Weg. Aufwand und Ertrag müssen zudem nicht immer im besten Verhältnis stehen, und dies ist etwas, das man zu Beginn der Arbeit, wegen der Komplexität der Zusammenhänge, nicht immer richtig einschätzen kann. Dies ist ein pragmatisches, aber ernstzunehmendes Bedenken gegenüber diesem Weg, wenn man den Ertrag für heutige Debatten im Blick hat. Will man diesen Weg dennoch gehen und also systematische Rekonstruktionen von Positionen der Geschichte der Philosophie mit heutigen Debatten in Verbindung bringen, dann gibt es allerdings auch einen Trost angesichts dieses Bedenkens: Eine systematische Rekonstruktion lässt sich immer wieder auch von den aktuellen Debatten lösen und als bloße Rekonstruktion einer historischen Position verstehen. Der Trost ist, dass man an diesen Stellen jederzeit das Mitwirken in aktuellen Debatten auch in synthetischer Weise gestalten kann.

Literatur Boyle, Matthew: »Two Kinds of Self-knowledge«, in: Philosophy and Phenomenological Research Vol. LXXVIII (2009), S. 133–164. Brandom, Robert B.: Tales of the Mighty Dead: Historical Essays in the Metaphysics of Intentionality, Cambridge, MA 2002. Emundts, Dina: Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 2012. – »Kant über Selbstbewußtsein«, in: dies. (Hg.): Self, World and Art, Berlin/Boston, S. 51–78. Horstmann, Rolf-Peter: »Gibt es ein philosophisches Problem des Selbstbewusstseins?«, in: K. Cramer/Hans F. Fulda/Rolf-Peter Horstmann/Ulrich Pothast (Hg.): Theorie der Subjektivität, Frankfurt/M. 1987, S. 220–248. Moran, Richard: Authority and Estrangement, Princeton 2001. Rorty, Richard: »The Historiography of Philosophy: Four Genres«, in: Richard Rorty/Jerome B. Schneewind/Quentin Skinner (Hg.): Philosophy in History: Essays in the Historiography of Philosophy, Cambridge 1984, S. 49–75.

Gründe aller Arten? Der Anspruch auf Vereinheitlichung in Bolzanos Abfolgetheorie Stefan Roski / Benjamin Schnieder (Hamburg)

§ 1. Einleitung § 1a. Grund und Folge als Schlüsselbegriffe aller Wissenschaft Schopenhauer, in seiner Vierfachen Wurzel vom Satze des zureichenden Grundes: »Wissenschaft […] bedeutet ein System von Erkenntnissen, d. h. ein Ganzes von verknüpften Erkenntnissen, im Gegensatz des bloßen Aggregats derselben. Was aber Anderes, als der Satz vom zureichenden Grunde, verbindet die Glieder eines Systems? Das eben zeichnet jede Wissenschaft vor dem bloßen Aggregat aus, dass ihre Erkenntnisse eine aus der andern, als ihrem Grunde, folgen.«1 In diesen Worten erhalten wir ein bestimmtes Bild von dem Wesen der Wissenschaft. Ihm zufolge kommt dem Begriff des Grundes eine Schlüsselstellung für jede wissenschaftliche Praxis zu: Wissenschaft findet nur dort statt, wo Erkenntnisse als Gründe und Folgen verbunden werden; entsprechend durchdringen wir das Wesen der Wissenschaft erst dann, wenn wir die Grund-Folge-Beziehung umfassend verstehen. (Inwieweit nicht bloß der Begriff des Grundes, sondern auch der Satz vom Grunde für dieses Bild eine Rolle spielt, sei hier erstmal hintangestellt.) Mit diesem Bild von Wissenschaft war Schopenhauer nicht allein. Es geht zurück auf Aristoteles und hatte über die Jahrhunderte hinweg zahlreiche Anhänger. Das Gleiche gilt für ein bestimmtes Bild der Wirklichkeit, verstanden als Gesamtheit dessen, was der Fall ist: Die Wirklichkeit ist, dem Bild zufolge, keine bloß amorphe Anhäufung von Phänomenen, sondern ein strukturiertes System − ein System, in dem die bestehenden Sachverhalte nicht alle gleichberechtigt auftreten, sondern in dem einige von anderen abhängen: Es gibt derivative Tatsachen, die ihrerseits auf fundamentaleren Tatsachen basieren. Was derivative mit fundamentaleren Tatsachen verbindet, sind objektive Grund-Folge-Verhältnisse: Fundamentalere Tatsachen sind die Gründe der derivativen Tatsachen. Beiden Bildern gemein ist die Schlüsselstellung, die dem Begriff des Grundes zukommt. Sie erheben ihn damit zu einem der wichtigsten philosophischen Grundbegriffe. Als ein solcher wurde er denn beispielsweise in der rationalistischen Tradition von Spinoza bis zum jungen Kant hin auch behandelt und geschätzt. Durchaus noch in diese Tradition gefasst werden kann Bernard Bolzano, der die mit Abstand ausgereifteste und 1

§ 4.

A. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Rudolstadt 1813,

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vielschichtigste Theorie des Grundes und der Beziehung zwischen Gründen und ihren Folgen entwickelte − oder, um Bolzanos eigenen Terminus zu verwenden, die Theorie der Abfolge.2 Bolzano akzeptierte die Schlüsselstellung der Grund-Folge-Beziehung für die Struktur der Wissenschaften wie auch der Wirklichkeit; überdies meinte er, dass der Begriff des Grundes tatsächlich wesentlich die Tätigkeit des Philosophierens bestimmt: Philosophisch behandelt man Themen, so Bolzano, gerade dann, wenn man nicht bloß nach den relevanten Phänomenen sucht, sondern wenn man die Gründe der Phänomene zu bestimmen trachtet.3

§ 1b. Mannigfaltige Arten von Gründen: Flickwerk oder Netzwerk? Was also würde Bolzano wohl denken, wenn er seinen Blick auf die moderne analytische Philosophie werfen könnte? Wahrscheinlich wäre er enttäuscht. Denn davon, dass der Begriff des Grundes in ihr eine anerkannte Schlüsselstellung einnähme, kann keine Rede sein. Nicht, dass sich niemand in der analytischen Philosophie mit Gründen beschäftigen würde. Doch es gibt nicht den einen und zentralen Ort, an dem sich mit dem Begriff des Grundes beschäftigt wird. Stattdessen gibt es eine Reihe von ganz oder weitgehend unabhängig voneinander geführten Debatten, in denen verschiedene Begriffe thematisiert werden, die jeweils mit den Worten »Grund« und »Folge« bezeichnet werden könnten. So gibt es – in der Handlungstheorie die Debatte über Handlungsgründe, – in der Erkenntnistheorie die Debatte über Rechtfertigung oder gute Gründe von Überzeugungen, – in der Logik die Debatte über logische Folge (und damit, wie man sagen könnte, über logisch-zwingende Gründe) – in der Metaphysik − seit Kurzem − die Debatte über metaphysische Gründe (im Englischen lautet das Schlagwort: grounding), – die teils in der Metaphysik und teils in der Wissenschaftstheorie angesiedelte Debatte über Kausalität (und damit über Ursachen und/oder Kausalgründe) – sowie schließlich die wissenschaftstheoretische Debatte über Erklärungen (oder, wie man auch sagen könnte: erklärende Gründe, d. h. Antworten auf warum-Fragen). Jede dieser Debatten, so darf man wohl zu Recht festhalten, hat es mit einem möglichen Verständnis der Rede von Gründen zu tun. Was aber fehlt, ist eine zentrierte Debatte über Grund und Folge − die verschiedenen Verständnisse wurden an verschiedene Debatten, Siehe vor allem B. Bolzano: Wissenschaftslehre (4 Bände), Sulzbach 1837 (fortan WL), § § 162, 168, 198–221. 3 Siehe B. Bolzano: »Was ist Philosophie?«, in: J. Berg (Hg.): Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Stuttgart 1969 ff., Band II A 12/3, S. 13–33. 2

Gründe aller Arten?

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ja in verschiedene philosophische Disziplinen delegiert und werden dort weitgehend in Absehung voneinander diskutiert. Ist mit dieser Zerfaserung der Debatte über Grund und Folge nun ein Fortschritt gegenüber dem Ansatz von Rationalisten wie Bolzano erzielt, das Phänomen von Grund und Folge in einer einheitlichen Theorie zu untersuchen? Zunächst mag man meinen: durchaus! Denn es scheint doch offensichtlich, dass es sich bei den Begriffen von Handlungsgründen, Rechtfertigungen, logischer Folge, etc. um verschiedene Begriffe handelt, die jeweils auch eine gesonderte Untersuchung verdienen. Doch dieser Gedankengang bleibt hinter dem echten Kern des Streites zurück. Es war keineswegs Überzeugung der Rationalisten, dass es nur genau einen Begriff des Grundes gibt und dass Handlungsgründe, Rechtfertigungen, logische Folge, etc. einerlei sind. Im Gegenteil wurde in der rationalistischen Tradition z. B. die Unterscheidung zwischen epistemischen und nichtepistemischen Gründen, sowie die zwischen kausalen und nicht-kausalen Gründen wiederholt betont.4 Dass es eine Mehrzahl verschiedener Arten von Gründen, und korrespondierend von verschiedenen Begriffen von Grund und Folge gibt, ist also unbenommen. Die entscheidende Frage ist, ob diese verschiedenen Arten von Gründen in einer übergreifenden Theorie gemeinsam behandelt werden sollten. Die moderne analytische Philosophie beantwortet diese Frage mit einem entschiedenen divide et impera. Wir haben es, so anscheinend die weitverbreitete Überzeugung, mit genuin unterschiedlichen Phänomenen zu tun, deren man nur in separaten Theorien Herr werden kann. Die gemeinsame Behandlung in einer vereinheitlichenden Theorie von Grund und Folge führt lediglich zur Vermengung von dem, was nicht vermengt gehört; außer begrifflicher Konfusion ist damit nichts zu gewinnen. Rationalisten wie Bolzano hingegen halten das divide et impera hier für unangebracht. Durch die Verteilung der möglichen Verständnisse von Grund und Folge auf disparate Debatten wird man der Phänomene nicht besser Herr, sondern schlechter. Denn solange die Besonderheiten der verschiedenen Verständnisse von Grund und Folge nicht unter Einbeziehung ihrer Gemeinsamkeiten untersucht werden, wird einem zwangsläufig etwas Grundlegendes am Untersuchungsgegenstand entgehen. So gesehen macht der Disput besten Sinn, ist aber nicht einfach aufzulösen. Eine begründete Entscheidung scheint an der Frage zu hängen, wie groß etwaige Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen den Phänomenen letztendlich sind. Dies zu entscheiden bedeutet aber, die Phänomene zunächst einer systematischen Untersuchung zu unterziehen; im ärgsten Fall, so scheint es, müsste man daher die Entwicklung konkreter Theorien auf beiden Seiten des Disputs abwarten und dann daraufhin auswerten, wie gut sie mit den behandelten Phänomenen umgehen können. In diesem Beitrag werden wir Bolzanos Theorie der Abfolge mit Hinblick auf ihren Vereinheitlichungsanspruch untersuchen. Bolzano zentriert seine Theorie um eine, dem Anspruch nach grundlegende, Grund-Folge-Beziehung herum (die wir sogleich vorstellen werden); sodann versucht er aber, durch diese zentrale Beziehung andere Arten von So etwa bei C. Crusius: De usu et limitibus principii rationis determinantis vulgo sufficientis, Leipzig 1743 und A. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel. 4

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Gründen zu definieren und dadurch zu integrieren, insbesondere Kausalität sowie ein epistemisches Grund-Folge-Verhältnis. Um aber keine vulgäre Spannung aufkommen zu lassen: Während wir Bolzanos Theorie für ein philosophisches Meisterwerk halten und viele ihrer Grundzüge für goldrichtig, so kann sie unseres Erachtens den Vereinheitlichungsanspruch leider nicht einlösen. Die konkreten Verbindungen verschiedener Begriffe des Grundes, die Bolzano vorschlägt, erscheinen uns als kaum haltbar. Doch wir greifen vor. Wenden wir uns nun zunächst Bolzanos Theorie zu.

§ 2. Bolzanos Theorie der Abfolge Der Begriff des Grundes und die Relation zwischen Gründen und Folgen − von Bolzano, wie bereits erwähnt, Abfolge getauft − nehmen eine Schlüsselstellung in Bolzanos Philosophie ein. Dies betont auch Bolzano selber, als er anonym eine ausführliche Besprechung seines Hauptwerks Wissenschaftslehre verfasst. Laut dieser Rezension ist eine der wichtigsten Thesen der WL »die Behauptung, […] es gebe unter den Wahrheiten an sich einen objectiven, d. h. von der Art, wie wir sie etwa erkennen ganz unabhängigen Zusammenhang, vermöge dessen wir einige derselben als Gründe und andere als deren Folgen betrachten dürfen […].«5 Diese Behauptung enthält bereits zwei Kernthesen Bolzanos zur Abfolgerelation. Die erste These betrifft die Frage, worum es sich bei den Gliedern dieser Relation handelt, d. h. was Gründe und Folgen sind. Gründe und Folgen sind Bolzano zufolge immer Wahrheiten an sich, bzw. genauer: wahre Sätze an sich. Sätze an sich sind dabei etwas ganz Ähnliches wie das, was Frege unter Gedanken und viele analytische Philosophen unter Propositionen verstehen: abstrakte Gegenstände, die als primäre Wahrheitsträger, Urteilsgehalte und Satzbedeutungen fungieren.6 Bolzanos zweite Kernthese lautet, dass das Verhältnis zwischen Gründen und Folgen objektiv ist. Ob eine gegebene Wahrheit Grund einer anderen ist, ist in aller Regel vollkommen unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt von irgendjemandem erkannt wird, ja sogar davon, ob er von irgendjemandem erkannt werden kann. Ferner ist die Frage, ob eine Proposition Grund einer anderen ist, zunächst auch unabhängig davon, ob erstere wirkliche oder mögliche Evidenz für letztere darstellt. Gründe im hier einschlägigen Sinne sind nicht zu verwechseln mit Erkenntnisgründen, sondern entsprechen eher dem, was in der rationalistischen Debatte unter Real- oder Sachgründen firmierte. Auf den Begriff des Erkenntnisgrundes bei Bolzano werden wir weiter unten noch zurückkommen.

B. Bolzano: Bolzanos Wissenschaftslehre und Religionswissenschaft in einer beurtheilenden Übersicht, Sulzbach 1841, S. 67. 6 Einen guten Überblick bietet W. Künne: »Propositions in Bolzano and Frege«, in: Grazer philosophische Studien 53 (1997), S. 203–40. 5

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Wie lässt sich der einschlägige Begriff des Grundes bzw. der Begriff der Abfolge genauer charakterisieren? Bolzano bezweifelt, dass diese Begriffe explizit definierbar sind.7 Doch das bedeutet natürlich keineswegs, dass man ein Verständnis von ihnen nicht auf anderen Wegen vermitteln kann. Um dies zu tun, greift Bolzano zu dreierlei Methoden. Erstens präsentiert er zahlreiche Beispiele für Gründe und deren Folgen. Zweitens setzt er den Begriff des Grundes und den der Abfolge in Bezug zu einer Reihe von wohlbekannten Begriffen, wie etwa dem der Ursache, dem der Kausalität und dem der logischen Folgerung, sowie zu bestimmten etablierten Redeweisen. Drittens gibt Bolzano eine partielle Charakterisierung der Abfolgerelation über diverse Prinzipien, die Eigenschaften der Relation spezifizieren. Im Folgenden werden wir einen kursorischen Überblick über diese drei Punkte geben. Aus Platzgründen werden wir hierbei lediglich einen sehr groben Eindruck vermitteln können und insbesondere exegetische Subtilitäten weitestgehend ausklammern müssen.8 Für unsere Zwecke ist es hilfreich, zunächst ein sprachliches Mittel zu betrachten, mit dem gemäß Bolzano das Bestehen der Abfolgerelation in kanonischer Weise zum Aus┏ ┐ druck gebracht wird: den Junktor »weil«. Sätze der Form p weil q sind laut Bolzano nämlich genau dann wahr, wenn die durch q ausgedrückte Wahrheit den Grund der durch p ausgedrückten darstellt—zumindest, wenn »weil« in seinem eigentlichen Sinne gebraucht wird.9 Intuitionen zur korrekten Verwendung von »weil« bieten damit einen wichtigen Zugang zum Begriff der Abfolge. Dieser Zugang ist sicherlich fallibel; denn wie alle semantischen Intuitionen, können auch solche zur Wahrheit von weil-Aussagen fehlgehen. Da zudem einige weil-Aussagen uneigentlich und epistemisch zu verstehen sind,10 bewegt man sich hier bisweilen auf zusätzlich dünnem Eis.11 Doch oft genug liegen wir mit unseren Beurteilungen von weil-Aussagen auch richtig, und um einen groben Gesamteindruck von Bolzanos Theorie zu erhalten, sind solche Intuitionen überaus hilfreich. Beginnen wir also mit einem Beispiel für einen entsprechenden weil-Satz: (1) Dass Schnee weiß ist, ist wahr, weil Schnee weiß ist.12 Mit anderen Worten: Dass Schnee weiß ist, ist der Grund dafür, dass die Proposition, dass Schnee weiß ist, wahr ist.13

Siehe WL, § 202 [II.350–1]. Für ausführliche Darstellungen von Bolzanos Theorie verweisen wir auf A. Tatzel, »Bolzano’s Theory of Ground and Consequence«, in: Notre Dame Journal of Formal Logic 43 (2002), S. 1–25, sowie S. Roski: Bolzano’s Notion of Grounding and the Classical Model of Science, Diss., Amsterdam 2014. 9 Siehe WL, § 168.1 [II.207] und § 177. Vgl. ferner Tatzel: Bolzano’s Theory of Ground and Consequence. 10 In dieser uneigentlichen Verwendung führt man mit weil-Sätzen keine objektiven, sondern bloße Erkenntnisgründe ein (siehe WL, § 177 [II.222]). Mehr dazu weiter unten. 11 Vgl. § 4 von B. Schnieder: »The Asymmetry of ›Because‹«, in: Grazer Philosophische Studien 91, 175–208. 12 Vgl. etwa WL, § 205. 13 Womit sich Bolzano, auch wenn er dies nicht explizit macht, offenbar an eine klassische Passage von Aristoteles anlehnt: Siehe Aristoteles: Metaphysics 1051b6–8. 7 8

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Bei diesem spezifischen Beispiel handelt es sich zugleich um eine Instanz eines allgemeinen Prinzips über Gründe und Folgen. Laut Bolzano gilt nämlich für jede Wahrheit, dass p: Es ist deshalb wahr, dass p, weil p. Dieses Prinzip findet in der zeitgenössischen Debatte über Wahrheit breite Zustimmung und wird als wichtige Einsicht zum Wesen der Wahrheit betrachtet.14 In Form eines Slogans: Wahrheit hängt von der Welt ab. Betrachten wir noch ein weiteres Beispiel (wodurch wir zugleich en passant eine Unterscheidung einführen können, die eine wichtige Rolle in Bolzanos Abfolgetheorie spielt): (2) Sokrates ist ein griechischer Philosoph, weil er einerseits Philosoph ist, und weil er andererseits griechisch ist.15 Was ist der Grund der Wahrheit, dass Sokrates ein griechischer Philosoph ist? Laut Bolzano ist der Grund komplex und setzt sich aus zwei Teilgründen zusammen. Diese werden durch die beiden Nebensätze in (2) angegeben: Dass Sokrates Philosoph ist, ist einer der beiden Teilgründe; dass er griechisch ist, der zweite. Zusammen genommen ergeben die beiden Teilgründe den vollständigen Grund der Wahrheit, dass Sokrates ein griechischer Philosoph ist. Wie im zunächst besprochenen Beispiel haben wir es auch in diesem Fall mit einer Instanz eines allgemeinen Prinzips zu tun: Den vollständigen Grund einer konjunktiven Wahrheit bilden Bolzano zufolge nämlich immer beide Konjunkte gemeinsam.16 Vollständige Gründe bestehen freilich nicht zwingend aus mehreren Wahrheiten. Dies wird laut Bolzano durch unser erstes Beispiel (1) illustriert. Denn in ihm gibt der Nebensatz seines Erachtens gleich den vollständigen Grund dafür an, dass es wahr ist, dass Schnee weiß ist. Die Beispiele (1) und (2) verdeutlichen nun ferner, dass Bolzanos Begriff des Grundes in jedem Fall ein anderer ist als der der Ursache, und dass zumindest manche Fälle von Abfolge in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit Ursache-Wirkungs-Beziehungen stehen. Weder wird die Wahrheit einer Konjunktion durch ihre Konjunkte verursacht, noch hängt die Wahrheit, dass eine bestimmte Proposition wahr ist, kausal von dieser Proposition ab. Gleichermaßen scheint es aber kaum bezweifelbar, dass weil-Sätze bisweilen auch dazu verwendet werden, um vom Bestehen eines Ursache-Wirkungs-Verhältnisses zu berichten. Betrachten wir dazu das folgende Exempel: (3) Das Barometer steht heute tiefer in Prag als in Oslo, weil der Luftdruck in Prag höher ist als in Oslo.17 14 Siehe W. Künne: Conceptions of Truth, Oxford, New York 2003, Kap. 3.5; B. Schnieder: »TruthMaking without Truth-Makers«, in: Synthese 152 (2006), S. 21–46. 15 Vgl. WL, § 199. 16 Vgl. etwa WL, § 227 [II.411]. Auch wenn Bolzanos Ansichten zur Form konjunktiver Wahrheiten nicht ganz deckungsgleich mit heutigen Auffassungen sind, kommt er hier einer Kernidee der aktuellen Debatte um metaphysische Gründe nahe: die Gründe von Wahrheiten, deren Hauptoperator ein wahrheitsfunktionaler Junktor ist, sind dieser Idee zufolge immer diejenigen Wahrheiten, die im Skopus des Junktors stehen. Vgl. B. Schnieder: »Truth-Functionality«, in: Review of Symbolic Logic 1 (2008), S. 64–72. 17 Vgl. B. Bolzano: »Von der mathematischen Lehrart«, in: J. Berg (Hg.): Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Stuttgart 1969 ff., Band II A 7, § 13.

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Hierbei handelt es sich ersichtlich nicht um einen in Bolzanos Sinne »uneigentlichen« Gebrauch von »weil«, d. h. um einen Gebrauch, mit dem ein bloßer Rechtfertigungs- oder Erkenntnisgrund zum Ausdruck gebracht wird. Dass der Luftdruck an einem bestimmten Ort höher ist als an einem anderen, erfahren wir ja zumindest sehr häufig erst dadurch, dass wir ein Barometer konsultiert haben. Satz (3) weist die eigentliche, nicht die epistemische Verwendung von »weil« auf; tatsächlich ist der Satz sogar eines von Bolzanos Standardbeispielen, mit dem er das Grund-Folge-Verhältnis einführt. Doch das wirft Fragen auf: Wird denn in Satz (3) nicht offensichtlich ein Kausalverhältnis thematisiert? Wie aber ließe sich dieser Umstand mit Bolzanos Annahme vereinbaren, dass mit der Verwendung von »weil« eine Beziehung zwischen Wahrheiten an sich, also zwischen abstrakten und kausal inerten Gegenständen eingeführt wird? Wir werden uns diesem Problem im nächsten Abschnitt zuwenden. Aber gleichviel, wie der Zusammenhang zwischen Gründen und Ursachen sich genau gestaltet, zumindest manche Fälle von Abfolge sind klarerweise nichtkausaler Natur. In der analytischen Metaphysik gibt es nun eine veritable Tradition, die versucht hat, nichtkausale Abhängigkeitsverhältnisse durch modale Begriffe zu explizieren.18 In der Tat wird in den obigen Beispielen (1) und (2) die entsprechende Folge von ihrem jeweiligen vollständigen Grund modal impliziert, d. h. es ist in beiden Fällen unmöglich, dass die Propositionen, die den jeweiligen vollständigen Grund ausmachen, wahr sind, während die Folge falsch ist. Abfolge ist jedoch keinesfalls mit modaler Implikation zu verwechseln.19 Denn letztere Relation besteht zumindest in manchen der oben angeführten Beispiele wechselseitig. Konjunktionen werden von ihren Konjunkten modal impliziert und implizieren zugleich modal ihre Konjunkte. Die Konjunkte einer gegebenen Konjunktion sind jedoch sicherlich nicht deshalb wahr, weil die Konjunktion wahr ist. Sokrates ist nicht deshalb ein Philosoph, weil er ein griechischer Philosoph ist. Ebenso ist Schnee nicht deshalb weiß, weil eine bestimmte Proposition wahr ist. Auch ist der Luftdruck in Prag nicht deshalb höher als in Oslo, weil Barometer bestimmte Werte anzeigen. Nur umgekehrt wird jeweils ein Schuh daraus. Was aber in diesen Einzelfällen gilt, kann Bolzano zufolge sogar Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen: Abfolge ist, im Unterschied zur modalen Implikation, eine asymmetrische Relation. Wenn x ein Grund für y ist, dann ist y kein Grund für x.20 Abfolge und modale Implikation unterscheiden sich laut Bolzano noch in einer weiteren Hinsicht. Für jede Wahrheit gibt es eine beliebige Anzahl von Prämissen, die diese Wahrheit modal implizieren. So wird jede Wahrheit von sich selbst, von ihrer doppelten Negation und von vielen weiteren Wahrheiten modal impliziert. Gleiches gilt jedoch Vgl. etwa P. Simons: Parts. A Study in Ontology, Oxford 1987, Kap. 8. Gleiches gilt für enge Verwandte der modalen Implikation, wie Bolzanos Relation der Ableitbarkeit, die ihrerseits eng verwandt mit der Relation der logischen Folgerung ist. Die nun folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Abfolge und modaler Implikation stimmen in allen relevanten Hinsichten mit Bolzanos Überlegungen zum Verhältnis von Abfolge und Ableitbarkeit überein. Aus Platzgründen können wir letztere Relation an dieser Stelle nicht eigens einführen. Siehe hierzu M. Siebel: Der Begriff der Ableitbarkeit bei Bolzano, Sankt Augustin 1996. 20 Vgl. WL, § 209. 18 19

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nicht für die Abfolgerelation. Zwar ist jede beliebige Wahrheit W der vollständige Grund anderer Wahrheiten (nämlich unter anderem der, dass W wahr ist), doch hat umgekehrt nicht jede Wahrheit einen Grund. Es gibt Wahrheiten, für die kein Grund existiert: sogenannte Grundwahrheiten.21 Dementsprechend lehnt Bolzano den Satz vom zureichenden Grund in der naheliegenden Lesart, in der er besagt, dass für jede Wahrheit ein Grund existiert, ab.22 Erinnern wir uns an dieser Stelle an Schopenhauers eingangs angeführte Behauptung, das generelle Bild von Wissenschaften als geordneten Ganzheiten von Erkenntnissen erfordere die Akzeptanz des Satzes von Grunde. Wir können nun sehen, wieso man Schopenhauer hier wohlbegründet widersprechen kann: Eine Wissenschaft ist noch immer verschieden von einem bloßen Aggregat von Erkenntnissen, wenn sie ein System ist, das auf einigen Grundwahrheiten aufbaut, die zwar selber keine weiteren Gründe haben, aus denen aber alle anderen Elemente des Systems folgen. Was das beschriebene Bild der Wissenschaft braucht, ist also nicht der angeführte Satz vom Grunde, wohl aber der Begriff des Grundes bzw. eben die Abfolge-Beziehung. Kommen wir nun zu einer letzten charakteristischen Eigenschaft dieser Beziehung, die sich ebenfalls über die obigen Beispiele und den Zusammenhang von Abfolge und weilSätzen motivieren lässt. Die Gründe einer gegebenen Proposition müssen für die Wahrheit dieser Proposition relevant sein. Sokrates ist u. a. deshalb ein griechischer Philosoph, weil er ein Philosoph ist. Er ist jedoch nicht auch deshalb ein griechischer Philosoph, weil er Philosoph ist und weil es keine größte Primzahl gibt. Dass es keine größte Primzahl gibt, ist zwar wahr, jedoch gänzlich irrelevant für die Wahrheit, die hier zur Frage steht. Abfolge ist demnach eine sogenannte nicht-monotone Relation: Wenn x ein Grund von y ist, dann ist die Kombination aus x und einer beliebigen Wahrheit z häufig kein Grund für y.23 Bevor wir den Überblick von Bolzanos Theorie abschließen, lohnt es sich, einen weiteren Begriff zu erwähnen, der im Zusammenhang mit dem der Abfolge steht: den Begriff der Erklärung. Sätze, in denen »weil« in seinem (gemäß Bolzano) eigentlichen Sinne gebraucht wird, stellen korrekte Antworten auf eine bestimmte Art von warum-Fragen dar; auf solche nämlich, die in der Wissenschaftstheorie als erklärungsheischende warumFragen bezeichnet werden.24 (»Warum steht das Barometer tief? Weil der Luftdruck hoch ist.« »Warum ist die 7 eine Primzahl? Weil sie nur durch die 1 und durch sich selbst teilbar ist.«) Und auch wenn man der These, dass sich jede Erklärung als Antwort auf eine solche warum-Frage darstellen lässt, vielleicht nicht uneingeschränkt zustimmen sollte, stellen weil-Sätze zweifellos eines der zentralen Mittel für die Angabe von Erklärungen dar. Insofern liegt es nahe, Abfolge als eine Art explanatorischer Priorität zu verstehen. Gründe Vgl. WL, § 214. Diese Lesart ist freilich nicht die einzig mögliche. Vgl. Abschnitt 1.c aus B. Schnieder & A. Steinberg: »Without Reason?«, erscheint in: Pacific Philosophical Quarterly (early online Version: DOI 10.1111/ papq.12065). 23 Vgl. WL, § 207. Die Relation zwischen vollständigen Gründen und ihren Folgen ist sogar antimonoton, d. h. ein vollständiger Grund überlebt niemals die Hinzufügung von weiteren Wahrheiten. 24 Vgl. etwa W. Salmon: Four Decades of Scientific Explanation, Pittsburgh 1989, S. 6–7. 21 22

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erklären ihre Folgen; zumindest in einem bestimmten − objektiven, von konkreten Einsichtsprozessen individueller Sprachverwender losgelösten − Verständnis von Erklärungen.25 Die oben erwähnten relationalen Eigenschaften der Abfolge sind denn auch Eigenschaften, die man üblicherweise von Erklärungen erwartet: Erklärungen dürfen nicht zirkulär sein, was der Asymmetrie der Abfolge-Beziehung entspricht, und sie überleben keine Hinzufügung irrelevanter Information, was der Nichtmonotonie von Abfolge entspricht. Hierzu passt ferner, dass Bolzano die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen erklärenden Beweisen (Beweisen, die zeigen, warum etwas der Fall ist) und bloß gültigen Beweisen (Beweisen, die zeigen, dass etwas der Fall ist) unter Rekurs auf den Begriff der Abfolge einfangen möchte.26 Ein erklärender Beweis für ein gegebenes Theorem, so Bolzano, leitet dieses Theorem aus seinen Gründen ab.

§ 3. Der Vereinheitlichungsanspruch von Bolzanos Theorie Soweit zum Überblick von Bolzanos Theorie des Grundes. Wie steht es nun mit dem Vereinheitlichungsanspruch dieser Theorie? Im einleitenden Paragraphen hatten wir grob eine Reihe möglicher Kandidaten umrissen, auf welche die Rede von Gründen abzielen kann: Handlungsgründe, Erkenntnisgründe, logische Gründe, metaphysische Gründe, Kausalgründe und erklärende Gründe. Inzwischen haben wir das Kernelement von Bolzanos Abfolgetheorie kennengelernt: Ihrem zentralen Begriff zufolge sind Gründe Wahrheiten an sich (d. h. wahre Propositionen), die zu anderen Wahrheiten in dem Verhältnis stehen, das durch den Satzverknüpfer »weil« ausgedrückt wird. Damit lässt sich der Grundbegriff aus Bolzanos Theorie recht gut auf den Begriff des erklärenden Grundes abbilden, insofern unter einer Erklärung oft einfach eine wahre weil-Aussage verstanden wird.27 Nun erklärt Bolzano dieses Kernelement seiner Theorie freilich nicht zum einzigen Begriff des Grundes − wohl aber zum fundamentalsten. Typische andere Begriffe des Grundes und andere Verwendungsweisen von entsprechenden Ausdrücken (»Grund«, »weil«, etc.) erweisen sich ihm gegenüber als derivativ. Am deutlichsten führt Bolzano dies für Ursachen und Kausalgründe sowie für Erkenntnisgründe aus. Bolzanos Grundidee hierbei ist von bestechender Einfachheit: Der Begriff der Kausalität kann seiner Ansicht nach über den Begriff der Abfolge explizit definiert werden. Erkenntnisgründe klassifiziert

25 Bolzano selber verwendet den Ausdruck »Erklärung« freilich nicht in diesem Sinne. Mit »Erklärung« meint er in der Regel vielmehr eine begriffliche Analyse. (Vgl. WL, § § 554ff., 668.) 26 Vgl. etwa WL, § 525 [IV.262]. Zu Bolzanos Begriff des erklärenden Beweises siehe ferner Roski: Bolzano’s Notion of Grounding, S. 350–362. 27 Freilich wird in der aktuellen Wissenschaftstheorie oft auch ein anderer, anspruchsvollerer Sinn von »Erklärung« in Anspruch genommen. Zwar könnte die Theorie der Abfolge sicherlich nicht als vollständige Theorie eines so verstandenen Erklärungsbegriffs dienen, aber womöglich könnte sie noch immer einen wichtigen Bestandteil einer solchen Theorie ausmachen; dem können wir hier aber nicht nachgehen.

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er sodann als eine bestimmte Art von Ursachen. Aber betrachten wir diese Analysevorschläge nun erstmal im Detail. § 3a. Kausalität Bolzanos These, dass weil-Sätze in ihrem eigentlichen, nichtrechtfertigenden Gebrauch ausschließlich dazu verwendet werden, das Bestehen von Grund-Folge-Verhältnissen auszudrücken, scheint zunächst ein Problem aufzuwerfen. Es lässt sich schließlich kaum bezweifeln, dass derartige Sätze auch dazu verwendet werden können, um Ursache-Wirkungs-Verhältnisse zu thematisieren. Dieser Punkt wäre nun nicht weiter problematisch, wenn Ursachen und Wirkungen nichts anderes wären als eine bestimmte Art von Gründen und Folgen. Das würde jedoch voraussetzen, dass es sich bei Ursachen und Gründen bzw. Folgen und Wirkungen um Gegenstände derselben ontologischen Kategorie handelt, und das ist Bolzanos Ansicht nach nicht der Fall. Denn Ursachen und Wirkungen sind stets konkrete Gegenstände mit einer Position in Raum und/oder Zeit,28 wie einerseits Substanzen (Schildkröten, Schildbürger, etc.), andererseits aber Ereignisse, konkrete Zustände und Kräfte sowie dergleichen mehr.29 Gründe und Folgen dagegen sind, wie gesehen, grundsätzlich wahre Propositionen, also abstrakte Gegenstände. Demnach können Ursachen und Wirkungen keine Art von Gründen und Folgen sein (und ebenso wenig umgekehrt). Gerade dass es sich bei den Gliedern der Kausalrelation und bei denen der Abfolge um kategorial verschiedene Gegenstände handelt, könnte die These nahelegen, dass die Begriffe der Abfolge und der Kausalität schlicht unabhängig voneinander sind. Entsprechend könnte man dann annehmen, dass weil-Sätze wie (3) ein anderes Verhältnis als (1) und (2) thematisieren und dass der Ausdruck »weil« mehrdeutig zwischen einem kausalen und einem nicht-kausalen Gebrauch ist. Bolzano aber würde dies als übereilt betrachten. Der Begriff der Kausalität ist ihm zufolge »[e]in sehr verwandter Begriff mit dem der Abfolge«30. So innig ist die Verwandtschaft gar, dass »wir im gemeinen Leben zwischen den Worten Grund und Ursache, Folge und Wirkung nicht einmal einen genauen Unterschied machen«.31 In der Tat, man stößt sich im Alltag wohl kaum an Aussagen wie: »Der Grund für die Explosion des Hauses war eine Fehlfunktion in der Gasversorgung.« oder WL, § 201. Wir erlauben uns hier der schlanken Darstellung von Bolzanos Ideen halber leichte terminologische Abweichungen von Bolzano sowie begriffliche Vereinfachungen. Insbesondere sprechen wir von konkreten Gegenständen, wo Bolzano von wirklichen Gegenständen spricht. Zu Bolzanos Begriff des Wirklichen vgl. B. Schnieder: Substanz und Adhärenz – Bolzanos Ontologie des Wirklichen, Sankt Augustin 2002, S. 21ff. Dass Bolzanos Begriff eines wirklichen Gegenstands nicht einfach deckungsgleich mit dem eines konkreten Gegenstands ist, zeigt sich an seiner Konzeption bloß möglicher Gegenstände; siehe B. Schnieder: »Mere Possibilities – Bolzano’s Account of Non-Existing Entities«, in: Journal of the History of Philosophy 45 (2007), S. 525–50. 29 Bolzano nimmt übrigens an, dass tatsächlich alle konkreten Gegenstände in Ursache-WirkungsVerhältnissen stehen, nicht bloß Ereignisse (wie heute oft angenommen wird); siehe hierzu B. Schnieder: »Bolzano on Causation and Grounding«, in: Journal of the History of Philosophy 52 (2014), S. 321f. 30 WL, § 201 [II.349]. 31 Bolzano: Was ist Philosophie?, S. 12. 28

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»Der Grund für den Klimawandel ist der steigende CO2 Ausstoß.« Überdies gibt es offensichtlich wesentliche Zusammenhänge zwischen dem Gebrauch von »weil« in kausalen und nichtkausalen Kontexten. Insbesondere können kausale wie nicht-kausale weil-Sätze in derselben Weise als korrekte Antworten auf erklärungsheischende warum-Fragen gegeben werden − wobei die Antwort auf eine solche Frage zugleich kausale sowie nichtkausale erklärende Elemente beinhalten kann. Bolzano plädiert daher dafür, eine überaus innige Beziehung zwischen den Begriffen der Abfolge und der Kausalität anzuerkennen: Den Begriff der Ursache, so schlägt er vor, kann man durch den des Grundes analysieren. Man kann Bolzanos dahingehenden Vorschlag wie folgt fassen:32 Analyse: Kausalität x ist genau dann die Ursache von y, wenn x und y konkrete Gegenstände sind und die Proposition, dass x existiert bzw. stattfindet, einen Grund der Proposition darstellt, dass y existiert bzw. stattfindet. Kausalität ist diesem Vorschlag zufolge eine Art weltliches Korrelat der Abfolge-Beziehung, und zwar dort, wo die Abfolge zwischen Propositionen besteht, die jeweils von konkreten Gegenständen aussagen, dass sie existieren bzw. stattfinden. An einem Beispiel: Der Zusammenstoß der Titanic mit dem Eisberg ist eine Ursache ihres Untergangs. Diese Ursache-Wirkungsbeziehung spiegelt eine Abfolge-Beziehung wider: Die Proposition, dass besagter Zusammenstoß stattfand, ein Grund der Proposition ist, dass besagter Untergang stattfand. Diese Analyse hat eine Reihe charmanter Züge: Sie ist theoretisch elegant, erklärt den innigen Zusammenhang kausaler und nicht-kausaler weil-Sätze und sie ermöglicht eine einheitliche Theorie kausaler und nicht-kausaler Erklärungen. Zudem vererben sich zwei relationale Eigenschaften der Abfolge vor dem Hintergrund dieser Analyse auf die Kausalrelation: Asymmetrie und Nichtmonotonie. Bolzanos Analysevorschlag wurde freilich kaum rezipiert, geschweige denn diskutiert. Kaum rezipiert. Ein offensichtliches Echo des Vorschlags findet sich bei Kitcher, der Bolzanos Abfolgetheorie aufmerksam studiert hat: »A successful analysis of explanation might be used directly to offer an analysis of causation—most simply, by proposing that one event is causally dependent on another just in case there is an explanation of the former that includes a description of the latter.«33

32 Siehe WL, § § 168 [II.208], 379 [III.497–8]. Für eine textnahe Rekonstruktion siehe Schnieder: Bolzano on Causation and Grounding, Abschnitt 4. In der vorgestellten Form wirft Bolzanos Analyse ein technisches Problem auf, da sie eine Quantifikation in propositionale Kontexte beinhaltet. Das Problem lässt sich lösen, die Details sind jedoch mühsam und für die Zwecke dieses Aufsatzes nicht erforderlich. Vgl. ebd., Abschnitt 6 für eine ausführliche Diskussion. 33 P. Kitcher: »Explanatory Unification and the Causal Structure of the World«, in: ders./W. Salmon (Hg.): Scientific Explanation, Minneapolis 1989, S. 420. Da Kitchers Beschäftigung mit Bolzano dem Aufsatz, aus dem wir oben zitieren, lange voran geht (vgl. P. Kitcher: »Bolzano’s Ideal of Algebraic Analysis«, in: Studies in History and Philosophy of Science 6 (1975), S. 229–269), ist es wohl als Versehen oder als ein

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Soweit also zur Einbindung von Kausalität in die Abfolgetheorie. Wie aber steht es nun um Erkenntnisgründe?

§ 3b. Zum uneigentlichen Gebrauch von »weil«: Erkenntnisgründe Wer nach Gründen fragt, möchte häufig wissen, warum eine bestimmte Proposition als wahr anerkannt werden sollte. Holmes: »Wir müssen annehmen, dass es Selbstmord war.«− Watson: »Warum?« − Holmes: »Weil wir nur seine Fingerabdrücke an der Waffe gefunden haben.« Was in Antworten auf Fragen nach Gründen in diesem Sinne spezifiziert wird, nennt man traditionell Erkenntnisgründe. Wir haben bereits gesehen, dass Bolzano durchaus akzeptiert, dass weil-Sätze auch dazu gebraucht werden können, um Erkenntnisgründe zu spezifizieren: So sagen wir beispielsweise: »Weil das Barometer gesunken ist, wird es wohl regnen«.34 Wie genau verhält sich nun dieser uneigentliche zum eigentlichen Gebrauch des »weil«? Wenn Bolzano konstatiert, man gebrauche den Satzverknüpfer »weil« in Sätzen, mit denen Erkenntnisgründe zum Ausdruck gebracht werden, uneigentlich, dann nimmt er in diesem Fall eine Mehrdeutigkeit von »weil« an. Allerdings behauptet er keineswegs, dass »weil« hier einfach mehrere, nicht miteinander zusammenhängende Begriffe ausdrückt, so wie dies etwa beim Ausdruck »Bank« im Deutschen der Fall ist. Im Gegenteil besteht seiner Ansicht nach ein systematischer Zusammenhang zwischen beiden Gebräuchen. Sein Kerngedanke ist der folgende: Erkenntnisgründe sind nichts anderes als eine bestimmte Art von Ursachen. Da der Begriff der Ursache nun gegenüber dem des Grundes derivativ ist, gilt das letztlich auch vom Begriff des Erkenntnisgrundes. Indem man Erkenntnisgründe ebenso wie Ursachen überhaupt oft »Gründe« nennt, verwendet man das Wort »Grund« in systematisch mehrdeutiger Weise (einmal als Ausdruck des nach Bolzano fundamentalen Begriffs des Grundes, einmal aber als Ausdruck eines durch ihn definierten Begriffs, der sozusagen weltliche Korrelate abstrakter Gründe abdeckt). Doch schauen wir uns Bolzanos Analyse noch etwas genauer an. Eine Erkenntnis in Bolzanos Sinne ist ein konkreter Gegenstand, nämlich ein Urteilsakt, dessen Gehalt eine wahre Proposition ist.35 Wie andere konkrete Gegenstände können Urteilsakte Ursachen haben und ihrerseits andere Urteilsakte verursachen. Die Grundidee von Bolzanos Konzeption der Erkenntnisgründe als Ursachen lässt sich nun wie folgt darstellen: Analyse: Erkenntnisgrund

Fall von Vergesslichkeit zu betrachten, dass Kitcher unterlässt, anlässlich seines Vorschlags zur Verbindung von Kausalität und Erklärung auch auf Bolzano zu verweisen. 34 WL, § 177 [II.222]. 35 Unter Urteilsakten versteht Bolzano dabei bestimmte mentale Episoden. Wir stellen Bolzanos Theorie hier etwas vereinfacht dar. Für eine genauere Darstellung siehe M. Siebel: »Bolzanos Urteilslehre«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 86 (2004), S. 56–87.

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x ist genau dann ein Erkenntnisgrund von y, wenn x und y Urteilsakte sind, y ferner eine Erkenntnis ist (also wahr ist) und x eine Ursache von y ist.36

§ 3c. Handlungsgründe und logische Gründe Der geschilderten Einbettung von Kausalität und Erkenntnisgründen in die Abfolgetheorie widmet sich Bolzano explizit und im Detail. Wie aber steht es in Bolzanos System mit den verbleibenden drei Arten von Gründen, die wir anfangs angesprochen haben, also Handlungsgründen, metaphysischen Gründen sowie schließlich logischen Gründen? Zunächst zu metaphysischen Gründen (Stichwort: grounding). Bolzano selber erörtert diese zwar nicht gesondert, doch eine kurze Reflektion eröffnet einen naheliegenden Weg, wie man sie in seinem System verorten könnte. Betrachten wir dazu Bolzanos Analyse der Kausalität als gesetzt. Dann kann man einige der Gründe in Bolzanos zentralem Sinn (also Wahrheiten an sich) als Kausalgründe auszeichnen: Gründe mit einem bestimmten Thema, genauer gesagt solche, die von einem konkreten Gegenstand handeln und ihm Existenz beilegen. Schränken wir nun den Definitionsbereich von Bolzanos AbfolgeBeziehung einmal auf Wahrheiten anderer Art ein. Damit erhalten wir eine Relation, die zumindest eine gute Annäherung an die metaphysische Grund-Folge-Beziehung abgibt, so wie sie bei vielen Autoren der gegenwärtigen Debatte konzipiert wird (so insbesondere bei Fine, Correia und Schnieder).37 Sodann zu Handlungsgründen. Diese spielen in Bolzano Schriften durchaus eine Rolle, wenngleich er sie weniger ausführlich thematisiert als Erkenntnisgründe oder Kausalgründe. Dennoch wird hinreichend deutlich, dass Bolzano Handlungsgründe so wie Erkenntnisgründe als eine besondere Sorte von Ursachen klassifizieren würde: nämlich als Urteile und/oder Wünsche, die unsere Handlungen verursachen.38 Eine solche Ansicht ist zwar nicht unumstritten, aber Bolzano befindet sich mit ihr allemal in prominenter Gesellschaft; unter seinen Zeitgenossen hätte beispielsweise der ältere Schopenhauer ihm entschieden beigepflichtet, in der zeitgenössischen Handlungstheorie steht vor allem Davidson für eine solche Auffassung Pate.39 36 Siehe WL, § 198 [II.340] & § 300 [III.123]. Wir klammern hier einige Zusatzbedingungen aus, die für das Weitere unerheblich sind. Für eine weitergehende Analyse vgl. Siebel: Bolzanos Urteilslehre. 37 Vgl. z. B. F. Correia und B. Schnieder: »Grounding: An Opinionated Introduction« sowie K. Fine: »Guide to Ground«, beide in: F. Correia/B. Schnieder (Hg.): Metaphysical Grounding, Cambridge 2012, S. 1–36 bzw. S. 37–80. Eine Ausnahme stellt die Position Schaffers dar, der davon ausgeht, dass metaphysische Gründe nicht immer Wahrheiten bzw. Tatsachen, sondern Gegenstände aller Art sein können (vgl. J. Schaffer: »On What Grounds What«, in: D. Chalmers et al. (Hg.): Metametaphysics, Oxford 2009, S. 347–83). 38 Vgl. B. Bolzano: Lehrbuch der Religionswissenschaft (4 Bände), Sulzbach 1834, Band I, S. 42, sowie B. Bolzano: Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele, Sulzbach 21838, S. 176 ff. 39 Während Schopenhauer in der ersten Fassung von Die vierfache Wurzel Handlungsgründen noch die Kausalität abspricht, subsumiert er sie in der revidierten, heute gängigen Ausgabe als eine Sorte von Ursachen. Für Davidsons Position siehe etwa D. Davidson: »Actions, Reasons, and Causes«, in: The Journal of Philosophy 60 (1963), S. 685–700.

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Was schließlich das Verhältnis seiner Abfolgetheorie zum Begriff des logischen Grundes anbelangt, ist Bolzano nicht gänzlich entschieden. Paragraph 200 der Wissenschaftslehre diskutiert den Zusammenhang von Abfolge und Ableitbarkeit, wobei Bolzano »Ableitbarkeit« als Titel einer Beziehung verwendet, die mit der Beziehung der logischen Folge, so wie sie heutzutage üblicherweise verstanden wird, eng verwandt ist.40 Resultat der Diskussion ist zunächst einmal eine Trennung der Beziehungen, ohne dass eine irgendwie geartete Integration der Ableitbarkeit in die Abfolgetheorie angeboten würde. Es scheinen dann also zwei voneinander unabhängige Begriffe des Grundes zu verbleiben: der Begriff der Abfolge und der Begriff der Ableitbarkeit. Bolzanos Theorie müsste sich demnach mit einem eingeschränkten Vereinheitlichungsanspruch zufrieden geben. Doch ist die Lage etwas komplexer. An einer etwas späteren Stelle der Wissenschaftslehre liebäugelt Bolzano nämlich damit, den Begriff der Abfolge durch den Begriff der Ableitbarkeit zu definieren: Abfolge wäre demnach ein spezielles Verhältnis der Ableitbarkeit, mit dem die Wahrheiten in besonders ökonomischer Weise in Grundwahrheiten und abgeleitete Wahrheiten eingeteilt werden. Damit nimmt Bolzano die Grundidee der sogenannten unification theory of explanation voraus, wie sie von Kitcher einflussreich propagiert wurde. Doch diese Idee Bolzanos können wir hier leider nicht näher ausführen; der Vorschlag ist hermeneutisch vertrackt und theoretisch voraussetzungsreich und seine Erörterung würde den gegenwärtigen Rahmen klar sprengen.41 Festzuhalten bleibt hier aber: Würde man den Vorschlag aufgreifen, so müsste man das bisher gezeichnete Bild von Bolzanos Konzeption der Abfolge noch einmal revidieren. Der zentrale Begriff der Abfolgetheorie wäre zwar für diese Theorie der wesentliche Grundbegriff, aber er wäre per se kein basaler Begriff mehr, sondern durch einen anderen Begriff analysierbar. Die gesamte Abfolgetheorie würde damit in den Rahmen einer Theorie der logischen Folge (bzw. der Ableitbarkeit) eingebettet werden. Somit ergäbe sich für Bolzano dann tatsächlich eine umfassende und vereinheitlichende Theorie des Grundes, in der alle Begriffe des Grundes auf einen gemeinsamen Kernbegriff zurückführbar wären − nur würde es sich bei diesem nicht um den Begriff der Abfolge handeln, sondern eben um den Begriff der Ableitbarkeit. Diese Aussicht macht Bolzanos Vorschlag zur Analyse der Abfolge-Beziehung systematisch hochinteressant. Doch wir können der Angelegenheit hier nicht weiter nachgehen.

§ 4 Anspruch eingelöst? Bislang haben wir Bolzanos Theorie in ihren Grundzügen vorgestellt und ausgeführt, dass und wie Bolzano mit seiner Abfolgetheorie versucht, dem Anspruch einer einheitlichen 40 Genau genommen ist logische Folge eine Art Spezialfall von Bolzanos Ableitbarkeitsrelation. Im Zuge der Diskussion des Verhältnisses von Abfolge und Ableitbarkeit scheint er jedoch gerade diesen Fall im Sinn zu haben. Vgl. hierzu Roski: Bolzano’s Notion of Grounding, S. 214–21. 41 Vgl. hierzu Roski: Bolzano’s Notion of Grounding, S. 287 ff., sowie S. Roski und A. Rumberg: »Simplicity and Economy in Bolzano’s Theory of Grounding«, in: Journal of the History of Philosophy 54 (2016), S. 469–496.

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Theorie des Grundes soweit als möglich gerecht zu werden. Die beiden am klarsten ausgearbeiteten Elemente dieses Versuchs sind Bolzanos Analyse des Begriffs der Ursache durch den der Abfolge, sowie die Analyse von Erkenntnisgründen als Ursachen. Diese Elemente wollen wir hier nun auf den Prüfstein setzen.

§ 4a. Kausalität: Ein nagendes Unbehagen und ein blinder Fleck Ist Bolzanos Analysevorschlag des Kausalitätsbegriffes überzeugend? Aufgrund zweier Probleme müssen wir ihm leider unsere Zustimmung vorenthalten.42 Das erste Problem besteht darin, dass Bolzanos Vorschlag eine Art extremen Platonismus voraussetzt. Inwiefern das? Klarerweise setzt er einen Platonismus im Sinne der Akzeptanz abstrakter Gegenstände voraus. Denn Bolzano möchte Kausalität ja mittels der Abfolge-Beziehung analysieren, wobei diese ausschließlich zwischen wahren Propositionen besteht, und somit zwischen abstrakten Gegenständen. Zwar mag diese platonistische Annahme nun einigen Philosophen bereits unwillkommen sein, aber uns bereitet sie, für sich genommen, noch keine Bauchschmerzen. Doch die platonistische Hypothek von Bolzanos Kausalitätsanalyse erschöpft sich nicht in der bloßen ontologischen Verpflichtung darauf, dass es abstrakte Gegenstände gibt. Dass Kausalitätsbeziehungen zwischen Dingen in der Wirklichkeit bestehen, verdankt sich Bolzanos Konzeption nach dem Bestehen von Relationen zwischen Propositionen: Kausalität wird zum weltlichen Korrelat der Abfolge-Beziehung erklärt, womit dieser eine Prioriät vor der Kausalität eingeräumt wird. Und dieser Zug von Bolzanos Auffassung mag nun auch ontologisch unbekümmerte Philosophen zunächst mal stutzen lassen. Denn Propositionen sind nicht nur kein Bestandteil der Wirklichkeit; insofern sie die Wirklichkeit repräsentieren, scheinen sie dieser gerade nachgeordnet zu sein. Die Annahme, dass diese repräsentationalen Entitäten und die Ordnung, in der sie zueinander stehen, nun die Kausalverknüpfung erst in die Wirklichkeit hineintragen, macht Bolzanos Position zu einer extremen Form des Platonismus. Aus dieser Feststellung ergibt sich nun wohl kein schlagendes Argument gegen Bolzanos Theorie. Einige Philosophen sind eben mit einem kräftigeren Magen gesegnet als andere. Inwieweit man den Platonismus von Bolzanos Theorie als verschmerzbar oder als eine Reductio des Ansatzes betrachten möchte, müssen wir an dieser Stelle daher als eine Frage des philosophischen Geschmacks offen lassen. Kommen wir zum zweiten, handfesteren Problem von Bolzanos Analyse. Hier noch einmal ihre Grundidee: Sind x und y konkrete Gegenstände, und ist die Proposition, dass x existiert bzw. stattfindet, der Grund der Proposition, dass y existiert bzw. stattfindet, so ist x die Ursache für y. Doch wie steht es dann mit dem folgenden Fall? (4) Xanthippes’ Verwitwung tritt ein, weil Sokrates’ Tod eintritt.

Für eine ausführlichere Diskussion der folgenden Überlegungen siehe Schnieder: Bolzano on Causation and Grounding, Abschnitt 7. 42

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Wenn Sokrates stirbt, dann wird Xanthippe zur Witwe, weil er stirbt. In (4) drücken die beiden mit »weil« verknüpften Sätze jeweils eine Proposition aus, die von einem Ereignis (Xanthippes’ Verwitwung bzw. Sokrates’ Sterben) aussagt, dass es stattfindet. Da zwischen diesen beiden Propositionen ein Abfolgeverhältnis besteht, müsste laut Bolzanos Analyse zwischen den beiden Ereignissen ein Kausalverhältnis bestehen. Das aber würde heutzutage kaum ein Philosoph einräumen wollen; einer von mehreren guten Gründen ist, dass Xanthippes Witwewerden räumlich nahezu beliebig weit entfernt von Sokrates’ Sterben stattfinden kann, während zwischen beiden Ereignissen keinerlei zeitlicher Abstand besteht. Doch räumliche Distanz gepaart mit zeitlicher Simultanität gilt im Allgemeinen als typische Gegenanzeige von einer kausalen Einwirkung. Das besprochene Beispiel ist nun nur eines aus einer ganzen Reihe von Beispielen für nichtkausale, objektive Abhängigkeitsbeziehungen zwischen konkreten Gegenständen, die sich in natürlicher Weise durch weil-Aussagen thematisieren lassen.43 In ihrer überlieferten Fassung lässt Bolzanos Analyse der Kausalität keinen Raum für solche nichtkausalen Abhängigkeiten − was einen schwerwiegenden Einwand gegen die Analyse abgibt. Damit ist zwar keineswegs gesagt, dass sich nicht eine Verbesserung an der Analyse vornehmen ließe, die zumindest den zweiten unserer Einwände umgeht und Bolzanos Kernidee treu bleibt; doch im Rahmen dieses Beitrages können wir einem solchen Projekt nicht weiter nachgehen.

§ 4b. Erkenntnisgründe: Genese und Geltung Wenden wir uns nun noch einmal Bolzanos Analyse vom Begriff des Erkenntnisgrundes zu. Auch diese Analyse erweist sich nach genauerer Prüfung als problematisch. Fragen wir uns zunächst: Ist die Tatsache, dass ein gegebenes Urteil ein wahres Urteil verursacht, wirklich hinreichend dafür ist, dass das erste einen Erkenntnisgrund des zweiten ausmacht? Wohl kaum. Denn manchmal urteilen wir aufgrund von Assoziationen, die uns gleichsam überkommen, oder etwa aufgrund pathologischer Denkmuster; manchmal kommen wir dadurch sogar zu wahren Urteilen. Erkenntnisgründe sollten aber eine Form von Evidenz für ein gegebenes Urteil darstellen − Gründe, die dafür sprechen, dass eine gegebene Proposition wahr ist. Diese Bedingung erfüllen die Gehalte von Urteilsakten, die andere Urteilsakte in uns aufgrund pathologischer Denkmuster oder freier Assoziationen hervorrufen, in aller Regel nicht. Nun argumentiert Bolzano dafür, dass solche Fälle schlicht nicht auftreten können. Genauer behauptet er, dass Urteile nur dann durch andere Urteile verursacht werden können, wenn eine von drei Folgerungsrelationen zwischen ihren Gehalten besteht: Abfolge, logische Folgerung (bzw. Ableitbarkeit) oder bedingte Wahrscheinlichkeit.44 So setzt er denn an, »zu beweisen, dass es nebst diesen drei Arten, wie ein Urteil durch geIn der jüngeren Debatte hat vor allem J. Kim die Aufmerksamkeit auf solche Fälle gelenkt (vgl. dessen »Noncausal Connections«, in: Nôus 8 (1974), S. 41–52). 44 Vgl. WL, § 300 [III.127]. 43

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wisse andere [verursacht] werden kann, keine vierte gebe«.45 Sein Beweisversuch vermag nicht wirklich zu überzeugen − was angesichts der geringen Anfangsplausibilität der zu beweisenden These kaum verwundern sollte.46 Doch auch wenn die Tatsache, dass ein gegebenes Urteil durch ein anderes verursacht wird, hinreichend dafür wäre, dass es sich bei letzterem um einen Erkenntnisgrund des ersten handelt, scheint dies keineswegs eine notwendige Bedingung dafür darzustellen − zumindest dann, wenn wir Bolzanos Thesen zum rechtfertigenden Gebrauch von »weil« ernst nehmen. Denn häufig kann man korrekt mit einem weil-Satz auf eine Frage nach einem Erkenntnisgrund für ein bestimmtes Urteil antworten, ohne mit dieser Antwort die tatsächliche Ursache seines Urteils zu spezifizieren. Wenn Holmes auf die Frage, warum er glaube, Smith sei der Mörder, wahrheitsgemäß antwortet, dass Smith den Mord gestanden hat, dann scheint das eine korrekte Antwort auf die Frage nach einem Erkenntnisgrund zu sein, auch wenn Holmes’ Urteil nicht durch Smiths Geständnis, sondern durch die Betrachtung der Indizienlage verursacht wurde. Über das oben Gesagte hinaus gilt ferner, dass Bolzanos Versuch, den Begriff des Erkenntnisgrundes auf den der Ursache zurückzuführen, den Vereinheitlichungsanspruch seiner Theorie nur dann einlösen kann, wenn es ihm gelingt, den letzteren Begriff unter Rekurs auf den seiner Ansicht nach fundamentalen Begriff der Abfolge zu analysieren. Wir haben jedoch bereits im vorigen Abschnitt gesehen, dass sich an seinem entsprechenden Vorschlag ernste Zweifel anmelden lassen. Diese schlagen hier daher ebenso zu Buche.

§ 5. Schlussbetrachtung: Ein Appell zur Vereinheitlichung Wo also stehen wir nun? Bolzanos Abfolgetheorie ist ein philosophisches Meisterstück, das unseres Erachtens reich an wichtigen Einsichten ist. Dennoch ist sie natürlich nicht in jedem Detail über Zweifel erhaben, und gerade Bolzanos Versuche, seine Konzeption zu einer einheitlichen Theorie verschiedener Arten von Gründen zu machen, sind in der uns überlieferten Form noch nicht überzeugend. Allerdings meinen wir, dass die gegenwärtigen Debatten dennoch gut daran tun würden, zwar vielleicht nicht von Bolzanos konkretem Vorschlag der Vereinheitlichung, in jedem Fall aber von seinem Anspruch auf eine einheitliche Theorie zu lernen. Die Zerfaserungsstrategie nimmt ihren Ausgang bei einem methodologischen Lapsus; zwar wollen wir nicht bestreiten, dass mit dem Wort »Grund« verschiedene Begriffe verbunden sind, die jeweils unterschiedliche Phänomene präsentieren. Das Wort »Grund« ist also mehrdeutig. Und im Allgemeinen gibt es bei mehrdeutigen Worten keinen Anlass, eine einheitliche Theorie zu entwickeln, welche die unterschiedlichen Sinne des Wortes gleichermaßen abdeckt. Wer würde denn beispielsweise eine allgemeine Theorie vom Wesen WL, § 300 [III.129]. Vgl. die Diskussion in Siebel: Bolzanos Urteilslehre, S. 79 f. Siebel hat versucht, zu zeigen, dass Bolzanos Theorie in einer Weise modifiziert werden kann, die dem obigen Problem entgeht (vgl. Siebel: Bolzanos Urteilslehre, Abschnitt 4). Auf diesen Versuch können wir aus Platzgründen jedoch nicht weiter eingehen. 45 46

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der Bank als ein Desiderat betrachten, die einerseits eine Subtheorie über Kreditinstitute, andererseits eine über längliche Sitzgelegenheiten umfasst? Nun kann aber die Mehrdeutigkeit des Wortes »Bank« nicht stellvertretend für jede Art der Mehrdeutigkeit stehen. Kontrastiert werden muss sie vielmehr mit der sogenannten systematischen Mehrdeutigkeit, wie sei beim Wort »gesund« auftritt. Zwar nennt man Menschen und Nahrungsmittel nicht im selben Sinne des Wortes gesund (das Wort ist mehrdeutig), aber was einen gesunden Menschen auszeichnet und was gesunde Nahrungsmittel, steht nicht einfach unverbunden nebeneinander; vielmehr sind die verschiedenen Bedeutungen des Wortes hier auseinander verstehbar und verweisen aufeinander. Wie steht es nun mit der Mehrdeutigkeit des Wortes »Grund«? Unseres Erachtens ist die Hypothese, es handele sich dabei um keine systematische Mehrdeutigkeit, abwegig. Dabei berufen wir uns einerseits schlicht auf die Intuition, dass die verschiedenen Arten von Gründen offenbar nicht unvermittelt nebeneinander stehen (was nicht heißt, dass ebenso offensichtlich wäre, was genau ihren Zusammenhang ausmacht). Andererseits aber berufen wir uns auf ein einfaches linguistisches Merkmal: Nicht-systematische Mehrdeutigkeiten sind hochkontingente und daher lokale Phänomene. Weder treten sie für gewöhnlich interlingual auf (die englischen Wörter »bank« und »bench« weisen keineswegs die Mehrdeutigkeit von »Bank« auf),47 noch treten analoge Mehrdeutigkeiten intralingual bei bedeutungsverwandten Wörtern auf (»Stuhl«, »Hocker«, etc. sind allesamt keine Bezeichnungen für Kreditinstitute oder ähnliche Unternehmen). Die spezifische Mehrdeutigkeit von »Grund« hingegen ist kein auf das Deutsche beschränktes Phänomen, und sie tritt bei bedeutungsverwandten Wörtern ebenso auf; insbesondere das Wort »weil« ist ebenso flexibel verwendbar wie das Wort »Grund«, was z. B. ebenfalls fürs englische »because« gilt. Und die Mehrdeutigkeit tritt (wenngleich vielleicht in verschiedener Stärke und unterschiedlichen Nuancen) bei Wörtern wie »ratio«, »reason«, »ground« etc. auf. Daher denken wir, dass die gegenwärtige Debatte nicht bloß von der Auseinandersetzung mit Bolzanos beeindruckend ausgearbeiteter, und in vielen Details alles andere als überholten Theorie des Grundes profitieren kann. Sie kann auch einen wichtigen methodologischen Impuls von ihr erhalten: Obgleich Bolzano leider gerade bei der Einlösung seines Vereinheitlichungsanspruchs scheiterte, war dies ein Scheitern seiner spezifischen Vorschläge, nicht aber eines des Anspruchs selber. Dieser sollte in der Gegenwartsdebatte neu anerkannt werden; womit sich eine wesentliche Forschungsaufgabe für weitere Diskussionen über Begriffe von Grund und Folge stellt.48

47 Seltene Ausnahmen bilden Fälle, in denen die mehrdeutigen Wörter selber in eine andere Sprache übernommen werden. 48 Die Arbeit an diesem Aufsatz fiel, was Benjamin Schnieder anbelangt, in den Rahmen des SNFSinergia Projekts Grounding – Metaphysics, Science, and Logic und, was Stefan Roski anbelangt, in den Rahmen seiner Arbeit am Kompetenzzentrum Sustainable Future. Wir danken den jeweiligen Förderinstitutionen für ihre Unterstützung; ferner danken wir Florian Fuchs für seine Hilfe mit dem Manuskript.

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Literatur Aristoteles: Metaphysics, griechischer Text herausgegeben von W.D. Ross (2 Bände), Oxford 1997. Bolzano, B.: Athanasia oder Gründe für die Unsterblichkeit der Seele, Sulzbach 21838. – Bolzanos Wissenschaftslehre und Religionswissenschaft in einer beurtheilenden Übersicht, Sulzbach 1841. – Lehrbuch der Religionswissenschaft (4 Bände), Sulzbach 1834. – »Was ist Philosophie?«, in: J. Berg (Hg.): Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Stuttgart 1969 ff., Band II A 12/3, S. 13–33. – Wissenschaftslehre (4 Bände), Sulzbach 1837. – »Von der mathematischen Lehrart«, in: J. Berg (Hg.): Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Stuttgart 1969 ff., Band II A 7, S. 46–97. Correia, F./Schnieder, B.: »Grounding: An Opinionated Introduction«, in: F. Correia/B. Schnieder (Hg.): Metaphysical Grounding, Cambridge 2012, S. 1–36. Crusius, C.: De usu et limitibus principii rationis determinantis vulgo sufficientis, Leipzig 1743. Davidson, D.: »Actions, Reasons, and Causes«, in: The Journal of Philosophy 60 (1963), 685–700. Fine, K.: »Guide to Ground«, in: F. Correia/B. Schnieder (Hg.): Metaphysical Grounding, Cambridge 2012, S. 37–80. Kim, J.: »Noncausal Connections«, in: Nôus 8 (1974), S. 41–52. Kitcher, P.: »Bolzano’s Ideal of Algebraic Analysis«, in: Studies in History and Philosophy of Science 6 (1975), S. 229–269. – »Explanatory Unification and the Causal Structure of the World«, in: ders./W. Salmon (Hg.): Scientific Explanation, Minneapolis 1989, S. 410–505. Künne, W.: Conceptions of Truth, Oxford, New York 2003. – »Propositions in Bolzano and Frege«, in: Grazer philosophische Studien 53 (1997), S. 203–40. Roski, S.: Bolzano’s Notion of Grounding and the Classical Model of Science, Diss., Amsterdam 2014. Roski, S./Rumberg, A.: »Simplicity and Economy in Bolzano’s Theory of Grounding«, in: Journal of the History of Philosophy 54 (2016), S. 469–496. Salmon, W.: Four Decades of Scientific Explanation, Pittsburgh 1989. Schaffer, J.: »On What Grounds What«, in: D. Chalmers et al. (Hg.): Metametaphysics, Oxford 2009, S. 347–83. Schnieder, B.: »Bolzano on Causation and Grounding«, in: Journal of the History of Philosophy 52 (2014), S. 309–337. – »Mere Possibilities – Bolzano’s Account of Non-Existing Entities«, in: Journal of the History of Philosophy 45 (2007), S. 525–50. – Substanz und Adhärenz – Bolzanos Ontologie des Wirklichen, Sankt Augustin 2002. – »The Asymmetry of ›Because‹«, in: Grazer Philosophische Studien 91 (2015), S. 175–208. – »Truth-Functionality«, in: Review of Symbolic Logic 1 (2008), S. 64–72. – »Truth-Making without Truth-Makers«, in: Synthese 152 (2006), S. 21–46. Schnieder, B./Steinberg, A.: »Without Reason?«, erscheint in: Pacific Philosophical Quarterly. Early online Version: DOI 10.1111/papq.12065.

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Schopenhauer, A.: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Rudolstadt 1813. Siebel, M.: »Bolzanos Urteilslehre«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 86 (2004), S. 56–87. – Der Begriff der Ableitbarkeit bei Bolzano, Sankt Augustin 1996. Simons, P.: Parts. A Study in Ontology, Oxford 1987. Tatzel, A.: »Bolzano’s Theory of Ground and Consequence«, in: Notre Dame Journal of Formal Logic 43 (2002), S. 1–25.

KOLLO QUIUM 22 Antike Philosopheme in systematischen Debatten der Gegenwart Kolloquiumsleitung: Christof Rapp

Christof Rapp Einleitung Ulrich Nortmann Sich bei Aristoteles bedienen? Sprachtheorie, Essentialismus, Dualismus und Modaltheorie zwischen Antike und Moderne Christopher Gill Why Should We Care about Stoic Ethics Today? Jan Opsomer Sollte man den Platonismus wohlwollend interpretieren? Philosophische Historiographie und das Prinzip der wohlwollenden Interpretation

Antike Philosopheme in systematischen Debatten der Gegenwart Christof Rapp (München)

Die Philosophie hat ein besonderes Verhältnis zu ihrer Geschichte und zu historischen philosophischen Positionen. Immer wieder kommt sie auf alte oder klassische Positionen zurück und versucht diese auf Fragen der gegenwärtigen Philosophie zu beziehen. So werden platonische, aristotelische, stoische, kantianische, hegelianische usw. Auffassungen bemüht, es kommt zu neo-aristotelischen, neo-hegelianischen, neo-marxistischen Theorieansätzen. Darin unterscheidet sich die Philosophie auf der einen Seite von Natur- und Technikwissenschaften, deren vergangene Theorien, wenn sie einmal obsolet geworden sind, auch obsolet bleiben. Viele Geisteswissenschaften auf der anderen Seite haben einen explizit historischen Gegenstand, aber auch von ihnen unterscheidet sich die Philosophie, denn ihr Rückgriff auf frühere Positionen hat nicht primär den Sinn, diese als historischen Gegenstand zu behandeln, sondern ist oft mit dem weitergehenden Anspruch verbunden, dass wir hier und heute etwas von diesen historischen Auffassungen lernen, dass sie die gegenwärtige Diskussion befruchten und dass sie einen sachlichen Beitrag zur genuinen philosophischen Forschung leisten können. Man könnte die Legitimität eines solchen Anspruchs von einem anti-historistischen Standpunkt aus leicht in Frage stellen. Lenkt der Umweg über die Philosophiegeschichte nicht von den eigentlichen (Sach-)Problemen ab? Sind die historischen Positionen nicht mit Obskuritäten verbunden, auf die man leicht verzichten könnte? Öffnet der Umweg über die Geschichte nicht einer Autoritätsgläubigkeit gegenüber den klassischen Philosophen Tür und Tor? Viele dieser Bedenken sind sicherlich berechtigt, der philosophische Antihistorismus wird auch vielerorts vertreten und praktiziert. Innerhalb der deutschsprachigen Philosophie insgesamt handelt es sich dabei aber vermutlich nicht um die Position der Mehrheit. Seit einigen Jahren nun gibt es eine international geführte Diskussion darüber, wie genau denn eigentlich historische Positionen die systematische philosophische Debatte bereichern können und ob es überhaupt wünschenswert ist, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie auf solche Aktualisierungen abzielt.1 Zum Teil drückt diese Diskussion das Unbehagen von Philosophiehistorikern in akademischen Kulturen aus, in denen die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie stark von den Präferenzen der gegenwärtigen analytischen Philosophie geprägt ist. Zum Teil ist diese Diskussion vielleicht auch die Reaktion auf eine Phase der munteren und manchmal etwas Siehe unter anderem die Beiträge in Tom Sorell, G.A.J. Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005; Mogens Laerke, Justin E.H. Smith, Eric Schliesser (Hg.): Philosophy and its History. Aims and Methods in the Study of Early Modern Philosophy, Oxford 2013; Peter H. Hare (Hg.), Doing Philosophy Historically, Amherst 1988. 1

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unreflektierten, aber ungemein wirkungsmächtigen Aktualisierungen aller möglicher historischen Positionen. Philosophinnen und Philosophen wie Martha C. Nussbaum, John McDowell, Robert Brandom u. a. konnten durch die philosophische Neulektüre einiger Klassiker die philosophische Agenda neu besetzen; und viele versuchten, es ihnen gleichzutun. Die methodologische Diskussion unserer Tage nun scheint nachträglich aufarbeiten zu wollen, was denn eigentlich bei solchen Rückgriffen auf die Geschichte der Philosophie geschieht. Eine Teildebatte etwa betrifft die angemessene Berücksichtigung der jeweiligen Kontexte sowie die Frage, ob philosophische Probleme und Lösungsansätze ihre Identität unabhängig von diesen Kontexten bewahren können.2 Eine andere Teildebatte bezieht sich auf die Frage, ob man, wenn man in systematischer Absicht auf die Geschichte der Philosophie zurückgreift, sich dieser Geschichte wie eines Steinbruchs bedient, aus dem man beliebige Brocken entnehmen, andere aber zurücklassen kann, oder ob die historischen Positionen vor allem deswegen von systematischem Interesse sind, weil sie immer wieder als Kontrast zu dem eingesetzt werden können, was in der Gegenwartsphilosophie üblich ist oder sogar unhinterfragt vorausgesetzt wird.3 Schaut man genauer auf solche Aktualisierungsvorgänge, wird man sicherlich Mechanismen beiderlei Typs entdecken. Außerdem geht in der Regel auch schon die ernsthafte Bemühung um eine exegetische Klärung der historischen Positionen als solche mit einer Bereicherung der systematischen Optionen einher, wenn dabei nämlich versucht wird, die historischen Positionen weiterzudenken oder ihre gedanklichen Voraussetzungen transparenter zu machen. Sehr schnell mündet die Diskussion um die systematische Relevanz von historischen Positionen in eine der zentralen metaphilosophischen Fragen, nämlich in die Frage nach dem Fortschritt in der Philosophie. Ist man eher optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit eines stabilen und globalen Fortschritts in zentralen philosophischen Fragen (dass es Fortschritt in Teilbereichen der Philosophie gibt, sei vorausgesetzt), dann wäre es naheliegend, den Wert der Philosophiegeschichte an ihrem Beitrag zu genau diesem Fortschritt zu messen. Wie kann man das tun? Werden historische Positionen nur dazu benutzt, um Trendwenden in der Philosophie anzuzetteln oder inspirieren sie auch die Detailarbeit an philosophischen Theorien? Ist man hingegen weniger optimistisch, was den globalen und stabilen Fortschritt der Philosophie im Allgemeinen angeht, dann wäre es geradezu typisch für die philosophische Tätigkeit, dass sie periodisch immer wieder auf die gleichen Probleme und auf dem Typ nach gleiche Lösungsstrategien zurückkommt; und dann wäre es auch einfacher zu begründen, warum es zum Philosophieren gehört, dass man eben immer wieder in der einen oder anderen Weise auf die Positionen von Platon, Descartes oder Kant zurückgreift. Die Philosophie der Antike scheint sich für solche Rückgriffe in systematischer Absicht in besonderer Weise anzubieten, zum einen weil sie historisch voraussetzungslose Siehe z. B. Daniel Garber: »What’s Philosophical about the History of Philosophy?«, in: Tom Sorell, G.A.J. Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 129–146. 3 Siehe Marcel van Ackeren: »Was bedeutet der aktuellen Philosophie ihre Geschichte? Positionen – Probleme – Pragmatismus«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 68 (2014), S. 305–327. 2

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oder voraussetzungsarme Positionen anbietet, zum anderen weil sie sich zumindest in ihrer vorchristlichen Phase weltanschaulich relativ neutral oder zumindest flexibel verhält. Globale Aussagen über die Entwicklung der Forschung zur antiken Philosophie in den letzten Jahrzehnten treffen zu wollen, ist immer problematisch, aber die folgenden Feststellungen sind vermutlich nicht allzu kontrovers: Unter dem Einfluss der analytischen Philosophie hat sich ausgehend von Großbritannien und beginnend in den 50er und 60er Jahren in bestimmten Teilen der Erforschung antiker Philosophie ein argumentationsanalytischer Zugang durchgesetzt, der vor allem auch das Ziel verfolgt, die antiken Theoreme in einer Sprache zu präsentieren, die deren Bezug zu den in der Philosophie der Gegenwart behandelten Problemen transparent macht. Die argumentationsanalytische Zugangsweise macht die historischen Positionen unmittelbar zugänglich und beurteilbar. Deswegen ist dieser Zugang wahrscheinlich nicht nur zufällig mit einer anderen Entwicklung verbunden, nämlich der Entwicklung, dass Philosophinnen und Philosophen wie Ryle, Austin, Strawson, Anscombe, Geach, später dann Foot, Williams, Wiggins u. a. recht erfolgreich vorgeführt haben, wie man antike Theoreme formulieren und gebrauchen muss, um ihre systematische Relevanz für Positionen der Gegenwart geltend zu machen. Der Erfolg dieser und anderer Autoren hat für Teile der antiken Philosophie eine gewisse Aktualitäts- oder Relevanzerwartung erzeugt. Noch heute verfolgen viele der eingereichten Manuskripte zur antiken Philosophie das Ziel, eine antike Position auf einen Diskussionsstand der Gegenwart zu beziehen und durch bestimmte exegetische Manöver die antike Position für die Gegenwartsdiskussion interessanter zu machen oder zumindest mit Bezug auf einzelne Argumente die Gegenwartsdiskussion zu differenzieren oder zu bereichern. Diese beiden Entwicklungen gingen zunächst von bestimmten einzelnen Themen und Autoren aus (am Anfang waren sprachphilosophische und logische Themen beliebt und im Mittelpunkt stand vor allem Aristoteles), und weiteten sich dann mehr und mehr auf andere Teilbereiche der antiken Philosophie aus. Die verfeinerten Standards, die sich der argumentationsanalytischen Methode verdanken, finden heute bei der Interpretation aller Epochen der antiken Philosophie Anwendung und die dieser Entwicklung verpflichteten Zeitschriften und Reihen nehmen inzwischen Beiträge zu fast allen Themen und Perioden der antiken Philosophie auf. – Die veränderten Standards sind eine Sache, eine andere Sache ist die erwähnte Aktualitätserwartung, die in neuerer Zeit immer wieder explizit kritisiert wurde: Führt der Zwang, antike Texte im Hinblick auf uns heute interessierende Themen zu durchforsten, am Ende nicht zu forcierten und voreingenommenen Interpretationen? Sollten wir vielleicht die Rhetorik der Aktualitätserwartung den Drittmittelanträgen und den Bewerbungsvorträgen überlassen? Oder fallen wir, wenn wir Abstand von der prinzipiellen Erwartung einer Relevanz für die Gegenwartsphilosophie nehmen, zurück in die ideengeschichtliche oder klassikergläubige Philosophiegeschichtsschreibung (mit der wir vor der argumentationsanalytischen Wende leben mussten und die – was die antike Philosophie angeht – auch in einigen klassisch-philologischen Instituten überlebt hat)? Die hier versammelten Beiträge sollen einen Beitrag zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragestellungen leisten, und zwar unter einer bisher vernachlässigten Perspektive: Wenn von der ›Aktualität‹ oder ›Relevanz‹ antiker Philosophie die Rede ist, geht

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oftmals unter, dass auch die Philosophie der Antike aus sehr heterogenen Schulen und Theorieansätzen zusammengesetzt ist. In der Regel beziehen sich die Bemühungen, Theoreme antiker Philosophie für die Gegenwartsphilosophie nutzbar zu machen, auf eine recht überschaubare Auswahl an Ideen, die zudem bevorzugt den bekannteren Werken von Aristoteles entnommen sind; deutlich seltener sind Bezugnahmen auf Vertreter anderer Schulen und Strömungen antiker Philosophie. Autoren der hellenistischen und der römisch-kaiserzeitlichen Philosophie werden zwar stark nachgefragt, wenn es um eher populär gehaltene Werke zur antiken Lebenskunst geht, ansonsten gibt es aber eher wenige Versuche, philosophische Kerngehalte etwa der stoischen Philosophie auf die Debatten unserer Zeit anzuwenden. Zum Teil hat das sicherlich mit der Zugänglichkeit der Quellen zu tun: Ein Aristotelischer Traktat wie die Nikomachische Ethik erschließt sich leichter als eine Fragment- und Quellensammlung zu den verschiedenen Vertretern der stoischen Lehren. Hinzu kommt im Falle der stoischen Philosophie, dass sie selbst in Fragen der Ethik von einigen stark kontraintuitiven Annahmen abhängig zu sein scheint, wie z. B. dem Ideal der Leidenschaftslosigkeit und der vollständigen Abwertung aller äußeren Güter. Auch Platon und der Platonismus werden im Hinblick auf die Möglichkeit einer aktualisierenden Lektüre ganz anders behandelt als z. B. Aristoteles. Bei einigen neuplatonischen Autoren scheint es grundsätzlich schwierig zu sein, philosophische Anliegen und Fragen zu identifizieren, an die die Philosophie der Gegenwart anknüpfen könnte. Das sind nur einige Beispiele, um zu illustrieren, warum unterschiedliche Strömungen der antiken Philosophie einen sehr ungleichen Anteil an der verbreiteten Bemühung um eine aktualisierende Lektüre antiker Philosophen haben. Aristoteles, Stoa und Platonismus erschöpfen natürlich noch nicht das Tableau antiker Schulen, sollen aber im Folgenden stellvertretend für das ganze Spektrum antiker Philosophen näher behandelt werden: Ulrich Nortmann befasst sich in seinem Beitrag mit dem Beispiel des Aristoteles. Wenn Theoreme z. B. aus Aristoteles’ Modaltheorie, seiner Sprachphilosophie oder seines Essentialismus auch heute noch vertreten werden können, dann, so Nortmann, sei das keineswegs mit dem Zugeständnis verbunden, dass sich in der Philosophie der letzten 2400 Jahre nichts Wesentliches getan habe. Um von Aristoteles zu profitieren, müsse der moderne Philosoph schon etwas ›dazu-geben‹, denn manch eine Aristotelische Behauptung scheine uns heutzutage geradezu leichtfertig dahingesagt, weil wir eben durch den Fortschritt der Philosophie höhere Ansprüche an die Begründungspflichten stellten. Man könne daher nicht eine Aristotelische Position einfach so regenerieren, ohne sie in einer Weise (neu oder zusätzlich) zu begründen, die den Standards der modernen Philosophie entspreche. Christopher Gill befasst sich in seinem Beitrag mit der stoischen Ethik. Aufbauend auf seine exegetischen Arbeiten zur stoischen Philosophie hat Gill bereits an vielen Stellen argumentiert, dass die stoische Ethik für uns von eminenter Bedeutung sei und in der Tat auch zum Kurieren drängender Probleme der Gegenwart tauge. Im vorliegenden Beitrag geht er von der Frage aus, wie es kommt, dass trotz der sachlichen Attraktivität stoischer Positionen in der Regel Aristoteles im Mittelpunkt steht, wenn es um die Relevanz ethischer Positionen der Antike geht. Als Grund dafür macht er einige gängige Missverständnisse hinsichtlich der stoischen Ethik aus, die diese als unnötig problematisch erscheinen

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lassen. Er argumentiert, dass in Fragen des Verhältnisses von Tugend und Glück, von Ethik und Natur sowie in der Frage der moralischen Entwicklung die stoische Ethik eine Position anbiete, die sich auch heute noch verteidigen lasse und nicht weniger plausibel sei als etwa die Aristotelische Ethik. Jan Opsomer geht von dem Problem des angemessenen Umgangs mit Platon und dem Platonismus aus, entwickelt dann aber methodologische Kriterien für den Umgang mit Philosophen der Vergangenheit, die von sehr allgemeiner Bedeutung sind. Hinsichtlich des antiken Platonismus sei es zunächst kennzeichnend, dass die antiken Platoniker gerade solche Aspekte von Platons Philosophie herausgegriffen und ausgearbeitet haben, die uns heute eher obskur erscheinen, während andere Aspekte seines Denkens, für die Platon heute gerne zitiert und gelobt wird, in der antiken Tradition des Platonismus keine Rolle mehr spielten. Schon diese Spannung mache klar, dass wir uns auf der Suche nach Gründen, die ein Philosoph der Vergangenheit gehabt haben mag, nicht nur auf die Gründe konzentrieren können, die uns heute als gute Gründe erscheinen. Die Unterstellung erklärender und rechtfertigender Gründe führt direkt auf das Prinzip interpretatorischen Wohlwollens. Was dieser Grundsatz bei der Anwendung auf geschichtliche Gestalten der Philosophie beinhalten muss, legt Opsomer in einer Reihe von Prinzipien dar. Außerdem betont er gegen eine verbreitete Polemik gegen das ›Antiquarische‹ in der Philosophie die enorme Bandbreite von philosophiehistorischen Aktivitäten, die vom rein antiquarischen Interesse bis zum dezidiert philosophischen Studium alter Texte reichen, die auf ihre jeweils besondere Art aber alle legitim seien.

Literatur Hare, Peter H. (Hg.): Doing Philosophy Historically, Amherst 1988. Laerke, Mogens/Smith, Justin E.H./Schliesser, Eric (Hg.): Philosophy and its History. Aims and Methods in the Study of Early Modern Philosophy, Oxford 2013. Sorell, Tom/Rogers, G.A.J. (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005. van Ackeren, Marcel: »Was bedeutet der aktuellen Philosophie ihre Geschichte? Positionen – Probleme – Pragmatismus«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 68 (2014), S. 305–327.

Sich bei Aristoteles bedienen? Sprachtheorie, Essentialismus, Dualismus und Modaltheorie zwischen Antike und Moderne Ulrich Nortmann (Saarbrücken)

1. Geschichts-Orientierung: ein Symptom theoretischer Impotenz? Ist philosophiegeschichtliches Material alter Plunder? Oder doch eher eine Fundgrube? Wenn ja, eine Fundgrube für was? Universitäre, einem wissenschaftlichen Zugriff auf die Dinge verpflichtete Vertreter des Faches Philosophie sympathisieren jedenfalls häufig, wenngleich nicht ausnahmslos, mit der Vorstellung, dass Philosophiegeschichte wichtig sei. Sie meinen das dann in der Regel nicht so, dass Philosophiegeschichte und die Beschäftigung damit ihre Bedeutung hauptsächlich als Teilprojekt einer allgemeinen IdeenGeschichtsschreibung hätten. Ein solches Ideen-Projekt wäre das sozusagen »paläo-doxologische« Unternehmen einer Erschließung, einer Rekonstruktion aus den Quellen, von einstmals vertretenen Meinungen, Terminologien und Argumenten, betrieben vielleicht aus einer Art Liebe zum zeitlich Fernliegenden mit seiner spezifischen Fremdheitsanmutung heraus; vergleichbar eventuell mit anderen Unternehmungen, deren Zweck man in der Bewahrung von Exotischem sehen kann? Nein, als eine solche ideenkundlich-museale Arbeit ist es im Allgemeinen gerade nicht gedacht. Gemeint ist, wo jene Wichtigkeit behauptet oder verteidigt wird, in der Regel schon eine Wichtigkeit für’s Philosophieren selbst. Und ja, es gibt die Ausnahmen. Wenn Sie etwa Richard David Precht, auch wenn er ein Mann der Grauzone zwischen Universität und Feuilleton sein mag, zu den wissenschaftlichen Fachvertretern zählen wollen: Er beklagt, wie vielen von Ihnen bekannt sein wird, bei der akademischen Philosophie in Deutschland eine zu starke Fixierung auf so etwas wie alten Plunder. Er sieht es als viel wichtiger für ein produktives Philosophieren an, sich etwa am aktuellen Kenntnis- und Problembestand der Lebenswissenschaften zu orientieren. Klar ist jedenfalls, ob wir es nun mit Precht halten wollen oder nicht: Die These, dass alte und auch sehr alte, nämlich in der Antike entwickelte Philosophie für das heute betriebene philosophische Geschäft wichtig seien, sie zieht natürlich leicht den hämischen Einwand auf sich, dass es mit den Fortschritten der Philosophie und den Fähigkeiten der gegenwärtigen Fachvertreter und ihrer rezenteren Vorläufer ja wohl nicht so weit her sein könne – wenn es für gegenwärtiges systematisches Philosophieren wirklich eine Option sei, sich weit zurück in der Geschichte, bei Aristoteles etwa, zu bedienen. In anderen, mit einer klaren Fortschrittsgeschichte beeindruckenden Fächern wie der Medizin, der Mathematik, der Physik gebe es so etwas nicht. In der Tat, welcher heutige Arzt würde denn, auf der Suche nach einer erfolgversprechenden Therapie in einem ernsten Krankheitsfall, Galen (129–199) konsultieren? Welche Mathematikerin würde sich für das Knacken ei-

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ner harten mathematischen Nuss etwas davon versprechen, bei Diophant von Alexandria (um 250 n. Chr.) nachzuschauen? Reagiert wird auf diese Art von Fragen häufig mit der These, Philosophie sei eben keine normale wissenschaftliche Disziplin; die großen philosophischen Fragen ließen sowieso keine wirklichen Lösungen zu; Philosophie sei mehr Tätigkeit und Lebensform als Theorie; eindeutige doktrinale Fortschritte wie in anderen Disziplinen gebe es nicht. Wäre dies alles wahr, ich persönlich hätte eindeutig das Gefühl, mich damals bei meiner Studien-Entscheidung geirrt zu haben und im falschen Fach gelandet zu sein. So bevorzuge ich denn ein anderes Bild vom Fach und von der Bedeutsamkeit einer Beschäftigung mit dessen Geschichte, auch in systematischer statt nur in doxographischer Absicht. Es wäre allerdings, zugegeben, ziemlich verdächtig, wenn man sich, wie ich es im Vortragstitel in Frageform ausdrücke, noch heute etwa bei Aristoteles einfach bedienen könnte, um sich bei ihm fertige, blitzsaubere Lösungen für philosophische Probleme abzuholen, mit denen man selbst leider nicht fertig geworden ist; und das nicht einmal mit den vereinten Anstrengungen einiger Dutzend inzwischen tätig gewesener Generationen von Philosophen im Rücken. Nein, was in vielen Fällen passiert, ist etwas anderes: Wir finden bei einem Theoretiker wie Aristoteles häufig Theoriestücke und Behauptungen, die dieser mit leichter Hand, ja einigermaßen leichtfertig – aus heutiger Sicht – vorbringen konnte; weil er aller Wahrscheinlichkeit nach keine ganz klare Vorstellung vom vollen Umfang der Begründungspflichten hatte, die jedenfalls gemäß heutigen Standards mit einer gerechtfertigten Festlegung auf entsprechende Positionen verbunden wären. Oder auch, und auf konkretes Beispielmaterial werde ich Sie nicht lang warten lassen: Wir finden Theoriestücke, die sich bei uns mit partiell anders als damals gelagerten Problemkontexten und Hintergrundannahmen zu Folgerungen verbinden, die wichtig sind, bei dem antiken Autor aber noch nicht gezogen wurden. Manchmal handelt es sich bei den Thesen auch um überraschende Detail-Behauptungen, die uns als Fragen unter Umständen noch gar nicht in den Sinn gekommen sind. Ein Beispiel werde ich später, in Abschnitt 5, besprechen. Für uns, die wir heute mit wissenschaftlichen Ansprüchen Philosophie treiben, geben solche Leichthändig- bis Leichtfertigkeiten, wie ich ruhig einmal fortfahren will, sie etwas despektierlich zu nennen, ein interessantes Reservoir an Thesen ab und an entsprechenden, auf die Geltung oder Nicht-Geltung der Thesen bezogenen Fragen. Diese können wir dann mit den besten gegenwärtig verfügbaren argumentativen Werkzeugen angehen. Es muss also schon etwas dazu-gegeben werden, und das ist natürlich etwas anderes als die bequeme Frei-Haus-Belieferung mit philosophischen Fertigprodukten aus der historischen Truhe. Bei den gemeinten Instrumentarien handelt es sich in aller Regel um solche, die nicht irgendeiner wie aus dem Nichts hervorzaubert. Sie kommen als Resultate einer kollektiven, sehr wohl von Fortschritt geprägten Erkenntnisanstrengung zustande. Eben so etwas passiert auch in anderen Fächern wie beispielsweise in der Mathematik. Wir brauchen ja nur, um einmal vom Niveau her ziemlich hoch zu greifen, an Behauptungen zu denken, wie sie ein Pierre de Fermat (1601–1665) mit manchmal, wie es den Anschein hat, leichter Hand aufstellte; Behauptungen, die von Fermat teils am Rande seiner Ausgabe der Arithmetik Diophants vermerkt wurden und von denen insbesondere

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eine, die berühmte, sich höchstwahrscheinlich einem Begründungsirrtum Fermats verdankte. Die Zeit war damals, so würde man heute sagen, einfach noch nicht reif für eine der Größe der ehedem beinahe etwas fahrlässig aufgestellten Behauptung angemessene, tragfähige Begründung.

2. Sprach- und Moraltheorie Kommen wir nach dieser Vorrede zu philosophischen Fallbeispielen, ohne die eine in allgemeinen Termini vorgenommene Positionierung zu blass und vermutlich auch unglaubwürdig bliebe! In der sprachphilosophisch fundierten Moraltheorie des Oxford-Philosophen Richard Hare spielt die Einsicht eine erhebliche Rolle, dass wertende Prädikate wie »gut« von ihrer Semantik her in zwei Komponenten zerlegbar sind. Das eine ist ein deskriptiver Bedeutungsanteil, das andere eine rein handlungsleitende, empfehlende Bedeutungs- oder Sinnkomponente. Der deskriptive Anteil kann je nachdem, um welche Objektsorte oder um welche Art von Anwendungsfeld für das Prädikat es sich handelt, erheblich variieren. Klar, ein gutes Auto, oder spezieller noch: ein für bestimmte Zwecke gut geeignetes Auto, zeichnet sich durch etwas andere Eigenschaften aus als ein guter Wanderschuh, ein guter Schuster durch andere Eigenschaften als ein guter Mensch oder als eine bei einer bestimmten Art von Ausgangskonstellation als gut einzustufende Verteilungshandlung. Für Hares Moraltheorie und nicht nur für die seine hängt viel an dieser Einsicht: der Gedanke der Verallgemeinerbarkeit von singulären evaluativen Aussagen (»der Schuster hier gleich um die Ecke ist sehr gut« – »jeder Schuster mit Eigenschaften, wie er sie hat, ist gut«), die Konzeption von Wert-Eigenschaften als Eigenschaften, die auf Komplexen von deskriptiven Eigenschaften supervenieren. Der Zusammenhang ist dieser: Wo immer der je relevante, für eine in den Blick genommene Objekt- oder Phänomensorte im Hinblick auf die Bemessung von Güte maßgebliche Komplex von deskriptiv erfassbaren Eigenschaften vollumfänglich vorliegt oder eben nicht, da ist die an ihn geknüpfte Empfehlung jedes Mal zu erteilen oder jedes Mal zu verweigern; bloße Verschiedenheit der Eigenschaftsträger als Individuen kann kein relevanter Gesichtspunkt sein. Hat Hare sich von Aristoteles inspirieren lassen? Weiß ich nicht genau. Hätte er sich – wir sprechen hier wesentlich über Potenziale – von Aristoteles inspirieren lassen können? Mit Sicherheit ja. Wir brauchen nämlich nur an die Kritik zu denken, die Aristoteles im vierten Kapitel des ersten Buches der Nikomachischen Ethik (NE) am platonischen Theorem der Existenz einer einzigen, bereichsübergreifenden »Idee« des Guten übt; wobei der für unsere Sache einschlägige Teil der mehrteiligen von Aristoteles geübten Kritik durchaus so verstanden werden kann, dass er sich schon gegen die Existenz eines eindeutigen, sachhaltigen und zugleich bereichsübergreifenden Begriffs des Guten richtet. (Darüber hinausgehende, spezifisch ideenmetaphysische Züge der von Aristoteles angegriffenen Position der akademischen »Freunde« spielen für jenen Teil der Kritik keine wesentliche Rolle.) Das Prädikat »gut«, so sagt der abtrünnige Schüler Platons sinngemäß, kann innerhalb aller von ihm in der Kategorienlehre unterschiedenen Kategorien Anwendung finden; unter einer guten Eigenschaft – hier wäre es die Kategorie der Qualität –, wie z. B.

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unter Gesundheit oder Klugheit, ist aber etwas anderes zu verstehen als unter einem guten Zeitpunkt – das wäre die Kategorie des Wann, eventuell noch zu verbinden mit der Kategorie der Relation –, wie z. B. unter einem fürs Investieren in Oliven gut geeigneten Zeitpunkt. Bei Aristoteles selbst liest sich das folgendermaßen, mit den Worten der Übersetzung Dirlmeiers: »Ferner: Nachdem ›gut‹ in ebensoviel Bedeutungen ausgesagt wird wie ›ist‹ – es wird in der Kategorie der Substanz ausgesagt, z. B. von Gott und der Vernunft, in der Kategorie der Qualität, z. B. von ethischen Vorzügen, in der Kategorie der Quantität, z. B. vom richtigen Maß, in der Relation, z. B. vom Nützlichen, in der Zeit, z. B. vom richtigen Augenblick, in der Kategorie des Ortes, z. B. vom gesunden Aufenthalt usw. – kann ›gut‹ unmöglich etwas Übergreifend-allgemeines und nur Eines sein. Denn sonst könnte es nicht in allen Kategorien ausgesagt werden, sondern nur in einer« (NE I4, 1096 a 23–29; Übers. Dirlmeier). Die für Hare so wichtige Kernthese ist bei Aristoteles bereits da. Doch es muss etwas hinzugetan werden: Der Problemkontext und der damit verknüpfte Horizont denkbarer Folgerungen, wie ich es vorhin ausgedrückt habe, sind teilweise andere. Heute, und damals eben noch nicht, hängen an der Kernthese die durch Kant, mit anderen Konnotationen freilich, vorbereitete Verallgemeinerbarkeits-Idee und der Gedanke einer Supervenienz normativer Eigenschaften auf deskriptiven Eigenschaften.

3. Essentialismus und Modaltheorie Manchmal sind die aus der Antike potenziell rezipierbaren oder tatsächlich rezipierten Ideen auch zunächst nur, oder überwiegend, präsent als die angeblichen Verirrungen, an deren Überwindung sich philosophischer Fortschritt bemessen lasse. Und dann kommt es unter Umständen ganz anders! Ich denke hier an das von Aristoteles immer wieder mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und in der Tat vielleicht sogar leichtsinnig auf die Bühne seiner Philosophie gebrachte Lehrstück des Essentialismus und an dessen Geschicke in den philosophischen Debatten der Moderne. Essentialismus ist im Kern die These, dass akzidentielle Eigenschaften von essentiellen Eigenschaften von Individuen zu unterscheiden seien. Wir hätten also danach auf der einen Seite: Eigenschaften, welche in ihrer An- oder Abwesenheit die Identität und den Fortbestand von Individuen nicht berühren können, sondern nur unwesentliche qualitative Differenzen ausmachen würden. Während auf der anderen Seite ein etwaiger Verlust einer essentiellen Eigenschaft bei einem Eigenschaftsträger auf die Beendigung von dessen Existenz hinauslaufen würde. In einer durch den Einfluss von Willard Quine ziemlich stark geprägten Phase zumindest der analytischen Strömung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts war dieser Typus einer metaphysischen Positionierung, die bei Aristoteles eine ihrer prägnantesten Ausformungen erhalten hatte, eigentlich mehr oder weniger nur als der Morast präsent, von dem man sich bei Strafe des Versinkens gefälligst fernzuhalten habe. Und doch hatte

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Quines Aversion ihr Gutes. Mit seiner immerhin ja nicht so schlecht motivierten Infragestellung von Essentialismus und de re-Modalität hat Quine die Ansprüche nach oben geschraubt, die auf der Begründungsseite zu erfüllen wären, wenn man heute Essentialist sein will. Es wurde z. B. klar, dass man versuchen muss, auch de re-Modalität dann doch irgendwie auf Beweisbarkeiten in bestimmten Theoriesystemen zurückzuspielen. Ich kann hier wegen der Begrenztheit der für den Vortrag zur Verfügung stehenden Zeit nicht ins Detail gehen. Ich begnüge mich mit zwei Bemerkungen: Man kann erstens das, diese Zurückführung nämlich, machen. Für einen möglichen Weg: Nortmann, »Warum man Essentialist sein kann – Eine logische Konstruktion im Schnittfeld von Sprache, Ontologie und Naturwissenschaft«, 2002. Und zweitens: Die Einsicht, dass man den Essentialismus auf moderne, sozusagen Quine-feste Beine stellen kann, wird von dem allmählich bei den Interpreten sich durchsetzenden Bild flankiert, dass der modale Teil der aristotelischen Syllogistik, den man immerhin auch schon als eine »Logik des Essentialismus« apostrophiert hat (vgl. den Titel eines Buches von P. Thom aus dem Jahre 1996: The Logic of Essentialism – An Interpretation of Aristotle’s Modal Syllogistic), keineswegs der denkerische Betriebsunfall ist, als den man ihn über Jahrhunderte hinweg wahrgenommen hat. Auch hier beruht das neue Bild auf einer Anwendung von begrifflichen Instrumenten und Rechtfertigungsstrategien, die wir erst seit einigen Jahrzehnten in Gebrauch haben. Der spezielle Gebrauch davon, zu dem uns hochgradig begründungsbedürftige aristotelische Theoreme zwingen, wäre vielleicht noch lange kein Thema geworden, wenn es nicht jene besondere aristotelische Herausforderung gäbe. Es will mir allerdings selbst nicht gefallen, dass ich hier wie an verschiedenen anderen Stellen des Vortrags so vergleichsweise unkonkret bleibe, wie es nun einmal zu passieren pflegt, wenn man Dinge um der Überschaubarkeit willen partiell aus einer Art Vogelperspektive darstellen muss. Um dafür einen Ausgleich zu schaffen, werde ich ganz am Ende des Vortrags noch einmal zur Modaltheorie des Aristoteles zurückkehren und anhand eines kleinen, ziemlich speziellen Mosaiksteins daraus im Detail nachvollziehbar werden lassen, was es heißen kann, den mit einem antiken Theorem gemäß modernen Standards, der Sache nach, verbundenen Begründungspflichten nachzukommen.

4. Substanz- und Eigenschaftsdualismus Lassen Sie mich aber zunächst noch einen weniger spezialistischen Fall aus einem ganz anderen Gebiet des aristotelischen Philosophierens beleuchten. Aristoteles spricht, wie Sie vielleicht wissen, ohne Weiteres von Seelen (psychai), besonders oft natürlich in der Schrift Über die Seele, Peri psychēs, lateinisch De anima. Er spricht darüber, ohne sich in terminologischer Hinsicht größere Umstände zu machen, will sagen: Er hält sich einfach an einen substanzdualistisch geprägten Popular-Jargon seiner Zeit. »Substanzdualistisch geprägt« heißt hier: Man denkt auf der einen Seite an rein materielle Individuen (»Substanzen«), an Körper; man glaubt auf der anderen Seite von gänzlich immateriellen Individuen zu wissen, von Seelen (Seelen-»Substanzen«), die allerdings dazu fähig sein sollen, sich mit Körpern, vorübergehend, zu verbinden. Dies ist das Bild, das etwa in Pla-

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tons Phaidon über weite Strecken dominiert. Wobei sich jedoch im Phaidon auch eine Passage findet, die eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt, mehr darüber gleich (unter dem Stichwort »Stimmung von Musikinstrumenten«). Aristoteles hält sich also, sage ich, terminologisch an das Standardbild. In der Sache aber vertritt er ein entschieden anderes Bild, stoßen wir doch in der Seelen-Schrift auf Aussagen wie: »Wäre das Auge ein Lebewesen, dann wäre das Sehvermögen seine Seele« (De an. II1, 412 b 18 f.), »wie der Augapfel (also: das dem Sehen zugrunde liegende materielle Objekt; U. N.) zusammen mit dem Sehvermögen (also: mit der Funktionsfähigkeit des materiellen Objekts, mit dem funktionsgerechten Zusammenspiel seiner materiellen Teile; U. N.) das Auge ausmacht, so machen auch die Seele und der Körper das Lebewesen aus« (De an. II1, 413 a 2 f.). Man sieht: Für Aristoteles wären, würde er auf Deutsch formulieren, eigentlich »Beseeltheit« oder sogar »Lebendigkeit«, »Lebensvermögen« die sachgerechteren Wörter anstelle von »Seele«. Sachgerechter also wären für ihn Ausdrücke, die semantisch als Zustands-, Eigenschafts- oder Fähigkeitenbezeichner zu klassifizieren wären. Als Seele, oder eben besser: als Beseeltheit (oder eben noch etwas niedriger hängend, noch etwas reservierter gegenüber jeglicher Anmutung von metaphysischer Verstiegenheit: als Lebendigkeit) soll derjenige Zustand gelten, in dem das materielle Substrat eines Lebewesens mit allen seinen Teilen so konfiguriert ist, dass die für die Lebendigkeit charakteristischen Vitalfunktionen ausgeübt werden können, also in »erster Entelechie« vorhanden sind. In erster Entelechie deshalb, weil die betreffenden Funktionen ja nicht ständig alle wirklich ausgeübt werden müssen, Letzteres würde nach den von Aristoteles eingeführten Sprachregelungen den Status der »zweiten Entelechie« markieren. Zur Verdeutlichung bemüht Aristoteles an den zitierten Stellen den hilfreichen Vergleich mit dem Augapfel: Wenn beim Augapfel alles seine gute anatomisch-physiologische Ordnung hat, dann liegt die Sehfähigkeit vor, mithin die spezifische Funktionsfähigkeit eines Auges. Der philosophisch unbelehrte Standardjargon müsste, so sieht es Aristoteles, dann sogar konsequenterweise davon sprechen, dass die »Augenseele« im Auge anwesend sei. Ganz trocken kann aber Aristoteles, seiner Grund-Positionierung treu bleibend und sich gegen ein mit der Seelen-Rede leicht verknüpftes, substanzdualistisches Unsterblichkeits-Denken verwahrend, nachschieben, mit offensichtlich antiplatonistischer Stoßrichtung: »Dass nun die Seele (nämlich die so, als Zustand der Lebendigkeit aufgefasste Seele; U. N.) nicht abtrennbar vom Körper ist, das ist ja offensichtlich« (De an., 413 a 3–5). Diese Zustands-Konzeption von Seele, oder deren Formen-Konzeption (um nun auch endlich den hier einschlägigen, allgemein-ontologischen terminus technicus »Form« der aristotelischen Lehre vom Seienden zu gebrauchen, in der deutschen Version), sie liegt als Theorie-Option eigentlich schon mit Platons Phaidon auf dem Tisch. Wenn wir nämlich an jene Phaidon-Passage denken, in der diskutiert wird, ob eine sogenannte »Seele« nicht

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eigentlich auch als etwas konzipiert werden könnte, das sich analog zur individuellen Stimmung eines Musikinstruments verhielte – als einer gewissen, individuellen Zuständlichkeit des Instruments, die im Zerstörungsfall dieses physische Objekt, dessen Stimmung sie ist, nicht überdauern würde. Angesichts des Gewichts, welche diese Theorie-Option dann besonders in der StoffForm-Philosophie des Aristoteles bekommt, muss es den Philosophie-Historiker und die Historikerin eigentlich in Erstaunen versetzen, wie lang es weit noch über Descartes hinaus gedauert hat, bis funktionalistische Modelle des Lebendigseins und Modelle des Mentalen, als einer speziellen Komponente des Lebendigseins bei den Exemplaren einiger hochentwickelter Spezies von Lebewesen, die Debatten in dem in der Moderne vergleichsweise jungen Gebiet der Philosophie des Geistes zu prägen begonnen haben. Man hätte viel früher bei Aristoteles und, ja, auch bei Platons Simmias und dessen PhaidonAuftritt anknüpfen können. Wieder ist es jedoch so, dass man etwas hätte dazugeben müssen und sich nicht bequem zurückgelehnt von Aristoteles und Platon einfach bedienen lassen konnte. Willst du nämlich z. B. eine nicht von vornherein reduktionistisch ausgelegte Zustands-Konzeption des Mentalen vertreten können, so musst du auszubuchstabieren versuchen, im Kontakt übrigens mit den Ergebnissen empirisch-lebenswissenschaftlicher, auch kognitionsund informationswissenschaftlicher Disziplinen, worin derjenige Anteil der relevanten »Formung«, aristotelisch gesprochen, menschlicher Körper und Organsysteme bestehen könnte, der zu einschlägigen Leistungen des Denkens, Wahrnehmens und Empfindens befähigt; und musst dir sodann darüber Gedanken machen, ob und in welchem genauen Sinne hier eine Reduzierbarkeit auf Materielles und auf Konfigurationen von Materiellem bestehen könnte oder auch nicht. Aristoteles hat die Grundstruktur der Position vorgegeben, fassbar in Slogans wie »Seele ist Form«, »Seele ist erste Entelechie«, und das ist eine ganze Menge. Die unseren teilweise anders gelagerten Erkenntnisinteressen entsprechende Ausfüllung der Leerstellen haben wir selbst zu besorgen. Gefragt ist produktive Aneignung.

5. Nochmals: Modaltheorie Nun abschließend zurück zur Modaltheorie und einer in diesen Kontext gehörenden Detail-Behauptung des Aristoteles! Der Philosoph bringt im vierten Kapitel des Buches Theta seiner Metaphysik-Schrift mit einer den modernen, für logische Beweispflichtigkeiten sensibilisierten Leser dann doch überraschenden Leichthändigkeit die Behauptung vor: »Wenn aus der Möglichkeit von a notwendig die Möglichkeit von b folgt, so muss auch für den Fall, dass a ist, notwendig b sein« (Met. IX4, 1047 b 26. f.; Übers. Bonitz). Thematisiert wird hier eine spezielle Art des Übergangs von der Möglichkeit (Mö) zur Wirklichkeit (Wi), und diese Dinge sind ja Aristoteles’ Thema in den Kapiteln Theta 3 und Theta 4. Etwas übersichtlicher noch wird die Aussage durch moderaten Symbolgebrauch:

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(MöWi) Wenn Ma ⇒ Mb, dann auch a ⇒ b. Das sieht sehr elementar aus, ist aber nicht ganz ohne. Entsprechend argwöhnisch haben die Interpreten reagiert. Es sind Gegenargumente vorgebracht worden, und auf deren Grundlage wurde Aristoteles häufig genug für einen angeblich schwerwiegenden logischen Fehler kritisiert. Sinngemäß konnte die Kritik ungefähr folgendermaßen laufen. Ich habe, so nehmen wir einmal an, soeben einen Wurf mit einem fairen Würfel getätigt. Bin ich dann nicht in der Position zu sagen: Nun, wenn es möglich ist, dass jetzt gleich die Eins oben zu liegen kommt, dann wird es ja wohl genauso gut möglich sein, dass, sagen wir, die Drei oben liegt; dies macht ja gerade die Fairness des Würfels aus. Es klingt nach: »M(Eins oben) ⇒ M(Drei oben).« Aber niemand würde doch die Aussage vertreten: »Wenn eine Eins gewürfelt wird (jetzt), dann wird eine Drei gewürfelt (jetzt).« Hier schließt ja im Gegenteil der Antezedens-Satz den Consequens-Satz aus. Demnach haben wir im vorliegenden Fall, so könnte gesagt werden, einen wahren »wenn-dann«-Satz über Möglichkeiten, dem, entgegen der Theorem-Behauptung (MöWi), gerade kein wahrer Satz über entsprechende Aktualitäten entspricht. Es ist eine nicht völlig uninteressante Übung, sich klarzumachen, was bei Argumenten dieses Typus falsch läuft. Ich will dem aber jetzt nicht nachgehen. (Näheres dazu in Nortmann, »Against Appearances True«, 2006), sondern lieber konstruktiv sagen: Ja, Aristoteles hat Recht; wenn wir seine These ein wenig modifizieren und präzisieren. Dahingehend nämlich, dass wir uns unter den Aussagen oder Formeln, für welche die Variablen-Buchstaben »a« und »b« Stellvertreter sind, von Modalausdrücken freie Aussagen bzw., auf der Formelebene, entsprechende symbolische Formeln ohne Modaloperatoren vorstellen. Ferner müssen wir die Rede von »Notwendigkeit« in der zitierten wortsprachlichen Formulierungsvariante von (MöWi) ernstnehmen, sie dementsprechend als eine Rede von logischen Implikationsbeziehungen auffassen und dabei im »so/dann«-Teil von (MöWi) und der anderen Formulierung an normale, extensional-aussagenlogische Implikationsverhältnisse denken. Wie lässt sich unter solchen Voraussetzungen die Geltung von (MöWi) zeigen? Es gibt mehrere Beweisstrategien. Ein besonders schönes und kurzes Argument hat Kit Fine vor vier Jahren in einem in Mind publizierten Aufsatz mit dem Titel »Aristotle’s Megarian Manoeuvres« bekannt gemacht. Es geht folgendermaßen, und das ist nun eine kleine abschließende Logelei, bei der niemand die Details zu lesen braucht, der zu diesen Dingen vielleicht keinen Draht hat. Angenommen, a impliziert b nicht extensional-logisch, das heißt: Die Subjunktion a ⊃ b ist nicht aussagenlogisch allgemeingültig. Dies wiederum bedeutet, für modalfreie Formeln a und b: Es gibt eine Bewertung der in diesen Formeln vorkommenden atomaren Formelbestandteile (Satzbuchstaben) mit Wahrheitswerten von der Art, dass bei der betreffenden Bewertung a als wahr und b als falsch herauskommt. Ersetzt man nun überall da, wo bei einer solchen Interpretation einem Satzbuchstaben der Wahrheitswert wahr zugeordnet wird, diesen Satzbuchstaben gleich durch eine logisch gültige Formel und überall dort, wo mit falsch interpretiert wird,

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den betreffenden Satzbuchstaben gleich durch eine kontradiktorische Formel, so gehen a und b in Formeln a′ bzw. b′ über mit der Eigenschaft: a′ ist logisch gültig, und b′ ist logisch kontradiktorisch. Wäre nun die modale Subjunktion Ma ⊃ Mb modallogisch gültig, so müsste auch jede Einsetzungsinstanz davon modallogisch gültig sein, man hätte also insbesondere: Ma′ ⊃ Mb′ modallogisch gültig. Wegen der Gültigkeit von Ma′ (als Konsequenz aus der Gültigkeit von a′) würde folgen: Mb′ ist gültig. Dies aber ist wegen der Gültigkeit von nicht-b′ unmöglich: Es kann keine mögliche Alternativ-Welt(-verfassung) zu einer die Formel Mb′ wahr machenden Ausgangswelt geben, in der b′ den Wahrheitswert wahr erhält. Hätte Aristoteles das alles auch nur annähernd selbst so sagen können? Nein, natürlich nicht. Doch er hatte ein Argument aufzubieten, von dem bis jetzt übrigens nicht wirklich geklärt ist, wie man es auffassen soll. Dies bringt mich zu einem allgemeinen Punkt, den ich am Ende noch kurz erwähnt haben möchte. Zuweilen entfaltet das Plus an theoretischem Werkzeug, welches der heutige Analytiker und die heutige Analytikerin häufig einsetzen müssen, um einem antiken Anreger auf der Begründungsseite zu Hilfe zu kommen, auch erstaunlich produktive Wirkungen in hermeneutischer Hinsicht. Weil nämlich dann, wenn man fragt: Wie würde ich denn für eine vorgefundene, zur Diskussion stehende These unter rein systematischen Gesichtspunkten argumentieren, und lässt sich nicht vielleicht doch etwas in diese Richtung Gehendes aus dem antiken Text herauspräparieren? – weil also immer dann die Wahrnehmung für das, was in der Textquelle passiert, in einer Weise geschärft wird, dass unter Umständen Dinge entdeckt werden können, die man vorher glatt übersehen hätte. Auch hier, im hermeneutischen Geschäft, gilt nämlich: Theorie leitet Beobachtung an, und man nimmt tendenziell besonders gut das wahr, was man erwartet. So kann dann nicht nur die philosophische Systematik von Anregungen durch die Altertümer profitieren, sondern auch das von den Altertümern zu zeichnende, selbst in reiner VerstehensAbsicht zu zeichnende Bild von der je gegenwärtigen systematischen Theoriebildung profitieren. Natürlich ist bei solchen vorrangig hermeneutischen Projekten eine möglichst sensible Balance zwischen Befruchtungsversuchen von der Moderne her und zu vermeidenden Anachronismen einzuhalten. Die Fähigkeit hierzu unterscheidet die Fachfrau und den Fachmann in Angelegenheiten der Geschichte der Philosophie vom Dilettanten.

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Literatur Aristoteles: Metaphysik, übers. von Hermann Bonitz, bearb. von Horst Seidl, Hamburg 1989. – Nikomachische Ethik, übers. von Franz Dirlmeier (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung 6), Berlin 1979. – Über die Seele, übers. von Willy Theiler (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung 13), Berlin 1983. Fine, Kit: »Aristotle’s Megarian Manoeuvres«, Mind 120 (2011), S. 993–1034. Hare, Richard M.: The Language of Morals, Oxford 1952. Nortmann, Ulrich: »Warum man Essentialist sein kann – Eine logische Konstruktion im Schnittfeld von Sprache, Ontologie und Naturwissenschaft«, Erkenntnis 57 (2002), S. 1–39. – »Against Appearances True: On a Controversial Modal Theorem in Metaphysics Theta 4«, Zeitschr. f. philos. Forschung 60 (2006), S. 380–393. Platon: Phaidon, übers. von Theodor Ebert (Platon, Werke I 4), Göttingen 2004. Quine, Willard V. O.: »Reference and Modality«, in: Quine, W. V. O., From a Logical Point of View, New York 1963, S. 139–159. Thom, Paul: The Logic of Essentialism – An Interpretation of Aristotle’s Modal Syllogistic, Dordrecht 1996.

Why Should We Care about Stoic Ethics Today? Christopher Gill (Exeter)

In this essay, I offer a number of reasons why Stoic ethics merits special attention by those working on modern moral philosophy, and more attention than it generally receives. In recent decades, Stoicism, along with other theories in the Hellenistic and post-Hellenistic eras, has formed the subject of intense scholarly study by specialists, much of which has been philosophically informed.1 However – and in stark contrast with Aristotle – there has been relatively little discussion of how Stoic ethics could contribute positively to contemporary concerns in moral philosophy.2 Also, there is a general impression among scholars that Stoic ethics incorporates a number of obviously problematic features, which render Stoicism unsuitable as an interlocutor in modern ethical debates. Here, I aim to address both these points, at least in general terms. I discuss three distinctive features of Stoic ethics that seem to me to form a good basis for engagement with modern moral theory and I respond to some of the main criticisms made of these ideas. One is the claim that virtue is both necessary and sufficient for happiness. A second is the theory of ethical development, conceived as oikeiōsis, »appropriation« or »familiarisation«. A third is the linkage made between ethics and the study of nature, including universal or cosmic nature as well as human nature. I also consider a number of objections sometimes made to these Stoic ideas. These include the criticism that the Stoic normative »wise person« is an unachievable ideal, that their conception of ethical development assumes an implausible account of human emotions, and that their world-view, and the linkage made between nature and ethics, cannot be taken seriously today. Although some of these objections were also made (and answered) in antiquity, my focus is on removing potential obstacles to taking Stoic, along with Aristotelian, ethics as a significant contributor to modern moral theory. This discussion responds to a number of factors in current philosophy. From the start of the revival of modern forms of virtue ethics and eudaimonism, Aristotle has tended to be taken as the paradigm for this style of moral theory, even though there have often been calls to widen the circle of those examined closely from this standpoint.3 Stoicism,

Julia Annas: The Morality of Happiness, Oxford 1993, is an outstanding example. Lawrence Becker, A New Stoicism, Princeton 1998, is exceptional in advocating a modern version of Stoic ethics. Daniel Russell, Happiness for Humans, Oxford 2012, assesses the respective value of Stoic and Aristotelian ideas of happiness for modern concerns, but favours the Aristotelian approach. Martha Nussbaum, Upheavals of Thought, Cambridge 2001, maintains a version of Stoic cognitive psychology (chs. 1–2), but criticises Stoic ethics (ch. 7). I argue here for a more comprehensive adoption of Stoic ethical theory than any of these studies. There has been much recent discussion of Stoicism as a support for modern practical ethics and psychotherapeutic guidance, but much less in connection with modern moral philosophy. 3 See G. E. M. Anscombe: »Modern Moral Philosophy«, in: Philosophy 33 (1958), p. 1–19; Alasdair 1 2

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I think, is an obvious candidate for this role. Although several salient features of Stoic ethics evoke Aristotelian thinking, they also go further than Aristotle in ways that have a particular interest for contemporary moral thought. For instance, the key Stoic thesis on virtue and happiness provides a better basis for engagement with the modern view of moral claims as overriding than the equivalent Aristotelian position. Aristotle has often been commended by modern virtue ethicists for coupling ideas about normativity with a credible view of human psychology and ethical development. Some modern thinkers have also welcomed his attempt to locate ethics in a broader picture of human nature. These are all lines of enquiry on which the Stoics offered substantial and innovative ideas, and ones that can be seen as pressing Aristotelian moves further than Aristotle himself.

I Virtue-happiness Relationship The Stoics, like Aristotle and most other ancient theories, assume that happiness (eudaimonia) constitutes the highest human good and goal of aspiration, and interpret this notion in objective terms, as a form of »flourishing«, even if it carries with it subjective connotations. However, they are distinctive, in ancient ethics, in taking an explicitly »hard« stance on the question of the relationship between virtue and happiness, maintaining that virtue (aretē) is both necessary and sufficient for happiness. This claim is also formulated as being that virtue is the only good thing, whereas things other than virtue often considered good, such as health, property and the welfare of one’s family and friends, are »matters of indifference« (adiaphora), by comparison with virtue, even if such things are also naturally »preferable« (proēgmena).4 Aristotle’s position on this question, in the Nicomachean Ethics, for instance, is more complex or ambivalent. Although he initially defines happiness in terms of virtue (1.7, 1098a16–18), he subsequently adds further specifications for happiness, including »an adequate supply of external goods« and »a complete life«, while still placing greatest weight on virtue (1.10, 1101a14–16). In Hellenistic and post-Hellenistic debate, the Stoic position was sometimes presented as extreme or incoherent. For instance, Sceptical thinkers argued that it made no sense to present the goal of life as »appropriate selection« between indifferents (one way of formulating the Stoic view), and not to acknowledge that indifferents were goods and that they made a substantive contribution to happiness. Later Aristotelian thinkers also tended to argue that happiness depended on a combination of virtue and external goods and that the Stoic position was unrealistic. In Cicero’s set-piece debate on this question in On Ends Books 3–5, the Stoic position is pitted against a compromise view (the Platonic-Aristotelian position of Antiochus), according to which virtue is necessary and sufficient for the happy life but that the happiest life needs a combination of virtue and external goods.5 MacIntyre: After Virtue, London 1981, chs. 9–18; Bernard Williams: Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985, ch. 3; Rosalind Hursthouse: On Virtue Ethics, Oxford 1999, ch. 4. 4 See Anthony Long and David Sedley: The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1987 (=LS, references are normally to sections and paragraphs), 58, 60. 5 See LS 64, Robert Sharples: Peripatetic Philosophy 200 BC to AD 200, Cambridge 2010, ch. 18; also

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From a modern standpoint, the Stoic thesis seems much less outlandish than these ancient critics suggest. The idea that moral claims are overriding, in relation to other claims, is a widespread one in modern thought. Influential statements of this view include the Kantian thesis that moral demands are categorical, rather than hypothetical, and the Utilitarian thesis that actions or rules which maximise the benefit of the greatest number should have priority over other actions or rules. Contemporary exponents of these positions, such as Christine Korsgaard, from a Kantian standpoint, or Derek Parfit, from a Utilitarian one, have offered further arguments for the overriding nature of moral claims.6 Against this background, the Stoic thesis that virtue has a value which is substantively different from things such as health and property, in comparison with which they are »matters of indifference« (LS 58), seems much more reasonable. The position of Aristotle and his later supporters, by contrast, seems either ambivalent or problematic. The Kantian and Utilitarian positions are not, of course, framed in terms of virtue and (the agent’s own) happiness; and the grounds on which they present moral claims as overriding are not those which underlie the Stoic thesis on the relationship between virtue and happiness. None the less, the Stoic position represents a better starting-point than the Aristotelian one for anyone constructing a modern account of virtue ethics that aims to meet the expectation that moral claims should be treated as overriding. A related aspect is Stoic thinking on the relationship between practical and contemplative wisdom. Aristotle’s view on this topic has often seemed problematic to modern scholars on two grounds. One is that Aristotle’s explicit preference for contemplative, rather than practical, wisdom, as the expression of the highest possible human happiness, in NE 10.7–8, runs counter to what strikes modern thinkers as an appropriate moral stance. This is especially so since he explicitly links practical wisdom with other-benefiting actions (1178a9–14). A second ground for concern is that this preference, even if not formally inconsistent with his account of the virtue-happiness relationship in 1.7 (and 1.8–10), fails to match the predominant focus in the Nicomachean Ethics on the interconnected themes of ethical virtue and practical wisdom. Analogous, if not quite identical, concerns have been aroused by Plato’s presentation of the attitude of his ideal philosopher-rulers to returning to the »cave« of political involvement in Republic 7, 519c–521a. Although attempts have been made to interpret Aristotle’s stance (and Plato’s), in ways that render it more compatible with modern moral attitudes, it remains an obstacle to engagement between ancient and modern ethical approaches.7 The Stoic position is not wholly uncomplicated, but it is prima facie more in line with modern moral thinking. The Stoics reject or avoid the Platonic-Aristotelian distinction between practical and contemplative wisdom, maintaining that »wisdom«, without qualiJulia Annas: Morality, chs. 18–21; Russell: Happiness, part 1; Brad Inwood: Ethics after Aristotle, Cambridge, MA 2014, chs. 3–4. 6 Immanuel Kant: Groundwork, Prussian Academy edition, vol. 4, 421–3; John Stuart Mill: Utilitarianism, ed. Geraint Williams, London 1993, 7. See also Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996; Derek Parfit: Reasons and Persons, Oxford 1984. 7 See Christopher Gill: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, Oxford 1996, 287–307, 370–83; Nicholas White: Individual and Conflict in Greek Ethics, Oxford 2002, 198–211, 244–64.

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fication, can be exercised equally in both spheres. Wisdom always involves theory in some sense, though not necessarily that of systematic philosophy, and it is also actually or potentially directed at living well in practice. The wise person will normally exercise wisdom in familial, interpersonal and communal involvement, even if some circumstances may make a more detached (and, in conventional ancient terms, »contemplative«) life more appropriate. An indication of their view is their selection of possible candidates for ideal wisdom, including philosophers famous for expressing their theory in action, such as Socrates and Diogenes the Cynic, and, more surprisingly, heroic figures such as Heracles and Odysseus.8 As with the virtue-happiness question, there is scope for further debate about how far Stoic thinking on this topic matches what we moderns would see as an ethically acceptable conception of wisdom – and, of course, about what this conception should be. However, the Stoic position constitutes, I think, a more suitable starting-point for this inquiry than the Aristotelian (or Platonic) one. As noted earlier, the Stoics differ from Aristotle in arguing, explicitly and unequivocally, that virtue is necessary and sufficient for happiness or the human good (whereas Aristotle’s position is more ambivalent); they also offer extensive support for this claim.9 By contrast, despite presenting happiness as »an activity of the psyche in accordance with virtue« in NE 1.7, 1098a16–17, Aristotle, perhaps rather oddly, does not mount an explicit argument for this thesis. The famous function-argument (1097b22–1098a18) only establishes that a proper definition of human happiness must reflect the distinctively human capacity for rationality and does not elaborate the claim about virtue. However, the Stoics do address this point, both by formal arguments and by considerations which support their thesis. In broad outline, their view is that the life according to virtue is the best possible life for a human being to lead, both for the person concerned and in her relationships with others. Supporting arguments include the claim, adopted from Plato, that virtue is the only thing that benefits consistently, whereas the other so-called goods (Stoic »indifferents«), such as health and property, may or may not confer benefit.10 A related Stoic line of thought is that virtue, and only virtue, confers on the person concerned (on her understanding, character, actions and mode of relationship) the kind of order, coherence and wholeness that they see as key markers of »goodness«, at both the human and cosmic level. This claim depends on their view that the virtues form a unified or interentailing set of forms of understanding that make someone’s personality and life structured and complete in a way that is otherwise impossible. Stoics also maintain that having this kind of structured personality brings with it qualities such as psychological beauty, a »good flow of life«, and certain affective states (the »good emotions« or eupatheiai), that are secondary markers of happiness.11 See Thomas Bénatouïl and Mauro Bonazzi (eds.): Theoria, Praxis and the Contemplative Life after Plato and Aristotle, Leiden 2012, 8–9, also 75–117. See also Christopher Gill: The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2006, 388–9. 9 See text to n. 4. 10 See Plato Euthydemus 278e–281e, Diogenes Laertius 7.103, taken with Anthony Long: Stoic Studies, Cambridge 1996, 23–32; also Cicero, On Ends 3.27–9, LS 60, 63. 11 See LS 61, 63 A, 65 F; also Gill: Structured Self, 150–7. 8

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There is one aspect of this line of thought that is especially worth noting, since it gives rise to one of the standard objections to Stoic thought that I aim to counter. A well-marked feature of much ancient ethical thought is the idea that the virtuous person is, to an exceptional degree, psychologically unified, harmonised or cohesive, and that this cohesion contributes significantly towards her happiness or eudaimonia. This claim is central to Plato’s Republic, where it is couched in terms of the relationship between the three parts in the psuchē (conventionally translated »soul«). This idea figures prominently in Aristotle too, for instance, in the form of the claim that the virtuous person takes pleasure in her own virtuous activity (that is, she acts virtuously in a full-hearted and engaged way), and in the distinction between »temperance« (sōphrosunē) and »self-control« (enkrateia).12 The Stoics take this line of thought furthest, in that they do not accept the validity of the Platonic-Aristotelian distinction between parts of the soul (that is, between distinct and independent sources of motivation). The Stoic ideal is a psychological condition in which virtuous beliefs and reasoning (more precisely, »knowledge« or »wisdom«) inform the personality as a whole, including emotions and desires, without remainder. The shaping of the personality by ethical development towards wisdom carries with it freedom from (misguided) passions (pathē) and the emergence of (well-judged) »good emotions« (eupatheiai); as just noted, the wise person’s happiness is partly constituted by this fact.13 I discuss shortly why this feature of Stoic thought might be of special interest for modern ethical thought. First, however, I consider a common objection to Stoic thinking on emotions. In antiquity, especially from a Platonic-Aristotelian standpoint, and sometimes also in modern thought, the Stoic theory has sometimes been criticised as narrowly intellectualistic. The assumption seems to have been that the Stoics, in focusing on beliefs, simply ignored the subjective, affective and psychophysical dimension of emotions. In fact, they do recognise these dimensions. The core Stoic claim in this area is that emotions, including these dimensions, are, in adult human beings, shaped by beliefs, like other features of adult human psychology.14 This claim brings the Stoic view close to the cognitive theory of emotions, which forms a significant strand in current thinking. Martha Nussbaum, in a major study of this topic, presents her own version of the cognitive theory as Neo-Stoic, based on a selective application of the Stoic approach. As she points out, the Stoic-style cognitive approach is also compatible with, at least, some recent neuro-scientific work on psychology, especially that of Antonio Damasio. Damasio stresses the strongly integrated character of human psychological processes, rather than the idea that there are distinct (rational and emotional) psychophysical sectors of

Plato, Republic 441c–445b, 588b–591e, Aristotle, NE 1102b26–8, 1104b3–13, 1151b34–1152a6; also Gill: Personality, 245–60. 13 See LS 53, G-S, 65 B-H, 63 L-M. See Gill: Structured Self, 219–25, 249–64 (which also discusses the psychic division that results from failure to develop properly); Margaret Graver: Stoicism and Emotion, Chicago, 2007, 48–59. 14 See Tad Brennan: »Stoic Moral Psychology«, in: Brad Inwood (ed.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge, 2003, 260–74; Gill: Structured Self, 248–9; Graver: Stoicism and Emotion, chs. 1–2. 12

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activity.15 A related point is that CBT (cognitive and behavioural therapy), a widely used modern psychotherapeutic method, often presupposes a (Stoic-style) cognitive approach to emotions.16 So, arguably, this aspect of Stoic thought, rather than being problematic, offers special opportunities for engagement with salient strands in modern psychological thought. How might the Stoic position on virtue and happiness, including their ideas on the psychological cohesion of the virtuous person, contribute to modern ethical thinking? As regards Kantian and Utilitarian thought, the happiness of the agent herself has not, typically, been regarded as inherently important, nor has moral motivation been defined, standardly or necessarily, in terms of virtue, but, rather, in terms of the application of the Categorical Imperative or the maximisation of others’ happiness. Of course, the modern revival of virtue ethics and eudaimonism has given ancient thinking on virtue and happiness (and on psychological cohesion) a renewed significance. Also the features of Stoic thinking noted earlier (the presentation of virtue as the only good and the avoidance of the practical-contemplative split) render the Stoic account of the virtue-happiness relationship more compatible with modern moral thinking. It is also worth noting that the revival of virtue ethics has prompted more general interest in such ideas, at least among Kantian thinkers. It has been pointed out that Kant gives a significant role to the idea of virtue, while still placing greater stress on the Categorical Imperative. Korsgaard, in her version of Kantianism, goes further still in this direction; her recent study of »selfconstitution« embraces much ancient thinking on ethical character-formation as a basis for moral motivation, and gives a salient role to the agent’s happiness, if grounded on Kantian-style moral autonomy. Korsgaard draws for this purpose mainly on Platonic and Aristotelian ideas; but I think that, for the reasons already given here, Stoic thinking would suit her approach even better. This kind of approach is still, I think, foreign to Utilitarian thought. Although Parfit’s recent work marks a rapprochement of sorts with Kantian thinking, this is centred on defining reasons for action and on universalization, and not on the motivation or character-structure underlying moral reasoning.17 However, I think the points already made show that Stoic thinking on virtue and happiness and on psychological cohesion, including their ideas about the emotional life of the virtuous person, forms more promising material for engagement with contemporary ethics than is generally appreciated.

15 See Nussbaum: Upheavals, chs. 1–2, esp. pp. 114–19 on Antonio Damasio: Descartes’ Error, London 1994; also Christopher Gill: Naturalistic Psychology in Galen and Stoicism, Oxford 2010, 335–46. 16 More precisely, this is a feature of the »cognitive« strand in CBT. See Donald Robertson: The Philosophy of Cognitive-Behavioural Therapy (CBT), London 2010, ch. 1, esp. pp. 5–7, James Herbert and Evan Forman (eds.): Acceptance and Mindfulness in Cognitive Behavior Therapy, Hoboken 2011, 268–9; also 26–56. 17 See Stephen Engstrom and Jennifer Whiting (eds.): Aristotle, Kant, and the Stoics, Cambridge 1996; Nancy Sherman: Making a Necessity of Virtue, Cambridge 1997, ch. 4, Christine Korsgaard: Self-Constitution, Oxford 2009, chs. 6–7. See also Derek Parfit: On What Matters, vol. 1, Oxford 2011, chs. 12–17.

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II Ethical Development (oikeiōsis) Stoic thinking on ethical development, conceived as »appropriation« or »familiarisation« (oikeiōsis) was recognised in antiquity as another distinctive and innovative feature of their ethical thought; and it is one that is also important for the present question. Ethical development, in its more advanced stages, was sometimes subdivided by Stoic writers between the progressive understanding of value, on the one hand, and the deepening of interpersonal and social relationships, on the other. The first strand was seen as leading from the instinctive attraction of human beings to external goods such as health and property towards the recognition that only virtue has absolute or unqualified value or goodness. The second strand was seen as leading from instinctive affection for those one loves, especially one’s children, towards a more rational and generalised desire to benefit fellow-members of the community and, in principle, any other human being, though without negating the value of loving care for one’s own family and community. These two strands were seen as interdependent and mutually supporting.18 Other distinctive features of this theory are that this process of ethical development is a natural one, not imposed by society, and that all human beings as such are constitutively capable of carrying through these two kinds of development to their conclusion, even if, in practice, this occurs very rarely. Ethical development of this kind is also seen as a necessary preliminary for the achievement of the psychological cohesion that forms part of the character of the virtuous (and thus happy) person. A renewed focus on ethical development has formed a key part of the modern revival of virtue ethics and eudaimonism. Thinkers such as MacIntyre and Williams stressed that, as well as accentuating moral motivation and grounds or reasons for acting well, ethical theory needed also to consider the social and psychological processes by which moral motives were formed and reasons for acting well came to be seen as compelling. Aristotelian ethical theory was commended for underlining the importance of developing ethical dispositions, including an emotional or affective inclination to act virtuously, as well as emphasising the importance of a social framework for enabling this process.19 Plato’s Republic also includes in its complex argument an elaborate two-stage programme of ethical development, correlating psychological, social and epistemological aspects.20 Among modern thinkers outside the virtue ethics movement, Korsgaard, as just noted, draws on Platonic and Aristotelian ideas about ethical development to support her (Kantian inspired) account of ethical »self-constitution«. What reasons might modern thinkers have for giving special attention to Stoic thinking on this topic, as distinct from that of other ancient theories?

18 See LS 59 D and 57 F; also Brad Inwood: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, ch. 6, Annas: Morality, 159–79, 262–76, Gretchen Reydams-Schils: The Roman Stoics, Chicago 2005, ch. 2, Gill: Structured Self, 145–66. 19 MacIntyre: After Virtue, ch. 12; Williams: Ethics, ch. 3. 20 On this programme of ethical education and modern interpretations of this, see Gill: Personality, 260–87.

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Some reasons follow from points already made. The outcome of the first (personal) strand of ethical development is the recognition of virtue, uniquely and on its own, as the proper objective of human aspiration, an idea that fits well with the modern view that moral claims should be seen as overriding. The outcome of Stoic ethical development, in both strands, is the achievement of wisdom, seen as the basis both for correct practical action and theoretical understanding. In Plato’s Republic, as Plato himself accentuates, complete ethical development leads to a motivational conflict, or at least tension, between the claims of practical and contemplative wisdom. A similar tension is underlined in Aristotle NE 10.7–8, though it is not there linked so closely with the process of development.21 In both respects, the Stoic view on ethical development is closer to modern approaches and thus a more useful potential contributor to modern thought. Also, there are a number of suggestive aspects in the second, interpersonal and social, strand of development. One is that Stoic theory presents the motive to benefit others of one’s kind as a primary, instinctive one, parallel to self-preservation, which is presented as a primary instinct in the first strand.22 This point applies to animal motivation generally, though Stoics see this instinct as giving rise to distinctively human (rational) expressions of this motive. This feature bears directly on an important crux in the relationship between ancient and modern versions of ethical theory. »Moral« motivation and action, in modern thought, tends to be specified as that which benefits others, not oneself, whereas ethical virtue, in ancient thought, is not restricted in the same way, and is seen, in various ways, as benefiting oneself as well as others. When ancient approaches are examined more closely, this difference may appear less marked than it does initially. Julia Annas, especially, has brought out the extent to which most of the main ancient theories »find room for other-concern« and offer strategies for correlating other-concern with self-concern, at a deep level. 23 Even so, the difference of outlook is not entirely erased. However, the distinctive Stoic move of presenting other-benefiting motivation as a primary human (and animal) motive, and of conceiving other forms of social relationship as expressions of this motive, goes furthest, I think, in bridging this conceptual gap. Two other aspects of Stoic thinking on the social strand are also suggestive for this purpose. One is the fact that the Stoics, exceptionally among ancient theories, present ethical concern for any given human being as such (and not just those to whom we are closely related) as one of the proper outcomes of ethical development.24 Stoic thinking on the idea of the »brotherhood of humankind« has often been noted, and has given rise to debate about how far this prefigures modern ideas about »human rights«. A second aspect of Stoic thought (at least in certain periods of antiquity) is also worth considering in this connection. Stoics present both involvement in family and communal life and recognition of the brotherhood of humankind as appropriate outcomes of this side of development, and also explore, in various ways, the question how these two outcomes are to be squared 21 22 23 24

See text to n. 7. See LS 57 A and F; also Annas: Morality, 275–6. Annas: Morality, chs. 11–13. See LS 57 F(3–8), G-H; also 67 A, K-L, also Annas: Morality, 265–75, 302–11.

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with each other.25 This aspect of their theory has a special interest in the modern context, where we too are conscious of the potentially competing claims of local and global or universal bonds. This dimension of Stoic thought merits closer attention than it has yet received, in part with a view to gauging whether their insights can inform analogous current concerns. A further distinctive feature of Stoic thinking on this topic (though partly shared with Epicureanism) is that all human beings are seen as being constitutively capable of undertaking this process of development. As they put it, »all human beings have the startingpoints of virtue« (LS 61 L, LS translation modified); and, in principle, they are all capable of completing the progress to wisdom, even if this is very rare. This, seemingly extreme or radical, claim is supported by other aspects of Stoic thinking. These include the belief that all humans have the in-built capacity to form certain core concepts, such as that of »good«, which are fundamental for ethical development. They also include the strongly unified or holistic view of human psychology, outlined earlier, according to which changes in belief and understanding, of the kind involved in ethical development, directly affect emotions and desires, without any need for separate training of non-rational parts of the soul, since there are no such parts.26 There is a marked contrast with certain Platonic and Aristotelian ideas on this subject, which were also influential on later ancient thinkers such as Plutarch and Galen. According to this competing view, complete ethical development depends on the combination of a specific kind of inborn nature, a specific kind of family and communal upbringing (which provides the »habituation« of emotions and desires), and, based on these two factors, a specific kind of intellectual education. One indication of the difference lies in Aristotle’s belief, indicated in NE 3.5, that at a certain point in one’s life, ethical development is no longer possible, even if one sees the need for it. This is, presumably, because ethical defects have become habituatively ingrained in the non-rational part of one’s personality, and thus prevent change, a phenomenon whose possibility is denied in the Stoic framework.27 Why is this feature of Stoic thinking of special interest in the modern context, and, specifically, in connection with moral theory? In the first instance, the existence of this ancient debate is of interest as a basis of comparison with analogous modern issues. The question of »nature versus nurture« is, of course, a widespread topic of modern debate in various contexts, including discussion of moral capacities and the development of moral attitudes. Perhaps the closest parallel to the ancient debate just outlined is the question whether the »demandingness« that is sometimes seen as characteristic of morality is compatible with the widespread view that moral actions and attitudes can be expected – or required – in all adult humans. This question can arise, and can be formulated, in terms of a number of modern moral theories. For instance, in both Kantian and Utilitarian 25 See LS 57 F, 67 K, Cicero On Duties 1.11–12, 50–9. See also Christopher Gill: Marcus Aurelius, Meditations Books 1–6, Oxford 2013, xliv–xlvi, noting earlier treatments. 26 See Gill: Structured Self, 132–4, 137–45, 178–82, Graver: Stoicism and Emotion, ch. 7. 27 Aristotle, NE 3.5, 1114a3–21, esp. 9–10. On this contrast, and debate between the two ancient approaches, see Gill: Structured Self, 130–8, 231–2, 415–21, Naturalistic Psychology, 159–62, 257–8, 261–2.

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frameworks, the ideal of altruism is presented as a highly demanding one, but one whose force people in general can and should be expected to recognise.28 The Stoic position is of special interest in this connection, since here too, while the ideal advocated (wisdom) is exceptionally rigorous, it is presented as one that all human adults as such are capable of developing towards. The existence of the ancient debate may be of special interest for those aiming to evolve and defend modern versions of virtue ethics and eudaimonism. Critics of this approach sometimes argue, for instance, that the expectation that people in general will develop ethical virtues, as distinct from simply acting in line with moral rules or principles, is unrealistic or, in a sense, élitist. The Stoic view might help to support counterarguments, centring on the claim that the capacity to become virtuous is universal, even if development towards complete virtue is, necessarily, a long and rigorous process. Another criticism sometimes made of virtue ethics is that this approach presupposes the existence of a social context in which people are brought up in a way that enables the development of the virtues; but that this context is often lacking in modern life, or perhaps at any time.29 The Stoics claim that human beings have the capacity to develop the virtues in any social context; and, to the extent that this claim is seen as valid, it offers a response to this criticism. It is worth considering at this point one of the standard ancient objections to Stoic ethics. This is that, while presenting the wise person as the ethical norm, Stoics also underline the radical distinction between wisdom and »foolishness«, which is the absence of wisdom and the condition of virtually all of us. The remoteness of the wise person is also underlined by Stoic caution about claiming that any given person, such as the early heads of the Stoic school, has achieved wisdom (though this claim is sometimes made or implied regarding some non-Stoics such as Socrates or the heroes Heracles and Odysseus).30 Criticisms of this kind might seem to cast doubt on the value of the Stoic idea of ethical development as a contribution to contemporary ethical debate. I think two main points can be made in response. One is that these criticisms overstate the difference between Stoic and other ancient ethical theories. For instance, from Plato onwards, Socrates occupies an analogous »wise person« role in the Socratic tradition and Epicurus does so in the Epicurean movement. In their case too, while they are presented as paradigms for ethical aspiration, there is also stress on their exceptional character, raising the question how far their followers can in fact meet those standards. Aristotle’s ethical approach is sometimes supposed to be more pragmatic in this respect. However, he too operates with an ideal ethical norm, the phronimos, or person of practical wisdom;31 and one can raise similar questions about how far Aristotle supposes that this norm can be realised fully in practice. More broadly, we can suggest that, in a virtue-ethics framework, an ideal norm See Thomas Nagel: The Possibility of Altruism, Princeton 1970, part 3, and Parfit: On What Matters, vol. 1, part two (correlating Kantian and Utilitarian views of altruism). 29 Macintyre’s advocacy (After Virtue, ch. 18) of a revived virtue ethics under modern conditions has sometimes been criticised on this ground. 30 See René Brouwer, The Stoic Sage, Cambridge, 2014, ch. 3. See also n. 8 here. 31 See Timothy Chappell: »›The Good Man is the Measure of All Things‹«, in: Christopher Gill (ed.): Virtue, Norms and Objectivity, Oxford 2005, p. 233–55. 28

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of this kind plays a structural or functional role. The norm serves as a way of characterising, in an ideal form, the kind of virtues taken in any given framework, as the target of ethical aspiration and development. The important question is not so much whether this target can actually be reached (in full) but what kind of virtues are being commended for aspiration by means of the normative ideal, whether Socratic, Aristotelian, Stoic or Epicurean, for instance.32 The previous comments on the question of moral »demandingness« highlight the point that this feature is not one that is entirely confined to virtue ethics. The demands of rational altruism can sometimes be presented as so absolute and extreme that the question can arise how achievable this ideal actually is – even if it is presented as normative for everyone. In short, I think it is much less clear than is usually supposed that the Stoics are especially vulnerable on this point and that this invalidates what is in several other ways a highly suggestive contribution to modern thinking on ethical development.

III Ethics and Nature The third and final topic considered here is Stoic thinking on the relationship between ethics and the understanding of nature, including universal or »cosmic« nature. Ethical naturalism, in one sense or another, is a pervasive feature of ancient ethics; and, as noted earlier, the ideas of human (and divine) nature play a significant role in Aristotle’s ethical thought.33 However, this is another topic on which the Stoics go further than Aristotle. This is so, partly because the idea of nature is more firmly and systematically embedded in their ethical framework. For instance, the goal of human life is standardly formulated as the »life according to nature«; »preferable indifferents« such as health and property are characterised as things »according to nature«; and the process of ethical development, conceived as »appropriation« (oikeiōsis) is presented as a natural one for human beings to carry out.34 Also, by contrast with Aristotle, the universe (cosmos), or nature as a whole, is presented as in some sense normative for human beings; »bringing yourself into line« with cosmic nature, or with its directing and shaping reason, is one way of formulating the goal of human life.35 In a related move, Stoics maintain that physics (study of nature), along with dialectic or logic, carries a major significance for ethics, and that philosophical understanding (or wisdom) consists in an integrated grasp of these three branches of knowledge and their interconnection.36 Why should one consider this strand of Stoic thought of special interest for modern moral philosophy? Ethical naturalism of any type was regarded as highly suspect for a considerable period in modern moral philosophy, and it still plays little role in contemporary Kantian and Utilitarian approaches. Modern virtue ethics has sometimes been 32 The structural role of aspiration in virtue ethics is brought out clearly by Julia Annas: Intelligent Virtue, Oxford 2011, 22–5, 54–7. 33 See Aristotle, NE 1.7, 10.7–8. 34 See LS 63 A-C, 58 C-D, 57 A, F. 35 LS 63 C(3–4). 36 LS 26 A-E, 60 A.

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more open to the idea that accounts of virtue and happiness could be coupled with, or framed by, an account of human nature; Philippa Foot represents a clear example of this approach.37 On this point, as on others, Aristotle has often been taken as the prototype; but Stoicism offers a more comprehensive expression of this idea. Also, there are a number of factors in contemporary thought that have made the question of the relationship between ethics and nature a much more pressing one. These include developments in research physics and biology, along with practical or technological innovations in surgery, biomedicine and neuroscience; another factor of a different kind is climate change, of which human action is the major cause. These factors have generated a whole series of modern enquiries on the interface between scientific research and the humanities and social sciences, including bioethics, medical ethics, environmental ethics, evolutionary psychology and ethics. In this new intellectual context, the Stoic move of addressing directly the relationship between ethics and the study of nature seems much more relevant to modern concerns. The focus of most modern moral theory on purely human concerns provides a less suitable basis for engaging with this area. However, there may seem to be a number of possible objections to pursuing this line of thought. One problem is that the recent scientific developments just noted make it difficult to embrace the Stoic conception of human nature and the universe. Hence, Lawrence Becker, who, in general, advocates a modern version of Stoicism, sets aside entirely their thinking on the ethical significance of cosmic nature.38 This problem does not seem to me to be insuperable. I see no objection to adopting the general form of the Stoic approach, while presupposing our own (modern) conception of nature. However, another difficulty is that the Stoic approach, in its general form, may strike us as philosophically naïve, in its view of the relationship between nature and ethics. For instance, some evidence suggests that Stoics saw physics as foundational for ethics, and maintained that patterning ourselves on cosmic nature constitutes an effective way of framing the goal of a human life.39This might be seen as an example of what Bernard Williams criticises as a (philosophically questionable) form of »Archimedean« foundationalism, in which thinkers seek to ground ethics from outside, for instance, on the basis of a scientific account of nature (usually, human nature).40 A third difficulty is that there is currently no general agreement about how, exactly, to interpret Stoic thinking on the relationship between ethics and nature or, put differently, between physics and ethical theory. Some scholars have accentuated the Stoic evidence which suggests that physics is in some sense foundational for ethics, while others have stressed that the branches of knowledge in Stoicism are relatively autonomous, even if they are mutually informing.41 This debate raises complex questions See Philippa Foot: Natural Goodness, Oxford 2001, also Anscombe, »Modern Moral Philosophy«; on the more cautious views of MacIntyre and Williams on this point, see Gill: Personality, 430–43. 38 Becker: New Stoicism, introduction. 39 See LS 60 A, 63 C(3–5). 40 Williams: Ethics, ch. 2. 41 See Gill, Structured Self, 145–66, reviewing a range of positions. See also Julia Annas: »Ethics in Stoic Philosophy«, Phronesis 52 (2007), 58–87, and Brad Inwood: »Why Physics?«, in Ricardo Salles (ed.): God and Cosmos in Stoicism, Oxford 2009, 201–23. 37

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that cannot be dealt with fully here. However, I think it is possible to outline a view on the best way of interpreting the Stoic position, and at the same time to defend them from the charge of being philosophically naïve on this topic. Indeed, I think one can see their approach as being one we moderns might want to adopt or, at least, explore. In my view, the Stoic position is not – at least not simply – that the principles of ethics are grounded on physics and on the conception of nature this provides. Rather, the Stoics maintain that all three main branches of knowledge are consistent and mutually supporting.42 More precisely, what one might call »Big Picture« physics, ethics, and logic (all understood in a broad sense) are mutually supporting, even though each of these branches of knowledge also have their own distinct subject matter and internal organisation and their detailed elaboration is conducted separately. Hence, what is involved is not so much a matter of grounding ethics on physics (or physics on ethics), but recognising substantive ways in which each branch of knowledge can support and inform each other. A further prerequisite is that the person drawing comparisons between the branches of knowledge needs to have expertise in both areas (or all three areas, if the three branches are integrally linked). When the comparisons relate to ethics, there is, I think, a further prerequisite. This is that the person concerned should have developed ethically to the point where she understands the significance of the relevant ideas »from the inside«, that is, in a way that involves her character, motivation and practice, and not simply at a theoretical level. If this view of the Stoic position is correct, it would not be appropriate to describe it as philosophically naïve, in the sense that it consists in seeking to ground ethics, from the outside, on the principles of physics, in an »Archimedean« fashion, to re-use Williams’ terms. Rather, what is involved is correlating the understanding of analogous notions in different areas in a way that reinforces their use in any given area.43 I offer a brief illustration of their view, as I interpret it, and indicate why this might be of special value for modern thought. When Stoics recommend taking universal or cosmic nature as a norm, they have in view especially two ideas, which are relevant for one or both of the two strands in ethical development. One is that of order, structure and cohesion; the other is that of providential care.44 To make full sense of what it means to take nature as a norm in this way, there are at least four prerequisites. One is that one should understand, from one’s knowledge of physics, the grounds for claiming that universal nature does, indeed, exhibit these characteristics.45 Another is that one should understood, from one’s knowledge of ethics, why these ideas are significant in ethics and why they function there as key principles. Also, one needs to be able to recognise what constitutes and justifies the connections being made between these two branches of knowledge. Further, one needs to have developed – »from the inside« – an understanding at the level of See LS 60 A and 26 A-E. See Gill: Personality, 430–43, Structured Self, 161–6; also Gill: »The Stoic Theory of Ethical Development« in: Jan Szaif and Matthias Lutz-Bachmann (eds.): Was is das für den Menschen Gute?/What is Good for a Human Being? Berlin 2004, 101–25. 44 On order, and the first strand in »appropriation«, see LS 59 D(3–4), taken with Gill: Structured Self, 146–8, 150–9; on providential care and both strands in development, see LS 57 A(1), D-F. 45 See LS 54 for Stoic defence of this view (which was strongly contested by ancient critics). 42 43

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character and practice of what it means for these principles to have this kind of centrality in ethical life.46 If this is correct, it is clear that the Stoic view of the prerequisites of this state of knowledge is exceptionally rigorous. But, by the same token, it is free from the kind of philosophical naïveté considered earlier. Why, finally, should the Stoic view, as interpreted here, be of interest for modern ethical thought? Primarily, this is because it sets out requirements which any attempt to make connections of this kind might reasonably be expected to meet. It is not crucial, for the validity of this point, that the connections be exactly the same as those made in Stoicism. What matters is that the epistemological conditions should be applicable both in Stoicism and in modern thought. Hence, in modern analogues of the Stoic move of taking cosmic nature as, in some sense, ethically normative, we should be entitled to demand the same prerequisites. However, it has sometimes been claimed that in examples of evolutionary psychology or ethics, for instance, these standards are, strikingly, not being met. It is claimed that the account of the psychological motivation or ethical principles allegedly explained by reference to evolutionary formation is defective. This is either because the ethical principles are analysed in a simplistic or reductive way, or because the connections drawn between motivation or ethical principles and the evolutionary background are tenuous or speculative or in some other way fall short of being credible.47 Whether or not these criticisms are justified, it is clear that the linkage sometimes drawn between the findings of modern science (evolutionary research) and ethics or psychology has striking parallels with the linkage drawn in Stoicism between physics and ethics. Hence, I suggest, it is worth examining a sophisticated ancient treatment of these topics (the Stoic treatment) to see whether it contains methodological insights that may be of value to contemporary debate. So, in this area, as well as the two others considered here, I think that, overall, we have good reason to care about Stoic ethics, and to do so rather more than we generally do. 48

46 Stoic writings such as Epictetus’ Discourses and Marcus Aurelius’ Meditations give us an insight into what this involves: see Gill: Marcus Aurelius, xxxii–xxxiv, lxiii–lxxiv. 47 For criticisms of this type, see (on evolutionary psychology), John Dupré: Human Nature and the Limits of Science, Oxford 2001, (on evolutionary ethics), Mary Midgley: The Solitary Self: Darwin and the Selfish Gene, Durham 2010. 48 I am grateful for the insightful responses of the participants at the Münster congress to the paper given there; also to Christof Rapp for his advice on how best to revise the paper; and to Philipp Brüllmann for exceptionally helpful discussion of the third topic dealt with here (ethics and nature), on which he is preparing a book. I am also most grateful for the support of a Leverhulme Emeritus Fellowship, which enabled the research and the composition of this paper.

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Literature Annas, Julia: The Morality of Happiness, Oxford 1993. − »Ethics in Stoic Philosophy«, in: Phronesis 52 (2007), p. 58–87. − Intelligent Virtue, Oxford 2011. Anscombe, G. E. M.: »Modern Moral Philosophy«, in: Philosophy 33 (1958), p. 1–19. Becker, Lawrence: A New Stoicism, Princeton 1998. Bénatouïl, Thomas and Bonazzi, Mauro (eds.): Theoria, Praxis and the Contemplative Life after Plato and Aristotle, Leiden 2012. Brennan, Tad: »Stoic Moral Psychology«, in: Brad Inwood (ed.): The Cambridge Companion to the Stoics, Cambridge, 2003, p. 260–74. Brouwer, René, The Stoic Sage, Cambridge, 2014. Timothy Chappell: »›The Good Man is the Measure of All Things‹«, in: Christopher Gill (ed.): Virtue, Norms and Objectivity, Oxford 2005, p. 233–55. Damasio, Antonio: Descartes’ Error, London 1994. Dupré, John: Human Nature and the Limits of Science, Oxford 2001. Engstrom, Stephen and Whiting, Jennifer (eds.): Aristotle, Kant, and the Stoics, Cambridge 1996. Foot, Philippa: Natural Goodness, Oxford 2001. Gill, Christopher: Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy, Oxford 1996. − »The Stoic Theory of Ethical Development« in: Jan Szaif/Matthias Lutz-Bachmann (eds.): Was is das für den Menschen Gute?/What is Good for a Human Being? Berlin 2004, p. 101–25 − The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2006. − Naturalistic Psychology in Galen and Stoicism, Oxford 2010. − Marcus Aurelius, Meditations Books 1–6, Oxford 2013. Graver, Margaret: Stoicism and Emotion, Chicago, 2007. Herbert, James/Forman, Evan (eds.): Acceptance and Mindfulness in Cognitive Behavior Therapy, Hoboken 2011. Hursthouse, Rosalind: On Virtue Ethics, Oxford 1999. Inwood, Brad: Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985. − »Why Physics?«, in Ricardo Salles (ed.): God and Cosmos in Stoicism, Oxford 2009, 201–23. − Ethics after Aristotle, Cambridge, MA 2014. Korsgaard, Christine: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. − Self-Constitution, Oxford 2009. Long, Anthony: Stoic Studies, Cambridge 1996. Long, Anthony/Sedley, David: The Hellenistic Philosophers, Cambridge 1987 (=LS). MacIntyre, Alasdair: After Virtue, London 1981. Midgley, Mary: The Solitary Self: Darwin and the Selfish Gene, Durham 2010. Mill, John Stuart: Utilitarianism, ed. Geraint Williams, London 1993. Nagel, Thomas: The Possibility of Altruism, Princeton 1970. Nussbaum, Martha: Upheavals of Thought, Cambridge 2001. Parfit, Derek: Reasons and Persons, Oxford 1984. − On What Matters, vol. 1, Oxford 2011. Reydams-Schils, Gretchen: The Roman Stoics, Chicago 2005.

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Robertson, Donald: The Philosophy of Cognitive-Behavioural Therapy, London 2010. Russell, Daniel: Happiness for Humans, Oxford 2012. Sharples, Roberts: Peripatetic Philosophy 200 BC to AD 200, Cambridge 2010. Sherman, Nancy: Making a Necessity of Virtue, Cambridge 1997. White, Nicholas: Individual and Conflict in Greek Ethics, Oxford 2002. Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985.

Sollte man den Platonismus wohlwollend interpretieren? Philosophische Historiographie und das Prinzip der wohlwollenden Interpretation Jan Opsomer, Leuven (Internal Funds KU Leuven)

Wer zur Geschichte des Platonismus forscht, macht es sich nicht immer leicht. In einer überwiegend analytischen philosophischen Landschaft ist, von den antiken Philosophen, Aristoteles salonfähiger als Platon. Darüber hinaus hat der antike Platonismus genau diejenigen Elemente aus Platons Dialogen übernommen, die heutzutage von vielen als philosophisch verdächtig empfunden werden, während er die interessanteren Aspekte zu vernachlässigen scheint. Denn was in der zeitgenössischen mainstream Platonforschung so gerne betont wird, nämlich das Dialogische oder auch das Sokratisch-Aporetische und die damit scheinbar einhergehende Vermeidung des Dogmatischen, werden in der platonischen Tradition nahezu ausgeklammert. Platoniker fragen nicht bzw. suchen nicht, sie lehren. Der Sokrates der Dialoge Platons ist dagegen ausdrücklich kein Lehrer. In der Schule Plotins wurden Meinungsverschiedenheiten offenbar nicht zum Gegenstand eines sokratischen Gesprächs gemacht, sondern dadurch gelöst, dass die Schüler den Auftrag erhielten, in einer Schrift die falsche Auffassung zu widerlegen. Wie Hirzel es in seiner Geschichte des Dialogs formuliert: »Wenn sich ja einmal im Kreise Plotins ein Widerspruch regte, der zu einer Disputation hätte führen können, so veranlasste er statt dessen eine schriftliche Polemik über den Fall und unterdrückte so geflissentlich den Keim einer dialogischen Erörterung, die einen Nachhall auch in der Literatur hätte finden können […]. Man hätte sich deshalb von den scheinbaren Spuren sokratischen Dialogs in Plotins Schriften nicht sollen täuschen lassen: Selbsteinwürfe und ihre Beantwortung gehörten längst zum Inventar der Rhetorik […].« (Hirzel 1895, 360; vgl. Porph. VP 15 u. 18) Nur die hellenistischen Akademiker und einige wenige spätere Platoniker sind dem sokratisch-aporetischen Geist treu geblieben. Sie sind sogar die ersten in der Geschichte der abendländischen Philosophie gewesen, die den Skeptizismus konsequent entwickelt haben. Sie werden in der Platonismusforschung jedoch meistens nicht unter dem Nenner Platonismus gefasst. Meistens wird Platonismus durch seinen systematisch-dogmatischen Charakter definiert, infolge dessen die skeptischen Akademiker abseits stehen. So fängt H. Dörrie sein Opus Magnum damit an, den Platonismus als ein »philosophisch-religiöses Gedankengebäude« zu bestimmen.1 Als Anfangsdatum des Platonismus wird deshalb Heinrich Dörrie/Annemarie Dörrie: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus. Bausteine 1–35: Text, Übersetzung, Kommentar (Der Platonismus in der Antike. Grundlagen – System – Entwicklung, Band 1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 3. 1

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das erste vorchristliche Jahrhundert genannt. Luzidität kann dem Autor nicht abgesprochen werden, wenn er eingesteht: »Der Platonismus ist nicht als Ganzes Philosophie; wohl ist er ›ganzheitliche Weltsicht‹, aber in dem Sinne, daß wichtige Stücke religiös, nicht philosophisch begründet sind.«2 Daraufhin listet Dörrie dreißig ›Leitsätze‹, bzw. Kerndoktrinen auf, denen jeder Platoniker sich verpflichtet wissen sollte und die zusammen ein System bilden.3 Von den meisten Forscherinnen und Forschern wird allerdings die Idee eines überzeitlichen Systems als nicht tragfähig empfunden. Im Allgemeinen ist nicht ganz klar, was einen Philosophen zu einem Platoniker macht, wenn nicht das rein formale Merkmal der Loyalität gegenüber Platon und die von ihm ausgehende Tradition. Denn während von der Extension her der antike Platonismus ziemlich wohl umrissen ist – wenn man die skeptischen Akademiker außer Betracht lässt –, ist die Intension des Begriffes etwas weniger klar. Gerade weil Platons überlieferte Werke so wenig systematisch sind, ist die Vielfalt in der Tradition so ausgeprägt. Was aber zum Fundus großer Teile der platonischen Tradition gehört, ist der zeitgenössischen Philosophie durchaus weniger sympathisch: die Annahme eines transzendenten Bereichs, der tendenziell immer größer, vielschichtiger und hypertranszendenter wird, ein ausgeprägter Leib-Seele-Dualismus, die Lehre der Unsterblichkeit der Seele und die damit einhergehende Seelenwanderungslehre, eine Eschatologie mit einer retributiven Bestrafung der Seele,4 die Annahme der Existenz merkwürdiger Zwischenwesen wie Dämonen, Heroen und Engeln, eine an Magie grenzende theurgische Praxis, ein starrer Scholastizismus, und nicht zuletzt die unsäglich langen und wortreichen Abhandlungen zu einem Prinzip, das nach Aussage der Platoniker eigentlich unsagbar und unfassbar ist. Dieses Profil dürfte für die meisten Philosophen nicht sofort attraktiv sein, mit Ausnahme derjenigen, die sich gerne in ihrer religiösen Weltsicht bestätigt wissen und dazu Unterstützung aus einer geistesverwandten Strömung erhoffen – nicht sosehr weil man dort bessere Argumente findet, sondern weil man von jeder Autorität profitieren möchte. Für viele Kolleginnen und Kollegen stellt sich somit nicht die Frage, ob man den Platonismus wohlwollend interpretieren sollte, schon gar nicht, da sie die Frage, ob man den Neuplatonismus überhaupt zur Kenntnis nehmen und interpretieren sollte, verneinend beantworten. Dieser leider verbreiteten, aber meist unausgesprochenen Ansicht möchte ich entschieden, dennoch vielleicht nicht mit den üblichen Argumenten, entgegentreten. Meines Erachtens gibt es gute Gründe, den Platonismus zu studieren. Und wenn man ihn studiert, sollte man ihn wohlwollend interpretieren, denn jede Interpretation dieses Namens würdig setzt das Prinzip der wohlwollenden Interpretation (PwI, principle of charity) voraus. Was dieses Prinzip generell beinhalten könnte, werde ich in diesem Beitrag untersuchen. Wie ich argumentieren werde, kann man sich der Philosophiegeschichte auf mehrere legitime Weisen annähern. Das PwI sollte je nach Zielsetzung und

Ebd., S. 11. Ebd., S. 16–32. 4 Auch korrektive und kollektiv- wie individualpräventive Strafauffassungen werden durchaus von mehreren Platonikern vertreten. 2 3

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Methode differenziert werden. Dementsprechend kann auch der antike Platonismus auf vielfache Weise zu einem legitimen Forschungsgegenstand gemacht werden.

Vom Antiquitätensammler bis zum Philosophen So vielfältig wie die gegenwärtige philosophische Landschaft ist, so vielfältig ist auch ihre Geschichte, das Objekt der philosophischen Historiographie. Das Prinzip der Vielfältigkeit gilt ebenso für die Herangehensweisen, die methodischen Verfahren, die Standards und die Zwecke des Studiums der Philosophiegeschichte. Die Frage, ob das Studium der Philosophiegeschichte bzw. die philosophiehistorische Forschung für die Gegenwartsphilosophie von Bedeutung ist, kann und soll keine einfache und eindeutige Antwort erhalten. Einige, inhaltlich wie methodisch zu bestimmende, Teilbereiche der Gegenwartsphilosophie dürften aus der Vergangenheit einen wie auch immer bestimmbaren Nutzen ziehen, andere nicht. Umgekehrt gilt auch, dass gewisse Teile der reichhaltigen Philosophiegeschichte mit Gewinn in bestimmte Gegenwartsdebatten eingebracht werden könnten, während das für andere nicht der Fall wäre. Letzteres bedeutet nicht automatisch, dass diese Bereiche der Philosophiegeschichte für die Gegenwartsphilosophie keinerlei Nutzen haben können: Sie haben lediglich keinen direkten Nutzen, könnten aber indirekt bereichernd sein.5 Zudem gilt, dass das, was heute unbrauchbar ist, morgen eine Verwendung finden könnte. Wenn die Philosophiegeschichte eines lehrt, dann ist es wohl die Relativität oder Kurzlebigkeit dessen, was als uninteressant gilt, wohingegen das, was als interessant gilt, diesen Anspruch manchmal auf etwas längere Zeit behalten mag. Solch eine Hoffnung dürfte einen Grund darstellen – zugegebenermaßen einen nicht ganz überzeugenden –, auch das Unzeitgemäße zu erforschen. Aber auch wenn keine, oder keine direkte, Hoffnung besteht, dass ein bestimmter Philosoph, eine Theorie oder sogar eine Epoche bald von Bedeutung für eine aktuelle philosophische Debatte sein wird, so lohnt es sich doch meistens, diese zu erforschen, wäre es nur aus antiquarischem Interesse. Dass eine solche Beschäftigung für das Leben ›nachtheilig‹ sein könnte, wie Nietzsche behauptet, ist wohl sehr unwahrscheinlich. Seit Nietzsche hat das antiquarische Interesse einen schlechten Ruf, auch bei denen, die sonst Nietzsche als Philosophen kaum schätzen, und trotz der Tatsache, dass dieser Hammerphilosoph auch Schätzenswertes im Antiquarischen zu erkennen vermag.6 Während

5 Gary Hatfield, »The History of Philosophy as Philosophy«, in: Tom Sorell/Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 92: »Some historically oriented methodologies do repudiate criticism. Their aim is simply to understand. This attitude is often accompanied by a historicist outlook—the belief that the philosophy of each age is (or should be seen as) simply an expression of the culture of the time, having no significance except as evidence about our past thought. Such an outlook is more common among intellectual historians than historians of philosophy. Even so, such an attitude does not rule out all philosophical uses for history of philosophy […].« 6 S. Hans-Johann Glock: »Analytic Philosophy and History: A Mismatch?«, in: Mind 117.468 (2008), Abschnitt 5.

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Nietzsche das Antiquarische mit dem Bewahrenden und Verehrenden gleichsetzt,7 plädiere ich dafür, einen neutraleren Begriff des Antiquarischen zu verwenden und die Verehrung vom Studium der Philosophiegeschichte fern zu halten – wenngleich zahlreiche Platonforscher und Platonforscherinnen sich der Ehrfurcht vor der alten Weisheit nicht entziehen können. Selbstverständlich heißt Bewahren nicht das bloße Horten, das passive Ansammeln alten Gedankenguts. Wegen der Überlieferungsprobleme, der sprachlichen Entwicklungen, der Übersetzungsproblematik, der sich ständig ändernden Rahmentheorien und nicht zuletzt einfach der Unterbestimmtheit historischer Texte wegen bedeutet Bewahren stets auch Rekonstruieren.8 Dies ist eine respektable Beschäftigung, die breite historische Kenntnisse, ausgeprägte hermeneutische Fähigkeiten und ein gewisses Maß an Scharfsinn erfordert. Somit geht die in diesem Sinne verstandene antiquarische Beschäftigung mit Philosophen aus der Vergangenheit – eine Historie die nicht ›mumisirt‹, sondern ›conservirt‹, um noch einmal mit Nietzsche zu sprechen9 – über das Darbieten des Überlieferten hinaus. Allein schon die streng philologische Arbeit tut mehr als Instandhaltung. Stark vereinfachend kann man sagen, dass sie versucht, den bestmöglichen Text aus einer komplexen Überlieferung herauszudestillieren, oder mittlerweile auch mehrere Überlieferungsschichten und -etappen darzustellen, ohne dabei je den Anspruch erheben zu dürfen, den Wortlaut des Originals rekonstruieren zu können. Aber die antiquarische Historikerin der Philosophiegeschichte ist nicht nur eine Philologin – sie braucht allerdings auch diese Kenntnisse –, sondern versucht auch, Quellen zu ermitteln, Traditionslinien zu bestimmen, gedankliche Zusammenhänge wieder herzustellen und Texte zu interpretieren. Eine solche Rekonstruktion versucht ferner auch, die historische Plausibilität, die inhaltliche Konsistenz eines Textes, und die innere Konsistenz eines Denksystems zu gewähren. Diese Tätigkeiten sind allerdings von dem zu unterscheiden, was man gemeinhin die philosophische Historiographie der Philosophie nennt. Selbstverständlich ist nicht jede Beschäftigung mit der (Geschichte der) Philosophie auch selbst philosophisch. Die philosophische Betrachtung der Philosophiegeschichte bedient sich der Ergebnisse der antiquarischen Forschung, lässt sich aber nicht auf sie reduzieren. Kennzeichnend für die philosophische Historiographie ist die Bedeutung der Wahrheitsfrage. Der Kern dieser Unterscheidung, wie Christof Rapp es in einem methodologischen Aufsatz betont hat,10 liegt in dem Unterschied zwischen, einerseits, dem ErFriedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schrifte 1870–1873 (Kritische Studienausgabe, 1), Kritische Studienausgabe herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München – Berlin/New York 1988, S. 258 u. 265. S. ebenfalls Catherine Wilson: »Is the History of Philosophy Good for Philosophy?«, in: Sorell/Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 67; Glock: Analytic Philosophy and History, S. 889. 8 John Cottingham: »Why Should Analytic Philosophers Do History of Philosophy?«, in: Sorell/Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 39. 9 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, S. 268, Z. 5. 10 Christof Rapp: »Der Erklärungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der AristotelesInterpretation«, in: Marcel van Ackeren- Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen. Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 178f. Vgl. Anthony Kenny: »The Philosopher’s History and the History of Philosophy«, in: Sorell/Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 22; Glock: Analytic Philosophy and History. 7

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mitteln, welche Gründe ein Denker aus der Vergangenheit hatte, um das, was er oder sie für wahr hielt, für wahr zu halten, und, andererseits, dem Überprüfen der Wahrheit und der Richtigkeit einer Auffassung. Kurzum, die zwei Typen entsprechen dem Unterschied zwischen den Gesetzen des Wahr-Seins und denen des Für-Wahr-Haltens. In der philosophischen Historiographie der Philosophie ginge es somit darum, eine Auffassung darzustellen und sie auf ihre Wahrheit bzw. Richtigkeit zu untersuchen. Dabei ist es üblich, die von den Vorgängern angeführten Gründe zu evaluieren, was oft zu einem Urteil über den Vorgänger führt, genau so wie es üblich ist, Kolleginnen und Kollegen aus der Gegenwart zu beurteilen. Es geht in der philosophischen Historiographie aber nicht nur um die philosophische Wahrheit. Insofern es nämlich nur um die philosophische Wahrheit geht, macht es weder etwas aus, welche Auffassung der Vorgänger genau vertreten hat, noch, welche Gründe er oder sie dafür gelten ließ bzw. explizit anführte. Wer diese Fragen außer Acht lässt, zieht die Geschichte nur noch zu heuristischen Zwecken heran: Es geht dann nur darum, möglichst viele Positionen zu überzeitlichen oder zumindest transepochalen Fragestellungen als Vorbereitung auf die eigene Analyse zu sammeln. Diese Herangehensweise bedient sich zwar der Geschichte, ist aber im Kern ahistorisch. Auch ohne die letztgenannte Betrachtungsweise gibt es eine ziemlich große Bandbreite im Studium und in der Verwendung der Philosophiegeschichte, ausgehend von dem von rein antiquarischen Interessen geleiteten Ansatz über Zwischenstufen bis zum philosophischen Studium der Philosophiegeschichte. An sich sind alle diese Ansätze legitim.11 Probleme entstehen meines Erachtens vor allem dann, wenn man entweder die unterschiedlichen Methoden und Ansätze miteinander vermischt, ohne sich darüber im Klaren zu sein; oder wenn man die eigenen Zwecke und methodologischen Voraussetzungen nicht klar zum Ausdruck bringt; oder wenn man den eigenen Ansatz zum einzig richtigen oder wertvollen erklärt und den anderen die Berechtigung abspricht. Ich betrachte die Vielheit der Annäherungsweisen als komplementär und die unterschiedlichen Methoden als Alternativen, die einander manchmal ergänzen können und nicht miteinander rivalisieren, weil sie nicht den gleichen Zweck zu erreichen versuchen. Wettbewerb gibt es lediglich auf institutioneller Ebene, wenn es um die Zuweisung von Stellen, Forschungsgeldern und peer reviewing geht.

No Apologies Philosophen braucht man nicht davon zu überzeugen, dass die philosophische Geschichte der Philosophie interessant ist, vorausgesetzt man kann zeigen, dass diese genuin philosophisch ist. Eine philosophische Betrachtung der Philosophiegeschichte ist schlechthin Philosophie, d. h. eine ihrer vielen Subdisziplinen, die zudem Schnittmengen mit anderen Für ein Plädoyer zugunsten des antiquarischen Ansatzes, s. Daniel Garber: »What’s Philosophical about the History of Philosophy?«, in: Sorell/Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 129. 11

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philosophischen Subdisziplinen hat. Aber auch die antiquarische Erforschung der Philosophiegeschichte ist intrinsisch wertvoll und bräuchte sich vor der Philosophie nicht zu legitimieren. Genauer gesagt ist das Legitimierungsbedürfnis weder größer noch wesentlich verschieden von dem der anderen philosophischen Teildisziplinen oder von dem der anderen Geisteswissenschaften. Dass sie sich in Zeiten von knappen Ressourcen institutionell behaupten muss, ist eine andere Frage, die bildungspolitisch entschieden wird. Das antiquarische Interesse hat die philosophische Historiographie mit anderen historischen Wissenschaften gemein. Man kann empirisch feststellen, dass es einem kulturellen Bedürfnis entspricht.12 Historiker und Historikerinnen der Philosophie befinden sich in einer privilegierten Zwischenposition, die es ihnen ermöglicht, aufgrund philosophischer sowie historischer Kompetenzen, unterschiedlich geartete Forschungslinien zu entwickeln. Dabei ist es wichtig, verschiedene Zwecke und Methoden klar voneinander zu trennen, und die jeweiligen Voraussetzungen und Methoden eindeutig zu benennen.

Erklärende oder rechtfertigende Gründe? In der oft zitierten und für seine Generation wohl programmatischen Einleitung zu seinen Essays in ancient philosophy13 versucht M. Frede, eine klare Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Ansätzen herauszuarbeiten und das Eigentümliche der philosophischen Herangehensweise herauszustellen. Grundsätzlich könne man eine philosophische Auffassung unter zwei Gesichtspunkten betrachten: entweder als eine Auffassung, der man zugetan sein könnte, oder als eine Auffassung, der irgendjemand tatsächlich zugetan war. In dem ersten Fall könne man untersuchen, ob diese Auffassung richtig oder falsch sei und welche Gründe man haben könnte, sie zu akzeptieren; man interessiere sich aber nicht für die Frage, welche Personen sie unter welchen Umständen gebilligt haben; im zweiten Fall interessiere einen genau die Frage, warum ein gewisser Denker diese oder jene Auffassung gehabt hat, unter der Voraussetzung allerdings, der genannten Auffassung könne zudem aus intrinsischen Gründen eine gewisse Bedeutung beigemessen werden.14 Historiker der Philosophie interessieren sich laut Frede vor allem für diese zweite Fragestellung. Will man die Auffassung eines Philosophen15 verstehen, solle man nach den Gründen fragen, die er für diese Auffassung anführt bzw. anführen könnte, d. h. die Gründe, die man den Vorgängern auf plausible Weise zuschreiben kann. Schließlich sei die Philosophie ein rationales Unterfangen, für das das Angeben von Gründen von entscheidender Bedeutung ist. Cottingham: Why Should Analytic Philosophers Do History of Philosophy?, S. 41. Michael Frede: »Introduction: The Study of Ancient Philosophy«, in: Ders. (Hg.) Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, S. ix–xxvii. Frede beginnt seinen Text mit der Bemerkung »Ancient philosophy can be studied in many ways« und betont dabei: »The different approaches have to be carefully distinguished and kept distinct« (S. ix). 14 Frede: Introduction: The Study of Ancient Philosophy, S. x. 15 Da von keiner antiken Platonikerin Texte überliefert sind, beschränke ich mich im weiteren Verlauf des Beitrags zwecks Personenbezeichnungen auf die grammatikalisch männliche Form. 12 13

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An dieser Stelle bringt M. Frede eine einschlägige Unterscheidung an.16 Philosophen fragen nicht nur, welchen Grund ein anderer Philosoph für eine bestimmte Auffassung hatte, sondern vor allem, ob er einen guten Grund für diese Auffassung hatte. Fredes Unterscheidung lässt sich vielleicht genauer als Unterscheidung zwischen erklärenden und rechtfertigenden Gründen verstehen. Auch wenn dem historischen Denker kein rechtfertigender Grund zugänglich war, könnte es einen solchen noch immer geben. Mit der Unterscheidung zwischen faktischen Gründen und guten Gründen bringt M. Frede ein normatives Element ins Spiel. Zudem verschärft er die Unterscheidung mit der Forderung, dass dasjenige, was als gut gelten soll, nicht nach den Maßstäben der historischen Akteure, sondern nach unseren Maßstäben gemessen werden soll. Bei der Suche nach guten Gründen wird unterstellt, dass Philosophen aus der Vergangenheit rechtfertigende Gründe für ihre Auffassungen hatten. Damit wird den Vorgängern ein großes Wohlwollen entgegengebracht. Der Vertrauensvorschuss wird dadurch legitimiert, dass man bestimmte Philosophen für bedeutend hält: »One reason why we study the thought of great philosophers with such care would seem to be precisely this, that we trust that in many cases they had good reason to say what they did, although, because of limitations in our understanding, we do not readily understand it.«17 Das Unterstellen von guten Gründen hat somit eine heuristische Funktion: Weil wir wissen, wonach wir suchen, werden wir es auch leichter finden. Mit dem Hinweis auf die als wichtig betrachteten Philosophen bestätigt Frede den normativen Charakter des hier angewandten Philosophiebegriffs. Es handelt sich dabei ohne Zweifel um eine weit verbreitete Annahme, die direkt mit der Kanonisierung verbunden ist. Insofern sie sich als fruchtbar erweist, ist sie auch pragmatisch gerechtfertigt.18 Nun ist es aber so, dass die Philosophiegeschichte vieles enthält, was nicht zum Kanon gehört. Man hört gelegentlich sogar ein Bedauern hinsichtlich einiger Philosophen, dass überhaupt etwas aus ihrer Feder überliefert ist. Heutzutage bekleidet ein Großteil der platonischen Tradition nur einen marginalen Platz in den Handbüchern. Andererseits enthält die Geschichte aufgrund ihrer Breite ein großes Potential an Ressourcen, das in der Zukunft irgendwann mal fruchtbar gemacht werden dürfte. Der philosophische Kanon hat zwar einen relativ stabilen Kern, kennt aber ebenfalls ständige Entwicklungen, Schwerpunktverschiebungen sowie Ausweitungen. Zudem ist er je nach Tradition (sprich analytisch vs. kontinental) und Teilbereich verschieden. In seinem Aufsatz verweist Frede auf die damals – d. h. Ende der achtziger Jahre – boomende Erforschung der während längerer Zeit vernachlässigten hellenistischen Philosophie und prophezeit, dass ein ähn-

Frede: Introduction: The Study of Ancient Philosophy, S. xi. Ebd., S. xi. 18 Vgl. Pascal Engel: »Aristote et la philosophie contemporaine de l’action«, in: Jules Vuillemin (Hg.): La philosophie et son histoire (L’âge de la science. Lectures philosophiques, 3), Paris 1990, S. 273; Garber: What’s Philosophical about the History of Philosophy?, S. 145. 16 17

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licher Aufschwung der Forschung im Bereich des spätantiken Platonismus bevorstünde.19 Dieses Aufblühen hat es tatsächlich in den letzten Jahrzehnten gegeben.

Kanonisierung und PwI Bei der Suche nach adäquaten Gründen wird oft auf das PwI verwiesen.20 Häufig fühlen Philosophiehistoriker und Philosophiehistorikerinnen sich dazu berufen, für ihre Vorgänger den Anwalt zu spielen, »der für seinen Mandanten das Beste herauszuholen versucht«21, insbesondere wenn die zu rettenden Vorgänger kanonisch sind. Was »das Beste« ist, wird meistens nicht erläutert.22 Diese Art schonenden Wohlwollens wird übrigens eher den Philosophen, die man von vornherein als wichtig erfährt, entgegengebracht, was auf zirkuläre Weise zu einer Bestätigung ihrer Größe führt. Wird man aber einem Vorgänger gerecht,23 wenn man ihm eine Auffassung zuschreibt, die er nicht gehabt hat, die aber besser ist als die, die er tatsächlich vertreten hat? Meiner Meinung nach sollte dies immer anhand der jeweiligen Zielsetzung bestimmt werden. Konkret besteht das aufzubringende Wohlwollen faktisch oft darin, dass den beliebten Philosophen aus der Vergangenheit nur diejenigen Annahmen zugeschrieben werden, die man selber für vertretbar hält.24 Im Bereich der antiken Philosophie bedeutet das z. B., dass Platon keine Auffassung zugeschrieben werden darf, die zum Mystizismus tendiert, wie z. B. eine intuitionistische Erkenntnistheorie. Sogar Plotins Mystizismus wurde vehement abgestritten. So werden Platon und die Platoniker zu Philosophen, die sich nur auf die Ratio stützen, und so ist Aristoteles oxoniensis von religiös anmutenden Aspekten gereinigt.25 Zudem sind aufgrund der Unbestimmtheit der Quellen oder auch der Unsicherheit der Überlieferungslage in vielen Fällen mehrere Rekonstruktionen möglich. Oft tendieren die philosophisch Forschenden in diesen Fällen dazu, die philosophisch plausiblere der historisch plausibleren Erklärung vorzuziehen. Der Wahrheit dient diese Verfahrensweise nicht immer, insbesondere wenn die historische Plausibilität der philosophischen Salonfähigkeit weichen muss, ohne dass das Ziel einer bestimmten Rekonst-

Frede: Introduction: The Study of Ancient Philosophy, S. xviii, xx–xxi. Wilson: Is the History of Philosophy Good for Philosophy?, S. 74; Glock: Analytic Philosophy and History, S. 889–890. 21 Dorothea Frede: »Platons Essentialismus – ein hoffnungsloser Fall von Anachronismus?«, in: van Ackeren/Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen, S. 130. Vgl. Jorge E. Gracia: Philosophy and its History. Issues in Philosophical Historiography (SUNY Series in Philosophy), Albany 1992, S. 254. 22 Kenny: The Philosopher’s History and the History of Philosophy, S. 13–24, beschränkt die Anwendung des PwI auf die internal exegesis. 23 Vgl. Frede: Introduction: The Study of Ancient Philosophy, S. xiii: »The kind of study that tries to do philosophical justice to ancient philosophy.« 24 Manchmal wird diese Verfahrensweise zu aus historischer Sicht besseren Deutungen führen. Vgl. Glock: Analytic Philosophy and History, S. 869: »Proper analytic historiography makes not just for better philosophy, but also for better history.« 25 Engel: Aristote et la philosophie contemporaine de l’action, S. 267 u. 273. 19 20

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ruktion klar benannt wird: Geht es um historische Genauigkeit oder eher um philosophische Tauglichkeit? Neuplatoniker, mit denen ich mich vorwiegend beschäftige, genießen unter Philosophinnen und Philosophen keinen guten Ruf. Die Erwartung ist gerade, dass es sich um Schwärmer und Irrationalisten handelt, und zum Teil trifft dies auch zu. Allerdings lassen sich auch hier philosophisch interessante Theorien bzw. Theoriestücke, deren Geltung nicht auf für uns unakzeptablen Voraussetzungen beruht, isolieren. Dies gilt zum Beispiel für die Kategorienlehre, für die Analyse von Eigenschaften, oder, was vielleicht überraschend erscheint, für eine Theorie menschlicher Kreativität. Von ihrer Ethik sowie politischen Philosophie sollte man sich jedoch fern halten, es sei denn, man möchte eine Spezialethik für Mönche entwickeln. Um die interessanten Theoreme erstens überhaupt verstehen und zweitens für Nicht-Spezialisten verständlich darstellen zu können, ist allerdings eine kontextualisierende Untersuchung zunächst unumgänglich.26 Auch auf indirekte Weise kann das Studium dieser philosophischen Schule, sogar ihrer abstruseren Aspekte, fruchtbar sein, unter anderem weil es in bestimmten Punkten ein besseres Verständnis der älteren Philosophen ermöglicht. Schließlich ist ein besseres Verständnis der »history of philosophy without any gaps«27 an sich wertvoll. Es ist wichtig, diese Zielsetzungen nicht durcheinander zu bringen und die jeweiligen Forschungsmethoden nach ihnen auszurichten. Es ist meines Erachtens völlig legitim, einen gegenwärtigen Philosophiebegriff und einen gegenwärtigen Rationalitätsbegriff an die Geschichte der Philosophie anzulegen, aber weniger akzeptabel, aufgrund dieser Begriffe Werturteile auszusprechen, bei denen diese Einschränkungen vergessen werden (»gemessen an diesem oder jenem Begriff von Rationalität ist X als guter/schlechter Philosoph zu bezeichnen«), und illegitim, den eigenen Philosophie- oder Rationalitätsbegriff für zeitlos und allgemeingültig zu halten.

Differenzierung des PwI D. Charles ist einer der wenigen Philosophiehistoriker, der das PwI sowohl genauer bestimmt als auch mit einer genauen Zielsetzung, c.q. einem Studium der aristotelischen Handlungstheorie im methodischen Rahmen des philosophical scholarship (was er sowohl vom traditional classical scholarship als auch von original speculation unterscheidet) verbindet.28 Sich von Davidsons Theorie der Bedeutung, entstanden aus Überlegungen zur radikalen Interpretation, inspirieren lassend betont Charles, vermeiden zu wollen, die eigenen Annahmen unabsichtlich auf die Vergangenheit zu projizieren.29 Das PwI erlaube Dabei ist der Kontext selber kein Gegebenes: Er soll zusammen mit dem zu erforschenden Text rekonstruiert werden. Vgl. Yves Charles Zarka: »The ideology of context: uses and abuses of context in the historiography of philosophy«, in: Sorell/Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, S. 147–159. Ein ähnliches Problem trifft übrigens auch auf die Gegenwartsphilosophie zu. 27 Der Titel eines erfolgreichen Podcasts von Peter Adamson. 28 David Charles: Aristotle’s Philosophy of Action, London 1984, S. 2 f. 29 Wilson: Is the History of Philosophy Good for Philosophy?, S. 74: »Donald Davidson’s principle 26

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es, dem Autor in einer gewissen Textstelle einen aus einer anderen Stelle stammenden begrifflichen Apparat zuzuschreiben, wenn als Ergebnis dieses Verfahrens die Textstelle plausible philosophische Theorien darbietet und ungültige Argumente sowie andere offensichtliche philosophische Fehler vermieden werden. Nun ist es nicht unmittelbar evident, welche Kriterien philosophisch plausible Theorien genau erfüllen sollten oder was offensichtliche philosophische Fehler sein mögen. Wie viel des historischen Hintergrundes darf man jeweils zur Bestimmung der Qualität der verfügbaren Gründe berücksichtigen? Und was gilt als offensichtlicher Fehler? Charles’ Formulierung des PwI bleibt somit vage, beschränkt sich auf den begrifflichen Apparat und bezieht sich nicht explizit auf Theoreme. Es wäre allerdings wünschenswert, das Prinzip um Theoreme bzw. theoretische Annahmen zu erweitern. Es scheint unumstritten zu sein, dass die Rationalitätsunterstellung eine Grundregel jeglicher Interpretation ist. Sie bildet zugleich die Grundlage für das Prinzip des Wohlwollens. Vor die Wahl gestellt, ob man die Worte eines Gesprächspartners entweder als Unsinn oder als sinnvoll versteht, entscheidet man sich im Normalfall spontan für die zweite Option. Welche Annahmen man dabei als rational rechtfertigbar gelten lässt, hängt von den eigenen impliziten Annahmen ab. Sich diese klar zu machen ist eine wichtige und ständige Aufgabe des historischen Forschers. Auch bei der Anwendung des Rationalitätsbegriffs selber sollte man große Vorsicht walten lassen. Gegebenenfalls wird man zudem andere Rationalitätsauffassungen als die eigene zur Geltung kommen lassen. Unter den Elementen, die in das PwI aufgenommen werden, gibt es einige die unabdingbar sind, um überhaupt von Wohlwollen reden zu dürfen, während mindestens eins optional und von der Zielsetzung abhängig ist. Zu den Prinzipien, die man einem philosophischen Autor zwecks der Wahrheits- und Rationalitätsmaximierung unterstellen darf, gehören u. a.: (1) Wahrhaftigkeit sowie die üblichen Konversationsmaximen. Anscheinend triviale Bedingungen sind die Annahme der Wahrhaftigkeit des Autors und die Annahme, dass er seine Wörter, einschließlich der Fachterminologie, in einer für den jeweiligen Kontext üblichen Bedeutung verwendet; oder im Falle von terminologischen Neubildungen, dass sich eine mehr oder weniger präzise und konsistente Begrifflichkeit ermitteln lässt. Die Wahrhaftigkeit gilt auf der Ebene der kommunikativen Maximen, was insbesondere für die Deutung ironischer Aussagen von Bedeutung ist. So verstanden, verstoßen diese nur auf der Oberfläche gegen die Maxime der Wahrhaftigkeit.30 Im Allgemeinen setzt das PwI Grices Kooperationsprinzip sowie die abgeleiteten Maximen (leicht modifiziert im Hinblick auf die schriftliche Kommunikation) voraus. (2) Konsistenz, auf mehreren Ebenen (einige davon kontextgebunden und von methodischen Zielsetzungen abhängig). In jeder rationalen Rekonstruktion, einschließlich der antiquarischen, kommt die Konsistenzannahme als Minimalbedingung zur Geltung. Alof charity was sometimes invoked. Like an anthropologist faced with an alien belief system that she is tempted to dismiss as superstitious non-sense, the historian is advised to try to interpret her subject’s statements so that the majority of his beliefs can be seen to be reasonable.« 30 Paul Grice: Studies in the Way of Words, Cambridge, MA 1989, S. 28.

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lerdings muss man sich entscheiden, worauf man sie bezieht, bzw. wie weit man sie ausdehnen möchte. Dabei kann wie folgt unterschieden werden: Lässt man sie lediglich für die Elemente einer einzelnen Textpassage gelten, für die eines Werkes, eines Corpus oder einer Tradition? Die Antwort hängt von anderen Faktoren ab, wie die Plausibilität von Entwicklungshypothesen, Kenntnisse über die Entstehung der Texte und des Corpus sowie deren Überlieferung oder Kenntnisse über das Funktionieren von Autorität in einer Tradition. Nur in seltenen Fällen kann meines Erachtens die Konsistenzbedingung über die Grenzen eines einzelnen Werkes ausgedehnt werden.31 Auch wenn man, insbesondere in der spätantiken Philosophie, ein hohes Maß an Konsistenz zwischen unterschiedlichen Autoren feststellen mag, kann die autor- und werkübergreifende Konsistenz schwerlich als eine Bedingung in das PwI aufgenommen werden. (3) Argumentative Kompetenz und Scharfsinn. Aufgrund dieser Annahme versuchen Historiker und Historikerinnen, die formale Gültigkeit der studierten Argumente zu gewähren. Fast immer wird man Deutungen verwerfen, bei denen sich ein expliziter Widerspruch im Text ergibt. Gelegentliche implizite Widersprüche jedoch dürfen unseren Vorgängern wohl zugeschrieben werden.32 Sogar der gemeinhin als göttlich bezeichnete Jamblich wurde von seinen Nachfolgern als fehlbar betrachtet. (4) Hermeneutische Kompetenz; in bestimmten Fällen kann den Autoren selbst die Verwendung des PwI zugeschrieben werden, oft aber nicht oder nur beschränkt (da dies beispielsweise der größeren Klarheit wegen oder aus polemischen Gründen außer Kraft gesetzt worden ist). (5) Philosophiehistorische Kenntnisse. Oft muss man, um bestimmte Aussagen verstehen zu können, je nach Kontext gewisse philosophiehistorische Kenntnisse unterstellen. Diese Annahme ermöglicht häufig, Ausführungen, die sonst unerklärlich wären, zu verstehen. (6) Historische, wissenschaftliche, kulturelle und religiöse Ansichten. Auch die Unterstellung solcher kognitiven Inhalte machen manchmal Argumente konsistent. Frühere Annahmen, die heutzutage als fragwürdig gelten, rühren meistens aus überholten wissenschaftlichen Annahmen her. So kann es sich um mathematische Einsichten handeln, die noch nicht vorhanden waren, z. B. in Argumenten, in denen der Unendlichkeitsbegriff eine Rolle spielt, oder auch um überholte naturwissenschaftliche Annahmen, z. B. in vornewtonschen Bewegungsanalysen. (7) Das Verfügen über Gründe für vertretene Ansichten. Die Rationalitätszuschreibung begründet die Annahme, dass auch Philosophen aus der Vergangenheit für ihre Behauptungen über Gründe verfügten, und diese auf sorgfältige und scharfsinnige Weise in einen logischen Zusammenhang mit ihren explizit getätigten Aussagen brachten, dabei auch auf mögliche Einwände Acht gebend.33 Der Philosophiehistoriker geht dabei von 31 Selbstverständlich heißt dies nicht, dass Kontexte nicht umfassend erforscht werden sollten. Vgl. Garber: What’s Philosophical about the History of Philosophy?, S. 129. Nur gehört dies nicht zu PwI. 32 Glock: Analytic Philosophy and History, S. 891–2. 33 Gracia: Philosophy and its History, S. 254: »the assumption that past philosophers were as acute and as philosophically perceptive as present philosophers and, therefore, that they most likely would be aware of any of the problems and difficulties of which present philosophers are aware.«

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der Annahme aus, dass die historischen Akteure diese Gründe als rechtfertigend betrachtet haben. Um diese Gründe kompetent identifizieren und beurteilen zu können, sind umfassende historische Kenntnisse manchmal unabdinglich. (8) Das Verfügen über gute, d. h. rechtfertigende Gründe für vertretene Ansichten. Wer Philosophen aus der Vergangenheit studiert, geht zunächst davon aus, dass ihre Gründe rechtfertigende Gründe sind. Während die Wohlbegründetheit im Sinne von (7) nach partikulären epistemischen Bedingungen evaluiert wird, ist dies nicht länger der Fall für die Frage, ob eine Überzeugung gerechtfertigt ist. Zudem ist letzteres nicht zwingend transparent für den Besitzer der Überzeugung. Wenn das PwI unterstellt, dass der betrachtete Autor über rechtfertigende Gründe verfügte, führt diese Unterstellung im Gegensatz zu den vorigen Annahmen nicht immer zu einer adäquateren historischen Interpretation (nach antiquarischen Maßstäben). Hier, mehr als anderswo, lauert die Gefahr des Anachronismus. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Gründe, die wir als rechtfertigend betrachten, zu den Gründen, die für die historischen Akteure als gut galten, im Gegensatz stehen oder wenn sie mit historisch plausibleren Annahmen unverträglich sind. Dennoch wird eine Version des PwI, die diese Annahme einschließt, dadurch nicht automatisch illegitim. Für bestimmte Typen der Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte ist sie, trotz der Anachronismusgefahr, perfekt vertretbar, z. B. für den von D. Charles ›historically based original speculation‹ genannten Typus, aber auch für das philosophical scholarship, wenn zumindest die Grenzen dieser Annäherungsweise sowie die gemachten Annahmen klar benannt werden. Insbesondere wenn die untersuchten Theoreme oder ihre Voraussetzungen im Widerspruch zu gegenwärtigen Annahmen stehen bzw. diese herausfordern oder infrage stellen, sollte man das Prinzip mit großer Vorsicht und Nachsichtigkeit anwenden,34 denn es ist nicht unmöglich, dass Gründe, die zunächst als dubios erscheinen, sich dennoch als gute Gründe herausstellen.35

Drei Schlussbemerkungen (1) Wie immer man das PwI auch ausdifferenziert, stets wird es, wenn es bei der Interpretation historischer Texte zum Einsatz kommt, gegen andere Evidenzen und Kenntnisse abgewogen werden müssen, um zu einer historisch plausiblen Interpretation zu gelangen. Das PwI ist ein methodisches Prinzip und muss immer gegen andere hermeneutische Prinzipien abgewogen werden. Wenn es aufgrund anderer Kenntnisse gute Gründe gibt, am Scharfsinn, an der Wahrhaftigkeit oder an anderen Vorzüglichkeiten eines Autors zu zweifeln, kann und soll das PwI nach sorgfältiger Abwägung lokal außer Kraft gesetzt werden. Die Rationalitätsunterstellung bleibt fallibel und kann im konkreten Fall zunichte Gracia: Philosophy and its History, S. 254: »the methodological rule that it is always best to give the strongest possible interpretation of an argument or a view, particularly if the argument or view undermines a position that we currently hold.« 35 Glock: Analytic Philosophy and History, S. 892. 34

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gemacht werden.36 Auch soll das Ziel beim Einsatz des Prinzips nicht immer die Maximierung der Übereinstimmung zwischen dem studierten Text und dem Interpreten sein, weil man dann oft den Bereich des historisch Plausiblen verlässt. Man kann aber einen Kontext verstehen, ohne ihn sich zu Eigen zu machen.37 Nicht alle, die den Platonismus untersuchen, sind Gläubige. (2) Ältere Philosophen dürften nicht nur aufgrund ihrer Theoreme oder Argumente als interessant gelten, sondern auch wegen ihrer Methoden, ihrer Aufmerksamkeit für heute vernachlässigte Bereiche und Themen, ihrer Zielsetzungen und ihres Philosophieverständnisses.38 Der essentialistische und auf eine besondere Weise ausgeprägte normative Philosophiebegriff selbst wird durch die historische Forschung relativiert. (3) Fehlerhafte Interpretationen, bei denen das Prinzip der wohlwollenden Interpretation über alle Maßen ausgedehnt oder auch eingeschränkt wurde, haben sich in der Vergangenheit für die Weiterentwicklung der Philosophie als nützlich erwiesen. Mit dem Berufsethos der genuinen Historiker und Historikerinnen sind sie jedoch nicht vereinbar. Solch eine Interpretation überlassen diese gerne den ›original speculative philosophers‹.

Literatur Charles, David: Aristotle’s Philosophy of Action, London 1984. Cottingham, John: »Why Should Analytic Philosophers Do History of Philosophy?«, in: Tom Sorell/ Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 25–41. Dörrie, Heinrich/Dörrie, Annemarie: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus. Bausteine 1–35: Text, Übersetzung, Kommentar (Der Platonismus in der Antike. Grundlagen – System – Entwicklung, Band 1), Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. Engel, Pascal: »Aristote et la philosophie contemporaine de l’action«, in: Jules Vuillemin (Hg.): La philosophie et son histoire (L’âge de la science. Lectures philosophiques, 3), Paris 1990, S. 267–274. Frede, Dorothea: »Platons Essentialismus – ein hoffnungsloser Fall von Anachronismus?«, in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen. Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 131–147. Frede, Michael: »Introduction: The Study of Ancient Philosophy«, in: Ders. (Hg.), Essays in Ancient Philosophy, Oxford 1987, S. ix–xxvii. (Nachdruck in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen. Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 34–53). Garber, Daniel: »What’s Philosophical about the History of Philosophy?«, in: Tom Sorell/ Gra36 Ebd., S. 890; Pirmin Stekeler-Weithofer: Philosophiegeschichte (Grundthemen Philosophie), Berlin – New York 2006, S. 81. 37 Glock: Analytic Philosophy and History, S. 890. 38 Garber: What’s Philosophical about the History of Philosophy?, S. 145; Bernard Arthur Owen Williams: The Sense of the Past. Essays in the History of Philosophy, Princeton, NJ – Oxford 2006, S. 6.

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ham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 129–146. Glock, Hans-Johann: »Analytic Philosophy and History: A Mismatch?«, in: Mind, 117.468, 2008, S. 867–897. Gracia, Jorge E.: Philosophy and its History. Issues in Philosophical Historiography (SUNY Series in Philosophy), Albany 1992, S. 254. Grice, Paul: Studies in the Way of Words, Cambridge, MA 1989. Hatfield, Gary: »The History of Philosophy as Philosophy«, in: Tom Sorell/ Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 83–128. Hirzel, Rudolf: Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch, Zweiter Theil, Leipzig 1895. Kenny, Anthony: »The Philosopher’s History and the History of Philosophy«, in: Tom Sorell/ Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 13–24. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schrifte 1870–1873 (Kritische Studienausgabe, 1), Kritische Studienausgabe herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1988. Rapp, Christof: »Der Erklärungswert von Entwicklungshypothesen. Das Beispiel der Aristoteles-Interpretation«, in: Marcel van Ackeren/Jörn Müller (Hg.): Antike Philosophie verstehen. Understanding Ancient Philosophy, Darmstadt 2006, S. 178–195. Stekeler-Weithofer, Pirmin: Philosophiegeschichte (Grundthemen Philosophie), Berlin, New York 2006. Williams, Bernard Arthur Owen: The Sense of The Past. Essays in the History of Philosophy, Princeton, NJ – Oxford 2006. Wilson, Catherine: »Is the History of Philosophy Good for Philosophy?«, in: Tom Sorell/ Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 61–82. Zarka, Yves Charles: »The Ideology of Context: Uses and Abuses of Context in the Historiography of Philosophy«, in: Tom Sorell/ Graham Alan John Rogers (Hg.): Analytic Philosophy and History of Philosophy, Oxford 2005, S. 147–159.

KOLLO QUIUM 23 Gegenstand und Geltung. Die Gegenstandsbezogenheit der ästhetischen Erfahrung von Kunst und Musik Kolloquiumsleitung: Reinold Schmücker

Maria Elisabeth Reicher Ästhetische Werte als dispositionale Eigenschaften: 1905–2014 Lars-Olof Åhlberg Form und Gehalt. Warum Eduard Hanslicks Musikphilosophie zeitgemäß ist

Ästhetische Werte als dispositionale Eigenschaften: 1905–20141 Maria Elisabeth Reicher (Aachen)

I Ich bin gebeten worden, ein systematisches Thema zu behandeln, das in der gegenwärtigen Ästhetik diskutiert wird, aber zugleich einen historischen Aspekt zu berücksichtigen. Es sollte die Relevanz bzw. Aktualität einer historischen Position aus der (jüngeren) deutschsprachigen Philosophie aufgezeigt werden, die in der gegenwärtigen internationalen Debatte zu Unrecht nicht hinreichend wahrgenommen wird. Dafür gibt es, gerade in der so genannten analytischen Ästhetik, mehrere Beispiele. Eines davon ist ein Problem, das in der analytischen Ästhetik unter der Bezeichnung »the paradox of fiction« bekannt ist. Das Problem besteht darin zu erklären, wieso wir auf fiktionale Darstellungen emotional reagieren (zum Beispiel Furcht oder Mitleid empfinden), obwohl wir wissen, dass die Darstellungen fiktional sind. Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund einer für viele Jahrzehnte im Mainstream der Emotionstheorie nicht hinterfragten Annahme, nämlich der Annahme, dass Emotionen Überzeugungen als kognitive Basis benötigen. Nach dieser Annahme muss man also zum Beispiel davon überzeugt sein, dass jemand leidet, um Mitleid empfinden zu können. Vor diesem Hintergrund wird die Tatsache, dass wir Mitleid mit Romanheldinnen empfinden können, zu einem philosophischen Rätsel. Vor einigen Jahren nun wurde, unter der Bezeichnung thought theory, in der analytischen Ästhetik eine vermeintlich neue Lösung für dieses Problem aufgebracht. Sie besteht in der Einsicht, dass Emotionen nicht zwingend Überzeugungen als kognitive Basis haben müssen, sondern auch durch Phantasievorstellungen und Annahmen (also Gedanken ohne das Element des Überzeugtseins) fundiert sein können. Diese Lösung ist einleuchtend, aber alles andere als neu. Man findet sie nämlich bereits um 1900 bei Alexius Meinong und seinen Schülern. Meinong schrieb 1904 seine Monographie Über Annahmen,2 und es gab eine lebhafte publizistisch geführte Debatte über die so genannten »Phantasiegefühle«. Obgleich die relevanten Schriften zum Teil ins Englische übersetzt wurden, sind sie im angelsächsischen Raum nur einigen wenigen Spezialisten für die Geschichte der Phänomenologie bekannt. Der für die thought theory vielfach erhobene Anspruch der Neuheit ist also auf bloße historische Unkenntnis gegründet. Dies im Detail aufzuzeigen, wäre gewiss eine lohnende Aufgabe für die-

Dies ist der nur geringfügig überarbeitete Text eines Vortrags, der als Beitrag zu einem Kolloquium zu Fragen der Ästhetik im Rahmen des 23. Deutschen Kongresses für Philosophie präsentiert wurde. 2 Alexius Meinong: Über Annahmen, Graz 1977 [Ersterscheinungsjahr 1902, 2. Auflage 1910]. 1

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sen Beitrag gewesen, wenn es nicht bereits in hervorragender Weise erledigt worden wäre.3 Ich widme mich daher hier einem anderen Beispiel, dem meines Wissens bislang keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, nämlich der dispositionalistischen Theorie ästhetischer Werteigenschaften.4 Das systematische Anliegen meines Vortrags ist, diese Theorie zu erläutern und zu verteidigen. Das historische Anliegen meines Vortrags ist, Folgendes zu zeigen: 1. Die dispositionalistische Theorie wird in der gegenwärtigen analytischen Ästhetik vertreten. 2. Die dispositionalistische Theorie wurde bereits vor mehr als 100 Jahren in der deutschsprachigen Philosophie vertreten. 3. In der gegenwärtigen analytischen Ästhetik sind die relevanten deutschsprachigen Vorläufer/innen weitgehend unbekannt. In Abschnitt II dieses Beitrags werde ich die dispositionalistische Theorie zunächst ohne historische Bezüge in groben Zügen darstellen, und ich werde erläutern, warum ich sie für attraktiv halte. In den Abschnitten III und IV werde ich eine sehr neue Arbeit, in der diese Theorie entwickelt und verteidigt wird, einer mehr als 100 Jahre älteren gegenüberstellen und wesentliche Parallelen (aber nebenbei auch kleine Unterschiede) herausarbeiten. Dabei wird in Abschnitt IV das zentrale Problem dispositionalistischer Theorien diskutiert, nämlich die Frage, inwieweit es privilegierte Bedingungen für ästhetische Reaktionen gibt und worin diese bestehen könnten. In diesem Zusammenhang werde ich auch einen eigenen Vorschlag machen, allerdings auf der Basis der hier besprochenen Arbeiten, sowohl der historischen als auch der neuen.

II Das paradigmatische Beispiel für eine ästhetische Werteigenschaft ist die Schönheit. Wenn im Folgenden von ästhetischen Eigenschaften die Rede ist, sind damit stets in erster Linie ästhetische Werteigenschaften gemeint. Die zentrale Frage, die sich in Zusammenhang mit ästhetischen Eigenschaften stellt, ist die nach ihrem ontologischen Status: Gibt es ästhetische Eigenschaften überhaupt, als objektive Eigenschaften in den Dingen, oder handelt es sich um bloße Projektionen von uns, den Subjekten ästhetischer Erfahrung? Sind Dinge »an sich« schön oder hässlich oder liegt die Schönheit im Auge des Betrachters? Dies ist die alte Streitfrage zwischen ästhetischem Realismus und ästhetischem Antirealismus. Diese Frage ist eng verknüpft mit der Frage nach der Bedeutung und Geltung ästhetischer Urteile: Was bedeutet es zu sagen, dass ein Gegenstand schön ist? Bedeutet dies, dass dem Gegenstand die Eigenschaft der Schönheit zukommt? Oder bringt ein Sprecher mit einem solchen Urteil nur eine subjektive Einstellung zum Ausdruck? Bezeichnet das 3 Und zwar von Íngrid Vendrell Ferran in ihrem Aufsatz »Ästhetische Erfahrung und Quasi-Gefühle«, in: Venanzio Raspa (Hg.): The Aesthetics of the Graz School, Heusenstamm 2010, S. 129–168. 4 Ich meine natürlich nicht, dass der dispositionalistischen Theorie als solcher keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sondern nur, dass in der gegenwärtigen Debatte dazu der Tatsache keine Aufmerksamkeit gewidmet wurde, dass diese Theorie in der deutschsprachigen Philosophie schon vor mehr als 100 Jahren sehr detailliert ausgeführt und klug verteidigt wurde.

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Prädikat »ist schön« eine ästhetische Eigenschaft sui generis, oder steht es für ein komplexes natürliches Prädikat? Sind ästhetische Urteile überhaupt wahrheitsfähig, und wenn ja, was sind ihre Wahrheitsbedingungen? Fragen dieser Art gehören zum Kernbereich der Ästhetik, und sie sind selbstverständlich in der gegenwärtigen analytischen Ästhetik in der Diskussion.5 Die so genannte dispositionalistische Theorie ästhetischer Eigenschaften lautet in den Grundzügen wie folgt: 1. Ästhetische Eigenschaften sind dispositionale Eigenschaften, und zwar dispositionale Eigenschaften jener Außenweltdinge, auf die wir gerichtet sind, wenn wir ästhetische Erfahrungen machen. Die Schönheit einer Blume zum Beispiel ist nichts anderes als die Fähigkeit jener Blume, unter geeigneten äußeren Bedingungen in einem geeigneten wahrnehmenden Subjekt ein Schönheitserlebnis hervorzurufen. Dispositionale Eigenschaften kommen keineswegs ausschließlich im Bereich des Ästhetischen vor. Die paradigmatischen Beispiele für dispositionale Eigenschaften kommen vielmehr aus dem Bereich der Physik. Physikalische dispositionale Eigenschaften sind zum Beispiel Zerbrechlichkeit oder Wasserlöslichkeit. 2. Dispositionale Eigenschaften sind abhängig von anderen Eigenschaften, ihren so genannten Basiseigenschaften. Dass ein Stück Zucker wasserlöslich ist, hängt wesentlich zusammen mit der Mikrostruktur von Zucker. In heutiger ontologischer Terminologie: Dispositionale Eigenschaften supervenieren auf Basiseigenschaften. Supervenienz ist eine einseitige Abhängigkeitsrelation.6 Man sagt, dass eine Eigenschaft S auf Eigenschaften B1, B2 … Bn superveniert genau dann, wenn gilt: Wenn ein Gegenstand die Eigenschaften B1, B2 … Bn hat, dann hat der Gegenstand auch die Eigenschaft S. Also zum Beispiel: Jeder Stoff, der die Mikrostruktur von Zucker hat, ist wasserlöslich. Diese Abhängigkeitsbeziehung besteht aber nicht in der umgekehrten Richtung: Aus »Die Eigenschaft S superveniert auf den Eigenschaften B1, B2 … Bn« folgt nicht, dass jeder Gegenstand, der die Eigenschaft S hat, die Eigenschaften B1, B2 … Bn haben muss. Nicht jeder Stoff, der wasserlöslich ist, muss die Mikrostruktur von Zucker haben. Es können Stoffe mit unterschiedlicher Mikrostruktur die dispositionale Eigenschaft der Wasserlöslichkeit aufweisen. Auch ästhetische Eigenschaften supervenieren auf anderen Eigenschaften. Die Schönheit einer Blume hängt sicherlich ab von deren Farbe, der Form der Blüten usw. Wenn also die Schönheit einer Blume auf den Basiseigenschaften B1, B2 … Bn superveniert, dann gilt: Jeder Gegenstand, der die Eigenschaften B1, B2 … Bn hat, ist schön. Auch in diesem Fall gilt jedoch die Umkehrung nicht: Nicht alles, was schön ist, muss gerade die Siehe z. B. Alan H. Goldman: »Properties, Aesthetic«, in: David Cooper (Hg.): A Companion to Aesthetics, Oxford 1992, S. 342–347; Nick Zangwill: The Metaphysics of Beauty, New York 2001; ders., »Aesthetic Judgment«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition), URL = . 6 Zum Begriff der Supervenienz im Allgemeinen siehe Jaegwon Kim: »Concepts of Supervenience«, in: Philosophy and Phenomenological Research 45 (1984), S. 153–178. Zur Supervenienz ästhetischer Eigenschaften siehe Jerrold Levinson: »Aesthetic Supervenience«, in: ders.:, Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca NY 1990, S. 134–158. 5

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Eigenschaften B1, B2 … Bn haben. Dies leuchtet auch unmittelbar ein: Gegenstände mit den unterschiedlichsten Basiseigenschaften können schön sein. 2. Dispositionale Eigenschaften supervenieren auf ihren Basiseigenschaften, aber sie sind nicht auf ihre Basiseigenschaften reduzierbar. Die Wasserlöslichkeit eines Zuckerstücks ist nicht identisch mit seiner Mikrostruktur; die Schönheit einer Sonnenblume ist nicht identisch mit den ihr zugrunde liegenden sinnlichen Eigenschaften. 3. Dispositionale Eigenschaften sind definiert durch bestimmte Ereignisse oder Zustände, in denen sie sich manifestieren. Die dispositionale Eigenschaft der Wasserlöslichkeit ist definiert durch die Auflösung in Wasser; die dispositionale Eigenschaft der Schönheit ist definiert durch das Schönheitserlebnis. Doch dispositionale Eigenschaften sind nicht reduzierbar auf ihre manifestierenden Ereignisse, ja sie sind nicht einmal ontologisch abhängig von diesen. Ein Stück Zucker ist wasserlöslich auch dann, wenn es sich nicht in Wasser befindet und sich daher die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit nicht manifestieren kann. Ebenso ist ein Blume schön auch dann, wenn sich ihre Disposition, ein Schönheitserlebnis auszulösen, nicht manifestiert – etwa weil sie gar nicht gesehen wird. 4. Dispositionale Eigenschaften sind auch nicht davon abhängig, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt manifestiert werden, ja nicht einmal davon, dass ihre Manifestation naturgesetzlich möglich ist. Ein Stück Zucker hat die Eigenschaft der Wasserlöslichkeit auch dann, wenn es sich tatsächlich niemals in Wasser auflöst; und es würde diese Eigenschaft auch dann nicht verlieren, wenn jegliches Wasser von der Erde verschwinden würde. Ebenso hätte eine Blume die Disposition, ein Schönheitserlebnis auszulösen auch dann, wenn sie niemals wahrgenommen werden würde, ja selbst dann, wenn es gar keine wahrnehmungsfähigen Subjekte gäbe. Eine wichtige Klasse von dispositionalen Eigenschaften sind jene Eigenschaften, die John Locke als sekundäre Qualitäten bezeichnet, also zum Beispiel Farben und Geschmäcker. Jedenfalls können diese Eigenschaften als dispositionale Eigenschaften interpretiert werden. Demnach ist die Farbe eines Gegenstandes nichts anderes als die Fähigkeit des Gegenstandes, unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Farbempfindung auszulösen. In diesem Zusammenhang spricht man von Normalbedingungen der Wahrnehmung. Dazu zählt man üblicherweise weißes Licht sowie den Wahrnehmungsapparat eines gesunden Menschen. Dass ein Gegenstand rot ist, heißt demnach also nichts anderes als dass der Gegenstand die Fähigkeit hat, unter Normalbedingungen eine Rotempfindung hervorzurufen. Auch hier gilt: Die rote Farbe ist eine objektive Eigenschaft in dem Objekt. Ihre Manifestation ist ein Ereignis im Bewusstsein eines wahrnehmenden Subjekts, aber sie ist nicht ontologisch abhängig davon, dass sie manifestiert wird. Die Farbeigenschaft selbst ist nicht im Auge des Betrachters; sie manifestiert sich bloß dort. Farbeigenschaften supervenieren auf Mikrostruktur-Eigenschaften der Gegenstände, sind aber nicht auf diese reduzierbar. Viele ästhetische Eigenschaften supervenieren umittelbar auf sekundären Qualitäten, also auf anderen dispositionalen Eigenschaften; mittelbar supervenieren sie dann aber freilich auch auf jenen nicht-dispositionalen Eigenschaften, die die Basis der sekundären Qualitäten sind (also etwa Mikrostruktur-Eigenschaften). Dispositionale Eigenschaften sind also hierarchisch strukturiert, und ästhetische Eigenschaften nehmen offenbar die

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oberen Plätze in dieser Hierarchie ein. So weit eine Skizze der dispositionalistischen Theorie der ästhetischen Eigenschaften. Meines Erachtens ist dies eine sehr attraktive Theorie, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Sie wird dem Eindruck gerecht, dass ästhetische Eigenschaften den externen Dingen selbst zukommen, auf die wir wahrnehmend gerichtet sind. (Wenn mir eine Blume als schön erscheint, bin ich nach außen, auf die Blume, gerichtet, nicht nach innen, auf mein eigenes Bewusstsein; und ich nehme die Blume als schön wahr und nicht einen Zustand meines eigenen Bewusstseins.) 2. Sie liefert uns Wahrmacher für unsere ästhetischen Urteile und ermöglicht damit objektive Geltungsansprüche für diese Urteile. Dies ist ein Desiderat, weil in der Praxis des ästhetischen Diskurses solche Geltungsansprüche faktisch erhoben werden. 3. Sie erklärt sehr gut die Beziehung zwischen ästhetischen Eigenschaften, sekundären Qualitäten und mikrostrukturellen Basiseigenschaften. 4. Sie kann erklären, dass ästhetische Eigenschaften in einem gewissen Sinn subjektiv sind, ohne deren objektive Existenz zu negieren. Ästhetische Eigenschaften sind subjektiv in folgendem Sinn: (1) Sie manifestieren sich (wenn sie sich manifestieren) in Erlebnissen eines Subjekts. (2) Sie sind definiert durch diese subjektiven Manifestationen. (3) Ob sie sich manifestieren oder nicht, hängt von individuellen Dispositionen des Subjekts ab. Diese subjektiven Aspekte der ästhetischen Eigenschaften widersprechen jedoch nicht ihrer ontologischen Objektivität, das heißt: sie stehen nicht in Widerspruch zu der These, das die ästhetischen Eigenschaften etwas in den externen Dingen sind, das von der Existenz wahrnehmender Subjekte unabhängig ist.

III Die neueste mir bekannte Verteidigung einer dispositionalistischen Theorie der ästhetischen Eigenschaften ist Elizabeth Comptons A Dispositional Account of Aesthetic Properties.7 Diese Arbeit eignet sich hervorragend als Beleg-Beispiel für die These, dass in der gegenwärtigen analytischen Ästhetik wichtige deutschsprachige Traditionen ignoriert werden. Sie eignet sich nicht zuletzt deswegen sehr gut, weil es sich dabei um eine ausgezeichnete Arbeit handelt. Auch ist die Autorin keineswegs grundsätzlich geschichtsvergessen. Sie erwähnt etwa John Locke und David Hume als wichtige Vorläufer ihrer Theorie. Doch Locke bezieht sich ja nur auf Sinnesqualitäten, nicht auf ästhetische Eigenschaften, und Hume stellt in »Of the Standard of Taste«8 zwar Überlegungen an, die für eine dispositionalistische Theorie relevant sind, aber die meisten Exegeten interpretieren

7 Elizabeth Ashley Zeron Compton: A Dispositional Account of Aesthetic Properties. A dissertation submitted to the faculty of the Graduate School of the University at Buffalo, State University of New York 2012. ProQuest LLC. http://pqdtopen.proquest.com/pubnum/3516527.html?FMT=AI. 8 »Über den Maßstab des Geschmacks«, in: ders., Vom schwachen Trost der Philosophie. Essays, Göttingen 1990, S. 73–103.

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Hume als ästhetischen Anti-Realisten.9 So kann Compton schreiben: »[…] I am not aware of any other serious attempts to give a dispositional account of aesthetic properties at this time […]«.10 In der deutschsprachigen Philosophie wurde jedoch bereits vor mehr als 100 Jahren explizit eine dispositionalistische Theorie ästhetischer Eigenschaften vertreten, nämlich von Edith Landmann-Kalischer in einem 1905 erschienenen mehr als 60 Seiten langen Aufsatz mit dem Titel »Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile«.11 Die dort entwickelte und verteidigte Theorie weist frappierende Parallelen zur Auffassung Comptons auf: 1. Beide stützen sich wesentlich auf die Analogie zwischen sinnlichen und ästhetischen Eigenschaften und berufen sich auf Lockes Theorie der sekundären Qualitäten. Beide argumentieren, dass sowohl Sinnesqualitäten als auch ästhetische Eigenschaften objektiv in den Dingen vorhandene Eigenschaften sind. Landmann-Kalischer schreibt: »1) Die ästhetische Wertung vollzieht sich vermittelst eines Organs, dessen Funktion und Leistung der der Sinnesorgane gleich ist. 2) Das ästhetische Urteil steht in bezug auf seine objektive Gültigkeit den Sinnesurteilen gleich. 3) Schönheit ist in demselben Sinne als eine Eigenschaft der Dinge zu betrachten wie die sinnlichen Qualitäten.«12 »Wenn ich ein Ding schön oder häßlich, gut oder schlecht nenne, so trage ich dadurch so wenig etwas ihm Fremdes in das Ding hinein wie durch die Aussage, daß es blau sei.«13 Compton schreibt: »Aesthetic dispositions are defined by their manifestations (the characteristic qualities they impart to aesthetic experience), by reference to which we identify and classify them. They are, nevertheless, properties of objects rather than observers; as such, they serve an explanatory role with reference to aesthetic experience, serve as truthmakers for aesthetic claims, and underwrite the normative element of aesthetic discourse. […] I argue that aesthetic properties depend for their existence solely on the objects in the external world that instantiate them. I support this claim by arguing for a dispositional model where the aesthetic disposition is carefully distinguished from its manifestations (the aesthetic response it causes) and the conditions for manifestation (a qualified observer in appropriate background conditions).«14 9 Siehe z. B. Ted Gracyk: »Hume’s Aesthetics«, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2011 Edition), URL = . 10 Compton: Dispositional Account, S. 157. 11 Edith Landmann-Kalischer: »Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile. Ein Vergleich zwischen Sinnes- und Werturteilen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 5 (1905), S. 263–328. 12 Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 263 f. 13 Ebd., S. 277. 14 Compton: Dispositional Account, S. vii.

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»Aesthetic properties, like non-aesthetic sense-perceptible properties such as colors and sounds, are dispositions whose conditions for manifestation require the presence of a qualified observer. The qualified observer, in turn, possesses dispositions to respond to such properties, such as normal color vision or hearing in the case of senseperceptible properties, and aesthetic taste […] in the case of aesthetic properties.«15 2. Beide sind der Auffassung, dass sich (zumindest manche) ästhetischen Eigenschaften unter anderem in emotionalen Erlebnissen, nämlich Gefühlen, manifestieren. Gefühle bekommen auf diese Weise eine kognitive Funktion zugewiesen. Landmann-Kalischer schreibt, es gelte, »die Objektivität der durch das Gefühl erfaßten Eigenschaften der Dinge dadurch nachzuweisen, daß man sie mit den sinnlichen Qualitäten in eine Reihe stellt.«16 Compton schreibt: »A dispositional account can thus handle aesthetic properties that essentially involve the affective responses of perceivers, including the evocation of disgust, fear, delight, awe, etc. It allows for the genuine powers of objects to occupy a number of dispositional roles, manifesting themselves in aesthetic experiences involving both the distinctive looks and appearances of the aesthetic property and the attendant affective responses they cause for perceivers.«17 3. Beide argumentieren, dass die Existenz von Subjekten, die die Disposition haben, auf einen Gegenstand mit einem Schönheitsgefühl zu reagieren, keine notwendige Bedingung dafür ist, dass der Gegenstand die Eigenschaft der Schönheit tatsächlich hat. Die Existenz geeigneter Subjekte gehört zu den Manifestationsbedingungen für die dispositionale Eigenschaft der Schönheit; doch die Manifestationsbedingungen einer dispositionalen Eigenschaft sind nicht notwendig für die Existenz derselben. (Zucker ist auch dann noch wasserlöslich, wenn es kein Wasser mehr auf der Welt gibt.) Landmann-Kalischer stellt fest, dass es vorkommen kann, dass die ästhetischen Qualitäten eines Kunstwerks von den gegenwärtig existierenden Betrachtern nicht wahrgenommen werden können, weil die Betrachter mit den dargestellten Inhalten nichts anfangen können. Sie schreibt: »In solchem Falle befinden wir uns ständig den Kunstwerken untergegangener oder fremder Kulturen, z. B. häufig japanischen Bildern gegenüber […]. In dieser Lage befinden wir uns aber auch ständig allen Kunstwerken gegenüber, welche, wie es bei Komödien, Satiren, Karikaturen besonders häufig der Fall ist, Tagesereignisse zum Stoffe haben und daher mit diesen vergessen werden. Dies ist wohl der Grund, weshalb sie als minderwertig angesehen werden, obgleich die Kunstleistung in ihnen ebenso hoch stehen kann wie in einem Werke, das allgemein Menschliches zum Gegenstand hat. Alle Kunstwerke, die in der Hauptsache mit Vorstellungen rechnen, in deren Besitz nur eine bestimmte Klasse von Menschen, z. B. eine Nation, eine bestimmte Art Gebildeter, 15 16 17

Ebd., S. vii f. Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 328. (Hervorhebung von mir, MER.) Compton: Dispositional Account, S. 180 f.

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sich befindet, bleiben in ihrer Wirkung auf diese beschränkt. Deshalb aber kann man solchen Kunstwerken, sobald nur diese Vorstellungen in ihnen wirklich angelegt sind, objektive Schönheit nicht absprechen.«18 Compton macht eine sehr nützliche Unterscheidung zwischen ontologischer Reaktionsabhängigkeit (ontological response-dependence) und begrifflicher Reaktionsabhängigkeit (conceptual response-dependence). Ihre These lautet: Ästhetische Eigenschaften (sowie auch Sinnesqualitäten) sind begrifflich abhängig von den Erlebnissen wahrnehmender Subjekte, aber sie sind nicht ontologisch abhängig von diesen. Sie schreibt: »Allowing that sense-perceptible or aesthetic properties are conceptually response-dependent may, in fact, say nothing at all about their ontological status. For it may just be the minimal claim that we have a property under a certain sort of description, such that the property can exist even in a world without people; the lack of minds means only that the description is not available, while the objective property is.«19 Sowohl Sinnesqualitäten als auch ästhetische Eigenschaften sind Dispositionen, in geeigneten Subjekten bestimmte mentale Reaktionen auszulösen, doch diese Eigenschaften existieren unabhängig von ihren Manifestationen und mithin auch unabhängig von Subjekten, die solche Reaktionen erleben könnten. 4. Beide teilen die Einsicht, dass ästhetische Eigenschaften durch andere Eigenschaften fundiert sind. Landmann-Kalischer setzt die Schönheitswahrnehmung in Analogie zur Gestaltwahrnehmung: So wie die Einzelwahrnehmungen (z. B. die Wahrnehmungen einzelner Töne) das Fundament abgeben für eine Gestaltwahrnehmung (z. B. einer Melodie), so gibt die Gestaltwahrnehmung das Fundament ab für die Wahrnehmung der Schönheit.20 Compton hält fest, dass ästhetische Eigenschaften »are rooted in the senseperceptible properties of the objects – their colors, sounds, textures, flavors, and so on.«21 5. Sowohl Landmann-Kalischer als auch Compton vertreten die Auffassung, dass ästhetische Werturteile objektive Geltung haben. Landmann-Kalischer schreibt: »Für unsere Auffassung ist der Anspruch der Dinge auf eine bestimmte Wertung nichts anderes als die Forderung wahrer Sinnesurteile. Der Anspruch der Werte, anerkannt zu werden, ist nicht anders geartet und hat keinen anderen Ursprung, als der Anspruch der Sinnesqualitäten, erkannt zu werden. […] Es liegt so wenig im Belieben des Individuums, einem Objekt den oder jenen Wert zu geben, als es seiner Willkür überlassen ist, die oder jene Farbe zu sehen.«22 Für Compton ist es eine grundlegende Adäquatheitsbedingung für jede Theorie der ästhetischen Eigenschaften, dass diese erklären kann, »why some judgments about aesthetic properties are more apt than others«; und ein wichtiges Motiv für eine dispositionalisti18 19 20 21 22

Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 298. (Hervorhebung im Original!) Compton: Dispositional Account, S. 109. Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 279. Compton, Dispositional Account, S. 2 f. Landmann-Kalischer, S. 281.

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sche Theorie der ästhetischen Eigenschaften besteht für sie darin, dass sie »grounds the aptness (or inaptness) of aesthetic judgments in objective properties of aesthetic objects.«23 6. Entsprechend sind beide der Auffassung, dass ästhetische Urteile falsch sein können. Denn die einem ästhetischen Urteil zugrundeliegende ästhetische Reaktion (etwa ein Schönheitsgefühl) kann adäquat oder inadäquat sein, genau so, wie eine Blauempfindung adäquat oder inadäquat sein kann.24 7. Beide argumentieren, dass Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf ästhetische Fragen stets durch Unterschiede in den Beobachtungsbedingungen erklärbar sind, wobei es sich dabei entweder um Unterschiede in den äußeren Wahrnehmungsbedingungen oder um Unterschiede in den Dispositionen der Subjekte handeln kann.25 8. Beide vertreten die These, dass manche Beobachtungsbedingungen gegenüber anderen privilegiert sind in dem Sinne, dass manche Beobachtungsbedingungen eher zu adäquaten Reaktionen führen als andere. M. a. W., es gibt so etwas wie Idealbedingungen der ästhetischen Wahrnehmung, so wie es Normalbedingungen der Sinneswahrnehmung gibt.26 9. Beide meinen jedoch auch, dass es Fälle gibt, in denen unterschiedliche Beobachtungsbedingungen zu unterschiedlichen ästhetischen Urteilen führen, in denen aber keine der betreffenden Bedingungen gegenüber der anderen privilegiert ist.27

IV Die Rede war von privilegierten Bedingungen des ästhetischen Fühlens. Dies wirft die Frage auf, welche Bedingungen nun eigentlich privilegiert sind. Es ist klar, dass in den meisten Fällen die Normalbedingungen der Sinneswahrnehmung Bestandteil der Idealbedingungen des ästhetischen Fühlens sind. Ein farbenblinder Mensch erfüllt sicher nicht die Idealbedingungen für die ästhetische Reaktion auf ein Farbflächenbild von Mark Rothko. Doch zugleich ist klar, dass der Verweis auf die Normalbedingungen der Sinneswahrnehmung nicht hinreicht. Denn es gibt Fälle von Divergenzen in Bezug auf ästhetische Werturteile, die sich nicht dadurch erklären lassen, dass mindestens einer der Kontrahenten die Normalbedingungen der Sinneswahrnehmung nicht erfüllt. Genau dieses Phänomen – also Divergenzen in Bezug auf ästhetische Urteile, die sich nicht auf Divergenzen in Bezug auf Sinnesurteile zurückführen lassen – liefert das stärkste Argument für den ästhetischen Antirealismus. Dispositionalisten können dieses Argument nur entkräften, wenn sie plausibel machen können, dass die Idealbedingungen des ästhetischen Fühlens anspruchsvoller und komplexer sind als die Normalbedingungen der Sinneswahrnehmung. Compton: Dispositional Account, S. 3. Siehe Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, Kapitel 4; Compton: Dispositional Account, Abschnitt 5.2. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Siehe Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 319; Compton: Dispositional Account, S. 153–155. 23 24

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Genau das ist nun die Hauptschwierigkeit jeder dispositionalistischen Theorie der ästhetischen Eigenschaften: Wie können wir ohne Willkür bestimmte Bedingungen des ästhetischen Fühlens gegenüber anderen auszeichnen? Sowohl Landmann-Kalischer als auch Compton setzen sich mit diesem Problem auseinander. Landmann-Kalischer führt eine Reihe von Faktoren an, die zu ästhetischen Fehlurteilen führen können. In dieser Hinsicht ist Landmann-Kalischer weitaus differenzierter und ausführlicher als Compton. Die von Landmann-Kalischer benannten Störfaktoren des ästhetischen Wertfühlens sind unter anderem folgende: Mangel an Aufmerksamkeit; mangelnde Fähigkeiten der Gestaltwahrnehmung bzw. mangelnde »Vorstellungskraft« im Allgemeinen; mangelndes Einfühlungsvermögen; Unkenntnis in Bezug auf dargestellte Gegenstände eines Werks; eine »bereits festgewurzelte Abneigung gegen oder blinde Liebe« für den Schöpfer eines Werks; ausgeprägtes Missfallen bzw. Wohlgefallen am Stoff oder Inhalt eines Werks; ausgeprägte Stimmungen und starke Affekte im Allgemeinen; Gewohnheiten und Moden (Vertrautheit mit einem bestimmten Stil bringt tendenziell eine Disposition zur Abneigung von allem Andersartigen mit sich, weil die Enttäuschung von Erwartungen tendenziell Unlust erzeugt); Überdruss durch ein Zuviel an Gleichartigem.28 Die Theorie der ästhetischen Eigenschaften als dispositionale Eigenschaften erfordert also die Privilegierung bestimmter Wahrnehmungsbedingungen, zum Beispiel: ein bestimmtes Maß an Aufmerksamkeit, ausgeprägte »Vorstellungskraft«, Einfühlungsvermögen, Abwesenheit von störenden Affekten usw. Doch die Privilegierung bestimmter Wahrnehmungsbedingungen wirft eine neue Frage auf: Warum privilegieren wir gerade diese Wahrnehmungsbedingungen? M. a. W., warum sind die Reaktionen von Subjekten mit gerade diesen Dispositionen konstitutiv für die-und-die ästhetische Eigenschaft? Könnten wir die ästhetischen Eigenschaften nicht auch ganz anders definieren? Diese Frage möchte ich nun selber beantworten: In der Tat, wir könnten die ästhetischen Eigenschaften auch durch ganz andere Idealbedingungen des ästhetischen Wertfühlens definieren. Aber wir haben Gründe dafür, die genannten Bedingungen zu privilegieren. Diese Gründe liegen letztlich in unserer Lebensform, also sowohl in unseren Umweltbedingungen als auch in unseren Zielen, Präferenzen und Interessen. Auch hier hilft die Analogie zu den Sinnesqualitäten. Wir haben die Farbe Rot definiert als die Eigenschaft eines Gegenstandes, bei weißem Licht in uns eine Rotempfindung auszulösen. Wir könnten die Farbe Rot auch definieren als die Eigenschaft eines Gegenstandes, bei Rotlicht eine Rotempfindung in uns auszulösen. Dass wir das nicht tun, dürfte einerseits damit zu tun haben, dass Rotlicht in unserer Umwelt viel seltener vorkommt als weißes Licht, und andererseits auch damit, dass unsere Farbwahrnehmung bei weißem Licht viel 28

Landmann-Kalischer: Erkenntniswert ästhetischer Urteile, S. 291–299.

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differenzierter ist als bei Rotlicht. Beides zusammen lässt die Privilegierung des weißen Lichts für die Definition der Farbbegriffe zweckmäßiger erscheinen als die Rotlicht-Alternative. Denn an einer gut ausgeprägten Fähigkeit zur Unterscheidung von Farben haben wir offenbar ein starkes Interesse. Analog haben wir unter den gegebenen Umständen Gründe, etwa Aufmerksamkeit und eine gut ausgeprägte Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung zu den Idealbedingungen des ästhetischen Fühlens zu zählen. Denn diese Dispositionen fördern die Generierung von ästhetischen Gefühlen. Unaufmerksame Menschen mit gering ausgeprägter Fähigkeit zur Gestaltwahrnehmung werden häufig gegenüber Gegenständen ästhetisch indifferent sein, die in aufmerksamen und geschulten Menschen ästhetische Gefühle hervorrufen. Sofern wir ein Interesse an einem reichhaltigen und differenzierten ästhetischen Gefühlsleben haben (und das scheint der Fall zu sein), haben wir somit Grund, Aufmerksamkeit und gute Gestaltwahrnehmungs-Fähigkeiten als Bedingungen der ästhetischen Wahrnehmung zu privilegieren. Ich denke also, dass Landmann-Kalischer gezeigt hat, dass es in der Tat möglich ist, plausible Idealbedingungen des ästhetischen Wertfühlens zu formulieren. Es bleibt jedoch ein Problem für die Dispositionstheorie der ästhetischen Eigenschaften bestehen: Es wurde nicht gezeigt, dass sich alle Divergenzen in Bezug auf ästhetische Werturteile dadurch erklären lassen, dass mindestens einer der Kontrahenten nicht die Idealbedingungen des ästhetischen Wertfühlens erfüllt. Es ist denkbar, dass selbst zwei ideale Rezipienten unter denselben äußeren Bedingungen unterschiedlich auf ein und denselben Gegenstand reagieren und daher zu unterschiedlichen ästhetischen Werturteilen gelangen. Ursache dafür könnten etwa unterschiedliche kulturelle Prägungen sein, ohne dass wir berechtigt wären, die eine kulturelle Prägung gegenüber der anderen zu privilegieren. Ist damit nicht die These von der Objektivität der ästhetischen Eigenschaften erledigt? Auf diese Frage gibt Compton eine meines Erachtens sehr überzeugende Antwort: Es kommt darauf an, die dispositionellen Eigenschaften richtig zu individuieren. Grundsätzlich gilt: Die Kraft eines Gegenstandes, unter Bedingungen B1 eine Reaktion R1 auszulösen, kann identisch sein mit der Kraft eines Gegenstandes, unter anderen Bedingungen B2 eine andere Reaktion R2 auszulösen. Compton unterscheidet terminologisch zwischen Dispositionen im engeren Sinn einerseits und Kräften andererseits. Dispositionen im engeren Sinn sind feinkörniger individuiert als Kräfte. Die Disposition eines Magneten, Eisen anzuziehen, ist verschieden von der Disposition, Nickel anzuziehen. Aber die zugrunde liegende Kraft ist dieselbe. Die dispositionelle Eigenschaft, bei weißem Licht in gesunden Menschen eine Rotempfindung hervorzurufen, mag verschieden sein von der dispositionellen Eigenschaft, bei weißem Licht in gesunden Marsianern eine Grünempfindung hervorzurufen. Aber die zugrunde liegende Kraft könnte dieselbe sein. Analog gilt: Die dispositionelle Eigenschaft eines Gegenstandes, unter bestimmten Manifestationsbedingungen ein Schönheitsgefühl auszulösen, kann identisch sein mit der dispositionellen Eigenschaft, unter anderen Manifestationsbedingungen Irritation auszulösen. Auch Landmann-Kalischer ist sich des Problems bewusst, dass nicht alle intersubjektiven Differenzen im ästhetischen Wertfühlen sich dadurch erklären lassen, dass die Dispositionen mindestens eines der beteiligten Subjekte irgendein Defizit aufweisen.

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Landmann-Kalischers Lösung ist nicht so klar und deutlich ausgearbeitet wie die von Compton, aber es findet sich auch bei ihr eine Passage, die im Sinne von Comptons Lösung interpretiert werden kann: Landmann-Kalischer stellt fest, dass jedes Objekt auf verschiedene Weise »apperzipiert« werden kann, und dass die »Apperzeptionsweise« für die ästhetischen Eigenschaften des Objekts konstitutiv ist. M. a. W., ein Objekt kann zugleich schön und hässlich und indifferent sein, je nachdem, wie es apperzipiert wird.29

V Im Vorangegangenen habe ich, erstens, für eine dispositionalistische Theorie ästhetischer Eigenschaften argumentiert. Zweitens habe ich wesentliche Parallelen aufgezeigt zwischen einer sehr neuen Arbeit zur dispositionalistischen Theorie ästhetischer Eigenschaften und einer Arbeit, die vor mehr als 100 Jahren in deutscher Sprache publiziert wurde. Die junge amerikanische Philosophin hatte offenbar von der Existenz der älteren keine Ahnung. Doch die Unkenntnis der Jüngeren bezieht sich nicht nur auf diese einzelne Autorin. Landmann-Kalischer ist zwar (meines Wissens) die einzige, die in derart expliziter und detaillierter Weise eine dispositionalistische Theorie der ästhetischen Eigenschaften ausgearbeitet hat. Doch ihre Arbeit steht dennoch nicht isoliert da. Sie war unter anderem wesentlich beeinflusst von den werttheoretischen Arbeiten Alexius Meinongs und Christian von Ehrenfels’.30 Landmann-Kalischer wiederum wurde wertschätzend rezipiert sowohl von Meinong selbst als auch von Stephan Witasek, einem Meinong-Schüler, dessen Beiträge zur Ästhetik ebenfalls heute zu Unrecht weitgehend unbekannt sind. Meinong zitiert Landmann-Kalischers »Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile« unter anderem in zwei wichtigen Arbeiten zur Theorie der Werte, nämlich in »Für die Psychologie und gegen den Psychologismus in der allgemeinen Werttheorie« (1912) und in Über emotionale Präsentation (1917).31 In dem früheren Werk schreibt er, dass ihm Landmann-Kalischers Ausführungen »heute, meinem ersten Eindrucke entgegen, ihren Hauptgedanken nach das Wichtigste zu sein scheinen, was zur Begründung der hier zu skizzierenden Auffassung bisher beigebracht worden ist.«32 Die »zu skizzierende Auffassung« lautet, dass Emotionen die Funktion haben, Werte zu präsentieren (ähnlich wie Vorstellungen die Funktion haben, Objekte zu präsentieren).

Ebd., S. 300f. Landmann Kalischer zitiert unter anderem Alexius Meinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werth-Theorie, in: ders.: Abhandlungen zur Werttheorie, Graz 1968, S. 1–244 [Ersterscheinungsjahr 1894]; Christian von Ehrenfels: System der Werttheorie. I. Band. Allgemeine Werttheorie, Psychologie des Begehrens, in: Reinhard Fabian (Hg.): Christian von Ehrenfels. Werttheorie. Philosophische Schriften. Band 1, München, Wien 1982, S. 201–405. 31 Alexius Meinong: »Für die Psychologie und gegen den Psychologismus in der allgemeinen Werttheorie«, in: ders.: Abhandlungen zur Werttheorie, Graz 1968, S. 267–282; Alexius Meinong: Über emotionale Präsentation, in: ders.: Abhandlungen zur Werttheorie, Graz 1968, S. 285–465 [Ersterscheinungsjahr 1917]. 32 Meinong: Für die Psychologie, S. 278. 29 30

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In Über emotionale Präsentation erwähnt Meinong Landmann-Kalischers Schrift in Zusammenhang mit der Auffassung, dass ästhetische Urteile in Analogie zu »Sinnesurteilen« (also Urteilen, mit denen Gegenständen sekundäre Qualitäten zugesprochen werden) zu verstehen sind. Allerdings lehnt Meinong diese Auffassung in Über emotionale Präsentation noch ab.33 Darin folgt er seinem von ihm sehr geschätzten Schüler Stephan Witasek.34 In der posthum erschienenen Schrift »Zur Grundlegung der allgemeinen Werttheorie« (Meinong starb 1920) übernimmt er jedoch genau diese Ansicht: »Erlebe ich zum Beispiel eine Lichtempfindung, so kann ich dadurch zur Kenntnis von zwei sehr verschiedenen Dingen gelangen, zur Kenntnis, daß eine Empfindung und zur Kenntnis, daß Licht da ist. Nun hat man ja freilich bekanntlich versucht, dies zugunsten subjektivistischer Erkenntnistheorie dahin zu interpretieren, daß hier das Licht eben nur insofern existiere, als es empfunden wird, also relativ zum Empfindungserlebnis. Das ist verfehlt, weil die äußere Wahrnehmung nicht nur ein Erlebnis, sondern zugleich selbst eine Erkenntnisquelle ist (…). Ganz analog wie mit der äußeren Wahrnehmung ist es nun auch mit dem Gefühl bewandt. Kann ich (cum grano salis) vom Licht nicht anders wissen als indem ich es empfinde, so (mit analoger Einschränkung) auch vom Werte nicht anders, als indem ich ihn fühle. Ist damit aber das Licht nicht zu etwas Relativem geworden, so braucht es der Wert auch nicht zu werden.«35 Compton erwähnt in ihrer Arbeit weder Meinong noch Witasek noch Ehrenfels. Da in dieser Arbeit viel und sorgfältig zitiert wird, darf man wohl davon ausgehen, dass Compton die genannten Autoren gar nicht oder nur sehr oberflächlich kennt. Es ist mir wichtig zu betonen, dass es an dieser Stelle nicht mein Anliegen ist, diese spezielle Arbeit zu kritisieren, die ich, wie gesagt, für ausgezeichnet halte. Die Ignoranz gegenüber der Tradition der Brentano-Meinong-Schule ist vielmehr symptomatisch für die analytische Ästhetik insgesamt. Dies ist bedauerlich. Denn es gibt zwar Fortschritt in der Philosophie, doch es befördert den Fortschritt in unserem Fach, sich zur Klärung systematischer Fragestellungen mit historischen Texten zu beschäftigen. Dies sollte selbstredend auch Texte einschließen, die in deutscher Sprache verfasst wurden, und zwar auch solche, die nicht gerade zur klassischen deutschen Philosophie in der Tradition von Kant und Hegel zu zählen sind. Gerade die deutschsprachigen Philosophen in der Tradition von Bernard Bolzano, Franz Brentano und Alexius Meinong haben viel Arbeit geleistet, die für die gegenwärtige analytische Ästhetik sehr relevant ist. Meinong: Über emotionale Präsentation, S. 415 f. Siehe Stephan Witasek: »Über ästhetische Objektivität«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 157 (1915), S. 87–114 und 179–199, § 3 (»Die Transzendenz des Ästhetischen«). 35 Alexius Meinong: »Zur Grundlegung der allgemeinen Werttheorie«, in: ders.: Abhandlungen zur Werttheorie, Graz 1968, S. 469–656 [Ersterscheinungsjahr 1921], S. 153 f. Allerdings erwähnt Meinong Landmann-Kalischer hier nicht; ja er weist nicht einmal darauf hin, dass er hier mit Nachdruck eine Auffassung vertritt, die er wenige Jahre früher (in Über emotionale Präsentation) noch abgelehnt hatte. Dies könnte nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass Meinong die »Grundlegung der allgemeinen Werttheorie« bis zu seinem Tode 1920 in Arbeit hatte und nicht mehr vollständig fertigstellen konnte. Die Endredaktion und Herausgabe besorgte Meinongs Schüler und Nachfolger Ernst Mally. 33 34

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Literatur Compton, Elizabeth Ashley Zeron: A Dispositional Account of Aesthetic Properties. A dissertation submitted to the faculty of the Graduate School of the University at Buffalo, State University of New York 2012. ProQuest LLC. http://pqdtopen.proquest.com/pubnum/3516527. html?FMT=AI. Ehrenfels, Christian von: System der Werttheorie. I. Band. Allgemeine Werttheorie, Psychologie des Begehrens, in: Reinhard Fabian (Hg.): Christian von Ehrenfels. Werttheorie. Philosophische Schriften. Band 1, München, Wien 1982, S. 201–405. [Ersterscheinungsjahr 1897]. Goldman, Alan H.: »Properties, Aesthetic«, in: David Cooper (Hg.): A Companion to Aesthetics, Oxford 1992, S. 342–347. Gracyk, Ted: »Hume’s Aesthetics«, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2011 Edition), URL = . Hume, David: »Über den Maßstab des Geschmacks«, in: ders.: Vom schwachen Trost der Philosophie. Essays. Hrsg. und übersetzt von Jens Kulenkampff, Göttingen 1990, S. 73–103. [Ersterscheinungsjahr des Originals 1757.] Kim, Jaegwon: »Concepts of Supervenience«, in: Philosophy and Phenomenological Research 45 (1984), S. 153–178. Landmann-Kalischer, Edith: »Über den Erkenntniswert ästhetischer Urteile. Ein Vergleich zwischen Sinnes- und Werturteilen«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 5 (1905), S. 263–328. Levinson, Jerrold: »Aesthetic Supervenience«, in: ders.: Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca NY 1990, S. 134–158. Meinong, Alexius: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werth-Theorie, in: ders.: Abhandlungen zur Werttheorie, Band III der Alexius Meinong Gesamtausgabe, hrsg. von Rudolf Haller und Rudolf Kindinger [im Folgenden zitiert als GA III], Graz 1968, S. 1–244 [Ersterscheinungsjahr 1894]. − Über Annahmen (= Alexius Meinong Gesamtausgabe Band IV, hrsg. von Rudolf Haller und Rudolf Kindinger, gemeinsam mit Roderick M. Chisholm, Graz 1977) [Ersterscheinungsjahr 1902, 2. Auflage 1910]. − »Für die Psychologie und gegen den Psychologismus in der allgemeinen Werttheorie«, in: ders.: GA III, Graz 1968, S. 267–282. − Über emotionale Präsentation, in: ders.: GA III, Graz 1968, S. 285–465 [Ersterscheinungsjahr 1917]. − »Zur Grundlegung der allgemeinen Werttheorie«, in: ders.: GA III: Abhandlungen zur Werttheorie, Graz 1968, S. 469–656 [Ersterscheinungsjahr 1923]. Zangwill, Nick: The Metaphysics of Beauty, New York 2001. − »Aesthetic Judgment«, in: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition), URL = .

Form und Gehalt. Warum Eduard Hanslicks Musikphilosophie zeitgemäß ist Lars-Olof Åhlberg (Uppsala)

1. Einleitung Eduard Hanslicks Schrift, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, eine Schrift von rund 100 Seiten, 1854 erschienen, ist einer der bedeutendsten und meistgelesenen Beiträge zur Musikphilosophie, der nach wie vor kontrovers diskutiert wird.1 Diese Schrift, die Hanslick im Alter von 29 Jahren verfasste, erlebte zu seinen Lebzeiten nicht weniger als zehn Auflagen, wurde schon bald in mehrere Sprachen übersetzt und ist niemals vergriffen gewesen.2 In einigen der späteren Auflagen gibt es wichtige Änderungen – den kleinen Rest romantisch-idealistischer Musikauffassung, der sich in der ersten Auflage findet, hat Hanslick später gestrichen –; sonst aber hat sich Hanslick nicht mehr zu Fragen der Musikästhetik und der Musikphilosophie geäußert. Auch als Professor für Musikgeschichte und Musikästhetik in Wien (1861 bis 1895) hat er sich ausschließlich musikkritisch betätigt. Fast fünfzig Jahre lang war er der tonangebende und gefürchtetste Musikkritiker in Wien. Nicht umsonst wird er in Wagners Meistersingern als Beckmesser karikiert. In seiner Autobiographie erklärt Hanslick diesen späteren Verzicht auf die Beschäftigung mit musikästhetischen Fragen damit, dass er so viele Abhandlungen über das Wesen der Musik gelesen habe, dass er des Arbeitens mit abstrakten Begriffen müde geworden sei – eine fruchtbare Ästhetik der Tonkunst sei nur auf der Grundlage tiefer historischer Kenntnis möglich oder Hand in Hand mit ihr. Paul Moos stellt in seiner Modernen Musikästhetik in Deutschland schon 1902 fest, dass Hanslicks Schrift großen Einfluss gehabt habe sowohl bei Fachleuten als auch bei Laien; Zustimmung und Widerspruch seien ihr in gleichem Maße zuteil geworden, alle Anfechtungen habe sie überdauert, und sie werde immer noch genauso viel und genauso gern gelesen wie vierzig Jahre zuvor.3 Fünfzig Jahre später schreibt der amerikanische Kunstphilosoph Morris Weitz im Vorwort zur englischen Übersetzung: »Hanslick’s book remains the best introduction to the subject. It is to music what Hume’s Inquiry Concerning Human Understanding is to speculative philosophy, a devastating critique of unsupEduard Hanslick: Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, 1854, Darmstadt 1991. 2 Hanslicks Schrift wurde 1865 ins Spanische, etwas später ins Französische (1877), ins Italienische (1883), ins Dänische (1885), ins Russische (1885 und 1895) ins Englische (1891) und ins Niederländische (1892) übersetzt (vgl. Mark Evan Bonds: »Foreword«, in: Nicole Grimes/Siobhán Donovan/Wolfgang Marx (Hg.): Rethinking Hanslick. Music, Formalism, and Expression, Rochester NY 2013, vii). 3 Paul Moos: Moderne Musikästhetik in Deutschland. Historisch-kritische Übersicht, Leipzig 1902, S. 79. 1

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portable views and an attempt to state clearly and precisely the territories and boundaries of the areas they discuss.«4 Weitz schätzt also Hanslick wegen seines, wie man auf Englisch sagt, »no nonsense approach«. Obwohl Franz von Kutschera in seiner Ästhetik (1998) eine Ausdrucks- und Gehaltsästhetik vertritt – in allen Kunstwerken vereine sich ein gelungener Ausdruck mit einem bedeutsamen Gehalt – hält er Hanslicks Buch zugute, dass es nach wie vor das beste Plädoyer gegen Ausdruckstheorien der Musik sei,5 und der amerikanische Musikphilosoph Peter Kivy vertritt in Bezug auf die Instrumentalmusik eine Auffassung, die er als »semi-Hanslick’sch« bezeichnet.6 Hanslick ist sich bewusst, dass sein Formalismus von vielen Musikschriftstellern und -kritikern als eine Verletzung der Würde und Hoheit der Musik missbilligt wurde. Von Wagner und den Wagnerianern wurde er als »Musikjude« verschrien, der nichts von der metaphysischen Sendung der Musik verstanden habe.7 Hanslick ist jedoch der Meinung, seine Untersuchung sei nicht normativ, sondern rein deskriptiv-empirisch; aus seiner Darstellung lasse sich kein bestimmtes Musik-Ideal ableiten. Dies ist allerdings eine problematische Ansicht, weil jede Musikauffassung sowohl deskriptive als auch normative Züge aufweist, die auf komplizierte Weise miteinander zusammenhängen. Es ist kein Zufall, dass Hanslicks musikästhetische Theorie und seine Musikkritik zusammenpassen wie Topf und Deckel. Als Musikkritiker bezieht er nämlich eindeutig Stellung für die klassisch-romantische Tradition (Mozart, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Brahms und Dvořák) gegen die sogenannten Neudeutschen Liszt, Wagner, Bruckner und Richard Strauss, »de[n] musikalische[n] Hofkaplan Zarathustras«, welcher Hanslick zufolge symphonische Bilderbücher produziere.8 Mit Schumann, Dvořák und Brahms war er auch persönlich befreundet.

Morris Weitz: »Introduction«, in: Eduard Hanslick: The Beautiful in Music, übers. v. Gustav Cohen, hg. v. Morris Weitz, New York 1957, S. vii. 5 Franz von Kutschera: Ästhetik, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 479. 6 Vgl. Peter Kivy: Sound Sentiment. An Essay on the Musical Emotions, Philadelphia 1989; Music Alone. Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca, London 1990; Antithetical Arts. On the Ancient Quarrel Between Literature and Music, Oxford 2009. 7 In seiner Schrift, »Das Judentum in der Musik«, behauptet Wagner, Hanslicks Schrift, die er verächtlich als ein »Libell« bezeichnet, sei für »den allgemeinen Zweck des Musikjudentums« geschrieben, und ganz besonders, um ihn, Wagner, als Komponisten abzutun (Richard Wagner: »Das Judentum in der Musik«, 1850, 2. Aufl., 1869, in: Jens Malte Fischer (Hg.): Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt/M. 2000, S. 177– 178). Obwohl Hanslick sich kritisch zu einigen Opern Wagners äußert, ist Wagner aber keineswegs die Zielscheibe seiner Kritik der Gefühlsästhetik. Vgl. Hanslicks Entgegnung in »Richard Wagners ›Judentum in der Musik‹«, 1869, in: Jens Malte Fischer (Hg.): Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«, S. 232–238. Der Artikel »Hanslick« im Lexikon der Juden in der Musik (hg. v. Theo Stengel und Herbert Gerigk, Berlin 1940, S. 101–104), besteht hauptsächlich aus einem Zitat aus Wagners Schrift. Hanslick stammte aus einer katholischen Familie, seine Großeltern mütterlicherseits waren mosaischen Glaubens. 8 Eduard Hanslick: Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken, hg. v. Peter Wapnewski, Basel 1989, S. 206–207. 4

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II. Die Instrumentalmusik als die Musik als solche Hanslick betont, dass er weder die Absicht noch die Kraft habe, eine Ästhetik der gesamten Tonkunst vorzulegen,9 und noch weniger eine allgemeine Kunstphilosophie, denn die ästhetischen Prinzipien der Malerei, Architektur, Musik müssten erst gewonnen und Spezial-Ästhetiken erst entwickelt werden.10 In der achten Auflage seiner Abhandlung verweist er auf Grillparzers Ansicht, dass der übelste Dienst, den man in Deutschland den Künsten erwiesen habe, die Tatsache sei, dass man sie alle unter dem Namen »Kunst« zusammengefasst habe.11 Hanslicks Formalismus betrifft also ausschließlich die Musik und sogar nur die Instrumentalmusik, die Hanslick als »Musik als solche« erachtet, d. h. als »reine, absolute Tonkunst«.12 Hanslick zufolge kann für die Tonkunst als solche nur gelten, was auch für die Instrumentalmusik gilt. »Was die Instrumentalmusik nicht kann, von dem darf nie gesagt werden, die Musik könne es«, lautet seine These.13 Die Instrumentalmusik sei nämlich die reine, absolute Tonkunst; Vokalmusik, Oper, Instrumentalmusik mit Überschriften und Programmmusik seien nicht reine, absolute Musik. Hanslick ist sich natürlich dessen bewusst, dass die autonome Instrumentalmusik musikgeschichtlich eine späte Erscheinung ist und sich erst mit dem Wiener Klassizismus in vollem Umfang entfaltet. Erst hier befreit sich die Musik von Text und Wort und emanzipiert sich von ihren früheren rituellen und illustrativen Aufgaben. Die reine Instrumentalmusik und vor allem die Symphonie dürfen seither als Paradigma von Musik, als Musik im hervorragenden Sinne gelten. Die Vokalmusik kann somit nicht der Ausgangspunkt für eine allgemeine Musikästhetik sein. Die Musik in einer Vokalkomposition kann, so Hanslick, zwar mehr oder minder gut zum Text passen, die Töne aber könnten keineswegs das Thema des Textes darstellen, sondern dieses nur begleiten und ihm ein gewisses Kolorit verleihen. Man kann durchaus sagen, dass Vokalmusik und Oper für die Hanslick’sche Musikauffassung ein Problem darstellen – darüber später mehr. Während Hanslick also Vokalmusik und Oper in gewissem Sinne herabwürdigt, ist er gegenüber Programmmusik, die er als Tonmalerei bezeichnet, ausgesprochen feindlich gesinnt. Im Idealfall genügt die Oper den musikalischen und den dramatischen Anforderungen in gleichem Maße. Hanslick zufolge ist sie jedoch durch den steten Kampf zwischen den Prinzipien der dramatischen Genauigkeit und der musikalischen Schönheit gekennzeichnet. In einer gelungenen Oper müssten die beiden Prinzipien einander notwendig schneiden, das aber sei nicht immer der Fall. Wenn es aber zu einem Konflikt zwischen Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. v. Ebd., S. 2. 11 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst, Teil I: Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Dietmar Strauß, Mainz, London 1990, S. 23. Hanslick bezieht sich auf die Tagebuchaufzeichnung Grillparzers in 1827 (Franz Grillparzer: Sämtliche Werke, Bd. III. Satiren – Fabeln und Parabeln – Erzählungen und Prosafragmente – Studien und Aufsätze, hg. v. Peter Frank/Karl Pörnbacher, München 1964, S. 235). 12 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 20. 13 Ebd. 9

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den musikalischen und den dramatischen Momenten kommt, müsse das musikalische die Oberhand gewinnen, denn die Oper ist in Hanslicks Augen zuallererst nicht Drama, sondern Musik. Eine Oper, in der die Musik nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebraucht wird, ist Hanslick zufolge ein musikalisches Unding. Weil für ihn in Wagners Lohengrin die dramatische Tendenz auf Kosten der musikalischen die Oberhand gewonnen habe, stellt Hanslick den Tannhäuser höher, da Wagner in dieser Oper den Standpunkt der echt musikalischen Schönheit noch nicht überschritten habe.14 Hanslicks These, die Instrumentalmusik sei die Musik schlechthin, war jedoch keineswegs originell, sie lag schon seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in der Luft. Johann Gottfried Herder beispielsweise schreibt in seiner Kalligone (1800), die Musik habe sich von ihren Schwestern, Wort und Gebärden getrennt, sie sei selbständig geworden, habe sich selbst als Kunst ausgebildet und stelle ein eigenes hohes und freies Reich dar.15 Und E. T. A. Hoffmann vertritt in einer Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie die Auffassung, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede sei, sei immer die Instrumentalmusik gemeint, die, jede Beimischung einer anderen Kunst verschmähend, das reine Wesen der Musik ausspreche. Das Unendliche sei Gegenstand der Instrumentalmusik.16 Einen ähnlichen Gedanken finden wir bei Schopenhauer. Die Instrumentalmusik ist für ihn »die erste, die königlichste der Künste. Wie die Musik zu werden ist das Ziel jeder Kunst«,17 eine Aussage, die Walter Paters berühmten Satz »All art aspires to the condition of music« um 75 Jahre vorwegnimmt.18

III. Hanslicks These Die Gefühlsästhetik, die in der Musikästhetik im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert vorherrschte, findet einen exemplarischen Ausdruck in Heinrich Christoph Kochs Definition der Musik als der »Kunst durch Töne Empfindungen auszudrücken«,19 sowie in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771/4): »Musik ist eine Folge von Tönen, die aus leidenschaftlicher Empfindung entstehen und sie folglich schildern«.20 Es ist diese vorherrschende Gefühlsästhetik, die Hanslick unter Feuer nimmt. Hanslicks Meinung nach spielen die Gefühle und der Gefühlsausdruck in der zu Ebd., S. 28–29. Johann Gottfried Herder: Kalligone, 1800, in: ders.: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792– 1800, Werke in zehn Bänden, Bd. 8, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/M. 1998, S. 818–819. 16 E. T. A. Hoffmann: »Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie«, 1810, in: ders.: Schriften zur Musik. Nachlese, hg. v. Friedrich Schnapp, München 1963, S. 34, S. 36. 17 Arthur Schopenhauer: Arthur Schopenhauers handschriftlicher Nachlass, Band IV, hg. v. E. Griesbach, Leipzig o.J., S. 31. 18 Walter Pater: »The School of Giorgione«, 1877, in: ders.: The Renaissance. Studies in Art and Poetry, 1893, hg. v. Donald L. Hill, Berkeley CA 1980, S. 106. 19 Heinrich Christoph Koch: »Musik«, in: ders.: Musikalisches Lexikon, Frankfurt 1802, S. 992. 20 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771/4), Bd. 2, Berlin 2004, S. 782. Obwohl sich das Sulzer-Zitat in Hanslicks Buch (S. 11) nicht in Sulzers Schrift findet, gibt es ziemlich genau dessen Auffassung wieder. 14 15

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seiner Zeit geläufigen Musikästhetik eine doppelte Rolle. Erstens werde angenommen, es sei Zweck und Bestimmung der Musik, Gefühle zu erwecken, zweitens gehe man davon aus, Gefühle seien der Inhalt der Tonkunst, d. h. es sei die Aufgabe der Musik, Gefühle auszudrücken und darzustellen. Hanslick hält dem entgegen, dass das Schöne in der Musik nicht durch das Gefühl aufgenommen werde, sondern es vielmehr um ein aufmerksames Hören gehe, das Hanslick als »Anschauung« bezeichnet.21 Er leugnet aber keineswegs, dass eine sekundäre Wirkung des Schönen auf das Gefühl in der Musik wie in jeder Kunstform vorkommt. Raphaels Madonnen zum Beispiel erwecken Andacht, der Anblick des Straßburger Doms ruft Bewunderung hervor, usw. Aber Hanslick erinnert daran, dass auch manche außerästhetischen Tätigkeiten, religiöse Rituale etwa, gefühlsmäßige Wirkungen haben, und macht geltend, dass sich jedes wahre Kunstwerk in irgendeine Beziehung zu unserem Fühlen setzen lasse, keines aber in eine ausschließliche.22 Seiner Meinung nach liegt kein notwendiges kausales Verhältnis zwischen einem Musikwerk und den Gefühlen und Stimmungen vor, die es evoziert. Die von einem Musikwerk hervorgerufenen Stimmungen und Gefühle – Hanslick unterscheidet nicht scharf zwischen Gefühl und Stimmung – variieren nämlich je nach Temperament und Alter des Hörers und anderen Faktoren. Außerdem bringe jede Zeit und Gesittung ein unterschiedliches Hören und ein unterschiedliches Fühlen mit sich, während die Musik dieselbe bleibe. Die Wirkung der Musik auf das Gefühl besitze daher weder die Notwendigkeit noch die Stetigkeit oder die Ausschließlichkeit, die sich an ihr aufweisen lassen müsste, damit sie als ästhetisches Prinzip für die Musik gelten könnte.23 Die Darstellung eines Gefühls oder Affekts, so Hanslick, liegt nicht in dem eigentümlichen Vermögen der Tonkunst.24 Die reine Instrumentalmusik hat also keinen gefühlsmäßigen Inhalt, sie ist weder Ausdruck noch Darstellung irgendeines Gefühls. »Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik«, lautet Hanslicks These.25 Ab der dritten Auflage heißt es dann etwas abgemildert: »Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen«.26 Was in der Musik ausgedrückt wird, sind für Hanslick musikalische Ideen, genauer: eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee, die als solche ein selbständiges Schönes sei, mithin Selbstzweck und keineswegs ein Mittel zur Darstellung von Gefühlen oder Gedanken. Es sei jedoch außerordentlich schwierig, dieses selbständige, genuine Schöne in der Tonkunst zu beschreiben – eine Ansicht, die auch von Kritikern Hanslicks wie Franz von Kutschera geteilt wird. Von Kutschera behauptet, die meisten Musikwerke hätten einen sehr spezifischen Ausdruckswert, der sich jedoch sprachlich sehr schwer charakterisieren lasse.27 Dieser spezifische Ausdruckswert ist für Hanslick rein musikalisch, denn für ihn ist der musikalische Gehalt bzw. der musikalische Inhalt 21 22 23 24

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Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 5. Ebd., S. 6 ff. Ebd., S. 8–9. Ebd., S. 13. Ebd., S. 32. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Historisch-kritische Ausgabe, S. 75. Von Kutschera: Ästhetik, S. 492.

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mit der musikalischen Form identisch, weshalb wir nicht im Stande seien, diesen Gehalt in Worte zu übersetzen.28 Wenn wir versuchen, ein musikalisches Motiv zu beschreiben, was Hanslick vor allem in seinen Musikkritiken tut, wählen wir häufig Termini aus dem Gefühlsleben wie »stolz«, »missmutig«, »zärtlich«, »beherzt«, »sehnend«.29 Auch etwa als »frühlingsfrisch«, »nebelhaft« oder »frostig« lassen sich Hanslick zufolge musikalische Motive beschreiben.30 Und dann gibt es die Vortragsbezeichnungen »feierlich«, »misterioso«, oder »täppisch und sehr derb« oder »sehr trotzig«, die jedoch ebenso wenig bedeuten, dass von der Musik ein Mysterium oder etwas Trotziges dargestellt wird, wie die Vortragsbezeichnung »accarezzavole« (liebkosend, schmeichelnd) irgendeinen außermusikalischen Inhalt andeutet. Ebensogut wie eine Landschaft sommerlich froh aussehen kann und bei Sturm und Regen im November düster ist, können wir der Musik ähnliche Eigenschaften metaphorisch zuschreiben. Das ändert, wie Hanslick geltend macht, aber nichts daran, dass reine Instrumentalmusik nur mit Hilfe eines trockenen technischen Vokabulars oder mittels poetischer Fiktionen beschrieben werden kann, denn Musik wolle nun einmal als Musik aufgefasst sein, »ihr Reich ist in der Tat ›nicht von dieser Welt‹«, wie er behauptet.31 Alle phantasiereichen Schilderungen und Charakterisierungen eines Musikwerks sind somit Hanslicks Meinung nach entweder »bildlich oder irrig«.32 Peter Kivy hat auf eine interessante Stelle im Vorwort zur zweiten Auflage (1857) von Hanslicks Werk hingewiesen,33 in der dieser hervorhebt, dass es keineswegs erlaubt sei, aus der These, dass die Instrumentalmusik keine darstellende Kunst sei, auf die »absolute Gefühlslosigkeit der Musik« zu schließen, und er fügt hinzu: »Die Rose duftet, aber ihr ›Inhalt‹ ist doch nicht ›die Darstellung des Duftes‹.«34 Das heißt, ein Musikwerk kann emotionale Eigenschaften besitzen und deshalb beispielsweise als »traurig« oder »freudig« bezeichnet werden, ohne Trauer oder Freude darzustellen oder auszudrücken. Solche emotionalen Eigenschaften sind nach Kivys Auffassung phänomenologische Eigenschaften der Musik selbst: »They are phenomenological properties of the music that we hear in it as we see the redness of the apple and the smell of the fragrance of the rose.«35 Kivy sieht in diesem Gedanken, den Hanslick seinem Buch erst später hinzufügt und leider nicht weiter ausarbeitet, eine Vorwegnahme seiner eigenen Musiktheorie, die Kivy als weiterentwickelten und verbesserten Formalismus (»enhanced formalism«) versteht.

Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 34–35. Ebd., S. 37. Vgl. S. 14. 30 Ebd., S. 37. 31 Ebd., S. 34. 32 Ebd. 33 Kivy: Antithetical Arts, S. 64–65. Kivy glaubt irrigerweise, dass diese Stelle sich erst in der achten Auflage (1891) findet. 34 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Historisch-kritische Ausgabe, S. 10. 35 Kivy: Antithetical Arts, S. 65. 28 29

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IV. Gefühl und Gefühle Es gibt allerdings Hanslick zufolge durchaus eine Verbindung zwischen dem menschlichen Gefühlsleben und der Instrumentalmusik. Die Musik kann nämlich in Hanslicks Augen Ideen artikulieren, die sich auf hörbare Veränderungen der Zeit, der Kraft und der Proportionen beziehen. Musik könne etwa die Idee des Nachschwellenden, des Absterbens, des Eilens und des Zögerns ausdrücken, deshalb könne der ästhetische Ausdruck eines Musikwerks als »sanft«, »heftig«, »kraftvoll«, »zierlich« oder »frisch« bezeichnet werden. Musik kann demnach Ideen artikulieren, die in einer Tonverbindung eine ihnen entsprechende akustische Erscheinung finden können. Instrumentalmusik, d. h. Musik ohne Titel oder Text, kann indes, wie Hanslick meint, nur die Dynamik der Gefühle und Stimmungen darstellen, weil die Bewegung das Element ist, das die Tonkunst mit den Gefühlszuständen gemein hat.36 Der Inhaltsästhetik zufolge seien dagegen Gefühle wie die Liebe, der Mut, die Andacht, das Entzücken der Inhalt, der in seiner reichen Mannigfaltigkeit im Musikwerk zum Ausdruck komme. Hanslick behauptet demgegenüber, dass die Tonkunst, obwohl sie Gefühle und Affekte erwecken könne, außerstande sei, irgendein Gefühl oder irgendeinen Affekt darzustellen, weil ein Gefühl wie Sehnsucht, Hoffnung, Wehmut oder Liebe – um mich auf Hanslicks eigene Beispiele zu beschränken –, Vorstellungen, Begriffe und Urteile voraussetzt, um als ein bestimmtes Gefühl identifizierbar zu sein.37 Hoffnung zum Beispiel ist nach Hanslicks Meinung untrennbar verbunden mit der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, Liebe mit der Vorstellung einer geliebten Person usw. Franz Brentano merkt in seinen »Aphorismen zur Musik« spöttisch an, dass die Wagnerianer meinten, der Meister könne auch ohne Worte ein »Ich liebe Dich« und sogar ein »Ich liebe Dich, weil Du ein Held bist« ausdrücken.38 Wenn aber selbst Wagner dieses Kunststück nicht gelingt, dann gelingt es niemandem. Und tatsächlich scheint es, dass das, was nach inhaltsästhetischer Auffassung durch Musik zum Ausdruck kommen soll, bestenfalls durch ein Libretto angedeutet werden kann. Die Bestimmtheit eines Gefühls, das, was es zu ebendem bestimmten Gefühl macht, das es ist, ist untrennbar mit dem Begriff ebendieses bestimmten Gefühls verbunden, den Musik ohne Worte und ohne Titel nicht auszudrücken vermag. Weil Musik im Grunde ein dynamischer Prozess ist, ein Geschehen, hat sie Hanslick zufolge die Bewegung mit den Gefühlszuständen gemeinsam. Auch wenn Tonarten, vereinzelte Akkorde und Klangfarben schon an sich, d. h. in ihrer Vereinzelung, einen bestimmten Charakter haben mögen, drücken sie doch als je einzelne keineswegs konkrete Gefühlszustände aus – ebenso wenig, wie einzelne Farben einen bestimmten Charakter an sich haben, obwohl sie in einem Gemälde im Zusammenhang mit anderen kompositorischen Elementen einen bestimmten Stellenwert erhalten können. Sowenig jedes Rot in einem Gemälde Freude bedeutet, so wenig erweckt alles h-moll eine menschenfeindliche Stimmung.39 Hanslick verweist in Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 16. Ebd., S. 13–14. 38 Franz Brentano: »Aphorismen über die Musik«, 1916, in: ders.: Grundzüge der Ästhetik, aus dem Nachlass herausgegeben von Franziska Mayer-Hillebrand, Hamburg 1988, S. 219. 39 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 16–17. 36 37

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diesem Zusammenhang auf die Arbeit des Hegelianers Karl Rosenkranz, Psychologie als Wissenschaft vom subjektiven Geist, in der Rosenkranz behauptet, das Violett drücke eine mäßige Fröhlichkeit und eine philisterhafte Freundlichkeit aus.40 Es fehlt jedoch nicht an Versuchen, einzelnen Akkorden einen bestimmten Gefühlston oder sogar einen bestimmten Inhalt zuzuordnen. Der bekannteste von ihnen dürfte Deryck Cookes The Language of Music (1959) sein. Die kleine Terz zum Beispiel sei, so Cooke, ein Ausdruck von Schmerz und gar ein Aufbegehren gegen das Schicksal.41 Für die Inhaltslosigkeit der Instrumentalmusik führt Hanslick die 48 Fugen und Präludien von Bachs Wohltemperiertem Klavier als Beispiel an.42 Niemand, so Hanslick, werde nachweisen können, was der Inhalt dieser Musik sei. Auch wenn es womöglich leichter sei, ein bestimmtes Gefühl als den Inhalt einer Mozart’schen oder Haydn’schen Symphonie oder eines Beethoven’schen Adagio auszuweisen, erscheint es ihm als unmöglich, diesen musikalischen Themen eindeutig ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Stimmung als ihren Inhalt zuzuordnen. Dem einen mag ein musikalisches Werk »Liebe« artikulieren, einem anderen »Sehnsucht«, einem Dritten »Andacht« – Einschätzungen, die sich weder widerlegen noch beweisen lassen. Wenn aber tatsächlich etwas dargestellt werden würde, ein bestimmtes Gefühl oder eine Stimmung, dann müsste es Hanslick zufolge möglich sein, Meinungsverschiedenheiten über den gefühlsmäßigen Inhalt eines Musikwerks zu schlichten.43 Offenkundig ist Hanslick der Meinung, dass es sich anderenfalls nur um Divergenzen zwischen persönlichen und zufälligen Assoziationen, die von der Musik ausgelöst werden, handeln könne. Streng ästhetisch können wir seines Erachtens von einem musikalischen Thema zwar sagen, es klinge stolz oder trübe, nicht aber, dass es ein Ausdruck der stolzen oder trüben Gefühle des Komponisten sei oder dass es Stolz oder Trübsein darstelle.44

V. Rezeption von Musik »Die Gefühle begleiten das Auffassen eines Musikstücks, wie sie die Vorgänge des Lebens begleiten«, schreibt Ludwig Wittgenstein in den Vermischten Bemerkungen 1931.45 Dass Musik eine Einwirkung auf unser Gemüt hat, ist unleugbar und zur Genüge durch experimentalpsychologische Untersuchungen belegt.46 Schon Platon hält in der Politeia fest, dass Rhythmus und Wohlklang am stärksten in das Innere der Seele eindringen.47 Wenn ein Thema auf uns leidenschaftlich wirkt – Hanslick verneint keineswegs die emoKarl Rosenkranz: Psychologie als Wissenschaft vom subjektiven Geist, Königsberg 1843, S. 100. Deryck Cooke: The Language of Music, London 1959, S. 122. 42 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 16. 43 Ebd., S. 19–20. 44 Ebd., S. 55. 45 Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, 2. Aufl., hg. v. G. H. von Wright, Malden MA, Oxford 1994, S. 20. 46 Vgl. Patrik N. Juslin/John A. Sloboda (Hg.): Music and Emotion. Theory and Research, Oxford 2001. 47 Politeia 401d. 40 41

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tionale Wirkung von Musik –, so liegt der Grund für diese Wirkung nicht etwa in dem »vermeintlich übermäßigen Schmerz des Komponisten, sondern in [den] übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele sondern im Tremolo der Pauken«.48 Was die Rezeption von Musik betrifft, das Hören von Musik, gibt es Hanslick zufolge zwei grundlegend verschiedene Verhaltensweisen, ein Verhalten, bei dem der Hörer sich dem Elementarischen der Musik hingibt und die Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken lässt, und ein anschauendes Verhalten, ein musikalisches Hören, das zwar auch emotionsgeladen sei, bei dem aber das Künstlerisch-Individuelle des Musikwerks im Mittelpunkt steht und die Aufmerksamkeit beanspruche.49 Hanslick plädiert für diese zweite Rezeptionsform: Musik solle nicht den Zuhörern die Füße oder das Herz beleben, wie Wein es tue, sondern »Feuer aus dem Geist schlagen«, wie Beethoven es verlangte.50 Als die Tonkunst noch keine selbständige Kunstform war, habe sie als »fügsame Begleiterin aller Künste« fungiert51 – sie wurde zu politischen, pädagogischen und anderen Zwecken benutzt, war aber keine selbständige Kunst. Nachdem aber die Musik, und das heißt hier: die absolute Musik, die Instrumentalmusik, zu einer selbständigen Kunst erhoben wurde, sei das bewusste, reine und kontemplative Anschauen des Tonwerks die einzig ästhetische und wahre Form des Hörens: die Form, die dem Musikwerk entspricht. Musik ästhetisch aufzunehmen bedeutet deshalb für Hanslick, dass die Musik nicht als Mittel benutzt wird, weder zu rituellen oder kulturellen Zwecken noch als Mittel zur Belebung des Gemüts.52 Tatsächlich ist natürlich die meiste Musik, die in unserer Umwelt vorkommt, Gebrauchsmusik oder funktionale Musik wie Kirchenmusik, Musik bei festlichen Anlässen, Tanzmusik, Militärmusik oder auch Musik in den Warenhäusern und Restaurants. Das gilt nicht etwa nur für Unterhaltungsmusik, sondern auch für Kunstmusik, denn auch diese wird zu außerästhetischen Zwecken im Hanslick’schen Sinn benutzt. Als Beethovens Neunte Symphonie bei den Feierlichkeiten zum sechzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik am Brandenburger Tor aufgeführt wurde, war die Neunte insofern nicht mehr »reine« Musik, sondern hatte bestimmte ideologisch-symbolische Funktionen übernommen. Alle Künste haben in Hanslicks Augen zwar das Vermögen, auf das Gemüt und auf die Gefühle zu wirken, die Musik aber wirke rascher und schneller als irgendeine andere Kunstform. Hanslick bringt die Differenz auf eine einprägsame Formel: Die anderen Künste überreden uns, die Musik überfällt uns.53 Musik kann rein physiologisch bedingte körperliche Reaktionen hervorrufen, und das ist auch der Grund, weswegen man ihr schon seit der Antike heilende Wirkungen bescheinigt. Das freilich gilt ebenso für Heidelbeeren und Heidelbeerblätter. Hanslick spottet denn auch, schon Pythagoras habe durch Musik Wunderkuren verrichtet, und unter seinen Zeitgenossen gebe es Musikmediziner, die wissen wollen, dass Epilepsie, Pest und sogar Dummheit durch

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Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 38. Ebd., S. 70–71. Ebd., S. 74. Ebd., S. 77. Ebd. Ebd., S. 59.

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die Macht der Töne geheilt worden seien.54 Hanslick leugnet aber keineswegs, dass Musik therapeutischen Nutzen haben kann. Wo dies der Fall sei, sei sie jedoch nicht rein künstlerisch-ästhetisch: Ihre Funktion sei es dann nämlich nicht, ästhetische Erlebnisse hervorzurufen, sondern, ganz unmittelbar ästhetisch im wortwörtlichen Sinn auf das Gemüt und den Körper einzuwirken.55 Als Beispiel mag die Geschichte von König Saul und dem Harfe spielenden David dienen. Im Alten Testament wird erzählt, wie David, als der böse Geist König Saul überfiel, auf der Harfe spielte – und »es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm«.56 Es gibt gewiss Belege für die Effizienz der Musiktherapie – manche Musik Mozarts zum Beispiel kann offensichtlich die Genesung von Herzpatienten beschleunigen. Wir dürfen jedoch annehmen, dass es nicht Mozarts Requiem ist, das aus den Lautsprechern strömt.

VI. Programmmusik Es gibt Instrumentalmusik, die den Anspruch erhebt, einen außermusikalischen Inhalt anzudeuten oder zu illustrieren. Ich denke an verschiedene Formen von programmatischer Musik, d. h. an Instrumentalmusik mit einer Überschrift oder mit einem ausführlichen literarischen Programm. In der modernen Musik – und Hanslick verstand darunter die von seinen Zeitgenossen komponierte Musik – beobachtet er die Tendenz, die Musik ihre Grenzen sprengen zu lassen, d. h. sie zur Sprache zu erheben – in seinen Augen ein sinnloses Unterfangen.57 Hanslick hat bei diesem Urteil vor allem die Programmmusik von Liszt und Richard Strauss im Sinn, es finden sich aber auch kritische Bemerkungen zu Beethovens Neunter Symphonie, die er wegen des Chor-Finales nicht uneingeschränkt bewundern kann – sie sei eine geistige Wasserscheide der Musikgeschichte, weil hier ein Text in die symphonische Textur eingebettet ist.58 Was die Programmmusik anbelangt, lassen sich verschiedene Stufen unterscheiden.59 Erstens gibt es instrumentalmusikalische Werke mit einer Überschrift, die noch nicht der eigentlichen Programmmusik zuzurechnen sind, zweitens findet sich Musik mit mehreren Überschriften, die ein Sujet andeuten, und drittens die Programmmusik im engeren Sinn, wo der Text dem Komponisten zufolge ein integrales Moment der Komposition ist und daher wesentlich für das Verständnis des Musikwerkes. Ein Beispiel für ein musikalisches Werk der ersten Stufe ist die König Lear Ouvertüre von Berlioz, der sich beim Komponieren von der Tragödie König Lear hat inspirieren lassen, ohne dass man, trüge das Werk nicht diesen Titel, beim Hören der Ouvertüre an Shakespeares König Lear denken würde.60 Musik kann indes auch Ausdrucksqualitäten wie erhaben, düster, dramatisch, 54 55 56 57 58 59 60

Ebd., S. 60. Ebd., S. 63. 1 Sam. 16:23. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 49–50. Ebd., S. 50. Vgl. von Kutschera: Ästhetik, S. 499 ff. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 93.

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stürmisch usw. aufweisen, die auch einem literarischen Thema eigen sein können. Die rein musikalischen Ausdrucksqualitäten eines Musikwerks können also auf verschiedene Weise einem literarischen Thema entsprechen, ohne dass dieses Thema der Inhalt des Musikwerkes ist. Man denke etwa an Felix Mendelssohns Konzertouvertüre Die Hebriden oder die Fingalshöhle (1830). Dem Musikwissenschaftler Volker Scherliess zufolge verbinden sich hier Motive aus der nordischen Mythologie, wie sie in der Romantik durch Ossians Gesänge überaus populär waren, mit persönlichen Eindrücken der See und der Landschaft, die Mendelssohn auf seiner Schottlandreise 1829 gewonnen hatte, zu einem großartigen Stimmungsgemälde. Aber es wäre falsch, so Scherliess, die bildhaften Elemente überzubewerten, das einsätzige Werk sei gewissermaßen und teilweise auch »absolute Musik«.61 Hier wird uns ein schwedisches Buffet aus höchst verschiedenen und miteinander unvereinbaren Theoriefragmenten geboten. Ein anderer Kritiker meint, das Werk sei musikalisch so kompakt und voller Sinn, dass, obwohl es um eine Naturschilderung geht, eine Kenntnis der schottischen Fingalshöhle nicht vonnöten sei.62 Wenn das stimmt, handelt es sich bei Mendelssohns Konzertouvertüre allerdings nicht um Programmmusik im engeren Sinn. Interessanter sind demgegenüber die Ausführungen der Philosophen Peter Kivy und Jerrold Levinson zu Mendelssohns Ouvertüre. Kivys Meinung nach handelt es sich dabei um eine Darstellung des die Hebriden umgebenden Meeres: »As a musical seascape […] it is unsurpassed, and seldom equalled. It begins with the unmistakably seething ebb and flow of a heavy sea, represented by the persistent repetition of a musical figure obviously designed to give the impression of a periodic wave motion or swell. […] But what makes this a representation of the Scottish seas and not, perhaps, the sea at Brighton or Coney Island on a sunny day in July? These musical waves could break anywhere, were it not, of course, for their expressive quality – dark, brooding, melancholy, like the expressive quality of the Hebrides’ seas themselves.«63 Dazu ist folgendes zu sagen: Erstens würden wir, wäre die Ouvertüre nicht mit einer Überschrift versehen, nicht notwendigerweise an eine Meeresschilderung denken. Zweitens hören wir, falls wir das Wogen der Hebridischen Gewässer in dieser Musik hören, dies nur wegen des Titels. Jerrold Levinson bestreitet nicht, dass der Ouvertüre ein implizites Programm zugrunde liegt, analysiert aber sehr eingehend das schwungvolle und energische, fast majestätische melodische Hauptthema, das seiner Ansicht nach einen nicht gegenstandsbezogenen höheren Gefühlszustand ausdrückt, nämlich Hoffnung.64 Dieses Thema sei also ein musikalisches Pendant zu dem Gefühl der Hoffnung. Es ist meiVolker Scherliess: »Mendelssohn: Ouvertüren«, CD-Booklet DG 423 104–2, 1988. Bernhard Rzehulka: »Felix Mendelssohn Bartholdy. Ouvertüren«, in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hg.): Der Konzertführer. Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996, S. 316–319, hier S. 317. 63 Peter Kivy: Sound and Semblance. Reflections on Musical Representation, Princeton NJ 1984, S, 137–139. 64 Jerrold Levinson: »Hope in The Hebrides«, in: ders.: Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca NY 1990, S. 336–375. 61 62

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nes Erachtens nicht ersichtlich – oder genauer gesagt: keineswegs unüberhörbar –, dass dieses Thema ein Ausdruck von Hoffnung ist. Warum sollten wir in ihm nicht einen Ausdruck großer Freude, einen Ausdruck von Begeisterung oder eines allgemeinen Hochgefühls erkennen? Claude Debussys La Mer repräsentiert die zweite Stufe programmatischer Musik. Debussy habe hier die Bewegungen des Meeres in klangliche Äquivalente umgesetzt, urteilt der Musikwissenschaftler Dietmar Holland.65 Der Komponist hat die drei Sätze dieser symphonischen Skizzen mit kurzen Überschriften versehen. Die Überschrift des ersten Satzes lautet: »Vom Morgengrauen bis zum Mittag am Meer«, was Debussys Freund und Kollege Erik Satie zu der Bemerkung veranlasste, die Stelle zwischen 10.30 Uhr und 10.45 Uhr sei besonders gelungen.66 Als Beispiel für die dritte Stufe sei die Tondichtung Also sprach Zarathustra von Richard Strauss genannt – ein Werk, zu dem sich Hanslick als Musikkritiker geäußert hat. Nietzsches Also sprach Zarathustra enthalte geniale und glänzende Gedanken, urteilt Hanslick, aber auch viele abstruse, erkünstelte und abstoßende. Strauss täusche durch die Titel seiner Tondichtung eine Bedeutung der Musik vor, die nicht in ihr selbst liege. Es handele sich nämlich nicht um echte Musik, sondern um komprimierte Literatur. Man wisse weder, wo »das Kapitel von der Wissenschaft« beginnt, noch, wann man auf »das heilige Lachen« oder das »Motiv der Verachtung« aufzupassen habe.67 In der zweiten Auflage seines Buches merkt Hanslick an, dass die Programm-Symphonien von Liszt vollständiger als bisher die selbständige Bedeutung der Musik preisgegeben habe – ein Urteil, das seiner Meinung nach auch für Strauss gilt.68 (Dessen Vater, der auch Musiker war, hatte den Sohn vor den Verrücktheiten von Berlioz, Liszt und Wagner gewarnt, offenkundig vergebens.) Programmmusik der dritten Stufe verfügt über ein explizites Programm. Dabei kommt es jedoch vor, wie zum Beispiel im Fall von Hector Berlioz’ Symphonie fantastique: Épisode de la vie d’un artiste en cinq parties, dass der Komponist das Programm überarbeitet, ohne Änderungen in der Partitur vorzunehmen. So hat Berlioz zwischen 1830 und 1855 das Programm, das in der ersten Version eine erotische Besessenheit, Opiumträume und allerlei anderes Schönes beschreibt, mehrmals revidiert, dabei jedoch keine Änderungen in der Partitur vorgenommen. Wenn das aber möglich ist, bedeutet das, dass das Programm kein unerlässliches Moment der musikalischen Komposition ist. Die Musik verträgt sich vielmehr mit unterschiedlichen programmatischen Ideen. Das zeigt auch ein anderes Beispiel: Sibelius hat seine Tondichtung Der Schwan von Tuonela ursprünglich als Vorspiel zu der nicht vollendeten Oper Der Bootsbau geplant, jedoch als die dritte Episode den vier Legenden, Lemminkäinen-Suite (1895), einverleibt. Die Musik ist von einer Episode

65 Dietmar Holland: »La Mer. Trois esquisses symphoniques (1903–1905)«, in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hg.): Der Konzertführer. Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996, S. 731–733, hier S. 732. 66 Vgl. Robert Orledge: Satie the Composer, Cambridge 1990, S. 245. 67 Hanslick: Aus dem Tagebuch eines Rezensenten, S. 206–207. 68 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Historisch-Kritische Ausgabe, S. 10.

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in dem finnischen Nationalepos Kalevala inspiriert, der Schwan gleitet über das das Totenreich (»Tuonela«) umgebende Gewässer und hat somit nichts mit Schiffbau zu tun. Auch wenn ein musikalisches Werk weder ein explizites Programm noch einen Titel aufweist, scheint es immer eine Versuchung zu sein, ihm ein implizites inneres Programm zu unterlegen. Am Anfang des vorigen Jahrhunderts hat Hermann Kretzschmar eine Hermeneutik des inneren Programms entworfen; auch in der gegenwärtigen Musikphilosophie und Musikästhetik gibt es verschiedene gehaltästhetische Ansätze. So ist zum Beispiel Scott Burnham, ein Vertreter der »neuen Musikologie«, davon überzeugt, dass Musik ohne Worte, d. h. reine Instrumentalmusik, mehr denn je Worte brauche.69 Burnham zufolge sollte Musik als reine Musik aufgefasst werden, gleichzeitig aber auch als eine privilegierte Form von Aussagen über außermusikalische Phänomene.70 Und dann gibt es die sogenannte »Persona-Theorie«, die jedes nichtprogrammatische Musikwerk als ein Psychodrama interpretiert.71 Der Komponist und Musikologe Edward T. Cone hat die Grundannahme der Persona-Theorie folgendermaßen zusammengefasst: »Any instrumental composition, like the instrumental component of a song, can be interpreted as the symbolic utterance of a virtual person.«72 So hat er zum Beispiel in einer Klaviersonate von Schubert den Kampf des Komponisten gegen seine sexuelle Veranlagung gehört73 – ein ganz beliebiges und spekulatives Hören, während der Kampf gegen die eigene sexuelle Veranlagung ganz offenkundig das Thema von Stefan Zweigs Novelle »Verwirrung der Gefühle« ist. Man könnte ebenso gut wie schlecht den letzten dramatischen und stürmischen Satz in Beethovens sogenannter Mondscheinsonate (op. 27:2) – der Titel stammt nicht vom Komponisten – als seine wütende Verzweiflung über seine erotische Einsamkeit deuten. Übrigens ist die Vorstellung, im ersten Satz gehe es um romantische Gefühle für eine Frau, aus der mondhellen Luft gegriffen, und der einzige Mondschein, den es hier gibt, stammt von dem Poeten Ludwig Rellstab, der den Titel erfunden hat.74 Eine andere Form von implizitem Programm ist die metaphysische. Der BrucknerSpezialist Hans Ferdinand Redlich zum Beispiel erachtet Bruckners Neunte Symphonie als das Werk eines Gottsuchers, das an »der Wasserscheide zwischen Leben und Tod« entstanden sei. »Das Erlebnis göttlicher Präsenz«, aber auch »die Qual der in den Abgrund Scott Burnham: »How Music Matters. Poetic Content Revisited«, in: Nicholas Cook/Mark Everist (Hg.): Rethinking Music, Oxford 1999, S. 194. 70 »Our ways of being about music include both treating music as itself and treating it as a privileged form of utterance about things other than itself« (ebd., S. 215). 71 Vgl. Jenefer Robinson: Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music, and Art, Oxford 2005, Kapitel 11: »The Expression of Music in Instrumental Music«. 72 Edward T. Cone: The Composer’s Voice, Berkeley, London 1974, S. 94. Peter Kivy hat die PersonaTheorien einer einschneidenden Kritik unterzogen (Kivy: Antithetical Arts, S. 101–175). 73 Edward T. Cone: »Schubert’s Promissory Note. An Exercise in Musical Hermeneutics«, in: 19thCentury Music 5:3 (1982), S. 233–241. Es handelt sich um die Schubert-Sonate Moment Musical in Assdur, op. 96:6. 74 Siegfried Mauser: Beethovens Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer, 2. Aufl., München 2008, S. 81. Von den Beinamen für die bekanntesten Beethoven-Sonaten (Mondscheinsonate, Nr. 14, op. 27:2, Sonata pastorale, Nr. 17, op. 28, Waldstein, Nr. 21, op. 53, Appassionata, Nr. 23, op. 57, Les Adieux, Nr. 26, op. 81a, Sturmsonate, Nr. 17, op. 31:2, und Grande Sonate Pathétique, Nr. 8, op. 13) stammt nur der letztere von Beethoven. 69

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der Ewigkeit hinabschauenden Seele, die Entzückungen, durch göttlichen Anhauch verursacht, aber auch […] die gähnende Leere des menschlichen Gemütes im Zwiespalt des Zweifels« – dies alles seien »die Urelemente der Musik Bruckners in seinem letzten Werk«.75 Dazu ist Folgendes zu sagen: Es ist wahr, dass Bruckners groß angelegte Symphonien majestätisch, intensiv, außerordentlich klangvoll und beeindruckend sind, und es stimmt auch, dass Bruckner seine Musik zur Ehre Gottes komponiert hat. Dies trifft allerdings auch auf Strawinsky zu, ohne dass es jemandem einfallen würde, Strawinskys Musik als metaphysisch oder andachtsvoll zu bezeichnen. Bruckner mag ein Gottsucher gewesen sein, aber einen göttlichen Anhauch in seiner Musik vermag ich nicht zu hören.76 Es ist kaum überraschend, dass Hanslick kein Verständnis für Bruckners Musik aufbringen konnte. Bruckner habe Wagners dramatischen Stil auf die Symphonie übertragen, in der Achten Symphonie höre man nur trockene kontrapunktische Schulweisheit und maßlose Exaltation sowie unmenschliches Getöse, das, dem Konzertprogramm zufolge, »den Heroismus im Dienste des Göttlichen« darstelle.77

Schlussbemerkung Die Schlusssätze der ersten Auflage der Hanslick’schen Abhandlung lauten: »Dieser geistige Gehalt [der Musik] verbindet nun auch im Gemüt des Hörers das Schöne der Tonkunst mit allen andern großen und schönen Ideen. Ihm wirkt die Musik nicht bloß und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes Abbild der großen Bewegungen im Weltall […] so findet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum.«78 Diese Sätze wurden ab der zweiten Auflage gestrichen, höchstwahrscheinlich aufgrund der Rezension des Buches durch den Philosophen Robert Zimmermann, einen Freund Hanslicks, der dieses Zugeständnis an die romantisch-metaphysische Tradition gerügt hatte. Die geistige Bedeutung der Musik, so hält Hanslick in den Schlusssätzen der späteren Auflagen fest, könne nur aus der bestimmten Tongestaltung abgeleitet werden, einer Tongestaltung, die »die freie Schöpfung des Geistes aus geistfähigem, begriffslosem Material« sei.79 Dass die Instrumentalmusik keinen gefühlsmäßigen oder gedankliHans Ferdinand Redlich: »Anton Bruckner. Symphony No. 9 in D minor«, in: Bruckner. Symphony No. 9, Edition Eulenburg Nr. 467, hg. v. Hans-Hubert Schönzeler, London, Mainz 1963, i. 76 Vgl. die Auffassung des Theologen Hans Küng: »ein musikalischer Metaphysiker, wie oft behauptet, ist Bruckner nicht. Man übersteigert den religiösen Grundzug in Bruckners Leben und Wirken, wenn man ihn als großen Metaphysiker preist.« (Hans Küng: Musik und Religion. Mozart-Wagner-Bruckner, München 2006, S. 179) 77 Hanslick: Aus dem Tagebuch eines Rezensenten, S. 60. 78 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 104. Vgl. die Auffassung Schellings: »[S]o bringt die Musik die Form der Bewegung der Weltkörper, die reine, von dem Gegenstand oder Stoff befreite Form in dem Rhythmus und der Harmonie als solche zur Anschauung« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Kunst 1801–1805, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 2: 1801–1803, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1985, S. 330). 79 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 104. 75

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chen Inhalt hat, ist also ebenso wenig ein Mangel, wie es ein Mangel der Malerei ist, dass Gemälde zwar Farbtöne aufweisen, aber keine Töne hervorbringen können. An der Frage, ob die reine Instrumentalmusik einen gefühlsmäßigen oder gedanklichen Inhalt habe und ob es für das Verständnis eines Musikwerks unerlässlich sei, diesen Inhalt zu erfassen, scheiden sich die Geister.80 Wie wir gesehen haben, ist Hanslick der Meinung, dass ein Musikwerk kein außermusikalisches Thema, weder ein gefühlsmäßiges noch ein gedankliches, haben kann. Ist die Instrumentalmusik dann nur ›ein Märchen […], voller Klang und Wut, das nichts bedeutet‹ – um mit Shakespeare in Dorothea Tiecks Übersetzung zu reden?81 Nein. Aus der Überzeugung, dass die Musik keinen Inhalt hat, nichts beschreibt, ausdrückt oder darstellt, folgt, wie uns Hanslick lehrt, nicht, dass die Musik keinen Gehalt besäße, dass sie gehaltlos sei. Musik kann bedeutend und bedeutsam sein, ohne irgendeine explizite Bedeutung zu haben. Wenn das paradox klingt oder gar ein echtes Paradox ist, dann sollte man meines Erachtens lieber mit diesem Paradox leben, als der Instrumentalmusik mit blühender Fantasie mehr oder weniger beliebige Inhalte zuzuschreiben. Hanslicks Werk ist deshalb, wenn nicht das letzte Wort in der Musikästhetik, so zumindest der unerlässliche Ausgangspunkt für jede verantwortungsvolle musikphilosophische Positionsbestimmung.

Literatur Bonds, Mark Evan: »Foreword«, in: Nicole Grimes/Siobhán Donovan/Wolfgang Marx (Hg.): Rethinking Hanslick. Music, Formalism Expression, Rochester NY 2013, vii–ix. Brentano, Franz: »Aphorismen über die Musik«, 1916, in: ders.: Grundzüge der Ästhetik, aus dem Nachlass herausgegeben von Franziska Mayer-Hillebrand, Hamburg 1988, S. 216–221. Burnham, Scott: »How Music Matters. Poetic Content Revisited«, in: Nicholas Cook/Mark Everist (Hg.): Rethinking Music, Oxford 1999, S. 193–216. Cone, Edward T.: The Composer’s Voice, Berkeley, London 1974. – »Schubert’s Promissory Note. An Exercise in Musical Hermeneutics«, in: 19th-Century Music 5:3 (1982), S. 233–241. Cook, Nicholas/Everist, Mark (Hg.): Rethinking Music, Oxford 1999. Cooke, Deryck: The Language of Music, London 1959. Grillparzer, Franz: Sämtliche Werke, Bd III. Satiren — Fabeln und Parabeln — Erzählungen und Prosafragmente — Studien und Aufsätze, hg. v. Peter Frank/Karl Pörnbacher, München 1964. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, 1854, Darmstadt 1991. – Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst, Teil I: Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Dietmar Strauß, Mainz, London 1990. Vgl. die semiotischen und hermeneutischen Aufsätze in: Jenefer Robinson (Hg.): Music and Meaning, Ithaca, London 1997 und in: Nicholas Cook/Mark Everist (Hg.): Rethinking Music, Oxford 1999. 81 Shakespeare: Macbeth, 5.5, 27–28: »full of sound and fury. Signifying nothing«. 80

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– Aus dem Tagebuch eines Rezensenten. Gesammelte Musikkritiken, hg. v. Peter Wapnewski, Basel 1989. – »Richard Wagners ›Judentum in der Musik‹«, 1869, in: Jens Malte Fischer: Richard Wagners ›Das Judentum in der Musik‹. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt/M. 2000, S. 232–238. Herder, Johann Gottfried: Kalligone, 1800, in: ders.: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792– 1800, Werke in zehn Bänden, Bd. 8, hg. v. Hans Dietrich Irmscher, Frankfurt/M. 1998. Hoffmann, E. T. A.: »Ludwig van Beethoven, 5. Sinfonie«, 1810, in: ders., Schriften zur Musik. Nachlese, hg. v. Friedrich Schnapp, München 1963, S. 34–51. Holland, Dietmar: »La Mer. Trois esquisses symphoniques (1903–1905)«, in: Attila Csampai/ Dietmar Holland (Hg.): Der Konzertführer. Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996, S. 731–733. Juslin, Patrik/Sloboda, John A. (Hg): Music and Emotion. Theory and Research, Oxford 2001. Kivy, Peter: Sound and Semblance. Reflections on Musical Representation, Princeton NJ 1984. – Sound Sentiment. An Essay on the Musical Emotions, Philadelphia 1989. – Music Alone. Philosophical Reflections on the Purely Musical Experience, Ithaca, London 1990. – Antithetical Arts. On the Ancient Quarrel Between Literature and Music, Oxford 2009. Koch, Christoph Heinrich: »Musik«, in: ders.: Musikalisches Lexikon, Frankfurt 1802. Küng, Hans: Musik und Religion. Mozart-Wagner-Bruckner, München 2006. Kutschera, Franz von: Ästhetik, 2. Aufl., Berlin 1998. Levinson, Jerrold: »Hope in The Hebrides«, in: ders.: Music, Art, and Metaphysics. Essays in Philosophical Aesthetics, Ithaca NY 2011, S. 336–375. Mauser, Siegfried: Beethovens Klaviersonaten. Ein musikalischer Werkführer, 2. Aufl., München 2008. Moos, Paul: Moderne Musikästhetik in Deutschland. Historisch-kritische Übersicht, Leipzig 1902. Orledge, Robert: Satie the Composer, Cambridge 1990. Pater, Walter: »The School of Giorgione«, 1877, in: ders.: The Renaissance. Studies in Art and Poetry, 1893, hg. v. Donald L. Hill, Berkeley CA 1980, S. 102–122. Redlich, Hans Ferdinand: »Anton Bruckner. Symphony No. 9 in D minor«, in: Bruckner. Symphony No. 9, Edition Eulenburg Nr. 467, hg. v. Hans-Hubert Schönzeler, London, Mainz 1963. Rzehulka, Bernhard: »Felix Mendelssohn Bartholdy. Ouvertüren«, in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hg.): Der Konzertführer. Orchestermusik von 1700 bis zur Gegenwart, Darmstadt 1996, S. 316–319. Robinson, Jenefer (Hg.): Music and Meaning, Ithaca, London 1997. – Deeper than Reason. Emotion and its Role in Literature, Music, and Art, Oxford 2005. Rosenkranz, Karl: Psychologie als Wissenschaft vom subjektiven Geist, Königsberg 1843. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: »Philosophie der Kunst 1801–1805«, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 2: 1801–1803, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1985. Scherliess, Volker: »Mendelssohn: Ouvertüren«, Booklet CD DG 423 104–2, 1988. Schopenhauer, Arthur: Arthur Schopenhauers handschriftlicher Nachlass, Band IV, hg. von E. Griesbach, Leipzig o.J. Stengel, Theo/Gerigk, Herbert (Hg.): Lexikon der Juden in der Musik, Berlin 1940, S. 101–103. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771/4), Berlin 2004.

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Wagner, Richard: »Das Judentum in der Musik«, 1850, 2. Aufl., 1869, in: Jens Malte Fischer (Hg.): Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt/M. 2000, S. 139–196. Weitz, Morris: »Introduction«, in: Eduard Hanslick: The Beautiful in Music, übers. v. Gustav Cohen, hg. v. Morris Weitz, New York 1957. Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen/Culture and Value, 2. Aufl., hg. v. G. H. von Wright, Malden MA, Oxford 1994.

KOLLO QUIUM 24 Aufklärung und Religion Kolloquiumsleitung: Oliver R. Scholz

Albrecht Beutel Aufklärung und Protestantismus Winfried Schröder Auf dem Prokrustesbett neuzeitlicher Rationalität. Schwierigkeiten mit der Religionskritik der Aufklärung Rainer Enskat Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant

Aufklärung und Protestantismus Albrecht Beutel (Münster)

Aufklärung und Protestantismus: Man könnte, ein wenig pointierend, geneigt sein, die Titelwendung als Ausdruck einer zweifachen Tautologie zu verstehen. Denn obschon zweifellos auch, allerdings zeitlich verzögert und geographisch auf wenige Ballungsräume zentriert, die katholische Konfessionsfamilie daran partizipierte, erwuchs das Zeitalter der Aufklärung zumal in Deutschland doch weithin aus genuin protestantischen Wurzeln. Zugleich scheint der Protestantismus dem Geist jener Epoche aufs engste verpflichtet zu sein: ganz offenkundig seit seiner im 18. Jahrhundert vollzogenen oder jedenfalls folgenreich inaugurierten Umformung in eine neuzeitfähige Denk- und Wesensgestalt, aber doch auch schon in den subkutanen Anlagen und Impulsen aus vorreformatorischaltprotestantischer Zeit. Die damit angedeutete kulturgeschichtliche Konfiguration hat eine ganze Reihe komplexer und geistreicher Theoriebildungen provoziert, von denen das durch Ernst Troeltsch ausgearbeitete Deutungskonzept gewiss die interessanteste, wenn auch längst nicht die einzige ist.1 Die historiographische Erschließungskraft solcher Protestantismustheorien sah sich allerdings nicht selten dadurch beschränkt, dass ihre intentionale Ausrichtung mindestens ebenso auf apologetische wie auf diagnostische Zwecke gerichtet zu sein schien. Demgegenüber mag es in unserem Kontext jetzt sachdienlich sein, zunächst eine begriffliche Basalverständigung zu erzielen und das aufklärungsepochale Profil des Protestantismus in holzschnittartiger Kürze zu pointieren, um sodann, ein wenig ausführlicher, das protestantische Aufklärungspotential zu erkunden und schließlich, nur noch als Appendix, die bleibende Aufklärungsbedürftigkeit des Protestantismus anzuzeigen und einzuklagen.

I. Protestantismus In konfessionskundlichem Sinn bezeichnet der Begriff Protestantismus die Gesamtheit aller christlichen Kirchen und Gruppen, die unmittelbar oder mittelbar aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind oder sich ihr angenähert haben. Er umfasst also nicht allein die lutherischen, reformierten und unierten Konfessionskirchen, sondern auch dissentierende Formationen und Strömungen, ferner die evangelischen Freikirchen 1 Vgl. Christian Albrecht: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie (Beiträge zur Historischen Theologie 114), Tübingen 2000; Martin Ohst: »›Reformation‹ versus ›Protestantismus‹? Theologiegeschichtliche Fallstudien«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 441–479; Johannes Wallmann u. a., Art. »Protestantismus«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1727–1743.

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und teilweise auch nachreformatorische Sekten. In kulturgeschichtlichem Sinn bezeichnet der Ausdruck daneben auch die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Prägungen, welche die protestantischen Kirchen und Gruppen in den von ihnen erfassten Ländern und Kulturen ausgelöst oder befördert haben. Der Begriff geht bekanntlich auf die »Protestation von Speyer« zurück, mit der eine evangelische Minorität auf dem zweiten Reichstag zu Speyer von 1529 gegenüber dem Mehrheitsbeschluss ihre Minderheitenrechte einklagte. Die »Protestation« wandte sich nicht grundsätzlich gegen die Organisation und Lehre der römisch-katholischen Kirche, sondern ganz konkret gegen die Aufhebung des drei Jahre zuvor einstimmig gefassten Reichstagsbeschlusses, der das Wormser Edikt von 1521 suspendiert und damit eine Ausbreitung der Reformation reichsrechtlich legitimiert hatte. Allerdings trug der Einspruch insofern doch kontroverstheologische Züge, als er sich den lutherischen Grundsatz der uneingeschränkten Glaubens- und Gewissensfreiheit emphatisch zu Eigen machte. In späteren Reichstagsverhandlungen verwiesen die evangelischen Stände mehrfach auf ihre 1529 eingelegte »Protestation« und sahen sich darum von der katholischen Kontroverstheologie bald als »protestantes« oder »Protestierende« apostrophiert.2 Als evangelische Selbstbezeichnung wurde das Wort zunächst weithin vermieden, weil damit der im Konfessionellen Zeitalter erbittert ausgefochtene innerprotestantische Antagonismus zwischen lutherischen und reformierten Kirchentümern nivelliert worden wäre. Dagegen hat sich die anglikanische Kirche den Ausdruck seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts rasch zu Eigen gemacht. Nachdem die lutherisch-reformierte Konfliktbereitschaft durch Pietismus und Aufklärung wirksam zurückgedrängt worden war, begann auch im deutschen Sprachraum die positiv konnotierte Rezeption des Begriffs. Bereits Jahrzehnte vor den ersten evangelischen Kirchenunionen war, zumal im Einflussbereich der kirchlichen und theologischen Aufklärung, allenthalben von »protestantischer« Kirche, Gesinnung und Lehre sowie von »Protestanten« die Rede. Das Abstraktum »Protestantismus« scheint dagegen erst um 1780 aufgekommen zu sein. Über den kirchlichen Bereich ausgreifend, wurde es zum Inbegriff einer freiheitlichen, modernen Religiosität: Selbst dem Juden Moses Mendelssohn konnte Georg Christoph Lichtenberg 1786 »wahren Protestantismus« bescheinigen.3 Nach dem Zustandekommen der preußischen Union 1817 wurde das Wortfeld »Protestantismus« in den das Erbe der Aufklärung fortschreibenden Traditionslinien zusehends affirmativ rezipiert. Demgegenüber bezogen nicht allein die katholische Konfessionspolemik, sondern auch die evangelischen Erweckungsbewegungen und neokonfessionalistischen Formationen semantische Opposition. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts avancierte der Protestantismusbegriff zum Parteinamen liberaler Theologie: Der 1827 gegründeten konservativen »Evangelischen Kirchenzeitung« trat 1854 die »Protestantische Kirchenzeitung« entgegen, 1865 begann die Serie der »Protestantentage«, und der 1863 Vgl. Christian V. Witt: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Historischen Theologie 163), Tübingen 2011. 3 Georg Christoph Lichtenberg an Friedrich Nicolai, 21.4.1786, in: Ulrich Joost/Albrecht Schöne (Hg.): Georg Christoph Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. 3: 1785–1792, München 1990, S. 201. 2

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initiierte, rasch aufblühende »Allgemeine deutsche Protestantenverein« proklamierte die »Erneuerung der protestantischen Kirche im Geiste evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung unserer Zeit«.4 Unter dem Eindruck des nach dem Kulturkampf wieder erstarkenden deutschen Katholizismus verlor der Protestantismusbegriff seinen kirchenparteilichen Klang und etablierte sich wieder als Ausdruck des evangelischen Gemeinbewusstseins. Größten Zulauf registrierte der 1886 gegründete »Evangelische Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen«. Um 1900 standen der sog. Kulturprotestantismus und die kirchen- und kulturgeschichtliche Erforschung des Protestantismus in voller Blüte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieb der Begriff in den westeuropäischen und nordamerikanischen Debattenlagen unvermindert im Schwange. Dagegen wurde er durch den Aufbruch der dialektischen Theologie in Deutschland rasch distanziert. Während des Kirchenkampfs spielte er weder bei den Deutschen Christen noch seitens der Bekennenden Kirche eine namhafte Rolle. Mit den nach 1945 zaghaft einsetzenden Anknüpfungen an die im Kulturprotestantismus verhandelten Problemkonstellationen kehrte der Protestantismusbegriff wieder in die theologische (Paul Tillich, Gerhard Ebeling), aber auch in die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung zurück. Seit einigen Jahrzehnten erlebt er sogar eine erstaunliche Renaissance.

II. Protestantismus im Zeitalter der Aufklärung Das Zeitalter der Aufklärung, von Troeltsch als »Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte« bestimmt,5 umfasst eine gesamteuropäische Phase der Geistesgeschichte. Auch in der Kirchen- und Theologiegeschichte bezeichnet es eine wesentliche, die Frühe Neuzeit vollendende, in ihren Fragestellungen und Folgen bis heute fortwirkende Epoche. Abhängend von den jeweiligen nationalen, konfessionellen und wissenschaftlich-philosophischen Kontexten, hat sich die kirchliche und theologische Aufklärung in mannigfaltigen, teils sogar höchst disparaten Spielarten manifestiert. Einheitsstiftende, die Epoche konstituierende Motive finden sich etwa in der programmatischen oder effektiven Überwindung konfessioneller Polemik und aristotelischer Schulphilosophie, ferner in der Akzentuierung der lebenspraktischen Relevanz von Religion sowie, damit unmittelbar zusammenhängend, in der konsequenten Kultivierung religiöser Individualität und Innerlichkeit. Wie für die Epoche insgesamt, so lassen sich auch in kirchen- und theologiegeschichtlicher Perspektive Kritik, Anthropozentrik und Perfektibilitätsglaube als Leitgesichtspunkte benennen. Nachdem der Dreißigjährige Krieg mit einem die religiöse Wahrheitsfrage bewusst suspendierenden politisch-säkularen Friedensschluss beendet worden war, Vereinsstatuten (zit. nach Hans-Martin Kirn: Art. »Protestantenverein«, in: Theologische Realenzyklopädie 27 [1997], S. 538–542, hier: S. 538). 5 Ernst Troeltsch: »Die Aufklärung« (1897), in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 338–374, hier S. 338. 4

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sah sich das konfessionell plurale Christentum zur Ausbildung von transkonfessionell tragfähigen ethischen Grundlagen, die man namentlich in Vernunft, Naturrecht und natürlicher Religion identifizierte, gedrängt und ermächtigt. Die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung, von natürlicher und positiver Religion wurde zur epochalen Aufgabenstellung der Theologie. In kritischer Absicht befragte man jetzt biblische Überlieferung, dogmatischen Lehrbestand und religiöse Traditionen nach ihrem vernünftigen Gehalt sowie nach ihrer lebenspraktischen Relevanz. Mittels historisch-kritischer Exegese und durch dezidiert kritisch orientierte Dogmengeschichtsschreibung suchte man den rationalen Kern der theologisch-kirchlichen Tradition herauszuschälen, um ihn für eine neue, zeitgemäße Akkommodation in Gebrauch nehmen zu können. Diese kritische Sichtung des überkommenen Lehrsystems führte zu einer folgenreichen, die neuzeitliche Theologiegeschichte bis heute bestimmenden »Umformung des christlichen Denkens«.6 Die anthropozentrische Ausrichtung der Aufklärungstheologie äußerte sich in einer Tendenz zur Ethisierung des Christlichen wie überhaupt in der Bemühung, die »theoretischen Kirchenlehren«7 gegenüber den lebenspraktischen Vollzügen von Religion auf ihre subsidiäre Funktion zu reduzieren. Der damit verbundene Fortschritts- und Perfektibilitätsglaube manifestierte sich nicht nur in einer religionspädagogischen und populartheologischen Ausrichtung der kirchlichen und theologischen Arbeit, sondern auch in der dogmatischen, näherhin christologischen Theoriebildung: Die überkommene Erbsünden-, Trinitäts- und Satisfaktionslehre gerieten zunehmend in Abgang, und Jesus erkannte man nun als das Idealbild sokratischer Mündigkeit und als den Lehrer von Tugend, Freiheit und Glückseligkeit.

III. Protestantisches Aufklärungspotential Die eingangs bedachte tautologische Verschränkung von Protestantismus und Aufklärung entsprang zuspitzender Übertreibung. Unbestreitbar ist freilich die enge motivische und intentionale Übereinstimmung beider Größen, die sich in auch nur annähernd vergleichbarer Weise für keine andere christliche Konfession konstatieren lässt. Tatsächlich hat der Protestantismus in seiner vormodernen Gestalt für das Zeitalter der Aufklärung entscheidende Potentiale entwickelt und verfügbar gehalten und dann erst recht in seiner neuzeitlichen Ausprägung die in der Aufklärung freigesetzten Potentiale aufgegriffen, sich anverwandelt und im Prozess seiner weiteren geschichtlichen Entfaltung und Ausdifferenzierung vielfältig transformiert. Das protestantische Aufklärungspotential, das im 18. Jahrhundert erarbeitet und fruchtbar gemacht worden ist, lässt sich in dreifacher Hinsicht knapp andeutend exemplifizieren. 6 Emanuel Hirsch: Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit. Ein Lesebuch, Tübingen 1938, Neuausgabe Tübingen/Goslar 1985; vgl. dazu Hans Martin Müller: »Das Evangelium und die Moderne. Zum Problem der Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 90 (1993), S. 284–298. 7 Johann Joachim Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772– 3 1791), hg. von Tobias Jersak (Kritische Spalding-Ausgabe I/3), Tübingen 2002, S. 174.

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1. Kritik Kritik war ein Leitmotiv der gesamten Aufklärungszeit und darum auch der in ihr zeitgemäß vollzogenen theologischen Reflexion. Umfassend stellte es die Bestimmtheit durch ein dogmatisch gebundenes, supranaturalistisches Wirklichkeitsverständnis in Frage und problematisierte zugleich die legitimatorische Berufung ethischer, religiöser oder theologischer Normen auf die Verbindlichkeit autoritativer Tradition. Dabei zielte Kritik nicht etwa unkritisch auf pauschale Traditions- und Autoritätsfeindlichkeit, sondern vollzog sich, gemäß ihrem Ursprung als philologische Textkritik, die in der konsequenten Ausbildung einer auf die biblischen Texte bezogenen historisch-kritischen Methode ein irreversibles Grunddatum protestantischer Hermeneutik bereitstellte, in der Ambivalenz von Ablehnung und Bewahrung aufgrund kritischer Prüfung. Das dadurch bestimmte Verfahren, das, jedem Systemzwang zuwider, das eigene kritische Urteil zur allein ausschlaggebenden Instanz erhob, lässt sich in formaler Hinsicht als Eklektizismus bestimmen. In ihm erfüllte sich die Maxime der Aufklärung, »jederzeit selbst zu denken«.8 Die dem 18. Jahrhundert auch in der Theologie eigene Neigung zu enzyklopädischer Vergewisserung stimmt damit insofern überein, als sie sich nicht der Herrschaft eines metaphysischapriorischen Systems unterwerfen, vielmehr das Wissen der Zeit in empirisch-additiver Ordnung darbieten wollte. Fluchtpunkt solcher Bemühungen war nun nicht länger eine immanente systematische Stimmigkeit, sondern die »Nutzbarkeit«, also die lebenspraktische Relevanz theoretischer Einsichten, aber auch von Institutionen, Phänomenen und Handlungsvollzügen. Das zeitigte unmittelbare Folgen für den Begriff der Wahrheit christlicher Religion. Die Rechtgläubigkeit eines Pfarrers bemaßen die Theologen der Aufklärung nicht länger an der Übereinstimmung seiner Lehre mit einem geschlossenen, vollständigen, etwa in den Bekenntnisschriften normativ vorgegebenen Glaubenssystem, sondern an der inneren Stimmigkeit, Wahrhaftigkeit und praktischen Belastbarkeit seiner mitgeteilten religiösen Überzeugung. Dadurch rückte die Person des Pfarrers in das Zentrum aller theologischen und zumal der homiletischen, poimenischen und religionspädagogischen Theoriearbeit. Die im Pietismus eingeleitete Aufwertung der Pastoraltheologie hat demgemäß in der Theologie der Aufklärung ihre konsequente Fortsetzung und ihre erste Vollendung erfahren. Das aufklärerische Pfarrerbild distanzierte sich von dem überkommenen Rollenklischee eines Propheten und Gotteskünders, indem es die dem Pfarrer zugewiesene religiöse Aufgabe zeitgemäß dahin verstand, seiner Gemeinde ein treuer Freund und Begleiter zu sein. Es gereiche, so der aufklärerische Meistertheologe Johann Joachim Spalding, jeder christlichen Gemeinde zum Segen, »an einem verständigen und gewißenhaften Prediger einen vertrauten Freund zu haben, mit welchem man so über seine moralischen

»Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung« (Immanuel Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1958, S. 265–283, hier: S. 283 Anm.). 8

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Angelegenheiten, wie mit einem Arzte über seinen Gesundheitszustand, zu Rathe gehen kann«.9 2. Religionstheologie

Die von der Aufklärung betriebene Akzentuierung religiöser Individualität, Innerlichkeit und Autonomie manifestierte sich nicht zuletzt in der Ausformung einer neuzeitlichen protestantischen Religionstheologie. Die als Neologie angesprochene Reifegestalt der kirchlich-theologischen Aufklärung hat dabei insbesondere in vierfacher Hinsicht elementare Basisarbeit geleistet.10 Zum einen zielte ihr Interesse auf die Wiedergewinnung der religio Christi. Das Unbehagen, das die Vertreter der religio naturalis gegenüber den Spielarten einer religio revelata artikulierten, gründete nicht zuletzt darin, dass dort der religiöse Lehrbestand als objektiv gegeben behauptet und darum dessen identische Aneignung autoritativ gefordert wurde, während die religio naturalis auf religiöse Subjekte gemünzt war, die ihre Glaubenssätze selbsttätig aus sich hervorbringen und sich darin als autonom erfahren. Diesen Impuls machte sich die Neologie insoweit zu Eigen, als sie zwischen der ursprünglichen Religion Jesu und den Lehrbildungen der kirchlich-dogmatischen Tradition kategorial unterschied: Nicht durch autoritative Zwangsmaßnahmen, sondern nur durch selbsttätige innere Einstimmung könne die Lehre Jesu den Menschen verbindlich gemacht werden. Im Mittelpunkt stand dabei die Betonung der religiösen Vorbild-Funktion Jesu, die zu einer selbständigen Aneignung seines Gottesbewusstseins einladen und instandsetzen sollte. Zum anderen versuchte die Neologie die konstruktiven Impulse des Konzepts einer religio naturalis dadurch in die christliche Theologie einzuholen, dass sie die im Konfessionellen Zeitalter berührte, von den Übergangstheologen reflektierte und vom Pietismus praktizierte Unterscheidung zwischen Religion und Theologie als ein fundamentaltheologisches Prinzip umfassend zur Geltung brachte. Die Unterscheidung zielte, kurz gesagt, darauf ab, dass Theologie als die wissenschaftlich professionalisierte Beschäftigung mit Religion verstanden wird, Religion hingegen als der vorwissenschaftliche und darum von Theologie unabhängige Lebensvollzug des religiösen Subjekts. Ein zweifach emanzipatorischer Effekt verband sich damit: Die Religion vollzieht sich prinzipiell unabhängig von der jeweils gültigen kirchlich-dogmatischen Lehrgestalt und entgeht damit der Gefahr, mit jeder individuellen Glaubensäußerung sogleich dem Häresieverdacht zu verfallen, und die Theologie wiederum kann eine freiere, streng historisch-kritisch orientierte Lehrart ausbilden, ohne dadurch die Grundwahrheiten der christlichen Religion zu gefährden.

Spalding: Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes, S. 64. Vgl. dazu Albrecht Beutel: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (UTB 3180), Göttingen 22009, S. 240–246. 9

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Zum dritten vollzog die Neologie die Fundamentalunterscheidung von privater und öffentlicher Religion. Sie hängt darin eng mit der eben dargestellten zusammen, dass der differenzbildende Leitgesichtspunkt, der dort zwischen Religion und Theologie unterscheiden ließ, nun gleichsam innerhalb des Religionsbegriffs zur Geltung gebracht wurde. Das Stichwort Privatreligion steht dabei für die selbständige, individuelle Anverwandlung der Grundwahrheiten des Christentums. Mit der hierfür als konstitutiv gesetzten Gewissensverantwortung des religiösen Subjekts sollte einerseits dem äußerlich bleibenden Gewohnheitschristentum gewehrt, andererseits in zeitgemäßer Form die von der Reformation betonte Unvertretbarkeit des Einzelnen vor Gott in Erinnerung gebracht werden. Demgegenüber versehe die in der Verantwortung des landesherrlichen Kirchenregiments liegende öffentliche Religion eine kirchenerhaltende Funktion, indem sie, ohne das Privatchristentum des Einzelnen normieren zu wollen, eine gemeinsame äußere Kirchensprache bereitstellt und dadurch der Konstituierung und Konsolidierung einer äußeren Kirchengemeinschaft zuträglich ist. Zum vierten schließlich bestimmte bereits die Neologie – und also nicht erst der junge Schleiermacher – das Wesen der Religion als Gefühl. Spalding hat, stellvertretend für die meisten Vertreter der Aufklärungstheologie, die Autonomie des religiösen Gefühls durch den Hinweis betont, dieses verifiziere sich durch eine »eigene glückselige Erfahrung in dem Gemüthe« und gewähre »Empfindungen und Erfahrungen von noch anderer Art«.11 Dieses Proprium des religiösen Gefühls sah Spalding näherhin dadurch bestimmt, dass allein hier, in der Ausrichtung der Seele auf Gott, der Mensch ein lebendiges Gefühl dafür bekommt, was er an Gott hat und was er selbst vor ihm ist. Als das Wesen der Religion bestimmte Spalding darum, unverkennbar auf Schleiermacher vorausweisend, die Erkenntnis und Empfindung der »gänzliche[n] Abhängigkeit des Menschen von Gott«.12 Dies sei, wie er in seiner Gedächtnispredigt auf Friedrich den Großen ausführte, »eine Empfindung, die eigentlich den Anfang und die Grundlage aller wirklichen Religion […] in sich faßt«.13 Man wird die opulente religionstheologische Reflexion des 19. und 20. Jahrhunderts14 nicht zureichend würdigen können, solange man die neologische Basisarbeit, die ihr vorausging und von der sie zehrte, nicht zureichend kennt.

Johann Joachim Spalding: Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797–41806), hg. von Tobias Jersak/Georg Friedrich Wagner (Kritische Spalding-Ausgabe I/5), Tübingen 2001, S. 171, 194. 12 Johann Joachim Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (11761– 5 1784), hg. von Albrecht Beutel/Tobias Jersak (Kritische Spalding-Ausgabe I/2), Tübingen 2005, S. 51. 13 Johann Joachim Spalding: Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, König von Preußen […] (1786), in: Johann Joachim Spalding: Einzelne Predigten, hg. von Albrecht Beutel/Olga Söntgerath (Kritische Spalding-Ausgabe II/6), Tübingen 2013, S. 63–80, hier S. 75. – Vgl. dazu Albrecht Beutel: »Frömmigkeit als ›die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott‹. Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen«, in: Albrecht Beutel: Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus, Tübingen 2013, S. 165–187. 14 Vgl. Volker Drehsen/Wilhelm Gräb/Birgit Weyel (Hg.): Kompendium Religionstheorie (UTB 2705), Göttingen 2005. 11

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3. Perfektibilität In der um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden »anthropologischen Wende« emanzipierte sich die neuzeitliche Subjektivität. Das Menschsein wurde nicht länger als ein Zustand, in den man hineingeboren wird, verstanden, sondern als eine Aufgabe, der jeder Einzelne durch die erziehungsgeleitete und selbstbildnerische Entwicklung seiner Anlagen und Fähigkeiten zu genügen habe. Indessen steht für die philosophische, erst recht für die theologische Anthropologie der Aufklärung eine umfassende Bestandsaufnahme immer noch aus. Doch lassen sich wesentliche Züge des aufklärungstheologischen Menschenbildes anhand von Spaldings Erfolgsbuch »Die Bestimmung des Menschen«,15 in dem eine Basisidee der deutschen Aufklärung erstmals literarischen Ausdruck gefunden hatte, annähernd umreißen. Spalding wählte dafür, durch Shaftesbury angeregt, die literarische Form des Selbstgesprächs: Mittels eines inneren Dialogs sollte ein »Ich« sich seiner Bestimmung vergewissern und damit zugleich den Leser zu aufgeklärtem Selbstdenken anregen. Ausgehend von der Frage, »warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll« (1,20f), rekurriert das Ich, über das Streben nach Reichtum und Ehre hinausgreifend, alsbald auf die Natur. Zwar findet es den Trieb zum Vergnügen tief eingebettet in die eigene Seele, doch wird es zugleich der Endlichkeit alles sinnlichen Vergnügens gewahr. Selbst »ein ordentlicher Wollüstling« (5,18) – welch herrliche Wendung! – erfahre seine sinnliche Befriedigung letztlich als defizitär. Ein umfassenderes Wohlgefallen gewähre demgegenüber das Streben nach Vervollkommnung des eigenen Geistes. Defizitär erscheint jedoch auch dieses Vergnügen insofern, als der dabei verfolgte eigene Nutzen nicht den einzigen »Zweck […] meiner Sele« (7,11f) ausmachen kann. Die damit in den Blick rückende Moralität erschließt dem sich selbst ergründenden Ich die »Triebe […] zu dem, was sich schickt« (8,17), die »Triebe des Rechts und der Güte« (9,24), als eine »ursprüngliche Einrichtung meiner Natur« (11,1f). Die religiöse Wendung des Moralitätsgedankens macht sodann das Gewissen als die Stimme Gottes kenntlich, »die sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Sele hören lässet« (17,11f). Diese Einsicht erschließt dem Ich die sittliche Pflicht, nach Übereinstimmung seiner Natur mit den Absichten Gottes zu trachten, und zugleich die Beruhigung, sich in den verwirrenden Rätseln des Lebens »den Fügungen desjenigen überlassen« zu können, »der alles nach seinem Willen lenket, und dessen Willen immer gut ist« (19,5–7). Bereits in dieser Verknüpfung – nicht Identifikation! – von Moralität und Religion vollzog Spalding eine die Denkspur Shaftesburys verlassende Anverwandlung von leibniz-wolffischen Ideen. Erst recht wählte er dann in der Begründung seines Unsterblichkeitspostulats einen eigenen, auf Kant vorausweisenden Weg. Zum einen lasse die in der Welt wahrzunehmende »Disharmonie« die Erwartung einer späteren »vollkommene[n] Johann Joachim Spalding: Die Bestimmung des Menschen (11748–111794), hg. von Albrecht Beutel u. a. (Kritische Spalding-Ausgabe I/1), Tübingen 2006. Die nachfolgend in den Text eingefügten Seitenund Zeilennachweise beziehen sich auf diese Ausgabe. 15

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Zusammenstimmung« und »vollständige[n] Aufklärung« (20,20–27) unabweisbar erscheinen: »Es muß eine Zeit seyn, da ein jeder das erhält, was ihm zukömmt« (20,10f). Zum anderen transzendiere die Einsicht in die eigene moralische und geistige Perfektibilität die Grenzen der Endlichkeit: »Ich bin also für ein anderes Leben gemacht« (22,15). Bereits für Spalding dienten die axiomatischen Gottes- und Unsterblichkeitsvorstellungen gleichsam als regulative Ideen: Der Begriff eines »ganzen Lebens« mache »dieses Leben« erst wahrhaft schätzenswert, indem er dazu anhalte, »von einer jeden Sache immer so zu denken, wie ich einmal in der zukünftigen Welt und in den letzten Augenblicken des itzigen Lebens davon werde denken müssen« (23,17–20). Dass der Mensch dazu bestimmt ist, »rechtschaffen, und in der Rechtschaffenheit glückselig zu seyn« (25,1f), bedeutet dem zu seiner Bestimmung vorgedrungenen Selbsterkunder eine so wichtige Einsicht, »daß ich mich aufs möglichste hüten würde, sie falsch zu finden, wenn sie es auch seyn könnte. Es ist mir zu viel daran gelegen, daß sie wahr sey« (24,20–22). Auch später hat Spalding, noch bevor er mit Kant in Berührung und Austausch kam, immer wieder betont, für die Idee des ewigen Lebens gebe es keine »Gewährleistungen«, obschon die Annahme, unser irdisches Leben werde erst jenseits des Todes »in einem ungehinderten Fortgange die völlige Glückseligkeit« erreichen, ganz unbestreitbar von sittlichem Vorteil und »wohlthätige[r] Wirkung«16 sei. Innerhalb des damit gesteckten Rahmens waren es insbesondere zwei Hauptmotive der aufklärerischen Anthropologie, die sich die Theologie jener Zeit anverwandelnd zu eigen machte. Das eine bestand in dem Postulat des ganzen Menschen. Entgegen einem bis heute nicht verstummenden Fehlurteil konterkarierten die Aufklärer die pietistische Gefühlskultur keineswegs durch ein einseitig rationalistisches Menschenbild, erstrebten vielmehr die integrative Vermittlung der bipolaren Wesensstruktur, indem sie Kopf und Herz, Seele und Leib, ethische Einsicht und moralisches Gefühl, theologische Reflexion und religiöse Empfindung in harmonischen Austausch und Einklang zu bringen suchten. Insofern bewährte sich der aufklärungstheologische Rationalismus gerade darin, dass er die ergänzungsbedürftige Partikularität der menschlichen Verstandeskräfte erkannte: »Es ist«, notierte Spalding, »Bedürfniß der vernünftigen menschlichen Natur, nicht bloß zu erkennen, sondern auch zu empfinden; nicht bloß erleuchtet, sondern auch erwärmt zu werden«.17 Im Übrigen gemahnte auch die durchgehend gewahrte Unterscheidung des fragmentarisch irdischen und des vollendeten ewigen Lebens an die Unvollkommenheit alles menschlichen Strebens und damit an die dem Perfektibilitätspostulat unentrinnbar zugewiesene dialektische Brechung. Die »Dialektik der Aufklärung« ist nicht erst von Horkheimer und Adorno entdeckt worden, sondern war bereits den Vertretern jener Epoche schmerzlich und erfahrungsgesättigt vertraut. Gleichwohl gewann der frühneuzeitliche Fortschrittsoptimismus zusehends eine Dynamik, die immer stärker aus der naturwissenschaftlichen in die politische, ethische und 16 Johann Joachim Spalding: Vorrede zu der deutschen Uebersetzung (1766), in: Johann Joachim Spalding: Kleinere Schriften 1, hg. von Olga Söntgerath (Kritische Spalding-Ausgabe I/6-1), Tübingen 2006, S. 315–325, hier S. 316. 323. 17 Johann Joachim Spalding: Vertraute Briefe, die Religion betreffend (11784–31788), hg. von Albrecht Beutel/Dennis Prause (Kritische Spalding-Ausgabe I/4), Tübingen 2004, S. 176.

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theologische Theoriebildung ausstrahlte und die Idee der Perfektibilität, also der Fähigkeit und Verpflichtung zu prozessualer Vervollkommnung, als eine basale Denkform der Epoche auswies. Bereits Leibniz und Spener hatten die »Hoffnung besserer Zeiten« zur Grundlage ihrer optimistischen Welt- und Religionswahrnehmung gemacht. Erst recht betonten dann die Neologen die moralische Perfektibilität des Menschen. Nicht in plattem innerweltlichen Eudämonismus, sondern gerade angesichts der allenthalben aufscheinenden »Disharmonie« ließ Spalding den »ehrlichen Mann« seiner Selbstreflexion sagen: »Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind« (20,34–21,1). Und für Wilhelm Abraham Teller, seinerseits ein Hauptvertreter der Berliner Aufklärungstheologie, bestand die Perfektibilität der christlichen Religion nicht etwa in der Verbesserung einzelner lehrhafter Systemfehler, sondern einzig in dem geschichtlich fortschreitenden religiösen Erkenntnisprozess: »Nicht also die Religion selbst ist es, die verändert wird, wenn der in derselben erzogene Mensch aus dem einen Alter derselben in das andre übertritt; sondern ihre Erkenntnis in dem Menschen wird von Zeit zu Zeit deutlicher, richtiger, reiner und practischer. […] Und dazu ist nun eben das Christenthum die herrlichste Veranstaltung, indem es von den ersten Anfangsgründen an immer zu höhern Einsichten und Übungen fortleitet«.18

IV. Aufzuklärender Protestantismus Im Blick auf den weiteren Fortgang des Protestantismus wird man die von Teller geäußerte Zuversicht kaum uneingeschränkt zu teilen geneigt sein, auch wenn er sie weit eher religionsbiographisch denn christentumsgeschichtlich gemeint haben dürfte. Gleichwohl würde der Protestantismus sein Wesen verkennen oder verleugnen, wenn er die in der Aufklärung freigesetzten Identitätsimpulse nicht weiterhin fortwährend zulassen, wahrnehmen und kritisch umsetzen wollte. Noch immer stellt er neben dem römischen Katholizismus und den orthodoxen Kirchen den dritten Haupttypus des neuzeitlichen Weltchristentums dar. Allerdings ist dem 1923 gegründeten »Protestantischen Weltverband« nach seiner Auflösung 1944 keine entsprechende internationale Organisation nachgefolgt. Statt dessen wird die globale Zusammengehörigkeit der Evangelischen heute lediglich in internationalen Konfessionsbünden wie dem Lutherischen Weltbund, dem Reformierten Weltbund, der Baptist World Alliance oder dem Weltrat Methodistischer Kirchen zum Ausdruck gebracht. In diesem Tatbestand spiegelt sich freilich insofern genuin protestantisches Erbe, als die organisatorische, lehrmäßige und kulturelle Pluralität seit jeher die Grundverfassung des Protestantismus bestimmt hat. Die daraus namentlich für das Gespräch mit der römisch-katholischen Weltkirche resultierenden Erschwernisse sind offenkundig. Obschon die zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbrechende ökumenische Bewegung aus protestantischem Geist und Boden erwuchs, vermeiden die meisten konsensökumenischen Dokumente der Gegenwart jede affirmative Bezugnahme zu Begriff und Sache des Protestantismus. In solcher Fatalität bekommt das alte Wort Lichtenbergs eine 18

Wilhelm Abraham Teller: Die Religion der Vollkommnern, Berlin 21793, S. 76.

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ermutigend neue Bedeutung: Aufklärung, hatte er definiert, »besteht eigentlich in richtigen Begriffen von unsern wesentlichen Bedürfnissen«.19

Literatur Albrecht, Christian: Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis. Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie (Beiträge zur Historischen Theologie 114), Tübingen 2000. Beutel, Albrecht: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (UTB 3180), Göttingen 22009. − »Frömmigkeit als ›die Empfindung unserer gänzlichen Abhängigkeit von Gott‹. Die Fixierung einer religionstheologischen Leitformel in Spaldings Gedächtnispredigt auf Friedrich II. von Preußen«, in: Albrecht Beutel: Spurensicherung. Studien zur Identitätsgeschichte des Protestantismus, Tübingen 2013, S. 165–187. Drehsen, Volker/Gräb, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.): Kompendium Religionstheorie (UTB 2705), Göttingen 2005. Hirsch, Emanuel: Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit. Ein Lesebuch, Tübingen 1938, Neuausgabe Tübingen, Goslar 1985. Kant, Immanuel: »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«, in: Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1958, S. 265–283. Kirn, Hans-Martin: Art. »Protestantenverein«, in: Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), S. 538–542. Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 1, München 1968. − Briefwechsel, Bd. 3: 1785–1792, hg. von Ulrich Joost/Albrecht Schöne, München 1990. Müller, Hans Martin: »Das Evangelium und die Moderne. Zum Problem der Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 90 (1993), S. 284–298. Ohst, Martin: »›Reformation‹ versus ›Protestantismus‹? Theologiegeschichtliche Fallstudien«, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 441–479. Spalding, Johann Joachim: Die Bestimmung des Menschen (11748–111794), hg. von Albrecht Beutel u. a. (Kritische Spalding-Ausgabe I/1), Tübingen 2006. − Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum (11761–51784), hg. von Albrecht Beutel/Tobias Jersak (Kritische Spalding-Ausgabe I/2), Tübingen 2005. − Ueber die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung (11772–31791), hg. von Tobias Jersak (Kritische Spalding-Ausgabe I/3), Tübingen 2002. − Vertraute Briefe, die Religion betreffend (11784–31788), hg. von Albrecht Beutel/Dennis Prause (Kritische Spalding-Ausgabe I/4), Tübingen 2004.

Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Bd. 1, München 1968, S. 688. 19

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− Religion, eine Angelegenheit des Menschen (11797–41806), hg. von Tobias Jersak/Georg Friedrich Wagner (Kritische Spalding-Ausgabe I/5), Tübingen 2001. − Vorrede zu der deutschen Uebersetzung (1766), in: Johann Joachim Spalding: Kleinere Schriften 1, hg. von Olga Söntgerath (Kritische Spalding-Ausgabe I/6-1), Tübingen 2006, S. 315– 325. − »Gedächtnißpredigt auf Friedrich den Zweyten, König von Preußen […] (1786)«, in: Johann Joachim Spalding: Einzelne Predigten, hg. von Albrecht Beutel/Olga Söntgerath (Kritische Spalding-Ausgabe II/6), Tübingen 2013. Teller, Wilhelm Abraham: Die Religion der Vollkommnern, Berlin 21793. Troeltsch, Ernst: »Die Aufklärung« (1897), in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 338–374. Wallmann, Johannes, u. a.: Art. »Protestantismus«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1727–1743. Witt, Christian V.: Protestanten. Das Werden eines Integrationsbegriffs in der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Historischen Theologie 163), Tübingen 2011.

Auf dem Prokrustesbett neuzeitlicher Rationalität. Schwierigkeiten mit der Religionskritik der Aufklärung Winfried Schröder

Eine verbreitete Antwort von theologischer Seite auf die Religionskritik der Aufklärung lautet, dass diese ahistorisch und anachronistisch verfuhr. Sie maß, so heißt es, historisches religiöses Lehrgut an Kriterien, die allein in gegenwärtigen Debatten über Wahrheitsansprüche und normative Geltungsansprüche rechtmäßig zur Anwendung kommen: In der Aufklärung sah sich »die Theologie […] mit einer ihr äußeren, fremden Instanz von Rationalität konfrontiert«1. Mit diesen Worten fasste der Theologe Walter Sparn, der auch als Philosophiehistoriker großes Ansehen genießt, den Anachronismusvor wurf zusammen. Dieser Topos ist von einer solchen Zählebigkeit, dass er im Rahmen eines Kolloquiums mit dem Titel ›Aufklärung und Religion‹ zur Sprache kommen sollte. Wäre der Anachronismusvor wurf berechtigt, hätte dies Folgen nicht nur für unser Verständnis der historischen Aufklärungsphilosophie. Denn heutige Philosophen, die sich mit dem Christentum auseinandersetzen, stehen in vielen Hinsichten auf den Schultern der Religionskritiker des 17. und 18. Jahrhunderts. Viele ihrer Einwände werden nach wie vor zur Geltung gebracht und weiterentwickelt. Man denke daran, wie substantiell die Anregungen sind, die der moderne Klassiker John Mackie aus David Humes Kritik am Christentum und am Theismus überhaupt gezogen hat, und nach ihm Geistesver wandte wie Norbert Hoerster oder Ansgar Beckermann.2 Wenn das Stichwort ›Anachronismus‹ für eine Schwierigkeit steht, dann betrifft diese nicht bloß die Religionskritik der Aufklärung, sondern – zumindest teilweise – die Religionskritik seit der Aufklärung. Der Anachronismusvorwurf lässt sich indessen, wie es scheint, schnell abfertigen. Im Grunde genügt die folgende – zugegebenermaßen triviale – Überlegung: Jede Theorie, wann immer sie ursprünglich entwickelt oder formuliert wurde, muss, wenn sie heute akzeptiert werden soll, den heute gültigen Kriterien genügen. Auch ein noch so großer historischer Abstand ändert nichts daran, dass wir – was auch sonst? – unsere Maßstäbe anlegen. So verfahren wir ja mit allen Theorien, Normen und weltanschaulichen Angeboten, die uns zur Zustimmung vorgelegt werden. So verfahren wir mit dem ptolemäischen Weltbild oder der aristotelischen These, dass Sklave-Sein eine natürliche Gegebenheit ist. Und so verfahren wir mit dem Christentum. Es muss, wenn es die Anerkennung heutiger Adressaten sucht, deren Kriterien genügen.

Walter Sparn: »Religiöse Aufklärung«, in: Glaube und Denken 5 (1992) S. 85. John Mackie: The Miracle of Theism. Arguments for and against the Existence of God, Oxford 1982 [Das Wunder des Theismus, Stuttgart 1982 u. ö.]; Norbert Hoerster: Die Frage nach Gott, München 2005; Ansgar Beckermann: Glaube, Berlin, New York 2013. 1 2

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Mit dem Anachronismusvorwurf ist gelegentlich aber auch etwas anderes als die illegitime Anwendung moderner Beurteilungskriterien gemeint. Er besagt dann, dass die neuzeitlichen Religionskritiker die Religion, die sie ins Visier nahmen, nicht verstanden haben, weil die historisch weit auseinanderliegenden Welt- und Menschenbilder – des Christentums und der Neuzeit bzw. Aufklärung – inkommensurabel sind. Das, so scheint mir, ist ein Vorwurf, dem nachgegangen werden sollte. Wenn wir seine Berechtigung überprüfen wollen, befinden wir uns in einer günstigen Lage. Wir können nämlich die Konfrontation von Philosophie und Christentum in der Aufklärung mit einer Konfrontation zwischen beiden vergleichen, die in der Frühzeit des Christentums, in der Spätantike, stattfand, und dann schauen, was aus dem Vergleich der neuzeitlichen und der spätantiken Christentumskritik im Hinblick auf den Anachronismusvor wurf zu lernen ist. In dieser günstigen Lage befinden wir uns, weil wir Texte von drei paganen Philosophen der Spätantike besitzen, die das frühe Christentum aus einer synchronen Perspektive wahrgenommen haben: Kelsos bereits im 2. Jahrhundert, sowie Porphyrios und Julian Apostata im 3. bzw. 4. Jahrhundert, und wir besitzen die Antworten christlicher Theologen und Philosophen auf die Einwände der genannten drei Heiden.3 – Die folgenden Überlegungen werden sich auf zwei Streitsachen konzentrieren, die in den Debatten der Spätantike wie der Aufklärung eine zentrale Rolle spielten: die Debatte über die Wunder und die Kontroverse über die christliche Glaubensvorstellung. In den Einwänden gegen den christlichen Wunderglauben, so sagt man, tritt der anachronistische Charakter der Religionskritik der Aufklärung besonders eklatant zutage. In geradezu grotesker Weise hätten die Aufklärer die Messlatte des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes an die biblischen Geschichten von Brotvermehrungen, Krankenheilungen und Totener weckungen angelegt und sich dabei ähnlich lächerlich gemacht wie jemand, der darauf hinweisen würde, dass ein attisches Pferdegespann heutzutage nicht mehr durch den TÜV kommen würde. Genauer gesagt: Die Aufklärer hätten die christliche Wunderauffassung im Lichte zweier Vorstellungen interpretiert, die dem christlichen Wunderglauben und der Epoche, in der er entstand, gänzlich fremd waren. Zum einen hätten sie zu Unrecht unterstellt, Wunder seien aus christlicher Sicht reale Ereignisse in der raumzeitlichen Welt. Zum anderen basiere die Wunderkritik der Aufklärer auf der Vorstellung einer unverletzlichen naturgesetzlichen Ordnung, einer Vorstellung, die durch und durch neuzeitlich sei. Zum ersten Punkt ist zu sagen, dass der in der Spätantike ausgetragene Streit durchaus über die Faktizität der Auferweckung des Lazarus, der Auferstehung Jesu von den Toten

Vgl. Kelsos: Alethes logos, hrsg. Robert Bader, Stuttgart, Berlin 1940 (Die Wahre Lehre. Übersetzt und erklärt von Horacio E. Lona, Freiburg, Basel, Wien 2005); Porphyrios: Gegen die Christen, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate, hg. von Adolf von Harnack, Berlin 1916 [auch in: Kleine Schriften zur Alten Kirche. Berliner Akademieschriften 1908–1930. Mit einem Vorw. von Jürgen Dummer. Leipzig 1980, S. 362–474]; Flavius Claudius Iulianus: Contra Galilaeos, hg. v. Emanuella Masaracchia, Rom 1990 (Bücher gegen die Christen. Nach ihrer Wiederherstellung übers. von Karl Johannes Neumann, Leipzig 1880). Vgl. dazu vom Vf.: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt ²2013. 3

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und der übrigen biblischen Wunder ging.4 Die Christen sahen sich dem Vor wurf ausgesetzt, die Evangelisten erzählten von diesen unmöglichen Ereignissen aufgrund ihrer mangelnden Bildung oder gar in betrügerischer Absicht.5 Diesem Vor wurf begegneten sie mit wünschenswert deutlichen Klarstellungen: Zwar sei ein Wunder wie die Auferstehung Jesu mehr als ein bloß faktisches Ereignis (worauf es in religiöser Perspektive ankommt, ist natürlich seine heilsgeschichtliche Dimension). Aber das, was die Bibel berichtet, habe sich wirklich auf Golgatha zugetragen. Der Gekreuzigte sei am dritten Tage tatsächlich als Lebender seinen Jüngern erscheinen.6 Bekanntlich meinen nicht wenige heutige Theologen, dass die biblischen Wundererzählungen nicht als Berichte von realen Ereignissen7, sondern als symbolische Rede zu verstehen sind. Diese Auffassung ist tatsächlich in der Antike vertreten worden. Doch waren es pagane Theologen und Philosophen, die die Wunderberichte ihres Mythenschatzes als religiöse Rede ohne faktischen Gehalt auffassten. Neuplatonische Mythenexegeten haben das explizit gesagt. Die wunderbaren Krafttaten der Götter, die – so der Philosoph Salustios wörtlich – »nie geschehen sind«8, müssen allegorisch ausgelegt werden. Christliche Autoren der Spätantike kannten diese ›modern‹ anmutende symbolische Wunderauffassung. Aber sie wiesen sie (im Hinblick auf die biblischen Wunder) nachdrücklich zurück und bestanden darauf, dass die in der Bibel erzählten Ereignisse sich wirklich zugetragen haben.9 Wunder sind mehr als reale Ereignisse in der raumzeitlichen Welt, aber sie haben in dieser unserer Welt tatsächlich stattgefunden. Nun zum zweiten Punkt, also zu der Behauptung, die Vorstellung einer naturgesetzlichen Ordnung habe nicht zum Denkhorizont der Antike, insbesondere nicht der christlichen Antike, gehört. Diese Behauptung ist falsch. Mehr noch: Es ist ausgesprochen wundersam, dass man ihr überhaupt noch begegnet. Denn die Forschung zur antiken Naturphilosophie hat hier längst Klarheit geschaffen.10 Tatsache ist, dass das in antiken Texten geläufige Wort nomoi tes physeos für eine Reihe von gehaltvollen Vorstellungen steht: nicht nur für die Vorstellung statistischer Regularitäten, sondern auch die für essentialistische Idee, dass es zur Natur eines Gegenstandes gehört, sich nur auf eine ganz bestimmte Weise und niemals anders verhalten zu können. Ein oft herangezogenes Beispiel ist die Irreversibilität der Verwesung eines Leichnams. Natürlich ist an dieser Stelle Vorsicht angebracht. Denn die Unterschiede zwischen den antiken und den neuzeitlichen Vgl. Porphyrios: Fragment 7 und 16. Vgl. Kelsos: Alethes logos 1,28; Porphyrios: Fragment 5 und 7. 6 Vgl. z. B. Origenes: Contra Celsum 1,2, ebenso 3,28. 7 »Ausnahmslos schildern die Wundergeschichten keinen historischen Verlauf von so und so Passiertem«; R. Pesch: Jesu ureigene Taten? Freiburg 1970, S. 143. W. Schröder: Art. »Wunder«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel. Basel 2004, bes. Sp. 1068–1071. 8 Salustios: De diis et mundo 4,9, hg. v. Gabriel Rochefort. Paris 1960, S. 8. 9 Vgl. Origenes: Contra Celsum 2,48; Kyrillos von Alexandria: Contra Iulianum 3; Gregor von Nyssa: Oratio catechetica 34; Eusebios: Demonstratio evangelica 3,4,30; Laktanz: Divinae institutiones 4,15,1 10 Wolfgang Kullmann: »Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes«, in: Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hg.): Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens. Göttingen 1995, S. 36–111. 4 5

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Naturgesetzvorstellungen liegen auf der Hand. Aber dass die Prozesse im Kosmos Regularitäten aufweisen, die nicht durchbrochen werden können, war – ganz besonders klar in der Stoa – nahezu allgemein anerkannt.11 Und dies von beiden Parteien, die in die damaligen Kontroversen verstrickt waren – auch von der christlichen Seite. Augustinus fasste die diesbezügliche Auffassung bündig zusammen: Die Welt weist eine naturgesetzlich (»legibus fixis«) geregelte Ordnung auf. Sie gründet im »Willen« des Schöpfergottes, der sie in Kraft gesetzt hat und deshalb auch suspendieren kann. Er suspendiert sie, indem er Wunder wirkt, »ohne sich durch ein Naturgesetz Vorschriften machen zu lassen [nulla praescribente lege naturae]«.12 – Insgesamt ist nicht zu sehen, inwiefern der Anachronismusvorwurf die Wunderkritik der Aufklärer treffen könnte. Denn diese rekapitulierten der Sache nach die Einwände, denen sich die Christen bereits im 2. bis 4. Jahrhundert ausgesetzt sahen. Sie gingen korrekt davon aus, dass die christliche Wunderauffassung realistisch ist. Und sie bezogen sich auf eine naturphilosophische Annahme (die Suspendierbarkeit der Naturgesetze), die von den Christen explizit gemacht wurde. – Ich belasse es bei diesen Bemerkungen zur Wunderproblematik, um nun etwas ausführlicher zu der zweiten Streitsache überzugehen. Der wohl schwerwiegendste Einwand, der gegen das christliche Glaubensverständnis erhoben wurde, besagt, dass dieses gegen einen allgemein anerkannten erkenntnistheoretischen Grundsatz verstößt. Nämlich gegen den Grundsatz, dass wir keine direkte willentliche Kontrolle über unsere Überzeugungen haben. Es ist nicht möglich, willentlich zu entscheiden, eine Aussage für wahr zu halten, und es ist folglich unsinnig, zu verlangen, eine Aussage für wahr zu halten. Kant brachte diesen Grundsatz auf die knappe Formel: Das »Glauben verstattet keinen Imperativ«.13 Folglich ist »ein Glaube […], der geboten wird, ein Unding«.14 Es geht nicht an, die willentliche Zustimmung zu »Glaubenssätzen« zu fordern und dogmatisch festzulegen, »was geglaubt werden soll«.15 Dass der Kern des christlichen Glaubensverständnisses gegen diesen Grundsatz verstößt, hat in exemplarischer Weise Hermann Samuel Reimarus gezeigt. Denn aus christlicher Sicht ist »das Glauben eine Handlung […], die die Menschen in ihrer Macht und Vermögen haben«, das heißt, »daß sie glauben können wenn sie nur wollen, und daß sie glauben können was sie nur wollen oder sollen«.16 Natürlich weiß Reimarus, dass der Wille eine gewisse indirekte Rolle bei der Bildung unserer Überzeugungen spielt: Die Prüfung von Behauptungen, die »Untersuchung der Wahrheit […] haben wir in unserer Macht und Willkühr, und es ist eine Handlung«.17 Aber das Für wahrhalten selbst ist Für die paganen Christentumskritiker vgl. etwa Porphyrios, der sich auf das im Kosmos wirksame »Gesetz der Ordnung [eutaxias nomos]« beruft; Fragment 35; vgl. auch Kelsos: Alethes logos 5,14. 12 Augustinus: De civitate dei 21,8. Vgl. auch Eusebios von Kaisareia: Adversus Hieroclem 6, der in der Auseinandersetzung mit dem neupythagoreischen Wunderglauben von »unauflöslichen [alytoi]« Gesetzen der Natur spricht. 13 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, Akad.-A., Bd. 7, S.42. 14 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, A 260. 15 Kant: Der Streit der Fakultäten, S.42. 16 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, hrsg. Gerhard Alexander, Frankfurt/M. 1972, Bd. 1, S. 122. 17 Ebd., S. 123. 11

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keine Handlung, der »Glaube ist keine willkührliche Sache«.18 Genau das aber – eine »willkührliche Sache« – ist er aus christlicher Sicht. Diese Ansicht – ein starker doxastischer Voluntarismus – ist ein konstitutives Element des christlichen Glaubensverständnisses. Denn zum einen spricht Jesus wiederholt und unmissverständlich die Forderung aus, ihm zu glauben. Und zum anderen ist der Glaube aus christlicher Sicht ein verdienstlicher und heilsrelevanter Akt: Das »Glauben an und für sich [ist] ein gutes Werk, und Tugend des Menschen […], welches die gröste Belohnung verdienet«.19 Unglaube und Zweifel wiederum sind die Folge böswilliger Verstocktheit, eines bösen Willens, der gerechterweise Strafe nach sich zieht. Noch einmal Reimarus: »Wer nur glaubt, und für wahr hält was die Kirche glaubt, der verdient schon dadurch […] das ewige Leben; wer dasselbe nicht glaubt, verdient Gottes Zorn und die ewige Verdammniß.«20 Mit diesem Satz paraphrasiert Reimarus getreu das Wort Jesu in Mk 16,16: »Wer da glaubt, wird errettet werden, wer aber nicht glaubt, wird verdammt.« Verdienstlich und heilsrelevant kann der Glaube nur sein (und eine Belohnung kann er nur dann verdienen), wenn er eine freiwillige Handlung ist. Die Christen sind daher ein für allemal auf einen starken doxastischen Voluntarismus festgelegt. Und das bedeutet, dass ihr Glaubensverständnis irreparabel verfehlt ist. Denn ihm liegt eine absurde Vorstellung davon zugrunde, wie wir unsere Überzeugungen bilden. Der Reimarus-Zeitgenosse Peter Annet sagte es so: »Every man must believe what appears to him to be true, and can believe no otherwise; therefore belief cannot be a duty […]. To make belief meritorious, or the want of it criminal, is a Mark of Imposture; for Truth requires a reasonnable Conviction, not a blind Obedience.«21 Haben die Aufklärer wie Annet und Reimarus, den Karl Barth einen »unangenehmen Krakeeler«22 nannte, hiermit nun einen fairen Einwand gegen das christliche Glaubensverständnis vorgebracht? Oder beruht dieser Einwand auf einer verzerrten Wiedergabe? Macht er in anachronistischer Weise Gebrauch von modernen erkenntnistheoretischen Grundsätzen? Eine Antwort auf diese Fragen können wir wiederum aus den Kontroversen der Spätantike gewinnen. Die Quellen geben uns hierzu zwei entscheidende Auskünfte. Die erste Auskunft finden wir bei den spätantiken Christentumskritikern. Wie Reimarus und die übrigen Aufklärer gehen sie von der (in der gesamten Antike anerkannten) Voraussetzung aus, dass Glauben/Fürwahrhalten eine nichtwillentliche Reaktion auf das Vorliegen von Gründen ist, die eine Meinung zustimmungsfähig machen. Der weite Bedeutungsumfang des christlichen Glaubensbegriffs23 ist den Heiden nicht entgangen. Er schließt das Moment des ›Meinens‹ und ›Fürwahrhaltens‹ ein, geht aber insofern darüber hinaus, als er auch – und in theologischer Perspektive wesentlich – das Vertrauen auf die Ebd., Bd. 2, S. 482. Ebd. Bd. 1, S. 122. 20 Ebd., S. 120. 21 Peter Annet: »Supernaturals examined«, in: ders.: A collection of tracts, London 1739, S. 134 f. 22 Karl Barth: Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 51960, S. 384. 23 Vgl. Rudolf Bultmann: »Art. ›pisteuein‹«, in: G. Kittel/G. Friedrich (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart u. a. 1933ff., Bd. 6, S. 174–230; vgl. auch die Ergänzungen von G. Barth: »Pistis in hellenistischer Religiosität«, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und Kunde der älteren Kirche 73 (1982), S. 110–126. 18 19

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Verheißungen Gottes meint. Und doch sind die Heiden im Recht, wenn sie als eine wesentliche Komponente der christlichen pistis die »Zustimmung [synkatathesis]«24 zu Aussagen, also zu »Lehren [dogmata]«25 gesondert ins Visier nehmen. Schon Kelsos im 2. Jahrhundert erblickte die Besonderheit der christlichen Glaubensvorstellung (deren, wie er sagt, »ungeheuerliche Neuerung«26) darin, dass Jesus und seine Anhänger »verlangen, zu glauben«. Die genaue Formulierung des Kelsos lautet: Sie »verlangen, sofort zu glauben«.27 Also der christlichen Botschaft nicht auf der Basis geprüfter Gründe, sondern aufgrund eines Willensentschlusses zuzustimmen. Die kritischen Kommentare des Kelsos brauche ich an dieser Stelle nicht weiter zu paraphrasieren, weil sie den eben wiedergegebenen Einwänden von Reimarus genau entsprechen. Erwähnenswert scheint mir aber die griffige Formel, mit der er sie zusammenfasst. Der Glaube, den die Christen fordern, ist eine pistis prokatalabusa – das heißt: »ein Glaube, der die Seele schon vor der Untersuchung der Gründe eingenommen hat«, bei dem es also der Wille ist, der »die Zustimmung […] bewirkt«.28 Dadurch, so Kelsos, werde die Ordnung, die eingehalten werden muss, wenn rationale Überzeugungen gebildet werden sollen, auf den Kopf gestellt. Eine zweite Auskunft geben uns die Antworten der christlichen Theologen und Philosophen auf diese Kritik der paganen Philosophen. Ein voluntaristisches Glaubensverständnis, das durch die wiederholte biblische Forderung zu glauben nahegelegt wird, ist theoretisch ausformuliert bei zahlreichen Kirchenvätern anzutreffen, besonders klar bei Klemens von Alexandria. Glauben heißt, so Klemens, der Behauptung eines »Sachverhalts [pragma]« zuzustimmen.29 Im Unterschied zum Wissen, das sich auf »Beweise« stützt, ist der Glaube die »Zustimmung zu einem nicht offensichtlichen Sachverhalt […] vor dem Beweis«30, genauer: ohne wahrscheinliche oder zur Zustimmung nötigende Gründe. An die Stelle überzeugungsgenerierender Gründe, die bei Vermutungen und Annahmen sowie beim Wissen maßgeblich sind, tritt beim Glauben die »freiwillig [ethelonten]«31 getroffene Entscheidung des Glaubenden, einer Lehre zuzustimmen. Implizit wird damit die Sicht zurückgewiesen, dass die Zustimmung zu Behauptungen zwar als Resultat einer Handlung – der Sichtung von Gründen und Gegengründen – zu verstehen sein mag, selbst aber keine Handlung, sondern eine Reaktion oder ein mentaler Zustand ist, der sich infolge einer Evaluation von Evidenzen einstellt. Ausdrücklich und im präzisen Sinne fasst Klemens die Zustimmung selbst und somit auch den Glauben als eine Handlung auf, die auszuführen oder zu unterlassen »in unserer Macht steht [eph‘ hemin]«.32 Der »Glaube ist ein Akt des Kelsos: Alethes logos 3,39. Ebd. 1,2 u. ö. 26 Ebd. 7,53. 27 Ebd. 6,7b. Porphyrios weist darauf hin, dass Jesus denen, die nicht glauben wollen, ewige Höllenstrafen androht; Fragment 91. 28 Kelsos: Alethes logos 3,39. Eine ähnliche Stoßrichtung hat Porphyrios’ Vorwurf, die Christen verlangten einen »irrationalen und ungeprüften/unkritischen Glauben [alogos kai anexetastos pistis]«; Fragment 1; vgl. auch Fragment 73. 29 Klemens von Alexandria: Stromata 2,27,4 30 Ebd. 31 Ebd. 2,9,3. 32 Ebd. 2,54,5–55,1. 24 25

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Wählens [prohairesis]«.33 Der von Klemens gewählte griechische Terminus technicus prohairesis (›Vorzugswahl‹) unterstreicht, dass dem Adressaten der Glaubensbotschaft die beiden Optionen Zustimmung und Nichtzustimmung zur freien Wahl stehen, und dass er für seine jeweilige Wahl Belohnung oder aber Strafe verdient. – Klemens bietet mit seiner Religionsepistemologie eine repräsentative Zusammenfassung der einschlägigen Auffassungen nicht aller, aber eines Großteils der frühen christlichen Philosophen und Theologen. Entscheidend ist, dass er verständlich macht, wie das Verhältnis von Fürwahrhalten und Wollen zu bestimmen ist, wenn man die christliche Glaubensvorstellung vertritt. Ein Christ, das ist der Kern der Überlegungen des Klemens, muss ein doxastischer Voluntarist sein. Vergleichen wir die Stellungnahmen der Aufklärer, der spätantiken Christentumskritiker und der frühen christlichen Philosophen und Theologen miteinander, ergibt sich ein wünschenswert klares Bild. Nicht erst die Aufklärer haben an dem voluntaristischen Kern des christlichen Glaubensverständnisses Anstoß genommen – bereits für die antiken Gegner des Christentums war dieser ein Skandalon. Und mehr noch: Genau das, was die Aufklärer und vor ihnen die spätantiken Christentumskritiker beanstandeten, haben die frühen christlichen Philosophen und Theologen mit Nachdruck bekräftigt: Wir können und sollen den Glauben willentlich ergreifen. – Um diesen Punkt zusammenzufassen, möchte ich noch einmal kurz auf die eingangs zitierte These zurückkommen, die der Anlass für meine Überlegungen war: die These, das Christentum sei in der Aufklärung »mit einer ihm äußeren, fremden Instanz von Rationalität konfrontiert« gewesen. Der Sinn dieser These war es, die Christentumskritik der Aufklärung – und seit der Aufklärung – als illegitim zurückzuweisen. Tatsächlich jedoch stellt sich, wenn man dieser defensiv gemeinten These nachgeht, ein gegenteiliger Effekt, sozusagen ein Bumerang-Effekt ein. Denn es zeigt sich, dass die christliche Glaubensvorstellung tatsächlich auf einer fundamental anderen Vorstellung davon, wie wir unsere Überzeugungen bilden, beruht. Und zwar auf einer – vorsichtig gesagt – dubiosen, nämlich voluntaristischen Vorstellung. Der von theologischer Seite gegen die Christentumskritik der Aufklärung und der Moderne erhobene Anachronismusvorwurf verlangt selbstverständlich wesentlich weiter ausholende Überlegungen und extensivere Quellenuntersuchungen als die hier vorgenommenen knappen Stichproben.34 Was jedoch den Glaubensbegriff und den Wunderbegriff bzw. das ihm korrespondierende Natur verständnis angeht, hält der Anachronismusvorwurf einer Überprüfung nicht stand. Denn der Glaubensbegriff und der Wunderbegriff waren in Antike und Neuzeit denselben grundlegenden Einwänden ausgesetzt. An dieser Stelle konnten die epochenübergreifenden Gemeinsamkeiten der philosophischen Christentumskritik lediglich anhand dieser beiden Beispiele ausgeführt werden, und das auch nur skizzenhaft. Immerhin betreffen die thematisierten Streitfragen – Glaube und Wunder – Lehrgehalte, die die doktrinale Identität des Christentums ausmachen. Diese sind zudem von unverminderter Aktualität, wenn wir uns heute aus einer philosophischen Perspektive auf das Christentum beziehen. Zwar hat sich die christliche Theologie seit der Aufklärung erheblich modernisiert. Eine Fülle traditionellen Lehrguts 33 34

Ebd. 2,9,2. Vgl. dazu meine in Anm. 3 genannte Arbeit.

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ist abgestoßen worden – vom Antijudaismus über die Androzentrik und Geringschätzung der Frauen bis hin zum limbus infantium. Die fundamentalen Lehren, an denen die antiken und neuzeitlichen Philosophen Anstoß nahmen, können jedoch nicht entsorgt werden: Der Wunderglaube kann mindestens im Hinblick auf die Auferstehung Jesu nicht aufgegeben werden (Paulus im 1. Korintherbrief: »Ist Christus nicht auferstanden, so ist unser Glaube eitel«). An dem voluntaristischen Kern des Glaubensbegriffs muss christlicherseits ebenfalls festgehalten werden. Denn nur ein freiwilliger Glaube kann verdienstlich sein und als Heilsbedingung ausgezeichnet werden. Ein Christentum ohne voluntaristische Glaubensauffassung und ohne den Glauben an Wunder wäre inhaltlich entkernt. Wenn das so ist, bedeutet das nicht allein, dass die Christentumskritik der Aufklärung nicht anachronistisch ist, sondern darüber hinaus, dass sie nach wie vor sachlich ernstzunehmende Einwände gegen tragende Säulen der christlichen Religion bietet.

Literatur Annet, Peter: A collection of tracts, London 1739. Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik I/2, Zollikon 51960. Beckermann, Ansgar: Glaube, Berlin, New York 2013. Bultmann, Rudolf: »Art. ›pisteuein‹«, in: G. Kittel/G. Friedrich (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Stuttgart u. a. 1933ff., Bd. 6, S. 174–230. Barth, G.: »Pistis in hellenistischer Religiosität«, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft und Kunde der älteren Kirche 73 (1982) S. 110–126. Flavius Claudius Iulianus: Contra Galilaeos, hg. v. Emanuella Masaracchia, Rom 1990 (Bücher gegen die Christen. Nach ihrer Wiederherstellung übers. von Karl Johannes Neumann, Leipzig 1880 Hoerster, Norbert: Die Frage nach Gott, München 2005. Kant, Immanuel: Der Streit der Fakultäten, Akad.-A., Berlin, Leipzig 1902ff., Bd. 7. − Kritik der praktischen Vernunft, Akad.-A., Berlin, Leipzig 1902ff., Bd. 5. Kelsos: Alethes logos, hrsg. Robert Bader, Stuttgart, Berlin 1940 (Die Wahre Lehre. Übersetzt und erklärt von Horacio E. Lona, Freiburg, Basel, Wien 2005.) Kullmann, Wolfgang: »Antike Vorstufen des modernen Begriffs des Naturgesetzes«, in: Okko Behrends/Wolfgang Sellert (Hg.): Nomos und Gesetz. Ursprünge und Wirkungen des griechischen Gesetzesdenkens. Göttingen 1995, S. 36–111. Mackie, John: The Miracle of Theism. Arguments for and against the Existence of God, Oxford 1982 [Das Wunder des Theismus, Stuttgart 1982 u. ö.] Pesch, R.: Jesu ureigene Taten? Freiburg 1970. Porphyrios: Gegen die Christen, 15 Bücher. Zeugnisse, Fragmente und Referate, hg. von Adolf von Harnack, Berlin 1916 [auch in: Kleine Schriften zur Alten Kirche. Berliner Akademieschriften 1908–1930. Mit einem Vorw. von Jürgen Dummer. Leipzig 1980, S. 362–474.] Reimarus, Hermann Samuel: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., hg. Gerhard Alexander, Frankfurt/M. 1972. Salustios: De diis et mundo, hg. v. Gabriel Rochefort. Paris 1960.

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Schröder, Winfried: Art. »Wunder«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel. Basel 2004, Sp. 1052–1071. − Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt ²2013. Sparn, Walter: »Religiöse Aufklärung«, in: Glaube und Denken 5 (1992), S. 77–105.

Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant Rainer Enskat (Halle)

I Wenn man sich gegenwärtig an einem von der Philosophie getragenen Kolloquium zum Thema Aufklärung und Religion beteiligt, dann rückt aus geistesgeschichtlichen Gründen verständlicherweise zunächst das 18. Jahrhundert in einen Brennpunkt der Aufmerksamkeit – das Taufjahrhundert der Aufklärung. Es ist schlecht bestreitbar, dass die um eine angemessene Behandlung des Aufklärungsproblems besorgte Philosophie gut beraten ist, wenn sie ihre geistesgeschichtliche Situation im Taufjahrhundert der Aufklärung nicht vernachlässigt. Zu dieser geschichtlichen Situation gehört jedenfalls auch der denkwürdige Umstand, dass es ein Theologe gewesen ist, der die Frage Was ist Aufklärung? 1783 zum ersten Mal so formuliert und publiziert hat, dass sich ihrer ein Jahr später auch Kant und Mendelssohn ausführlich angenommen haben. Die Frage des Theologen Johann Friedrich Zöllner ergibt sich aus einer typischen Situation semantischer und kognitiver Notwehr. Sie wird in einer geschichtlichen Situation gestellt, deren Angehörige sich durch sprachliche Vieldeutigkeiten, begriffliche Unschärfen und theoretische Aporien in Verständigungs- und Orientierungsschwierigkeiten versetzt finden. Das Aufklärungsvokabular ist zwar während des 18. Jahrhunderts in allen europäischen Nationalsprachen zum ersten Mal geprägt worden, aber im Laufe der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts allmählich auch inflationär geworden. In einer solchen Situation hat man spätestens seit Platon immer wieder einmal zu dem Reflexionsmittel der essentialistischen Frageform Was ist X? gegriffen. Welcher Grad an Bedeutsamkeit der Frage Was ist Aufklärung? in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beigemessen werden konnte, kann man leicht dem Umstand entnehmen, dass Zöllner sie in die unmittelbare Nachbarschaft der Pilatus-Frage rückt: »Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man zu aufklären anfinge! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden!«.1 Wenn im Jahr 2014 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie ein Kolloquium zum Thema Aufklärung und Religion organisiert werden kann, dann ist dies ein ernstzunehmendes Indiz dafür, dass auch mit der Aufklärung über die Religion immer noch irgendetwas im Argen liegt, und dies, obwohl inzwischen fast zweihundertfünfzig Jahre vergangen sind, seit Kant in seinem längst klassisch gewordenen AufklärungsJohann Friedrich Zöllner: »Ist es ratsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sancieren?« (11783), wieder abgedr. in: N. Hinske (Hg.): Was ist Aufklärung?, Darmstadt 41990, S. 107–116, hier: S. 115*. 1

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Aufsatz in programmatischer Form erklärt: »Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung […] vorzüglich in Religionssachen gesetzt«.2

II Über eine direkte Antwort auf die quasi-essentialistische Frage, was Aufklärung ist, verfüge auch ich nicht. Bevor man mit diesem Thema beginnt, das die politische und die gesellschaftliche Wirklichkeit der Religionsgeschichte bis heute so schwer belastet, scheint es daher zweckmäßig zu sein, in einem kurzen Exkurs einen indirekten Weg zu einer vorläufigen Antwort auf die quasi-essentialistische Aufklärungs-Frage zu erproben. Der amerikanische Historiker Robert Darnton – vermutlich der bedeutendste Kenner der medialen Verbreitungsformen des Aufklärungsprojekts im 18. Jahrhundert – hat in einem fulminanten Essay unter dem Titel George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung?3 zugunsten der Wichtigkeit der von ihm apostrophierten kleingeschriebenen Fortschritte der Aufklärung plädiert4 – und damit zugunsten einer Revision der Kriterien, mit deren Hilfe man wohlbegründete Antworten auf Fragen nach Fortschritten der Aufklärung geben kann. Gleichwohl ist es irritierend, dass Darnton diese kleingeschriebenen Fortschritte ausgerechnet am Beispiel von George Washingtons falschen Zähnen exemplifiziert, also an einem Musterbeispiel aus der Geschichte der Zahnheilkunde. Zwar widerfahren die Zahnschmerzen und der Zahnverfall den Menschen seit unvordenklichen Zeiten nicht nur in einer ganz und gar unscheinbaren, vergleichsweise winzigen und nicht-öffentlichen Region ihrer leibhaftigen Existenz. Sie sind sogar mit Gefahren für Leib und Leben bis hin zum Tod verbunden. Die außerordentlichen Wohltaten der modernen Zahnheilkunde sind ganz besonders vor diesem Hintergrund selbstverständlich gänzlich unbestreitbar. Doch ist es im Rahmen eines erneuten Versuchs zur Beantwortung der quasi-essentialistischen Aufklärung-Frage angemessen, ausgerechnet diese Fortschritte seit George Washingtons Zeiten als Musterbeispiel von kleingeschriebenen Fortschritten der Aufklärung zu behandeln? Man wird den Sozialhistoriker nicht gut dafür kritisieren können, wenn er Bedingungen der von ihm beschworenen kleingeschriebenen Fortschritte ausblendet, die für die Philosophie von alters her in einem Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit stehen. Denn es sind nun einmal die außerordentlichen kognitiven Fortschritte der klinischen Forschung, die im Schatten von Darntons enthusiastischer Dankbarkeit für die Wohltaten der gegenwärtigen Zahnheilkunde in den Schatten geraten. Der Grad der Abstraktion von dieser kognitiven Dimension ist beim Sozialhistoriker sogar so groß, dass auch noch die zweite, für das Aufklärungs-Thema sogar noch wichtigere kognitive Dimension jenseits der klinischen Forschung ausgeblendet bleibt – die kognitive Dimension der ärztlichen Dia2 Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: was ist Aufklärung?«, in: Kant’s gesammelte Schriften, Bd. VIII (sog. Akademie-Ausgabe, hinfort zitiert nach dem (Kurz-)Titel, Schema Ak. Iff., S. …), S. 41. 3 Robert Darnton: George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung? (amerik. 1 1997), München 1997. 4 Vgl. ebd., S. 26 f.

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gnose und Therapie. Sofern der jeweils behandelte individuelle Patient in diese kognitive Dimension der ärztlichen Tätigkeit einbezogen wird, sprechen wir im deutschen Sprachraum von der Aufklärung, die der jeweils behandelnde Arzt seinem Patienten in Form seiner Diagnose und seines Heilbehandlungsplans angedeihen lässt. An dem hier verwendeten Aufklärungs-Begriff ist offenkundig sowohl eine kognitive wie auch eine praktische Komponente beteiligt, die hier in einer geradezu musterhaften Form zu einem generalisierbaren Aufklärungs-Begriff verschmolzen sind. Denn die ärztliche Diagnose klärt über somatische Bedingungen einer gestörten Alltagspraxis des individuellen Patienten ebenso auf wie der Heilbehandungsplan über eine praktische und technische Form aufklärt, diese somatischen Praxis-Störungen zugunsten einer somatisch ungestörten Alltagspraxis zu überwinden. Ich werde mich daher bei meinen weiteren Überlegungen von der folgenden Arbeitsdefinition des Aufklärungs-Begriffs leiten lassen: Um Aufklärung handelt es sich dann, wenn es einer individuellen Person gelingt, verbesserungsbedürftige und verbesserungsfähige Bedingungen ihrer Alltagspraxis richtig zu beurteilen und sowohl technische wie praktische Formen des Handelns richtig zu beurteilen, die für eine Überwindung dieser Bedingungen zugunsten gedeihlicher Praxisbedingungen notwendig oder sogar hinreichend sind. Die Zuspitzung dieser positiven Arbeitsdefinition auf diese spezifischen kognitiven und praktischen Bedingungen der individuellen Alltagspraxis kann durch eine negative Aufklärungsbedingung komplettiert werden: Solange Bemühungen um eine wie auch immer verstandene Aufklärung noch nicht dahin gelangt sind, die kognitiven, die technischen und die praktischen Fähigkeiten von möglichst vielen individuellen Personen so zu durchdringen, dass ihnen solche Beurteilungen im Durchschnitt der praktisch hinreichend wichtigen Situationen gelingen, ist die Aufklärung noch nicht gelungen. Worte wie Aufklärung und aufklären gehören nun einmal im Sinne des trefflichen linguistischen Kriteriums von Gilbert Ryle nicht nur zu den Tätigkeits-, sondern auch zu den Erfolgsworten.5 Niemand hat in der klassischen Situation der thematischen Reflexion über die Frage, was Aufklärung ist, so konzentriert die kognitive und die praktische Dimension der Aufklärung umrissen wie Moses Mendelssohn. Das Maß der Aufklärung bemisst er am Maß des Wissenswerten, von dem die Angehörigen einer Nation in ihrem Status als Menschen, als Bürger, als Träger einer spezifischen sozialen Rolle und als Angehörige eines spezifischen Berufs Gebrauch machen können.6 Trotz unübersehbarer, aber auch nur schwer vermeidbarer Reflexionsdefizite hat der Sozialhistoriker Darnton mit seinem Paradigma aus dem Spannungsfeld von klinischer Forschung und ärztlicher Diagnostik und Heilbehandlung7 – wenn auch unintendiert – Zu diesem systematischen und problemgeschichtlichen Fragenkreis vgl. die Untersuchungen des Verf.: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008. 6 Vgl. Moses Mendelssohn: »Über die Frage: was heißt aufklären?«, in: ders., Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Stuttgart, Bad Canstatt 1971 ff., Bd. 6, 1, S. 113–19, hier: S. 117; vgl. hierzu vom Verf.: Bedingungen, bes. S. 624–28. 7 Vgl. hierzu Rudolf Gross, Medizinische Diagnostik. Grundlagen und Praxis, Heidelberg 1969, bes. S. 1–24. 5

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den sowohl kognitiven wie praktischen Brennpunkt jener Aufklärungsbedürftigkeit getroffen, die uns spätestens seit der Zeit von George Washingtons Zahnschmerzen nicht nur bis in die Gegenwart begleitet, sondern bis in eine unbestimmte Zukunft begleiten wird – die strikte Abhängigkeit des Grades der Aufklärung von der Fähigkeit möglichst vieler individueller Menschen, die praktische – also die moralische, die rechtliche, die utilitäre und die politische – Relevanz nicht nur von Tatsachen und Informationen des alltäglichen Lebens, sondern auch von wissenschaftlichen Informationen und Tatsachenbehauptungen treffend zu beurteilen und von ihnen im Licht solcher Beurteilungen einen guten und nützlichen praktischen Gebrauch zu machen.8 Die Orientierung der vorgeschlagenen Arbeitsdefinition am kognitiven und am praktischen Aspekt der Aufklärung hat überdies den Vorzug, eine Öffnung der problemgeschichtlichen Fragestellung zugunsten von Aufklärungskonzeptionen mit sich zu bringen, die nicht im historiographischen Bannkreis des fast schon sprichwörtlichen Jahrhunderts der Aufklärung entworfen worden sind. Auf dieser Linie läßt sich zeigen, in welchen Formen nicht nur Kant, sondern auch Platon zu der so verstandenen Aufklärung über die Religion beigetragen hat. Man kann Platons Beitrag zur Aufklärung über die Religion in unseren Tagen allerdings nicht gut behandeln, ohne auf eine der gelehrtesten und energischsten Behandlungen einzugehen, die das Religionsproblem im 20. Jahrhundert erfahren hat – auf die Behandlung durch Leo Strauss. Schon früh hat Strauss die von Tertullian evozierten KonIm Gegensatz hierzu ist in den Augen des Sozialideen-Historikers Jonathan Israel: Radical Enlightenment, Bde. I–III, Oxford 2001–2011, die Aufklärung schon dann radikal, wenn ihre Träger eine monistische Substanz-Metaphysik des Geistes (mens) vom Typ der Ethica Spinozas zugunsten bilderstürmerischen Atheismus’, sozialer Unruhen, politischer Aufstände und revolutionärer Umstürze gegen Instanzen instrumentalisieren, die sie als illegitime Autoritäten beurteilen. Von den kognitiven Problemen prinzipieller und situationsrelativer Kriterien für eine aufgeklärte Beurteilung der Illegitimität bzw. Legitimität von Autoritäten scheint Israel wenig zu wissen, ebenso wenig von dem radikalen Aufklärungsbedarf, den das Making of Modernity provoziert hat, weil die Verflechtung der kognitiven Autorität namens Wissenschaft mit der Industrie die wachsende Entfremdung herbeigeführt hat, in der die durchschnittliche Urteilskraft der Bürger sowohl gegenüber dieser Autorität wie gegenüber ihrer wissenschaftsbasierten Lebenswelt befangen ist; vgl. zu diesem Thema vom Verf.: »Tradition und Innovation in Lebenswelt und Wissenschaft – eine Zerreissprobe für die Urteilskraft?«, in: C. F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft (Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Lebenswelt und Wissenschaft an der Universität-Gesamthochschule Duisburg-Essen, September 2008), Hamburg 2011, S. 940–69. Die von keinerlei thematischer Kriterien-Reflexion geleiteten Auffassungen Israels entwickelt auch der Literaturhistoriker der Untergrund-Ideen der Aufklärung Martin Mulsow: »Radikalaufklärung, moderate Aufklärung und die Dynamik der Moderne«, in: Jonathan I. Israel/Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung, Frankfurt/M. 2014, S. 203–233; in seinen Augen ist die radikale Aufklärung nichts anderes als »die radikale Wirkung der Texte im Sinne von ›Aufklärung‹«, S. 227. Die Leser solcher Texte sind also anscheinend passive rezeptionsliterarische Medien, die durch mentale Wirkungen solcher Text-Lektüren kausal in »offensive Akteure«, ebd., verwandelt werden. Eine popularisierende Variante von Israels und Mulsows Auffassungen von radikaler Aufklärung findet sich bei Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011; vgl. hierzu meine Besprechung: »Aufklärung – ›Erwirb sie, um sie zu besitzen!‹ oder Literarische Spielwiese? Bemerkungen zu Methodenproblemen der Aufklärungsforschung anläßlich von Philipp Bloms Untersuchungen zum vergessenen Erbe der Aufklärung«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 23, Jg. 2011, S. 307–28. 8

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trastpaare Jerusalem und Athen, Philosophie und Gesetz zu Leitaspekten aller seiner nachfolgenden Untersuchungen erhoben.9 Unter den Vorzeichen dieser Kontraste ist Strauss schon früh zu der philosophiegeschichtlichen Einschätzung gelangt, die Aufklärung habe den »Rückgangscharakter der modernen Philosophie in der … ganze[n] Breite des 17. und 18. Jahrhunderts«10 herbeigeführt. Ausnahmegestalten innerhalb des von Strauss ins Auge gefassten Verfalls der modernen Philosophie bilden in seinen Augen so gut wie ausschließlich Rousseau, Mendelssohn und Lessing.11 Strauss erklärt den so charakterisierten Niedergang mit Hilfe des Hinweises auf »die Offenbarungs-Kritik der radikalen Aufklärung«12. Durch leichtfertige Formen der Traditions-Kritik und der Vorurteils-Kritik sei die moderne Philosophie um die wichtigste Herausforderung ihrer Selbstbesinnung gebracht worden – um die Herausforderung »einer Tradition von so unbedingter Autorität, wie es die Tradition der Offenbarungsreligionen ist«13 und durch »die Tradition der griechischen Philosophie«.14 Nach Strauss’ Auffassung wird die wichtigste Aufgabe der Selbstbesinnung nicht nur der Philosophie, sondern jedem einzelnen Menschen gestellt, wenn »[…] nach den Prinzipien des Handelns gefragt [wird], nach dem Richtigen und Guten«.15 Das einzige Heilmittel gegen den Niedergang der philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage nach den Prinzipien des Handelns und nach dem Richtigen und Guten sieht Strauss in einer Rückbesinnung auf die platonisch-sokratische Philosophie. Die Leitgedanken für die Auseinandersetzung der Gegenwart mit dieser Philosophie formuliert Strauss daher auch mit Hilfe einer kunstvollen Adaption der metaphorischen Sprache von Platons Höhlengleichnis: »Wir befinden uns heute in einer zweiten, viel tieferen Höhle als die unglücklichen Unwissenden, mit denen es Sokrates zu tun hatte«,16 Wir bedürfen daher des Platonischen Sokrates, »um in die Höhle hinauf zu gelangen, aus der uns Sokrates ans Licht führen kann«,17 uns also Aufklärung über das Gute und das Nützliche des Handelns vermitteln kann. Zur Sache vgl. Leo Strauss: Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin (11935), wieder abgedr. in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 2. Unter Mitwirkung von Wiebke Meier herausgegeben von Heinrich Meier (11997), Stuttgart 2013, S. 4–123, ausdrücklich in der Vorlesung »Jerusalem and Athen«, gehalten an der Hillel Foundation der University of Chicago vom 25. Oktober bis 8. November 1950. 10 Leo Strauss, Die geistige Lage der Gegenwart (11932), wieder abgedr. in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 2 (GS 2): Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften (Hg. Heinrich Meier), Stuttgart, Weimar 1997, S. 441–456, hier: S. 454. 11 Vgl. hierzu Strauss: Einleitung zu Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften (11931–1937), wieder abgedr. in: GS 2, S. 465–608. 12 Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat (11930), wieder abgedr. in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 1 (GS 1). Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften (Hg. Heinrich Meier), Stuttgart, Weimar 1996, S.1–330, hier: S. 63. 13 Strauss: Geistige Lage, 456, Strauss’ Hervorhebungen. 14 Ebd., S. 446. 15 Ebd., Strauss’ Hervorhebungen. 16 Leo Strauss: »Besprechung von Julius Ebbinghaus«, in: ders., GS 2, S. 439. 17 Ebd., vgl. auch Strauss: Philosophie, S. 13. 9

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Irritierenderweise findet sich unter der Vielzahl der Stellen in Platons Dialogen, mit denen sich Strauss auseinandergesetzt hat, nicht ein einziger Hinweis auf Platons einzigen Dialog – den frühen Dialog Euthyphron – , in dem das Religions-Problem vom Anfang bis zum Ende im besten von Strauss vermissten Sinne des Wortes Aufklärung behandelt wird – also so, dass der Leser durch die Auseinandersetzung von Platons Sokrates mit der Frage, was es bedeutet, religiös oder fromm zu sein, eine Erfahrung machen kann, die in der Geschichte der Philosophie zwar mit unterschiedlichen Worten, aber im selben Sinne beschrieben worden ist. Platon selbst beschreibt sie in der Politeia als eine Umwendung der Seele (ψυχῆς περιαγωγὴ18) und zwar als eine Umwendung mit der ganzen Seele (ὅλη τῇ ψυχῇ19), sogar als eine schmerzhafte Umwendung, zu der der Aufklärungsbedürftige überdies mit mehr oder weniger sanfter Gewalt gezwungen werden muss.20 Nicht umsonst sind es solche schmerzhaften Aussichten, die Sokrates veranlassen, Euthyphron angesichts ihres Religions-Themas zu fragen: »Worüber müssten wir uns also streiten und zu was für einer Entscheidung nicht kommen können, um uns zu erzürnen und einander feind zu werden […] du und ich sowohl als alle übrigen Menschen?«21

III Einer der wichtigsten Wendepunkte in der von Platon dialogisch inszenierten Argumentation zugunsten der von ihm intendierten Aufklärung über die Religion ist am Beginn des letzten Viertels des Dialogs erreicht. Platon lässt Sokrates den von seinem Gesprächspartner Euthyphron gemachten Vorschlag akzeptieren, dass fromm bzw. religiös zu sein, eine spezielle Form sei, gerecht zu sein. Sie bestehe darin, den Göttern gerecht zu werden, indem man sich um die Götter oder für die Götter sorgt.22 Sokrates Interesse an dieser Auffassung ist so stark, dass er es sich anschließend einundvierzig Fragen an Euthyphron kosten lässt, bis er die Hoffnung aufgibt, eine angemessene Antwort auf seine zentrale Frage zu erhalten. Sie lautet: »Im Tun welches Werks besteht der Dienst, durch den wir [Menschen] den Göttern helfen?«.23 Diese Frage ist im Kontext von Euthyphrons Antworten deswegen konsequent, weil dieser auf eine unmittelbar vorangegangene Frage so geantwortet hat: Sorge für oder um etwas ist stets Sorge für oder um etwas Gutes und Nützliches zugunsten des umsorgten Wesens24. Dies Zugeständnis Euthyphrons macht Sokrates offensichtlich durch die Frage nach dem Typus des Tuns des Werks der frommen bzw. religiösen Einstellung fruchtbar. Damit gibt er zu verstehen, dass der fromme bzw. religiöse Dienst der Menschen an den Göttern nicht einfach in irgendetwas für die Götter Gutem oder Nützlichem besteht. Es besteht vielmehr darin, ein Werk zu tun, also etwas 18 19 20 21 22

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Platon, Rep. 521c 6. Ebd., 518c 8. Vgl. ebd., 515c 6–d 1. Platon, Euthphr. 7cd. Ebd., 12e 5–7. Ebd., 13e 10–11. ἐπ‘ ἀγαθῷ τινί ἐστι καὶ ὠφελείᾳ τοῦ θεραπευομένου, ebd., 13b 8–9.

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durch konkrete Handlungsweisen Hervorgebrachtes zu erzielen, dessen die Götter ohne eine solche praktisch-aktive Sorge der Menschen gerade selbst nicht fähig sind. Zur Erläuterung des praktisch-werktätigen Charakters dieser Form des Gottesdienstes einigen sich die beiden Gesprächspartner auf Analogien wie die folgenden: »Welchem Werk gilt ein Dienst bei den Ärzten? Doch wohl der Förderung der Gesundheit?«25, »und welchem Werk der Dienst bei Schiffsbauern? Natürlich der Herstellung von Schiffen«,26 »und der [Dienst] bei den Baumeistern? Dem von Häusern«.27 Analog also wie die Menschen gute und nützliche Werke der Ärzte, der Schiffsbauer und der Baumeister brauchen, brauchen die Götter gute und nützliche Werke der Menschen. Trotz des an sich fruchtbaren argumentativen Spannungsfeldes, das durch diese Fragen und Antworten eröffnet ist, inszeniert Platon die Enttäuschung des Sokrates über den weiteren Verlauf des Gesprächs. Denn einerseits führen dessen einundvierzig Fragen an Euthyphron materiell nichts anderes herbei als dessen konventionelle Antwort nicht nur der griechischen Religion seiner Tage: »Fromm zu sein, bedeutet zu wissen, wie man opfert und betet«.28 Doch der wahre Grund von Sokrates’ Enttäuschung über seinen Gesprächspartner ist anspruchsvoller: »Wahrhaftig, Euthyphron, Du hättest, wenn Du nur gewollt hättest, den Hauptpunkt, nach dem ich Dich gefragt habe, viel kürzer behandeln können. Denn als Du diesem Hauptpunkt gerade eben so nahe wie möglich warst, bist Du abgewichen. Wenn Du diese Frage beantwortet hättest, hättest Du mich über das Fromme genügend belehrt«.29 Doch welches ist der von Sokrates apostrophierte Hauptpunkt, dem Euthyphron angeblich so nahe war, als er abgewichen ist? Platon lässt ihn durch Sokrates nicht direkt bestimmen. Hermann Weidemann hat im Rahmen einer aufschlussreichen Interpretation und Analyse einer argumentativen Passage in Platons Dialog Lysis auf die nicht zu geringe Wahrscheinlichkeit aufmerksam gemacht, dass Platon gelegentlich planmäßig elementare begriffliche bzw. argumentative Fehler in Dialoge integriert hat, um die Hellhörigkeit und das Problembewusstsein des Lesers zu wecken.30 In seinem Religions-Dialog kommt Platon seinem Leser in diesem Sinne sogar einen vergleichsweise großen Schritt entgegen, indem er ihn nahezu direkt animiert, selbst nach dem apostrophierten Hauptpunkt zu suchen, also die Begriffsstutzigkeit Euthyphrons auf eigene Faust zu überwinden. Es gehört jedoch zu den methodischen Pointen des Dialogs, dass Euthyphron sich den von Sokrates erfragten Hauptpunkt lediglich aus dem Anfangsteil des Dialogs hätte in Erinnerung zu rufen brauchen. Denn in diesem Teil war nicht nur einfach eine Einigung über diesen Hauptpunkt erzielt worden. Bei diesem Hauptpunkt handelt es sich darüber hinaus um die wohl prägnanteste Formulierung von Platons Ideen-Konzeption. Dabei Ebd., 13d 10–13. Ebd., 13e 1–3. 27 Ebd., 4–5. 28 Ebd., 14c 5–7. 29 Ebd., 14b 8–c3. 30 Vgl. Hermann Weidemann: »Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis 212a 8–213d 5)«, in: Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 60. Geburtstag, hg. v. R. Enskat, Berlin, New York 1998, S. 277–99. 25

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kann der Reifegrad dieser Formulierung in diesem frühen Dialog gar nicht besser beleuchtet werden als durch den Umstand, dass Platon ihre Kernelemente in seinem einige Jahrzehnte später verfassten Hauptwerk der Politeia wörtlich wiederholt. So hat Platon es seinen Lesern überlassen, sich an den gesuchten Hauptpunkt aus dem Anfang des Dialogs zu erinnern und sich mit dieser indirekten Hilfe selbst über die Frage zu belehren, was es bedeutet, fromm – also religiös – zu sein.

IV Dieser Hauptpunkt wird durch die konzeptionellen und die argumentativen Bindungskräfte mehrerer Elementarthesen zusammengehalten. Zunächst einmal wird die Eigenschaft, fromm zu sein, durchweg als eine Eigenschaft von mehr oder weniger alltäglichen praktisch-leibhaftigen Handlungsweisen der Menschen aufgefasst und nicht primär als persönlicher Habitus oder als persönliche Einstellung. Ausgangspunkt des Dialogs ist daher die Frage, ob es fromm ist oder nicht, wenn Euthyphron seinen eigenen Vater wegen der Erschlagung eines Sklaven, der selbst einen Sklaven seines Vaters erschlagen hat, bei Gericht verklagt. Sokrates gewinnt alsbald Euthyphrons Zustimmung zu dem Gedanken, dass diese Frage ein Beurteilungsproblem anschneidet, das man nicht dadurch ins Reine bringen kann, dass man sich an irgendwelchen konkreten Einzelbeispielen orientiert und schon gar nicht am Leitfaden von Handlungsmustern aus den herkömmlichen Darstellungen der Götterwelt. Die Götterwelt ist, wie diese Darstellungen zeigen, so heillos zerklüftet, dass kein einzelnes Beispiel einer ihrer Handlungsweisen einen Hinweis auf ein verlässliches Muster für eine konsistente und kohärente Beurteilung frommen Handelns unter Menschen bieten kann. Der erste wichtige Wendepunkt in einer Folge von Wendepunkten (vgl. 5c 4–d5, 6d 9–e8), die über die konventionelle Götter-Theologie von Sokrates Gesprächspartner hinausführen, wird von Sokrates’ Frage markiert, ob nicht in jeder frommen Handlung das Fromme selbst mit sich selbst dasselbe sei (5d 1–3). Euthyphron akzeptiert diese raffinierte Verknüpfung aus einer allgemeinen Identitäts- und InvarianzBedingung für das Fromme von Handlungen. Daher kann Sokrates ihn ermahnen, verschiedenartige Beispiele für das Fromm-sein nicht zu verwechseln mit jenem Eidos selbst (ἐκείνο αὐτὸ τὸ εἴδος, 6d 10–11), durch die alles Fromme fromm ist (τὰ πάντα τὰ ὃσια ὃσια ἐστιν, 6d 11). Sobald Euthyphron, wie Sokrates zu bedenken gibt, dies Eidos gelernt hat, dann wird es eine dreifache kognitive Funktion ausüben: Er wird über etwas verfügen, worauf er blicken kann (ἀποβλέπων, 6e 4) und das er als Muster gebrauchen kann (παραδείγματι, 4–5), so dass er Handlungen im Licht dieses Musters beurteilen und sagen kann, dass die und die konkrete Handlung fromm ist oder nicht (5–6). Doch durch einen Rückgriff auf dies Muster des Frommen hätte sich Euthyphron den von ihm vernachlässigten Hauptpunkt klar machen können: Es handelt sich dabei eben um das in allen Handlungen selbst mit sich selbe Eidos- oder Ideen-Paradigma des Frommen, auf das der Handelnde blicken kann, wenn er zu beurteilen und zu sagen sucht, ob seine Handlung fromm ist oder nicht. Ein Eidos-Muster mit einer solchen Funktion pflegen wir als Kriterium für die Beurteilung des Frommen bzw. Nicht-Frommen von Handlungen aufzufassen.

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Damit ist der Hauptpunkt markiert, an dessen Berücksichtigung Euthyphron scheitert, weil er blind für die Möglichkeit ist, die hier gelungene formale und funktionale Charakterisierung des Frommen mit der gelungenen materialen Charakterisierung zu verflechten. Denn wenn der formale und funktionale Charakter des Frommen, also sein Eidosoder Ideencharakter darin besteht, dass der Handelnde sich mit Blick auf das intendierte Fromme jeder seiner Handlungen an dem selbst mit sich selbst identischen Muster des Frommen zu orientieren vermag, und wenn der materiale Charakter des Frommen darin besteht, dass jede fromme Handlung durch ihr Fromm-sein etwas zugunsten der Götter Gutes und Nützliches zuwege bringt, dann vermag jeder Handelnde durch Orientierung an dem selbst mit sich selbst identischen Eidos- oder Ideen-Muster des Frommen durch jede seiner frommen Handlungen etwas zugunsten der Götter Gutes und Nützliches zuwege zu bringen. Unter diesen Voraussetzungen ist es wichtig festzuhalten, dass es sich bei dem Typ von Handlungen, die für beide Gesprächspartner des Dialogs paradigmatisch sind, Handlungen sind, wie sie von den Menschen mitten in ihrem alltäglichen praktischen Leben ausgeübt werden. Es sind lediglich kontingente Umstände von Euthyphrons persönlicher Lebenssituation, die dazu führen, dass der Grenzfall eines innerfamiliären Totschlags so suggestiv den Anfang der Auseinandersetzung um das Fromme bestimmt (vgl. 3e 7 ff.). Am Höhepunkt des Dialogs geht es indessen um paradigmatische Alltagspraktiken, durch die Akteure sich um das Gut-sein der von ihnen umsorgten Wesen sorgen, also z. B. um die Zuchtsorge der Pferdezüchter zugunsten der Wohlgeratenheit der von ihnen gezüchteten Pferde (vgl. 13b 9–11), um die Sorge des Hirten zugunsten des Wohlbefindens der Rinder (vgl. 13–14), aber auch um die Sorge des Arztes zugunsten der Gesundheit des Patienten (vgl. d 9–11).

V Nimmt man alle diese Voraussetzungen zusammen, dann bietet Platon in diesem Dialog mit fast zweihundert dialogischen Schritten eine Möglichkeit, Licht in fünf kriterielle Bedingungen für die Beurteilung und die Erkenntnis des Fromm-seins bzw. das Nichtfromm-seins zu bringen: 1.) Die primären Kandidaten für die Eigenschaft, fromm zu sein oder nicht, sind menschliche Handlungen und allenfalls sekundär deren menschliche Akteure; 2.) Handlungen und ihre Akteure als fromm oder als nicht-fromm zu beurteilen, setzt voraus, über ein invariantes kriterielles Muster des Frommen zu verfügen, auf das man in jeder konkreten Situation der Beurteilung einer menschlichen Handlung als fromm oder als nicht-fromm gleichsam blicken kann; 3.) da das Fromm-sein bzw. Nichtfromm-sein menschlicher Handlungen und ihrer Akteure eine bestimmte Beziehung voraussetzt, in der menschliche Akteure im Medium ihrer Handlungen eine angemessene Einstellung zu den Göttern kultivieren können, können sie diese angemessene Einstellung in keiner anderen Weise kultivieren als dadurch, dass sie für die Götter Sorge tragen, indem sie sich um etwas für sie Gutes und Nützliches sorgen, für das die Götter nicht selbst sorgen können; 4.) weil die Götter, wie Platons Timaios nahelegt, allenfalls in der Gestalt eines Demiurgen für die Existenz der natürlichen Welt, aber nicht selbst für irgendetwas

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Gutes und Nützliches innerhalb dieser Welt sorgen können, brauchen sie die Sorge der Menschen um das innerweltlich Gute und Nützliche; 5.) weil in der vorfindlichen natürlichen, vom Demiurgen-Gott geschaffenen Welt die Handlungen der Menschen und deren Werke das einzige Medium bilden, in dem sie sich überhaupt um Gutes und Nützliches sorgen können, bilden sie auch das einzige Medium, in dem sie sich um Gutes und Nützliches zugunsten der Götter sorgen können, und eben daher auch das einzige Medium, in dem sie die Möglichkeit haben, fromm bzw. religös zu sein. Was haben diese kriteriellen Bedingungen zur Beurteilung des Fromm-seins bzw. des Nicht-fromm-seins von Handlungen mit der Aufklärung über die Religion zu zu tun? Es wird zweckmäßig sein, die Antwort auf diese Frage zu vertagen, bis Kants komplementärer Ansatz zur Aufklärung über die Religion zur Sprache gekommen ist. Im Sinne meiner Arbeitsdefinition gibt Platon jedenfalls zu verstehen, dass die Alltagspraxis aller Menschen so lange gestört ist, wie sie zum Frommen der Handlungen ihrer innerweltlichen Alltagspraxis ein defizitäres kognitives Verhältnis haben, weil sie das Fromme ihrer Handlungen ohne Zuhilfenahme des invarianten Eidos-Musters des Frommen nicht richtig beurteilen können und sich deswegen auch nicht in angemessenen Formen um das für die Götter Gute und Nützliche sorgen können.

VI Es fällt auf, dass Platon die Frage nicht ausdrücklich gestellt hat, ob umgekehrt auch die Menschen die Götter brauchen. Doch diese Frage ist in der Philosophie und unter den geschichtlichen Vorzeichen der christlichen Offenbarungsreligion wenigstens einmal ausdrücklich gestellt worden, also in Form der Frage: Brauchen die Menschen den Gott?. Diese Frage ist offensichtlich die Leitfrage der radikalen Aufklärung über die Religion. Es ist allerdings wenig bekannt, dass es Kant gewesen ist, der diese Frage nicht nur gestellt, sondern auch negativ beantwortet hat. Er fragt zunächst in einer der unpublizierten Aufzeichnungen des sog. Opus postumum, »ob Religion ohne Voraussetzung des Daseins Gottes möglich ist«.31 Seine Antwort lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Religion zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert«.32 Damit verwirft Kant selbst die Postulaten-Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft. Auf der Kehrseite dieser Verwerfung geht Kant zu einem religionsphilosophischen Gegenentwurf über: » Gott kann nur in uns gesucht werden«.33 Das erste Ergebnis dieser religionsphilosophischen Suche formuliert Kant so: »Еs ist ein Gott in der Seele des Menschen«.34 Da die Grammatik dieser Formulierung mit Hilfe des Verbs sein immer noch eine seelen-imma31 32 33 34

Kant: Op. post., Ak. XXII, S. 130. Ebd., S. 81. Ebd., S. 150. Ebd., S. 120.

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nentistische Substanz-Ontologie Gottes zu verstehen geben könnte, betont Kant: »Gott ist nicht eine Substanz«.35 Dieser negativ-kritische Gedanke schlägt sich in einem unscheinbaren, vordergründig scheinbar bloß grammatischen Umstand nieder: Man kann den Inhalt der entsprechenden Religion-ohne-Gott in sachgemäßer Form nicht mehr in gegenständlicher, verdinglichender oder substantialer Form mit Hilfe des Namens Gott thematisieren; man kann ihn nur noch in attributiver Form mit Hilfe des Adjektivs göttlich thematisieren. Kant hat den Inhalt dieser Religion daher in diesem Sinne mit drei attributionslogischen Formeln umschrieben, die einander der Sache nach und in Form einer methodischen Stufenfolge ergänzen: 1.) »Der Begriff der Religion ist […] dem Menschen bloß ein Prinzip der Beurteilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote«;36 2.) »Religion ist das Erkenntnis des Menschen von seinen Pflichten als göttlichen Geboten«;37 und 3.) »Das Prinzip der Befolgung aller Pflichten als göttlicher Gebote ist Religion«.38 Durch die Trias Beurteilung-Erkenntnis-Befolgung stellt Kant offensichtlich klar, dass die Eigenschaft, religiös zu sein, in drei Fähigkeiten aufgefächert ist – in zwei kognitive Fähigkeiten und in eine praktische Fähigkeit: in die kognitive Fähigkeit, Gebote, deren Adressat der Mensch als Mensch ist, als göttliche zu beurteilen; in die kognitive Fähigkeit, solche Gebote im Medium von Urteilen als göttliche zu erkennen; und in die praktische Fähigkeit, die als göttlich beurteilten und erkannten Gebote in der Praxis zu befolgen. Diese Fähigkeiten werden, wenn sie angemessen ausgeübt werden, offensichtlich in einer wohlbestimmten methodischen Stufenfolge ausgeübt: Auf der ersten Stufe kommt es darauf an, dass die Menschen ihre Rolle, Adressaten von Geboten zu sein, aus dem passiven Medium ihrer Adressatenschaft ins autonome Medium ihrer Beurteilungen von Geboten mit göttlichem Charakter und von Geboten mit nicht-göttlichem Charakter transponieren; auf der zweiten Stufe kommt es darauf an, dass die Menschen im Medium solcher Urteile zu Erkenntnissen über den göttlichen bzw. nicht-göttlichen Charakter von Geboten gelangen; auf der dritten Stufe schließlich praktizieren bzw. unterlassen sie Handlungsweisen, bei denen es sich um Praktizierungen der von ihnen als göttlich bzw. nichtgöttlich beurteilten und erkannten Gebote handelt.

VII Es fällt auf, dass Kant seine wichtige negative Eröffnungsthese, dass für das Haben von Religion weder der Begriff Gottes noch das Postulat der Existenz Gottes nötig sei, gar nicht mit einer Begründung verbunden hat. Kants Leser ist daher – ähnlich wie in Platons Dialog – darauf angewiesen, den Hauptpunkt selbst herauszufinden, an dem die Begründung dieser These orientiert sein kann oder orientiert sein muss. Dieser Hauptpunkt muss aber offensichtlich gespalten sein. Denn einerseits ist eine Begründung nötig, warum Kant 35 36 37 38

Ebd., S. 108. Kant: Metaphysik der Sitten, Ak. VI, S. 440, Hervorhebungen R.E. Kant: Reflexionen zur Moralphilosophie, Ak. XIX, R 8104, Hervorhebungen R.E. Kant: Op. post., Ak. XXII, S. 111, Hervorhebungen R.E.

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seine Postulaten-Konzeption in kohärenter Form verwerfen kann, und anderseits ist eine Begründung nötig, wie man im Sinne Kants Religion haben kann, ohne einen Begriff von Gott zu haben und ohne die Existenz eines Gottes zu postulieren. Der neuralgische Punkt hat sich, wie zu erwarten ist, in der Postulaten-Konzeption der Kritik der praktischen Vernunft eingenistet. Es geht in dem fraglichen Zusammenhang um die Gründe der Berechtigung für »die Hoffnung [ ], der Glückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen sind, ihrer nicht unwürdig zu sein«.39 Es fällt sogleich auf, dass die Bedingung des Bedacht-seins darauf, der Glückseligkeit nicht unwürdig zu sein, in Verbindung mit einer zweiten Bedingung ein unscheinbares, aber unverkennbar konsequentialistisches Moment in die Argumentation importiert. Diese zweite Bedingung formuliert Kant, wenn er zu bedenken gibt, »daß alle Würdigkeit auf das sittliche Verhalten ankomme«.40 Kant betont zwar ausdrücklich, dass die Verbindung dieser beiden Bedingungen »[…] nicht mit einem Erwerbsmittel derselben [also der Glückseligkeit, R.E.] zu tun [hat]«,41 sondern »lediglich mit der Vernunftbedingung derselben«42, also der Glückseligkeit. Doch die negative Abgrenzung dieser Vernunftbedingung gegen ein Erwerbsmittel kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Vernunftbedingung lediglich kein Mittel zum direkten innerweltlichen Erwerb der Glückseligkeit ist, wohl aber die sogar wichtigste Bedingung zum Erwerb eines wohlproportionierten jenseitigen Anteils an dieser Glückseligkeit. Es ist unter diesen Voraussetzungen aber lediglich eine Angelegenheit einer wie auch immer motivierten Formulierungskunst Kants, nicht in aller Unverblümtheit von einer instrumentellen Vernunftbedingung, also von einem Vernunft-Mittel zum Erwerb eines wohlproportionierten Anteils an der Glückseligkeit zu sprechen. Dadurch braucht sich nichts an der Bedingung zu ändern, dass »alle Würdigkeit (dieser Glückseligkeit) auf das sittliche Verhalten ankomme«. Denn das sittliche Verhalten ist unter diesen Voraussetzungen das Mittel – wenngleich das Vernunftmittel – zum Erwerb dieser Form von Würdigkeit; das von Kant zu bedenken gegebene Bedacht-sein des sittlich handelnden Subjekts auf diese Form von Würdigkeit ist ein unverkennbar konsequentalistisches Motiv; und die wohlproportionierte Teilhabe an dieser Form von Glückseligkeit ist der transzendente Gewinn, auf den der sittlich Handelnde zugunsten seiner unsterblichen Seele hoffen darf. Gewiss handelt es sich bei diesem Entwurf, in der Terminologie der aktuellen Ethik formuliert, um einen außerordentlichen Typ von Konsequentialismus, in der traditionellen Sprache Kants um einen transzendenten Eudaimonismus. Denn es ist die unsterbliche Seele des sittlich handelnden Subjekts, die erst jenseits des irdischen Lebens ihres individuellen Trägers an diesem wohlproportionierten Verdienst ihres Trägers teilhaben kann. Doch es ist diese transzendente eudaimonistische Verdienststruktur, die unverträglich ist mit der strikt nicht-konsequentialistischen Struktur von Kants um den Kategorischen Imperativ zentrierten Moralphilosophie. 39 40 41 42

Kant: Kritk der praktischen Vernunft, Ak. V, S. 234. Ebd. Ebd., S. 235. Ebd., S. 234–35.

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Die konsequentalistische Struktur hält in indirekter Form sogar in einem ganz innerweltlichen Sinne Einzug in Kants Postulatenlehre. Denn Kant argumentiert: »Nur dann, wenn Religion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, der Glückseligkeit dereinst in dem Maß teilhaftig zu werden, als wir darauf bedacht gewesen sind, ihrer teilhaftig zu werden«.43 Diese Hoffnung bildet den wichtigsten innerweltlichen Gewinn, den die von Kant hier konzipierte Religion jeder sittlich handelnden Person mit sich bringt. Doch auch dieser sublime innerweltliche, seelische Gewinn ist unverträglich mit Kants nichtkonsequentialistischer Moralphilosophie. Es gibt sogar ein einfaches, genuin Kantisches Mittel, diese teilweise weltimmanente Form des Konsequentialismus und teilweise welttranszendente Form dieses Eudaimonismus zu prüfen. Man kann diesen beiden miteinander verflochtenen Formen der Ethik die Form hypothetischer Imperative, also, wie Kant sie ja auch erläutert, von technischen oder von Klugheits-Imperativen geben: 1. Wenn Du Deiner unsterblichen Seele zu einem möglichst großen Anteil an der Glückseligkeit verhelfen willst, dann handle so durchgängig wie möglich in sittlich untadeligen Formen! 2. Wenn Du eine möglichst große berechtigte Hoffnung auf einen möglichst großen Anteil Deiner Seele an der Glückseligkeit hegen willst, dann handle so durchgängig wie möglich in sittlich untadeligen Formen! Doch trotz der Unverträglichkeit zwischen der die moralische Urteilskraft des Menschen erhellenden nicht-konsequentialistischen Ethik des kategorischen Moral-Imperativs44 und dem diese moralische Urteilskraft übersteigenden, also transzendenten (konsequentialistischen) Eudaimonismus der Postulaten-Konzeption hat Kant selbst einen systematischen Wink gegeben, wie sich diese Unverträglichkeit relativieren lässt: Er hat diese Konzeption nicht im doktrinalen Teil der Kritik der praktischen Vernunft, in deren Analytik verortet, sondern in deren Dialektik. Hier zeigt Kant, wie es dem Menschen gelingen kann, seine affektive Abhängigkeit von »Neigungen und Naturbedürfnis«45 nach Glückseligkeit bei der Wahl seiner Maximen mit seiner kognitiven »Unabhängigkeit von Neigungen«46 bei der Beurteilung der von ihm approbierten Maximen in Einklang zu bringen: Er muss und kann aus vernünftigen Gründen die Hoffnung aufgeben, den Grad seiner Würdigkeit, glückselig zu sein, aus eigener Kraft beurteilen und einsehen zu können, und kann dafür die Hoffnung fassen, dass dies Urteil nach seinem Tod von einem allwissenden, weisen und gerechten Gott an seiner unsterblichen Seele vollzogen wird.

Ebd., S. 234, Hervorhebung R.E. Zur Form des Verfahrens der moralischen Urteilskraft vgl. vom Verf.: »Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren«, in: Systematische Ethik mit Kant. Festschrift für Gerold Prauss zum 65. Geburtstag (Hg. H.-U. Baumgartner/C. Held), Freiburg 2001, S. 82–123. 45 Kant: KpV, S. 194. 46 Ebd., S. 212, Kants Hervorhebungen. 43 44

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VIII Wenn man zu bedenken gibt, dass es nur die Einsicht in die Unverträglichkeiten seiner Postulaten-Konzeption mit seiner nicht-konsequentialistischen Ethik gewesen sein kann, die Kant dahin gebracht haben, jede deistisch und jede theistisch begründete Religionskonzeption zu verwerfen, dann ist man verpflichtet, ebenso zu erwägen, wie eine nichtdeistische und nicht-theistische Religionskonzeption Kants begründet sein kann, begründet sein muss oder begründet ist. Denn sie hat Kant ja offensichtlich im Auge, wenn er behauptet: »Religion zu haben wird nicht der Begriff von Gott und noch weniger das Postulat Es ist ein Gott gefordert«.47 Einen ersten Wink in die Richtung der neuen von ihm erwogenen Auffassung gibt Kant, wenn er die innerweltlichen praktischen Möglichkeiten des Menschen zu bedenken gibt, indem er ihn als »ein rechtliches und somit glückliches Mitglied des gemeinen Wesens während dem Leben«48 ins Auge fasst. Wenn Kant von der Rechtlichkeit eines Mitglieds des gemeinen Wesens spricht, dann rekurriert er auf »das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht […] erkennen könne«.49 Dies Kriterium hat unter dem Titel Allgemeines Prinzip des Rechts in Kants Metaphysik der Sitten die Form: »Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann«.50 Im Rahmen des hier behandelten Themas kommt es allerdings nicht auf die Frage der Tauglichkeit dieses allgemeinen Prinzips an, sondern ausschließlich darauf, dass es im authentischen Wortlaut Kants die kognitive Funktion eines Kriteriums hat – also dieselbe Funktion, die in Platons Euthyphron das invariante Eidos-Paradigma des Frommen hat. Damit gibt Kant unmissverständlich zu verstehen, dass er diesem allgemeinen Rechtsprinzip in einem präzisierbaren Sinne sogar eine emphatische kognitive Funktion zutraut – eben eine Aufklärungsfunktion. Dies Emphatische bezieht diese kognitive Funktion offensichtlich aus ihrer praktischen Tragweite. Denn falls das Kriterium tauglich ist, dann klärt es jeden seiner Benutzer darüber auf, wie er erkennen kann, ob eine von ihm intendierte Handlungsweise oder eine von ihm gehegte Handlungs-Maxime in rechtlicher Hinsicht so beschaffen ist oder nicht, dass ›die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann‹. Und je nach dem, wie die Beurteilung im Licht dieses Kriteriums ausfällt, verfügt er über die rechtliche Erkenntnis, die ihn legitimiert, die intendierte Handlung zu realisieren, oder die ihn verpflichtet, sie im Respekt für jedermanns Freiheit zu unterlassen. Wie schmal der Grat ist, auf dem sich Kant hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu den von ihm überwundenen deistischen und theistischen Konzeptionen aufhält, ist unübersehbar. Denn nach wie vor macht er in Publikationen gleichwohl Anleihen bei der theo47 48 49 50

Vgl. oben S. 1026. Kant: Op. post., S. 426. Kant: MS, S. 230. Ebd.

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logischen bzw. religiösen Sprache, um die außerordentliche Bedeutsamkeit sowohl des Rechtskriteriums wie der strikten Innerweltlichkeit von dessen praktischer Tragweite zu betonen – z. B. in der Schrift Zum ewigen Frieden: »[…] das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen […] dies[er] Augapfel Gottes […]«.51 Die beiden springenden Punkte dieser Erläuterung können jetzt sofort klar sein: Zum einen ist das Recht der Menschen eine strikt innerweltliche Angelegenheit, weil den Menschen schon auf Erden, wenn Kants Rechtsphilosophie tragfähig ist, ein Rechtskriterium zur Verfügung steht, während das Kriterium für die angemessene Proportion der Glückseligkeit in der für sie unverfügbaren Obhut des von ihnen geglaubten allwissenden, weisen und gerechten Gottes liegt; zum anderen müssen die Menschen das Recht, das sie mit Hilfe eines Rechtskriteriums erkennen können, durch ihre konkrete innerweltliche Praxis um der Bewahrung von jedermanns Freiheit willen so hüten als wäre es so kostbar und einzigartig wie der Augapfel Gottes und daher das Heiligste, was Gott auf Erden hat. Kant hat den schmalen Grat, auf dem er sich mit diesen Anleihen bei der theologischen Sprache bewegt, selbst kommentiert: »[…] in practischer Rücksicht ist es völlig einerley ob man die Göttlichkeit des Gebots in der menschlichen Vernunft oder auch einer solchen Person [Gottes, R.E.] zum Grunde legt weil der Unterschied mehr eine Phraseologie als eine das Erkenntnis erweiternde Lehre ist«.52 Gleichwohl ist Kant auch in diesem Punkt auf dem Weg, der attributionslogischen Phraseologie aus sachlichen Gründen den Vorzug zu geben. Denn gerade mit Blick auf die Möglichkeit des Menschen, dem Kriterium für den innerweltlichen ›Augapfel Gottes‹ in Form des Rechts auf die Spur zu kommen, spricht er in der sog. Gemeinspruch-Schrift davon, dass dies »[…] ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen [eröffnet]«53, also eine Tiefe göttlicher kognitiver Anlagen zur Erkenntnis des Rechts und ebenso göttlicher praktischer Anlagen zur Praktizierung von als rechtlich erkannten Handlungsweisen und zur Unterlassung von als unrechtlich erkannten Handlungsweisen. In seiner letzten Schrift, dem Streit der Fakultäten, charakterisiert er diese beiden Anlagen zusammenfassend als »eine Anlage und Vermögen der menschlichen Natur zum Besseren«54 und formuliert auf dieser Linie bekanntlich sogar ein rechtliches Kriterium dieses Fortschritts zum Besseren, der dem ganzen Menschengeschlecht möglich ist – nämlich durch »Vermehrung der Produkte der Legalität«,55 also der Produkte der Rechtlichkeit, also der rechtsgemäßen Handlungsweisen. Doch der springende Punkt dieses Kriteriums ergibt sich nicht ausschließlich aus seinem Inhalt, sondern vor allem auch aus seiner Funktion für die Aufklärung über die Religion. Denn der innerweltliche Fortschritt des Menschengeschlechts-im-Ganzen durch Vermehrung der Produkte der Rechtlichkeit tritt an die Stelle des jenseitigen Weges der unsterblichen individuellen Seele zur wohlproportionierten Teilhabe an der Glückseligkeit; und an die Stelle der Hoffnung des individuellen Menschen auf diese jenseitige Form der Glückseligkeit Kant: »Zum ewigen Frieden«, Ak. VIII, S. 352, Kants Hervorhebung Kant: Op. post., S. 28, Hervorhebung R.E. 53 Kant: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, Ak. VIII, S. 287, Hervorhebung R. E. 54 Kant: Der Streit der Fakultäten, Ak. VII, S. 88. 55 Ebd., S. 91. 51 52

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tritt der »Enthusiasmus der Rechtsbehauptung für das menschliche Geschlecht«.56 Mit diesem Schritt seiner Rechts-Philosophie und der mit ihr strikt verbundenen atheistischen Konzeption des Religiösen erweist sich Kant als der radikal die Erbschaften der Tradition kritisch bedenkende Denker.57 Doch gleichzeitig erweist er sich im Medium seiner publizierten Schriften als ein Denker, der die religionspolitische Situation seiner Zeit klug genug zu wägen weiss, um die massgeblichen religionspolitischen Instanzen dieser Zeit nicht durch bilderstürmerische Rhetorik zu Massnahmen gegen ihn zu provozieren, die ihm den Zugang zu jenem Publikum verwehrt hätten, mit Blick auf das er zu bedenken gibt, dass »es sich selbst aufkläre, ist eher möglich«, als dass es hinreichend viele individuelle Menschen geben würde, »denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung des Geistes sich aus ihrer Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun«.58

IX Was hat das alles mit Aufklärung und vor allem mit Aufklärung über die Religion zu tun – und nicht zuletzt: Was haben Platons Religionsphilosophie in seinem Dialog Euthyphron und Kants Rechtsphilosophie des Fortschritts des Menschengeschlechts mit Aufklärung zu tun? Kant selbst schreibt der Rechtsphilosophie, die in diesem rechtlichen Kriterium des innerweltlichen Fortschritts ihren Höhepunkt findet, die Funktion der »Volksaufklärung«59 zu. Als die genuinen Träger dieser Volksaufklärung apostrophiert Kant »die Philosophen«.60 Damit ist selbstverständlich weder gemeint, dass sich die Philosophen selbst an eine Kollektivinstanz namens Volk mit dem Ziel wenden sollten, es aufzuklären, noch ist gemeint, dass Aufklärung nur durch die Philosophen möglich sei. Denn die Schriften der Philosophen bilden nach Kants Auffassung ein Medium, von dem »das Volk gar keine

Ebd., S. 86**. Anderer Auffassung ist Winfried Schröder: »Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective«, in: Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, S. 44–51: »Certainly, Kant was not a radical thinker«, S. 46; vgl. hierzu auch unten S. 17, Anm. 58. 58 Kant: Aufklärung, S. 36. Den Unterschied zwischen radikalem Denken und moderatem öffentlichem Sprechen in einer gefährlichen religionspolitischen Situation vernachlässigt Schröder: Philosophical Perspective, wenn er die Radikalität von Kants Denken durch die Tatsache gestört sieht, dass Kant in seinen publizierten Schriften »notoriously retained substantial elements of the philosophical and even the religious tradition«, ebd. Schröder vernachlässigt also die Tatsache, dass Kant noch zu einer Generation gehört, mit Blick auf die es angemessen war, das Buch von Leo Strauss: Persecution and the Art of Writing, Glencoe 11952, zu verfassen. Angesichts seiner persönlichen Erfahrung mit dem königlichen Reskript von 1793 ist Kant mit Blick auf die wirklich radikalen religionsphilosophischen Fragen nur allzu offensichtlich gut beraten, die Kunst zu üben, nicht-öffentliches radikales Denken und öffentliches moderates Schreiben in Einklang zu bringen. Daher sind die von Schröder als »substantial elements of […] the religious tradition« eingestuften Wendungen Kants für Kant selbst, wie sich gezeigt hat, eine Angelegenheit ›mehr einer Phraseologie als einer das Erkenntnis erweiternden Lehre‹, vgl. oben S. 15 f. 59 Kant: Streit, S. 89, Kants Hervorhebung. 60 Ebd. 56 57

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Notiz nimmt«.61 Gemeint ist damit, dass es die Philosophen sind, die 1.) von Hause und mit den Mitteln der Reflexion und der Analyse die Bedingungen zu klären suchen, von denen die Aufklärung vor allem des Volks abhängt, und die 2.) Wege und Resultate ihrer Bemühungen um diese Klärung im Medium öffentlicher Schriften mit der Zuversicht zugänglich machen, dass sich unter seinen Lesern auch Inhaber hinreichend wichtiger öffentlicher Ämter finden, deren Bemühungen um Aufklärung von einer gelungenen Auseinandersetzung mit dem von ihnen Gedachten begünstigt werden kann. Unter den realgeschichtlichen Bedingungen eines christlich geprägten Gottesglaubens, eines ebenso geprägten Glaubens an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele und an eine jenseitige ebenso gnädige wie weise Gerechtigkeit mutet Kant den wie auch immer unmittelbaren und mittelbaren Adressaten dieser Form von Aufklärung nur allzu offensichtlich dasselbe zu, was er in einem berühmten anderen thematischen Zusammenhang als eine »Revolution ihrer Denkart«62 charakterisiert – also eine in kognitiver Hinsicht radikale Aufklärung. Was andererseits Platon dem Namengeber seines Dialogs Euthyphron und dessen Lesern durch den Mund des Sokrates unter den realgeschichtlichen Bedingungen einer pantheistischen Religion zumutet, charakterisiert er an einer nicht weniger berühmten Stelle in der Bildersprache des Höhlengleichnisses der Politeia als eine Umkehrung der ganzen Seele.63 Der Platon-kundige Hegel charakterisiert eine solche Struktur in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes bekanntlich als eine »Umkehrung des Bewußtseins«.64 In beiden Fällen handelt es sich um radikale kognitive Formen der Aufklärung. Man kann sich den radikalen Charakter dieser Formen von Aufklärung klarmachen, wenn man ihn mit der oben vorgeschlagenen Arbeitsdefinition des Aufklärungsbegriffs kontrastiert. Denn bei dieser radikalen Form handelt es sich gerade nicht darum, dass es einer individuellen Person gelingt, verbesserungsbedürftige und verbesserungsfähige Bedingungen ihrer Alltagspraxis richtig zu beurteilen und sowohl technische wie praktische Formen des Handelns richtig zu beurteilen, die für eine Überwindung dieser Bedingungen zugunsten gedeihlicher Praxisbedingungen notwendig oder sogar hinreichend wären. In beiden Fällen handelt es sich vielmehr darum, dass alle Adressaten der Bemühungen um eine solche Aufklärung überhaupt erst einmal lernen müssen, für sie gänzlich neue praktische Relevanzkriterien zu durchschauen und zu gebrauchen. Denn diese Relevanzkriterien eröffnen ihnen überhaupt zum ersten Mal die kognitive Möglichkeit, die wichtigsten Strukturen ihrer Alltagspraxis zu entdecken und zu durchschauen – Strukturen, deren Vernachlässigung ihre Alltagspraxis so tiefgreifend stört, dass sie mehr oder weniger langfristig zum Scheitern verurteilt ist, aber die gleichzeitig dieselben Strukturen sind, deren Respektierung und Praktizierung ihrer Alltagspraxis das nötige gedeihliche Format verleiht. Ohne diese strukturellen Entdeckungen könnten sie in keinem konkreten Einzelfall richtig beurteilen, wie es ihnen möglich ist, sich praktisch um das für die 61 62 63 64

Ebd. Kant: KrV, B XIII. Vgl. oben S. 1022. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), Hamburg 1952, S. 74.

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Götter Gute und Nützliche zu sorgen bzw. um der Freiheit von jedermann willen die Sorge in werktätiger Form zu praktizieren, durch die der innerweltliche »Augapfel Gottes«, das Recht, respektiert wird. Weder Platon noch Kant ist durch seine Theorie genötigt, zugunsten der Verwerfung oder gar zur Abschaffung der prägenden Religion seiner Zeit zu argumentieren. Wohl aber sind beide zu der Einschätzung berechtigt, dass die Menschen so lange noch nicht zureichend aufgeklärt sind bzw. dass ihr Geist von der Sonne der Idee des Guten so lange noch nicht zureichend erhellt ist, wie sie über dem Glauben an die Inhalte ihrer positiven Religionen diese beiden Formen der Sorge um jene Form ihrer aufgeklärten praktischen Urteilskraft vernachlässigen, die ihrer innerweltlichen Praxis in jeder neuen Situation immer wieder von neuem die wichtigste Orientierung verleiht.

Literatur Blom, Philipp: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung, München 2011. Darnton, Robert: George Washingtons falsche Zähne oder noch einmal: Was ist Aufklärung? (amerik. 11997), München 1997. Enskat, Rainer: »Autonomie und Humanität. Wie kategorische Imperative die Urteilskraft orientieren«, in: Systematische Ethik mit Kant. Festschrift für Gerold Prauss zum 65. Geburtstag (Hg. H.-U. Baumgartner/C. Held), Freiburg 2001, S. 82–123. – Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Velbrück 2008. – »Tradition und Innovation in Lebenswelt und Wissenschaft – eine Zerreißprobe für die Urteilskraft?«, in: C. F. Gethmann (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft (Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Philosophie Lebenswelt und Wissenschaft an der Universität-Gesamthochschule Duisburg- Essen, September 2008), Hamburg 2011, S. 940–69. – »Aufklärung – ›Erwirb sie, um sie zu besitzen!‹ oder Literarische Spielwiese? Bemerkungen zu Methodenproblemen der Aufklärungsforschung anläßlich von Philipp Bloms Untersuchungen zum vergessenen Erbe der Aufklärung«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 23, Jg. 2011, S. 307– 28. Gross, Rudolf: Medizinische Diagnostik. Grundlagen und Praxis, Heidelberg 1969. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (11807), Hamburg 1952. Israel, Jonathan I.: Radical Enlightenment, Bde. I–III, Oxford 2001–2011. – und Martin Mulsow (Hg.): Radikalaufklärung, Frankfurt/M. 2014. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), Hamburg 1956. – Kritik der praktischen Vernunft (1787), in: Kant’s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe =Ak.), Bd. V, S. 1–163. – Metaphysik der Sitten, Ak. VII, S. 203–549. – Der Streit der Fakultäten, in: Ak. VII, S. 1–116. – »Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?«, in: Ak. VIII, S. 33–42.

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– Über den Gemeinspruch: Das mag in der Thorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Ak. VII, S. 273–314. – Zum ewigen Frieden, in: Ak. VIII, S. 341–386. Mendelssohn, Moses: »Über die Frage: was heißt aufklären?«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Stuttgart, Bad Canstatt 1971 ff., Bd. 6, 1, S. 113–19. Mulsow, Martin: »Radikalaufklärung, moderate Aufklärung und die Dynamik der Moderne«, in: Radikalaufklärung, S. 203–233. Patzig, Günther: »Die Begründbarkeit moralischer Forderungen« (11966), wieder abgedr. in: ders., Gesammelte Schriften I. Grundlagen der Ethik, Göttingen 1994, S. 44–71. Platon: Euthyphron, in: ders.: Euthyphron. Gorgias. Sämtliche Werke II. Griechisch und Deutsch, Frankfurt/M. 1991. − Politeia, in: ders., Politeia. Sämtliche Werke V. Griechisch-Deutsch, Frankfurt/M. 1991. Schröder, Winfried: »Radical Enlightenment from a Philosophical Perspective«, in: Concepts of (Radical) Enlightenment. Jonathan Israel in Discussion, Halle 2014, S. 44–51. Strauss, Leo: »Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch–politischem Traktat« (11930), wieder abgedr. in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 1 (GS 1). Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften, hg. v. H. Meier, Stuttgart, Weimar 1996, S. 1–330. − »Besprechung von Julius Ebbinghaus, Über die Fortschritte der Metaphysik« (11931), wieder abgedr. in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 2 (GS 2): Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften (Hg. H. Meier), Stuttgart, Weimar 1997, S. 437–39. − Die geistige Lage der Gegenwart (11932), wieder abgedr. in: ders.: GS 2, S. 441–456. − Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer, Berlin (11935), wieder abgedr. in: ders.: GS 2, S. 4–123.− Persecution and the Art of Writing, Glencoe 1 1952. Weidemann, Hermann: »Platon über die Dialektik von Freundschaft und Liebe (Lysis 212a 8–213d5)«, in: Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 60. Geburtstag, hg. v. R. Enskat, Berlin, New York 1998, S. 277–99. Zöllner, Johann Friedrich: »Ist es ratsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sancieren?« (11783), wieder abgedr. in: N. Hinske Hg.): Was ist Aufklärung?, Darmstadt 4 1990, S. 107–116.

KOLLO QUIUM 26 Diskurse der Moderne/n aus interkulturell-transkultureller Perspektive Kolloquiumsleitung: Georg Stenger

Georg Stenger Einleitung Toru Tani »Zwischen« und Begegnung – im Zusammenhang mit Megumi SAKABE’s Interpretation der Moderne Hans Schelkshorn Mexikanische Revolution und Erster Weltkrieg Lateinamerikanische und europäische Philosophie auf dem Weg zu einem globalen Diskurs über die Moderne Azelarabe Lahkim Bennani Das Private Recht als Erbe der Moderne und die Herausforderung des Rechtspluralismus im Licht der islamischen Rechtskultur

Diskurse der Moderne/n aus interkulturell-transkultureller Perspektive Einleitung Georg Stenger (Wien)

Die gegenwärtigen Diskurslagen im Rahmen der interkulturellen und transkulturellen Philosophie sehen sich an einem Punkt angelangt, an dem es neben der Berücksichtigung gewiss nie einzuholender kultur- und gesellschaftsspezifischer Kontexte vor allem um die Schärfung grundbegrifflicher und systematisch orientierter Klärungsarbeit geht. Von besonderem Interesse hierbei ist, dass seitens der sog. »außereuropäischen« und »außerwestlichen« Konzepte zum einen die konstruktive Rücksprache speziell mit den philosophischen Klassikern – v. a. mit jenen deutschsprachiger Originaltexte – gesucht wird – dies war stets schon so, verstärkt sich aber inzwischen signifikant –, zum anderen wird zwischen den westlichen und außerwestlichen Denkweisen zunehmend eine wechselseitige Sensibilisierung und Aufmerksamkeit ersichtlich, welche die jeweiligen Überzeugungen und Geltungsansprüche auf Augenhöhe diskutierfähig machen möchte. Einstige Debatten um Universalismus und/oder Partikularismus mit all ihren Spielvarianten von Relativismus, Skeptizismus u. a. erscheinen zunehmend obsolet zu werden, zumal deren Denkformate sich zumeist im Entweder-Oder allgemein gültiger, universaler, formaler wie metaphilosophischer und kulturkontextueller, empiriegesättigter und erfahrungskontingenter Zuschreibungen verschleißen. Das für diesen Kongress gewählte Begriffsscharnier »Geschichte – Gesellschaft – Geltung« eignet sich daher gut, die gegenwärtige Debattenlage inter- wie transkultureller Interessensfelder ins Licht zu rücken, zumal diese neben ihrer wissenschaftlichen und philosophischen Relevanz zugleich von größter gesellschafts- und bildungspolitischer Bedeutung ist. Vor dem Hintergrund dieser Problemskizze stellt sich das Kolloquium die Frage, ob und inwieweit jener mit der Aufklärung und Moderne einhergehende Denkrahmen westlicher Prägung auch für außerwestliche Denkformen zutrifft, ob er gar ungebrochen übertragbar ist, oder ob eine solche Übertragung nicht essentielle Reibungsverluste nach sich zieht, welche die althergebrachten Stereotypen zwischen »dem Abendland«, dem Europa«, »dem Westen« und den »außereuropäischen«, »außerwestlichen« Denk- und Kulturformen nur aufrecht erhalten – schon die Formulierung »außer« verrät nicht nur performativ die vorgenommene Grenzziehung – und damit an dem bekannten Gefälle zwischen diesen weiterarbeiten? Auf der anderen Seite wäre zu fragen, ob einem solchen Gefälle nicht schon dadurch begegnet werden könnte, dass man sich der Herausforderung eines wechselseitigen und daher erneut zu führenden Selbstreflexivwerdens zwischen den philosophischen Denkkonzepten »westlicher« und »außerwestlicher« Provenienz stellt? Und in der Tat, die allenthalben zu konstatierende Vielfalt und zugleich Pluralität von Moderne-Konzeptionen, wie sie v. a. in Ostasien, Lateinamerika und dem arabisch-islamischen Raum prominent zu Tage treten, erfordern in systematischer Hinsicht sowohl

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Kolloquium 26 · Georg Stenger

Relektüren als auch Revisionen. Signifikant wird dies etwa im Hinblick auf die jeweiligen Geschichtskonzeptionen und den damit verbundenen »Philosophiegeschichtsschreibungen«. Allein die »Geschichtsmodelle«, die nicht nur in den Schulbüchern unkritisch lanciert werden, beanspruchen eine Deutungshoheit, deren gewiss vielfältige Implikaturen nach wie vor auf einem spezifisch westlich orientierten »Epochenverständnis« fußen, auch und gerade dann, wenn man sich den außerwestlichen Geschichtsverständnissen widmet. Gewiss, es gibt mittlerweile Gegensteuerungen, wie etwa jene von Jürgen Osterhammels Ansatz einer »Globalgeschichtsschreibung«, oder Franz Martin Wimmers interkulturell angelegte »Philosophiegeschichtsschreibung«, aber sie sind vergleichsweise noch eher vereinzelt und durchaus streitbar.1 Worin könnte demnach der philosophische Gewinn bestehen, wenn sich anhand des Versuchs einer »Pluralisierung von Modernen« die vielerorts gesuchte und erwünschte »Weltgesellschaft«, mithin auch Weltbürgergesellschaft so abzeichnete, dass sie Differenzen, Asymmetrien, Verstrickungen, Hybridbildungen, Fremdheitserfahrungen und dergleichen mehr nicht länger als zu überwindende behandelt, sondern als positive, sprich kulturell wie gesellschaftlich gestaltungsrelevante, sachlich wie reflexiv einholbare Theoreme begrüßt? Geschichte und Gesellschaft bedingen sich gegenseitig, und stellte man »Geltung« und »Genesis« nicht länger als (sich einander ausschließende) Gegenbegriffe gegenüber – schon im europäischen Denkraum finden wir genug Beispiele sich offenkundig widerstreitender Geschichtskonzeptionen im jeweiligen Anschluss an Kant, Hegel, Dilthey, Nietzsche, Cassirer u. a., die ja alle gute Gründe, sprich Geltungsinstanzen ihrer Ansätze vorlegen können –, würden hieraus dann nicht, so wäre zu fragen, auch veritable, weil wechselseitig instruierte Öffnungen interkultureller, mithin globaler Bewusstheit möglich sein? Nun, schon der durch Jürgen Habermas zum Schlagwort avancierte »philosophische Diskurs der Moderne«2 umschrieb sich als »unvollendetes Projekt«, dessen normative Signatur via »kommunikativem Handeln« gleichwohl auf eine unhintergehbare Begründungs- und Rechtfertigungsinstanz setzt, die sich wiederum in »zwei Traditionen« aufspalten sollte.3 Zum einen – und darauf baut Habermas’ Position auf – erweist sich die Moderne in Absetzung zur »Tradition« der »alten Welt« als »zur Zukunft hin offen«,4 Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998; Jürgen Osterhammel: Liberalismus als kulturelle Revolution. Die widersprüchliche Weltwirkung einer europäischen Idee, Stuttgart 2004; Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; Franz M. Wimmer: »Philosophiehistorie in interkultureller Orientierung«, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999), S. 8–20; Hamid R. Yousefi/Heinz Kimmerle (Hg.): Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung in einer veränderten Welt. Theorien – Probleme – Perspektiven, Nordhausen 2011; vgl. auch Ninian Smart: Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit, Darmstadt 2002. 2 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 13–21; zitiert in: Jürgen Habermas: »Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen«, in ders. (Hg.): Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980–2001, Frankfurt/M. 2003, S. 175–203, hier S. 176. 3 Habermas: Konzeptionen der Moderne, S. 176; siehe auch Jürgen Habermas: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Philosophische Texte, Studienausgabe in fünf Bänden, Band 1, Frankfurt/M. 2009; Sang-jin Han (Hg.): Habermas and the Korean Debate, Seoul 1998. 4 Habermas: Konzeptionen der Moderne, S. 176. 1

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worin die selbstreflexiv gewordene Programmatik philosophischer Selbstverständigung, insbesondere im Ausgang von Hegel, die Vernunft als »einzige Autorität«5 ausweist. »Subjektivität«, jener mit Hegel gewonnene Grundlagenbegriff – weil damit auch die »Objektivationen«, sprich die »kulturellen Sphären von Wissenschaft und Forschung, Moral und Recht, Kunst und Kunstkritik als ›Verkörperungen‹ des Prinzips der Subjektivität zu begreifen«6 waren – erwies sich fürderhin als »fundierender, in gewisser Weise [als] ein fundamentalistischer Begriff«, der gleichwohl »die Art von Evidenz und Gewißheit [bereit stellte, G.S.], auf deren Grundlage alles übrige bezweifelt und kritisiert werden kann. So ist die Moderne stolz auf ihren kritischen Geist, der nichts als selbstverständlich akzeptiert, es sei denn im Lichte guter Gründe. ›Subjektivität‹ hat einen zugleich universalistischen und individualistischen Sinn. Jede Person verdient den gleichen Respekt aller.«7 Gegen die »fundamentalistische« Tendenz der Subjektivität wiederum setzt Habermas sein intersubjektiv grundiertes kommunikatives Handlungskonzept, welches ihm »die Philosophie als auf die Gesellschaftstheorie angewiesen«8 erscheinen lässt. Zum anderen entwickelte sich nach Habermas, mit Rückgriffen auf Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein u. a. ein post-modernes Denken, welches – ich kann das hier nur andeuten – v. a. mit Foucaults genealogischem, Machtpraktiken und Disziplinierungskonstellationen aufzeigendem Denken zwar die vernunftkritische Seite bedient, allerdings auf Kosten normativer Geltung. Ich erwähne diesen Zusammenhang – gewissermaßen eines der Spannungselemente zwischen Geltung und Genesis – deshalb, weil dadurch ersichtlich wird, dass und wie »die Moderne« in der Tat ein »offenes Projekt« ist, das sich nicht nur verzweigt und dimensioniert, sondern auch pluralisiert. Albrecht Wellmers »Unversöhnliche Moderne«9, Charles Taylors, in einem sehr instruktiven, von Michael Kühnlein und Matthias Lutz-Bachmann herausgegebenen Band auf eine »unerfüllte Moderne« hin angefragte Moderne-Konzeption10, Ulrich Becks und Anthony Giddens gewiss unterschiedlich angesetzte »Zweite Moderne«, bis zu Diskursen der Moderne angesichts der Religion resp. religiöser Erfahrungen, die nicht allein als Quellen fungieren, sondern als veritable Anfragen an die »Moderne«-Debatten aufgenommen sein wollen11 – all dies betont das Fortschreitende des Projekts der Moderne. »Fortschritt« kann in der Tat als eine, vielleicht die ModerneKategorie, wie dies Rainer Forst begründungstheoretisch zu zeigen versucht hat,12 gesehen werden, wobei ich eher vom »Offenen« des Projekts der Moderne zu sprechen geneigt bin. Ebd., S. 177. Ebd., S. 179. 7 Ebd., S. 178. 8 Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution, Neuwied 1967; zitiert in: Habermas: Konzeptionen der Moderne, S. 182. 9 Albrecht Wellmer: Endspiele: die unversöhnliche Moderne – Essays und Vorträge, Frankfurt/M. 1993. 10 Vgl. Michael Kühnlein/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011. 11 Prominent hierzu: Charles Taylor, Jürgen Habermas, Hans Joas, auch José Casanova, der allerdings das Kind mit dem Bade auszuschütten droht, u. a. mehr. 12 Vgl. Rainer Forst: »Zum Begriff des Fortschritts«, in: Hans Joas (Hg.): Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne, Frankfurt/M. 2012, S. 41–52. 5 6

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Was bei all dem indes wiederum ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass die Genese des Begriffs »Moderne«, verbunden mit dessen Verständigungspotential, zugleich einen Geltungsanspruch formuliert, der durchwegs westlichen Zuschnitts ist, der sich nun aber seitens »nicht-westlicher« Konzeptionen vermehrt in Frage gestellt sieht. Ohne hier jetzt selbst eine andere, diesbezügliche Genese nachzeichnen zu können – sie würde sich je nach Kontinent, Kulturverständnis usw. anders darstellen, was im Übrigen bei allen drei Beiträgen dieses Kolloquiums der Fall ist –, so wird doch wenigstens eines deutlich: Auch die »anderen« Kultur- und Denkwelten haben eine – ihre – Moderne entwickelt, und dies gerade auch in konstruktiver Aufnahme und kritischer Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne. Und, sie haben daraus ein gesteigertes Verständnis ihrer selbst gewonnen, ohne sich auch schon als gleichsam naturhaft gegebenes, sich selbst eher unbemerktes Enkulturationssubjekt, so wenig wie als über Erziehung und Bildung sich generierendes Akkulturationssubjekt verstehen zu müssen. Paradigmatisch seien hierfür drei Namen genannt: Joseph Prabhu13 und Daya Krishna14, die im beständigen Wechselgespräch mit westlicher Philosophie implizite »Moderne«-Konstellationen im indischen Denken herausarbeiten. Ryōsuke Ōhashi, der in seinen Forschungen von Anfang an den für das japanische Denken konstitutiven »Moderne«-Aspekt herausgestellt hat.15 Die mit Bedacht gewählte Formulierung »Diskurse der Moderne resp. der Modernen« fragt daher an, ob und inwieweit das In-den-Plural-setzen beider Begriffe für eine interkulturell motivierte Denkweise eröffnend sein kann – wofür ich plädieren würde –, oder ob dies, gemäß allgemeiner, synthetisch operierender Denkformen nur möglich ist, weil im Rücken des Plurals der Singular schon immer Platz genommen hat? Dass die Perspektive dieses Vorhabens mit dem mehr unbestimmten denn bestimmten Doppel »interkulturell-transkulturell« benannt ist, ist auch der oben angedeuteten Öffnung von der Moderne zu den Modernen geschuldet. Gewiss, der Diskurs zwischen »Inter-« und »Transkultureller Philosophie« erforderte selbst eine eigene Diskussion, die ich trotz ihrer Virulenz hier nicht führen kann, wenngleich die Frage nach Moderne und/oder Modernen auch hier zu Buche schlägt. Vielleicht nur soviel dazu: Manche, die sich für den Topos »interkulturell« entscheiden, meinen vielleicht eher »transkulturell«, was natürlich umgekehrt ebenso der Fall ist.16 Für unsere Frage hier würde ich daher eine gewisse Begriffstoleranz vorschlagen.

Vgl. Purushottama Bilimoria/Joseph Prabhu/Renuka Sharma (Hg.): Indian Ethics. Classical Traditions and Contemporary Challenges, Volume 1, Aldershot, Burlington 2007. 14 Vgl. Daya Krishna: Developments in Indian Philosophy from Eighteenth Century Onwards: Classical and Western, History of Science, Philosophy and Culture in Indian Civilisation Volume X Part 1, New Delhi 2002; Nalini Bushan/Jay L. Garfield/Daniel Raveh (Hg.): Contrary Thinking. Selected Essays of Daya Krishna, New York 2011. 15 Vgl. Ryōsuke Ōhashi: Japan im interkulturellen Dialog, München 1999; Ryōsuke Ōhashi: Kire. Das »Schöne« in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, Köln 1994; Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage, Paderborn 2014; s. auch Ryōsuke Ōhashis Beitrag auf diesem Kongress »Ja und Nein zur Frage: Gibt es in der Philosophie ›West‹ und ›Ost‹? Deutsch-Japanische Denkwege im Rück- und Ausblick«. 16 Vgl. Georg Stenger: »Differenz: Unterscheidungen, Differenzierungen, Dimensionen«, in: Monika 13

Diskurse der Moderne/n aus interkulturell-transkultureller Perspektive

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Die drei folgenden Beiträge nehmen sich vor dem Hintergrund unserer Thematik jeweils verschiedener Denkkulturen an, wobei dies anhand konkreter, sehr bestimmter Problemfelder geschieht, was die Fragestellung weit besser fokussieren lässt, als dies neuerliche Großrahmenerzählungen vermöchten. Dass dies methodisch wie systematisch wiederum auf unterschiedliche Weise der Fall ist, hängt nicht nur am jeweiligen Gegenstand, es macht auch Ernst mit der Einsicht, dass Zugangsart und Sachgehalt so miteinander verschränkt sind, dass sie allererst aneinander ersichtlich werden und Erhellung finden. Der Beitrag von Toru Tani setzt sich in phänomenologischer Zugangsweise mit dem für die japanische Philosophie grundlegenden Begriff des »Zwischen« auseinander, was mit Rückgriff auf den 2007 verstorbenen japanischen Philosophen Megumi Sakabe eine wegweisende Interpretation der Moderne in Japan ersichtlich werden lässt. Hans Schelkshorn fragt in einer historisch legierten transzendentalphilosophischen Manier nach Analogien, Unterschieden, womöglich gar potentiellen Differenzen zwischen Mexikanischer Revolution und etwa zur gleichen Zeit stattgefunden habendem, Erstem Weltkrieg, mit dem Fokus eines möglichen globalen Diskurses der bzw. über die Moderne. Azelarabe Lahkim Bennani nimmt sich einer brisanten Thematik an, indem er nach möglichen Verbindungsgliedern zwischen privatem Recht – als einem v. a. Kantischen Erbe der Moderne – und einem Rechtspluralismus mit Fokus auf die Menschenrechtsfrage in der islamischen Rechtskultur fragt. Methodisch bevorzugt er dabei, insbesondere für die rechtsphilosophische Problemstellung, eine hermeneutisch legierte analytische Herangehensweise.

Literatur Bilimoria, Purushottama/Prabhu, Joseph/Sharma, Renuka (Hg.): Indian Ethics. Classical Traditions and Contemporary Challenges, Volume 1, Aldershot, Burlington 2007. Bushan, Nalini/Garfield, Jay L./Raveh, Daniel (Hg.): Contrary Thinking. Selected Essays of Daya Krishna, New York 2011. Forst, Rainer: »Zum Begriff des Fortschritts«, in: Hans Joas (Hg.): Vielfalt der Moderne – Ansichten der Moderne, Frankfurt/M. 2012, S. 41–52. Habermas, Jürgen: »Konzeptionen der Moderne. Ein Rückblick auf zwei Traditionen«, in ders. (Hg.): Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980–2001, Frankfurt/M. 2003, S. 175–203. – Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Philosophische Texte, Studienausgabe in fünf Bänden, Band 1, Frankfurt/M. 2009. Han, Sang-jin (Hg.): Habermas and the Korean Debate, Seoul 1998. Krishna, Daya: Developments in Indian Philosophy from Eighteenth Century Onwards: Classical and Western, History of Science, Philosophy and Culture in Indian Civilisation Volume X Part 1, New Delhi 2002.

Kirloskar-Steinbach/Gita Dharampal-Frick/Minou Friele (Hg.): Die Interkulturalitätsdebatte – Leit- und Streitbegriffe / Intercultural Discourse – Key and Contested Concepts, Freiburg im Breisgau 2012, S. 45–55.

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Kühnlein, Michael/Lutz-Bachmann, Matthias (Hg.): Unerfüllte Moderne? Neue Perspektiven auf das Werk von Charles Taylor, Berlin 2011. Ōhashi, Ryōsuke: Japan im interkulturellen Dialog, München 1999. – Kire. Das »Schöne« in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, Köln 1994; Zweite, überarbeitete und ergänzte Auflage, Paderborn 2014. Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. – Liberalismus als kulturelle Revolution. Die widersprüchliche Weltwirkung einer europäischen Idee, Stuttgart 2004. – Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. Smart, Ninian: Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit, Darmstadt 2002. Stenger, Georg: »Differenz: Unterscheidungen, Differenzierungen, Dimensionen«, in: Monika Kirloskar-Steinbach/Gita Dharampal-Frick/Minou Friele (Hg.): Die Interkulturalitätsdebatte – Leit- und Streitbegriffe / Intercultural Discourse – Key and Contested Concepts, Freiburg im Bresgau 2012, S. 45–55. Wellmer, Albrecht: Endspiele: die unversöhnliche Moderne – Essays und Vorträge, Frankfurt/M. 1993. Wimmer, Franz M.: »Philosophiehistorie in interkultureller Orientierung«, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3 (1999), S. 8–20. Yousefi, Hamid R./Kimmerle, Heinz (Hg.): Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung in einer veränderten Welt. Theorien – Probleme – Perspektiven, Nordhausen 2011.

»Zwischen« und Begegnung – im Zusammenhang mit Megumi SAKABE’s Interpretation der Moderne Toru Tani (Kyoto)

I. Einleitung Das Thema dieses Symposiums schließt in sich das Wort »Moderne« ein. Was ist die »Moderne«? Wann ist sie? Und wo ist sie? Wenn man fragt, »was« die Moderne ist, könnte man voraussetzen, dass man ein Wesen oder das Charakteristische, das sie gerade als »Moderne« definiert, finden kann. Diese Frage bezieht sich auch auf das Problem, wonach dieses Kolloquium Ausschau halten möchte, ob die Moderne singularisch oder pluralisch zu verstehen ist. Die Frage, »wann« die Moderne ist, mag nötig klingen, um den Zeitraum des Gegenstandes festzumachen. Aber dabei könnte man sich eine linear verlaufende, geschichtliche Zeit vorstellen. Wenn man fragt, »wo« die Moderne ist, könnte diese Frage wiederum eigenartig klingen, weil die »Moderne« eigentlich nicht räumlich-örtlich, sondern geschichtlich-zeitlich anzusetzen ist. Ich vermute, dass das von Georg Stenger vorgeschlagene Thema diese kritischen Fragen andeutet. Hier und heute möchte ich im Zusammenhang mit dem japanischen Philosophen, Sakabe Megumi, diese Fragestellung etwas näher angehen. Sakabe, der 2009 verstorben ist, hat hauptsächlich an der Universität Tokio gelehrt. Seine Diagnose, dass seit den 1960er Jahren »die Kritik am Ethnozentrismus der westlichen modernen Kultur und die Kritik an der Geschichtsauffassung, die den Westen als führende Instanz ansieht, innerhalb des Westens selbst auf eine richtige Weise gekeimt waren«,1 scheint zutreffend zu sein. Ja, heutzutage könnte sie gar zu einer allgemeinen Ansicht geworden sein. Aber ich möchte hier ein bisschen weiter ausholen. Obwohl die Bezeichnung »innerhalb des Westens« natürlich auf das »außerhalb des Westens« hinweist, betont Sakabe nicht einfach den Gegensatz von »innerhalb« und »außerhalb« des Westens. Wichtig ist für ihn das sogenannte »Zwischen« der beiden. Dies bezieht sich selbstverständlich auf den Begriff »Interkulturalität«. Und darin spielt auch der Begriff »Hybridität« eine wichtige Rolle. Zuerst möchte ich eine Unterscheidung der geschichtlichen Zeit in der japanischen Historie vorstellen. In Japan benutzt man für die »Moderne« das Wort »kindai (㏆௦)«, das kein traditionell japanisches Wort, sondern ein Übersetzungswort ist. Aber das Wort »kindai« erweist sich als zu umfangreich. Darüberhinaus benutzt man auch das Wort »kinsei (㏆ୡ)«, das die Zeit seit etwa 1600 umschreibt. Dieses entspricht fast dem Wort Megumi Sakabe: »Nihontetsugaku no kanosei (Möglichkeit der japanischen Philosophie)«, in: ders. (Hg.): Moderunite-barokku (Modernité-Baroque), Tokio 2005, S. 41. 1

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»Frühe Neuzeit«, und im Unterschied dazu bezeichnet das Wort »kindai« in diesem Fall die Zeit, die im Zusammenhang mit der Bildung der Meiji-Regierung im Jahre 1868 beginnt.2 Auf den ersten Blick könnte dies bedeuten, dass die japanische Moderne später als die europäische beginnt. Dies ist aber nicht so wichtig. Wichtig ist die Tatsache, dass diese Unterscheidung nach dem Modell der westlichen Geschichtsauffassung vorgenommen ist. Ohne Begegnung mit dem westlichen Begriff gäbe es keine solche Unterscheidung in Japan. Und gerade durch die Beziehung zum Westen, oder eben im »Zwischen« erscheint die japanische Geschichte in neuer Weise. Obwohl man durchaus fragen könnte, ob dieses Modell auf die außereuropäische Geschichte anwendbar sei, möchte ich diese Frage ausklammern und mich dem Ansatz von Sakabe zuwenden. Ganz allgemein gesagt galt seit der Gründung der Meiji-Regierung die westliche Denkweise als das schlechthinnige Modell für die wissenschaftlichen Forscher Japans. Aber einige von ihnen, wie etwa Tetsuro Watsuji (1889–1960), hegten doch einige Zweifel an dieser Auffassung. Er thematisiert sowohl die Räumlichkeit des menschlichen Daseins als auch die Pluralität der Kulturen außerhalb Europas, während Heidegger, von dessen Denken der 20er Jahre er inspiriert war, die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins analysiert. Darüber hinaus macht Watsuji auch innerhalb der europäischen Kultur auf eine Pluralität der Kulturen aufmerksam. Aber sein Ansatz offenbart auch eine Tendenz zum Zentrismus bezüglich seiner eigenen Kultur, was indes nicht klar genug von ihm erfasst zu sein scheint. Zumindest aber soll keine Kultur als selbständig und gewissermaßen puristisch verstanden werden. Obwohl das oben Gesagte zu grob skizziert ist, sollte es als Vorbereitung3 doch dazu dienen, die Bedeutung der Begriffe »Zwischen«4 und »Hybridität« hervorzuheben. Aber das ist noch nicht ausreichend. Ich möchte im Weiteren darstellen, dass diese Begriffe nicht statisch, sondern dynamisch verfasst sind, und dass dabei der Begriff der »Begegnung« eine wichtige Rolle spielt. Sodann werde ich Sakabes Ansicht über die europäische Geschichte kurz darstellen. Der Ansatzpunkt derselben ist wohl eine Kritik am Nominalismus, wie er bei Wilhelm von Ockham (1285–1347) vertreten ist: Sakabe versucht nun das, was der Nominalismus unsichtbar gemacht hat, freizulegen. Der Nominalismus hat die intrinsische Beziehung zwischen dem Wort und dem Ding völlig getrennt, wodurch diese Beziehung unsichtbar gemacht wurde bzw. verloren ging.

Sakabe setzt den Anfang der europäischen Moderne um ca. 1770–1820 an, wo fast alle Elemente und Strukturzüge der Moderne auftauchen. Den Anfang der japanischen Moderne sieht er um 1850 anbrechen (vgl. ebd.). 3 Was die Identität der Philosophie angeht, sagt Sakabe am Anfang eines Vortrags: »Es ergibt sich von selbst, dass die Identität der japanischen Philosophie nicht exklusiv ist, sondern etwas Fließendes und Provisorisches, das im Ort entsteht, wo viele Kreise der Wirkung sich verflechten (wie bei der deutschen oder französischen Philosophie). Ich meine, dass das eine Pointe ist, die noch heute immer wieder betont und erinnert werden sollte.« (Ebd., S. 229) 4 Ich werde versuchen, »dieses Grundwort des Zwischen auch für die interkulturelle Fragestellung fruchtbar zu machen« (Georg Stenger: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg, München 2006, S. 443, Rb.). 2

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In Sakabes Denken finde ich seine Idee der »Polyphonie« bemerkenswert, die bekanntermaßen ein charakteristisches Merkmal des Barock ist. Die europäische Moderne selbst erscheint bei Sakabe im Sinne dieses barocken Merkmals interpretiert, was wiederum, wie man sagen könnte, gewisse »Unterströmungen«, auf die ich noch zurückkomme werde, freilegt. Es könnte sein, dass diese in absehbarer Zeit auch den fernen Osten erreichen könnten, was dann durchaus eine neue Perspektive der Interkulturalität nach sich ziehen könnte.

II. Die Welt Ich möchte zunächst mit zwei scheinbar offenkundigen, aber auch miteinander verflochtenen Widersprüchen beginnen. Der erste bezieht sich auf die Auffassung der »Welt«, der zweite auf die des »Ich«. Beide stammen von Kant und werden nach meiner Einschätzung von Husserl klarer, sprich auf ihre Konstitution hin gesehen, ausformuliert. Erstens: Die Welt ist »einig«. Wenn die Welt nicht einig wäre, würde, so könnte man sagen, überhaupt keine Allgemeinheit möglich sein. Dagegen könnte aber auch eine Pluralität der Welt behauptet werden.5 Stünden diese beiden dann in einem »antinomischen« Verhältnis zueinander? Zweitens: Es gibt das Problem des Ich, das die Welt erfährt. Wenn das Ich den »Sinn« konstituiert und wenn diese Funktion nicht mehr nur »formal«, sondern durch seine eigene Kultur »inhaltlich« bestimmt ist, könnte es die interkulturelle Allgemeinheit nicht erreichen, wenn auch die Welt selbst als »einig« angesetzt wäre, so könnte man sagen. Diese zwei miteinander verflochtenen Widersprüche bilden den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Wie bekannt, bestimmt Kant in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft den Raum und die Zeit als »einig«.6 Obwohl der Raum und die Zeit bei Kant ähnlich wie der absolute Raum und die absolute Zeit bei Newton angesetzt sind, so sind Raum und Zeit bei Kant nicht außerhalb des Subjekts liegend zu verstehen, sondern als apriori im Subjekt selbst verankert. Kann man die Welt auch als »einig« ansehen, wenn Raum und Zeit die Welt gestalten? Ich glaube, dass man nicht so vorgehen kann, da Kant mit der Sinnenwelt und Verstandeswelt gewissermaßen zwei »Welten« unterscheidet. Man könnte höchstens sagen, dass die Sinnenwelt als »einig« »erscheint«, wenn sie auch »an sich« nicht einig ist. Die »Einigkeit« ist nur die »phänomenale« Bezeichnung der Sinnenwelt. Ich wage hier, die Welt und das Weltall bei Kant gleichzusetzen. Kant unterscheidet in der transzendentalen Dialektik das Weltall (also die Welt) vom Ding. Er sagt: »Wenn das Weltall alles, was existiert, in sich faßt, so ist es auch sofern keinem anderen Dinge, weder ähnlich noch unähnlich, weil es außer ihm kein anderes Ding gibt, mit dem es könnte Georg Stenger vertritt die These der »Welten« (vgl. ebd., S. 846 ff.). Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956. »Er [der Raum] ist wesentlich einig […].« (Ebd., B 39; Hervorhebung von mir) »Die Unendlichkeit der Zeit bedeutet nichts weiter, als daß alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich sei.« (Ebd., B 47f.; Hervorhebung von mir). 5 6

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verglichen werden.«7 Das Weltall (also die Welt) ist kein Ding, kein größtes Ding, das alle anderen Dinge in sich fasst. Wie steht es mit Husserl? Husserl sieht in Ideen I die Welt als »Gesamtinbegriff von Gegenständen«8 an. Es gibt hier keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Gegenstand und der Welt. Aber in seiner Spätzeit bezeichnet Husserl die Welt im Gegensatz zum Ding (oder zum Objekt): »Es besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied in der Weise des Weltbewußtseins und des Dingbewußtseins, des Objektbewußtseins (in einem weitesten, aber rein lebensweltlichen Sinne), während andererseits eines und das andere eine untrennbare Einheit bilden.«9 Hier unterscheidet Husserl klar die Welt vom Ding. Aber die Welt ist nicht auf naturwissenschaftliche Weise aufgefasst, wie bei Kant. Sie ist vielmehr als Horizont anzusetzen, und zwar als ein lebensweltlicher. Husserl schreibt weiter: »Jedes [Objekt] ist etwas, »etwas aus« der Welt, der uns ständig als Horizont bewußten.«10 Die Welt ist der Horizont, woraus jedes einzelne Ding erscheint, ja überhaupt zur Erscheinung kommen kann. In der Welt gibt es Dinge im Singular wie im Plural, aber die Welt selbst ist weder singularisch noch pluralisch. Husserl schreibt: »Andererseits ist Welt nicht seiend wie ein Seiendes, wie ein Objekt, sondern seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural sinnlos ist.«11 Husserl bestimmt die Welt als »einzig«. Diese Einzigkeit ist nicht numerisch gemeint, weshalb die Einzigkeit der Welt als Horizont selbst nicht thematisch wird. Das bedeutet wiederum, dass die Welt, wenn sie thematisiert wird, als numerisch plural erscheinen kann.12 Dass die Welt kein Ding ist, bezieht sich auf den Begriff »Ort«. Die Welt bewegt sich nicht, während sie nicht still bleibt. Kant sagt, »daß dieses [Universum] weder in seinem Orte beharrlich gegenwärtig (in Ruhe) sei, noch denselben verändere (sich bewege), weil alle Örter nur im Univers, dieses selbst also in keinem Orte ist.«13 Dieses Universum ist wiederum, so scheint es mir, in naturwissenschaftlicher Weise aufgefasst. Husserl sagt etwas Ähnliches, wenn er die Erde im Zusammenhang mit der Bewegung des Körpers

Ebd., B 530f. Edmund Husserl: Husserliana Bd. III/1, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie: 1. Buch, Den Haag 1976, S. 11. 9 Edmund Husserl: Husserliana Bd. VI, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Den Haag 1954, S. 146. 10 Ebd., S. 146. 11 Ebd., S. 146. 12 Der Begriff »Einzigkeit« bezieht sich auf den Begriff »Urfaktum«. Normalerweise ist ein Faktum eine Verwirklichung der Möglichkeit (Eidos). (Diese Beziehung zwischen beiden ist ähnlich wie jene zwischen dem Schema der »Wirklichkeit« (Dasein) und dem der »Möglichkeit« bei Kant (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 184). Aber das Urfaktum geht dieser Beziehung selbst voran (vgl. Edmund Husserl: Husserliana Bd. XV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Texte aus dem Nachlass, 3. Teil, Den Haag 1973, S. 385; Edmund Husserl: Husserliana Bd. XVII, Formale und transzendentale Logik: Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Den Haag 1974, S. 244). Das bedeutet, dass sie auch den Kategorien vorangeht. Auch die Einzigkeit geht der Anzahl oder der Nummer voran. Aber wenn sie einmal »kategorial« erfasst wird, erscheint sie als »numerisch«. 13 Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 530. 7 8

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erwähnt. Für ihn ist die Erde »Arche, die erst den Sinn aller Bewegung ermöglicht«.14 Die Erde selbst bewegt sich nicht und bleibt nicht still. Sie ermöglicht erst den Sinn der Bewegung und auch des Stillbleibens. Ihre »Ruhe« ist kein Modus der Bewegung. Dementsprechend verändert sie nicht ihren Ort. Aber sie ist wiederum nicht thematisch, während das sich bewegende Ding thematisch ist. Sie kann ähnlich wie der lebensweltliche Horizont verstanden werden. Der Horizont ist kein vierdimensional unendliches und unbewegbares Kontinuum, sondern er ist von mir ausgehend orientiert, und er erweitert sich, je nachdem wie ich mich (leiblich) bewege. Er ist von meinem Leib, der seinen Ort besitzt, nicht zu trennen. Der Leib ist als »Orientierungsnullpunkt« bestimmt. Er ist eigentlich nicht ein von außen gesehenes oder konstituiertes Ding, sondern fungiert als der einzige Ausgangspunkt der Konstitution von Welt. Das räumlich an sich Erste ist mein leibliches »Hier«. Die Welt als Horizont ist dementsprechend nicht flach, nicht homogen, sondern sie erscheint »perspektivisch«. Die Welt als Horizont, der von diesem Ausgangpunkt aus konstituiert wird, besitzt eine eigenartige »Offenheit«. Aber meine Perspektive ist nicht unendlich und in diesem Sinne nicht völlig »offen«, sondern irgendwie beschränkt und auch »geschlossen«. Wenn es erlaubt ist, einen Neologismus mit den Wörtern »offen« und »geschlossen« zu versuchen, könnte man den Horizont als »geschloffen« bezeichnen. Aber wir wissen, dass Husserl in seiner Spätzeit oft von Kultur spricht und dann auch auf die Pluralität der kulturellen Welt, auf die »Konstitution von Welten irgendwelcher Art«15 hinweist.16 Wie beziehen sich also die Einzigkeit der Welt und die Pluralität der Welten aufeinander? Ich meine, dass die Welt als »einzig« verstanden wird, wenn sie als Horizont un-thematisch mitfungiert. Sie erscheint als plural, wenn sie thematisiert wird.

III. Das Ich Bei Kant bilden Raum und Zeit die Formen der Anschauung oder der Sinnlichkeit. Sinnlichkeit verbleibt rein rezeptiv. Sie besitzt nicht die Funktion des Zusammenfassens, die wiederum der Verstand als Spontaneität innehat.17 Er allein ermöglicht »Synthese«. Kant fordert aber noch eine weitere Funktion des Zusammenfassens, die er »transzendentale Apperzeption« nennt, und die er als Leistung des »Ich« ausweist. Weil das Ich selbst die »nummerische Einheit«18 besitzt, kann es alle Vorstellungen vereinheitlichen. Die Funktion der Selbstvereinheitlichung hemmt die Selbstspaltung des Ich im »mundus sen14 Edmund Husserl: »Umsturz der kopernikanischen Lehre«, in: Marvin Farber (Hg.): Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, New York 1968, S. 324. 15 Edmund Husserl: Husserliana Bd. I, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag 1950, S. 161. 16 Z. B.: »In Unzahl von Traditionen bewegt sich unser menschliches Dasein. Die gesamte Kulturwelt ist nach allen ihren Gestalten aus Tradition da.« (Husserl: Husserliana Bd. VI, S. 336) 17 Aber Kant denkt, dass die Einbildungskraft schon eine solche Funktion besitzt. Diese Idee erscheint indes nicht genügend entwickelt. 18 Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 107.

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sibilis«, also in der Sinnenwelt. Aber Kant erkennt nicht nur den »mundus sensibilis«, sondern auch den »mundus intelligibilis«, also die Verstandeswelt, an. Dann bedeutet die numerische Einheit des Ich die Vereinheitlichung der zwei Welten. Dies ermöglicht und fordert die Gültigkeit der moralischen Gesetze, die eigentlich in die Verstandeswelt gehören,19 auch in der Sinnenwelt. Demnach erweist sich die numerische Einheit des Ich auch als Prinzip der Vereinheitlichung der zwei völlig verschiedenen Welten. Meiner Meinung nach ist diese Ver-einheit-lichung der zwei Welten für Kant wichtiger als die der verschiedenen Vorstellungen in der »einigen« Sinnenwelt. Mir scheint deshalb, dass Kants Interesse nicht der Vereinheitlichung der verschiedenen Kulturen oder der kulturellen Welten gilt.20 Kant denkt weltbürgerlich, nicht nationalistisch. Und er könnte auch »weltkulturalistisch« denken, was aber ein Ignorieren der Pluralität der kulturellen Welten bedeutete, insoweit sich diese nicht auf »formale«, sondern auf »inhaltliche« Differenzen beziehen. Jedenfalls erscheint mir die »ichliche« Vereinheitlichungskraft in Bezug auf das Problem der »Welten« bei Kant zu stark pointiert. Wie sieht dies bei Husserl aus? Für Husserl besitzt das Ich eine Funktion der »Zentrierung«, was eine Art Zusammenfassung oder Vereinheitlichung bedeutet. Zugleich zielen Husserls Analysen auf den Ursprung des Ich, den er bekanntlich im»Ur-Ich« findet, das recht eigentlich erst als einzig und undeklinierbar gelten kann. Husserl sagt, dass das Ur-Ich »seine Einzigkeit und persönliche Undeklinierbarkeit nie verlieren kann«.21 Ich glaube, dass diese Einzigkeit des Ur-Ich derjenigen der Welt entspricht. Sie ist nicht numerisch und nicht thematisch. Husserl fährt weiter fort: »Dem widerspricht nur scheinbar, daß es [das Ur-Ich, T.T.] sich […] für sich selbst transzendental deklinierbar macht; daß es also von sich aus und in sich die transzendentale Intersubjektivität konstituiert, der es sich dann zurechnet, als bloß bevorzugtes Glied, nämlich als Ich der transzendentalen Anderen.«22 Diese Stelle ist zwar sehr bekannt, aber ihre genauere Deutung scheint mir nach wie vor von großer Bedeutung zu sein. Das Ur-Ich pluralisiert sich selbst (gewissermaßen unthematisch). Es findet sich somit selbst bei der Zurechnung als numerisch Eines vor. Ich glaube, dass diese Einzigkeit/Pluralität des Ich und die der Welt korrelativ betrachtet werden soll. Aber gleichzeitig schlage ich vor, den Begriff »Zwischen« in die Betrachtung einzuführen. »Erfahrung« fungiert, wie Husserl erfasst, als das Zwischen von Ich und Welt, das Ich als Welt-erfahrendes Ich, und die Welt als von mir erfahrene Welt. Die Welt und das Ich sind also immer, d. h. konstitutiv mit der Erfahrung verbunden. Die Erfahrung ist aber kein Klebstoff, der Ich und Welt als erst noch zu Verbindende voraussetzen würde. Das Ich (zumindest als etwas Thematisches) und die Welt stammen aus der Wir betrachten uns als »zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig« (Immanuel Kant: Die Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965, B 79). »Das moralische Sollen ist also eigenes notwendiges Wollen von ihm als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet.« (Ebd., B 81) 20 Kant erwähnt die »Kultivierung« in der Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1974, vgl., z. B. B 336. Die Bedeutung dieses Wortes deckt sich nur teilweise mit unserem Begriff »Kultur«. 21 Husserl: Husserliana Bd. VI, S. 188. 22 Ebd., S. 189 f. 19

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Erfahrung als Zwischen, welches die Urquelle der Welt und des Ich ist. Eine solche Erfahrung könnte daher als »transzendentale Erfahrung« bezeichnet werden.

IV. Erfahren und Widerfahren – Begegnung Die vom zentrierenden Ich erfahrene Welt ist, als Horizont, »geschloffen«. Diese Geschloffenheit bedeutet, dass etwas Unbekanntes in den Horizont des Ich hinein- oder dort auftreten kann. Das Ich kann dieses Ereignis in seiner Erfahrung nicht beherrschen, weshalb, wenn man so paradox formulieren kann, dem Erfahren ein ihm vorgängiges, oder besser, ihm eingeschriebenes Widerfahren geschieht. Wenn mir etwas Unbekanntes widerfährt, thematisiert nicht nur das Unbekannte, sondern auch das Bekannte sich erst als solches. Davor war das Bekannte unthematisch, obwohl es vertraut war. Erst wenn das Unbekannte auftritt, wird auch das Bekannte thematisch. Die beiden thematisieren sich also als »zwei«. Dieses »zwei« ist numerisch. Davor waltet die Einzigkeit als nicht numerisch. Die »Nummer« ist ein Zeichen der Thematisierung. Das »Zwischen« meint also genau jenen »Ort« oder jenes »Verhältnis«, wo sich die Thematisierung der »zwei« vollzieht, ohne dass dieses »Zwischen« jemals selbst thematisch werden könnte. Eine solche Thematisierung vollzieht sich aber oft, so meine These, bei der interkulturellen Begegnung. Das Zwischen der Erfahrung ist zum interkulturellen Zwischen offen, oder besser geschloffen. Der Begriff »Zwischen« wurde bisher von Martin Heidegger, Bernhard Waldenfels und Bin Kimura23 entwickelt. Aber hier soll Sakabes Begriff näher in Augenschein genommen werden. Das deutsche Wort »Zwischen« entspricht in etwa dem japanischen Wort »aida« und dem altjapanischen Wort »awai«. Sakabe erläutert: »Die Bedeutung dieses Wortes [»awai«] ist zwar das »Zwischen«, der »Zwischenraum« im Deutschen. Aber es [»awai«] ist unterschiedlich vom bloß statischen, still bleibenden Zwischen. Vielmehr stammt das Wort »awai« aus der Substantivierung des Verbs »au« […] und deshalb besitzt es von Anfang an, mehr als eine statische, eine dynamische Bedeutung. Oder es besitzt eine verbale oder prädikative Bedeutung im starken Sinne. Dies deckt sich damit, dass Nishidas Grundbegriff »basho« als »topos« vom verbalen Prädikat gedacht wird. Wenn ich das Wort »awai« in der Fremdsprache ausdrücke, versuche ich, auf meine eigene Weise, die Nuance des japanischen Wortes »awai« mitzuteilen, indem ich es ins Deutsche »Zwischenheit-Begegnung«, ins Englische »betweenness-encounter«, ins Französische »entreté-rencontre« übersetze.«24 Das japanische Wort »awai« stammt aus »au«. »Au« bedeutet »Begegnen«. Deshalb übersetzt es Sakabe als »Zwischenheit-Begegnung«.

23 Stenger kritisiert vorsichtig, dass Kimura das »Zwischen« für etwas nur »Japanisches« hält. Ich meine, dass ein solches »Zwischen« erst in der Begegnung mit dem »Nicht-Japanischen« eigens »erscheint«. Sakabes »awai«, also die »Zwischenheit-Begegnung« ist in diesem Zusammenhang wichtig (vgl. Stenger: Philosophie der Interkulturalität, S. 445). 24 Megumi Sakabe: Sakabe Megumi shu Bd. 3, Tokio 2007, S. 308.

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Ich möchte hier jedoch meine eigene Deutung äußern. Das japanische Wort »au« besitzt weit ausgreifende Bedeutungen: es bedeutet eigentlich so etwas wie »zusammentreffen«. Es bezeichnet verschiedene Beziehungen der »zwei«. Als solches weist es auf eine breite Fächerung von Auslegungen hin, die von »passen«, »taugen«, »zusammenfallen« bis zu »kämpfen« reichten. Das könnte auch auf das deutsche Wort »Begegnung« zutreffen, in dem ebenfalls das Wort »gegen« auftaucht. Man kann darin eine Zweideutigkeit von »Zusammenfall« und »Gegensatz« finden. »Awai« ist ein unfixiertes und verbales Zwischen, wo diese zweideutigen Bewegungen geschehen. Ich glaube, dass wir im interkulturellen Zwischen die Erfahrung/Widerfahrnis dieser beiden Seiten zu berücksichtigen haben.

V. Hybridität Husserl widmet sich der Analyse der passiven Synthesis, was in der Kantischen Konzeption noch keine Rolle spielt. Die passive Synthesis beginnt schon in der Dimension der Sinnlichkeit und liegt vor der konstitutiven Funktion des Ich. Die Erfahrung als das Zwischen von Welt und Ich hat ihre Wurzel in der Sinnlichkeit als ursprünglicher Begegnung. Diese Erfahrung hat großen Einfluss auf die nachfolgende Konstitution des Ich, was Husserl mit dem Terminus der »Habitualität« benennt. Das Ich »besitzt« seine Habitualität bzw. ist in diese eingelagert. Diese Habitualität wirkt in der Dimension der Passivität, weshalb sie auch als ein Prinzip der passiven Synthesis zu verstehen ist. Dies ist auch der Grund, weshalb für das Ich selbst etwas Unbekanntes als irgendwie bekannt erscheinen kann. Husserl schreibt: »Alles Bekannte verweist auf ursprüngliches Kennenlernen; was wir unbekannt nennen, hat doch eine Strukturform der Bekanntheit, die Form Gegenstand, des näheren die Form Raumding, Kulturobjekt, Werkzeug usw.«25 Dieses Zitat ist weithin bekannt und könnte banal klingen. Aber ich möchte betonen, dass jenes, was Husserl »Kulturobjekt« nennt, »habituell«, d. h. auch in und mit der Gemeinschaft konstituiert wird, und dass deshalb Habitualität und Kultur untrennbar miteinander verwoben sind. Das heißt auch, dass schon das »Raumding« selbst »habituell« konstituiert ist bzw. wird. Es gibt kein reines Naturobjekt, oder anders gesagt, es gibt keine entscheidende Kluft zwischen Natur und Kultur. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die durch das »Ich« erwirkte Konstitution des »Sinns«, auf dessen Erscheinungszusammenhang Husserls Analysen ausgerichtet sind, nicht einfach »formal« ist bzw. sein kann. Von da her lässt sich auch Watsuji Tetsuro interpretieren. Er analysiert den konstitutiven Zusammenhang zwischen »fudo« (Klima oder Erde und Wind) und Mensch. »Fudo« ist keine physische Naturwelt, die ohne Menschen für sich bestehen würde, sondern »ein Strukturmoment des menschlichen Lebens«, also eine Kulturwelt, die die menschliche Geschichte in sich einschließt. »Fudo« beeinflusst den Menschen und die Menschen beeinflussen »fudo«. »Fudo« und »Mensch« (oder Menschsein) sind zwei Momente des genannten Zwischen. Watsuji behauptet, dass »«fudo«, extrem gesagt, etwas Einziges meint,

25

Husserl: Husserliana Bd. I, S. 113.

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das jedem Land auf der Erde eigen ist«.26 »Fudo« ist etwas Besonderes. Dabei könnte man im Hinblick auf die Interkulturalität fragen: Können die Menschen die Allgemeinheit erreichen, wenn sie von ihrem »fudo« untrennbar und dadurch in grundsätzlicher Weise beeinflusst sind? Sind sie darin eingesperrt? Können sie andere Sinn-Konstitutionen, also fremde Kulturen, verstehen? Meine Antwort ist: es ginge um ein Zwischen von »ja und nein«. Die habituelle Konstitution macht ein Verstehen der fremden Kultur schwierig.27 Aber Schwierigkeit heißt nicht Unmöglichkeit. Dasjenige Subjekt, das keine eigene Habitualität, also keine eigene Kultur besitzt, könnte nicht die fremde Kultur, geschweige denn Kultur überhaupt verstehen. Nur das Subjekt, das seine eigene Habitualität und Kultur besitzt, kann die fremde Kultur als Kultur verstehen. In diesem Sinne ist die Kultur-gebundenheit eine Bedingung der Möglichkeit des Verständnisses der fremden Kultur. Ferner ist die kulturelle Besonderheit eine Bedingung der Möglichkeit der kulturellen Allgemeinheit. Jedoch, hier scheint mir folgende Anmerkung nötig: Für das Ich ist seine eigene Kultur nicht von vornherein als solche thematisch. Wenn sie auch verständlich ist, so ist sie zu selbstverständlich und daher unthematisch. Sie wird erst thematisch, wenn sie der verständlichen fremden Kultur begegnet. Die beiden werden dann gewissermaßen als Paar thematisiert. Ich glaube, dass Sakabe hier die Beziehung von »utsushi« am Werk sieht. »Utsushi« ist Sakabes Grundbegriff. Es bedeutet »Übergang«, »Übertragung«, »Spiegelung«. Ich kann den Begriff an dieser Stelle nicht ausführlich erläutern und fasse daher zusammen: Das Eigene erscheint nicht an sich selbst, sondern erst durch seine »Übertragung« zum Fremden, bald im Gegensatz dazu, bald im Zusammenfall damit, also aufgrund ihrer wechselseitigen Spiegelung. So etwas geschieht im Zwischen. Aber gerade deshalb ist es sehr schwierig, mir meine eigene Kultur selbst klar bewusst zu machen. Das ist auch bei Watsuji, der eine Art von Multikulturalismus vertritt, der Fall. Watsuji findet erst in seiner Spätzeit zu der Einsicht, dass seine eigene Kultur nicht »rein«, sondern »hybrid« verfasst ist. Sakabe schreibt: »ich glaube stark, dass in der Tat ohne ein radikales Bewußt-machen der Hybridität der eigenen Kultur der Multikulturalismus, welcher Art er auch sei, sich nicht konsequent vollziehen kann. Wahrscheinlich konnte sich Watsuji erst in der Spätzeit seines Denkens vom Zwang des eigen-kultur-zentristischen Purismus, der seit Norinaga Motoori [1730–1801] prominent vertreten wurde, befreien.«28 Hierzu eine Anmerkung: Motoori ist ein berühmter Forscher der japanischen Kultur des 18. Jahrhunderts, aber er ist auch nationalistisch orientiert. Obwohl Sakabe Tetsuro Watsuji: Watsuji Tetsuro zenshu Bd. 8, Tokio 1962, S. 214. Vgl. hierzu Husserl: »Jeder Mensch versteht zunächst einem Kerne nach und mit einem unenthüllten Horizont seine konkrete Umwelt bzw. seine Kultur, eben als Mensch der sie historisch gestaltenden Gemeinschaft. Ein tieferes Verständnis […] ist jedermann aus dieser Gemeinschaft prinzipiell möglich, in einer gewissen nur ihm möglichen Ursprünglichkeit, die einem mit dieser Gemeinschaft in Beziehung tretenden Menschen aus einer anderen Gemeinschaft verschlossen ist.« (Husserl: Husserliana Bd. I, S. 160 f.) 28 Megumi Sakabe: »Watsuji Tetsuro to ›suichoku no rekishi‹«, in Sakabe Megumi shu, Bd. 5, Tokio 2007, S. 291. 26 27

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den nationalistischen Purismus kritisiert, kann er selbst als wenig politisch orientiert bezeichnet werden. Auf den Text zurückkommend, würde sich durchaus sagen lassen, dass der Purismus zwar als stark zu bezeichnen ist, ich würde jedoch von meiner eigenen Kultur sagen, dass sie nicht rein, sondern hybrid ist. Und ich vermute, dass dies auch bei den anderen Kulturen der Fall ist. Die Hybridität der eigenen Kultur bedeutet ihre inhaltliche Offenheit. Sie ist nicht völlig geschlossen, sondern offen, oder besser »geschloffen«, während der Purismus die geschlossene Selbständigkeit der eigenen Kultur behauptet.

VI. Die Moderne und ihre Unterströmung Die europäische Moderne wurde und wird auf verschiedene Weise problematisiert, z. B. im Hinblick auf Rationalisierung, Idealisierung usw. Wenn man nun den Blick auch auf die »Diskurse« lenkt, die jene Grundzüge der Moderne sprachlich, institutionell und über »Dispositive« generiert erscheinen lassen, tritt v.a. Foucault auf die Bühne. Auf Foucault kann ich hier nicht weiter eingehen, aber im Zusammenhang mit dem oben Gesagten könnte auch die europäische Moderne in den Verdacht geraten, puristische Tendenzen aufzuweisen. Sakabe versucht beispielsweise in seinem Buch »Einführung in die europäische Geistesgeschichte – Nachglanz der Karolingischen Renaissance«, die Moderne nicht zu negieren, sondern zu »relativieren«,29 indem er ihre Unterströmungen freilegt. Die Moderne ist »geschloffen«, aber wie weitgehend ist sie dies? Sakabes Interpretation kann hier nur kurz dargestellt werden. Er sieht mindestens vier Wendepunkte in der europäischen Geistesgeschichte: erstens, die Karolingische Renaissance, zweitens, den Nominalismus und die Mystik im 14. Jahrhundert, drittens, den Anfang der Moderne um 1770–1820, und viertens, die Gegenwart seit den 1960er Jahren. Meines Erachtens liegt sein Schwerpunkt vor allem in einer »Reihe« oder »Wirkungsgeschichte« der Metaphysik des »Verbums«, die eher gegen die Tendenz des modernen Rationalismus gerichtet ist. Teilweise auf Gadamer30 rekurrierend, betont Sakabe die Wichtigkeit des »verbums«, das neben »ratio« eine Übersetzung des griechischen »logos« ist. Im Vergleich zur griechischen Denkweise legt Gadamer eher das mittelalterlich-christliche Verständnis des Verbums frei: das Wort (verbum) ist untrennbar mit Gott verbunden.31 Dieses Verständnis weist auf eine intrinsische Beziehung zwischen der Sprache und dem Ding hin, während der spätere, die Moderne gestaltende Nominalismus die beiden gänzlich voneinander trennt. Sakabe meint, dass die Tragweite des Begriffs »verbum« und sein Wirkungs29 Megumi Sakabe: Yoroppa seishinshi nyumon – Karoringu runessansu no zanko (Einführung in die europäische Geistesgeschichte – Nachglanz der Karolingischen Renaissance), Tokio 2012, S. 7. 30 Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke Bd. 1, Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. 31 »Im Anfang war das Wort« war für den christlichen Glauben sehr wichtig. Damit fängt die Metaphysik des Verbums an.

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kreis aufgrund seiner Unterströmung noch größer sind, als von Gadamer angenommen. In diese Tradition reihen sich Giambattista Vico (1668–1744), Johann Georg Hamann (1730–1788), Johann Gottfried von Herder (1744–1803) und Walter Benjamin (1892– 1940)32 ein. Andererseits ist diese Unterströmung aber vom Neuplatonismus beeinflusst: In diesem Zusammenhang sieht Sakabe Pseudo-Dionysius Areopagita, Johannes von Damaskus (ca. 650–750), Johannes Scotus Eriugena (ca. 810–877), Richard von Sankt Viktor (ca. 1110–1173), Bonaventura (1221–1274) und Nikolaus von Kues (1401–1464) stehen. Der Neuplatonismus bezieht sich auch auf den Gnostizismus, der sich im Weiteren auf die Sutras des Mahayana-Buddhismus bezieht. Daran schließen der indische Mönch Amoghavajra (୙✵, Bukong, 705–774), der chinesische Mönch Huigou (᝴ᯝ, 746–806) wie auch der japanische Mönch Kukai (✵ᾏ, 774–835)33 an. Diese gehören zur »östlichen Metaphysik« des Verbums. Obwohl Sakabe diesen Zusammenhang zwischen den westlichen und östlichen Denkern nicht klar zur Darstellung bringt, könnte man folgendes vermuten: Kukai ist der Gründer des »shingon-shu (┿ゝ᐀)«, der Schule des wahren Wortes. Nach dieser Schule sind Vairocana (኱᪥ዴ᮶, Vairochana, Mahavairocana) und das wahre Wort untrennbar miteinander verbunden.34 Die Unterströmung der europäischen Moderne erreicht demnach Fernost im 9. Jahrhundert. Wenn diese Interpretation von Sakabe richtig ist, so ist sie ein gutes Beispiel, um seine Behauptung besser zu verstehen, dass die Moderne nicht negiert, sondern »relativiert« werden soll. »Relativierung« bedeutet hier, nicht relativistisch vorzugehen, sondern alles in »Relation« zu übersetzen. Es gibt nichts, das »absolut«, also »an sich« wäre, was wiederum bedeutete, dass es »abgelöst«, »getrennt von etwas« wäre. »Relativierung« hieße demnach, alles ins Zwischen zu versetzen, denn alles ist im Voraus aus diesem Zwischen zu verstehen. Dieser Befund deutet eine neue Perspektive der Interkulturalität an. Da ich wenig Kenntnis von den oben genannten Denkern habe, kann ich nicht sagen, ob ein solches Netzwerk der Unterströmungen wirklich freigelegt werden könnte. Wenn diese aber miteinander resonieren, wie Sakabe andeutet, ist das interessant. Um diese Resonanz zu gewärtigen, ja sie zu »hören«, bedarf es aber einer bestimmten Einstellung. Sakabe liest diese Einstellung von Watsujis folgendem Satz ab, in dem Watsuji seine Wertschätzung für Herder zum Ausdruck bringt: »Er [Herder] versucht möglichst auszuschließen, die Gestalt jedes einzelnen Volkes als eine Stufe des linearen Entwicklungsprozesses zu sehen, welcher in der Reihung des Nacheinander sein eigentliches Ziel hat. Sie (die Gestalt) muß vielmehr im Nebeneinander erfasst werden.«35 In einer solchen Einstellung könnte man die Resonanz oder die hybrid-verflochtene »Polyphonie« hören.36 Mit dieser Reihe werden Einbildungskraft, Gleichnis, usw. wichtig. Kukai studierte bei Huigou in China und brachte den Mantra-Buddhismus nach Japan. »Mantra« bezeichnet ein heiliges Wort. 34 Ich interessiere mich für die Möglichkeit des »wahren Wortes« im Bilingualen, Zweisprachigen. Ist die numerische Einheit des Ich stärker als die zwei »wahren Wörter«? 35 Watsuji: Watsuji Tetsuro zenshu Bd. 8, S. 220; vgl. Sakabe: Sakabe Megumi shu Bd. 5, S. 374. 36 Von hier aus gesehen versteht sich die oftmals vorgenommene Kritik an Herder, wonach die Kulturen gleichsam essentialistisch nach einem »Kugelmodell« angelegt seien, worin sich die Kulturen gegeneinander abschotteten, als obsolet und zudem Herders Anliegen prinzipiell auch als unterminierend. 32 33

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Aber die Polyphonie ist weder vergangen noch ist sie abgeschlossen. Unsere kulturelle Lebenswelt erweist sich vielmehr als stets »geschloffen«. »Wir« können den Horizont unserer kulturellen Lebenswelt, die sich stets erweitert, nicht völlig thematisieren. Thematizität und Unthematizität gehen Hand in Hand. Dabei kann uns etwas Unbekanntes immer »neu« »begegnen« und durchaus nicht immer als miteinander verflochten oder gar zusammenfallend, sondern eventuell auch als asymmetrisch oder gar als gegensätzlich verfasst. Eine solche Begegnung würde dann eher eine Dissonanz hervorrufen denn eine Resonanz ausbilden. Dabei könnten sich nicht nur polyphone Aspekte, sondern auch Nebengeräusche zwischen unserer Lebenswelt und anderen Lebenswelten generieren. Wir »erfahren« stets etwas Neues. Das verändert die »Habitualität« des Ich in umfassender Weise, auch wenn es numerisch eins ist und bleibt. Diese, nur angedeuteten, Zusammenhänge scheinen mir in der Zwischenheit-Begegnung, also im »awai« aufzutreten. Und die Zwischenheit-Begegnung selbst geschieht dort, wo und wann wir gegenwärtig leben und zukünftig fortleben. Während Husserl sagt: »Das historisch an sich Erste ist unsere Gegenwart«,37 sage ich: Das interkulturellhistorisch an sich Erste ist unsere gegenwärtige Zwischenheit-Begegnung. Wir können diesem nicht entfliehen, aber es ist auch nicht geschlossen. Die Vergangenheit und die Zukunft erweitern sich »innerhalb der Zwischenheit-Begegnung«. »Wir« sollten gerade mit dem Zwischen, oder besser, im Zwischen der interkulturellen Zukunft eine neue Richtung eröffnen.

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Husserl: Husserliana Bd. VI, S. 382.

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Literatur Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke Bd. 1, Hermeneutik I, Wahrheit und Methode, Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Husserl, Edmund: Husserliana Bd. I, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Den Haag 1950. – Husserliana Bd. III/1, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie: 1. Buch, Den Haag 1976. – Husserliana Bd. V, Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, 3. Buch, Den Haag 1971. – Husserliana Bd. VI, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und transzendentale Phänomenologie: eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Den Haag 1954. – Husserliana Bd. XV, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität: Texte aus dem Nachlass, 3. Teil, Den Haag 1973. – Husserliana Bd. XVII, Formale und transzendentale Logik: Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Den Haag 1974. – »Umsturz der kopernikanischen Lehre«, in: Marvin Farber (Hg.): Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, New York 1968. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1956. – Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965. – Kritik der Urteilskraft, Hamburg 1974. Sakabe, Megumi: Moderunite-barokku (Modernité-Baroque), Tokio 2005. – Sakabe Megumi shu Bd. 3, Tokio 2007. – Sakabe Megumi shu Bd. 5, Tokio 2007. – Yoroppa seishinshi nyumon – Karoringu runessansu no zanko (Einführung in die europäische Geistesgeschichte – Nachglanz der Karolingischen Renaissance), Tokio 2012. Stenger, Georg: Philosophie der Interkulturalität. Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, Freiburg, München 2006. Watsuji, Tetsuro: Watsuji Tetsuro zenshu Bd. 8, Tokio 1989.

Mexikanische Revolution und Erster Weltkrieg Lateinamerikanische und europäische Philosophie auf dem Weg zu einem globalen Diskurs über die Moderne Hans Schelkshorn (Wien)

Hinführung Der Erste Weltkrieg ist von der europäischen Philosophie stets als Epochenschwelle wahrgenommen worden, die den Zusammenbruch der politischen und geistigen Mächte des 19. Jahrhunderts besiegelte. Die Erfahrung der Krise Europas wird nach 1918 zum Nährboden für völlig unterschiedliche philosophische Aufbrüche, die von der Phänomenologie und dem Neopositivismus über die Dialog- und Existenzphilosophie bis hin zum Neomarxismus reichen. In ähnlicher Weise markiert die Mexikanische Revolution1 einen Wendepunkt im kollektiven Selbstverständnis des südlichen Amerika. Nach den liberalen und positivistischen Modernisierungsprojekten des 19. Jahrhunderts, in denen der Blick ausschließlich nach Europa gewandt war, »taucht« Mexiko – so Octavio Paz – in der Revolution endlich »in sein eigenes Wesen hinab.«2 Die Verheißungen der Mexikanischen Revolution, in der die indigenen Völker endgültig die Bühne der Geschichte betreten, werden im 20. Jahrhundert zu einer Inspirationsquelle sowohl für soziale Kämpfe als auch für philosophische Aufbrüche, die vor allem von der Suche nach einer kulturellen und politischen Identität der lateinamerikanischen Staaten bestimmt sind.3 Aus der Fülle an philosophischen Strömungen im Umkreis des Großen Krieges und der revolutionären Umbrüche in Mexiko möchte ich im Folgenden den Blick ausschließlich auf einige Wegbahnen interkulturellen Denkens lenken. Nach der nationalistisch aufgeheizten Kriegsbegeisterung von 1914, die die europäische Gelehrtenrepublik in einen »Krieg der Philosophien« verwandelte, deuteten so unterschiedliche Denker wie Max Scheler und Paul Valéry den Großen Krieg als Manifestation einer tiefen Krise Europas, die angesichts der geopolitischen Machtverschiebungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Niedergang imperialer Hegemonie begriffen wird (Kap. I). Auch in der Mexikanischen Revolution tobte von Anfang an ein Kampf der Philosophien. Die revolutionären Umbrüche in Mexiko sind daher nicht, wie Jürgen Osterhammel annimmt, ein regionaler Ausbruch blinder, d. h. philosophieloser Gewalt, der noch dem 19. Jahrhun-

1 Die chronologische Bestimmung der Mexikanischen Revolution ist nach wie vor umstritten. Für eine Gesamtübersicht vgl. Hans Werner Tobler: Die mexikanische Revolution. Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch 1876–1940, Frankfurt/M. 1988. 2 Octavio Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, Frankfurt/M. 1985, S. 147. 3 Vgl. dazu als ersten Überblick Carlos Beorlegui: Historia del pensamiento filosófico latinoamericano. Una búsqueda incesante de la identidad, Bilbao 2004, S. 401–884.

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dert zuzurechnen sei.4 Denn die Mexikanische Revolution stürzt nicht bloß einen lokalen Tyrannen, sondern eine positivistische Entwicklungsdiktatur, die bereits vor dem Ausbruch der Kämpfe Gegenstand heftiger philosophischer Kontroversen gewesen ist (Kap. II). Nach dem Niedergang der imperialen Vormachtstellung Europas entsteht jedoch in den 1920er Jahren plötzlich ein Freiraum für interkulturelle Begegnungen. In dieser Zeit öffnen sich sowohl die europäische als auch die lateinamerikanische Philosophie, wie erneut an Max Scheler und Paul Valéry, aber auch an José Vasconcelos und José Carlos Mariátegui exemplarisch gezeigt werden soll, für einen globalen Diskurs über die Moderne5 (Kap. III), der eine bedeutsame Vorgeschichte gegenwärtiger Ansätze interkultureller Philosophie bildet.

I. Der Große Krieg und die Krise der imperialen Weltstellung Europas – Max Scheler und Paul Valéry Am Vorabend des Großen Krieges war nach Stefan Zweig durch den allgemeinen Aufschwung und »die sich stündlich überjagenden Triumphe« moderner Wissenschaft und Technik »zum ersten Mal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewußtsein im Werden.«6 Auch in der Philosophie hatte um 1900 die Gelehrtenwelt nationale und zuweilen auch kontinentale Grenzen überschritten. Die philosophischen Debatten kreisten sowohl in Deutschland als auch England und Frankreich um die Fortschrittstheorien von Hegel, Comte und Marx oder das Verhältnis zwischen Kant und dem Utilitarismus. Die Kritik an unilinearen Fortschrittstheorien und die Aufwertung der Vielfalt der Kulturen durch den Historismus ermöglichte darüber hinaus um 1900 eine spektakuläre Öffnung auf die Philosophien des Fernen Ostens. Paul Deussen, Übersetzer der Upanishaden, stellte die Philosophien Indiens gleichberechtigt neben das abendländische Denken.7 Mit Graf Hermann Keyserling geht die europäische Philosophie, wie bereits Rousseau und Nietzsche gefordert hatten, auf Reisen; sein Reisetagebuch, das zwischen 1911 und 1913 entstanden ist, enthält ausführliche Beschreibungen zu Indien, China, Japan und den Vereinigten Staaten Amerikas.8

»Eine weitere Besonderheit der mexikanischen Revolution, die sie von den ›großen‹ Revolutionen in Nordamerika, Frankreich, Russland und China (seit den 1920er Jahren) unterscheidet, ist die Abwesenheit einer ausformulierten revolutionären Theorie.« (Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 800). 5 Zu den theoretischen Grundlagen eines »globalen Diskurses über die Moderne« vgl. Hans Schelkshorn: Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne, Weilerswist 2009; Hans Schelkshorn: »Interkulturelle Philosophie und der Diskurs über die Moderne. Eine programmatische Skizze«, in: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 25 (2011), S. 75–100. 6 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, 3. Auflage, Frankfurt/M. 2013, S. 206. 7 Paul Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Leipzig 1894. 8 Graf Hermann Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen, München, Wien 1980. 4

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Nur wenige Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs brach die europäische Gelehrtenrepublik wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Unter dem Eindruck des Einmarsches deutscher Truppen in Belgien, der Berichte über Kriegsverbrechen und der Zerstörung der Bibliothek von Löwen stellte Henri Bergson im August 1914 in einer vielbeachteten Rede den Krieg der Entente gegen die Mittelmächte als einen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei dar.9 Der Geist Kants und Hegels, die noch von den Ideen der Französischen Revolution inspiriert gewesen sind, ist nach Bergson durch die forcierte Industrialisierung und die preußische Disziplin in Militär, Verwaltung und Bildungswesen völlig verdrängt worden. Geblendet vom ökonomischen Aufstieg habe Deutschland schließlich Gobineaus Rassentheorie, die in Frankreich kaum gelesen worden sei, übernommen, um seinen Anspruch auf Weltherrschaft zu legitimieren. Der Vorwurf der Barbarei traf die deutsche Gelehrtenwelt, die sich vor dem Krieg nicht zu Unrecht an der Spitze der internationalen Forschung gesehen hatte, mitten ins Herz. Am 4.10.1914 veröffentlichten 93 deutsche Professoren einen »Aufruf an die Kulturwelt«, in dem der Vorwurf der deutschen Barbarei zurückgewiesen und die deutsche Kriegsführung verteidigt werden.10 Der »Krieg der Philosophen«11 entspringt nicht bloß einer nationalistischen Verblendung oder einer überstürzten Politisierung apolitischer Denkformen.12 Vielmehr bricht im Streit über die deutsche Barbarei plötzlich im Inneren der Alten Welt ein imperialer Diskurs, mit dem Europa seit der Antike seine Beziehungen zu Asien und seit dem 16. Jahrhundert auch zu den Völkern Amerikas und Afrikas definierte, in aller Schärfe hervor. Aus diesem Grund bleiben auch Weltkriegsdeutungen, die wie Max Scheler und Paul Valéry den nationalistisch verengten Blick bewusst auf eine gesamteuropäische Perspektive hin ausweiten, mit imperialen Motiven verwoben. Max Schelers Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, die mit »Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg« (1914/15)13 einsetzt, steht in einem engen Zusammenhang mit seiner systematischen Philosophie, insbesondere mit seiner Ethik.14 Abseits der Metaphysik des Krieges als einer notwendigen Welteinrichtung, die noch vor 1918 zurückgenommen wird,15 situiert Scheler den Ersten Weltkrieg – darauf soll hier allein der Blick gerichtet werden – im weiten Horizont geopolitischer Machtverschiebungen. Der Aufstieg Japans und der Expansionsdrang Russlands müssen nach Scheler als Henri Bergson: La signification de la guerre, Paris 1915. »Aufruf an die Kulturwelt«, in: Klaus Böhme (Hg.): Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1975, S. 49. 11 Vgl. dazu Peter Hoeres: Krieg der Philosophen. Die deutsche und die britische Philosophie im Ersten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2004. 12 So Hermann Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel, Stuttgart 1963, S. 173–238. 13 Max Scheler: »Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg«, in: ders.: Gesammelte Werke IV, hg. v. Manfred Frings, Bern, München 1982, S. 7–250. 14 Vgl. dazu Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000, S. 106 ff. Nach Flasch steht Scheler unter »deutschsprachigen Autoren theoretischer Kriegsbücher« wegen seiner systematischen Orientierung »an erster Stelle« (ebd., S. 103). 15 Vgl. dazu Flasch: Die geistige Mobilmachung, S. 143 f. 9

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deutliche Signale für den Niedergang des Britischen Imperiums wahrgenommen werden. Seit der Französischen Revolution sind darüber hinaus auch die philosophischen Fundamente des europäischen Imperialismus, insbesondere evolutive Fortschrittsideen, die fremde Kulturen auf einer Vorstufe auf dem Weg zur europäischen Zivilisation platzieren, fragwürdig geworden. Strategien einer gewaltsamen »Zivilisierung«, sei es im Namen der christlichen Religion wie im Spanischen Imperium oder säkularer Ideen wie in der Pax Britannica, scheiterten nach Scheler jeweils an der Eigenständigkeit der kolonisierten Kulturen, ein Phänomen, das erst vom Historismus in das philosophische Bewusstsein gehoben worden ist.16 Die Europäisierung der Welt blieb daher, selbst wenn sie wie in Japan nicht von außen erzwungen, sondern von innen her betrieben wurde, stets an der Oberfläche, sodass die jeweilige Einstellung zur Welt, zum Leben oder zur Kunst trotz der Übernahme moderner Technik und kapitalistischer Wirtschaftsformen weitgehend unberührt blieb. Wenn die Europäisierung wider Erwarten doch in kulturelle Tiefenschichten vordrang, entstanden jeweils heftige Abwehrreaktionen. Als Beispiele führt Scheler unter anderem Dostojewskis Verteidigung der orientalischen Wurzeln Russlands und Ku Hung-Mings Kritik europäischer Ideen an.17 Die Welt muss, wie Scheler bereits in seiner Kriegsphilosophie betont, als ein »Multiversum«18 heterogener »Kulturkreise«, die jeweils ihrer eigenen Entwicklungsdynamik folgen, verstanden werden. Auch wenn Asien der Geist moderner Wissenschaft für immer fremd bleiben wird, so fordern inzwischen nach Scheler vor allem Russland, China und Japan – gestützt auf moderne Wissenschaft und Technik – die geopolitische Vormachtstellung Europas heraus.19 Die eigentliche Ursache für den Niedergang der Weltstellung Europas liegt jedoch nach Scheler nicht in einer äußeren Bedrohung, sondern in einem innereuropäischen Machtkampf. Da die Außenpolitik zu einem Instrument der Interessen des Großkapitals geworden ist, sind die europäischen Großmächte über dynastische oder nationalistische Rivalitäten hinaus in einen heillosen Konkurrenzkampf um Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Kolonien getrieben worden. Was im Großen Krieg auf dem Spiel steht, ist, wie Scheler gegen französische und englische Kritiker betont, nicht die Überwindung einer deutschen Barbarei, sondern die Weltstellung Europas. »Dieser Krieg ist entweder der Anfang der Wiedergeburt Europas aus dem Moraste seiner kapitalistischen Versumpfung, oder er ist der Anfang seiner Auflösung und Beginn einer Weltepoche, in der es der Dienstbote der übrigen Welt, zuerst der Russen, in zweiter Linie der Gelben, werden, vom inspirierenden Genius der menschlichen Kultur aber zum Werkführer ihrer zivilisatorischen Unterlage herabsinken wird. Ein Drittes gibt es nicht!«20 Vgl. dazu Scheler: Der Genius des Krieges, S. 168, wo der Versuch, Japan auf der Stufe des europäischen Mittelalters zu situieren, zurückgewiesen wird. 17 Vgl. dazu ebd. S. 130, S. 162 f. und S. 166 f. Vgl. dazu Ku Hung-Ming: Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, Jena 1911; Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers. Notierte Gedanken, übers. v. E.K. Rashin, München 1992, S. 582–596. 18 Scheler: Der Genius des Krieges, S. 172 f. 19 Vgl. ebd., S. 38 f. 20 Max Scheler: »Europa und der Krieg«, in: ders.: Gesammelte Werke IV, S. 253. Im selben Sinn 16

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Die kulturelle Erneuerung Europas sollte nach Scheler von Deutschland und auch von Österreich-Ungarn, das vom kapitalistischen Geist noch nicht so stark durchdrungen war, ausgehen und in jedem Fall auch Frankreich miteinschließen. Die eigentlichen Kriegsgegner sind für Scheler daher Russland als imperialer Vorposten Asiens und England als Mutterland des Kapitalismus.21 In globaler Perspektive liegen Schelers Hoffnungen in einer »geordneten europäischen Weltpolitik«22, in der nationalistische, auch pangermanische Ideen zurückgestellt werden müssen, ohne jedoch auf imperiale Ansprüche gänzlich zu verzichten. »Daß Indien sich selbst regiere, schließen die inneren Gegensätze dieses Landes dauernd aus.«23 Für Deutschland erwägt Scheler eine maßvolle »Abrundung unseres afrikanischen Besitzstandes«24. Kurz: Der abstrakte Kosmopolitismus der Aufklärung soll einer Koexistenz zwischen den Kulturkreisen »der edleren und höhergearteten menschlichen Gruppen« weichen, deren imperiale Expansion im lebensimmanenten Prinzip »ursprünglicher Machtsteigerung in Erweiterung und Erformung der Um- und Wirkenswelt« begründet ist.25 In Frankreich ist nach Bergsons Kritik an der deutschen Barbarei die philosophische Debatte über den Ersten Weltkrieg vor allem von Paul Valérys Essay »Die Krise des Geistes« (1919) dominiert worden. Im Unterschied zu Scheler steht Valéry, der nach dem Krieg einer der gefragtesten Redner in Sachen Europa war, in der Tradition des neuzeitlichen Rationalismus, der vor allem von Leonardo da Vinci und Descartes auf dem Boden der griechischen Philosophie grundgelegt worden ist.26 Trotz der unterschiedlichen philosophischen Grundorientierung kommt Valéry in seinen Analysen über die Krise Europas Schelers Kriegsphilosophie zuweilen in erstaunlicher Weise nahe. Im berühmten Diktum »Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, daß wir sterblich sind«27 stellt Valéry den Verlust der globalen Vormachtstellung Europas ins Zentrum seiner Diagnose über die Krise des europäischen Geistes. Die europäischen Weltmächte können – dies hat nach Valéry der Krieg aufgedeckt – ebenso von der Bühne der Menschheitsgeschichte verschwinden »wie Elam, Ninive und Babylon«.28 Der geopolitische Machtverlust Europas hat – auch darin stimmt Valéry mit Scheler überein – zwei Ursachen, nämlich die Ausbreitung moderner Wissenschaft und Technik in andere Kulturräume,29 und die Rivalität zwischen den europäischen Imperien. Dies bedeutet: Das Diktum von der Sterblichkeit Europas entspringt, wie Valéry in einem Europa-Essay von 1927 nochmals hervorhebt, einer imperialen Nostalgie. »Europa besaß die Mittel, mit denen es sich albereits Scheler: Der Genius des Krieges, S. 190. 21 Zur Kritik an England vgl. ebd., S. 206–250. 22 Scheler: Europa und der Krieg, S. 261. 23 Ebd., S. 262. 24 Scheler: Der Genius des Krieges, S. 212. 25 Ebd., S. 34. 26 Olivier Bollacher: Geistiges Aristokratentum im Dienste der Demokratie: Thomas Mann und Paul. Valéry. Vergleich des politischen Denkens in den Jahren 1900–1945, Frankfurt/M. u. a. 1999, S. 82 ff. 27 Paul Valéry: »Die Krise des Geistes«, in: ders.: Werke VII: Zur Zeitgeschichte und Politik, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefelt, Frankfurt/M., Leipzig 1995, S. 26. 28 Ebd., S. 26. 29 Ebd., S. 37.

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les hätte botmäßig machen und regieren und auf europäische Ziele ausrichten können, was in der übrigen Welt war.«30 Durch innere Rivalitäten habe sich jedoch Europa diese »unschätzbare Gelegenheit entgehen lassen, und es hat nicht einmal rechtzeitig gemerkt, daß sie überhaupt bestand. Napoleon scheint der einzige gewesen zu sein, der ahnte, was kommen würde und was hätte unternommen werden können.«31 Die Antwort auf die Frage »Wird Europa seinen Vorrang auf allen Gebieten behaupten?«32 kann nach Valéry nur in einer tiefgreifenden Besinnung auf seine geistigen Quellen gefunden werden. Ohne die Bedeutung des Christentums und Roms zu negieren, kommt nach Valéry nichtsdestotrotz der methodischen Strenge des griechischen Geistes ein gewisser Vorrang zu.33 Die Zukunft Europas hängt folglich von der Freiheit des Geistes und der unersättlichen Neugier ab, in denen Wissenschaft nicht mehr bloß Produktionsfaktor in der Konkurrenz der Nationalökonomien ist, sondern wieder zum Selbstzweck wird. Kurz: Es waren »Argonauten des Geistes, unerschrockene Piloten, die sich weder in ihre Gedanken verfingen noch durch Eindrücke ablenken ließen«, die Europa über alle Weltkulturen erhoben haben, und, wie Valéry nicht ohne rassistische Nebentöne hinzufügt, »gleich weit entfernt [waren] vom ewig unbeständigen Neger wie vom in sich versunkenen Fakir.«34 Politisch kann die Erneuerung Europas hingegen nur durch eine Abkehr von nationalistischer Engstirnigkeit und imperialer Konkurrenz befördert werden. An dieser Stelle hatte Valéry bereits vor dem Krieg einen Blick auf China geworfen, das durch seine politische Weisheit über Jahrtausende hinweg die Einheit des Kaiserreiches bewahrt hatte.35 Kurz: Ausgestattet mit der politischen Weisheit Chinas wäre nach Valéry Europa heute unangefochtene Weltmacht.

II. Die Mexikanische Revolution und der Streit über die positivistische Modernisierung postkolonialer Gesellschaften Das südliche Amerika versinkt im 19. Jahrhundert zunächst in sozialer Anarchie. Inmitten der Bürgerkriege zwischen monarchistischen und republikanischen Gruppen entwirft Juan Bautista Alberdi, ein Mitglied der »Generación 1837«, das Konzept einer »filosofía americana«, in dem die Fortschrittsideen des europäischen Liberalismus im Licht der sozialen Verhältnisse vor Ort in kreativer Weise modifiziert werden.36 Da sich die liberalen Kräfte als Bollwerk der »Zivilisation« auf amerikanischem Boden verstehen, kehrt para-

Paul Valéry: »Notizen über den Niedergang Europas«, in: ders.: Werke VII, S. 166. Ebd., S. 166. 32 Valéry: Die Krise des Geistes, S. 34. 33 Ebd., S. 47–54. 34 Ebd., S. 35. Valéry bewunderte in früher Zeit Cecil Rhodes, vgl. dazu Bollacher: Geistiges Aristokratentum, S. 95. 35 Vgl. dazu Paul Valéry: »Yalu«, in: ders.: Werke VII, S. 159–172. 36 Vgl. dazu Raúl Fornet-Betancourt: »Die Frage nach der lateinamerikanischen Philosophie, dargestellt am Beispiel des Argentiniers Juan Bautista Alberdi«, in: ders. (Hg.): Philosophie und Theologie der Befreiung, Frankfurt/M. 1988, S. 49–64. 30 31

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doxerweise in der »filosofía americana« der Barbarendiskurs in neuer Gestalt wieder. In einer unkritischen Übernahme der rassistischen Implikate europäischer Fortschrittstheorien bekämpfen Juan Bautista Alberdi, aber auch Domingo Faustino Sarmiento,37 nicht mehr bloß die »Barbarei« der Indios, sondern auch der Mestizen und Kreolen, soweit sie noch dem kolonialen Erbe Spaniens und dem scholastischen Denken verhaftet sind. Da die liberalen Reformer die Anarchie nicht überwinden konnten, etablierten sich im späten 19. Jahrhundert in weiten Teilen des südlichen Amerika autoritäre Regime, die im Geist des Positivismus eine Modernisierung »von oben« durchsetzten.38 Die »tiranía honrada« von Porfirio Díaz, deren Politik von einer positivistischen Elite, den »científicos«, bestimmt wurde, öffnete in Mexiko die Tore für ausländisches Kapital und forcierte den Ausbau der Infrastruktur, insbesondere den Bau von Eisenbahnen. Nach der Enteignung der Kirchengüter, die bereits von der liberalen Regierung unter Benito Juárez vorgenommen worden war, löste Porfirio Díaz auch die gemeinwirtschaftlichen Agrarflächen (ejidos) auf, um eine exportorientierte Landwirtschaft zu fördern. Die Agrarreform führte zu einer extremen Konzentration des Eigentums an Grund und Boden. Auf den riesigen Haciendas gerieten die enteigneten Kleinbauern und Indigenas in eine neue Sklaverei, eine Entwicklung, die schließlich zum Sprengsatz für den Ausbruch der Mexikanischen Revolution wurde. Die positivistische Modernisierungsideologie ist allerdings bereits am Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand öffentlicher Kritik geworden. In seinem Essay »Nuestra América« (1891) hat José Martí die liberale und positivistische Verherrlichung westlicher Zivilisation in aller Schärfe zurückgewiesen. »Die Schlacht tobt« – wie Martí gegen Alberdi und Sarmiento programmatisch festhält – »nicht zwischen Zivilisation und Barbarei, sondern zwischen falscher Gelehrsamkeit«, d. h. der unkritischen Nachahmung europäischer Fortschrittsideen, »und der Natur«39, d. h. vor allem der indigenen Völker, ohne deren Einbeziehung sämtliche Modernisierungsprojekte zum Scheitern verurteilt sind. Das südliche Amerika kann sich nach Martí nur »mit seinen Indios retten«.40 Mehr noch: Da weder »das europäische noch das Buch der Yankees […] das Rätsel SpanischAmerikas zu lösen« vermochten, muss nach Martí eine »amerikanische Universität« gegründet werden, in der »die Geschichte Amerikas von den Inkas bis heute […] in allen Einzelheiten« erforscht wird, »auch wenn man auf die Geschichte der griechischen Archonten verzichten müßte.«41 Eine zweite Front gegenüber dem herrschenden Positivismus entstand durch den zunehmenden Einfluss von Nietzsche und Bergson auf das lateinamerikanische Denken. So geißelte z. B. José Enrique Rodó in »Ariel« (1900)42 den utilitaristischen Geist der USA. Domingo Faustino Sarmiento: Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga, Frankfurt/M. 2007. 38 Vgl. dazu Leopoldo Zea: El Positivismo en México, México 1978. 39 José Martí: »Unser Amerika«, in: Angel Rama (Hg.): Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende, Frankfurt/M. 1982, S. 59. 40 Ebd., S. 57. 41 Ebd., S. 60. 42 José Enrique Rodó: Ariel. Liberalismo y Jacobinismo. Ensayos, hg. v. Raimundo Lazo, México 1997. 37

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Sein Ruf zu einer Rückbesinnung auf die romanischen bzw. »lateinischen« Wurzeln löste eine kulturelle Jugendrevolte aus, die sich über den gesamten Kontinent ausbreitete. In Mexiko war vor allem das »Ateneo de la Juventud«, dem unter anderem Alfonso Reyes, Antonio Caso und José Vasconcelos angehörten, ein Zentrum der Positivismuskritik, das 1910 mit einer vielbeachteten Vorlesungsreihe in die Öffentlichkeit trat.43 Nicht zuletzt brach am Vorabend der Revolution auch innerhalb des liberalen und positivistischen Lagers eine Kritik an der Politik von Porfirio Díaz auf. Der positivistische Denker Andrés Molina Enríquez klagte in »Los grandes problemas nacionales« (1909) die Enteignung und Versklavung der Indigenas und Kleinbauern in aller Schärfe an. Die Latifundien haben nach Andrés Molina Enríquez die Produktivität der Landwirtschaft keineswegs erhöht. Im Gegenteil, mangels wirksamer Anreizsysteme seien sogar große Flächen in Brachland zurückverwandelt worden.44 In ähnlicher Weise kritisierte Luis Cabrera aus einer liberalen Perspektive die neofeudalen Verhältnisse auf den Haciendas, die die Bildung einer Gesellschaft freier Bürger systematisch untergruben. Sowohl Molina Enríquez als auch Cabrera forderten eine partielle Aufteilung der Haciendas, mit dem Ziel, eine kleinbäuerliche Agrarwirtschaft aufzubauen. Die liberale und positivistische Kritik am Porfiriat bildete die ideologische Grundlage der sogenannten Konstitutionalisten, die aus den Kämpfen schließlich siegreich hervorgingen. Doch die Mexikanische Revolution speiste sich nicht bloß aus philosophischen Ideen, sondern war, wie Octavio Paz hellsichtig diagnostizierte, auch ein elementarer »Ausbruch der Wirklichkeit«45, genauer ein Aufstand der marginalisierten Gruppen der mexikanischen Gesellschaft. Im Casa de Obrero organisierte sich die Arbeiterschaft, die durch die positivistische Modernisierungspolitik überhaupt erst als eigenständige Klasse entstanden war. Nicht zuletzt erhoben sich unter der Führung von Emiliano Zapata auch die Indigenas, die vor allem um die Rückgabe der ejidos und um kulturelle Autonomie abseits von Staat und kapitalistischer Ökonomie kämpften.46 Trotz aller ideologischen Differenzen gibt es zwischen den revolutionären Gruppen gleichwohl eine gemeinsame Interessensphäre, nämlich die Bodenreform. Die Verfassung von 1917 stellte denn auch in Artikel 27 die Unantastbarkeit des Privateigentums im Namen des nationalen Gemeinwohls in Frage.47 Strittig waren allein die Ziele der Umverteilung von Grund und Boden. Liberale und Positivisten versuchten durch eine kleinbäuerliche Privatwirtschaft einen Mittelstand zu schaffen; die Zapatisten kämpften hingegen für die Wiederherstellung der gemeinwirtschaftlichen ejidos als ökonomischer Basis für eine selbstbestimmte Fortführung indigener Lebensformen.

Vgl. dazu Antonio Caso et al: Conferencias del Ateneo de la Juventud, 3. ed. revisada y aumentada, México 2000. 44 Vgl. dazu Luis Barrón: »La ›modernización‹ revolucionaria del discurso político liberal: el problema argrario entre 1895 y 1929«, in: Ignacio Marvan Laborde (Hg.): La Revolución Mexicana 1908–1932, México 2010, S. 124 ff. 45 Paz: Das Labyrinth der Einsamkeit, S. 147. 46 Vgl. dazu John Womack: Zapata y la Revolución Mexicana, México 1969. 47 Vgl. dazu Tobler: Die mexikanische Revolution, S. 306–333. 43

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III. Nach dem Ende der Gewalt: Inseln eines globalen Dialogs über die Moderne Durch den geopolitischen Machtverlust Europas öffnet sich nach dem Großen Krieg ein Freiraum für neue interkulturelle Begegnungen, in denen einerseits der kosmopolitische Geist um 1900 zu neuem Leben erwacht, andererseits auch neue Dialogforen entstehen, in denen die Philosophien Europas, Asiens und auch Lateinamerikas in einen realen Diskurs eintreten. Der mexikanische Philosoph, Schriftsteller und Erziehungsminister José Vasconcelos initiierte von 1922 bis 1924 eine umfassende Reform des Bildungswesens, die einerseits im Geist des »Ateneo de la Juventud« die positivistische Kulturpolitik zurückdrängte, andererseits das romanische Erbe und die Kulturen der indigenen Völker aufwertete. Das Denken von Vasconcelos beschränkt sich jedoch nicht auf die Probleme des postrevolutionären Mexiko. Noch vor Jaspers’ Theorie der Achsenzeit entwirft Vasconcelos eine Philosophiegeschichte, in der neben Europa auch Indien und China als Geburtsorte der Philosophie anerkannt und auch das Denken (pensamiento) des alten Ägypten und Israels in die Genese der Philosophie miteinbezogen werden.48 In den »Estudios indostanos« (1921), einer ausführlichen Darstellung der indischen Philosophie, stützt sich Vasconcelos auf die Arbeiten von Swami Vivekananda, einem der Gründungsväter des Neohinduismus. Nicht zuletzt entwirft Vasconcelos in »La raza cósmica« (1925)49 die Utopie einer Vermischung aller Rassen als Konsequenz neuzeitlicher Globalisierungsprozesse. In der lateinamerikanischen mestizaje, die aus der europäischen Eroberung der amerindischen Kulturen, dem Sklavenhandel aus Afrika und der Immigration von Japanern und Chinesen am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, ist nach Vasconcelos nicht weniger als die Zukunft der Menschheit in antizipativer Form bereits Wirklichkeit geworden. In Deutschland vollzieht Max Scheler neben Georg Misch, Karl Jaspers u. a. eine Wende hin zu einem interkulturellen Denken. Europa muss – dies ist Schelers bemerkenswerte Diagnose nach dem Ende des Großen Krieges – den Anspruch auf globale Hegemonie endgültig aufgeben.50 Die von Europa ausgehende Globalisierung führt, wie Scheler in seinem späten Vortrag »Das Zeitalter des Ausgleichs« (1927) ausführt, nicht bloß zu einer äußerlichen Ausbreitung von Wissenschaft und Technik, sondern auch zu einer kulturellen Befruchtung zwischen den Völkern der modernen Weltgesellschaft.51 In sachlicher Vgl. dazu José Vasconcelos: Historia del pensamiento filosófico, México 1937. José Vasconcelos: La raza cósmica. Misión de la raza iberoamericana. Argentina y Brasil, México 1988; eine deutsche Übersetzung des ersten Teils findet sich in Rama: Der lange Kampf Lateinamerikas, S. 140–157. 50 »Nie mehr wieder wird Kontinentaleuropa jene die Weltzivilisation beherrschende absolute Pionierstellung wiedergewinnen, die es in einem Zeitalter welthistorisch ausnahmsweise günstiger weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Konjekturen der letzten Ära vor dem Kriege besessen hat« (Max Scheler: »Die Wissensformen und die Gesellschaft«, in: ders.: Gesammelte Werke VIII, hg. v. Maria Scheler, 2. Auflage, Bern 1960, S. 185). 51 »Eine wahrhaft kosmopolitische Weltphilosophie ist im Werden – zum mindesten ist die Grundlage für eine Bewegung im Werden, die auch die uns lange völlig fremden obersten Daseins- und Lebensaxiome der indischen Philosophie, der buddhistischen Religionsformen, der chinesischen und japani48 49

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Nähe zu Vasconcelos entwirft Scheler die Vision von einem »Ausgleich der Rassenspannungen«, ja selbst der »Mentalitäten«, d. h. »der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der großen Kulturkreise, vor allem Asiens und Europas.«52 Im Zeitalter des Ausgleichs sind sämtliche Kulturkreise, einschließlich Europa, zu einer inneren Klärung ihrer geistigen Quellen gezwungen, die, wie Scheler in sachlicher Parallele zu Martís universidad americana fordert, Aufgabe einer europäischen Gesamtuniversität wäre.53 Obwohl Vasconcelos und Scheler das Zeitalter des Imperialismus gleichsam durch den Geist der Utopie überwinden, bleiben in den überschwänglichen Visionen einer neuen Einheit der Menschheit rassistische Wertungen noch präsent. Bei Vasconcelos geht z. B. die indianische Rasse, die ihre Blütezeit vor Kolumbus hatte, in der kosmischen Rasse ohne sichtbare Spuren auf.54 In ähnlicher Weise warnt Scheler trotz der Überzeugung, dass »ein Ausgleich zwischen Weißen und Farbigen […] notwendig kommen« werde, vor problematischen Rassenmischungen, in denen »nach den Erfahrungen der Wissenschaft« nicht »wertsteigernd sich ergänzendes Blut zusammenkommt«, sondern »zur Werterniedrigung des Typus führendes Blut sich mischt.«55 Auch in Frankreich öffnen sich nach 1918 die Tore für einen weltweiten Dialog der Philosophien. Im Umkreis des Völkerbunds entstehen in der »Comission des Lettres et Arts« und der »Commission internationale de la coóperation intellectuelle« unter maßgeblicher Beteiligung von Paul Valéry bedeutsame Inseln eines globalen Dialogs der Philosophien, an dem unter anderen Rabindranath Tagore (Indien), Alfonso Reyes (Mexiko) und Tsaï Yuan Peï (China) teilnehmen.56 In diesem Kontext wird Valéry plötzlich mit einer konkreten Interpellation von außen konfrontiert. Die mexikanische Zeitschrift sintesis bittet Valéry um eine Stellungnahme zu seinem Diktum von »Amerika als Projektion des europäischen Geistes«, das in Lateinamerika unweigerlich Erinnerungen an Hegels abwertendes Urteil über Amerika als bloßem »Widerhall der Alten Welt« auslöst. In seiner Antwort knüpft Valéry nochmals an die Diagnose von der Sterblichkeit Europas an, die in den 1930er Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt habe. Im Gegenteil: »Alles, was seither vor sich gegangen ist, hat« – so Valéry – »diese von mir aufgezeigte tödliche Gefahr nur noch anwachsen lassen.«57 Sichtlich bedrückt von düsteren Vorahnungen schen Weistümer nicht nur historisch registriert, sondern gleichzeitig sachlich prüft und sie zu einem lebendigen Element im eigenen Denken gestaltet.« (Max Scheler: »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs«, in: ders.: Gesammelte Werke IX, hg. v. Manfred Frings, Bern, München 1976, S. 159 f.). Vgl. dazu Wolfhart Henckmann: »Schelers Idee von Europa im ›Weltalter des Ausgleichs‹« in: Zeitschrift für Politik 44 (1997), S. 129–148. 52 Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, S. 152 f. Bereits vor 1918 hatte Scheler sein Bild von Russland als Vorposten asiatischer Barbarei korrigiert; Russland erscheint plötzlich sogar wesensverwandt mit der deutschen Kultur. Vgl. dazu Max Scheler: »Probleme einer Soziologie des Wissens«, in: ders.: Gesammelte Werke VIII, S. 186 f. 53 Vgl. Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 88 ff. 54 Vgl. dazu Vasconcelos: Die kosmische Rasse, S. 151. 55 Scheler: Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs, S. 153. 56 Vgl. dazu Paul Valéry: »Für eine ›Societé des Esprits‹. Brief an S. de Maradiaga« (1933), in: Werke VII, S. 440–449; Bollacher: Geistiges Aristokratentum, S. 315 ff. 57 Paul Valéry: »Amerika – Projektion des europäischen Geistes [1938]«, in: Werke VII, S. 328.

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unmittelbar vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wendet sich Valérys Blick plötzlich in beschwörender Weise auf Amerika: »Jedesmal, wenn sich meine Gedanken allzusehr umdüstern und ich an Europa verzweifeln will, finde ich ein wenig Hoffnung nur im Gedanken an den neuen Kontinent.« Denn Europa hat nach Valéry »in die beiden Teile Amerikas seine Botschaften entsandt«. Mehr noch: Trotz aller kolonialen Gewalt haben »die mitteilbaren Schöpfungen seines Geistes« in einem »großenteils noch jungfräulichen Boden […] Wurzeln geschlagen«, so dass in der Zukunft Kreuzungen mit indigenen Traditionen, z. B. der autochthonen Kunst Mexikos, zu erwarten seien.58 Mit der Verschmelzung zwischen europäischen und indigenen Traditionen, wie z. B. der autochthonen Kunst Mexikos, verbindet Valéry schließlich die verzweifelte Hoffnung auf ein Fortleben des europäischen Geistes auf amerikanischem Boden. »Falls Europa denn erleben müßte, daß seine Kultur dahingeht […] so ist ein gewisser Trost, eine gewisse Hoffnung in dem Gedanken beschlossen […] es mag hier oder dort in der Neuen Welt Menschen des Geistes geben, durch die einigen der wundervollen Schöpfungen der unglücklichen Europäer ein zweites Leben vergönnt sein könnte.«59 Valérys verzweifelter Blick auf Amerika blieb nicht unerwidert. Alfonso Reyes, ein Mitglied des Ateneo in Mexiko, umreißt in seinem Essay »Paul Valéry contempla a América«60 mit vier Stichworten den ominösen »Ort«, an dem nach Valéry der europäische Geist überleben soll: der Sozialismus verweist auf das zeitgenössische politische Problem, d. h. die soziale Spaltung der amerikanischen Gesellschaften; der Utopismus steht für die Hoffnungen, die mit der Kolonisierung Amerikas verbunden waren; im Amerikanismus bekundet sich der Glaube der unabhängigen Staaten, einen Beitrag für die Welt zu leisten; im Humanismus drückt sich schließlich der Sinn für die Kontinuität der menschlichen Eroberungen aus, in der die Würde des menschlichen Geistes selbst residiert.61 Die eigentliche Differenz zwischen Amerika und Europa liegt jedoch nach Alfonso Reyes im Tempo bzw. im Rhythmus. Denn das südliche Amerika musste immer »von der Hand in den Mund leben, Abkürzungen nehmen […] um mit der Geschichte gleichzuziehen.« Die Beweglichkeit des amerikanischen Geistes hat stets »Züge der Improvisation, die manchmal zu Inspirationen werden, und einen gewissen Impuls zur Synthese […] und zur schnellen und ungeduldigen praktischen Verifizierung.«62 Neben den intellektuellen Foren im Umkreis des Völkerbundes entstehen auch im Marxismus interkulturelle Dialogprozesse, einerseits in der 1919 von Roman Rolland und Henri Barbusse gegründeten Vereinigung »Clarté«, andererseits in der III. Internationale, in der zum ersten Mal auch marxistische Bewegungen des Mittleren und Fernen Ostens, des Maghreb und Lateinamerikas präsent sind. In Lateinamerika entwickelte der Peruaner José Carlos Mariátegui, der sowohl in der Clarté als auch in der III. Internationale engagiert war, in den 1920er Jahren einen spezifisch lateinamerikanischen Marxismus, der die deterministische Geschichtsphilosophie 58 59 60 61 62

Ebd., S. 328 f. Ebd., S. 328 f. Alfonso Reyes: »Última Tule«, in: ders. (Hg.): Obras completes XI, México 1960, S. 103–105. Vgl. dazu ebd., S. 104. Ebd., S.104 f.

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und den materialistischen Atheismus des orthodoxen Kommunismus hinter sich ließ. Für Mariátegui markiert die Mexikanische Revolution, die das Problem des Indio und der Bodenreform aufgeworfen hat, einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Hispanoamerikas.63 Die revolutionären Umbrüche im südlichen Amerika müssen jedoch nach Mariátegui stets im Kontext der globalen Ereignisse analysiert werden.64 Wie Scheler und Valéry diagnostiziert auch Mariátegui einen epochalen Machtverlust Europas durch den Aufstieg Japans und Russlands. Der Große Krieg (La Gran Guerra) ist nach Mariátegui vor allem durch das aufstrebende Deutschland, das zu einem Rivalen des Britischen Imperiums aufgerückt ist, ausgelöst worden. Der Niedergang der Weltstellung Europas eröffnet jedoch nach Mariátegui für die außereuropäische Welt neue Wege der Freiheit. Aus diesem Grund muss bereits die Mexikanische Revolution in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang mit den revolutionären Kämpfen in Russland, der Türkei, in China und Indien gesehen werden. Aus dem machtpolitischen Niedergang Europas dürfen allerdings nach Mariátegui im Bereich der Philosophie keine vorschnellen Konsequenzen gezogen werden. Gewiss: Die außereuropäische Welt muss sich vom europäischen Rassismus befreien, der nach Mariátegui bislang verhinderte, »das Problem des Kampfes um die nationale Unabhängigkeit in den amerikanischen Ländern mit hohem Anteil an eingeborener Bevölkerung mit dem gleichen Problem in Asien oder Afrika in Zusammenhang zu bringen.«65 So wichtig der Prozess einer geistigen Dekolonisierung ist, so kurzschlüssig wäre nach Mariátegui eine vollständige Abkoppelung von der europäischen Philosophie, wie dies zu seiner Zeit z. B. die argentinische Gruppe um Alfredo Lorenzo Palacios propagierte. Trotz der tiefen Krise, in der sich der europäische Geist befindet, ist nach Mariátegui Europa keineswegs »wie man absurderweise behauptet, erschöpft und paralysiert.«66 Da die hispanoamerikanische Philosophie noch im Stadium der Ausarbeitung ist, bleibt nach Mariátegui die europäische Philosophie bis auf Weiteres primäre Inspirationsquelle.67 Auch die realgeschichtlichen Umwälzungen des frühen 20. Jahrhunderts lassen sich nach Mariátegui nicht ohne den Geist Europas verstehen. Denn in der jüngeren Geschichte setzte nicht bloß eine Diffusion europäischer Wissenschaft und Technik ein, in der im Übrigen auch Mariátegui eine der Ursachen für den Niedergang der Weltstellung Europas sieht, sondern auch eine Ausbreitung der Freiheitsideale der Französischen Revolution. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die paradoxe Situation, dass in der Zeit

63 Vgl. dazu José Carlos Mariátegui: Sieben Versuche, die peruanische Wirklichkeit zu verstehen, Berlin, Freiburg (Schweiz) 1986, S. 35–92 (Indioproblem und Bodenfrage). 64 Zum Folgenden vgl. José Carlos Mariátegui: »Veinticinco años de succesos extranjeros«, in: ders.: Obras, I, hg. v. Francisco Baeza, 2 Bde., Habana 1982, S. 295–318. 65 José Carlos Mariátegui: »Das Problem der Rassen in Lateinamerika«, in: ders.: Revolution und peruanische Wirklichkeit. Ausgewählte politische Schriften, hg. von Eleonore v. Oetzen, Frankfurt/M. 1986, S. 116. 66 Vgl. dazu Carlos Mariátegui: «¿Existe un pensamiento hispanoamericano?«, in: José Carlos Mariátegui. Textos básicos, hg. v. Aníbal Quijano México 1995, S. 368. 67 Ebd., S. 366 f.

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nach dem Großen Krieg die Völker Asiens, Afrikas und Hispanoamerikas für Demokratie und Menschenrechte kämpfen, während in Europa die Ideen von Freiheit und Gleichheit von faschistischen Bewegungen offen verhöhnt werden. »Die Freiheit, die von einigen Völkern Europas verabschiedet worden ist, scheint« – so Mariátegui – »zu den Völkern Asiens und Afrikas emigriert zu sein. Regeneriert durch einen Teil der weißen Menschen, scheint sie neue Schüler bei den farbigen Menschen gefunden zu haben.«68 Mit der Emigration in koloniale Welten gewinnt nach Mariátegui auch die Idee der Gleichheit, die in Europa sowohl durch den Kapitalismus als auch den Imperialismus negiert worden ist, plötzlich ein neues weltpolitisches Gewicht. »Die Freiheit war schon nach Ägypten geflohen. Sie reiste durch Afrika, Asien und einen Teil Amerikas. Sie rüttelte die Hindus, die Perser, die Türken und die Araber auf. Verbannt von der kapitalistischen Welt, nahm sie ihr Quartier in der kolonialen Welt. Ihre kleine Schwester, die Gleichheit, war in Russland siegreich, sie unterstützte diese Aktion. Die farbigen Menschen bewahrten sie seit langer Zeit. Und jetzt liebten sie sie leidenschaftlich.«69 Aus der Fülle weltgeschichtlicher Analysen, die hier nicht detailliert dargestellt werden können, sei exemplarisch auf Mariáteguis Deutung des indischen Unabhängigkeitskampfes hingewiesen, in der zwar Gandhi als religiöser Reformer gewürdigt, jedoch zugleich die Idee einer Rückkehr zu vormodernen Wirtschaftsformen als eine gefährliche Illusion kritisiert wird. Die europäische Zivilisation dürfe zudem nicht, wie Mariátegui mit Rabindranath Tagore betont, auf einen materialistischen Utilitarismus reduziert werden.70

Schlussbemerkung Im Umfeld der Mexikanischen Revolution und des Ersten Weltkriegs kommt es sowohl in der lateinamerikanischen als auch in der europäischen Philosophie zu bedeutsamen interkulturellen Öffnungen. In der europäischen Philosophie setzt bereits um 1900 ein vorsichtiger Abbau imperialer Denkstrukturen ein, der nach 1918 vielfältige Fortsetzungen erfährt. Für die lateinamerikanische Philosophie eröffnet hingegen die Mexikanische Revolution einen neuen Zugang zur kulturellen Vielfalt im südlichen Amerika. Doch erst in den 1920er Jahren entstehen Dialogprozesse, in denen Europa die Jahrhunderte alten Barrieren gegenüber dem lateinamerikanischen Denken abbaut und sich in einen globalen Diskurs über die Moderne einbringt. Wenn die »Philosophie der Zukunft«, wie Michel Foucault betont hat, »außerhalb Europas« oder »als Folge von Begegnungen und Erschütterungen zwischen Europa und Nicht-Europa entstehen«71 wird, dann hat die Philosophie 68 José Carlos Mariátegui: »La Libertad y el Egypto«, in: ders.: Obras, II, hg. v. Francisco Baeza, 2 Bde., Habana 1982, S. 36. 69 Ebd., S. 37. 70 Vgl. dazu José Carlos Mariátegui: »El mensaje de Oriente«, in: Obras, I, S. 382–400. 71 Michel Foucault: »Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel«, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, , Bd. 3, hg. v. Daniel Defert u. a., Frankfurt/M. 2003, S. 781.

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Kolloquium 26 · Hans Schelkshorn

der Zukunft bereits in den 1920er Jahren ihr Haupt kurz erhoben, bevor die Menschheit erneut in einer bis dahin unvorstellbaren Barbarei versunken ist.

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Das Private Recht als Erbe der Moderne und die Herausforderung des Rechtspluralismus im Licht der islamischen Rechtskultur Azelarabe Lahkim Bennani (Fès)

Einführung Die Philosophie, und speziell die praktische Philosophie versucht, das individuelle und soziale Verhalten durch den Rekurs auf normative Prinzipien zu verstehen. Wir können Handlungen, soziologisch gesehen, durch die Idee des sozialen Drucks erklären. Jedoch ist die soziale Gesellschaft keine Ameisengesellschaft. Denn der Mensch sucht gleichzeitig Kooperation mit anderen und Selbstbestimmung. Er ist gehorsam und kämpft für Ideale, die seiner persönlichen Moral entsprechen. Deshalb ist die praktische Philosophie auf der Suche nach einer sozialen Philosophie, welche erklären soll, wie der Mensch sein Verhalten an Hand der Normen, die er befolgen soll, koordiniert, damit er seine Autonomie mit dem gemeinschaftlichen Zusammenleben vereinbaren kann. Es gibt gesellschaftliche Normen, die auf Grund des sozialen Drucks der Gemeinschaft auf den Einzelnen befolgt werden. Es gibt religiöse wie moralische Normen. Die Gesellschaften sind auch von politischen Mächten beherrscht, die solche Normenkonflikte wie Proteste, Ungehorsam, Unsicherheit und Instabilität mehr oder weniger erfolgreich überwinden. Ich begnüge mich in diesem Beitrag damit, einige Aspekte der normativen sozialen Regelungen zu diskutieren, welche die Grundlage der traditionellen arabischen Gesellschaften darstellen. Selbstverständlich benötigen wir umfangreiches Material von Theologen, Juristen, Sozialanthropologen und Soziologen, das uns hilft, die normativen Konstellationen der Gesellschaft zu rekonstruieren. Angesichts der vielen Kriterien, die in Betracht kommen, stellen die Normen der Religion nur einen Teil der sozialen Normierungen dar, welche die Gesellschaft steuern, wie etwa die gewohnheits- bzw. juristischen Normierungen. Verschiedene Arten von Normierungen können in einem Gleichgewicht existieren. Der Islam z. B. vermochte nicht, die anderen Typen von Normen zu eliminieren, denn er war selbst gezwungen, sich den damaligen sozialen Gegebenheiten anzupassen. Die religiösen Normen wurden den in nichtarabischen Gemeinschaften regional geltenden sozialen Normen untergeordnet und konnten den Rechtspluralismus nicht beseitigen. Ich werde im Laufe dieses Beitrags auf die Vorteile des Rechtspluralismus eingehen. Aber er kann – das ist die Kehrseite – zur Doppelmoral führen, wenn er außerhalb der Rahmenbedingung der Menschenrechte in Betracht gezogen wird.

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Der Gerechtigkeitssinn in den traditionellen Gesellschaften Die traditionellen Gesellschaften hatten einen so begrenzten Zugang zur Schule, dass die Kultur der mündlichen Überlieferung allein vorherrschend war. In diesem Kontext wurde der Islam mündlich überliefert. Die sozialen Normierungen waren so organisiert, dass der Islam sich an die Grenzen einer analphabetischen Gesellschaft anpassen sollte. Die orthodoxen Theologen glauben, dass die soziale Grundlage den Islam verfälscht hätte und damit seine vorrangige Rolle in der sozialen Normierung vernachlässigt wurde. Die Legende besagt, dass diese Leute weder lesen noch schreiben konnten. Trotz all dieser Hindernisse sind aber die nötigen Kompetenzen für soziale Normierung erhalten geblieben. Darunter fällt die Kompetenz, dass der Mensch einen Sinn für Gerechtigkeit hat. John Rawls veranschaulichte diese Kompetenz an Hand des Gedankenexperiments des Urzustandes (original position) und des Schleiers des Nichtwissens. Man darf aber aus einer anderen Perspektive sagen, dass nach einem überlieferten Spruch Menschen zwar ignorant geboren, aber erst durch Ausbildung dumm geworden sind. Sie wissen am Anfang noch nicht, worin ihre Interessen in Wirklichkeit liegen, aber sie trachten nach einer formalen Gerechtigkeit, welche durch die Grenzen ihrer sozialen Ausbildung beschränkt erscheint. Sie stabilisieren ihre Anspruchserwartungen durch gemeinschaftliche Regeln der Gerechtigkeit, um Interessenkonflikte zu überwinden. »Wo es keine Interessenkonflikte gibt, da besteht kein Bedürfnis nach Gerechtigkeit.«1 Es ist nicht dafür gesorgt, dass das Ideal des Gerechtigkeitssinns in den traditionellen Gesellschaften – im Gegensatz zu den modernen Gesellschaften – »öffentlich vorgeführt und gefördert wird.«2 In den modernen Gesellschaften haben die Schulausbildung sowie die Verankerung der Menschenrechte als Ideal der sozialen Normierung dazu geführt, dass Gleichheit vor dem Gesetz die Gleichheit vor Gott ersetzte – abgesehen von der Tatsache, dass die beiden Formen von Gleichheit keine Gleichheit der Menschen in Bezug auf die Aufteilung der Grundgüter zur Folge haben. Diese verschiedenen Formen von Gerechtigkeit spiegeln entsprechende Formen der normierten Gesellschaften wider, welche die Frage der Gleichheit der Menschen untereinander unberührt lassen. Die Frage der Gerechtigkeit erfährt sich anhand der gravierenden Probleme, die auf Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit basieren, noch mehr zugespitzt.3 Die formale Gleichheit, die theologisch-religiöse vor Gott wie die positivistisch-rechtliche vor dem Gesetz, setzt keine einheitliche Auffassung der Gerechtigkeit voraus. Der Streit zwischen den beiden geht in der islamischen Welt weiter und gilt als Nährboden für Formen einer Doppelmoral, welche die formale Gleichheit und die verschiedenartig gestaltete Ungerechtigkeit nebeneinandersetzt. Die rechtlich-positivistisch normierten Gesellschaften erheben den Anspruch, die Erfordernisse der positivierten Menschenrechte zu erfüllen. Die religiös inspirierten Gemeinschaften erheben im Namen der Gerechtigkeit den Anspruch auf Beachtung ihrer kulturellen Identität. Das Gewohnheitsrecht koexistiert durch verschiedene Vermittlungswege mit dem positiven Recht in den islamischen Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000, S. 15. John Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 4. Auflage, Frankfurt/M. 2014, S. 97. 3 Rawls gesteht zu, dass dies eine Lücke in der Theorie der Gerechtigkeit darstellt (vgl. Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß, S. 111). 1 2

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Ländern. Das Privatrecht in den jeweiligen Rechtsordnungen entspricht den Interessen und Präferenzen der individuellen Rechte, die allein aufgrund von gegenseitigen Vereinbarungen angesprochen werden dürfen. Die Prominenz des Privatrechts in den verschiedenen Rechtskulturen macht nur dann Sinn, wenn die Bürger »einander als freie und gleiche Personen anerkennen«.4 Ansonsten müssen sie »von den Grundinstitutionen erzogen und zur Einsicht in diese Auffassung ihrer selbst gebracht werden.«5 Der Rechtspluralismus soll das öffentliche Recht, bzw. die positivierten Menschenrechte sowie die Grundrechte des Bürgers schützen, um eine Doppelmoral zu vermeiden.

Das Private Recht Die Gesellschaften der islamischen Welt sind von verschiedenen Normen beherrscht. Die religiösen Normen und die Gewohnheiten treten den rechtlichen Normen zur Seite. Sie alle erheben den Anspruch, dem ›Recht‹ beigeordnet zu sein. Außerdem liegt eine Ambiguität zwischen dem ›Recht‹, das aus der subjektiven Freiheit stammt, und dem ›Gesetz‹, das aus einem empirischen Allgemeinwillen heraus zum Ausdruck kommt, vor. Eine weitere Verwirrung wird von der Religion erzeugt, wenn sie glaubt, dass das Recht die gut Handelnden belohnt. Im Gegensatz zum modernen Recht glaubt die Religion, dass der Rechtsgehorsam nur dadurch gesichert wird, dass der rechtskonform Handelnde im Jenseits für seinen wohlwollenden Rechtsgehorsam belohnt werde. Das Recht in diesem Sinne zwingt nicht, aber der Gesetzgeber belohnt dessen Befolgung. Eine ähnliche Art von Zweideutigkeit wird von Kant erwähnt: »Mit jedem Recht in enger Bedeutung (ius strictum), ist die Befugnis zu zwingen verbunden. Aber man denkt sich noch ein Recht im weiteren Sinne (ius latum), wo die Befugnis zu zwingen durch kein Gesetz bestimmt werden kann. – Dieser, wahren oder vergeblichen, Rechte sind nur zwei: die Billigkeit und das Notrecht.«6 Die religiöse Belohnung der tugendhaften und die Bestrafung der bösen Handlungen verneint, dass das menschliche Geschlecht »im Fortschreiten zum Besseren in Ansehung des moralischen Zwecks seines Daseins begriffen sei, und dass dieses zwar bisweilen unterbrochen, aber nie abgebrochen sein werde.«7 Der von Kant prophezeite Fortschritt des menschlichen Geschlechts hat im Auge seiner Anhänger im Lichte der Entwicklung der positivierten Menschenrechte stattgefunden. Wolfgang Kersting setzt auf ein Mindestmaß solcher Rechte, speziell auf die politische Freiheit. »Sie vermittelt Recht und Gesetz, sie ist das Medium der Positivierung des angeborenen Freiheitsrechts, durch sie wird die im Rechtsgesetz gedachte Freiheitsordnung auf rechtlichem Wege und unmittelbar in

Ebd., S. 97. Ebd., S. 97. 6 Immanuel Kant: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Berlin 1988, S. 40. 7 Ebd., S. 281. 4 5

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eine Gesetzesordnung überführt.«8 Kant hat das Recht als Postulat der reinen praktischen Vernunft begriffen, infolge der Subjektivierung des Rechts, der Ablehnung des materiellethischen Konzepts des Rechts und der konkreten Herrschaft des allgemeinen Willens, bzw. des Staates. Das Recht wird dadurch zum allgemeinen und abstrakten Verfahren der Rechtserzeugung und gilt damit als Grundlage für das öffentliche Recht und Völkerrecht.9 Die einfachen Leute erwarten von dem Recht, dass es für mehr Gerechtigkeit sorgt, denn für sie gehen Recht und Gerechtigkeit eng zusammen. Das theologische Recht ist deswegen attraktiv geworden, weil es für Rechtspflichten und ethische Gesetze sorgt, welche durch Bestrafung und Belohnung sanktioniert werden. Die Gerechtigkeit ist ein Anspruch, der nicht allein prozedural zu befriedigen ist. Die prozedurale Definition der gesetzgebenden Gewalt spricht Rousseau und Kant eine formale Auffassung der Gerechtigkeit zu: »Nicht die Übereinstimmung mit materialen Gerechtigkeitsnormen qualifiziert die Gesetze eines Gemeinwesens als gerechte, sondern die Art und Weise ihrer Entstehung. Die Gerechtigkeit eines Gesetzes wird durch das Verfahren seiner Erzeugung garantiert.«10 Deshalb kommt bei Kersting dem Recht absoluter Vorrang vor der Ethik zu. Denn das Recht »spannt sich wie ein Filter vor die Tugendäußerungen und lässt nur die passieren, die mit dem Rechten in Übereinstimmung stehen. An den Bestimmungen der Gerechtigkeit hat die Gültigkeit ihre Grenze.11 Aus diesem Grund ist bei Kant die Rechtmäßigkeit und Vereinbarkeit mit dem Vernunftrecht am Beispiel des Privatrechts dargestellt. »Privathistorisch ist der ›Vorrang‹ des Privatrechts vor dem Verfassungsrecht das ursprüngliche Verhältnis.«12 Z. B.: »Die Privatautonomie des BGB ist durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit keine andere geworden, ebensowenig wie das ›Eigentum‹ usw. In die Verfassung sind diese Grundwerte aus denselben Gründen hineingekommen, die bereits maßgebend dafür waren, dass sie Basis für die Gestaltung des Zivilrechts waren, nämlich deshalb, weil sie mit dem Anwachsen der Zivilisation deren allgemeinem Menschenbild entsprachen.«13 Man darf daran zweifeln, ob die Priorität der Vertragsfreiheit vor dem öffentlichen Recht alle herkömmlichen, sog. objektiven Werte wie das Inzestverbot beseitigen würde. Die Wolfgang Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Paderborn 2007, S. 290. 9 Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau, die nach der Interpretation Kerstings den gegenteiligen Weg eingeschlagen und das öffentliche Recht als Grundlage für das private angesetzt haben (vgl. Kersting: Wohlgeordnete Freiheit, S. 275 und S. 279). 10 Vgl. ebd., S. 312. 11 Vgl. ebd., S. 154. 12 Uwe Diederichsen: »Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem Privaten Recht«, in: Christian Starck (Hg.): Rangordnung der Gesetze, 7. Symposion der Kommission »Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart« am 22./23. April 1994, Göttingen 1995, S. 61. 13 Ebd., S. 72. 8

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Vertragsfreiheit bleibt als ein Grundrecht bestehen, solange sie das Überleben der Menschen und die Grundgüter nicht gefährdet. In diesem Sinne spannen sich die Menschenrechte wie ein Filter vor die gesetzesgebende Gewalt und die Vertragsfreiheit und lassen nur solche Vertragsfreiheiten zu, die mit den Grundrechten in Übereinstimmung liegen. Die Menschenrechte, im subjektiven Sinne als von den Bürgern gegen den Staat erhobene Ansprüche, fungieren als Kriterien der Gerechtigkeit des inneren Rechts. Deshalb sind die Menschenrechte als gemeinsames Gut der Menschheit anerkannt, welches nicht ein für alle Mal festgelegt ist, sondern um neue Rechte (durch die Beteiligung aller Kulturen) vermehrt wird. Gerechtigkeit wird dann durch den Filter der Rechtmäßigkeit und die Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Gut der Menschenrechte gesichert. Das angestrebte Ziel ist es, die Schere zwischen Recht und Gerechtigkeit zu verringern, um die Doppelmoral möglichst zu reduzieren. Die Einführung der Menschenrechte konnte diese Aufgabe bislang nur partiell erfüllen. Die islamischen Länder haben die Charta der Menschenrechte von 1948 ratifiziert. Die Menschenrechte sind zwar in den jeweiligen Grundgesetzen »verankert«, aber diese Verankerung erscheint noch ungenügend. Hierzu schlage ich ein Gleichnis vor, um die Unzulänglichkeit dieser Verankerung zu zeigen. Man kann die Menschenrechte, die im Grundgesetz vorliegen, wie einen Geldbetrag betrachten, den man auf einem Konto »deponiert« hat. Solange wir das deponierte Geld nicht für die alltäglichen Bedürfnisse verwenden, ist dieses Geld gewissermaßen unnütz. Man kann nicht feststellen, ob der Inhaber in diesem Fall reich oder arm ist. Der Wert des Guthabens hängt von der Verwendung des vorliegenden Bestandes an Geld für verschiedene Zwecke ab. Diederichsen zählt z. B. die Defizite der (deutschen) Verfassung auf, indem sie »die Grundrechte als Abwehrrechte gegen staatliche Willkür ins Auge fasste«. Und deshalb »konnten die Schutzgüter nur die Individualrechte des Bürgers sein. Fast alle Gemeinschaftsbelange mussten aus dieser Sicht draußen vorbleiben.«14 Das ist in jenen Ländern der Fall, in denen die Übernahme des positiven Rechts die einheimischen Rechtsgüter nicht verbannen konnte. Die Gerechtigkeit der Gesetze hängt nicht einfach mit der Art und Weise ihrer Erzeugung zusammen. Sie soll auf die Gemeinschaftsbelange achten, welche durch die verschiedenen sozialen Normierungen in Erscheinung treten. Die Menschenrechte stehen somit angesichts des Rechtspluralismus vor einer immensen Herausforderung.

Begriff des Rechtspluralismus Der Rechtspluralismus bezeichnet einen Pluralismus der Rechtsordnungen in der globalisierten Welt. Er tritt zu Tage, wenn ein juristischer Konflikt zwischen Unternehmen verschiedener Länder eines unparteiischen Schiedsrichters bedarf, um diesen Konflikt zu lösen. Ein gleicher Fall tritt bei der Ehescheidung auf und soll wie bei dem juristischen Konflikt der Unternehmen gelöst werden. Der Rechtspluralismus bringt auf der Ebene des privaten Rechts (im Familienrecht und Unternehmensrecht) interkulturelle Konflikte 14

Ebd., S. 77.

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mit sich, die einer institutionellen Schlichtung bedürfen. Rechtspluralismus ist nicht nur ein zwischenstaatliches Problem. Er ist in den arabisch-islamischen Ländern auch ein innerstaatliches. Der Bürger steht vor einer Vielzahl von Rechtsquellen: 1. der islamischen Jurisprudenz, mit ihren verschiedenen Riten und Schulen, je nach Land unterschiedlich; 2. dem positiven Recht (dargestellt durch das Schuldrecht in Marokko (1913), das Grundgesetz, usw.); 3. dem Gewohnheitsrecht; 4. dem internationalen Recht (Menschenrechte).15 Wir stehen im Allgemeinen vor einem vormodernen Recht, vor einem modernen positiven Recht und vor den verschiedenen Spielarten des Kommunitarismus, der von dem Gewohnheitsrecht gestützt wird.16 Das »Gewohnheitsrecht« umfasst die geschriebenen und ungeschriebenen sozialen Gewohnheiten und Bräuche, die rechtliche Wirksamkeit besitzen.17 Die Tradition der Eheschließung weicht in den einfachen Gemeinschaften von der offiziellen theologischen Grundlinie ab.18 Die theologischen Rechtsschulen unterscheiden sich von Land zu Land. Sie behaupten dennoch, dass sie den Moslems Grundrechte sichern, welche die subjektiven Rechte übertreffen, weil sie Grundwerte der Würde, der Familie und der Gemeinschaft vertreten. Bei den Moslems bleibt jedoch die Grundansicht verbreitet, dass die Spanne der islamischen Grundrechte weiter reicht als Individualrechte, weil der Vertragsfreiheit nicht die absolute Priorität zukommt. (Ich erinnere an die Bemerkung von Diederichsen, welcher die Gemeinschaftsbelange als Schutzgüter erwähnt.) Ein Vergleich zwischen der Islamischen Deklaration der Menschenrechte (Paris 1981) und der internationalen Deklaration (1948) stellt das Paradigma der Individualrechte bei Kant, Rawls und Kersting zugunsten der Islamischen Deklaration in Frage. Diederichsen 15 Diese Rechte stoßen auf den Widerstand der sog. »Islamisierung« der Gesellschaft, die sich im »Appell zu einer Rückkehr zu den alten Islamischen Mustern in Regierung, Recht, in der sozialen Organisierung und Kultur widerspiegelt. Eine prominente Eigenschaft der Islamisierungsprogramme bestand in den Aufforderungen der Dekolonisierung der legalen Sphäre. Diese legale Dekolonisierung meint theoretisch, dass die Widereinsetzung der einheimischen islamischen Muster zustande kommen soll.« (Ann Elizabeth Mayer: Islam and Human Rights. Tradition and Politics, 4th edition, Boulder 2007, S. 59 f.). 16 Unter den wichtigen Dokumenten zu diesem Begriff führe ich den, von dem holländischen Autor Ter Haar stammenden Begriff des »Adat Law« an (vgl. Ter Haar: Adat Law in Indonesia, translated from the Dutch and edited with an introduction by E. Adamson Hoebel and A. Arthur Schiller, New York 1948. 17 Ehepartner, die einen Heiratsvertrag unterzeichnen, verfügen über eine amtliche Urkunde, im Unterschied zu Lebenspartnern, die eine freie Beziehung vorziehen. In den Übergangsländern zu komplexeren Gesellschaften sind beide Formen von Heirat gültig, auch wenn das Familienrecht in manchen Ländern nur die amtliche zivile Heirat anerkennt. 18 Diese Institution wird stark von iranischen Feministinnen attackiert, da sie die Frau degradiert; die Sunniten wiederum haben die vorübergehende Heirat für Prostitution gehalten (vgl. Mayer: Islam and Human Rights, S. 131). Die Sozialforscher und Anthropologen verweisen auf verschiedene Heiratsformen: die Sunniten kennen diese Heiratsformen nicht, während die Chiiten eine vorübergehende Heirat anerkennen.

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verweist in derselben Richtung auf »überindividuelle und damit den Gleichheitssatz transzendierende Gemeinschaftsbelange wie Rücksichtnahme auf künftige Generationen, auf Pietätgefühle anderer […] auf sprachliche und sonstige kulturelle Anliegen«.19 Zum Vergleich: Art. 19a: Die islamische Deklaration der Menschenrechte: »Every person is entitled to marry, to found a family, and to bring up children in conformity with his religion, tradition and culture«. »Every spouse is entitled to such rights and privileges and carries such obligations as are stipulated by the law.« It means Charia. Art. 16.1: Die Universale Deklaration für Menschenrechte: »Men and women of full age, without any limitation due to race, nationality or religion, have the right to marry and to found a family«. »They are entitled to equal rights as to marriage, during marriage and at its dissolution.« Anhand dieses Vergleiches wird Folgendes ersichtlich: In 19a ist die Freiheit des Menschen an die Regeln und Vorgaben seiner Religion gebunden, in 16.1 jedoch findet eine Säkularisierung statt, indem die Freiheit des Menschen losgelöst wird von Religion, Rasse und Nationalität. Für Ann E. Mayer »gibt es in der Tat einen Konflikt zwischen dem Individuum und dem Staat in der islamischen Welt, ein Konflikt, der auf Kosten der Individualrechte und Freiheiten gelöst wird.«20 In Wahrheit hatte der Staat meistens das Gottesrecht dazu instrumentalisiert, den Angriff auf die Privatsphäre zu ermöglichen. Die öffentliche Sphäre reduzierte sich auf die Machtsphäre des Staates. Das Gottesrecht wurde so aufgefasst, dass es auf die Pflichten der Untertanen fokussiert, ohne jede Rücksicht auf deren Rechte im öffentlichen Leben. In Ermangelung einer öffentlichen Rechtsordnung, welche die Rechte der Bürger durch einen gesellschaftlichen Vertrag sichert, wird dieses Vakuum durch die Macht des Staates ersetzt. Die Jurisprudenz blieb innerhalb der Normierungsgrenzen menschlicher Handlungen stecken, weshalb sie auch außerstande war, mit den Geboten der Religion mehr als die individuellen Handlungen zu regulieren und eine normative Grundlage des öffentlichen Rechts zu schaffen. Man ersieht hieraus, dass die Jurisprudenz im Mittelalter auf die Pflichten der Untertanen setzt und nicht auf deren Rechte. So hat man aus dieser Annahme denn auch ontologische Schlüsse in Bezug auf den Status des modernen Rechts gezogen. Alexandre Viala etwa hat die Geburt des modernen Rechts mit der Entdeckung des Substanzbegriffs »Mensch« verbunden. Während in der Antike die Natur glorifiziert wurde, haben die Philosophen der Moderne den Menschen verherrlicht. Auf den Trümmern der mittelalterlichen Seele habe die juristische Moderne die Ontologie des menschlichen Subjekts aufgebaut.21 Das moderne Recht wurde auf der Ontologie der Substanz »Mensch« aufgebaut, als ob es diese Substanz im Mittelalter nicht Diederichsen: Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem Privaten Recht, S. 77. »In reality, the individual and the state in the Muslim world have had conflicting interests that have most often been resolved at the expense of individual rights and freedoms.« (Mayer: Islam and Human Rights, S. 67). 21 Alexandre Viala: Philosophie du droit, Paris 2010, S. 92. 19 20

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gegeben hätte. Ich möchte hier aber das Problem des Rechts von der ontologischen auf die politische Ebene verlagern, was zur Konsequenz hat und zur Einsicht führt, dass nicht das ontologische Wesen »Mensch« entdeckt wurde, sondern der politische Bürger. In der islamischen Welt, und generell im Mittelalter, stellte die Macht des Staates die Quelle des Rechts dar, wozu die Religion lediglich instrumentalisiert wurde. Mit der Moderne, und speziell mit Kant, wurde die politische Bedeutung der Freiheit in den Vordergrund gestellt. Kant hat in diesem Rahmen zwei Definitionen der Freiheit vorgeschlagen. Zum einen wird die Freiheit des Menschen erwähnt, d. h. »Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht.«22 Dies meint eine Freiheit, die soviel bedeutet wie »die rechtliche Freiheit, in den Grenzen allgemeiner Gesetze tun und lassen zu können, was man will«.23 Wir werden sehen, dass diese Definition der Freiheit eine Doppelmoral begünstigen kann, indem die Willkür in der privaten Sphäre als frei angesetzt ist, und zwar innerhalb der Grenzen, die durch die öffentlichen Freiheitsgesetze gesetzt sind. Zum zweiten hat Kant eine politische Definition der Freiheit vorgeschlagen, welche die politische Teilnahme des Bürgers am demokratischen Leben betrifft. Kant war in dieser Hinsicht darauf aus, »rechtliche Freiheit als politische Freiheit zu erklären«24. So sagt Kant zum Begriff der äußeren, also rechtlichen Freiheit: »[S]ie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.«25 Kant setzt auf die politische Autonomie, welche den Bürger zum Status des Mitgesetzgebers erhebt. Die wirkungsgeschichtliche Tragweite der politischen Definition der Freiheit ist durch das demokratische und liberale Staatswesen bezeugt, weshalb das positive Recht ohne Rekurs auf die Mitgesetzgebung auch undenkbar wäre. Die Einführung des positiven Rechts in der islamischen Welt ist daher auch dadurch begrenzt, dass das Mitgesetzgebungsrecht in bestimmten Bereichen des Privatrechts aberkannt ist, während es bei Kant den Mittelpunkt des Rechts darstellt. In der islamischen Welt hingegen stehen das Richterrecht und das Gewohnheitsrecht an der Stelle der Gesetzgebung. Zwar ist das positive Recht durch die Mitgesetzgebung entstanden, aber weitere Zweige des Rechts (Familienrecht, öffentliche Sitten) sind den theologischen Satzungen vorbehalten, bzw. durch das Gewohnheitsrecht reguliert. Der Rechtspluralismus, so könnte man folgern, ist also durch diese Grenzen der Gesetzgebung entstanden.

Das islamische private und öffentliche Recht Eines der heiklen Probleme des Rechtspluralismus liegt in der Tatsache, dass die theologischen Juristen das Feld der Individualfreiheiten im Privatrecht stark reduziert haben. Sie haben also dem öffentlichen Leben nicht dasselbe Schwergewicht beigemessen. Man hat 22 23 24 25

Kant: Rechtslehre, S. 44. Oliver Eberl/Peter Niesen: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 2011, S. 214. Ebd., S. 214. Ebd., S. 20.

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behauptet, dass die Juristen über kein islamisches öffentliches Recht verfügten. Die These besagt, dass die »juristischen Normen des privaten Rechts eine umfangreichere Spannweite haben als die des Grundgesetzrechts, und darüber hinaus, dass das private Recht sozusagen das eigentliche Feld des Rechts sei. Das Familienrecht leidet unmittelbar an dieser Sachlage.«26 So hat R. Brunschwig die folgende Stellungnahme abgegeben: »Das öffentliche Recht hat als solches keinen Platz in den großen Schriften des islamischen Rechts.«27 Die islamischen Rechtsquellen haben sich darum bemüht, das private Recht von den Freiheitsrechten abzukoppeln. Denn die Substanz Mensch als Individuum war ihnen fremd. »The tenets of Western individualism are unacceptable […] where the emphasis is on duties.«28 Für die Rechtstheologen ist es angemessener, auf die Substanz Mensch nicht fixiert zu bleiben und die Menschenrechte durch überindividuelle Grundwerte zu bereichern. Die konservativen Staaten waren dazu bereit, die Menschenrechte zu ratifizieren – unter der Bedingung, über die Individualrechte hinauszugehen und die Familie, das Volk und die Religion zu schützen. Kollektive Gebilde haben dasselbe Daseinsrecht wie die individuellen Entitäten. Dabei wird schnell vergessen, dass Menschenrechte in erster Linie als Abwehr gegen den Staat fungieren. Die überindividuellen Gebilde dienen meistens als Vorwand, um die Individualrechte zu verletzen. A. E. Mayer argumentiert in diese Richtung: »The need for human rights standards to protect the individual from oppression by the government is neglected, as it was in the idealistic visions of premodern Islamic thinkers that precluded the development of modern concepts of individual rights.«29 Heute ist der Status der Religion in den islamischen Ländern juristisch noch problematischer geworden, und dies vor allem auf Grund der politischen Allianz der Religion mit dem Staat, die zu Lasten der Individualrechte geht.30 Die Autorität des Staates ist aber nicht immer omnipotent. Sie kann autoritäre Gesetze verabschieden, die ohne Rechtswirksamkeit bleiben. Die Religion wirbt für Gebote, Empfehlungen und Befehle, welche, der versprochenen Belohnung im Jenseits zum Trotz, nicht befolgt werden. Die gesellschaftlichen Normen sehen Pflichten vor, die im privaten Leben nicht eingehalten werden. Wo die Norm ihre Rechtswirksamkeit einbüßt, wird sie von neuen Gewohnheiten ersetzt. Die Normen, die im öffentlichen Recht oder in der Staatsreligion gelten, werden durch andere private Sitten entkräftet. Angesichts dieser Sachlage wird der Bürger dazu aufgefordert, sich privat seinen Überzeugungen entsprechend zu verhalten, und in der Öffentlichkeit sich den sozialen Normierungen

26 Ali Benmakhlouf: »Droit privé et droit constitutionnel ou l’impossible dualité«, in: ders. (Hg.): Droit et participation politique, Casablanca 2002, S. 171. 27 »le droit public n’a pas en tant que tel sa place dans les grands traités de droit musulman« (Robert Brunschwig: Etudes d’islamologie, Paris 1978, S. 353; hierzu: Benmakhlouf: Droit privé et droit constitutionnel ou l’impossible dualité, S. 170. 28 Mayer: Islam and Human Rights, S. 64. 29 Ebd., S. 64. 30 »In reality, the individual and the state in the Muslim world have had conflicting interests that have most often been resolved at the expense of individual rights and freedoms.« (Mayer: Islam and Human Rights, S. 67).

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zu beugen.31 Die daraus resultierende Doppelmoral ist also dadurch begründet, dass der Staat nicht in die Privatsphäre eingreifen soll. Die religiösen und Gewissensfreiheiten sind weiterhin geschützt, solange sie privat genossen werden. Die Ausübung der Gewissens- und Gedankenfreiheiten können aber erst dann der Entwicklung der freien Persönlichkeit dienen, wenn sie als Grundgüter32 durch öffentliche Institutionen gesichert sind. Ein Rechtspluralismus, der solchermaßen die Normen des öffentlichen Lebens von denjenigen des privaten trennt, fördert eine Doppelmoral, die aufgrund von Zensur und Selbstzensur fortbesteht.

Theologische Rechtsschule, Rechtsinstitute und Gewohnheiten Die modernen Menschenrechte sind dadurch entstanden, dass der Anspruch auf die geschützte Privatsphäre gegen das Eingreifen des Staates zu keinerlei Doppelmoral führen möge. Die Vereinheitlichung des Rechts hat sich zum Ziel gesetzt, die verschiedenen Rechtsordnungen unter eine letzte Instanz der Rechtsregel zu bringen. Die rechtliche Lage ist in den islamischen Ländern aufgrund der offenen Fragen der Koexistenz des positiven und theologischen Rechts, aufgrund der Abwesenheit einer letzten Rechtsinstanz33 und aufgrund der Probleme von Gesetzesverabschiedung und Rechtswirksamkeit weiterhin unübersichtlich. Die verschiedenen Lösungen, welche den Nebel dieser Unübersichtlichkeit zu lichten trachteten, haben bisher zu keiner einheitlichen Rechtsordnung geführt. Vielmehr hat sich das aus diesem Nebel hervorgehende Gewohnheitsrecht als eigenständiges Recht durchgesetzt. Es hat in der Tat die Gestalt des Richterrechts angenommen. In den meisten Rechtskulturen wird die sog. Gerechtigkeit des Rechts im Allgemeinen an der Fairness der Verfahren gemessen. Nicht die theoretischen Fragen der Rechtstheorie beschäftigen die Leute, sondern die praktischen Fragen des Gesetzgebungsverfahrens und des fairen Verhandlungsverfahrens. Der Richter nimmt eine Ausnahmeposition in der islamischen Welt ein. Denn das Ansehen des Richters ist für Rechtsphilosophen bestimmend für das Rechtsgefühl und das Rechtsvertrauen der Bevölkerung. In Ermangelung kodifizierter eindeutiger Rechtstexte ist zwischen den Zweigen des Rechts ein Ungleichgewicht zugunsten des Richterrechts entstanden. »Die Gerichte bestimmen mit ihren Entscheidungen also maßgeblich, wie gerecht und wie ungerecht der Staat erlebt wird.«34 Die Sorge um Gerechtigkeit beauftragt den Richter mit der moralischen Pflicht, Unrechtshandlungen zu bestrafen. 31 Zum Beispiel verpflichtet die öffentliche Sittlichkeit den Moslem dazu, den Fastenmonat öffentlich zu beachten, auch wenn er privat, aus Gewissensgründen oder aus gesundheitlichen Gründen, diese Pflicht nicht erfüllen darf. 32 Vgl. Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß, S. 100. 33 Die Schaffung des Verfassungshofs als letzter juristischer Instanz löst die Kollisionsprobleme anhand der Schutzrechte, die er im Grundgesetz als vorrangig ansieht. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland die Freiheit und nicht die Gleichheit als erstes Schutzrecht angesehen. In der letzten Zeit hat die Gleichheit die Oberhand gewonnen. Dies wäre auch für die islamischen Gerichtshöfe möglich. 34 Bernd Rüthers: Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Auflage, Tübingen 2009, S. 134.

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Ausgehend von dieser Sorge um Gerechtigkeit durfte der moslemische Richter35 die theologischen »zweideutigen Quellen« frei interpretieren.36 Das Richterinstitut galt im Islam insbesondere deshalb als eines der Hauptquellen des Rechts, weil die Scheren zwischen religiösen Geboten und individuellen Interessen immer wieder auseinander gegangen sind. Denn eine Rechtsquelle umfasst nicht nur die Verfassung, die förmlichen Gesetze, die Rechtsverordnungen und Satzungen, sondern auch die Rechtsurteile. Aufgrund der Gewaltenteilung darf der Richter den Beruf des Gesetzgebers nicht usurpieren. Das Richterinstitut hat indes bestimmte Prärogative inne.37 Am Anfang des Islam standen dem Richter keine mit zwingendem Charakter ausgestatteten religiösen Richtlinien zur Verfügung. Das Richterinstitut hatte sich auf den Gerechtigkeitssinn des Richters gestützt, um die konkreten Rechtsfälle durchzuführen.38 Die Jurisprudenz ist erst mit der Verwandlung bestimmter Grundprinzipien des Islam in zwingende Rechtssätze des kanonischen Rechts aus der Taufe gehoben worden. Als Religion vermittelte der Islam dem Richter moralische Gebote und keine zwingenden Rechtsregeln, weshalb der Richter nur dazu verpflichtet war, für Gerechtigkeit und für eine faire Behandlung der rechtlichen Fälle zu sorgen. Erst als die Jurisprudenz als kanonische Theologie auf den Plan getreten war, konnten die moralischen resp. religiösen Gebote in ein von Rechtsregeln geleitetes deduktives System integriert werden. Der moslemische Richter trat, wenn er einen Sinn für Gerechtigkeit entwickelt hatte, nicht als Sprachrohr des göttlichen Gesetzes vor die Öffentlichkeit. Mit seinem Rechtsurteil kann der Richter neue Gesetze erzeugen,39 insbesondere wenn Interessen einer ganzen Gemeinschaft in Frage stehen. Nicht alle Richter haben ihren Beruf gebührend Außerdem haben schon Philosophen wie Averroes für diese Interpretationsfreiheit ein sprechendes Zeugnis abgelegt. Für eine arabische akademische Studie siehe Omar Abdelkarim El Jidi: zum Gewohnheitsrecht in der Malekiten Rechtsschule aus der Perspektive der marokkanischen Theologen, Fedala Mohammedia 1984, S. 414. 35

. Averroes hat weitere Gründe in seiner Verteidigung der freien Deutung der Rechtsquellen angeführt: Die erwachsenen Frauen, wie die Männer selbst, einmal mündig, haben dasselbe Recht, die Rechtsquellen selber frei zu interpretieren, ohne der Alleinherrschaft der offiziellen Rechtsschulen ausgeliefert zu sein. Solange es sich um Gerechtigkeit handelt, ist jedermann sein eigener Richter. Denn rechtliche Urteile richten sich nach dem Maß der Gerechtigkeit und nicht nach demjenigen der Gelehrsamkeit. Siehe den Artikel des tunesischen Rechtswissenschaftlers Ben Fadl zum Beitrag von Averroes zur Entwicklung der Rechtslogik und des vergleichenden Rechts: 36

37 Dies regelt in Deutschland das Arbeitskampfrecht. Die Gerichte fungieren als »Ersatzgeber« (Rüthers: Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, S. 129). 38 Vgl. Wael Hallaq: q The Origins g and Evolutions off Islamic Law,, Cambridge g 2007. Arabische Übersetzung 2005, S. 117: 39 Man könnte hier aufgrund der mangelnden Rücksichtnahme auf die Rechtssicherheit von einem unmoralischen Recht sprechen. Aber Hart verweist darauf, dass das Recht eine offene Struktur bildet, welche auf Verhaltensgebiete verweist, »wo man das meiste den Gerichten oder den Beamten überlassen muss, die je nach den Umständen zwischen den widerstreitenden Interessen, die von Fall zu Fall verschiedenes Gewicht haben, ein Gleichgewicht herstellen.« (H.L.A. Hart: Der Begriff des Rechts. Mit einem Postskriptum von 1994 und einem Nachwort von Christoph Möllers, Berlin 2011, S. 161.)

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erfüllt. Der Gerechtigkeitssinn trat meistens mit den Satzungen der Theologen in Widerspruch. Die Ausnahmefälle waren ein Versuch, die offizielle Theologie mit den individuellen Interessen und Präferenzen zu vereinbaren, damit der Doppelmoral nicht Vorschub geleistet würde.40

Schluss: Kulturelle Probleme des Rechtspluralismus Das starre theologische Rechtsgebot in den offiziellen Rechtsschulen entspricht nicht den wandelnden Rechten und Interessen der Individuen, der Minderheiten und Gemeinschaften. Die Doppelmoral erweist sich daher nur als das direkte Ergebnis dieser Kluft, was gravierende Folgen für die Wahrnehmung des positiven Rechts nach sich ziehen kann. In den Fällen, in denen die Rechtsregel nicht befolgt wird, »kann dies über kurz oder lang zur Existenz neuer und zwar gewohnheitsrechtlicher Normen führen.«41 Die Doppelmoral liegt in unserer einseitigen Bewertung der religiösen Gebote, wenn wir dabei den individuellen Interessen keinerlei Beachtung schenken. Das Gewohnheitsrecht war im Allgemeinen ein Versuch, die meist von Rechtstheologen erlassenen religiösen Verordnungen im Hinblick auf die mit dem Richterrecht verbundenen Erfordernisse der Gerechtigkeit neu zu interpretieren. Richterrecht und Gewohnheitsrecht sind eng miteinander verschränkt. Solange aber eine Rechtsregel ihre Anwendung auf konkrete Rechtsfälle nicht festlegt, wird das Gewohnheitsrecht die fehlende Kodifizierung kompensieren. Schritt für Schritt lassen die fortschreitende Kodifizierung und die Regulierungsgesetze dem Gewohnheitsrecht einen reduzierten freien Raum. Grundsätzlich ist dem Gewohnheitsrecht nicht erlaubt, die Rechtswirksamkeit einer anerkannten positiven Rechtsnorm zu entkräften. Die gravierenden Nachteile des Rechtspluralismus liegen in dem möglichen Konflikt zwischen verschiedenen rechtlichen Ordnungen, die keiner letzten Instanz zugeordnet sind. Die Menschenrechte können erst als Vermittlungsinstanz zwischen diesen Ordnungen fungieren, wenn sich keine neuen Formen von Doppelmoral aus ihnen ergeben. Eng mit dem internationalen Recht verbunden und keiner bestimmten moralischen Verfassung zuzuschreiben, sind sie dazu vorgesehen, die privaten Rechte der individuellen Sphäre zu schützen. Angesichts dieser Tatsache ist das internationale Menschenrechtsinstitut dem inneren Recht überlegen, da es alle Segregationsformen verbietet. Denn es bestraft die Folter und alle Verstöße gegen die Menschenrechte, unterstreicht das Prinzip der Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren, auf Gewissens- bzw. Meinungsfreiheit, ebenso wie auf den Zugang zu Information und auf die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Dennoch bleibt die Spannung zwischen den individuelDie gesetzliche Inkraftsetzung der Monogamie in Tunesien unmittelbar nach der Unabhängigkeit war nicht aufgrund der offiziellen Theologie zustande gekommen, sondern nach den herkömmlichen sozialen Gewohnheiten, welche die Gleichberechtigung der Frau besser berücksichtigen. Ein Beleg dafür liegt in der sog. »Heiratsbedingung in Kairouan«, die auf einen sehr alten Brauch zurückgeht. Die Braut akzeptiert den Heiratsantrag des Bräutigams unter der Bedingung, dass er sich nicht wieder verheiratet. Diese Bedingung galt als rechtliche Grundlage zur Abschaffung der Polygamie im modernen Tunesien. 41 Norbert Hoerster: Was ist Recht, München 2006, S. 87. 40

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len Interessen und dem gemeinsamen Gut, den negativen Rechten und sozialen Werten, spürbar. Man darf diese Spannung positiv bewerten, wenn wir in Rechnung stellen, dass die aus der Moderne entsprungenen Rechte eine öffentliche Sphäre begründet haben, in der die Rechte und Freiheiten aller Bürger, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sprache, ihrer Religion, wie von ihrem sozialen, bzw. wirtschaftlichen Status, gesichert werden. Da aber Religions- bzw. Sprachminderheiten vor Unterdrückung nicht geschützt sind, werden sie von den Menschenrechtskonventionen wieder erfasst. Was also aus der Sphäre des Privatrechts ausgeschlossen ist, wird auf der Ebene der Gemeinschaften wieder einbezogen. Der Rechtspluralismus erfasst die Priorität des modernen Privatrechts gegenüber dem Recht der Gemeinschaften. Das gemeinschaftliche Gut verdient einen rechtlichen Schutz, solange es Unrechtshandlungen ausgesetzt ist, und insoweit es die individuellen Rechte nicht in Frage stellt. Die Menschenrechte gelten als Teil eines internationalen Rechts, d. h. eines öffentlichen Rechts, welches den ewigen Frieden zwischen den Staaten sucht und die privaten Rechte der Individuen schützt. Das öffentliche Recht ist dazu vorgesehen, das Privatrecht zu schützen. Es vermittelt zwischen den verschiedenen Interessen der Individuen und Gemeinschaften, um Unrechtserfahrungen abzuwehren. Ich befürworte den Rechtspluralismus, solange er gegenüber den verschiedenen Gemeinschaften innerhalb derselben Gesellschaft das Zusammenleben eines kodifizierten und unkodifizierten Rechts toleriert. Das Familienrecht ist durch einige Rechtsregeln charakterisiert, welche von der islamischen Jurisprudenz stammen. Es ist, im Unterschied zu anderen Zweigen des Rechts, weder das unmittelbare Produkt der Religion noch des Gesetzgebungsrechts. Werden aber die einheimischen Gewohnheiten der statutarischen Religion gegenüber juristisch anerkannt, gewinnt das Richterrecht an Wichtigkeit in der Rechtssicherheit sowie in der Gesetzgebung. Der Rechtspluralismus stellt also die Frage der Vereinheitlichung der gesamten Rechtsordnung. Die Kodifizierungstradition, welche das Selbstgesetzgebungsrecht als einzige Rechtsquelle setzt, lehnt das Richterrecht ab, weil es die Machttrennung zwischen Richterinstitut und Gesetzgebungsmacht nicht berücksichtigt. Die heftige Auseinandersetzung zwischen Protagonisten des Richterrechts, des positiven Rechts und der islamischen Jurisprudenz setzt voraus, dass das Recht eine Entwicklung bezeugt, welche von dem Erbe der rechtlichen Moderne beeinflusst ist. Diese verschiedenen Auffassungen des Rechts können zusammenleben, und dabei immer versuchen »über Inkommensurabilitäten zu entscheiden, Kollisionen rechtlich zu bearbeiten. Dissensfreisetzung nicht Konsensherstellung ist der Puls der Demokratie.«42 Im Rechtspluralismus bleibt dennoch die enge Beziehung des Rechts zur Gerechtigkeit erhalten. Der zwanglose Zwang guter Argumente für das positive Recht führt indes, wenn der Anspruch auf Gerechtigkeit nicht befriedigt ist, zu einer Doppelmoral, die gleichzeitig die Rechtsordnung anerkennt und deren Rechtskraft ignoriert.

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Andreas Fischer-Lescano: Rechtskraft, Berlin 2013, S. 112.

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Literatur El Jidi, Omar Abdelkarim: zum Gewohnheitsrecht in der Malekiten Rechtsschule aus der Perspektive der marokkanischen Theologen, Fedala Mohammedia 1984. Benmakhlouf, Ali: »Droit privé et droit constitutionnel ou l’impossible dualité«, in: ders. (Hg.): Droit et participation politique, Casablanca 2002, S. 169–178. Brunschwig, Robert: Etudes d’islamologie, Paris 1978. Diederichsen, Uwe: »Die Rangverhältnisse zwischen den Grundrechten und dem Privaten Recht«, in: Christian Starck (Hg.): Rangordnung der Gesetze, 7. Symposion der Kommission »Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart« am 22./23. April 1994, Göttingen 1995, S. 39–97. Eberl, Oliver/Niesen, Peter: Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, Berlin 2011. Haar, Ter: Adat Law in Indonesia. Translated from the Dutch, edited with an introduction by E. Adamson Hoebel and A. Arthur Schiller, New York 1948. Hallaq, Wael: The Origins and Evolutions of Islamic Law, Cambridge 2007. Hart, H.L.A.: Der Begriff des Rechts. Mit einem Postskriptum von 1994 und einem Nachwort von Christoph Möllers, Berlin 2011. Hoerster, Norbert: Was ist Recht, München 2006. Kant, Immanuel: Rechtslehre. Schriften zur Rechtsphilosophie, herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner, Berlin 1988. Kelsen, Hans: Was ist Gerechtigkeit?, Stuttgart 2000. Kersting, Wolfgang: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Paderborn 2007. Mayer, Ann Elizabeth: Islam and Human Rights. Tradition and Politics, 4th edition, Boulder 2007. Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf, 4. Auflage, Frankfurt/M. 2014. Rüthers, Bernd: Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, 3. Auflage, Tübingen 2009. Viala, Alexandre: Philosophie du droit, Paris 2010.

KOLLO QUIUM 28 Politisches Denken in seiner historischen Dimension: Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Kolloquiumsleitung: Barbara Zehnpfennig

Barbara Zehnpfennig Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Hendrik Hansen Warum die Kapitalismuskritik den Rückgriff auf die antike Philosophie braucht Hans-Jörg Sigwart Wider die Gespenster der Vergangenheit: Politische Ideengeschichte und Kritik der Gegenwart Marcus Llanque Die Diskursivität politischer Ideen

Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Barbara Zehnpfennig (Passau)

I. Die Wirkung von Ideen Ganz unbestreitbar haben Ideen eine Wirkung in der Geschichte. So haben Ideen wie die des Humanismus, der Aufklärung, der Nation ganze Epochen geprägt. Noch längerfristig wirksam waren und sind Ideen, die einen holistischen Erklärungsansatz haben und zugleich Grundeinstellungen des Menschen betreffen: Darunter fallen z. B. die Religionen oder auch großangelegte Gedankenmodelle wie das wissenschaftlich-technische Denken. Die politische Brisanz von Ideen ist schon bei den genannten Kategorien erkennbar, aber unmittelbar evident ist sie bei Ideologien. Denn bei diesen handelt es sich um Ideen, welche die Wirklichkeit nicht nur insgesamt erklären, sondern zugleich auch verändern wollen. Hier ist die geschichtliche Wirkung also beabsichtigt – im Unterschied zu Ideen, die nicht bewusst als System konstruiert sind, deren Herkunft diffus ist, deren Wirkung sich erst allmählich zeigt, nämlich dann, wenn sie Prägekraft entfaltet haben. Bei Ideologien wie dem Marxismus, dem Nationalsozialismus und dem Islamismus hingegen ist der Wille zu wirken konstitutiv. Dass sie allerdings in der vorgesehenen Weise wirken, ist nicht ausgemacht: Obwohl sie über die Realität herrschen wollen, haben sie sie nicht in der Hand. Denn natürlich wirken Ideen in der Geschichte nicht alleine. Sie können diese nur soweit beeinflussen, wie äußere Faktoren, die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten, es zulassen. Außerdem wirken diese Gegebenheiten wieder auf das Denken zurück. Ideen stehen nicht isoliert im gesellschaftlichen Raum, sondern sind oft auch Reflex ihrer Entstehungsbedingungen. Was sich letztlich geschichtlich manifestiert, wird so immer Ergebnis einer Mischung aus Ideellem und Materiellem sein, Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen dem, was Menschen an Lebensverhältnissen vorfinden, und dem, wie sie sich dazu verhalten, was sie darüber denken.

II. Die Erklärung von Wirklichkeit Wenn Ideen in der Geschichte wirken, müssen sie auch zur Erklärung dessen, was geworden ist, herangezogen werden, oder um es mit den Worten des englischen Kulturhistorikers Peter Burke zu sagen: »Die ruinöse Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, die die Gesellschaft ausklammert, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert«, muss überwunden werden.1 Das Problem dabei ist allerdings: Es ist naturgemäß schwierig Zitat nach: Heinz-Elmar Tenorth, Lutz Raphael (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006, S. 11. 1

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zu ermitteln, wie sich Ideen durchgesetzt und dann konkret auf Handlungsweisen eingewirkt haben. Ein Versuch, dieses Problems Herr zu werden, besteht darin, den Einfluss des Denkens auf die Realität mittels Diskursanalyse zu erfassen: durch die Untersuchung von Diskursen der jeweiligen Zeit, die Suche nach wirkmächtigen Denkmustern, die Analyse von Verbreitungswegen von Gedanken. Umgekehrt kann man versuchen, die Herkunft von Ideen durch Kontextualisierung herauszufinden: In welchem politischen, sozialen etc. Kontext stand ein Denker, auf was konnte er zurückgreifen, in welches Beziehungsgeflecht ordnet sich sein Denken ein? Beides muss mit vielen Abstraktionen und vielen Spekulationen arbeiten. Es sind nachgängige Rekonstruktionen oder auch Konstruktionen; das lässt sich nicht immer genau unterscheiden. Zu definitiven Ergebnissen wird man von daher kaum kommen. Dennoch ist es nicht müßig, sich mit dem Verhältnis von ideeller und politisch-ökonomisch-sozialer Wirklichkeit auseinanderzusetzen, wenn man Geschichte verstehen will. Einen Zusammenhang in der Geschichte kann man nur finden, wenn man nach geistigen Entwicklungslinien fahndet, die in die realen Lebensverhältnisse eingebettet sind.

III. Die Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart Unsere Gegenwart scheint zunehmend geschichtsvergessen zu sein. Einer der Gründe dafür ist eine allgemein feststellbare Beschleunigung der Lebensverhältnisse. Zudem sorgt das große Gewicht, das den neuen Medien, die ganz auf das Hier und Jetzt konzentriert sind, in unserer Lebenswelt zukommt, für eine unbewusste Vernachlässigung der historischen Dimension des Daseins. Und schließlich ist ein Bildungsverständnis ahistorisch, das auf schnelle Verwertbarkeit setzt und nicht erkennt, wie wichtig Grundlagenwissen auch dann ist, wenn es um die praktische Anwendung des Wissens geht. Eine derartige Fixierung auf die Gegenwart verliert aus dem Blick, dass man diese ohne Wissen um die Vergangenheit nicht verstehen kann – wenn man nicht weiß, woher etwas kommt, tut man sich schwer zu verstehen, was es ist. Zudem hilft das Wissen um die Vergangenheit bei der Gestaltung der Zukunft. Wenn man in der Geschichte wiederkehrende Ursache-Wirkungs-Verhältnisse feststellt, kann man mit diesem Wissen von der Gegenwart aus die Zukunft bewusster planen. Wenn man beispielsweise die überragende Bedeutung gerade religiöser Schismen für die Entstehung kriegerischer Konflikte erkannt hat, weiß man, wie wichtig es ist, für einen Ausgleich zwischen den religiösen Bekenntnissen zu sorgen. Gilt das, was über die Geschichte gesagt wurde, aber auch für die Ideengeschichte? Dass das Verstehen der Gegenwart nur unter Einbeziehung des Wissens um wirkmächtige Ideen möglich ist, scheint ziemlich evident. So ist der Unterschied zwischen dem deutschem und dem amerikanischem Sozialstaatsverständnis erst erklärbar vor dem Hintergrund der in beiden wirksamen historischen Denkströmungen, nämlich der katholischen Soziallehre, des Sozialismus etc. auf der einen, des Republikanismus und Liberalismus auf der anderen Seite.

Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart

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Schwieriger zu beantworten ist die Frage: Hilft die Ideengeschichte auch bei einer sinnvollen Gestaltung der Zukunft? Sind die Ideen der Vergangenheit nicht überlebt oder bestenfalls in gewissen Modifikationen noch präsent, aber nicht geeignet für eine Zukunft, die unter ganz anderen Voraussetzungen bestehen wird als diejenigen, die das Leben bisher bestimmt haben? Ist uns die Geschichte der Ideen überhaupt zugänglich, oder bleiben wir im Bann unseres Gegenwartsbewusstseins, wenn wir uns der Vergangenheit zuwenden? Erliegt man nicht einem anthropologischen Essentialismus, wenn man glaubt, das, was früher gedacht wurde, könnte auch für den gegenwärtigen Menschen noch von Bedeutung sein? Diesen und ähnlichen Fragen widmen sich die folgenden Beiträge. Sie stammen von drei ideengeschichtlich arbeitenden Wissenschaftlern, die einen sehr unterschiedlichen Zugang zum Gegenstand haben und geradezu paradigmatisch vorführen, mit welcher Bandbreite ideengeschichtliche Forschung betrieben werden kann. Marcus Llanque spricht von der »Diskursivität« von politischen Ideen, wenn er Aufgabe und Reichweite der politischen Ideengeschichte bestimmt: Wie Ideen ihrerseits nicht einfach etwas Gegebenes sind, sondern ein Netz aus Diskursen, Symbolen, Praktiken und Institutionen darstellen, so kann auch die politische Ideengeschichte nicht so tun, als brauche sie ihren Gegenstand nur abzubilden. Vielmehr konstituiert sie ihn erst: durch die Ordnung der Diskurse. Dabei kann man die Ideengeschichte als Archiv verstehen; dann erfolgt die Ordnung der Diskurse zum Zweck der Bewahrung des Bestandes. Oder man versteht sie als Arsenal; das bezeichnet ein instrumentelles Verhältnis zu den Diskursen, die gemäß einer bestimmten Interessenlage angeordnet werden. Die Rolle des Autors bestimmter »Ideen« gerät so ebenso in Fluss wie die Vorstellung ihres geschichtlichen Zusammenhangs. Letzterer bezeichnet nichts anderes als die Gesamtanordnung der Diskurse, ob nun evolutionär, genealogisch oder epochal gedeutet. Es ist offensichtlich, dass die Wahrheitsfrage in einer solchen Sicht der Ideengeschichte keinen Raum hat. Der Autor betont aber das kritische Potential der Ideengeschichte. In ihrer Diskursanalyse sieht sie das Gegebene nicht als das Notwendige. Vielmehr stellt sie die »Frage der alternativen Denkwege, die miteinander im Deutungskampf stehen.« Hans-Jörg Sigwart meint mit den »Gespenstern der Vergangenheit«, die seinem Beitrag den Titel gaben, geschichtliche Relikte, die aufgrund der veränderten Verhältnisse sinnentleert sind, aber nichtsdestotrotz auf die Gegenwart wirken und sie damit unerkannt beherrschen. Diese Gespenster genealogisch zu entzaubern, ist eine der Aufgaben, die der Ideengeschichte zukommt. Sie bewegt sich so zwischen den Polen der Determiniertheit des Gewordenen und der Freiheit des Neuanfangs, und sie hat es mit Zeitunabhängigem ebenso zu tun wie mit zeitlich Bedingtem. Auch für Sigwart spielt die Analyse von Diskursen eine wichtige Rolle, doch es löst sich nicht alles in Diskurse auf. Sein Plädoyer für eine multiperspektivische ideengeschichtliche Forschung, welche sowohl »historische Überlieferungszusammenhänge« bewahrt als auch »problematische […] gesellschaftliche […] Dynamiken und Effekte« offenlegt, ist auch ein Plädoyer für einen Methodenpluralismus, der normative wie nicht-normative Ansätze umfasst. Hendrik Hansens Beitrag führt praktisch vor, wie sich Ansätze aus der politischen Ideengeschichte für die Analyse und Kritik von Gegenwartsphänomenen nutzen lassen:

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Anhand der Paradigmendiskussion innerhalb der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) lässt sich aufweisen, dass solche Paradigmen mit ungeprüften Prämissen arbeiten. Bei der aktuellen Banken- und Verschuldungskrise zeigt sich, zu welchen Konsequenzen dies führt: zu einer Deutung der Krise, deren Verursacher völlig unterschiedlich, weil nach Maßgabe der immer schon unterstellten eigenen Prämissen, verortet werden. Den Ertrag der Ideengeschichte sieht Hansen nun im Rückgang auf die gemeinsame Quelle der widerstreitenden Paradigmen – Adam Smith – sowie die kritische Auseinandersetzung damit auf Grundlage einer noch älteren ideengeschichtlichen Position, gegen die Smith seinen eigenen Ansatz entwickelt hat: die des Aristoteles. In dieser Deutung der Ideengeschichte liegt deren kritisches Potential in der Möglichkeit, zeitlich invariante, allgemeine Denkmuster zu identifizieren und deren Schwächen durch Argumentationen aufzudecken, die möglicherweise ebenfalls schon in der Ideengeschichte vorgebildet sind. Wie man sieht, reicht der Bogen der vorgeführten Deutungen von einer diskursiven Verflüssigung der Ideen und der Geschichte über die Kombination von diskursiven und überzeitliche Geltung beanspruchenden Elementen bis hin zur Annahme von grundlegenden Paradigmen, die sich geschichtlich nur verschieden entfalten. Daraus ergibt sich natürlich auch eine unterschiedliche Einschätzung, welcher Stellenwert der Wahrheitsfrage in der ideengeschichtlichen Betrachtung zukommt. Einig sind sich aber alle drei Positionen, dass der Rückgriff auf die Ideengeschichte dazu befähigt, unsere Gegenwart kritisch zu reflektieren. Das ist ein vielversprechender Ansatzpunkt. Wie überzeugend die jeweils angewandte Methode der kritischen Analyse dann ist, muss sich an den Ergebnissen ausweisen.

Literatur Tenorth, Heinz-Elmar/Lutz Raphael (Hg.): Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit, München 2006.

Warum die Kapitalismuskritik den Rückgriff auf die antike Philosophie braucht Hendrik Hansen (Budapest)

Die politische Ideengeschichte steht regelmäßig unter Rechtfertigungsdruck. Für die aktuellen Fragen der Gegenwart erscheint der Rückgang in die Ideengeschichte vielen als wenig fruchtbar. Brauchen wir für die Reflexion politischer Fragen der Gegenwart überhaupt den Rückgriff auf die Ideengeschichte? Können wir z. B. den aktuellen politischen Konflikt mit Russland besser analysieren, wenn wir politische Theorien des 18. Jahrhunderts studieren? Können wir Phänomene wie den ›Islamischen Staat‹ besser verstehen, wenn wir uns mit der Ideengeschichte befassen? Finden wir bessere Antworten auf die Verschuldungskrise, wenn wir uns mit der politischen und ökonomischen Ideengeschichte auseinandersetzen? Legt man das Wissenschaftsverständnis des Kritischen Rationalismus zu Grunde, so gibt es in jeder Wissenschaft einen beständigen Fortschritt zu immer besseren, präziseren Theorien.1 Aus dieser Perspektive kann man mit der Ideengeschichte die historische Genese aktueller Theorien rekonstruieren, nicht aber einen substantiellen Beitrag zur Lösung aktueller Probleme leisten. Der Blick zurück verdeutlicht lediglich die intellektuelle Größe der gegenwärtigen Theorien und erklärt u. a., warum sich bestimmte Theorien in der Ideengeschichte durchsetzen konnten. Dieses Wissenschaftsverständnis ist vom Vorbild der Naturwissenschaft geprägt. Es geht wie Thomas S. Kuhn davon aus, dass in den wissenschaftlichen Diskursen stets bestimmte Paradigmen dominieren, die dann von einem neuen Paradigma abgelöst werden, das diejenigen Fragen zu lösen vermag, die das vorherige Paradigma nicht erklären konnte.2 Ein solcher Typus des Paradigmenwechsel findet aber in politikwissenschaftlichen Diskursen nicht statt. Hier kommt es regelmäßig zu einer Art Pendelbewegung, die sich am Beispiel der Internationalen Politik und der Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) gut illustrieren lässt. In diesen Bereichen der Politikwissenschaft dominiert jeweils entweder der Idealismus bzw. Neo-Institutionalismus oder der Realismus bzw. Neorealismus.3 Welches Paradigma gerade dominiert, hängt maßgeblich davon ab, wie die internationale politische Entwicklung aussieht. In der Internationalen Politik dominierte im ersten und zweiten Kalten Krieg (1950er/1960er Jahre und erste Hälfte der 1980er Jahre) sowie in dem Jahrzehnt nach den Anschlägen auf das World Trade Center (2001) 1 Karl Popper: Logik der Forschung, Tübingen 2005; Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991. 2 Vgl. Thomas Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 3., unveränderte Aufl., Frankfurt/M. 1978. 3 Vgl. Ulrich Menzel: Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 2001.

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der Realismus bzw. Neo-Realismus, in Phasen der Entspannung hingegen der Neo-Institutionalismus, der die Kooperationsfähigkeit der Staaten betont. Ähnlich verhält es sich in der IPÖ: Hier dominierte nach der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkrieges zunächst für eine längere Zeit der Keynesianismus, der dann als Folge der Wirtschaftskrise und der wirtschaftlichen Stagnation in den siebziger Jahren, die als Krise des Glaubens an die Steuerungsfähigkeit volkswirtschaftlicher Prozesse wahrgenommen wurde, vom Wirtschaftsliberalismus abgelöst wurde. Mit Beginn der Bankenkrise im Jahr 2008/2009 setzte erneut ein Umdenken ein, so dass nun die wirtschaftsliberale Position nur noch von wenigen vertreten wird und eine überwiegende Zahl von Autoren im Bereich der Internationalen Politischen Ökonomie für eine konsequente Regulierung insbesondere von Finanzmärkten plädiert. Die Theorien, die jeweils innerhalb eines Paradigmas entwickelt werden, sind zwar nicht identisch mit denen, die in früheren Hochzeiten des Paradigmas vertreten wurden, dennoch gibt es große Parallelen in den Grundaussagen und -annahmen z.B. bezüglich der Stabilität von Marktprozessen oder der Aufgaben des Staates. Es werden neue Theorien über konkrete Einzelfragen entwickelt, nicht aber neue Paradigmen. Dies soll im Folgenden am Beispiel der IPÖ gezeigt werden, um zu verdeutlichen, dass es in der Politikwissenschaft nicht eine Weiterentwicklung von Paradigmen wie in der Naturwissenschaft gibt, sondern ein Nebeneinander mehrerer Paradigmen, die im Wettbewerb miteinander stehen und sich in der Vorherrschaft im wissenschaftlichen Diskurs abwechseln. Ausgehend von der Feststellung einer solchen Pendelbewegung stellt sich die Frage, wie damit in politikwissenschaftlichen Debatten sinnvoll umgegangen werden kann. Während im Wissenschaftsverständnis des Kritischen Rationalismus das jeweils herrschende Paradigma als den vorherigen Paradigmen überlegen angesehen wird, stellt sich in der IPÖ – und allgemein in politikwissenschaftlichen Debatten – die Frage, wie angesichts des Nebeneinanders konkurrierender Paradigmen die Entscheidung für das eine oder das andere begründet werden kann. Denn es ist sicherlich wenig überzeugend, die Präferenz für ein Paradigma von der tagespolitischen Aktualität abhängig zu machen: Wirtschaftsliberaler zu sein in Zeiten einer positiven Entwicklung der Märkte und Keynesianer zu werden, wenn eine Krise wie die Weltfinanzkrise von 2008 heraufzieht. Im Folgenden soll zunächst auf den Umgang mit der Pluralität der Paradigmen in gegenwärtigen Theoriedebatten in der IPÖ eingegangen werden (Teil I), bevor beispielhaft die Diskussion zwischen dem wirtschaftsliberalen und dem keynesianischen Paradigma über die Banken- und Verschuldungskrise analysiert wird (Teil II). Teil III zeigt dann, wie die Auseinandersetzung mit der Ideengeschichte ein besseres Verständnis der modernen Paradigmendiskussion ermöglicht und einen Weg aus den Sackgassen dieser Diskussion weisen kann.

I. Umgang mit der Pluralität der Paradigmen in der IPÖ Wenn eine begrenzte Zahl an Paradigmen abwechselnd die wissenschaftliche Debatte beherrscht, wie das bei der geschilderten Pendelbewegung in der IPÖ der Fall ist, hat man es im Grunde mit einem Paradigmenpluralismus zu tun: Die Paradigmen stehen mehr oder

Warum die Kapitalismuskritik den Rückgriff auf die antike Philosophie braucht

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weniger gleichwertig nebeneinander. In der IPÖ lassen sich drei Methoden des Umgangs mit der Pluralität der IPÖ-Paradigmen beobachten4: 1. Argumentativer Ansatz: Der methodische Ansatz der meisten Autoren besteht darin, ihr eigenes Paradigma mit empirischen Belegen und theoretischen Argumenten zu stützen und sie zielen darauf, die empirischen und theoretischen Schwächen der anderen Paradigmen aufzudecken; in der Diskussion geht es dabei um die argumentative Überwindung der ›gegnerischen‹ Position. Allgemein lautet das Kernargument zum Nachweis der Überlegenheit des eigenen Ansatzes über andere Paradigmen, dass es besser geeignet sei, die Wirklichkeit zu erklären. Der Empirie kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Die Diskussion zwischen den Paradigmen besteht wesentlich darin, die auf ihnen beruhenden Theorien an der Wirklichkeit zu testen und zu versuchen, sie zu falsifizieren. Die Anwendung dieses Verfahrens in der Paradigmendiskussion der politischen Theorie wirft jedoch die Schwierigkeit auf, dass das, was als Wirklichkeit wahrgenommen wird, seinerseits von den Prämissen des gewählten Paradigmas abhängt. 2. Perspektivischer Ansatz: Eine Reihe von Autoren erkennt die Pluralität der Paradigmen als sich einander ergänzende Perspektiven an und versucht insbesondere, den Realismus und den Liberalismus in einen umfassenderen Ansatz zu integrieren; Ziel ist es, den positiven Beitrag jedes dieser Paradigmen für das Verständnis von IPÖ-Zusammenhängen herauszustellen.5 Ein solcher Perspektivismus ist jedoch mit dem umfassenden Anspruch des Paradigmas des Realismus nicht vereinbar: Seine Aussage ist nicht, dass die Kooperation zwischen Staaten gelegentlich schwierig ist, wenn sicherheitspolitische Belange im Vordergrund stehen, sondern dass die Sicherheit allgemein, in jeder Situation, das oberste Ziel eines Staates ist. Der liberale Ansatz enthält zwar als Sonderfall (nämlich als Ausgangspunkt der Entwicklung von Kooperation) den Realismus, denn beide gehen von der Anarchie zwischen den Staaten aus; doch Realisten werden sich nicht damit zufrieden geben, Theorien für die Analyse eines Sonderfalls zu entwickeln. 3. Dezisionistischer Ansatz: Vor allem Susan Strange sieht die Paradigmendiskussion als einen Streit zwischen subjektiven Wertvorstellungen, der nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die konkrete IPÖ prägt; laut Strange besteht die entscheidende Aufgabe der IPÖ als Wissenschaft darin zu zeigen, welcher Machtstrukturen sich politische Akteure bei der Durchsetzung ihrer jeweiligen Wertvorstellungen bedienen. Aus dieser Sicht ist eine Paradigmendiskussion ein Streit über leere Begriffe, der zu keinem sinnvollen Ergebnis führen kann.6 An die Argumentation von Strange lassen sich drei Überlegungen anknüpfen: Erstens kann eine fruchtbare Paradigmendiskussion in der Tat weder darin bestehen, dass die Kontrahenten sich gegenseitig argumentativ zu überwinden versuchen, noch daHendrik Hansen: Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion in der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden 2008 (mit weiteren Nachweisen). 5 Robert O. Keohane/Joseph S. Nye (Hg.): Transnational Relations and World Politics, Cambridge (Mass.), London (UK) 1981. 6 Susan Strange: States and Markets, London 1988, insb. S. 1–6 und 16 f.; dies.: »An Eclectic Approach«, in: Craig N. Murphy/Roger Tooze (Hg.): The New International Political Economy, Boulder (Colorado) 1991, S. 33–49. 4

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rin, dass sie die Pluralität der Positionen als unabänderlich hinnehmen: Beim Ziel der argumentativen Überwindung messen sich die Kontrahenten gegenseitig an den Maßstäben des eigenen Paradigmas, so dass jede Seite sich selbst als überlegen ansehen kann; bei der Anerkennung der Pluralität der Positionen werden einander widersprechende Aussagen als gleichberechtigt anerkannt, was einer Aufgabe des Rationalitätsanspruchs gleichkommt. Zweitens weist Strange mit der Betonung der Verteilungsfrage auf den Kern der Paradigmendiskussion hin: Tatsächlich geht es in der IPÖ wesentlich um die Frage ›cui bono‹ – wem nützt der globale wirtschaftliche Wettbewerb?7 Realisten betonen die Bedeutung des Nationalstaats für die Sicherung des erreichten Wohlstands und befürchten Nachteile für die nationale Wirtschaft, wenn ein Staat im internationalen Wettbewerb in Hinblick auf Technologie und Effizienz nicht an der Spitze steht; (Wirtschafts-)Liberale gehen davon aus, dass der freie globale Wettbewerb für alle Seiten vorteilhaft ist. Die Frage cui bono? ist tatsächlich eine leitende Frage in dieser Auseinandersetzung. Die Betonung der Verteilungsfrage durch Strange liefert drittens einen Hinweis darauf, dass die Paradigmen der IPÖ nicht nur theoretische Ansätze zur Erklärung der Wirklichkeit liefern, die von außen an sie herangetragen werden. Vielmehr ist der Paradigmenstreit Teil der konkreten internationalen Politik und internationalen Ökonomie: Die politischen Auseinandersetzungen, die dort geführt werden, beruhen auf konkurrierenden Konzepten, wie Politik und Ökonomie zu verstehen und zu gestalten sind. Die Paradigmendiskussion ist nicht eine Diskussion über die Wirklichkeit (oder – noch abstrakter – über Theorien), sondern sie ist die Rekonstruktion einer die empirische Wirklichkeit prägenden Auseinandersetzung zwischen politischen Positionen und ist damit Teil der empirischen Wirklichkeit von Politik und Ökonomie. Doch Stranges Reduktion der Paradigmendiskussion auf einen Machtkampf, der von subjektiven Wertvorstellungen geleitet wird, kann nicht überzeugen, weil dadurch die Tragweite der Paradigmen unterschätzt wird. Wenn die Paradigmen nur subjektive Präferenzen über die Gestaltung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen würden, müsste Strange in ihrer Analyse nicht wie alle anderen Autoren in der IPÖ (und in anderen politikwissenschaftlichen Bereichen) immer wieder auf Elemente dieser Paradigmen zurückgreifen, wenn sie konkrete Machtkonstellationen analysiert. Auch wenn man den Streit um sogenannte leere Begriffe umgehen will, ist man in der Analyse doch immer wieder auf eben diese Begriffe angewiesen. Die Paradigmen sind mehr als eine subjektive Bekundung von Verteilungspräferenzen: Sie sind Annahmen darüber, wie (z. B.) Politik und Ökonomie überhaupt zu verstehen sind und in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Wenn diese Annahmen allein von der subjektiven Präferenz abhingen, wäre auch die auf ihnen aufbauende Erkenntnis subjektiv – das käme der Aufgabe des Anspruchs der Wissenschaftlichkeit gleich. Greift man hingegen wie Strange eklektisch auf einzelne Annahmen und Versatzstücke der Paradigmen zurück, oder betrachtet man sie radikalkonstruktivistisch als eine subjektive Konstruktion der Wirklichkeit durch einzelne Akteure, so vermeidet man die Paradigmendiskussion, indem man die Probleme ignoriert: Der 7

Strange: States and Markets, S. 24 und 232.

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Eklektizismus benutzt Versatzstücke aus einander widersprechenden Paradigmen, ohne den Widerspruch zum Thema zu machen; der Radikalkonstruktivismus mündet in den Relativismus. Die – durchaus notwendige und sinnvolle – Analyse des Machtkampfes zwischen den Vertretern der Paradigmen kann also die theoretische Auseinandersetzung nicht ersetzen, weil jede Machttheorie wieder auf paradigmatische Annahmen und damit ›leere Begriffe‹ (die so leer offensichtlich nicht sein können) angewiesen ist. Gleichzeitig lässt sich die Diskussion aus den genannten Gründen nicht auf der empirischen Ebene führen, so dass der einzige Ausweg darin besteht, die theoretische Auseinandersetzung mit den Paradigmen zu intensivieren. Dies wiederum kann nur fruchtbar sein, wenn der Fehler vermieden wird, die Paradigmen von einem vorgefassten Standpunkt aus zu beurteilen. Das Ziel muss es deshalb sein, die Paradigmen immanent zu verstehen und zu analysieren, wie sie jeweils auf die Schwächen der anderen reagieren. Auf diese Weise gilt es, die logische Struktur der Diskussion zu erfassen und zu verdeutlichen, dass die Positionen in einer Art negativer Abhängigkeit voneinander stehen, insofern sie jeweils ihre Stärke aus den Schwächen der gegnerischen Ansätze ziehen. Das soll im folgenden Abschnitt ausgehend von dem Beispiel der aktuellen Debatte über die Banken- und Verschuldungskrise gezeigt werden.

II. Ein aktuelles Beispiel: Die Deutung der Banken- und Verschuldungskrise durch das wirtschaftsliberale und das keynesianische Paradigma Fragt man nach den Ursachen der Banken- und Verschuldungskrise, so dominieren zwei Theorien die Debatte: der Wirtschaftsliberalismus und der Keynesianismus. Aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus wurde die Finanzkrise, die ihren Höhepunkt im Herbst 2008 nach dem Zusammenbuch der U.S.-amerikanischen Bank Lehman Brothers erreichte, im Wesentlichen durch politische Fehlentscheidungen und nicht durch Fehlentwicklungen auf den Märkten verursacht. Zum einen hatte die U.S.-Regierung seit Ende der neunziger Jahre die Vergabe von Immobilienkrediten auch an Haushalte mit geringer Bonität gefördert; zum anderen wurden nach dem Ende des Internetbooms an den Aktienmärkten im April 2000 die Leitzinsen von der U.S.-Notenbank und der europäischen Zentralbank stark gesenkt, so dass es auf verschiedenen Immobilienmärkten, insbesondere in den Vereinigten Staaten und in Südeuropa, zu einem Boom kam.8 Diese beiden politischen Entscheidungen haben aus wirtschaftsliberaler Sicht maßgeblich die Überhitzung der Immobilienmärkte bewirkt, die wiederum Ursache für Fehlinvestitionen auf den Finanzmärkten waren.9

8 Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin 2010; Nouriel Roubini/Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Crisis Economics, Frankfurt/M., New York 2010. 9 Vgl. zu dieser Sicht z. B. die Beiträge in: Theresia Theurl (Hg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise, Berlin 2010.

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Die südeuropäischen Staaten profitierten zusätzlich von der Einführung des Euro, der mit einem einheitlichen Leitzins für den Euroraum verbunden ist. Darin liegt aus wirtschaftsliberaler Sicht ein Konstruktionsfehler des Euro: Für bald zehn Jahre verschaffte die gemeinsame Währung gerade den wirtschaftlich schwächeren Staaten der EU die Möglichkeit, sich für geringe Kapitalkosten zu verschulden, so dass die Schuldenquote sowohl der öffentlichen Haushalte (wie in Griechenland und Portugal) als auch der privaten Haushalte, Unternehmen und Banken (wie in Spanien) massiv anstieg.10 Der Keynesianismus lehnt die Deutung der Banken- und Verschuldungskrise als Folge staatlicher Interventionen in die Märkte hingegen ab und sieht die Ursache vielmehr in der besonderen Instabilität von Finanzmärkten. Keynes war der Auffassung, dass Märkte aufgrund ihrer Instabilität staatlich reguliert werden müssen: Es bedürfe »possible improvements in the technique of modern capitalism by the agency of collective action«11. In der »General Theory of Employment, Interest and Money« von 1936 zeigt Keynes, dass die staatliche Regulierung vor allem an den Investitionen und an den Finanzmärkten ansetzen müsse.12 Private Investitionen sind von schwankenden Erwartungen über die Zukunft abhängig, die zu einer inhärenten Instabilität von Marktwirtschaften führen. Diese Instabilität wird durch die Volatilität der Finanzmärkte verstärkt, die ihrerseits auf das sogenannte Herdenverhalten zurückzuführen ist. Nach Keynes tendieren Investoren an den Finanzmärkten dazu, sich beim Kauf von Wertpapieren nicht von den mittel- und langfristigen Ertragschancen einer realwirtschaftlichen Anlage leiten zu lassen, sondern von der Überlegung, wie die Ertragschance eines Wertpapiers in der nächsten Zeit von anderen Marktteilnehmern eingeschätzt wird. Das Ziel eines Investors besteht nicht darin, die im realwirtschaftlichen Sinne produktivste Anlage ausfindig zu machen, sondern in diejenige Anlage zu investieren, die die anderen Investoren in der nächsten Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit für produktiv halten werden. Im Ergebnis wird eine Anlageoption nicht mehr nach ihren realwirtschaftlichen Ertragsaussichten beurteilt, sondern nach der vermuteten Beurteilung der Anlage durch andere Finanzmarktinvestoren. Ein Investor widmet seine Intelligenz »der Vorwegnahme dessen […], was die durchschnittliche Meinung als das Ergebnis der durchschnittlichen Meinung erwartet.«13 Da diese Beurteilung sich wesentlich schneller ändern kann als die faktischen Ertragsaussichten und da Investitionen an Finanzmärkten jederzeit veräußert werden können, ist das Verhalten der Anleger tendenziell kurzfristig orientiert und zudem gleichförmig.14 Das Herdenverhalten ist damit eine wesentliche Ursache für Übertreibungen von Kursentwicklungen und für die kurzfristige Orientierung von Anlageentscheidungen. In der Banken- und Verschuldungskrise wurde die Spekulation auf den Finanzmärkten durch die Entwicklung neuer Finanzierungsinstrumente verstärkt. Die ImmobilienHans-Werner Sinn: Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012, S. 124. 11 John Maynard Keynes: »The end of laissez-faire«, in: ders., Collected Writings Bd. 9 (Essays in persuasion), London, Basingstoke 1972, S. 292 f. 12 John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2006. 13 Ebd., S. 131. 14 Ebd., S. 131 f. 10

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kredite an Schuldner mit geringer Bonität wurden durch die Technik der Verbriefung in handelbare Titel umgewandelt und an ›Schattenbanken‹ verkauft, für die die Eigenkapitalvorschriften nicht gelten; diese Schattenbanken hielten auf ihrer Aktivseite langfristige Immobilienkredite und emittierten kurzfristige Wertpapiere, die durch die langfristigen Forderungen aus dem Kreditbestand abgesichert waren (Technik der Fristentransformation); zugleich wurden dabei die Kredite unterschiedlicher Bonität gebündelt, so dass auf der Grundlage von langfristigen Krediten mit durchschnittlich mäßiger Bonität kurzfristige Wertpapiere mit hoher Bonität verkauft wurden (Technik der Strukturierung). Dieser Vorgehensweise lag die Annahme zugrunde, dass Risiken durch eine breite Streuung stark reduziert werden können.15 Als die Blase auf dem U.S.-Immobilienmarkt in den Jahren 2007/08 platzte, zeigten sich die Risiken, die mit der Spekulation mit diesen Wertpapieren verbunden waren. Aus keynesianischer Sicht wurde die Krise in der Folge durch eine wirtschaftsliberal begründete Austeritätspolitik verschärft: Der durch die Krise verursachte Einbruch der Realwirtschaft gerade in südeuropäischen Staaten hätte durch staatliche Investitionen aufgefangen werden müssen.16 Beide Ansätze, Wirtschaftsliberalismus und Keynesianismus, sehen die Ursache der Krise in einer fehlenden Verantwortlichkeit entscheidender Akteure durch eine Diffusion von Verantwortung. Aus keynesianischer Sicht wurde die Bankenkrise u. a. dadurch verstärkt, dass die Banken bei der Spekulation mit hochriskanten neuen Typen von Wertpapieren damit rechnen konnten, im Fall einer Krise als systemische Risiken eingestuft zu werden und staatliche Unterstützung zu bekommen. Zugespitzt formuliert konnten sie sich darauf verlassen, dass sie die Gewinne aus den Spekulationsgeschäften privatisieren, größere Verluste jedoch sozialisieren können. Aus wirtschaftsliberaler Sicht führt die Konstruktion der gemeinsamen Währung in der EU dazu, dass nationale Regierungen einen Anreiz zu übermäßiger staatlicher Verschuldung haben. Dadurch können sie dringend erforderliche Strukturreformen umgehen, die wiederum nur unter Inkaufnahme sozialer und politischer Konflikte durchzusetzen wären. Die Risiken der Verschuldung tragen hingegen alle Euro-Staaten, u. a. weil die Europäische Zentralbank in großem Ausmaß Staatsanleihen hochverschuldeter Euro-Staaten gekauft hat. Ein Kursverfall dieser Papiere würde auf Kosten der Steuerzahler in allen Euro-Staaten gehen. Aus dieser Sicht entsteht die Krise ebenfalls dadurch, dass einzelne Akteure nur begrenzt für die Folgen ihres Handelns haften und es deshalb keine klare Verantwortlichkeit gibt. Beide Seiten beschreiben präzise die Widersprüche der Gegenseite, wobei auffällt, dass sie eine entscheidende Ursache der Krise in der Diffusion von Verantwortung sehen – aus wirtschaftsliberaler Sicht auf seiten der politischen Akteure insbesondere in der Eurozone, aus keynesianischer Sicht auf seiten der Akteure auf den Finanzmärkten. 15 Vgl. die präzise Analyse in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Das Erreichte nicht verspielen. Jahresgutachten 2007/2008, Wiesbaden 2007, S. 107–121. 16 Vgl. Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise, Berlin 2012; Hans-Jürgen Bieling: »Europäische Finanzmarktpolitik in der Krise«, in: Bröchler, Stephan, Lauth, Hans-Joachim (Hg.): Von Government zu Governance: Informelles Regieren im Vergleich, Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft Bd. 8 (2014), Supplement 1, Sonderheft 4, S. 91–113.

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Diese Diffusion von Verantwortung folgt aus der Argumentationslogik der modernen Wirtschaftstheorien. Wirtschaftsliberale nehmen an, dass es bei Markttransaktionen zu einem automatischen Ausgleich von Interessen und zu einer gegenseitigen Kontrolle der Akteure kommt; deshalb plädierten sie seit den siebziger Jahren für eine umfassende Deregulierung der Finanzmärkte. Krisen sind kurzfristig möglich, aber es kommt zu einer schnellen Adaption der Marktkräfte an die neuen Bedingungen. Systemische Krisen wie die 2008 drohende Kernschmelze des internationalen Finanzsystems sind in wirtschaftsliberalen Theorien nicht vorgesehen bzw. werden als Adaptionskrisen interpretiert (d. h. als Krisen, die aus der Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen resultieren).17 Interventionistische Ansätze wie der Keynesianismus kritisieren hingegen die inhärente Instabilität von Marktprozessen und vertrauen auf die Wirkung staatlicher Eingriffe in Marktprozesse. Durch Regulierungen, Zins- und Fiskalpolitik (notfalls unter Inkaufnahme einer Erhöhung der staatlichen Verschuldung) sollen die Märkte stabilisiert und Krisen vermieden werden. Im Kontext der Verschuldungskrise sind es die EZB und die wirtschaftlich stärkeren Euro-Staaten, die aus der Sicht der interventionistischen Theorien die maßgebliche Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in den Krisenstaaten tragen sollen. Somit kritisieren der Wirtschaftsliberalismus und der Interventionismus einerseits die Diffusion von Verantwortung auf den Märkten (Keynesianer) und im politischen System (Wirtschaftsliberale), doch sie liefern andererseits die argumentative Grundlage für eine solche Diffusion, da sie vom automatischen Ausgleich der Interessen auf den Märkten überzeugt sind (Wirtschaftsliberale) bzw. ein fast grenzenloses Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit der Politik haben (Keynesianer). Auf der Ebene der ökonomischen Krisentheorien führt die Debatte in eine Sackgasse, in der beide Seiten zu Recht auf die Schwächen der Gegenseite verweisen. Hier hilft nun der Schritt zurück in die Ideengeschichte, weil in der gemeinsamen Wurzel beider Theorien – der politischen und ökonomischen Theorie von Adam Smith – die tiefere Gemeinsamkeit des Wirtschaftsliberalismus und des Keynesianismus deutlich wird.

III. Der Beitrag der Ideengeschichte: automatischer Ausgleich versus Verantwortung der Akteure III.1 Der gemeinsame Bezugspunkt von Wirtschaftsliberalen und Keynesianern: Adam Smith’ Theorie des automatischen Interessenausgleichs Die politische und ökonomische Theorie von Adam Smith ist der gemeinsame Bezugspunkt der Wirtschaftsliberalen und der Keynesianer: Wirtschaftsliberale sehen in ihm den Vordenker der Idee der prästabilierten Harmonie; Keynesianer halten an der Vorstellung eines Interessenausgleichs auf den Märkten und am Ziel des Wirtschaftswachstums So bereits von Mises in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise: Ludwig von Mises: Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Tübingen 1931. 17

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fest und beanspruchen, eine entscheidende Voraussetzung für das Erreichen dieser Ziele zu benennen – die entsprechenden staatlichen Interventionen. Die zentrale These von Smith, die der Wirtschaftsliberalismus dann später auch auf die Finanzmärkte anwendete, lautet nicht, dass der Egoismus der Individuen zu einem Ausgleich der Interessen führt, sondern dass die natürlichen Bestrebungen der Menschen, so wie sie sind, automatisch zur harmonischen Ordnung der Gesellschaft führen. Damit formuliert Smith eine entscheidende Gegenthese zu der bis dahin dominierenden Tugendethik, die in der Tradition von Platon und Aristoteles konkrete moralische Anforderungen an die Bürger stellt und z. B. (wie bei Aristoteles) die Stabilität der politischen Ordnung von einer Mäßigung des Besitzstrebens abhängig macht. Smith’ vielzitierte Metapher von der unsichtbaren Hand bezeichnet einen Mechanismus, der die Bestrebungen der Menschen nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Ethik, im Recht und im Bereich der sozialen und politischen Ordnung zum Ausgleich bringt. Die verschiedenen Ebenen, auf denen der Mechanismus des Ausgleichs wirkt, behandelt Smith in seinem ersten Hauptwerk, der Theorie der ethischen Gefühle von 1759. Von der schottischen Moralphilosophie seiner Zeit, also u. a. von seinem Lehrer Francis Hutcheson und seinem Freund David Hume, übernimmt Smith die Idee, dass das menschliche Handeln neben dem Eigennutzstreben auch durch die Fähigkeit gekennzeichnet ist, am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, und entwickelt daraus das Grundmodell des Ausgleichsmechanismus am Beispiel eines von einem Schmerz betroffenen Menschen und eines unparteiischen Zuschauers.18 Der Zuschauer empfindet Mitgefühl (›sympathy‹) mit dem Affekt des Betroffenen, weil es nach Smith in der Natur des Menschen liegt, trotz seines Egoismus am Schicksal anderer Anteil zu nehmen, ohne dass diese Anteilnahme auf ein Nutzenkalkül reduziert werden könne. Das Mitgefühl des Zuschauers bezieht sich auf die Situation, in der der Betroffene sich befindet. Der Zuschauer vergleicht sein Mitgefühl mit dem Affekt des Betroffenen und beurteilt den Affekt, der ihm gegebenenfalls übertrieben erscheint. Der Betroffene weiß um die Beurteilung seines Affekts durch den Zuschauer; der Zuschauer wiederum ist sich der Tatsache bewusst, dass der Betroffene sein Mitgefühl beurteilt. Beide antizipieren die Beurteilung durch den jeweils anderen; dies bewirkt auf seiten des Betroffenen eine Mäßigung des Affekts und auf seiten des Zuschauers eine Steigerung des Mitgefühls. Im Ergebnis kommt es zwar nicht zu einem Gleichklang von Affekt und Mitgefühl, aber doch zu »so viel Übereinstimmung (…), als für die Harmonie der Gesellschaft ausreichend ist«19. Vergleichbare Mechanismen wirken nun im Bereich der ethischen und rechtlichen Normenbildung, in der politischen und sozialen Ordnung und in der Ökonomie: – Die wesentliche Aufgabe rechtlicher Normen ist es, Maßstäbe für die Vergeltung von Schädigungen zu formulieren. Grundlage für die Entwicklung von Normen ist die Beurteilung des Vergeltungsgefühls eines Geschädigten durch einen unparteiischen Zuschauer und sein ethisches Gefühl; es kommt ähnlich wie im vorherigen Fall zu einem 18

Vgl. Adam Smith: Die Theorie der ethischen Gefühle, übersetzt von Walther Eckstein, Hamburg

1994. 19

Ebd., S. 25.

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Anpassungsprozess, in dem der unparteiische Zuschauer die Reaktion des Geschädigten auf den Schaden beurteilt.20 – Aus der natürlichen Anteilnahme an der Freude anderer und dem natürlichen Streben nach sozialer Anerkennung entsteht die gesellschaftliche Ordnung: Die oberen Schichten streben nach der Anerkennung durch die unteren; und die unteren Schichten neigen dazu, am Schicksal der Reichen und Herrschenden Anteil zu nehmen. Daraus entwickeln sich die Sitten und Machttechniken des Adels sowie die Unterwürfigkeit der Beherrschten, die beide zusammen die gesellschaftliche Ordnung stabilisieren.21 – Der allgemeine Wohlstand in der Gesellschaft wird durch die Freude der Reichen an ihrem Besitz und dessen Bewunderung durch die Armen gemehrt. Dabei zieht nicht der Reiche den entscheidenden Nutzen aus seinem Reichtum, sondern die Gemeinschaft, denn der Reiche muss dem Streben nach Reichtum sein wahres Lebensglück, die »wirkliche Seelenruhe«, opfern.22 Ergänzend wird dann im Wohlstand der Nationen der Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen durch das Gesetz von Angebot und Nachfrage beschrieben, das somit nur ein Ausgleichsmechanismus unter vielen ist.23 Diese Ausgleichsmechanismen können jedoch nur wirken, wenn die Menschen ihre Anlagen frei entfalten können. Interessanterweise geht Smith nicht davon aus, dass es in der Gesellschaft Kräfte gibt, die die freie Gesellschaft willentlich fördern werden. Die sozialen Klassen, die von der Freiheit am ehesten profitieren, werden sie nicht durchsetzen: Unternehmer und Kapitalisten haben zwar ein Interesse an der Überwindung feudaler Strukturen, aber nur um dann ihrerseits neue – ökonomische – Machtstrukturen zu errichten und im politischen Prozess Beschränkungen des Wettbewerbs (z. B. durch eine merkantilistische Wirtschaftspolitik) durchzusetzen. Für die Durchsetzung der Freiheit setzt Smith wiederum auf einen Mechanismus, eine Art List der Geschichte. Der Feudalismus ging daran zugrunde, dass einerseits die Feudalherren verschwendungssüchtig waren und sich andererseits in den Städten der Unternehmergeist der Kaufleute und Fabrikanten entwickelte, die von den wirtschaftlichen und politischen Freiheiten profitierten. Durch die wirtschaftliche Entwicklung steigt die Zahl der freien Arbeiter, Handwerker und Händler. So bildet sich schrittweise eine freie Gesellschaft heraus, in der die Reichen, ohne es zu intendieren, durch den Erwerb von Luxusgütern »für den Lebensunterhalt vieler Menschen« 24 sorgen. Dadurch wiederum wird das allgemeine Bildungsniveau gehoben, und es kommt zu einem besseren Verständnis der Gefahren, die vom Monopolgeist der Kaufleute und Fabrikanten für die freie Gesellschaft ausgehen. Diese Aufklärung in der Gesellschaft zu befördern, ist auch ein wesentliches Anliegen von Smith’ ökonomischen Hauptwerk, dem Wohlstand der Nationen.

Ebd., S. 115–137. Ebd., S. 70–86. 22 Ebd., S. 311. 23 Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1978, Buch I, Kapitel 7 (S. 48–56). 24 Ebd., S. 340. 20 21

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Der Glaube an Automatismen, die in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und auch in der Geschichte wirken und einen Ausgleich der Menschen herbeiführen, prägt das gesamte Werk von Adam Smith. Ideengeschichtlich wendet sich Smith damit gegen diejenigen Positionen, die die entscheidende Voraussetzung für die Stabilität politischer und wirtschaftlicher Systeme in einer bestimmten (tugendhaften) Haltung der Akteure sehen, so insbesondere in einem maßvollen Streben nach Reichtum. Die Abgrenzung wird an einer Stelle im Wohlstand der Nationen besonders deutlich, an der Smith die Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert von Aristoteles aufgreift, um sich aber zugleich in aller Deutlichkeit von Aristoteles abzugrenzen.25 Smith unterscheidet Gebrauchs- und Tauschwert am Anfang des Wohlstands der Nationen, um im folgenden die Frage zu stellen, »nach welchen Regeln sich der Tauschwert eines Gutes richtet« 26. Entsprechend befasst er sich im weiteren Werk nicht mehr mit dem Gebrauchswert, sondern nur noch mit dem Tauschwert und seiner Bedeutung für die Funktionsmechanismen von Märkten. Aristoteles hingegen unterschied Gebrauchs- und Tauschwert, um zu verdeutlichen, dass dem Gebrauchswert in philosophischer Hinsicht die zentrale Bedeutung zukommt: Was hat eigentlich für den Menschen einen Wert? Ist alles, was Menschen als wertvoll erachten, tatsächlich wertvoll? Diese Fragen sind entscheidend, um das Verhältnis des Menschen zur Ökonomie zu klären, das für Adam Smith nur am Rande (in der »Theorie der ethischen Gefühle«) eine Rolle spielt.27

III.2 Aristoteles: die Verantwortung der Akteure für ökonomische und politische Krisen Aristoteles’ Politik enthält eine Krisentheorie, die im Unterschied zum Wirtschaftsliberalismus und Keynesianismus die Verantwortung der Akteure in den Mittelpunkt der Argumentation stellt. Dabei wäre es natürlich ein Anachronismus, in seinen Schriften eine Theorie für gegenwärtige Banken- oder Verschuldungskrisen zu suchen. Doch in der Politik wird eine generelle Theorie politischer, sozialer und ökonomischer Krisen formuliert, deren Grundzüge sich in drei Schritten skizzieren lassen. (1) Das Grundproblem in Bezug auf die Ökonomie ist das Verhältnis des Menschen zum Reichtum: Strebt ein Mensch nach Reichtum um seiner selbst willen und damit nach schrankenlosem Besitz (Chrematistik), oder dient ihm der Reichtum als Mittel zu einem höheren Zweck, idealiter dem Zweck des guten Lebens? Das Verhältnis des Menschen zum Reichtum ist nicht Folge von Anreizen oder äußeren Bedingungen, sondern Ergebnis einer Haltung: Der Mensch entscheidet sich dazu, dieses oder jenes Verhältnis zum Reichtum zu haben.28

25 26 27 28

Ebd., S. 27 sowie Aristoteles: Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1981, Buch I, Kapitel 9. Smith: Wohlstand der Nationen, S. 27. Vgl. insb. Teil IV der »Theorie der ethischen Gefühle« (S. 307–330). Aristoteles: Politik, Buch I , Kapitel 9.

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(2) Aristoteles’ Kritik der Chrematistik ist von grundlegender Bedeutung für seine Analyse des Verfalls von Verfassungen. Das schrankenlose Streben nach Reichtum ist Ursache der Herausbildung einer Klasse von Reichen (Oligarchen), die nach der Macht im Staat streben, um die Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil (und zum Schaden der Armen) zu gestalten. Als Reaktion auf die Ungerechtigkeit der Oligarchie streben die Armen danach, ihrerseits die Macht zu ergreifen, die Oligarchen zu enteignen und ihren Reichtum umzuverteilen. Dieser Konflikt zwischen oligarchischen und demokratischen Verfassungen ist ein wesentlicher Grund für das Problem der stasis und die Instabilität der politischen Ordnungen; ihre Ursache liegt in der Chrematistik.29 (3) Der Grund einer stabilen politischen Ordnung (und damit der Ansatzpunkt für die Überwindung ökonomischer und politischer Krisen) liegt erstens in der Überwindung der Chrematistik durch eine entsprechende Erziehung der Bürger zum verantwortlichen Umgang mit dem Besitz und zweitens in der Errichtung einer Verfassung, die durch einen breiten Mittelstand das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Reiche und Arme vermeidet.30 Der Mittelstand zeichnet sich nicht nur durch einen Besitz aus, der zwischen Armut und Reichtum liegt, sondern auch durch die Tugend der Mäßigung im Streben nach Reichtum. Aristoteles weist jedoch mit aller Deutlichkeit jene Theorien zurück, die ökonomische Krisen durch eine Umverteilung des Besitzes überwinden wollen.31 Im Ergebnis zeigt diese Skizze der Argumentation von Aristoteles, dass er im richtigen Verhältnis des Einzelnen zum Besitz die zentrale Voraussetzung für die Stabilität des politischen und des wirtschaftlichen Systems sieht. Wenn Smith sich im Wohlstand der Nationen auf die Analyse des Tauschwerts konzentriert, dann steht dahinter die These, dass der Tauschwert auf den Märkten zu einem automatischen Ausgleich von Interessen führt – und dass der Ausgleich somit (anders als bei Aristoteles) nicht von einer bestimmten Haltung der Akteure abhängt.

IV. Schlussfolgerung Die Entwicklung von Aristoteles über Adam Smith hin zum Wirtschaftsliberalismus und Keynesianismus der Gegenwart lässt sich theoriegeschichtlich als Fortschrittsgeschichte darstellen: Als eine Geschichte, in der der (vormoderne) Glaube an die Kraft der Tugendethik abgelöst wird von der modernen Frage nach den Gesetzmäßigkeiten, die die Funktionsweise politischer und wirtschaftlicher Systeme bestimmen. Selbst wenn diese Sicht richtig wäre, wäre es notwendig, die aristotelische Sicht zu kennen, um zu verstehen, in welcher Weise sich Smith im Wohlstand der Nationen an entscheidenden Stellen von ihr abgrenzt. Ohne die Kenntnis der politischen und ökonomischen Theorie von Aristoteles lässt sich Adam Smith nicht verstehen.

29 30 31

Ebd., insb. Buch V, Kapitel 3. Ebd., Buch IV, Kapitel 11. Ebd., Buch II, Kapitel 7 (insb. 1267b5–9).

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Doch das Argument, dass Aristoteles eine ›vormoderne‹ Position vertritt, besagt nur, dass Smith seine Position später als Aristoteles formuliert hat und eine Mehrheit von Politik- und Wirtschaftswissenschaftlern die aristotelische Position damit für überholt hält. Dies ist genau genommen nur ein Machtargument: Die Mehrheit legt fest, dass man nach Smith in der politischen und ökonomischen Theorie nicht mehr an Aristoteles – oder allgemein an der Antike – anknüpfen könne. Da weder die Macht noch die Mehrheit ein Argument ist, sondern die Berufung auf sie eine Vermeidung der argumentativen Auseinandersetzung bedeutet, sollte in akademischen Debatten nicht auf sie rekurriert werden. Vielmehr ist es sinnvoll, die antike politische Philosophie ernst zu nehmen. Der entscheidende Fehler der modernen Auseinandersetzung mit der Ökonomie könnte gerade darin liegen, dass gegenwärtige Positionen entweder von der Annahme eines automatischen Interessenausgleichs ausgehen (Wirtschaftsliberalismus) oder davon überzeugt sind, dass Märkte vom Staat stabilisiert und Marktergebnisse beliebig korrigiert werden können. Vielleicht ist dies gerade eine Illusion der Moderne: zu glauben, dass man über die Ökonomie reden könne, ohne das Verhältnis des Menschen zum Besitz zu thematisieren. Das aber lässt sich nur untersuchen, wenn man sich auf die Ideengeschichte einlässt – mit der Bereitschaft, sich von ihr belehren zu lassen.

Literatur Albert, Hans: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1991. Aristoteles: Politik, übersetzt von Eugen Rolfes, Hamburg 1981. Bieling, Hans-Jürgen: »Europäische Finanzmarktpolitik in der Krise«, in: Stephan Bröchler/ Hans-Joachim Lauth (Hg.): Von Government zu Governance: Informelles Regieren im Vergleich, Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft Bd. 8 (2014), Supplement 1, Sonderheft 4, S. 91–113. Flassbeck, Heiner: Zehn Mythen der Krise, Berlin 2012. Hansen, Hendrik: Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion in der Internationalen Politischen Ökonomie, Wiesbaden 2008. Keohane, Robert O./Joseph S. Nye (Hg.): Transnational Relations and World Politics, Cambridge (Mass.), London (UK) 1981. Keynes, John Maynard: »The end of laissez-faire«, in: ders., Collected Writings Bd. 9 (Essays in persuasion), London, Basingstoke 1972. – Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2006. Kuhn, Thomas: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 3., unveränderte Aufl., Frankfurt/M. 1978 . Menzel, Ulrich: Zwischen Idealismus und Realismus. Die Lehre von den Internationalen Beziehungen, Frankfurt/M. 2001. Mises, Ludwig von: Die Ursachen der Wirtschaftskrise, Tübingen 1931. Popper, Karl: Logik der Forschung, Tübingen 2005. Roubini, Nouriel/Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Crisis Economics, Frankfurt/M., New York 2010.

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Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Das Erreichte nicht verspielen. Jahresgutachten 2007/2008, Wiesbaden 2007. Sinn, Hans-Werner: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin 2010. – Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, München 2012. Smith, Adam: Die Theorie der ethischen Gefühle, übersetzt von Walther Eckstein, Hamburg 1994. – Der Wohlstand der Nationen, übersetzt von Horst Claus Recktenwald, München 1978. Strange, Susan: Casino Capitalism, Oxford, New York 1986. – States and Markets, London 1988. – »An Eclectic Approach«, in: Craig N. Murphy and Roger Tooze (Hg.): The New International Political Economy, Boulder (Colorado) 1991, S. 33–49. Theurl, Theresia (Hg.): Wirtschaftspolitische Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise, Berlin 2010.

Wider die Gespenster der Vergangenheit: Politische Ideengeschichte und Kritik der Gegenwart Hans-Jörg Sigwart (Erlangen)

Die Frage nach der aktuellen Relevanz ideengeschichtlicher Forschung wird im Folgenden anhand der Frage diskutiert, welchen Beitrag die politische Ideengeschichte zur kritischen Gegenwartsdiagnose leisten kann. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass die Rekonstruktion der historischen Genese gegenwärtiger gesellschaftlicher Selbstverständnisse unmittelbar gesellschaftskritische Implikationen hat, weil sie als Grundlage dafür dienen kann, bestimmte ideelle Festlegungen und praktische Deutungsroutinen einer kritischen Analyse zu unterziehen. Politische Ideengeschichte kann zu einer solchen Analyse unter anderem die Perspektive einer kritischen Wirkungsgeschichte beitragen, aus der sich die besonderen Effekte und Dynamiken in den Blick nehmen lassen, die sich aus der praktischen Applikation von »Ideen« für die Logik der Praxis gegenwärtiger gesellschaftlicher Selbstinterpretation ergeben. Zu diesen Effekten gehören insbesondere Tendenzen der Enthistorisierung, der De- und Rekontextualisierung sowie der Tautologisierung von »Ideen«, in deren Verlauf diese die Form historischer »Gespenster« annehmen, für deren praktische Wirkung in der Gegenwart gerade die Verschleierung ihrer historischen Genese eine konstitutive Voraussetzung ist. Die besondere Perspektive einer kritischen Wirkungsgeschichte, welche diese Entwicklungsdynamiken untersucht, kann, wie im Folgenden noch deutlich werden wird, auf der Grundlage unterschiedlicher politisch-theoretischer Konzeptionen reflektiert und vertreten werden. Sie hat unter anderem auch eine Reihe von Berührungspunkten mit der Konzeption einer kritischen »Genealogie«, wie sie (in Anknüpfung an Nietzsche) insbesondere von Michel Foucault entwickelt wurde.1 In einigen wichtigen Punkten hat sie allerdings grundlegend andere Implikationen. Zu ihrer Rekonstruktion wird daher auf andere Autoren zurückgegriffen. Unter anderem soll die im Folgenden skizzierte Konzeption als eine mögliche und sehr fruchtbare, aber keineswegs als die einzig mögliche Perspektive ideengeschichtlicher Forschung und also nicht als radikalkritische im Sinne einer mit Ausschließlichkeitsanspruch auftretenden Position, sondern als integraler Bestandteil einer insgesamt multiperspektivischen politischen Ideengeschichte verstanden werden. Bevor diese besondere Perspektive einer kritischen Wirkungsgeschichte im dritten Abschnitt genauer erläutert wird, sollen daher zu ihrer Einordnung im ersten Abschnitt einige Anmerkungen zur Debatte um den Gegenwartsbezug historischer Forschung allgemein vorausgeschickt und im zweiten Teil deren Implikationen für die Gegenstandsbestimmung ideengeschichtlicher Forschung skizziert werden. 1

Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Schriften, Bd. 2, Frankfurt/M. 2002, S. 166-191.

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I. »Lehren« aus der Geschichte? Zur Relevanz der Historie für die Gegenwart Die Frage, welche »Lehren« die Geschichte der Gegenwart anzubieten habe, beschäftigt spätestens seit dem 19. Jahrhundert nicht nur intensiv die Philosophen, Theoretiker und Historiker von Beruf, sondern in regelmäßigen Abständen auch die Politik und die breite Öffentlichkeit. Zuletzt hat die Frage aus Anlass der Danziger Gedenkrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck im September 2014 zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen besondere öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Gauck hatte in seiner Rede auf den aktuellen Ukraine-Konflikt Bezug genommen und mit Verweis auf die Lehren, die aus der Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs zu ziehen seien, eine entschlossene Haltung des Westens gegenüber Russland gefordert. Diese Bemerkungen des Bundespräsidenten lösten eine kurze, aber sehr kontrovers geführte öffentliche Debatte aus, deren Verlauf unter anderem zeigt, dass und warum die Verwendung historischer Analogien eine sehr ambivalente und in ihren Wirkungen nicht leicht zu kontrollierende Argumentationsstrategie darstellt. Wer sie zu nutzen versucht, wird nicht nur schnell mit der kritischen Nachfrage konfrontiert, wie klug es sei, in einer ohnehin bereits angespannten Lage sozusagen geschichtspolitisches Öl – ein offenbar besonders explosiver Stoff – ins Feuer zu gießen. Er muss darüber hinaus auch eine Gefahr einkalkulieren, die dieser Strategie relativ unabhängig von der Plausibilität ihrer jeweiligen Anwendung inhärent zu sein scheint. Historische Analogieschlüsse, allerdings auch die historisch begründete Kritik an ihnen, scheinen insbesondere dann, wenn sie als politische Argumente in öffentlichen Debatten verwendet werden, stets der Gefahr ausgesetzt, vom Publikum am Ende eher, um es mit Marx zu sagen, als Wiederaufführung einer alten Tragödie, allerdings in neuem, eher dem Genre der Farce entlehnten Gewand wahrgenommen zu werden. Neben solchen politisch-strategischen Fragen zur Verwendung historischer Analogien wurden in der Auseinandersetzung aber auch grundsätzlichere Probleme der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart thematisiert.2 Sofern sie diese grundsätzlichen Fragen berührt, macht die Debatte auf die Wichtigkeit einiger allgemeiner Unterscheidungen aufmerksam, die für die Frage des Gegenwartsbezugs auch ideengeschichtlicher Forschung aufschlussreich sind. Sie macht erstens deutlich, dass sich die Frage nach der Zulässigkeit von historischen Analogieschlüssen bzw. die Frage, ob sich Geschichte wiederholt oder ob sie sich nicht wiederholt, einer allzu pauschalen und eindeutigen Beantwortung entzieht. Auf der einen Seite können pauschale Analogieschlüsse in der Art von in der Tendenz oftmals deterministischen oder monokausalen Behauptungen einer unmittelbaren »Vergleichbarkeit« unterschiedlicher historischer Konstellationen der Ereignishaftigkeit und Kontingenzoffenheit geschichtlicher Entwicklungen nicht gerecht werden. Auf der anderen Seite kommt keine historische Analyse ohne die Annahme einer 2

Vgl. die Zusammenstellung von Einschätzungen einer Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern zur Gedenkrede Gaucks in der Süddeutschen Zeitung: http://www.sueddeutsche.de/politik/ weltkriegs-gedenken-und-ukraine-krise-aus-der-geschichte-lernen-1.2115983 (Stand: 23.04.2015).

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prinzipiellen »Vergleichbarkeit« aus, insofern jede Art von ideographisch-historischer Forschung (implizit oder explizit) aus einer diachron komparativen Perspektive betrieben wird. Prinzipielle »Vergleichbarkeit« ist also einerseits conditio sine qua non historischer Forschung, darf aber andererseits gerade nicht im Sinne einer pauschalen deterministischen Analogiebehauptung oder in einem krypto-naturwissenschaftlichen Sinne von einfacher Gattungszugehörigkeit und entsprechender Kausalgesetze verstanden werden, sondern eher im Sinne von wirkungsgeschichtlichen bzw. von Sinnzusammenhängen, die als geschichtliche »Individualitäten« zu allererst empirisch-hermeneutisch rekonstruiert werden müssen.3 Die Debatte zeigt darüber hinaus zweitens, dass die Dynamik und Semantik geschichtspolitischer öffentlicher Auseinandersetzungen bestimmte Missverständnisse fördern kann, indem sie zum Beispiel die wichtige, aber häufig vernachlässigte Unterscheidung zwischen historisch fundierter Gegenwartsanalyse einerseits und unmittelbarer politischer Handlungsanleitung andererseits eher zu verwischen als zu betonen geeignet ist. Wird aber beides pauschal miteinander identifiziert, so als ergäbe sich aus einer noch so zutreffenden Analyse der geschichtlichen Hintergründe gegenwärtiger Situationen unmittelbar auch eine klare politische Handlungsanweisung mit sozusagen historisch verbürgter Erfolgsgarantie, läuft man Gefahr, stillschweigend Analyse mit Prognose gleichzusetzen. Faktisch hat das zur Folge, dass mit dem Topos von den »Lehren« aus der Geschichte nicht mehr alleine nach der Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart, sondern zugleich auch und vielleicht sogar primär nach der Bedeutung von beiden, von Vergangenheit und Gegenwart für die Zukunft gefragt wird. Insofern historische Analogieschlüsse, wenn sie zum Zweck der Ableitung unmittelbarer politischer Handlungsanweisungen gezogen werden, einer solchen inhärenten Zukunfts- und Prognoselogik folgen, widersprechen sie zwangsläufig der Ereignishaftigkeit, Kontingenz und der relativen Freiheit bzw. Willkür politischer Handlungsprozesse. Diese berechtigten Einwände gegen pauschale Analogieschlüsse stellen allerdings keineswegs die gegenwartsbezogene Relevanz von historischer Forschung in Frage. Vielmehr lässt sich diese vielleicht überhaupt erst vor dem Hintergrund solcher berechtigten kritischen Einwände genauer bestimmen. Sie ergibt sich zunächst einmal ganz allgemein aus dem Faktum der Geschichtlichkeit der Gegenwart selbst, also aus der Tatsache, dass die Gegenwart immer auch aus den »objektivierten« Ergebnissen von historischen Prozessen besteht. Geschichte hat daher unmittelbar gegenwärtige Präsenz, und zwar nicht nur in den gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen, für deren praktische Logik ihre historischen Entstehungs- und Entwicklungsprozesse von erheblicher Bedeutung sind, sondern auch in den Dispositionen von Individuen, in die, bis in die grundlegendsten individuellen Vorstellungen, sogar bis in die Körper hinein, diese verstetigten Formen objektivierter Geschichte ebenfalls eingeschrieben sind. Nicht nur Strukturen und Institutionen, auch individuelle Dispositionen sind also bis zu einem gewissen Grad opus operatum geschichtlicher Prozesse, und als solches zugleich auch modus operandi geMax Weber: »Roschers historische Methode«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen 1988, S. 3–42; hier: S. 3 ff. 3

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genwärtiger gesellschaftlicher Interaktion.4 Sie sind also nicht lediglich museal relevante Hinterlassenschaften ehemals lebendiger menschlicher Praxis, zwar objektiv bestehende, aber praktisch tote kulturelle Fossilien, sondern vielmehr die historisch gewordenen Bedingungen der Möglichkeit des unmittelbar gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen, intellektuellen Tätigseins von Individuen, die bestimmte Möglichkeiten überhaupt erst eröffnen, diesen Möglichkeiten aber auch bestimmte Grenzen setzen und sie in Pfadabhängigkeiten einbinden, ohne sie allerdings vollständig zu determinieren. Vor diesem Hintergrund kann die Frage danach, ob Geschichte sich wiederhole oder nicht, als die von vorneherein missverständliche Formulierung der tatsächlich grundlegenden Frage nach der unmittelbaren Präsenz von Geschichte im modus operandi der Gegenwart verstanden werden. An die Stelle der Vorstellung historischer »Analogien« tritt dann der komplexe Versuch einer Verhältnisbestimmung zwischen der Determiniertheit gegenwärtiger gesellschaftlicher Praxis durch ihre geschichtlich gewordenen Bedingungen auf der einen Seite und der Ergebnisoffenheit und Freiheit des Handelns in der Gegenwart auf der anderen Seite. Auf diese Weise reformuliert, entzieht sich das Problem der Beziehung zwischen Geschichte und Gegenwart endgültig einer einfachen und pauschalen Lösung, kann aber dafür empirisch und theoretisch differenziert reflektiert werden. Denn die Antwort auf die Frage, wie genau sich das Verhältnis zwischen historischer Determiniertheit und Freiheit gegenwärtigen Handelns darstellt, fällt erstens je nach konkretem Kontext, also aus empirisch untersuchbaren Gründen, und zweitens je nach theoretischer Position, also aus konzeptionell versteh- und diskutierbaren Gründen, unterschiedlich aus. Was letzteres betrifft, ließe sich zum Beispiel der weitgehend deterministischen Position Niklas Luhmanns, die er in dem bekannten Bonmot zusammengefasst hat, dass in der modernen Gesellschaft zwar alles anders sein, der Einzelne aber im Grunde dennoch fast nichts ändern könne,5 Hannah Arendts »freiheitliche« These von der Natalität als einer wesentlichen Grundbedingung menschlicher Existenz gegenüberstellen, nach der es zur Fähigkeit von Menschen gehört, jederzeit einen neuen »Anfang« zu machen, und das heißt, eine Handlungsreihe von vorne zu beginnen und damit geschichtliche Kontinuitäten und Pfadabhängigkeiten zu durchbrechen.6 Aber unabhängig davon, von welcher dieser möglichen theoretischen Positionen das Verhältnis zwischen geschichtlicher Bedingtheit einerseits und Kontingenz bzw. Freiheit andererseits in den Blick genommen wird, erweist sich die These, dass mit diesen beiden Polen ein für gesellschaftliche und politische Wirklichkeit wesentliches Spannungsverhältnis abgesteckt und damit sowohl die unmittelbare Gegenwärtigkeit von Vergangenem als auch die wichtige Rolle von Freiheit und Kontingenz in gesellschaftlicher Praxis erwiesen ist, als gut begründete Annahme, die jeder Art von historischer Forschung zugrunde liegt. Historische und insbesondere ideengeschichtliche Forschung erweist sich vor diesem Hintergrund als unverzichtbarer Bestandteil kritischer Gegenwartsanalyse. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1993, S. 98 ff. Niklas Luhmann: »Komplexität und Demokratie«, in: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 5. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 35–45, hier: S. 44: »Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern.« 6 Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 11. Auflage, München, Zürich 1999, S. 215 f. 4 5

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II. Modi der Gegenwärtigkeit von Ideen Für die Bestimmung der besonderen Beziehung politischer Ideengeschichte zur Gegenwart muss neben den genannten Punkten eine weitere begriffliche Differenzierung berücksichtigt werden. Sie ergibt sich aus der Unterscheidung zwischen der unmittelbar praktischen Bedeutung von Ideen in der Geschichte von Ereignissen, Handlungen und Institutionen einerseits, von der Geschichte ihrer gedanklichen Reflexion andererseits, die in gewisser Weise der grundlegenden Unterscheidung von Theorie und Praxis entspricht und die für die Gegenstandsbestimmung politischer Ideengeschichte ebenfalls von wesentlicher Bedeutung ist. Anstatt, wie es im ideengeschichtlichen Diskurs nicht selten geschieht, diese Differenzierung im Sinne einer Unterscheidung von sich wechselseitig ausschließenden Radikalpositionen auszudeuten und sich konsequenterweise für eine dieser Radikalpositionen unter Ausschluss der jeweils anderen zu entscheiden, lässt sie sich alternativ auch im Sinne eines Arguments für eine multiperspektivische politische Ideengeschichte verstehen, die sich auf verschiedenen, allerdings sich nicht ausschließenden, sondern aufeinander verweisenden Ebenen bewegt. So verstanden, stellt sich für die politische Ideengeschichte die Frage nach der gegenwärtigen Relevanz von »Ideen« auf zwei unterschiedlichen, wechselseitig aufeinander verweisenden Ebenen. Sie stellt sich zum einen auf der Ebene philosophisch-theoretischer Grundlagenreflexion, in der es der Ideengeschichte um die Identifizierung und konzeptionelle Artikulation von fundamentalen Problemen der gesellschaftlichen Existenz von Menschen geht, sofern sie sich aus der Geschichte der Reflexion politischer Realität selbst herausarbeiten lassen. Auf dieser Ebene ergibt sich die aktuelle Relevanz von historischen »Ideen«, ihre unmittelbare Gegenwärtigkeit, immer auch aus ihrem Anspruch (oder dem ihnen aus heutiger Perspektive ex post zugeschriebenen Anspruch) einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Zeitunabhängigkeit. Dieser Anspruch beruht letztlich auf der Vorstellung, dass zwar auch philosophisch-theoretische Reflexionen historisch bedingt sind, jedoch in ihrer Historizität nie ganz aufgehen und insofern zwar nie absolut, aber doch graduell als Beitrag zu einem philosophisch-theoretischen Grundlagendiskurs sozusagen über die Zeiten hinweg verstanden werden können. Für die Plausibilität dieser Vorstellung kann etwa durch einen Verweis auf die Annahme einer besonderen Offenheit oder einer graduellen Unabhängigkeit dieses Diskurses insbesondere von praktischen Pfadabhängigkeiten oder auch auf die Annahme einer graduell zeitunabhängigen Bedeutung der reflektierten Gegenstände und Fragen argumentiert werden. Zur Begründung solcher Annahmen muss man allerdings keineswegs von »essentialistischen« Behauptungen etwa der Art ausgehen, dass es einen historisch unveränderlichen Kernbestand der menschlichen Natur gebe, der sich philosophisch bestimmen ließe. Es genügt die Plausibilität der Annahme, wie sie etwa Hannah Arendts Perspektive zugrunde liegt, dass zwar selbst noch die fundamentalsten Grundgegebenheiten der »conditio humana« prinzipiell »historische« Phänomene sind (und zwar vor allem deshalb, weil Menschen die potentielle Fähigkeit haben, alle diese Gegebenheiten handelnd zu beeinflussen und zu verändern), dass aber auf dieser Ebene doch zumindest Kontinuitäten von so grundlegender Bedeutung und von so langer Dauer bestehen, dass alte »Ideen«, Erfah-

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rungen und Konzepte – etwa, um beim Beispiel Arendt zu bleiben, antike Einsichten in die Grundarten menschlichen Tätigseins – bis zu einem gewissen Grad als unmittelbar gegenwartsrelevante Einsichten in Grundprobleme verstanden werden können, die die menschliche Realität gesellschaftlichen Zusammenlebens auch in der Gegenwart mitbestimmen.7 Methodisch verhält sich die »Ideengeschichte«, sofern sie solche sozusagen graduell zeitenübergreifende Grundprobleme thematisiert, in der Tendenz so, dass sie, wie es Alasdair MacIntyre ausgedrückt hat, »die Moralphilosophen der Vergangenheit als Teilnehmer an einem einzigen Streitgespräch mit einem relativ gleichbleibenden Thema« und also »Plato, Hume und Mill (behandelt), als wären sie Zeitgenossen von uns und auch untereinander gewesen. (…) Kant hört auf, Teil der Geschichte Preußens zu sein, Hume ist kein Schotte mehr. (…) Die empirische Geschichte ist die eine Sache, die Philosophie eine ganz andere.«8 Bei MacIntyre steht diese Charakterisierung übrigens im Zusammenhang einer fundamentalen Kritik dieser Unterscheidung von »empirischer Geschichte« und »Philosophie« und der Vorstellung eines sozusagen frei schwebenden philosophischen Diskurses. In einem weniger auf sich ausschließende Extrempositionen zugespitzten, sondern eher gradualistischen und eher heuristisch-methodischen Rahmen verstanden, wie er hier oben skizziert wurde, lässt sich das Argument MacIntyres aber auch im entgegengesetzten Sinn verstehen. Für die Plausibilität einer solchen Unterscheidung, wie MacIntyre sie hier in kritischer Absicht skizziert bzw. eigentlich persifliert, genügt dann die Annahme, dass die Philosophie Kants in ihrer Eigenschaft als »preußische« oder die Humes in ihrer Eigenschaft als »schottische« Philosophie nicht vollständig aufgeht. Die gegenwärtige Relevanz ideengeschichtlicher Forschung ergibt sich somit auf dieser ersten Ebene aus ihrem Anspruch, sich mit immer nur relativ, aber doch bis zu einem gewissen Grad zeitunabhängigen Grundproblemen in historischer Perspektive zu beschäftigen. Solchermaßen gradualistisch verstanden schließt dieser Anspruch eine davon zu unterscheidende zweite, stärker auf die unmittelbar zeitbedingten gesellschaftlichen Funktionen von Ideen fokussierte Perspektive politischer Ideengeschichte aber keineswegs aus. Im Gegenteil: In den gradualistischen Akzenten ihrer Grundlage erfordert die Reflexion von »Grundproblemen« geradezu ihre Ergänzung durch eine solche Perspektive. Auf dieser zweiten Ebene stellt sich die Frage nach der aktuellen Relevanz von Ideen in einem prinzipiell anderen Sinne, nämlich hinsichtlich ihrer unmittelbaren Wirkung auf die gesellschaftliche Praxis der Gegenwart. Der Begriff der Praxis ist dabei in einem umfassenden Sinn zu verstehen, der etwa auch die Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis und damit also auch die politische Ideengeschichte als wissenschaftliche Disziplin selbst mit umfasst. Auf dieser Ebene zeigt sich die »Gegenwärtigkeit« von Ideen in erster Linie in ihrem Beitrag zu dem geschichtlich gewordenen modus operandi, der die Bedingungen der Möglichkeiten und Grenzen des gesellschaftlich-praktischen Selbstverständnisses der Gegenwart bestimmt. Dass sich auf dieser zweiten Ebene auch die Geschichte der Reflexion von »Ideen« in den Blick nehmen lässt, aus welcher der ihnen inhärente An7 8

Ebd., S. 16 ff. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1995, S. 25.

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spruch auf relative Zeitunabhängigkeit einer kritischen Analyse unterzogen werden kann, lässt sich am Beispiel der »Wissenschaft« als Praxis sogar besonders gut verdeutlichen, wie Thomas Kuhns klassische Studie zu den strukturellen Eigentümlichkeiten »normaler« Wissenschaft und des Verlaufs wissenschaftlicher Revolutionen gezeigt hat.9 Insofern »Wissenschaftsgeschichte« immer unmittelbar »epistemologische« Implikationen hat, ist auch die Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis abhängig von einem bestimmten modus operandi und seinen geschichtlich gewordenen Grundvorstellungen von der Wirklichkeit. Politische Ideen und ihre Geschichte lassen sich aus dieser Perspektive als Bestandteile von umfassenden, für gesellschaftliche Praxis konstitutiven »social imaginaries« verstehen,10 die einen unmittelbaren praktischen Einfluss auf die Gegenwart haben, weil sie den allgemeinen Referenzrahmen mit formen, in dem gesellschaftliche Akteure sich selbst und ihre Interaktion mit anderen Akteuren praktisch verstehen und ausdeuten. Zugleich sind Ideen damit aber ihrerseits in ihrer inhaltlichen Entwicklung dem Einfluss gesellschaftlicher Praxis und der vielfältigen sich in ihr artikulierenden funktionalen Anforderungen, Motivationen und Strategien ausgesetzt. Das gilt in graduell unterschiedlichem Maße auch für die ideengeschichtliche Reflexion auf der oben skizzierten ersten Ebene. Die Konzeption von Ideengeschichte als kritische Wirkungsgeschichte, die im nun folgenden dritten Abschnitt genauer erläutert werden soll, konzentriert sich auf diejenigen Fragestellungen, die sich auf dieser zweiten Ebene formulieren lassen.

III. Dynamiken der praktischen Wirkungsgeschichte von Ideen Auf dieser Ebene stellt sich unter anderem die Frage, wie sich die jeweiligen Semantiken unterschiedlicher praktischer Kontexte der »Applikation« von Ideen auf die Genese und Entwicklung ihrer Bedeutungsgehalte auswirken.11 Auf welche Art und Weise werden geschichtliche politische Ideen praktisch genutzt? Welche Formen der bewussten oder auch unbewussten »Anwendung« von Ideen lassen sich unterscheiden? Wie wirkt sich etwa das »Einsickern« von philosophischen Ideen in die Logik der Praxis von Politik aus? Welche gesellschaftlichen Dynamiken entfalten solche praktischen Prozesse der Applikation von Ideen, und inwiefern unterliegen oder entziehen sich solche Dynamiken dem Zugriff und der Kontrolle der handelnden Akteure? Anhand dieser Fragen, die sich zum Problem der praktischen Wirkung von Ideen aufwerfen lassen, lässt sich das kritische Potential von Ideengeschichte für die Analyse der Gegenwart besonders gut verdeutlichen. Die Frage der begrifflich-methodischen Grundlegung einer solchen praktisch-kritischen Ideengeschichte gehört spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu den zentralen Themen des philosophischen und politisch-theoretischen Diskurses. Dieser Diskurs um den »Nutzen« und die »Nachteile« der »Historie für das Leben« hat dabei neben den sinnThomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1976. Charles Taylor: Modern Social Imaginaries, Durham, London 2004. 11 Vgl. dazu auch Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1987, S. 312 ff. 9

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und legitimitätsstiftenden sowie kreativen Potentialen von Geschichtsschreibung für die Belange gesellschaftlicher Praxis besonders deutlich auch die problematischen Aspekte, etwa die Gefahr des »Epigonentums« und mangelnder Freiheits- und Zukunftsfähigkeit hervorgehoben, die sich insbesondere aus einem einseitig »monumentalischen« bzw. »antiquarischen« Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der Gegenwart ergeben könne.12 Ideengeschichtliche Forschung kann unter Umständen einerseits selbst die dogmatische Verfestigung eines solchen bloß »übernommenen«, lediglich der Vergangenheit »entliehenen« kulturellen Selbstverständnisses der Gegenwart und einer entsprechend einseitig an überlieferten Autoritäten orientierten Haltung bloßer sozio-kultureller Rezeptivität befördern.13 Sie kann andererseits aber auch gerade zu einem besseren Verständnis und damit zu einer Kritik solcher dogmatisierenden Prozesse der Vergeschichtlichung der Gegenwart beitragen. Insofern sich letzteres sogar als unverzichtbarer Bestandteil einer jeden kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Gegenwart begreifen lässt, erweist sich die politische Ideengeschichte, anstatt als notwendig und automatisch »antiquarische« oder traditionalistische, als potentiell dezidiert gegenwartskritische Disziplin. Zu Recht macht in diesem Sinne zum Beispiel Quentin Skinner auf die oft vernachlässigte, aber dennoch wesentliche kritische und emanzipative Stoßrichtung ideengeschichtlicher Forschung aufmerksam: »(I)t is a commonplace – we are all Marxists to this extent – that our own society places unrecognized constraints upon our imaginations. It deserves, then, to become a commonplace that the historical study of the ideas of other societies should be undertaken as the indispensable and the irreplaceable means of placing limits on those constraints. The allegation that the history of ideas consists of nothing more than ›outworn metaphysical notions‹, which is frequently advanced at the moment, with terrifying parochialism, as a reason for ignoring such a history, would then come to be seen as the very reason for regarding such histories as indispensably ›relevant‹, not because crude ›lessons‹ can be picked out of them, but because the history itself provides a lesson in self-knowledge. To demand from the history of thought a solution to our own immediate problems is thus to commit not merely a methodological fallacy, but something like a moral error. But to learn from the past – and we cannot otherwise learn it at all – the distinction between what is necessary and what is the product merely of our own contingent arrangements, is to learn the key to self-awareness itself.«14

12 Vgl. die klassische Charakterisierung dieser unterschiedlichen Möglichkeiten bzw. Nutzen und Nachteile der »Historie für das Leben« bei Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1980, S. 261 ff. 13 Die Konzeption einer traditionalistischen »übernommenen Kultur« wird zum Beispiel bei John Dewey im Rahmen seiner Kritik der römischen im Unterschied zur freieren, kreativeren und stärker »eigengewachsenen« griechischen Antike entwickelt. Ähnliche Überlegungen finden sich auch bei Hannah Arendt. Vgl. Hans-Jörg Sigwart: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt, Würzburg 2012, S. 176 ff. 14 Quentin Skinner: »Meaning and Understanding in the History of Ideas«, in: History and Theory 8/1 (1969), S. 3–53, hier: S. 53.

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In Abgrenzung von der problematischen Vorstellung, die Geschichte könne unmittelbare »Lehren« im hier oben skizzierten krypto-prognostischen Sinne liefern, macht Skinner in der Analyse und Dekonstruktion der mehr oder weniger bewussten Essenzialisierungen von historisch überlieferten Bestandteilen in gesellschaftlichen Selbstverständnissen den wesentlichen Beitrag ideengeschichtlicher Forschung zu einer kritischen Selbstreflexion der Gegenwart aus. Für Skinner ist es aber nicht lediglich unreflektierter Traditionalismus, sondern gerade auch eine besondere Form von Geschichtsvergessenheit, welche die Gegenwart der Gefahr aussetzt, in einem lediglich »entliehenen« und in traditionellen Überlieferungszusammenhängen eingeengten Selbstverständnis verhaftet zu bleiben. Damit ist m. E. ein für die kritische Analyse der gegenwärtigen Präsenz von Geschichte wesentlicher Punkt angesprochen. Was diesen Punkt betrifft, beruft sich Skinner übrigens durchaus zu Recht auf Karl Marx. In den berühmten Anfangspassagen des 18. Brumaire etwa artikuliert Marx dasselbe kritisch-emanzipative und dezidiert ideengeschichtliche Grundanliegen. Seine Analyse der »Gespenster« und »Geister der Vergangenheit«, die gerade in revolutionären, sich von aller Geschichte emanzipiert wähnenden Epochen »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« lasteten und sie dazu brächten, ihre Belange halb bewusst, halb unbewusst in der »altehrwürdigen Verkleidung« und der »erborgten Sprache« der Vergangenheit zu verfolgen,15 ist zwar in der Durchführung auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse fokussiert. Sie dient vor allem der Kritik der bourgeoisen Gesellschaft Frankreichs in der Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus der Rekonstruktion der historisch-politischen Bedingungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution, vor allem des dafür nötigen historischen Bewusstseins (im Sinne eines bestimmten, kritischen Verhältnisses der Revolution zur Vergangenheit16). Aber unabhängig von diesem konkreten thematischen Zusammenhang sind Marx’ Überlegungen in der Tat auch hinsichtlich der allgemeinen konzeptionell-methodischen Fragen kritischer politischer Ideengeschichte, auf die Skinner hinweisen will, sehr interessant. Diesbezüglich impliziert Marx’ Untersuchung nicht nur dieselbe Behauptung von der wesentlichen Bedeutung der Reflexion historischer Genealogien als »key to self-awareness«, weil gerade die Geschichtsvergessenheit ein zentrales Hindernis gesellschaftlicher »self-awareness« der Gegenwart sei. Marx deutet darüber hinaus auch die Möglichkeit einer begrifflichen Konkretisierung dieser Behauptung an, nämlich in der These, dass die praktische Wirkungsgeschichte von Ideen der Dynamik einer eigentümlichen Dialektik unterliege, in deren Verlauf zwar oftmals Dasselbe oder zumindest Ähnliches wiederkehre, allerdings in fundamental veränderter Gestalt, oder anders ausgedrückt, dass die »Verkleidung« und »Sprache«, in der die Gegenwart ihr Stück aufführt, zwar eine von der Vergangenheit »geborgte« sei, diese aber im Kontext der Gegenwart dennoch eine fundamental veränderte, zum Teil beinahe in ihr genaues Gegenteil verkehrte praktische Bedeutung habe. Das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Gegenwart ergäbe sich Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, hg. und mit Kommentar von Hauke Brunkhorst, Frankfurt/M. 2007, S. 9 f. 16 Ebd., S. 12 ff. 15

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demnach aus der Invisibilisierung der Präsenz von Geschichte im Zuge solcher ideellen Transformationsprozesse. Dass diese These unabhängig von dem Hintergrund einer materialistischen Geschichtsspekulation, vor dem sie bei Marx steht, eine interessante konzeptionelle Anregung darstellt, legt u. a. die Tatsache nahe, dass sich ähnliche Überlegungen auch in theoretisch und thematisch ganz anders gelagerten Zusammenhängen finden, zum Beispiel bei John Stuart Mill, hier nun also unter dezidiert progressiv-liberalen Vorzeichen. In diesem Sinne lassen sich etwa die Überlegungen verstehen, mit denen Mill in seinem Essay Über die Freiheit für die wesentliche Bedeutung einer offenen kritischen Diskussion grundlegender gesellschaftlicher Werte und Vorstellungen der Gegenwart argumentiert. Ohne eine solche offene Diskussion würden, so Mill, nicht nur unweigerlich die Wurzeln der Erkenntnis vergessen, »sondern zu oft auch die Bedeutung der Erkenntnis selbst. Die Worte, welche diese übermitteln, hören auf, Ideen einzugeben oder regen nur einen kleinen Teil derjenigen an, die sie ursprünglich mitzuteilen bestimmt waren. Statt einer lebhaften Vorstellung und eines lebendigen Glaubens bleiben nur ein paar aus Gewohnheit behaltene Phrasen zurück; oder wenn doch noch etwas übrig bleibt, so sind es eher die Schalen und Hülsen des Gedankens als die Essenz, die verflogen ist. (…) Die Doktrin hat ihren Platz eingenommen, wenn nicht als anerkannte Meinung, so doch als zugelassene Sekte oder Abteilung davon.«17 Insofern für Mill die Kritik solcher sich aus der Logik gesellschaftlicher Selbstverständigung ergebenden Prozesse der Dogmatisierung von Ideen und der Invisibilisierung ihrer historischen Hintergründe eine zentrale Aufgabe der öffentlichen Debatte in freiheitlichen Gesellschaften ist, spielt die Ideengeschichte ihrerseits eine unmittelbare und wichtige »öffentliche« Rolle: »Das große Kapitel der Geistesgeschichte, welches von dieser Tatsache [der sukzessiven Entleerung von Ideen zu Gedankenhülsen, H. S.] in Anspruch genommen und ausgefüllt wird, kann man nicht ernst genug durchforschen und durchdenken.«18 Geistes- und ideengeschichtliche Forschung, so lässt sich Mills Argument übersetzen, trägt also nicht lediglich sozusagen zur Bestandssicherung der historischen Überlieferungszusammenhänge bei, welche die Grundlage gegenwärtiger gesellschaftlicher Vorstellungen bilden. Sondern vor allem kann sie die problematischen gesellschaftlichen Dynamiken und Effekte offenlegen, die der praktischen Wirkungsgeschichte von Ideen inhärent sind, also etwa Prozesse ihrer Dogmatisierung und Bedeutungsentleerung zu reinen »Ideenhülsen«, die für Mill gerade mit ihrer Wirkung auf gesellschaftliche Gewohnheitsbildung und der damit verbundenen sukzessiven Ablösung von ihren historischen Entstehungs- und Erfahrungskontexten einhergeht. Die Idee einer Analyse solcher wirkungsgeschichtlichen Effekte, wie sie bei Mill in ihrer Bedeutung unterstrichen, in ihren konzeptionellen Implikationen aber nur angedeutet wird, ist in den Arbeiten einer Reihe von Autoren des 20. Jahrhunderts aufgegriffen und konzeptionell weiterentwickelt worden. Auch für Pierre Bourdieu zum Beispiel entfaltet 17 18

John Stuart Mill: Über die Freiheit, Stuttgart 2013, S. 58 f. Ebd., S. 59.

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die praktische Wirkungsgeschichte von Ideen eine inhärente Dynamik der Transformation ihrer Bedeutung, deren Logik der Praxis ebenfalls vor allem die Invisibilisierung ihrer historischen Genese impliziert: »Der wichtigste Effekt der geschichtlichen Entwicklung« so Bourdieu, »besteht in der Abschaffung der Geschichte durch Verdrängung der parallel gegebenen, aber verworfenen Möglichkeiten ins Vergangene, und das heißt ins Unbewusste.«19 Gegenüber dem problematischen »Anschein der Natürlichkeit«, den gesellschaftliche Vorstellungen, Strukturen und Dispositionen im Zuge ihrer wirkungsgeschichtlichen Enthistorisierung erhalten, gebe es daher »kein mächtigeres Instrument des Bruchs [also der Kritik, H. S.] als die Rekonstruktion der Genese«. Die ideengeschichtliche Kritik des »Anscheins der Natürlichkeit«, also der Geschichtslosigkeit der Gegenwart erweist sich hier geradezu als conditio sine qua non jeder Art von kritischer Gesellschaftstheorie. Erst aus einer historisch-genealogischen Perspektive auf die Gegenwart könne die »Möglichkeit, dass es anders hätte sein können« theoretisch in den Blick genommen werden. Ideengeschichte werde somit zur Grundlage einer Art »praktischer Utopie«, die das Andere der gegebenen Wirklichkeit überhaupt erst zu denken erlaube.20 Im Hintergrund dieser ideengeschichtlichen Überlegungen Bourdieus steht übrigens der Einfluss sowohl der (post-)marxistischen Tradition kritischer Gesellschaftstheorie als auch der liberalen Variante einer kritischen Ideengeschichte. Was Letzteres betrifft, so ist insbesondere der Einfluss Max Webers auf Bourdieus Perspektive wesentlich. Webers Studie zur Protestantischen Ethik ist vielleicht überhaupt der locus classicus einer liberalen Konzeption von Ideengeschichte als kritische Wirkungsgeschichte. Webers Rekonstruktion der historischen Genese der in modernen Gesellschaften vorherrschenden Grunddisposition von Individuen kommt bekanntlich zu dem Ergebnis, dass diese Disposition – der »Geist des Kapitalismus« – als das »Gespenst« einer ehemals religiös fundierten Glaubenshaltung zu verstehen sei.21 Die Metapher des historischen »Gespensts« beschreibt dabei dieselben wirkungsgeschichtlichen Effekte, auf die auch schon Marx’ ganz ähnliche Metaphorik oder auch Mills Metapher der »Ideenhülsen« aufmerksam macht. Als historisches »Gespenst« im Sinne Webers lässt sich die eigentümliche Konstellation eines gesellschaftlichen Selbstverständnisses und entsprechender individueller Dispositionen verstehen, in dem ältere, in ihrer Bedeutung allerdings grundlegend veränderte Ideen in einer Art und Weise gegenwärtig wirksam werden, die zugleich ihre ursprüngliche Bedeutung und deren historische Genese invisibilisiert. Die gesellschaftskonstitutive Funktion solcher Ideen im gegenwärtigen Selbstverständnis setzt auch bei Weber eine gesellschaftliche Logik der »Geschichtsvergessenheit« voraus. In sie sind historisch tradierte und dabei transformierte Bedeutungen eingeflochten, deren Wirksamkeit sich gerade dadurch ergibt, dass ihre »historische Wurzel abgestorben« ist, wie Weber es ausdrückt (in der Wortwahl ganz ähnlich wie schon Mill). Der besonderen gesellschaftlichen Logik der modernen Berufsidee etwa ist es inhärent, dass in ihr die Dynamik einer Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998, S. 120. Ebd., S. 99. 21 Max Weber: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1947, S. 17–206, hier: S. 197 ff. 19 20

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ursprünglich religiös konnotierten Haltung deshalb ökonomisch und gesamtgesellschaftlich wirksam werden kann, weil sie sich im Lauf ihrer historischen Transformation von den konkreten religiösen Inhalten, auf deren Grundlage sie entstanden ist, sukzessive abgelöst und sozusagen wirkungsgeschichtlich verselbständigt hat. Bei Weber ist die Analyse dieser wirkungsgeschichtlichen Effekte bzw. der Frage nach »der Art, in der überhaupt die ›Ideen‹ in der Geschichte wirksam werden«,22 in den Referenzrahmen seiner Theorie gesellschaftlicher Modernisierung hineingestellt. Dadurch tritt ein weiteres (mögliches) Charakteristikum wirkungsgeschichtlicher Prozesse in den Vordergrund. Die Phänomene der Enthistorisierung von Ideen lassen sich mit Weber als unmittelbare Begleiterscheinung des Prozesses der Rationalisierung moderner Gesellschaften, insbesondere der damit einhergehenden Differenzierung von sich sukzessive autonomisierenden Kulturprovinzen bzw. Wertsphären beschreiben. Webers Protestantismus-These zufolge kommt es im Zuge der Herausbildung dieser autonomen, sich tendenziell voneinander abschließenden Sphären (der Ökonomie, Politik, Wissenschaft, Religion, Kunst) offenbar sozusagen zu wirkungsgeschichtlichen Sphärenverschiebungen von Ideen, in denen diese aus ihrem ursprünglichen Entstehungskontext herausgelöst und in transformierter Form in den Bedeutungszusammenhang einer ganz anderen Wertsphäre hineinwirken. Die Ablösung der modernen Berufsidee von ihrer historischen Wurzel etwa, für die neben der seelsorgerischen Praxis auch die Entwicklung der unmittelbar materiellen Situation in den puritanischen Gemeinden eine wesentliche Rolle spielt, vollzieht sich als ein Prozess der Dekontextualisierung ursprünglich religiöser Wertvorstellungen und entsprechender Dispositionen und ihrer Rekontextualisierung als ein genuin ökonomisches, für die Sphäre der kapitalistischen Wirtschaftsordnung konstitutives Ethos. Das Ergebnis, der »Geist des Kapitalismus«, behält einerseits bis zu einem gewissen Grad die strukturellen Eigenschaften einer religiösen »Glaubenshaltung« im Sinne einer individuellen Heilserwartung, stellt aber andererseits für Weber ein im Zuge seiner kontextuellen Verschiebung gleichsam entkerntes Derivat einer solchen Haltung dar. Die ursprünglich zentrale orientierende Idee dieser Haltung, die Frage nach individueller Heilserwartung, wird dabei durch eine Leerstelle bzw. durch eine eigentümlich tautologische Logik der reinen Zweckrationalität ersetzt – einer Logik des »Erwerbs um des Erwerbs willen«.23 In der differenzierungstheoretischen Gesellschaftstheorie, die an Webers Modernisierungstheorie anknüpft, also etwa in Bourdieus Theorie sozialer Felder oder auch bei Niklas Luhmann, spielen solche tautologischen Formen von Handlungsrationalität ebenfalls eine wesentliche Rolle. Die Tautologie erscheint bei beiden geradezu als die vorherrschende Form der funktional-differenzierenden Codierung gesellschaftlicher Kommunikation überhaupt. Für Luhmann ist die Tautologisierung gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ein spezifisches und unvermeidliches Charakteristikum von funktional differenzierten modernen Gesellschaften. Da die moderne Gesellschaft sich allerdings nicht eingestehen könne, »dass ihre Selbstbeschreibung auf ein Problem der Tautologie 22 23

Ebd., S. 82. Ebd., S. 35 f.

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oder der Paradoxie stößt«,24 entwickelten sich in ihr verschiedene Strategien der ideologischen Invisibilisierung dieser letztlich tautologischen und daher grundlosen Semantik ihrer Selbstauslegung. Vor diesem Hintergrund erscheinen Prozesse der Dekontextualisierung und Tautologisierung von Ideen als spezifisch moderne Phänomene gesellschaftlicher Rationalisierung. Die Genese und Wirkungsgeschichte historischer »Gespenster« im Sinne Webers wären dann in erster Linie sozusagen ideengeschichtliche Begleiterscheinungen funktionaler Differenzierung und insofern integraler Bestandteil der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Kritisch gewendet lassen sich auf modernisierungstheoretischer Grundlage dieselben Phänomene aber auch als Symptome einer einseitig instrumentellen Rationalisierung und einseitig funktionalen Differenzierung von sich modernisierenden Gesellschaften beschreiben, wie das Beispiel der ideengeschichtlichen Kritik der modernen Wirkungsgeschichte der »Aufklärung« bzw. der instrumentellen Vernunft in der Kritischen Theorie zeigt.25 Etwas anders akzentuiert spielt die kritische Analyse von problematischen wirkungsgeschichtlichen Effekten auch im Zusammenhang der politik-theoretischen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus eine wichtige Rolle. Eric Voegelins These von den »politischen Religionen« zum Beispiel macht den Versuch, den Totalitarismus als ein Phänomen der wirkungsgeschichtlichen Sphärenverschiebung ursprünglich religiöser Vorstellungen und Grunderfahrungen in den Bereich des Politischen zu deuten.26 Hannah Arendts Totalitarismustheorie und vor allem ihre Interpretation des europäischen Imperialismus sind in wesentlichen Teilen eine ideengeschichtliche Kritik des modernen Ökonomismus, d. h. eine Kritik der sozusagen aggressiven Dekontextualisierung bestimmter moderner ökonomischer Ideen (der »Weltanschauung der Bourgeoisie«, wie Arendt es ausdrückt) und ihre anschließende politische Rekontextualisierung in der transformierten Form des tautologischen politischen Leitprinzips des Imperialismus, nämlich der »Expansion um der Expansion willen«.27 Trotz der unterschiedlichen Akzente, die sich in den genannten Beispielen abzeichnen, legen sie alle zusammenfassend die Schlussfolgerung nahe, dass Prozesse der Enthistorisierung und gesellschaftliche Formen der »Geschichtsvergessenheit« nichts anderes sind als die sich sukzessive selbstverstärkenden Effekte der praktischen Wirkungsgeschichte von Ideen selbst, sofern diese mit Prozessen der De- und Rekontextualisierung (und damit potentiell der Dogmatisierung, Tautologisierung, Naturalisierung, Essentialisierung) von Ideen, Vorstellungen, individuellen Dispositionen verbunden sein können. Ideengeschichtliche Forschung erweist sich so gesehen als Bedingung der Möglichkeit einer kritischen Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Deutungsroutinen, SelbstverständNiklas Luhmann: »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 16/3 (1987), S. 161–174, hier: S. 163. 25 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 18. Auflage, Frankfurt/M. 2009; Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1985. 26 Eric Voegelin: Die politischen Religionen, 3. Auflage, München 2007. 27 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 11. Auflage, München, Zürich 2006, S. 317 ff. 24

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lichkeiten, Alternativlosigkeiten, gegenüber dem »Anschein der Natürlichkeit« gegenwärtiger gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit. Die Frage nach einer klaren und zweifelsfreien kritischen bzw. normativen Stellungnahme lässt sich aus den genannten Beispielen aber offenbar zunächst nicht ohne weiteres beantworten. Bei den zuletzt genannten Autoren zeigt sich vor allem das ideologiekritische Potential von wirkungsgeschichtlichen Analysen. Enthistorisierungs-, Tautologisierungs- sowie De- und Rekontextualisierungsprozesse erscheinen hier als problematische Begleiterscheinungen der praktischen Wirkungsgeschichte von Ideen, die unter bestimmten Umständen äußerst destruktive strukturell-habituelle Konfigurationen hervorbringen können. Dem steht allerdings die weitgehend neutrale bzw. in der Tendenz eher affirmative Analyse semantischer Tautologien bei Luhmann gegenüber. Carl Schmitts These von der »politischen Theologie« lässt sich vor diesem Hintergrund sogar als eine dezidiert affirmative Variante der wirkungsgeschichtlichen Analyse von Prozessen der De- und Rekontextualisierung verstehen.28 In diesen sehr verschiedenen Möglichkeiten der kritischen bzw. normativen Stellungnahme bestätigt sich abschließend, dass die wirkungsgeschichtlich-kritische Analyse von Ideen als integraler Bestandteil einer multiperspektivischen ideengeschichtlichen Forschung verstanden werden muss. Denn die Frage der Klärung der letztlichen Plausibilität dieser unterschiedlichen Stellungnahmen verweist die ideengeschichtliche Analyse, sofern sie selbst zu dieser Klärung etwas beitragen kann, auf den Versuch, ihre Gegenstände auch auf der oben skizzierten ersten Ebene und also auf sich in ihnen abzeichnende, graduell zeitunabhängige Grundprobleme hin zu reflektieren.

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Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004.

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Literatur Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 11. Auflage, München, Zürich 2006. − Vita Activa oder Vom tätigen Leben, 11. Auflage, München, Zürich 1999. Bourdieu, Pierre: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt/M. 1998. − Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1993. Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Schriften, Bd. 2, Frankfurt/M. 2002, S. 166–191. Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode, in: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1987. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 18. Auflage, Frankfurt/M. 2009. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1985. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1976. Luhmann, Niklas: »Komplexität und Demokratie«, in: Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, 5. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 35–45. − »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 16/3 (1987), S. 161–174. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend, Frankfurt/M. 1995. Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, hg. und mit Kommentar von Hauke Brunkhorst, Frankfurt/M. 2007. Mill, John Stuart: Über die Freiheit, Stuttgart 2013. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 1, München 1980. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004. Sigwart, Hans-Jörg: Politische Hermeneutik. Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt, Würzburg 2012. Skinner, Quentin: »Meaning and Understanding in the History of Ideas«, in: History and Theory 8/1 (1969), S. 3–53. Taylor, Charles: Modern Social Imaginaries, Durham, London 2004. Voegelin, Eric: Die politischen Religionen, 3. Auflage, München 2007. Weber, Max: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1947, S. 17–206. − »Roschers historische Methode«, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage, Tübingen 1988, S. 3–42.

Die Diskursivität politischer Ideen Marcus Llanque

Die Politische Ideengeschichte als Erforschung von Deutungen Wie alle Disziplinen ist auch die Politische Ideengeschichte zu einem wesentlichen Ausmaß dadurch bestimmt, wie sie Inhalt und Grenzen ihres Gegenstandes definiert. Sie ordnet Elemente, Komponenten, Aspekte zu einem Diskurs, den sie ihren Gegenstand nennt, und die Art und Weise der Verknüpfung der Elemente zu einem Diskurs macht das Selbstverständnis der Politischen Ideengeschichte als Disziplin aus. Man kann die Klassiker der Politischen Theorie oder der Politischen Ideengeschichte zum Kernbestand zählen, man kann von der Geschichte des politischen Denkens sprechen, was Spektrum und Menge der zugehörigen Texte erheblich erweitert,1 man kann aber auch alle Dokumente und Zeichen, insgesamt alle kulturellen Artefakte, in welchen sich politisches Denken niedergeschlagen hat, zum Gegenstandsbereich zählen oder man kann Definitionen des Politischen heranziehen, um Abgrenzungen vorzunehmen. Das ideengeschichtliche Material ist ungeachtet der weiteren diskursiven Anordnung zunächst schlicht als die Summe der Texte, Artefakte, Symbole, Zeichen, Begriffe, Dokumente zu begreifen, die durch Deutungen zur »Wirklichkeit« zusammengefasst, wahrgenommen und bewertet wird. Hieran kann sich dann oder soll sich sogar weiteres politisches Handeln, zumal kollektives Handeln, orientieren. Ohne jede diskursive Ordnung kann aber kein Zusammenhang zwischen diesen Elementen hergestellt werden. Die Summe verschiedener gedanklicher Operationen, die mit dem Vorgang des Ordnens verbunden sind, wird hier Diskursivität politischer Ideen genannt.2 Die Politische Ideengeschichte muss eine transdisziplinäre Forschung betreiben, die zugleich zur Geschichtswissenschaft, zur Politikwissenschaft und zur Philosophie zählt. Darüber hinaus haben alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen und seinen Selbstdeutungen beschäftigen, von den Philologien bis zur Kunstgeschichte, von der Theologie bis Rechtswissenschaft, von der Soziologie bis zur Ökonomie ihre eigenen disziplinären Ideen- bzw. »Doktrinen«-Geschichten. Diskursivität ist nicht nur eine Eigenart der Politischen Ideengeschichte, sie ist eine Methode wie ein wissenschaftstheoretisches Verständnis, welche »Ideen« zum Gegenstand der Forschung macht.3 Behauptet wird, dass Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1: Die Griechen, 1. Teilband: Von Homer bis Sokrates, Stuttgart, Weimar 2001, S. 2. 2 Hier wird fortgesetzt, was in Grundzügen bereits in früheren Texten diskutiert wurde: Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München, Wien 2008 und Marcus Llanque: Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2012. 3 Zum Stand der Methodendiskussion in der Politischen Ideengeschichte vgl. Andreas Busen/Alexander Weiß (Hg.): Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens, Baden-Baden 2013. 1

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nicht nur die Disziplin der Ideengeschichte mit dem Instrument des »Diskurses« ihren Gegenstand angemessen analysieren kann, sondern dass auch die Deutungspraxis insgesamt diskursiv verläuft, sie operiert immer schon im Kontext von Diskursen: Von den alltäglichen Verwendungen von Deutungsmustern bis zu den hochreflektierten theoretischen Anstrengungen der »Klassiker« der politischen Philosophie bewegen sich alle Argumentationen in Diskursen, schon weil sich die Urheber dieser Argumentationen selbst in Diskurse stellen, aus welchen heraus sie verstanden werden wollen. Die Ideengeschichte spricht meist unreflektiert von sich als Geschichte von »Ideen«. Wo dies Unbehagen auslöst, findet sich auch immer wieder die Rede von der »Geschichte politischer Theorien« und ähnliche Bezeichnungen.4 Damit ist aber die Ideengeschichte auf die Abfolge von Autoren festgelegt. Es wird sich zeigen, dass bei genauerer Betrachtung auch das, was gemeinhin als »Autor« und die ihm oder ihr zugesprochenen Texte gilt, Ergebnis einer diskursiven Anordnung ist, was einen nicht geringen Einfluss auf jede weitere Interpretation nimmt. Der Umstand der Festlegung von Ordnungen, in welchen das ideengeschichtliche Material in einen Zusammenhang gestellt wird, wird hier als Aspekt der Diskursivität der Ideen bezeichnet. Von »Ideen« ist aber die Rede, und nicht von »Autoren«, weil es in der Politischen Ideengeschichte nicht um biographische Forschung (»Leben und Werk«) oder Intellektuellengeschichte5 gehen sollte, Autoren auch nicht primär als Repräsentanten des politischen Denkens einer Zeit alleine angesehen werden sollen, sondern weil Autoren und Texte, überhaupt alle Artefakte und Dokumente politischen Agierens sowie die Reflexion auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit, als Beiträge zu inhaltlichen Diskursen aufgefasst werden müssen, die nach »Ideen« unterschieden, aber nicht eindeutig abgegrenzt werden können. Der Begriff der Idee bezieht sich nicht auf Probleme der Erkenntnistheorie und Wahrnehmung, sondern auf den Vorgang der Deutung. Wie Max Weber es formulierte: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichenstellen die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte«.6 Von Ideen im Unterschied zu Begriffen zu sprechen, hat damit zu tun, dass die Ideengeschichte weder Begriffsgeschichte noch Sprachforschung ist. Ihr eigentlicher Gegenstand sind und bleiben Argumentationen, weshalb die Ideengeschichte auch in engster Nähe zur politischen Theoriebildung selbst steht, diese zugleich beobachtet, von ihr aber auch wesentliche Fragestellungen erhält. Welcher Worte sich eine Argumentation bedient, ist zweitrangig. Landessprachliche Abweichungen, etwa innerhalb des diachronen Diskurses der Idee des Staates zwischen den Worten Staat, state und état können auch Abweichungen der Argumentationen signalisieren. Solche unterschiedlichen Interpretationen zeigen sich aber nicht schon an der Wortverwendung und ihrer »Bedeutung«, sondern nur in 4 Iain Hampsher-Monk: A History of Modern Political Thought. Major Political Thinkers from Hobbes to Marx, Oxford 1992; Frank R. Pfetsch: Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas, München 2003. 5 Dominick LaCapra/Steven L. Kaplan (Hg.): Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, Ithaca 1982. 6 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, 9. Aufl., Tübingen 1988, S. 252 im Zusammenhang der Diskussion der Wirkung der Erlösungsidee.

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dem argumentativen Gebrauch. Der Gebrauch hat mit den praktischen Bedürfnissen zu tun, auf die theoretische Begriffsarbeit reagiert. Aus dem argumentativen Fundus einer Idee werden für bestimmte Diskurse Begriffe operationalisiert, die auch nur innerhalb dieser Diskurse Sinn machen. Zum Diskurs der Idee des Staates beispielsweise gehören die begrifflichen Operationalisierungen wie auch die Symbole, Praktiken, Institutionen. Diese veranlassen oft erst theoretische Reflexionen, welche die Praxis auf den Begriff bringen sollen und dadurch wiederum den Fundus der Idee des Staates erweitern oder modifizieren. Die Idee des Staates ist daher die Summe der begrifflichen Verarbeitungen von unterschiedlichsten Argumentationen, die sich des Deutungsmusters »Staat« bedient und so zu den unzähligen Varianten gelangt, die in der Ideengeschichte zu thematisieren sind. Die jeweilige argumentative Konkretisierung der Idee, ihre Festlegung zu einem Begriff erfolgt im Kontext von Diskursen. Sozialwissenschaftlich wird die Ideengeschichte schließlich dort interessant, wo sich an die Kette von Ideen und Begriffen auch noch Deutungsmuster anschließen, welche in der alltäglichen Deutungspraxis mehr oder unreflektiert Wahrnehmungen und Bewertungen von Wirklichkeit steuern. So kann es einen erheblichen Unterschied machen, ob die Idee der Menschenrechte thematisiert wird, ihr Begriff innerhalb eines bestimmten Diskurses erarbeitet wird oder die Menschenrechte als Deutungsmuster in der Deutungspraxis des öffentlichen Sprachgebrauchs gebraucht werden (etwa in der Bewertung von Ereignissen und Handlungen als »menschenrechtskonform« oder »menschenrechtswidrig«). Im ideengeschichtlichen Sinne besteht die Idee der Menschenrechte aus allen Argumentationen, die in der Ideengeschichte beobachtet werden können, die je nach Interpretation einen internen Zusammenhang darstellen mit einer evolutiven Entwicklung, oder aber Teil der Genealogie ihres Deutungskampfes und ihrer Konfliktgeschichte ist,7 wenn sie sich nach unterschiedlichen Argumentationspfaden gliedert, die plural nebeneinander oder in einem konkurrierenden Deutungskampf zueinander stehen können. Der Begriff der Menschenrechte bildet sich dann in spezifischen Diskursen wie der Ethik, dem Völkerrecht, der Internationalen Politischen Theorie aus und macht auch nur innerhalb dieser Diskurse Sinn. Das Beispiel der Menschenrechte sowie die im Folgenden herangezogenen Beispiele (Idee des Staates, Diskurs des Kontraktualismus und Republikanismus,) können nur summarisch behandelt werden und dienen eher der Veranschaulichung des im Text notwendig abstrakt formulierten Gedankenganges. Interpretation als diskursiver Vorgang ist demnach eher als »negotiation of meaning«8 anzusehen und nicht als objektiver Erkenntnisprozess. Das will sagen, dass Interpretationen interaktive Vorgänge sind, die von den Bedingungen der Verständigung abhängig sind, welche die Teilnehmer in diesen »Verhandlungen« teilen. Der zugrunde gelegte »Ort« dieser Argumentationen wird hier Diskurs genannt.

Stefan-Ludwig Hoffmann: »Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte«, in: ders. (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Wallstein 2010, S. 7–37. 8 John G. Gunnell: The Orders of Discourse. Philosophy, Social Sciences, and Politics, Boston 1998, S. 156. 7

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Die Ideengeschichte als Archiv Die Politische Ideengeschichte beschäftigt sich mit der Geschichte politischen Denkens, sofern es sich in Artefakten als Dokument von Deutungsvorgängen niedergeschlagen hat (dem ideengeschichtlichen Material), das geordnet, interpretiert und der weiteren Forschung zur Verfügung gestellt wird (Arbeit am Archiv der Ideengeschichte), oder auf das selektiv zugegriffen wird in der Absicht, hierauf Aussagen über die gegenwärtige oder zukünftige politische Theorie zu gründen (Ideengeschichte als Arsenal). Die Politische Ideengeschichte ist somit eine Doppelbezeichnung für 1) einerseits die Summe des ideengeschichtlichen Materials, und 2) andererseits die Politische Ideengeschichte als forschender Disziplin. Mit »Politischer Ideengeschichte« wird im Weiteren die Disziplin bezeichnet, welche das »ideengeschichtliche Material« erforscht. Die Selbstbezeichnung als »Geschichte« verleitet zur Annahme, die Ideengeschichte sei eine primär historische Disziplin, die sich mit vergangener politischer Theorie beschäftigt. Politische Ideengeschichte wird immer wieder als Form der Problematisierung der Historizität politischen Denkens gesehen.9 Auch wenn politische Theorie nicht nur als das Resultat ihrer Zeit anzusehen ist, so könnte man immerhin annehmen, dass sich die Ideengeschichte nur mit der Rekonstruktion vergangener theoretischer Auseinandersetzungen beschäftigt. Aus diesem Grunde wird in Abhebung zu ihr oft von »moderner politischer Theorie« gesprochen, was entweder heißen soll, sich nur mit derjenigen Ideengeschichte zu beschäftigen, die angeblich auch Relevanz für die moderne Gesellschaft besitzt, oder es ist schlicht der jüngere Abschnitt der Ideengeschichte gemeint. Bereits die Unterscheidung von »Politischer Ideengeschichte« und »moderner politischer Theorie« kann daher Ausdruck einer interpretatorischen Rahmendeutung sein, die den Inhalt und die Grenzen des Diskurses maßgeblich festlegt. Ob diese Rahmendeutung unreflektiert als Ausdruck einer bestimmten Tradition ideengeschichtlicher Darstellungen erfolgt oder als gezielte Intervention, um im Deutungskampf die Relevanz bestimmter Texte und der in ihnen vorhandenen Argumentationen aus dem Geltungsbereich einer bestimmten (in der Regel der gegenwärtigen, als »modern« titulierten) Epoche zu exkludieren, in beiden Fällen wird jede weitere Interpretation der Texte selbst im Lichte solcher Rahmendeutungen operieren. In dem hier zur Anwendung kommenden Verständnis bezieht sich der »historische« Aspekt der Ideengeschichte, die Annahme der Historizität des politischen Denkens, auf den Umstand ihrer Gewordenheit, nicht ihrer Vergangenheit. Es gehört zu einer der zentralen Aufgaben der Politischen Ideengeschichte, solche Festlegungen zu erkennen und zu kritisieren. Handelt es sich um Anordnungen zum Zwecke der Tradierung des Gesamtbestandes, so kann man hier von der Archivleistung der Ideengeschichte sprechen, ungeachtet dessen, ob das Archiv im Komplementärverhältnis zu einem Verständnis der Ideengeschichte als einem theoretischen Laboratorium gesehen

Preston King: »Thinking Past a Problem«, in: ders. (Hg.), The History of Ideas. An Introduction to Method, London 1983, S. 21–65 und die in diesem Band versammelten methodologischen Texte. 9

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wird10 oder im Zusammenhang mit dem Arsenal der Ideengeschichte.11 Im letzteren Falle gleicht das ideengeschichtliche Material einem argumentativen Lager, dessen sich die gegenwärtige Theoriebildung bedient. Das Archiv der Ideengeschichte ist demnach keine theoretisch harmlose Beschäftigung alexandrinischen Zuschnitts, in welcher das ideengeschichtliche Material nach äußeren Kriterien der bloßen Aktenablage angeordnet wird, also derart, dass ein möglich rasches Wiederfinden des Materials sichergestellt ist. Die archivalische Anordnung des ideengeschichtlichen Materials in Diskurse verfolgt nicht nur Zwecke wissenschaftlicher Erfassung, Sortierung, Klassifizierung von Gegenständen. Die Anordnung des Materials verrät die Rationalität des Archivs und damit die ihr zugrundeliegende Rahmendeutung: Was steht zu Beginn und scheint den weiteren Verlauf maßgeblich zu prägen? Worauf läuft die dargestellte Entwicklung zu, welches Ende gibt diesem Zusammenhang einen besonderen Sinn? Was sind die Zäsuren, Wendepunkte und Brüche, die jedem einzelnen Werk, Text und Autor seinen spezifischen Ort in dieser Geschichte zuweisen? Die in der Politischen Ideengeschichte vorhandenen, oft unausgesprochen zur Anwendung gelangenden Ordnungsmuster zur Erfassung des Materials, haben nicht nur etwas mit dem Faktor der Geschichtlichkeit zu tun. Gesamtdarstellungen der Ideengeschichte nehmen oft ganz selbstverständlich eine Materialauswahl vor, die sich anhand herausragender Texte »klassischer« Autoren und Autorinnen orientiert und damit Texte priorisiert, was zugleich bedeutet, andere Dokumente und Artefakte politischen Denkens und Agierens zu marginalisieren. In den meisten Fällen ist die Politische Ideengeschichte auch nicht die Geschichte der politischen Ideen insgesamt, sondern die des westlichen Kulturkreises: dieser Zuschnitt ist nicht unbegründbar, wenn man die Proliferation der in diesem Diskurs erörterten Ideen weit über den westlichen Kulturkreis hinaus bedenkt oder wenn man unterstellt, dass die Ideengeschichte ihrerseits ein für den westlichen Kulturkreis typisches, reflektierendes, tradierendes Unterfangen ist, dessen Überlegungen und Ergebnisse allerdings auch nur Gültigkeit für diesen Kulturkreis haben. Die Perspektive der Diskursivität macht es möglich, diese Implikationen rasch zu erkennen. Die Ordnung des ideengeschichtlichen Materials liegt diesem Material nicht zugrunde, sondern ist das Ergebnis ideengeschichtlicher Interpretation. Wenn hier von der diskursiven Anordnung gesprochen wird, so ist damit zum Ausdruck gebracht, dass der Diskursbegriff nicht eine der Ordnung vermeintlich inhärente Struktur meint, die erkannt werden kann; vielmehr bezeichnet der Diskursbegriff ein Instrument kritischer Reflexion der Ordnung als Vorgang des Anordnens, also als Teil der Deutungspraxis. Ideen sind diskursive Anordnungen des ideengeschichtlichen Materials und der Vorgang der diskursiven Anordnung ist selbst ein praktischer Vorgang des Deutens und steht im Deutungskampf: keine Interpretation erfolgt ohne Blick auf andere, abweichende, konkurrierende Interpretationen. Die Interpretation politischer Idee ist weder zweckfrei

Herfried Münkler: »Politische Ideengeschichte«, in: ders. (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 103–131, hier: S. 103. 11 Marcus Llanque: Politische Ideengeschichte, S. 1–3. 10

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noch beliebig. Mit Interpretationen werden Weichen für Begriffsbildung und Problemwahrnehmung gestellt, ferner werden Deutungsmuster bereit gestellt, gerechtfertigt oder kritisiert, mit welchen Menschen ihre Interaktionen orientieren und organisieren, mit welchen aber vor allem in Herrschaftspositionen das Verhalten von Menschen festgelegt wird. Solche Festlegungen erfolgen im Lichte alternativer wie vor allem konkurrierender Deutungspraxis. Mit der Anordnung des Materials wird ferner der interpretatorische Sinnhorizont hergestellt, vor dem jede Interpretation überhaupt erst plausibel wird: Rationalitätsstandards werden zugrunde gelegt, Verweisungen und Verknüpfungen werden festgelegt, die Bedeutungsreichweite von Begriffen wird umrissen. Wenn solche Vorgänge des Ordnens eine Vorentscheidung für die weitere Interpretation bedeuten können, liegt der Gedanke nahe, auf eine Ordnung ganz zu verzichten. Man könnte die Ideengeschichte daher auf die in sich ungeordnete Summe vergangener Ereignisse reduzieren, oder, wenn ein Ordnungsmuster nötig ist, so alleine die chronologische Aneinanderreihung von Aussagen benutzen, als schlichte Sequenz von Texten. Auf eine Ordnung des Diskurses kann jedoch schon deswegen nicht verzichtet werden, weil das Ordnen nicht nur eine Eigenschaft des Archivs, sondern jeglicher Deutungspraxis ist. Der Geschichte einer Idee eine Ordnung zugrunde zu legen, bedeutet immer auch die Zugrundelegung eines sinnvollen Zusammenhangs zwischen diesen Texten. Die Anordnung des Materials nach bestimmten Kriterien zwecks Herstellung eines internen Zusammenhanges ist ein wesentlicher Bestandteil der Theoriebildung und nicht nur der Darstellung des Vorgangs der Theoriebildung. Die ideengeschichtlich interpretierten Texte weisen immer eine Selbstzuordnung auf. Texte geben ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Diskursen durch die Auswahl der Terminologie, die Themenwahl, die Art und Weise der Argumentation, die zugrunde gelegte Rationalität zu erkennen. Auch die Abgrenzung von anderen Diskursen ist ein Vorgang der diskursiven Anordnung. Das ideengeschichtliche Material zu Diskursen zu verknüpfen geht also von einem sinnvollen Zusammenhang zwischen den miteinander verknüpften Materialien aus und diese Annahme ist selbst bereits eine Deutung: nicht nur wird mit dieser Anordnung ein erstes Interpretationsmuster angelegt, es wird auch die Nähe oder Ferne zu anderen Texten festgelegt. Das berührt dann die weitere Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Von Diskursen zu sprechen hat den Vorteil, dass mit ihnen das Material angeordnet wird, aber nicht endgültig festlegt. Sie sind menschliche Praxis und damit wandelbar, sie verstetigen sich wie alle anderen Elemente der Kultur, sind aber einem Veränderungsprozess ausgesetzt, der meist allmählich erfolgt, gelegentlich auch ruckartig und immer interaktiv, das heißt Bedeutungswandlungen können nicht einseitig festgelegt werden und bleiben kritischer Reflexion unterworfen. Die immer weichen Konturen des Diskurses haben den Vorzug, die in der Praxis vorhandenen Unklarheiten aufnehmen und nicht künstlich ausschneiden zu müssen. Diskurse gleichen daher von ihrer rationalen Struktur eher der Grammatik als der Logik: sie sind nicht zwingend folgerichtig, kausal strukturiert und widerspruchsfrei, sie unterliegen Regeln, die mitunter selbst thematisiert, neu festgelegt und damit verändert werden können. Der Diskursbegriff spielt bislang in der Methodendiskussion der Ideengeschichte vor allem in zwei Richtungen eine Rolle, mit Bezug auf die Cambridge School und Michel

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Foucault. Beide tendieren dazu, den Diskursbegriff wie einen Strukturbegriff zu verstehen und Diskurse wie vorgefundene historische Entitäten zu behandeln. Die Cambridge School hat den Diskursbegriff aus der Sprachphilosophie und Sprachforschung übernommen. Quentin Skinner wandte sich gegen eine Vorstellung von Ideengeschichte als »ersatzphilosophy«.12 Die »Klassiker« des politischen Denkens wegen ihres zeitunabhängigen Beitrages zur politischen Theorie für lesenswert zu halten, kurzerhand die politische Ideengeschichte zum Fach der politischen Philosophie zu erklären, verfehlt demnach die Bedeutung des Entstehungshintergrunds politischer Theoriearbeit. John Pocock begreift Texte als Sequenz von Sprechakten.13 Diskurse kommunizieren in Gestalt von »languages«, was meint, dass der gleiche Gegenstand ganz unterschiedliche Reaktionen auslöst, je nachdem in welchem Diskurs er thematisiert wird.14 Hier werden Diskurse wie Sprachen als relativ selbständige kulturelle Erscheinungen angesehen, die deutlich voneinander abgegrenzt werden können. Im Rahmen der Diskursivität politischer Ideen dient die Analogie zur Sprache dagegen nur der Hervorhebung, dass 1) Akteure in mehreren Sprachen kommunizieren können, 2) dass derselbe Gegenstand in unterschiedliche Sprachen übersetzt zu unterschiedlichen Anschlüssen in Fragen der Bewertung und Handlungsorientierung führen kann, dass es aber 3) auch zur Vermischung von Diskursen, ihrer Neuanordnung oder Adaption und damit auch zu neuen Diskursen kommen kann. Was die Analogie zur Sprache jedoch nicht transportieren kann, ist der Umstand, dass insbesondere politische Diskurse auf andere Diskurse antworten, in einem Deutungskampf mit ihnen stehen, hier also die Analogie eher mit der Sprachpolitik und nicht mit der Sprache selbst zu tun hat. Wenn Foucault von Diskursen bezüglich der darin waltenden Regeln der Produktion von Gegenständen und Bedeutungen spricht,15 dann behandelt er Diskurse als Wissensformationen. Solche Wissensformationen liegen Foucault zufolge beispielsweise Praktiken der Medizin, der Psychatrie oder der Regierungslehre zugrunde, werden reproduziert und schlagen sich in Gestalt spezifischer Sprechweisen, Terminologien, Argumentationen, Verhaltensweisen, institutionalisierten Handlungsreglements nieder. Was Foucault selbst praktiziert, aber kaum berücksichtigt, ist der Umstand, dass diese Praktiken und die ihnen zugrunde liegenden Wissensformationen ihrerseits reflektiert und kritisiert werden können, und zwar sowohl in den Diskursen, in welchen diese Praktiken durch deutende Selbstvergewisserung aus stabilisiert werden, als auch von anderen Diskursen heraus. Foucault fällt es schwer, den Wandel von Diskursen und die Interventionen von Akteuren in Diskurse zu thematisieren. Er verfolgt begriffliche und praktische Veränderungen als notwendige Resultate der von ihm erforschten Wissensformationen, was er im Bereich der Politischen Ideengeschichte vor allem in seinen Forschungen zur Gou-

Quentin Skinner: »Hobbes’ Leviathan«, in: Historical Journal, Bd. 7 (1964), S. 321–333, hier: S. 333. John G.A. Pocock: »The Reconstruction of Discourse. Towards a Historiography of Political Thought«, in: Modern Language Notes, Bd. 96 (1981), S. 959–980, hier: S. 959. 14 John G.A. Pocock: »Introduction: The State of the Art«, in: ders., Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, chiefly in the 18th Century, Cambridge 1985, S. 1–34, hier: S. 2–17. 15 Michel Foucault: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, S. 98 f. 12 13

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vernementalität demonstrierte.16 Der Deutungskampf zwischen genealogisch rekonstruierbaren diachronen Diskursen, der oft zum gleichen Zeitpunkt und innerhalb derselben Gesellschaft, oft sogar innerhalb einer bestimmten Personengruppe stattfindet, wird von ihm vernachlässigt. Er erweckt den Eindruck, dass Diskurse sich ohne menschliches Zutun entwickeln und darin objektiv beobachtet werden können. Diskurse sind für Foucault Strukturen, keine Instrumente der Deutungspraxis. Theoretische Diskurse repräsentieren aber nicht einfach Praxis, sie sind als reflektierende Deutung eine eigene Praxis, können in unterschiedlichsten Modi der Theoriearbeit, als Entdeckung, Erfindung oder Interpretation vorgehen, wie es Michael Walzer unterscheidet, und auf diese Weise in den Deutungskampf ihrer Gegenwart intervenieren.17 Diskurse sind keine Entitäten, die scharf voneinander abgrenzbar wären und aus bestimmten Teilen bestehen. Texte oder Autoren gehören nicht nur einem Diskurs an, sie werden einzelnen Diskursen zugeordnet. In Diskursen werden oft die gleichen Texte verwendet, nur in unterschiedlicher Weise mit anderen Elementen verknüpft. Diese mehrfach verwendeten Elemente können dann Brücken zwischen Diskursen bilden, auf welchen sich Interpreten zwischen den Diskursen bewegen können. Benutzt man den Diskursbegriff als Instrument der Anordnung des ideengeschichtlichen Materials, so ist der Umstand der Ordnung eines Diskurses keine den Diskursen anhaftende, objektiv erkennbare Struktur oder eine objektiv rekonstruierbare Sprache, sondern eine die weitere Interpretation anleitende Rahmendeutung, die als Deutungspraxis beobachtet und analysiert werden kann und damit immer für Anpassungen und Änderungen offen ist, auch wenn die entsprechenden Widerstände groß sein können. Das gilt für theoretische Diskurse in ihrer Zeit ebenso wie für disziplinäre Diskurse einschließlich der Ideengeschichte als Forschungsdisziplin. Texte werden nach unterschiedlichsten Kriterien diskursiv angeordnet: nach Thema, Ursprung, Inhalt, zeitlichen Kontext, nach Leitbegriffen, Rationalitätsmustern, äußeren oder formalen Kriterien (wenn beispielsweise Texte als »Literatur« oder als rhetorische Praxis gedeutet werden). Das Ordnungsprinzip legt dann aber auch schon fest, in welcher Hinsicht die derart zusammengestellten Texte in einem Zusammenhang stehen, der dann wiederum den Leitfaden der weiteren Interpretation darstellt. Die häufigste Weise der Anordnung von Texten ist die Anordnung als Diskurs eines Autors, sie ist aber nicht weniger begründungsbedürftig als andere Kriterien, so evident sie prima facie anmutet und so verbreitet diese Praxis auch ist.

In den Vorlesungen am Collège de France in den Jahren 1977–1979: Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1, Frankfurt/M. 2004; ders.: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt/M. 2004. 17 Michael Walzer: Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik, Berlin 1990. 16

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Autorendiskurse Eine der bekannteren Konsequenzen aus Foucaults Ansatz ist die Vernachlässigung des Autors zur Interpretation von Diskursen. Seiner eigenen Einlassung zufolge verzichtet er auf den Autor als Einheitsstifter der Textbedeutung. »Die Instanz des schöpferischen Subjekts als raison d’être eines Werkes und Prinzip seiner Einheit« sei der Archäologie des Diskurses fremd.18 In der Ablehnung von Autorschaft als möglichem Aspekt der Interpretation zeigt sich das Motiv Foucaults, Diskurse als Struktur und nicht als Instrument zu benutzen. Die Deutungspraxis, Texte nach ihrer autorschaftlichen Herkunft zu ordnen, ist Foucault natürlich nicht unbekannt. Texte werden in Werkdiskursen nach ihrer Autorschaft angeordnet. Das unterstellt, dass Texte aus derselben Feder einen inneren Zusammenhang aufweisen, der erschlossen und rekonstruiert werden kann gerade dadurch, dass man diese Texte als Texte dieses Autors versteht. Diese Vorgehensweise beruht auf der Annahme, wonach Texte aus derselben Feder einen inneren Zusammenhang aufweisen müssen, der zunächst erschlossen und rekonstruiert werden sollte. Aus dem »Werk« dieser Autorin oder dieses Autors gewinnt man dann Aufschluss über seine oder ihre »Theorie« bzw. »Philosophie«, eine systematisch erschließbare, kohärente Form der Argumentation. Alle anderen Texte sind in dieser gebräuchlichen Ansicht im Verhältnis zum Werkdiskurs nur »Kontext«. Aus der Sicht der Diskursivität politischer Ideen ist die Annahme des internen Zusammenhangs von Texten aus derselben Autorschaft nicht zu leugnen, es stellt sich nur die Frage des Erkenntnisgewinns. Der Zugang zur Ideengeschichte als Intellektuellengeschichte19 erlaubt beispielsweise durch die Bildung ganzer Autorengruppen Aussagen zu den in solchen Diskursen intern verlaufenden Debatten. Als theoretische Reflexion ist aber der Beitrag eines Textes zu einem Ideendiskurs aufschlussreicher und gewinnbringender. Handelt es sich allerdings um eine für einen bestimmten Diskurs autoritative Autorschaft, so ist mit dem Werkdiskurs eine erhebliche argumentative Kraft jeder weiteren Theoriebildung verbunden. Besonders in dogmatischen Diskursen wird der Autoritätsbeweis praktiziert. Hier ist die argumentative Validität einer Aussage nur dadurch herzustellen, dass sie als Aussage des für autoritativ angesehenen Autors (oder des entsprechenden Textes) geltend gemacht wird. So hatte im Marxismus der Nachweis der Urheberschaft eines Arguments im Werk von Karl Marx erhebliches Gewicht, was auch die Bedeutung des editorischen Umgangs mit dem Nachlass von Marx erklärt (die Publikation der Bände 2 und 3 des Kapitals, die Entdeckung und Publikation der Pariser Manuskripte) oder die Frage, welcher Text von Marx repräsentativ für sein politisches Denken ist (daher der Rückgriff Lenins in »Staat und Revolution« auf die Pariser Commune-Schrift von Marx). Hier werden diskursive Strategien sichtbar, die dazu dienten, die Argumentationspraxis innerhalb des Marxismus zu verändern: Marx als politischen Denker (und damit nicht 18 19

Foucault: Archäologie, S. 199. Dominick LaCapra/Steven L. Kaplan, Modern European Intellectual History.

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nur als Ökonom) zu etablieren, seine demokratisch-emanzipatorischen Intentionen frei zu legen (und damit den Vorgang seiner Dogmatisierung im Marxismus-Leninismus zu bekämpfen), ihn als Philosophen wieder zu entdecken (Karl Korsch), oder ihn heute als Globalisierungstheoretiker avant la lettre zu thematisieren (und ihn damit aus dem Kontext seiner Bedeutung für eine bestimmte politische Ideologie zu befreien). Ferner lässt sich leicht zeigen, dass Autoren wie Marx, ähnlich wie alle Autoren zuvor und danach, ihrerseits zu Diskursen beitragen wollten. Autoren ordnen sich selbst Diskursen zu und machen dies kenntlich durch die Wahl ihrer Begriffe, der behandelten Themen und Fragestellungen, der von ihnen rezipierten Texte und der Wahl der von ihnen explizit oder implizit bekämpften Autoren. Solche Diskurse sind unabhängig von ihnen entstanden oder sind durch den anhaltenden Deutungskampf Schauplatz fortwährender Interventionen. Autoren beziehen aus Diskursen, die unabhängig von ihnen entstanden, ihre Begriffe, Fragen, Themen und sie wollen meist auch zunächst zu diesen Diskursen beitragen, passen also ihre Argumente und Überlegungen den in diesen Diskursen vorzufindenden Regeln und Traditionen an, auch wenn sie diese Diskurse mit ihrem Beitrag ändern oder beenden wollen. Gerade wenn man das Besondere und Eigentümliche der Texte eines Autors herausarbeiten möchte, ist man gezwungen, ihn in Zusammenhang mit Diskursen zu stellen, ob diachron oder synchron, die nicht nur aus seinen eigenen Texten bestehen. Der Wandel eines Autors steht oft im Zusammenhang mit dem Wandel des Diskurses, in welchen er sich selbst hineinstellt. Er kann sich dabei von seinen »frühen« Texten sehr weit entfernen. Autoren werden im diskursiven Sinne schließlich selbst zur »Idee«. Selten tritt ihr Gesamtwerk in Erscheinung, sondern meist nur ein als zentral eingestufter Auszug aus ihren Schriften und hieraus oft genug nur ausgewählte Textpassagen. Es kann sogar sein, dass nur bestimmte Sätze oder auch nur Phrasen die weitere Beschäftigung mit dem »Autor« bestimmen. Auch wenn man dies aus theoretischer, werkgeschichtlicher und philosophischer Perspektive bedauern muss, so lässt sich dies als Umstand der tatsächlichen Deutungspraxis nicht leugnen, ragt auch in die intensivere Interpretation hinein und muss entsprechend verarbeitet werden. Die Erwähnung des Autorennamens gleicht dann einem Topos, der eine bestimmte Argumentation – zu einem Zeichen verdichtet – transportiert. Das zeigt zugleich, dass die Ideengeschichte nicht die Interpretationsarbeit an den Texten ersetzen kann, sondern ihrer als kritisches Korrektiv bedarf. Die Diskursivität politischer Ideen als Perspektive der ideengeschichtlichen Forschung lenkt die Interpretation politisch-theoretischer Texte von der Autorschaft weg und zur Verknüpfung von Argumenten in und zwischen Texten hin. In dieser Sicht liegt nicht ein Text vor und die weitere Interpretation kommt hinzu, sondern die Geschichte der Interpretation gehört ebenso zum Verständnis des zu erschließenden Textes wie der Umstand, dass die Textproduktion selbst ein diskursiver Vorgang ist. Autoren erfinden nicht Probleme und Themen, sie verwenden keine Sprache, die nur sie verstehen, sie übernehmen Begriffe und Themen aus anderen Diskursen. Die Diskursivität von Ideen geht davon aus, dass Autoren zu Ideendiskursen beitragen und die politische Theoriebildung sich daher nicht auf einzelne Autoren konzentrieren sollte, sondern sie immer auch im Zusammenhang mit anderen Textgruppen interpretieren muss, und dies in der Regel auch tut. Dis-

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kursivität von Ideen meint, dass sich Autoren mit ihren Texten in Diskursen bewegen und aus diesen heraus verstanden werden müssen, sie aber auch diskursive Anordnungen reflektieren, kritisieren und verändern können (bzw. vorschlagen können, sie zu ändern). Die Diskursivität ist also keineswegs eine formale Äußerlichkeit von Ideen, sie ist ein Instrument der Theoriebildung selbst.

Die Ideengeschichte als Arsenal Die Ordnung eines Diskurses bestimmt als Deutungsrahmen nicht nur jede weitere Interpretation der herangezogenen Texte, sie kann auch den Hintergrund für die weitere Theoriebildung abgeben, vor welcher diese einen spezifischen Sinn macht. Es sind oft politisch-theoretische Interessen, nicht selten politische Motive, insgesamt ideenpolitische Hintergründe, die zur Rezeption des ideengeschichtlichen Materials führt, um theoretische Argumentationen der Gegenwart mit Theoremen und Begriffen auszustatten. Hier fungiert die Ideengeschichte als Arsenal und weniger als Archiv. Das Arsenal operiert auf der Grundlage des Umstandes, dass die Grenzen des Diskurses selbst festgelegt werden können. Die Grenzen beispielsweise des kontraktualistischen Diskurses können zunächst durch »klassische« Referenztexte festgelegt sein (von Hobbes bis Rawls). Doch bereits die Auswahl der Autoren kann Ergebnis eines theoretischen Interpretationsvorganges des Diskurses selbst bedeuten. So folgert Wolfgang Kersting aus seiner individualistischen Interpretationen des Kontraktualismus, dass Rousseau aufgrund seines mangelnden Individualismus’ nicht zu diesem Diskurs zählt.20 Kersting rechnet auch mögliche Vorläufer des politischen Vertragsdenkens wie etwa das monarchomachische Vertragsmodell des 16. Jahrhunderts nicht zum Kontraktualismus, weil es sich hier nur um die Abbildung der ständischen Gesellschaft zur Zeit handeln soll.21 Eine solche Reduzierung des Kontraktualismus auf eine bestimmte Interpretation hin ist eher dem Arsenal als dem Archiv der Ideengeschichte zuzuordnen. Sie macht weniger Sinn für die Erschließung des ideengeschichtlichen Materials (denn sowohl Monarchomachen wie auch Rousseau greifen den Vertragsgedanken auf und stellen ihn in institutionelle Kontexte), bedeutet aber für die Theoriebildung der Gegenwart eine ideenpolitische Positionierung für einen begründungstheoretischen Individualismus, als dessen Gipfelpunkt das Werk von Rawls angesehen wird. Aus einer ganz anderen Perspektive könnte man aber den Kontraktualismus in den Konstitutionalismus münden sehen (weshalb der Gesellschaftsvertragsgedanke zwischen Kant und Rawls auch nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit erfuhr wie zuvor), was wiederum Interpretationen des klassischen Kontraktualismus in Richtung einer stärkeren Betonung der Institutionen und nicht der modellhaften Argumentationsweise rücken würde. Wolfgang Kersting: Die Politische Philosophie des Kontraktualismus, Darmstadt 1994, S. 178. Kersting: Die Politische Philosophie des Kontraktualismus, S. 14, im Anschluss an die Einteilung der frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Vertragsmodelle bei Harro Höpfl/Thompson, Martyn P.: »The History of Contract as a Motif in Political Thought«, in: American Historical Review, Bd. 84 (1979), S. 919–944. Vgl. ferner die Darstellung bei Michael Lessnoff: The Social Contract, Basingstoke 1986. 20

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Die Bezeichnung »Republikanismus« für eine bestimmte Autorengruppe des 17. und 18. Jahrhunderts ist kein authentischer Ausdruck der zeitgenössischen deutenden Selbstvergewisserung gewesen, sondern eine Erfindung der historischen Forschung, die wiederum durch ideenpolitische Motive hierzu veranlasst wurde.22 Zumindest der amerikanischen ideengeschichtlichen Forschung ging es darum, der liberalen Deutung der amerikanischen Verfassung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt hegemonial erschien, ein anderes Interpretationsmuster unterlegen zu können, um bestimmte Begriffe und Aussagen dieser Verfassung in einem anderen Sinne auszulegen als es der Liberalismus insinuiert (vor allem mit Bezug auf den Begriff der Freiheit). Aus dem Umstand eines Deutungskampfes heraus werden also Interventionen in das Archiv der Ideengeschichte verständlich, die motiviert sind durch die argumentative Verwendung der Ideengeschichte als Arsenal. Dieser Vorgang macht wiederum nur Sinn, wenn die ausgewählte historische Epoche, hier die Zeit der Gründung und ersten Auslegung der amerikanischen Verfassung, eine gewisse Bedeutung für die Deutungspraxis der Gegenwart der Interpreten macht. Solche Umstände erklären die notorische Vernachlässigung der französischsprachigen Texte, die ebenso gut dem Republikanismus zugeordnet werden könnten und eine vielleicht sogar stärkere Kontinuität der Deutungspraxis bis in die Gegenwart hinein aufweisen. Während die Betonung der Laizität noch strukturelle Analogien zwischen den USA und Frankreich aufweist (in der amerikanischen Diskussion des Republikanismus aber kaum eine Rolle spielt), gehen diese nationalen Interpretationspfade völlig andere Wege in Hinblick auf die Vorstellung der Erziehung der Menschen zu Bürgern. Dieses Argument findet sich zwar in den Texten, die auch aus amerikanischer Sicht dem Klassischen Republikanismus zugeordnet werden, spielen aber für die gegenwärtige Rezeption keine Rolle, wohingegen die Praxis der französischen Erziehung, insbesondere ihre staatliche Steuerung und der Gedanke der Elitenauslese, in den USA keine wesentliche Rolle spielt. Wiederum anders verhält es sich dagegen in der deutschsprachigen Deutungspraxis, welche zwar immer wieder die amerikanischen und französischen Vorbilder rezipierte, der es aber nicht gelang, einen eigenen Interpretationspfad in den Deutungskämpfen zwischen Theorieschulen zu etablieren. Das führte u. a. dazu, dass die Gründung der Weimarer Republik nicht auf eine solche Tradition deutender Selbstvergewisserung zurückgreifen konnte, sie vielmehr erst entwickeln musste.23 Es sind demnach immer wieder ideenpolitische Motive, die solche Rezeptionen und damit Fort- oder Umschreibungen von ideengeschichtlichen Diskursen anstoßen und zugleich ihre inhaltliche Auslegung, wenn nicht festschreiben, so doch wesentlich prägen können. Die Politische Ideengeschichte beschäftigt sich also auch aus theoretischen Überlegungen heraus mit dem Fundus an politischen Argumenten, die dem ideengeschichtlichen 22 Marcus Llanque: »Der Republikanismus: Geschichte und Bedeutung einer politischen Theorie«, in: Berliner Debatte/ Initial, Bd. 14 (Heft 1, 2003), S. 3–16. 23 Marcus Llanque: »Der deutsche republikanische Freiheitsdiskurs zwischen Mainz und Weimar (1793–1933)«, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke (Hg.): Freistaatlichkeit. Prinzipien eines europäischen Republikanismus, Tübingen 2011, S. 41–72.

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Material entnommen werden können, und ordnet aus diesen Motiven heraus die ideengeschichtlichen Diskurse. Dieser Vorgang ist aus der Sicht des Archivs bedenklich, aus der Sicht des Arsenals aber ein ganz gewöhnlicher Vorgang der Deutung. Ein historischer Purismus, der es verbieten würde, transhistorische Vergleiche von Autoren anzustellen,24 würde die Ideengeschichte von jeder weiteren Theoriebildung abschneiden.

Die Kontinuität der Ideengeschichte Das ideengeschichtliche Material wird nicht nur in unterschiedlichen Diskursen angeordnet, es unterliegt auch Anstrengungen der Gesamtanordnung. Hier geht es um die Frage der Kontinuität der Ideengeschichte. Die traditionelle Anordnung folgt einem Epochenschema von Antike, Mittelalter und Moderne mit weiteren Etappen. Was für die Geschichte des politischen Denkens eine notwendige und in der Geschichtswissenschaft ausreichend kritisierte Einteilung darstellt, kann aus ideenpolitischer Perspektive für das Archiv wie für das Arsenal der Ideengeschichte auf den Gegensatz von »vormodern« und »modern« hinaus laufen. Hierzu gehört die Annahme einer Sattelzeit, die in der historischen Semantik im Übergang von Vormoderne und Moderne zu beobachten sei.25 Die von Koselleck beobachtete Entwicklung von Kollektivsingularen und die Verzeitlichung der politischen Begriffe ist zwar richtig, erklärt aber nicht das Fortbestehen von Semantiken, die der Vormoderne angehören sollen. Eine andere Form der Kontinuität wird im Begriff der Evolution erfasst. Ihre Anwendung auf die Ideengeschichte erfolgte im Kontext der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Vor dem Hintergrund der Annahme eines Strukturwandels der Gesellschaft im Verlaufe ihrer historischen Entwicklung von einer stratifizierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft wird auch eine hierdurch verursachte Wandlung der politisch-sozialen Begrifflichkeit beobachtet. In vier Bänden zur Gesellschaftsstruktur und Semantik (Frankfurt/M. 1980–1995) hat Luhmann diese These in äußerst materialreichen Darstellungen präsentiert. Bei einzelnen politischen Ideen spricht Luhmann von einer hieran erkennbar werdenden Evolution von Ideen.26 Dieser Ansatz wurde als »Ideenevolution« auch zu einem Prinzip der Darstellung der Politischen Ideengeschichte erhoben.27 Von der Evolution zu sprechen legt es nahe, von einem selbstläufigen Prozess auszugehen, in welchen nur vergeblich interveniert werden kann. Aus der Evolution kann daher eine Teleologie werden, welche in der Gegenwart das notwendige und unter Umständen 24 Vgl. den Vorwurf Femias an die Adresse Skinners: Joseph V. Femia: »A historicist critique of the revisionist methods for studying the history of ideas« in: James Tully (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his critics, London 1988, S. 156–175, hier: S. 162. 25 Reinhart Koselleck: »Einleitung«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1974, S. XIII–XXVII, hier: S. XV. 26 Am Beispiel der Verfassungsidee s. Niklas Luhmann: »Verfassung als evolutionäre Errungenschaft«, in: Rechtshistorisches Journal, Bd. 9 (1990), S. 176–220. 27 Hauke Brunkhorst: Einführung in die Geschichte politischer Ideen, München 2000.

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endgültige Resultat gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklung sieht oder aber die Gegenwart in eine aus der Evolution abzuleitende, noch ausstehende Entwicklung stellt. Aus dem angenommenen Telos kann dann wiederum die hierauf zulaufende Entwicklung als ihre Vorgeschichte angeordnet werden, mit den entsprechenden Konsequenzen der Hervorhebung einiger Elemente des ideengeschichtlichen Materials sowie der Vernachlässigung anderer. Ganz anders verhält es sich aber mit der Vorstellung der Entwicklung in der Ideengeschichte als Genealogie. Während Foucaults Genealogie-Begriff in großer Nähe zum Evolutionsbegriff steht, aber von einer Parallelität evolutionär verlaufender diachroner Diskurse ausgeht, betont der im scharfen Gegensatz zur Evolution stehende GenealogieBegriff der jüngeren ideengeschichtlichen Forschung die Ideengeschichte als Prozess von Deutungskämpfen. Genealogische Forschung nimmt den Vorgang der Deutungspraxis ernst und zeigt sich zugleich offen für weitere Entwicklungen, die im Kontext von politischen Konflikten stehen und nicht als Resultat der Diskursen eingeschriebenen Strukturen aufgefasst werden können. Die Genealogie versteht die ideenpolitische Deutungspraxis als nicht-lineare Konkurrenz von Diskursen, die um die Deutungshoheit einer politischen Idee ringen.28 Die jüngere Wendung Skinners zur genealogischen Forschung29 stellt den Versuch dar, durch die Rekonstruktion unterschiedlicher Interpretationspfade innerhalb des Diskurses eines Begriffs oder einer Idee wie der des »Staates« zugleich die Faktizität ihrer unterschiedlichen Deutungspraktiken zu demonstrieren wie die Alternativität möglicher Rezeptionen in der Gegenwart aufzuzeigen. Aus der Perspektive der Diskursivität politischer Ideen stellt sich das Gesamt des ideengeschichtlichen Materials als ein immer wieder neu angeordnetes »Gewebe von Diskursen« dar.30 Die in Diskursen angeordneten Texte weisen die Textur eines Gewebes auf, verbunden und verknüpft, oft nur mit dünnen Fäden der Rezeption, aber immer offen für neue Rezeptionen, die es ungeachtet aller Kontinuitäts- oder Diskontinuitätsannahmen erlauben, einen diskursiven Zusammenhang zwischen einem fern liegenden antiken Text und einer hochmodernen theoretischen Problematik herzustellen. Das demonstrierte Michel Foucault in seiner Darstellung der Genealogie des Subjektbegriffs, wenn er im apokryphen platonischen Alkibiades-Dialog eine Ursprungs-Alternative zu der auf Descartes zulaufenden Subjektphilosophie der Neuzeit etablierte und ihre weitere Entwicklung diskutiert.31 Man wird aus philosophischer Sicht der Ideengeschichte, die ihre Forschung anhand der Diskursivität politischer Ideen organisiert, vorwerfen können, sie bewege sich an der Oberfläche des Materials und relativiere den Wahrheitsgehalt theoretischer Aussagen Für die Ideengeschichte der Menschenrechte als Genealogie siehe Hoffmann: »Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte«. 29 Quentin Skinner: »A Genealogy of the Modern State«, in: Proceedings of the British Academy, Bd. 162 (2009), S. 325–370. Der deutsche Titel ist irreführend: Skinner, Quentin: Die drei Körper des Staates, Göttingen 2012. 30 Llanque: Politische Ideengeschichte, 2008. 31 Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/1982, Frankfurt/M. 2004. 28

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und entwerte damit die theoretische Arbeit, zumal dort, wo diese normative Ziele verfolgt. Die fortwährende Ergänzungsbedürftigkeit der Ideengeschichte durch interpretatorische Tiefenbohrungen an einzelnen Texten, ihre Aufnahme theoretischer Erkenntnisinteressen, welche das Arsenal, nicht das Archiv der Ideengeschichte ansprechen, ist bereits erwähnt worden. Die Diskursivität politischer Ideen kann Wahrheitsansprüche immer nur im Kontext von Diskursen beobachten und die ideenpolitischen Konstellationen erkunden, welche dieser Diskurse die (vorübergehende) Deutungshoheit erringen. Die Ideengeschichte muss sich mit der Richtigkeit ihrer Rekonstruktionsarbeit begnügen und auf Wahrheit verzichten. Das fällt einer politikwissenschaftlich orientierten Ideengeschichte auch deswegen schon leicht, weil sie sich mit tatsächlichen Handlungen von Menschen beschäftigt und diese empirisch zur Kenntnis nimmt und zu erklären versucht. Es ist vielleicht eine Wahrheit, von der Demokratie als der letzten Antwort der Ideengeschichte auf das Problem der Organisation von Selbstregierung auszugehen, aber diese Wahrheit alleine muss mit vielen anderen Überlegungen, Ideen und Interessen konkurrieren, um tatsächlich handlungsorientierend zu werden. Die Ideengeschichte kann sich daher nicht nur mit den wünschbaren Idealen und Normen beschäftigen, sie muss sich mit allen handlungsorientierenden Ideen auseinandersetzen. An Stelle der Wahrheit tritt in der Ideengeschichte daher die Frage der alternativen Denkwege, die miteinander im Deutungskampf stehen. Mit dieser Selbsteinschätzung ist dann auch schon wiederum ein Zugang geschaffen zu der Selbstanwendung der hier vorgestellten Methode. Denn es ist nicht auszuschließen, dass diese Methode gerade (und vielleicht sogar: nur) aus dem politikwissenschaftlichen Interesse an Handlungen und den handlungsorientierenden Deutungen ihre Plausibilität entfaltet. Auch die ideengeschichtliche Forschung muss sich ihrer eigenen Diskursivität bewusst bleiben. Die Tragkraft der Methode beweist sich alleine darin, wieweit sie in Konkurrenz mit anderen Methoden imstande ist, die Vielfalt des ideengeschichtlichen Materials zu analysieren und sie für die weitere theoretische Forschung zu erschließen.

Literatur Brunkhorst, Hauke: Einführung in die Geschichte politischer Ideen, München 2000. Busen, Andreas/Alexander Weiß (Hg.): Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens, Baden-Baden 2013. Femia, Joseph V.: »A historicist critique of the revisionist methods for studying the history of ideas« in: James Tully (Hg.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his critics, London 1988, S. 156–175. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981. − Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt/M. 2004. − Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/1982, Frankfurt/M. 2004. − Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität 1, Frankfurt/M. 2004. Gunnell, John G.: The Orders of Discourse. Philosophy, Social Sciences, and Politics, Boston 1998.

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Hampsher-Monk, Iain: A History of Modern Political Thought. Major Political Thinkers from Hobbes to Marx, Oxford 1992. Hoffmann, Stefan-Ludwig: »Einführung. Zur Genealogie der Menschenrechte«, in: ders. (Hg.): Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Wallstein 2010, S. 7–37. Höpfl, Harro/Thompson, Martyn P.: »The History of Contract as a Motif in Political Thought«, in: American Historical Review, Bd. 84 (1979), S. 919–944. Kersting, Wolfgang: Die Politische Philosophie des Kontraktualismus, Darmstadt 1994. King, Preston: »Thinking Past a Problem«, in: ders. (Hg.): The History of Ideas. An Introduction to Method, London 1983, S. 21–65. Koselleck, Reinhart: »Einleitung«, in Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1974, S. XIII–XXVII. LaCapra, Dominick/Steven L. Kaplan (Hg.): Modern European Intellectual History. Reappraisals and New Perspectives, Ithaca 1982. Lessnoff, Michael: The Social Contract, Basingstoke 1986. Llanque, Marcus: »Der deutsche republikanische Freiheitsdiskurs zwischen Mainz und Weimar (1793–1933)«, in: Rolf Gröschner/Oliver W. Lembcke (Hg.): Freistaatlichkeit. Prinzipien eines europäischen Republikanismus, Tübingen 2011, S. 41–72. − »Der Republikanismus: Geschichte und Bedeutung einer politischen Theorie«, in: Berliner Debatte/Initial, Bd. 14 (Heft 1, 2003), S. 3–16. − Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München, Wien 2008. − Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, München 2012. Luhmann, Niklas: »Verfassung als evolutionäre Errungenschaft«, in: Rechtshistorisches Journal Bd. 9 (1990), S. 176–220. Münkler, Herfried: »Politische Ideengeschichte«, in: ders. (Hg.): Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2006, S. 103–131. Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 1: Die Griechen, 1. Teilband: Von Homer bis Sokrates, Stuttgart, Weimar 2001. Pfetsch, Frank R.: Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas, München 2003. Pocock, John G.A.: »Introduction: The State of the Art«, in: ders.: Virtue, Commerce, and History. Essays on Political Thought and History, chiefly in the 18th Century, Cambridge 1985, S. 1–34. − »The Reconstruction of Discourse. Towards a Historiography of Political Thought«, in: Modern Language Notes, Bd. 96 (1981), S. 959–980. Skinner, Quentin: »Hobbes’ Leviathan«, in: Historical Journal, Bd. 7 (1964), S. 321–333. − »A Genealogy of the Modern State«, in: Proceedings of the British Academy, Bd. 162 (2009), S. 325–370. (dt.: Die drei Körper des Staates, Göttingen 2012). Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 9. Aufl. Tübingen 1988.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Günter Abel ist Professor für Theoretische Philosophie an der TU Berlin und Direktor des »Innovationszentrum Wissensforschung (IZW)«. Schwerpunkte seiner Forschungen sind: Epistemologie, Sprachphilosophie, nicht-linguistische Symbolsysteme, Philosophie der Kognition und der Kreativität. Zahlreiche Publikationen in diesen Feldern, unter anderem: Interpretationswelten (2. Aufl. 1995); Sprache, Zeichen, Interpretation (1999); Zeichen der Wirklichkeit (2004); The Riddle of Creativity (2009); Systematic Knowledge Research (2014); Formen des Wissens im Wechselspiel (2015); Rethinking Rationality (2016). Marcel van Ackeren ist Privatdozent an der Universität zu Köln. Nach dem Studium der Politischen Wissenschaft und Philosophie in Duisburg-Essen und Glasgow erfolgte ein Promotionsstudium in Oxford und Bochum, Forschungsaufenthalte in Cambridge und Bern und die Habilitation 2010 in Köln, seitdem zahlreiche Vertretungsprofessuren. Wichtigste Veröffentlichungen sind: Die Philosophie Marc Aurels, 2 vol. (2010), Companion to Marcus Aurelius (ed., 2012), The Limits of Moral Demands (ed., 2015) und Philosophy and the Historical Perspective (ed., forthcoming 2016). Lars-Olof Åhlberg ist Professor emeritus für Ästhetik am Institut für Philosophie der Universität Uppsala (Schweden). Von 1997 bis 2007 war er Vorsitzender der Nordic Society of Aesthetics und Herausgeber des Nordic Journal of Aesthetics. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturphilosophie, der philosophischen Ästhetik und ihrer Geschichte, der Musik- und Architekturphilosophie sowie der Politischen Philosophie. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören: Konst, språk och värde. Om begrepp och definitioner i de estetiska vetenskaperna [Kunst, Sprache, und Wert. Begriffe und Definitionen in der Ästhetik] (1986), Realismbegrepp i litteratur och konst. En idéhistorisk och konstfilosofisk studie [Der Begriff des Realismus in Literatur und Kunst. Eine ideengeschichtliche und kunstphilosophische Untersuchung] (1988), Aesthetic Matters: Essays presented to Göran Sörbom on his 60th birthday (Hg., 1994), Notions of the Aesthetic and of Aesthetics. Essays on Art, Aesthetics and Culture (2014). Amy Allen ist Professorin für Philosophie und Frauen-, Geschlechter- und Sexualitätsforschung an der Pennsylvania State University. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Kritischer Sozialtheorie, Französischer Philosophie und Feminismustheorie. Sie ist Autorin von The End of Progress: Decolonizing the Normative Foundations of Critical Theory (2016), The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender in Contemporary Critical Theory (2008) und The Power of Feminist Theory: Domination, Resistance, Solidarity (1999) und Mitherausgeberin von Constellations. Emil Angehrn. Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Löwen und Heidelberg. Promotion in Philosophie 1976 in Heidelberg. Hoch-

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

schulassistent an der Freien Universität Berlin, 1983 Habilitation an der FU Berlin. Professor für Philosophie 1989–1991 an der Universität Frankfurt am Main, 1991–2013 an der Universität Basel. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Antike Philosophie und 19./20. Jahrhundert; Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik, Politik. Marietta Auer, Prof. Dr., M.A., LL.M., S.J.D. (Harvard), Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte im Bereich Privatrecht und Rechtsphilosophie, insbesondere Privatrechtstheorie und Privatrechtsvergleichung. Veröffentlichungen u. a.: Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit: Generalklauseln im Spiegel der Antinomien des Privatrechtsdenkens, Tübingen 2005; Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, Tübingen 2014. Ralf Becker lehrt am Humboldt-Studienzentrum für Philosophie und Geisteswissenschaften der Universität Ulm. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophischen Anthropologie, Erkenntnistheorie sowie Wissenschafts- und Kulturphilosophie. Monographien: Sinn und Zeitlichkeit (2003), Der menschliche Standpunkt (2011). Ansgar Beckermann, geb. 1945, ist Professor em. für Philosophie an der Universität Bielefeld. Er studierte Philosophie, Soziologie und Mathematik an den Universitäten Hamburg und Frankfurt/M., Promotion 1974 mit der Arbeit Gründe und Ursachen. Von 1975 bis 1981 war er wissenschaftlicher Assistent an der Universität Osnabrück, nach Professuren an den Universitäten Göttingen und Mannheim von 1995 bis 2012 Professor an der Universität Bielefeld. Von 2000 bis 2006 war er Präsident der Gesellschaft für Analytische Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Erkenntnistheorie. Für Publikationen und weitere Hinweise s. PhilPapers.org und wikipedia.org. Azelarabe Lahkim Bennani, geb. 1960, ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Sidi Mohamebd Ben Abdellah, Fès, Marokko. Hauptveröffentlichungen: Semantik und Phänomenologie bei Franz Brentano und Anton Marty: Casablanca, arabisch, 2003; Hermeneutik, Ästhetik und Theologie (Hg.): Fès, Französisch/arabisch, 2007; die veröffentlichten Beiträge in deutscher Sprache sind in Polylog wie in Sammelbänden (von W. Pfannkuche und S. Dhouib herausgegeben) bei Velbrück erschienen. Die Forschungen des Autors wurden von der Alexander von Humboldt Stiftung gefördert. Christian Bermes ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Er leitet das Graduiertenkolleg »Herausforderung Leben«, ist Sprecher des Forschungsschwerpunktes »Kulturelle Orientierung und normative Bindung« und gibt zusammen mit Michael Erler und Ulrich Dierse das »Archiv für Begriffsgeschichte« heraus. Zu den wichtigsten Publikationen gehören u. a.: Lebenswelt und Lebensform (2016); Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts (2015); Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (2014); Merleau-Ponty (3. Auflage 2012); Welt als Thema der Philosophie, 2004; Philosophie der Bedeutung (1997).

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Albrecht Beutel, geb. 1957, Dr. theol., seit 1998 Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ist Herausgeber der Zeitschrift für Theologie und Kirche sowie der Beiträge zur Historischen Theologie, zudem Leiter der Forschungsstelle Bibliothek der Neologie und ord. Mitglied der NordrheinWestfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Wichtigste Publikationen: Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium (20092); Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung (2014); (Hg. zus. mit Martha Nooke): Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (2016). Claudia Bickmann ist Professorin für Philosophie an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ontologie, Religionsphilosophie, Kant und der Deutsche Idealismus, Interkulturelle Philosophie. Zu den wichtigsten Publikationen gehören, unter anderem: Differenz oder das Denken des Denkens Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein in Kants Transzendentalphilosophie (1996), Kants Weltphilosophie (2006), ferner: Abhandlungen zu Platon, Hegel, Schelling und Heidegger. Herausgabe der Reihe (zus. m. Markus Wirtz): Weltphilosophien im Gespräch (seit 2009). Dieter Birnbacher, Prof. Dr. Dr. h. c., bis 2012 Professor für Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Buchveröffentlichungen: Die Logik der Kriterien. Analysen zur Spätphilosophie Wittgensteins (1974). Verantwortung für zukünftige Generationen, Stuttgart 1988 (frz. 1994, poln. 1999). Tun und Unterlassen, Stuttgart 1995 (Neuausgabe Aschaffenburg 2015). Analytische Einführung in die Ethik, Berlin 2003 (3. Aufl. 2013). Bioethik zwischen Natur und Interesse (2006). Natürlichkeit (2006, engl. 2014). Schopenhauer (2009, niederl. 2010). Negative Kausalität (zus. mit David Hommen, 2012). Klimaethik (2016). Michael Bongardt, Philosoph und katholischer Theologe, 2000–2016 Professor an der Freien Universität Berlin, seit April 2014 Professor am Philosophischen Seminar der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Anthropologie, Religions-, Kultur- und Sozialphilosophie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Kierkegaard, Cassirer und Jonas. Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe des Werks von Hans Jonas. U. a. Einleitung und wissenschaftliche Kommentare zu den metaphysischen und religionsphilosophischen Schriften von H. Jonas (KWA III/1, 2014). Tilman Borsche ist Professor für Philosophie an der Cusanus Hochschule Bernkastel-Kues und Professor em. der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Philosophie- und Begriffsgeschichte, Kulturphilosophie, Artikulationsformen des Denkens. Wichtige Publikationen: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts (1981); Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche (21992); Herder im Spiegel der Zeiten: Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre (Hg., 2006); Kann das Denken malen? Philosophie und Malerei in der Renaissance (Hg. mit I. Bocken, 2010); »Kulturelle Grenzen des Verstehens« (2013).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Holger Burckhart, Univ. Prof. Dr., ist Professor für Bildungsphilosophie an der Universität Siegen, im Department Erziehungswissenschaft und Rektor der Universität Siegen. Schwerpunkte seiner Forschungen sind: Bildungsphilosophie, philosophische Anthropologie und Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Diskursphilosophie und Verantwortungsethik von Hans Jonas. Einige seiner wichtigsten Veröffentlichungen sind: Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas (2009–2016); »Erfahrung des Moralischen. Wie und warum ist Erfahrung von Moralischem möglich? A experiencia do Moral« (2001); Prinzip Mitverantwortung. Grundlage für Ethik und Pädagogik? (2003). Chung-ying Cheng ist Professor für Philosophie an der University of Hawaii at Manao und Chefredakteur des Journals of Chinese Philosophy (Blackwell Publishers). Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Chinesischen Logik, der Konfuzianischen und Neo-Konfuzianischen Philosophie sowie der Onto-Hermeneutik östlicher und westlicher Philosophie. Zu seinen Publikationen gehören u. a.: Contemporary Chinese Philosophy (hg. zus. mit N. Bunnin); A Treatise on Confucian Philosophy (2001) und New Dimensions of Confucian & Neo-Confucian Philosophy (1991). Rolf Elberfeld ist Professor für Kulturphilosophie an der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, interkulturelle Ethik/Ästhetik, Kulturphilosophie, Philosophie des Leibes und der Interkulturalität. Monographien: Kitarō Nishida und die Frage nach der Interkulturalität (1999); Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens (2004); Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung (2012). Dina Emundts ist Professorin für Philosophie an der Universität Konstanz. Sie ist Autorin von Kants Übergangskonzeption im Opus postumum (2004) und von Erfahren und Erkennen. Hegels Theorie der Wirklichkeit (2012) und Herausgeberin von Self, World, Art. Metaphysical Topics in Kant and Hegel. (2013). Seit 2014 ist sie zusammen mit Sally Sedgwick Herausgeberin des Internationalen Jahrbuchs für Deutschen Idealismus. Rainer Enskat ist Professor (em.) an der Universität Halle. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Erkenntnistheorie, Praktische Philosophie, Geschichte der Philosophie. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören die Monographien: Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes (1976), Wahrheit und Entdeckung (1986), Die Hegelsche Theorie des praktischen Bewußtseins (1986), Authentisches Wissen (2005), Bedingungen der Aufklärung (2008), Urteil und Erfahrung. Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil (2015). Andrea Marlen Esser, Prof. Dr., seit 2015 Professorin für Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller Universität Jena. Vorher Philipps-Universität Marburg, RWTH Aachen, HFG Pforzheim. Monographien: Kunst als Symbol (1997); Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart (2004); Herausgeberin von Kants Kritik der Urteilskraft der Akademie Ausgabe, Mitherausgeberin der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (DZPhil), seit 2011 Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (DGPhil).

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Günter Figal ist Professor für Philosophie an der Universität Freiburg im Breisgau. Zahlreiche Gastprofessuren, u. a. an der Kwansei Gakuin Universität in Nishinomiya (Japan), als Inhaber des Kardinal-Mercier-Lehrstuhls an der Universität Leuven und als Gadamer Distinguished Visiting Professor am Boston College. Zu den wichtigsten Publikationen gehören u. a.: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie (2015); Simplicity. On a Bowl by Young-Jae Lee / Einfachheit. Über eine Schale von Young-Jae Lee (2014); Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, revidierte Neuauflage (2013); Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie (2010); Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie (2006); Nietzsche. Eine philosophische Einführung (1999); Der Sinn des Verstehens (1997). Dagfinn Føllesdal geb. 1932, Clarence Irving Lewis Professor of Philosophy, Stanford University und Professor emeritus, Universität Oslo. Etwa 25 Bücher und 200 Aufsätze, meistens in Sprachphilosophie, Wissenschaftstheorie und Philosophie des 20. Jahrhunderts, darunter Husserl und Frege (1958), Referential Opacity and Modal Logic (Dissertation, 1961, Oslo 1966, London, New York 2004), Michael Frauchiger, ed., Reference, Rationality, and Phenomenology: Themes from Føllesdal (2013). Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist zugleich Co-Sprecher des dortigen Exzellenzclusters »Normative Ordnungen« und der Kolleg-Forschergruppe »Justitia Amplificata« und Direktor der LeibnizForschungsgruppe »Transnationale Gerechtigkeit«. Seine Forschungen konzentrieren sich auf Fragen der Gerechtigkeit und der Toleranz sowie der Kritischen Theorie und der praktischen Vernunft in der Tradition Kants. Wichtigste Publikationen: Kontexte der Gerechtigkeit (1994), Toleranz im Konflikt (2003), Das Recht auf Rechtfertigung (2007), Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse (2011), Normativität und Macht (2015). Gemeinsam mit W. Brown hat er The Power of Tolerance (2014) verfasst. Doris Gerber, Privatdozentin am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; Promotion und Habilitation in Philosophie in Tübingen 2001 bzw. 2010; seitdem Vertretungen von Professuren an den Universitäten in Tübingen, Bielefeld, Jena, Stuttgart und Bayreuth; Schwerpunkte ihrer Forschung sind Handlungstheorie, Sozialphilosophie, Politische Philosophie und ihre moralphilosophischen Grundlagen, Geschichtsphilosophie sowie Wissenschaftsphilosophie der Human- und Sozialwissenschaften; zu den wichtigsten Publikationen gehören: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (2012); »Kollektives Handeln und Soziale Strukturen« (2010); »Der Begriff der kollektiven Verantwortung: Ist individuelle Verantwortung das richtige Modell für kollektive Verantwortung?« (2010); »Causal Explanation and Historical Meaning: How to Solve the Problem of the Specific Historical Relation between Events« (2013). Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Professor em. für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Philosophie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt/M. und Münster; Promotion 1974 und Habilitation 1984 in Münster. Er war wissenschaftlicher Assistent und Professor für Philosophie in Münster sowie 1986 Gastprofessor an der Uni-

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

versität Zürich; 1988 bis 1992 Professor für Philosophie an der Deutschen Sporthochschule in Köln, seit 1992 Professor für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Volker Gerhardt hat und hatte zahlreiche öffentliche Ämter und akademische Funktionen inne. U. a. war er Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied des Nationalen und des deutschen Ethikrats; er ist Mitglied im Hochschulbeirat der Evangelischen Kirche in Deutschland, des Senats der Deutschen Nationalstiftung und der Grundwerte-Kommission der SPD. Für Publikationen und weitere Hinweise s. PhilPapers.org und wikipedia.org. Carl Friedrich Gethmann, geb. 1944; Studium der Philosophie in Bonn, Innsbruck und Bochum; 1971 Dr. phil. (Ruhr-Universität Bochum); 1978 Habilitation für ›Philosophie‹ (Universität Konstanz). 2003 Dr. phil. h.c. (Humboldt-Universität zu Berlin). − 1979–2012 Professor für Philosophie an der Universität Essen; ab 2012 Professor für Wissenschaftsethik am Forschungskolleg der Universität Siegen. − Mitglied der Academia Europaea (London); o. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; o. Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Halle). Ab 2013 Mitglied des Deutschen Ethikrates. − Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie / Philosophie der Logik; Phänomenologie; Angewandte Philosophie (Medizinische Ethik / Umweltethik / Technikfolgenabschätzung). Christopher Gill is Emeritus Professor of Ancient Thought at the University of Exeter, UK. His books include Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy: The Self in Dialogue (1996), The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (2006), Naturalistic Psychology in Galen and Stoicism (2010), and Marcus Aurelius Meditations Books 1–6, translated with introduction and commentary (2013). Stefan Gosepath ist Professor für Praktische Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Zugleich ist er Co-Direktor der Kolleg-Forschergruppe »Justitia Amplificata: Erweiterte Gerechtigkeit – konkret und global«. Gosepath hat zu Themen wie praktische Vernunft und Normativität, zu Gerechtigkeit und Gleichheit, zu Menschenrechten und globaler Gerechtigkeit sowie Moral publiziert. Weitere Informationen finden sich unter: www.stefan-gosepath.de Hiroshi Goto, 1961 geboren in Hiroshima, 2001 Promotion an der Universität Trier, 2010 Professor für Philosophie an der Universität Hiroshima. Publikationen: Der Begriff der Person in der Phänomenologie Edmund Husserls. Ein Interpretationsversuch der Husserlschen Phänomenologie als Ethik im Hinblick auf den Begriff der Habitualität (2004). »Die Versöhnung mit der Natur bei E. Husserl – Der Status der Tiere« (2012). Quante, Michael: Person (ins Japanische übersetzt von H. Goto, 2013). Armin Grunwald, Prof. Dr. rer. nat., Professor für Technikphilosophie und Technikethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT; früher Universität (TH) Karlsruhe). Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT und Leiter des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). Wichtigste Veröffent-

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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lichungen: Technik und Politikberatung (2008); Responsible Nanobiotechnology. Ethics and Philosophy (2012). Technikzukünfte als Medium von Zukunftsdebatten und Technikgestaltung (2012). Thomas Gutmann, Prof. Dr., geboren 1964, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wichtigste Publikationen: Iustitia Contrahentium. Zu den gerechtigkeitstheoretischen Grundlagen des deutschen Schuldvertragsrechts (2016); Recht als Kultur? Über die Grenzen des Kulturbegriffs als normatives Argument (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Band 50, 2015); Freiwilligkeit als Rechtsbegriff (2001). Hendrik Hansen, Dr., seit 2011 Univ.-Professor für internationale und europäische Politik, Verwaltungswissenschaft an der deutschsprachigen Andrássy Universität Budapest (AUB). Seit März 2014 Prorektor der AUB. Habilitation in Politikwissenschaft an der Universität Passau (2007), Promotion in Volkswirtschaftslehre (Dr. rer. pol.) an der TU Bergakademie Freiberg (1998). Vertretungs- und Gastprofessuren an den Universitäten Erfurt und Regensburg sowie an der University of Puget Sound (Tacoma, USA). Ausgewählte Publikationen zum Thema des Beitrags: »Adam Smith« (2016); »Herdenverhalten« im wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb. Demokratietheoretische Anmerkungen zur Wiederentdeckung von Keynes in der aktuellen Finanzkrise (2011); Politik und wirtschaftlicher Wettbewerb in der Globalisierung. Kritik der Paradigmendiskussion in der Internationalen Politischen Ökonomie (2008, Habilitation). Rahel Jaeggi ist Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschung zielt darauf, zentrale Begriffe und Theoreme der Kritischen Theorie zu reaktualisieren. In jüngerer Zeit erschienen sind die Monografien Kritik von Lebensformen (2013) und Alienation (2014). Christoph Jäger, geb. 1965, ist Professor für Philosophie an der Universität Innsbruck. Er studierte Philosophie in Münster, Hamburg und Oxford; Magister Artium 1992, Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, Promotion 1994 an der Universität Münster; wissenschaftlicher Assistent an der Universität Leipzig, dort 2003 Habilitation. Vor seinem Ruf nach Innsbruck war er Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und hatte Gastprofessuren für Philosophie an der Georgetown University, Washington, und der St. Louis University inne. Von 2005 bis 2010 war er University Lecturer in Philosophy am King’s College der Universität Aberdeen. Arbeitsschwerpunkte: Erkenntnistheorie, Religionsphilosophie, Theorie der Willensfreiheit, Theorie der Emotionen. Für Publikationen s. PhilPapers.org. Matthias Kettner ist seit 2002 Professor für Praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Schwerpunkte seiner Forschung sind: Moralphilosophie und angewandte Ethik, Kulturtheorie, Rationalitätstheorie, Kritische Theorie, Psychoanalyse. Wichtige Publikationen: Biomedizin und Menschenwürde (2004); Reflexionen über das Unbewusste (2010); Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Wirtschaftsphilosophische Unterscheidungen (2011).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Stephan Kirste, Univ.-Prof. Dr. jur., Inhaber des Lehrstuhls für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Salzburg. Präsident der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR). Wichtigste Publikationen: Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins (1998). – Einführung in die Rechtsphilosophie (2010). – Geschichte der Rechtsphilosophie der Neuzeit (im Erscheinen). Forschungsschwerpunkte: Theorie der Rechtswissenschaften, Recht und Zeit, Gerechtigkeit, Menschenrechte. Ralf Konersmann, Professor für Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 2005–2007 Gründungsmitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Autor zahlreicher Bücher, Aufsätze, Essays und Feuilletons, Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie und der Zeitschrift für Kulturphilosophie (seit 2007). 2017 erscheint bei S. Fischer das Wörterbuch der Unruhe. Tze-wan Kwan, Dr.phil. Bochum, ist Professor für Philosophie und Gründungsdirektor des Research Centre for Humanities Computing und des Archive for Phenomenology and Contemporary Philosophy an der Chinese University of Hong Kong. Wichtige Publikationen: Die hermeneutische Phänomenologie und das tautologische Denken Heidegger’s (1982), drei Bücher in chinesischer Sprache, darunter: Articulation-cum-Silence: In Search of a Philosophy of Orientation (Hong Kong 2008; Beijing 2009). Übersetzungen ins Chinesische: Ernst Cassirer Zur Logik der Kulturwissenschaften und eine Sammlung von Arbeiten Richard Kroners. Dazu mehrere websites, E-texts, Lexika, thematische Datenbanken usw., die weithin in Gebrauch sind. Charles Larmore forscht hauptsächlich zu Fragen der Moralphilosophie und der politischen Philosophie. Nachdem er zuvor an der Columbia Universität in New York und an der University of Chicago gelehrt hat, wechselte er 2006 nach Brown, wo er W. Duncan MacMillan Family Professor in the Humanities ist. Er ist Autor von zehn Büchern, von denen Les Pratiques du Moi 2004 den Grand Prix de Philosophie der Academie Francaise gewonnen hat. Seine Werke umfassen darüber hinaus The Autonomy of Morality (2008) und Vernunft und Subjektivität (2012). Er ist Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. Karl-Heinz Lembeck ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Würzburg. Zu den wichtigsten Publikationen gehören u. a.: Philosophie als Zumutung? Ihre Rolle im Kanon der Wissenschaften (2010); Einführung in die phänomenologische Philosophie (20052); Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps (2004); Geschichtsphilosophie (2000); Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp (1994); Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie (1988). Susanne Lettow, Dr. habil., zurzeit Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin und Privatdozentin an der Universität Paderborn. Veröffentlichungen: Emancipation: Rethinking Subjectivity, Power and Time. Special Issue der Zeitschrift Hypatia. A Journal of Feminist Philosophy 30 (3) 2015; Reproduction, race and gen-

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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der in philosophy and the early life sciences (2014); Biophilosophien. Wissenschaft, Technologie und Geschlecht im philosophischen Diskurs der Gegenwart (2011). Marcus Llanque, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft/Politische Theorie an der Universität Augsburg seit 2008, Forschungsgebiete: Politische Ideengeschichte in der ganzen Breite, Geschichte der Demokratietheorie, Menschenrechte, Politische Theorie des Republikanismus. Schriften: Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München (2008); Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart (20162); »Politik« (2011); »Rhetorische Räume« (2012), »Ideenpolitische Interventionen im Archiv der Ideengeschichte. Die diskursive Klassizität von Texten und ihr Kanon« (2015); »Menschenrechte: Normative Geltung und politische Verbindlichkeit« (2015). Matthias Mahlmann ist Professor für Philosophie und Theorie des Rechts, Rechtssoziologie und Internationales Öffentliches Recht, Universität Zürich. Schwerpunkte seiner Forschungen sind: Praktische Philosophie; Recht, Psychologie und Neurowissenschaften; Verfassungsrecht und internationaler Schutz von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Zu den wichtigsten Publikationen gehören: Rationalismus in der praktischen Theorie (20092); Elemente einer ethischen Grundrechtstheorie (2008); Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (20164); Konkrete Gerechtigkeit (20163); »Le Chariot – Bemerkungen zu den Grundlagen des Rechts« (2012); »The Good Sense of Dignity« (2013); Mind and Rights (2016). Francesca Menegoni ist Professorin für Philosophie an der Universität Padua und Leiterin des PhD-Programms für Philosophie. Wichtige Veröffentlichungen sind: Moralità e morale in Hegel [Moralität und Moral bei Hegel], 1982; Finalità e destinazione morale nella »Critica del Giudizio« di Kant [Zweckmäßigkeit und moralische Bestimmung in Kants »Kritik der Urteilskraft«], 1988; Soggetto e struttura dell’agire in Hegel [Subjekt und Struktur des Handelns bei Hegel], 1993; Le ragioni della speranza [Die Gründe der Hoffnung], 2001; Fede e religione in Kant (1775–1798) [Glaube und Religion bei Kant (1775–1798)], 2005; La »Critica del Giudizio« di Kant. Introduzione alla lettura [Kants »Kritik der Urteilskraft«. Eine Einführung], 2008. Mari Mikkola ist seit 2010 Juniorprofessorin für Praktische Philosophie an der HumboldtUniversität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich von analytischer feministischer Philosophie (insbesondere Gender als Social Kind und Pornographie), Sozialphilosophie und Metaphysik (bes. Sozialontologie und Soziale Konstruktion). Ihre Aufsätze zur feministischen Philosophie wurden in mehreren Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht, wie z.B. Analysis, Canadian Journal of Philosophy, Inquiry, Philosophical Studies und Hypatia. Ihre Monographie The Wrong of Injustice: Dehumanization and its Role in Feminist Philosophy erscheint 2016. Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Schwerpunkte liegen in der Rationalitätstheorie, Ethik und politischen Philosophie. Publikationen u. a.: »Moralische Tatsachen« (2015); Verantwortung (2011); Philosophie und Lebensform (2009); Demokratie und Wahrheit (2006).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Jürgen Nielsen-Sikora, Philosoph und Historiker, 2003–2012 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Akademischer Rat an der Universität zu Köln, Habilitation 2011 an der Universität Hildesheim, 2012–2014 Leiter der Abteilung Zeitgeschichte, Konrad-Adenauer-Stiftung. Seit Dezember 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen, Leitung des Hans-Jonas-Instituts. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Philosophische Anthropologie, Bildungsphilosophie, Europa. Nielsen-Sikora wurde mehrfach von der Jungen Akademie an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wie auch von den Salzburger Hochschulwochen ausgezeichnet. Ulrich Nortmann ist seit 1999 Inhaber einer Professur für Theoretische Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Letzte Buchveröffentlichungen: Unscharfe Welt? Was Philosophen über Quantenmechanik wissen möchten (2008); Im Kopf die Unendlichkeit – Fesselung und Entfesselung des Denkens durch Mathematik (2015); außerdem zahlreiche Veröffentlichungen zu Aristoteles. Ryosuke Ohashi, Prof. Dr., ist Direktor des Japanisch-Deutschen Kulturinstituts (Kyoto/ Japan). Schwerpunkte seiner Forschungen sind: Phänomenologie, Religionsphilosophie, Ästhetik, der deutsche Idealismus, die Philosophie der Kyoto-Schule. Zu den wichtigsten Publikationen (außer im Japanischen) gehören unter anderem: Zeitlichkeitsanalyse der Hegelschen Logik. Zur Idee der Phänomenologie des ›Ortes‹, (1984); Kire. Das ›Schöne‹ in Japan. Philosophisch-Ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, (1994, 20142); Die Philosophie der Kyôto-Schule. Texte und Einführung (Hg.), (1990; 20142); Die »Phänomenologie des Geistes« als Sinneslehre. Hegel und die Idee der Phänomenoetik der Compassion, (2009); Schnittpunkte I: Dimensionen des Ästhetischen (2013); Schnittpunkte II: Deutsch-Japanische Denkwege (2014). Jan Opsomer is Research Professor of Ancient Philosophy at the KU Leuven (Internal Funds). He has published extensively on the Platonic tradition in antiquity. He is the author of In Search of the Truth: Academic Tendencies in Middle Platonism (1998). He has translated (together with Carlos Steel) Proclus. On the Existence of Evils (2003) and Proclus. Ten Problems concerning Providence (2012). Elif Özmen hat eine Professur für Praktische Philosophie an der Universität Regensburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der politischen Philosophie, der Ethik sowie anthropologischen Fragestellungen. Publikationen u. a.: (Hg.): Hans Kelsens Politische Philosophie (i. E. 2017); (Hg.): Über Menschliches. Anthropologie zwischen Natur und Utopie (2016); Politische Philosophie zur Einführung (2013); Moral, Rationalität und gelungenes Leben (2005). Philip Pettit is L.S. Rockefeller University Professor of Politics and Human Values at Princeton, and Distinguished Professor of Philosophy at the ANU. His books include The Common Mind (1993); Republicanism (1997); Group Agency (2011) with C. List; On the People’s Terms (2012); Just Freedom (2014); and The Robust Demands of the Good (2015); Common Minds: Themes from the Philosophy of Philip Pettit (2007); Philip Pettit – Five Themes from his Work, ed. S. Derpmann and D. Schweikard (2016).

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Dietmar von der Pfordten, geb. 1964, seit 2002 Prof. für Rechts- und Sozialphilosophie an der Georg-August-Univ. Göttingen, o. Mitgl. der Akad. d. Wiss. Erfurt, Gastprof. Univ. Cagliari und Groningen, Mitgl. in der Komm. der Bundesreg. zur Rückgabe NS-entzogenen Kulturgutes. Veröff.: Deskription, Evaluation, Präskription (1993); Ökologische Ethik (1996); Rechtsethik (2011²); Concepts in Law (hg. m. J. Hage, 2009); Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant (2009); Normative Ethik (2010); Suche nach Einsicht (2010); Rechtsphilosophie (2013); Normativer Individualismus in Ethik, Politik und Recht (hg. m. L. Kähler, 2014); Menschenwürde (2016). Robert B. Pippin is the Evelyn Stefansson Nef Distinguished Service Professor in the Committee on Social Thought, the Department of Philosophy, and the College at the University of Chicago. He is the author of several books on modern German philosophy, including Kant’s Theory of Form; Hegel’s Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness; and Modernism as a Philosophical Problem, a book on philosophy and literature, Henry James and Modern Moral Life; and two books on film. His last two books are After the Beautiful: Hegel and the Philosophy of Pictorial Modernism, and Interanimations: Receiving Modern German Philosophy. He is a past winner of the Mellon Distinguished Achievement Award in the Humanities, and is a fellow of the American Academy of Arts and Sciences, and of the American Philosophical Society. Andrzej Przylebski ist Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Hermeneutik der Kultur im Kulturwissenschaftlichen Institut der Adam-Mickiewicz-Univ. zu Poznan (PL) sowie Leiter des akademischen Znaniecki-Zentrums. Wichtige Publikationen: Sense, Meaning and Understanding. Towards a Systematic Hermeneutical Philosophy (2013); Hermeneutische Philosophie als Wissenschaft. Bemerkungen im Ausgang von Gadamer und Fleck (2011); Ethik im Lichte der Hermeneutik (Hg., 2010). Boris Rähme ist postdoc researcher an der Fondazione Bruno Kessler in Trient. Forschungsschwerpunkte: Erkenntnis- und Wahrheitstheorie, normative Ethik und Metaethik. Zu den wichtigsten Publikationen gehören: Wahrheit, Begründbarkeit und Fallibilität (2010); »Transcendental Arguments, Epistemically Constrained Truth, and Moral Discourse« (2015); »An Explanatory Role for the Concept of Truth« (2014); »Recognition. Reflections on a Contested Concept« (2013). Christof Rapp ist Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für antike Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er arbeitet vor allem zur antiken Philosophie und zur Philosophie des Aristoteles. Zu den wichtigsten Buchpublikationen gehören: Vorsokratiker (1997, 2007); Aristoteles zur Einführung (2001, 2012); Aristoteles, Rhetorik. Übersetzung, Einleitung, Kommentar (2002); Epikur. Ausgewählte Schriften (2010); Metaphysik (2016). Eva von Redecker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt Universität zu Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung sind sozialtheoretische und geschichtsphilosophische Probleme sozialen Wandels sowie allgemein feministische Philosophie. Zu ihren Publikationen

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

gehört eine Einleitung in das Werk Judith Butlers (Zur Aktualität von Judith Butler, 2011) und der kürzlich erschienene Aufsatz »Marx’s concept of needs in the guise of queer desire« (2015). Maria Elisabeth Reicher studierte Philosophie an der Universität Graz und lehrt seit 2009 an der RWTH Aachen. Wichtigste Publikationen: Einführung in die philosophische Ästhetik (20153). Referenz, Quantifikation und ontologische Festlegung (2005). (Hg.) Fiktion, Wahrheit, Wirklichkeit. Philosophische Grundlagen der Literaturtheorie (20102). »Nonexistent Objects« (http://plato.stanford.edu/cgi-bin/encyclopedia/archinfo.cgi?entry=nonexistent-objects). Peter Rohs, geb. 1936, ist Professor em. für Philosophie an der Universität Münster. Er promovierte 1964 an der Universität zu Kiel mit einer Arbeit über die Logik bei Hegel und habilitierte sich 1975 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/M. Dort war er seit 1975 als Privatdozent für Philosophie und von 1985 bis 1986 als Geschäftsführer im Forum für Philosophie Bad Homburg tätig. Seit 1986 lehrt Rohs am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Arbeitsschwerpunkte: Theorie der Zeit, Willensfreiheit und Determinismus, Kant, feldtheoretische Transzendentalphilosophie. Für Publikationen und weitere Hinweise s. PhilPapers.org und wikipedia.org. Stefan Roski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie der Logik und ihrer Geschichte, der Metaphysik und der Frühgeschichte der analytischen Philosophie. Erzsébet Rózsa, Prof. emer. für Philosophie, Leiterin der Forschergruppe für Bioethik an der Exellenzuniversität Debrecen, seit 2012 Fellow der KFG der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie; Hegel und der Deutsche Idealismus bzw. die klassische deutsche Philosophie; G. Lukács und die Budapester Schule; Europäische Kultur, europäische Identität; angewandte Philosophie, Bioethik. Buch- und Aufsatzveröffentlichungen auf ungarisch, deutsch, englisch, italienisch, japanisch. Dirk Rustemeyer lehrt Philosophie an der Universität Witten/Herdecke und Bildungsphilosophie an der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Kulturphilosophie, Semiotik, Sozialphilosophie und Ästhetik. Literaturauswahl: Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral (2001); Oszillationen. Kultursemiotische Perspektiven (2006); Diagramme. Dissonante Resonanzen: Kunstsemiotik als Kulturtheorie (2009); Darstellung. Philosophie des Kinos (2013). Rainer Schäfer, Prof. Dr., hat seit 2016 eine Professur für klassische deutsche Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Bonn inne, zuvor am Department for Philosophy an der Peking University. Habilitation in Heidelberg, Promotion in Köln. Spezialgebiete sind: Theoretische Philosophie, Subjekttheorie und klassische deutsche Philosophie. Buch- und Aufsatzveröffentlichungen z. B. zur antiken Skepsis, Kants und Fichtes theoretischer Philosophie, Hegels Dialektik in der Logik, Nietzsche, Husserl und Heidegger sowie zur Politischen Philosophie. Schäfer hat weltweit über 80 Vorträge gehalten.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Hans Schelkshorn, Dr. theol., Dr. phil.; Doz. phil.; a. o. Prof. am Institut für Christliche Philosophie der Universität Wien; Präsident der Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie. Ethik der Befreiung. Einführung in die Philosophie Enrique Dussels (1992); Diskurs und Befreiung. Studien zur philosophischen Ethik von Karl-Otto Apel und Enrique Dussel (1997); Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs der Moderne (2009). Benjamin Schnieder ist Leiter der Forschungsgruppe Phlox und Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Hamburg. Seine zentralen Forschungsschwerpunkte liegen in der Metaphysik, der Sprachphilosophie sowie der Philosophie der Logik, wobei er sowohl systematische als auch historische Interessen verfolgt. Winfried Schröder ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. Vita: 1986 Promotion in Philosophie (Univ. Bochum), 1996 Habilitation (FU Berlin), 2006 Professor für Geschichte der Philosophie an der Philipps-Universität Marburg. Bücher: Spinoza in der deutschen Frühaufklärung (1987). − Ursprünge des Atheismus (1998; ²2012). − Moralischer Nihilismus (2002; ²2005). – Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit (2011; ²2013). – [Hg.] Gestalten des Deismus in Europa (2013). – [Hg.] Reading between the Lines. Leo Strauss and the History of Early Modern Philosophy (2016). Ludwig Siep, Professor em. für Philosophie, Universität Münster. Seniorprofessor am Exzellenzcluster »Religion und Politik«. Neuere Buchpublikationen: Der Weg der Phänomenologie des Geistes (2000), Konkrete Ethik (2004), John Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung. Hg. u. Kommentar (2007), Aktualität und Grenzen der praktischen Philosophie Hegels (2010), Moral und Gottesbild (2013), Anerkennung als Prinzip der Praktischen Philosophie (1970, Neuauflage 2014), Der Staat als irdischer Gott (2015). Hans-Jörg Sigwart, PD Dr., Akademischer Oberrat am Institut für Politische Wissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und politische Ideengeschichte, Methoden der politischen Theorie, USA: Ideengeschichte, Politik, Gesellschaft; Veröffentlichungen u. a.: The Wandering Thought of Hannah Arendt (2016); »Das Ganze der Gesellschaft und das Politische: Zum Problem einer Theorie gesamtgesellschaftlicher Integration« (2016); Politische Hermeneutik: Verstehen, Politik und Kritik bei John Dewey und Hannah Arendt (2012). Georg Stenger, Univ.-Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls »Professur für Philosophie in einer globalen Welt« und Leiter des gleichnamigen Forschungsbereichs an der Universität Wien. (seit Februar 2011); Präsident der »Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie« (GIP), Sitz in Köln/Germany – seit 2009 gemeinsam mit Frau Prof. Dr. Claudia Bickmann (Universität Köln). Publikationen: Philosophie der Interkulturalität – Erfahrung und Welten. Eine phänomenologische Studie, (2006) [1088 S.; jap. Übersetzung in Vorb.]; »Arbeit an den Lebensformen: Aspekte interkultureller Phänomenologie« (2016 i.E.); ›Selbst‹ als Grundwort im Spannungsfeld zwischen Heideggers und ostasiatischem Denken (2013); ›Fruchtbare Differenz‹ – Dimensionen der Fremderfahrung (2012).

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Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

Toru Tani, Ordentlicher Professor für Philosophie an der Ritsumeikan Universität. Publikationen u. a.: Ishiki no shizen (Die Physis des Bewusstseins) (japanisch, 1998); Korega Genshogaku–da (Dies ist Phänomenologie) (japanisch, 2002). Aufnahme und Antwort: Phänomenologie in Japan Bd.1, (herausgegeben mit Yoshihiro Nitta, 2011). Christian Tapp, geb. 1975, ist Stiftungsprofessor für Christliche Philosophie der Gedächtnisstiftung Peter Kaiser (1793–1864) an der Universität Innsbruck. Nach dem Studium der Mathematik (Diplom 1999), der Philosophie und der Katholischen Theologie (Lizentiat 2002), wurde er 2004 an der LMU München zum Dr. rer. nat. und 2007 ebenda zum Dr. phil. promoviert. Er war Emmy-Noether Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie im Anschluss Leiter einer Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Uni Bochum. Von 2008 bis 2013 war er Juniorprofessor für PhilosophischTheologische Grenzfragen an der Ruhr-Universität Bochum, seit 2013 dort Universitätsprofessor. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Mathematik, Religionsphilosophie. Für Publikationen und weitere Details s. PhilPapers.org und seine homepage unter www.uibk.ac.at. Micha Werner ist seit 2012 Professor für Praktische Philosophie an der Universität Greifswald. Seine Forschungsschwerpunkte sind normative Ethik und Metaethik, kantianischer Konstruktivismus, Verantwortungstheorie, Bioethik und die Ethik kommerzieller Kommunikation. Wichtige Publikationen: Mitherausgeber des Handbuchs Ethik (20113); Krankheitsbegriff und Mittelverteilung (2004); Diskursethik als Maximenethik (2003). Dirk Westerkamp, Professor für Theoretische Philosophie und Direktor am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Ästhetik, Deutscher Idealismus. Monographien: Via negativa (2006), Die philonische Unterscheidung (2009), Sachen und Sätze (2014), Ikonische Prägnanz (2015). Lutz Wingert: Nach Promotion und Habilitation in Frankfurt am Main und Professuren in Deutschland seit 2007 Lehrstuhl für Philosophie an der ETH Zürich. Aufsatz-Publikationen zum Thema u. a.: »Türöffner zu geschlossenen Gesellschaften. Zum Begriff der Menschenrechte« (2003); »Citizenship and the Market Economy« (2012); »Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?« (2012); »Die marktkonforme Demokratie« (2013); »Kollektivgüter jenseits des Kapitalismus?« (i. E.). email: [email protected] Lea Ypi ist Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics and Political Science sowie ständige Gastprofessorin für Philosophie an der Australian National University. Sie befasst sich mit Gerechtigkeitsfragen (einschließlich Migration und Kolonialismus), Demokratietheorie (mit speziellem Schwerpunkt auf politische Parteien) und der Philosophie der Aufklärung (im speziellen Kant). Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift The Journal of Political Philosophy und Autorin von Global Justice and Avant-Garde Political Agency (2012) und (zusammen mit Jonathan White) The Meaning of Partisanship (2016). Ihre Beiträge sind u. a. erschienen in Philosophy and Public Affairs, The European Journal of Philosophy, The Journal of Political Philosophy und Political Theory.

Hinweise zu den Autorinnen und Autoren

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Barbara Zehnpfennig ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind antike, speziell platonische Philosophie, amerikanisches Verfassungsdenken, Extremismus und Totalitarismus. Zu den wichtigsten Publikationen gehören: Platon zur Einführung (1997, 20114); Platon: Symposion, Übersetzung, Einleitung und Herausgabe (2000, 20122); Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische Manuskripte, Einleitung, Herausgabe und Apparat (2005); Adolf Hitler: Mein Kampf. Studienkommentar (2011); Die »Politik« des Aristoteles (Hg., (2012)); »Die Radbruchsche Formel und der demokratische Rechtsstaat« (2014).

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Kolloquium 1 Die Philosophie und ihre Sprachen Kolloquiumsleitung: Günter Abel Günter Abel Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen Dagfinn Føllesdal Philosophy of Language and Husserl’s Phenomenology James Conant Form und Inhalt bei Kant und Wittgenstein

Kolloquium 2 Geschichtliches Philosophieren ohne apriorische Geschichtsphilosophie Kolloquiumsleitung: Christian Bermes Christian Bermes Einleitung Günter Figal Geschichte als Text und Textur Karl-Heinz Lembeck Metamorphosen des historischen Apriori

Kolloquium 3 Genesis und Geltung. Klassische deutsche Philosophie im Dialog mit asiatischen Philosophien Genesis and Validity. Classical German Philosophy in a Dialogue with Asian Philosophies Kolloquiumsleitung: Claudia Bickmann Claudia Bickmann Selbstreflexion. Herausforderung in der Annäherung zwischen klassisch-europäischen und asiatischen Philosophien.

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Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Chung-ying Cheng Receptivity and Creativity in Hermeneutics: Focusing on Gadamer with Reference to Onto-Hermeneutics Hiroshi Goto Die Rezeptionsgeschichte des Personbegriffs in der Moderne Japans Rainer Schäfer Methode des Subjekts und Subjekt der Methode

Kolloquium 4 Sprachen des Denkens – Denken in Sprachen Kolloquiumsleitung: Tilman Borsche Tilman Borsche Einleitung: Denken in Sprachen Günter Abel Das philosophische Problem des Übersetzens Andrzej Przylebski »Die aus dem Land der Denker«. Zu Übersetzungsproblemen deutscher Philosophieklassiker in Polen – Hegel, Nietzsche, Heidegger Tze-wan Kwan Die vierfache Wurzel des Gedankens von ›sein‹ in der chinesischen Sprache und Schrift Rolf Elberfeld Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen Texte des Zen-Meisters Dogen in Übersetzung

Kolloquium 5 Hans Jonas. Verantwortungsphilosophische Aktualität oder ontologisch-metaphysische Vergangenheit? Kolloquiumsleitung: Holger Burckhart Michael Bongardt Dekor oder Fundament? Zur Bedeutung des Schöpfungsglaubens für die Grundlegung der Ethik bei Hans Jonas

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Holger Burckhart Verantwortungsethik – ist VE ohne Hans Jonas Metaphysik aber mit seinem universalen Anspruch heute verteidigbar? Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus Jürgen Nielsen-Sikora Ist das »Prinzip Verantwortung« noch aktuell?

Kolloquium 6 How to Integrate History and Philosophy of Science: Shaping Historical Studies Philosophically and Giving Scientific Explanations a Historical Structure Kolloquiumsleitung: Martin Carrier M. Norton Wise Narratives and Simulations Jutta Schickore Methodologies of Experimentation and the History of Snake Venom Research Carsten Reinhardt Kommentar

Kolloquium 7 Debunking-Argumente in der Philosophie Kolloquiumsleitung: Sabine Döring Thomas Grundmann The Epistemology of Evolutionary Debunking Arguments Thomas Sattig Debunking in the Metaphysics of Material Objects Hanno Sauer N.N.

Kolloquium 8 Pragmatistische Ethik Kolloquiumsleitung: Andrea Marlen Esser

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Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Andrea Marlen Esser Zusammenfassung Katrin Wille Ethik der Veränderung. Überlegungen im Ausgang von John Dewey Matthias Jung Die Natur der Werte – eine pragmatistische Perspektive Martin Hartmann Gibt es eine pragmatistische Ethik?

Kolloquium 9 Das Geschlecht der Philosophie Kolloquiumsleitung: Andrea Marlen Esser / Eva von Redecker Andrea Marlen Esser Einleitung Eva von Redecker Report Mari Mikkola Die Andere der Philosophie: Warum mangelt es in der deutschen Philosophie noch an Gender-Gerechtigkeit? Susanne Lettow Geschlechterungleichheit in der Philosophie. Drei Thesen Sally Haslanger Are we cracking the ivory ceiling? Women and minorities in philosophy

Kolloquium 10 Fortschritt und Gerechtigkeit Kolloquiumsleitung: Rainer Forst / Stefan Gosepath Amy Allen Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts Rainer Forst Eine fortschrittliche Kritik des Fortschritts? Kommentar zu Amy Allen, »Das Ende – und der Zweck – des Fortschritts«

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Lea Ypi Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit Stefan Gosepath Gegen die Matrjoschka-Puppen-Theorie des Fortschritts Kommentar zu Lea Ypis »Politischer Fortschritt und die Funktion der Gerechtigkeit« Mattias Iser Töten für den Fortschritt?

Kolloquium 11 Die historische Pfadabhängigkeit ethischer Rechtfertigungen Kolloquiumsleitung: Carl Friedrich Gethmann Carl Friedrich Gethmann Einleitung: »Die historische Pfadabhängigkeit ethischer Rechtfertigungen« Armin Grunwald Welchen Einfluss haben die großen Havarien der Kernenergie auf ihre ethische Beurteilung? Dieter Birnbacher Ethische Überlegungen zu den neuen Formen der Pränataldiagnostik – mit Blick auf die Geschichte der Eugenik Erzsébet Rózsa Historische Innovation, kulturelle Transformationen und historische Erfahrungen am Beispiel der ›subjektiven Freiheit‹ ›im europäischen Sinne‹

Kolloquium 12 Empathie und Inter-Subjektivität Kolloquiumsleitung: Martina Herrmann / Louise Röska-Hardy Martina Herrmann Einleitung Dan Zahavi Empathy and affective sharing Corrado Sinigaglia Mirroring and Sharing Action

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Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Louise Röska-Hardy Intersubjectivity and direct experiential Grasp

Kolloquium 13 Vernunft und Glaube Kolloquiumsleitung: Christoph Jäger Christoph Jäger Glaube, Wissen und rationales Hoffen Bemerkungen zum Kolloquium Vernunft und Glaube Peter Rohs Der Platz zum Glauben Ansgar Beckermann Was bleibt vom christlichen Gottesverständnis? Kommentar zu Peter Rohs: Der Platz zum Glauben Volker Gerhardt Das Göttliche als Sinn des Sinns – Über die wechselseitige Angewiesenheit von Glauben und Wissen Christian Tapp Über den Sinn des »Sinns des Sinns«. Anfragen und Überlegungen zu Volker Gerhardts Buch »Der Sinn des Sinns«

Kolloquium 14 Gegenwart und Zukunft der Kritischen Theorie (ein Roundtable Gespräch) Kolloquiumsleitung: Robin Celikates / Rahel Jaeggi Es diskutierten: Amy Allen, Maeve Cooke, Wolfgang Detel, Rainer Forst und Rahel Jaeggi. Moderation: Robin Celikates

Kolloquium 15 Geschichtsphilosophie als Theorie sozialen Wandels Kolloquiumsleitung: Rahel Jaeggi

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Rahel Jaeggi Einleitung Doris Gerber Soziale und Kollektive Handlungen in historischen Kontexten Emil Angehrn Geschichte als Raum des sozialen Wandels: Zwischen Hermeneutik und Geschichtsphilosophie Stefan Deines Zur Kritik des sozialen Wandels Eva von Redecker Kommentar

Kolloquium 16 Transzendentale Sprachpragmatik. Geltung und die Grenzen guter Gründe Kolloquiumsleitung: Matthias Kettner Matthias Kettner Einleitung Boris Rähme Performative Inkonsistenz für Fallibilisten Micha Werner The Morality Club and the Moral Sceptic: A Defence of Social Constitutivism Matthias Kettner Der Raum der Gründe und die Kommunikationsgemeinschaft der Begründer

Kolloquium 17 Genesis und Geltung rechtlicher Normen Kolloquiumsleitung: Stephan Kirste Stephan Kirste Rechtsbegriff und Rechtsgeltung

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Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Marietta Auer Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse Dietmar von der Pfordten Kritik der Geltung Matthias Mahlmann Geschichtlichkeit und Geltung von Grundrechten Thomas Gutmann Genesis, Geltung, Genealogie

Kolloquium 18 Was ist eine kulturelle Tatsache? Kolloquiumsleitung: Ralf Konersmann Ralf Konersmann Einführung: Rhetorik des Tatsächlichen Ralf Becker Kulturelle und natürliche Tatsachen Dirk Rustemeyer Wirklichkeit entwickeln Dirk Westerkamp Kulturelle Faktizität

Kolloquium 19 Moralischer Realismus und politische Philosophie Kolloquiumsleitung: Julian Nida-Rümelin Julian Nida-Rümelin Einführung Charles Larmore Die moralische Grundlage des politischen Liberalismus Barbara Zehnpfennig Wahrheit in der Demokratie Elif Özmen Pluralismus und das Ringen um Wahrheit Eine kurze Apologie der liberalen Demokratie

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

Lutz Wingert Gut für alle zusammen? Oder was könnten Demokraten in einer Demokratie erkennen?

Kolloquium 20 Kants Rechtslehre im Kontext seiner Moralphilosophie Kolloquiumsleitung: Herlinde Pauer-Studer Herlinde Pauer-Studer Einleitung Paul Guyer The Twofold Morality of Kantian ›Recht‹ Heiner F. Klemme Kantianischer Liberalismus Herlinde Pauer-Studer Achtung der Person als Bindeglied zwischen Kants Ethik und Rechtsphilosophie

Kolloquium 21 Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte Kolloquiumsleitung: Dominik Perler Marcel van Ackeren Philosophie und die historische Perspektive Methodische und metaphilosophische Aspekte Dina Emundts Die systematische Bedeutung der Philosophiegeschichte am Beispiel von Kant und Hegel Stefan Roski / Benjamin Schnieder Gründe aller Arten? Der Anspruch auf Vereinheitlichung in Bolzanos Abfolgetheorie

Kolloquium 22 Antike Philosopheme in systematischen Debatten der Gegenwart Kolloquiumsleitung: Christof Rapp

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Christof Rapp Einleitung Ulrich Nortmann Sich bei Aristoteles bedienen? Sprachtheorie, Essentialismus, Dualismus und Modaltheorie zwischen Antike und Moderne Christopher Gill Why Should We Care about Stoic Ethics Today? Jan Opsomer Sollte man den Platonismus wohlwollend interpretieren? Philosophische Historiographie und das Prinzip der wohlwollenden Interpretation

Kolloquium 23 Gegenstand und Geltung. Die Gegenstandsbezogenheit der ästhetischen Erfahrung von Kunst und Musik Kolloquiumsleitung: Reinold Schmücker Maria Elisabeth Reicher Ästhetische Werte als dispositionale Eigenschaften: 1905–2014 Randall Dipert Toward an Ontology and Natural Classification for Artifacts and the Whole Artificial World Lars-Olof Åhlberg Form und Gehalt. Warum Eduard Hanslicks Musikphilosophie zeitgemäß ist

Kolloquium 24 Aufklärung und Religion Kolloquiumsleitung: Oliver R. Scholz Albrecht Beutel Aufklärung und Protestantismus Winfried Schröder Auf dem Prokrustesbett neuzeitlicher Rationalität. Schwierigkeiten mit der Religionskritik der Aufklärung

Vollständiges Kolloquienprogramm des Kongresses

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Rainer Enskat Brauchen die Götter die Menschen oder brauchen die Menschen den Gott? Religion durch Aufklärung im Anschluß an Platon und Kant

Kolloquium 25 Tradition und Geltung – zur epistemischen Relevanz philosophischer Überlieferung Kolloquiumsleitung: Andreas Speer Andreas Speer Ursprungserzählungen und Ursprungsmythen. Aitiologische Diskurse in der Philosophie Dag Nikolaus Hasse Wider die historische Fallschirmjägermentalität unter den Philosophen Bernd Roling Saeculum barbaricum. Frühneuzeitliche Stereotypen und ihre Auswirkung auf die Philosophiegeschichte

Kolloquium 26 Diskurse der Moderne/n aus interkulturell-transkultureller Perspektive Kolloquiumsleitung: Georg Stenger Georg Stenger Einleitung Toru Tani »Zwischen« und Begegnung – im Zusammenhang mit Megumi SAKABE‘s Interpretation der Moderne Hans Schelkshorn Mexikanische Revolution und Erster Weltkrieg Lateinamerikanische und europäische Philosophie auf dem Weg zu einem globalen Diskurs über die Moderne Azelarabe Lahkim Bennani Das Private Recht als Erbe der Moderne und d ie Herausforderung des Rechtspluralismus im Licht der islamischen Rechtskultur

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Kolloquium 27 Zur Aktualität der Kantischen Erkenntnistheorie Kolloquiumsleitung: Marcus Willaschek Stefanie Grüne Sind Kantische Anschauungen objektabhängig? Andrea Kern Erkenntnis als Zweck: Kants Kritik der sogenannten »Tugenderkenntnistheorie«

Kolloquium 28 Politisches Denken in seiner historischen Dimension: Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Kolloquiumsleitung: Barbara Zehnpfennig Barbara Zehnpfennig Die Bedeutung der politischen Ideengeschichte für die Gegenwart Hendrik Hansen Warum die Kapitalismuskritik den Rückgriff auf die antike Philosophie braucht Hans-Jörg Sigwart Wider die Gespenster der Vergangenheit: Politische Ideengeschichte und Kritik der Gegenwart Marcus Llanque Die Diskursivität politischer Ideen