Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 28 3515132856, 9783515132855

Demokratie ist kein gottgegebener Zustand, sondern muss jeden Tag "gemacht", wiederhergestellt, verteidigt, ja

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German Pages 236 [242] Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Aufsätze
Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht (Nicolas Junglas)
„The Miserable and Hellish Yankee Nation“. Politische Erziehung, Propaganda und Nationalismus während des Amerikanischen Bürgerkrieges im Spiegel von Schulbüchern aus den Konföderierten Staaten von Amerika (1861–1865) (Felix Paul Maskow)
Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik (Karlheinz Lipp)
Pfade der Pogrome. Rollkommandos in Rheinhessen während der Novemberpogrome 1938 (Christian Müller)
„Von Erbkranken und asozialen Familien“. Sozialrassismus zwischen Devianz und Delinquenz in Neustadt an der Weinstraße 1938–1945 (Sebastian Senger)
Die Rolle nationalsozialistischer Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann (1920–1948) (Katherina Handschuh)
Sie schaufelten ihr eigenes Grab. Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien (Nadine Mena Michollek)
Josef Bürckel und die Aktivitäten Jacques Doriots in Deutschland nach dessen Flucht aus Paris im August 1944 bis zu seinem Tod im Februar 1945 (Benjamin Pfannes)
Forum
Neustadt A. D. Weinstraße im Nationalsozialismus. Ein Erfahrungsbericht (Nina Fellbrich / Deniz Hacisalihoglu / Jens Hatzfeld / Philip Kitschke / Michael A. Klein / Dominik Matysiak / Johanna F. Meier / Naemi-Lea Walter)
Demokratie und Nationalstaat. Das Hambacher Problem (Eckart Conze)
Moderne Antimoderne. Demokratiegeschichte und der Sonderweg des deutschen Radikalnationalismus (Bernhard Dietz)
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Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 28
 3515132856, 9783515132855

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Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 28 • 2021 Franz Steiner Verlag

Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft her ausgegeben von Wilhelm Kreutz Markus Raasch Karsten Ruppert

Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Im Auftrag der Hambach-Gesellschaft herausgegeben von Wilhelm Kreutz, Markus Raasch und Karsten Ruppert Redaktion: Markus Raasch https://elibrary.steiner-verlag.de/yearbook/JB-HG

Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft Band 28 (2021)

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022 Layout und Herstellung durch den Verlag Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-13285-5 (Print) ISBN 978-3-515-13289-3 (E-Book)

Vorwort Demokratie ist kein gottgegebener Zustand, sondern muss jeden Tag „gemacht“, wiederhergestellt, verteidigt, ja erkämpft werden. Daran zu erinnern, betrachtet die 1986 ins Leben gerufene „Hambach-Gesellschaft für historische Forschung und politische Bildung e. V.“ als ihre wichtigste Aufgabe. Das Hambach-Jahrbuch spielt dabei eine tragende Rolle. Denn eine offene Gesellschaft lebt davon, dass sie ihre Vergangenheit(en) – im Guten wie im Schlechten, in Kontinuitäten, Brüchen und Ambivalenzen – stets auf Neue hinterfragt und für sich vergegenwärtigt. In diesem Sinne setzt das diesjährige Jahrbuch bewusst einen Schwerpunkt auf die NS-Zeit, weil die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht nur eine der zentralen ideellen Grundlagen unseres Staates, sondern in diesen aufgeregten Zeiten vielleicht wichtiger denn je ist. Zudem startet in der Rubrik „Forum“ eine Reihe mit dem Titel „Hambach and beyond. Demokratie und deutsche Geschichte“. Sie greift Themen auf, die den geschichtskulturellen Diskurs zuletzt – mal wieder und angesichts der CoronaPandemie sowie der Herausforderungen durch Rechtspopulismus und Neonationalismus nicht zufällig – geprägt haben. Allen Autorinnen und Autoren sei herzlich für Ihre Mühen und Ihre anregenden Beiträge gedankt. Zu wünschen sind ihnen lebhaftes Interesse und zahlreiche Leserinnen und Leser. Ein besonderer Dank gilt Anna Katharina Lill, B. A., ohne deren umsichtige redaktionelle Arbeit dieses Jahrbuch nicht hätte erscheinen können. Mainz, im Dezember 2021

Die Herausgeber

Inhalt Aufsätze Nicolas Junglas Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht . . . . . . . . . . . . 11 Felix Paul Maskow „The Miserable and Hellish Yankee Nation“ Politische Erziehung, Propaganda und Nationalismus während des Amerikanischen Bürgerkrieges im Spiegel von Schulbüchern aus den Konföderierten Staaten von Amerika (1861–1865)

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Karlheinz Lipp Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Christian Müller Pfade der Pogrome Rollkommandos in Rheinhessen während der Novemberpogrome 1938

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Sebastian Senger „Von Erbkranken und asozialen Familien“ Sozialrassismus zwischen Devianz und Delinquenz in Neustadt an der Weinstraße 1938–1945

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Katherina Handschuh Die Rolle nationalsozialistischer Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann (1920–1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Nadine Mena Michollek Sie schaufelten ihr eigenes Grab Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien

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Inhalt

Benjamin Pfannes Josef Bürckel und die Aktivitäten Jacques Doriots in Deutschland nach dessen Flucht aus Paris im August 1944 bis zu seinem Tod im Februar 1945 . . . . . . 183 Forum Nina Fellbrich / Deniz Hacisalihoglu / Jens Hatzfeld / Philip Kitschke / Michael A. Klein / Dominik Matysiak / Johanna F. Meier / Naemi-Lea Walter Neustadt a. d. Weinstraße im Nationalsozialismus Ein Erfahrungsbericht

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Eckart Conze Demokratie und Nationalstaat Das Hambacher Problem

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Bernhard Dietz Moderne Antimoderne Demokratiegeschichte und der Sonderweg des deutschen Radikalnationalismus

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Aufsätze

Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht Nicolas Junglas Der Vormärz ist die Zeit, in der auf deutschem Boden Forderungen nach Freiheit und Einheit laut werden Er bildet den Grundstein einer demokratischen Tradition in Deutschland Die Obrigkeiten, die ihre Macht nicht leichtfertig preisgeben wollten, traten der Freiheitsbewegung entschlossen entgegen Zensurmaßnahmen machten es immer schwerer, liberaldemokratische Gedanken zu verbreiten Was in der Literatur und in der Presse nicht mehr möglich war, wurde freilich im Karneval – seit jeher die Garantie zeitlich begrenzter Freiheit – geduldet Die Fastnacht wurde als Refugium für Freidenker zu einem Motor der Bewegung Die eigens initiierte närrische Publizistik war ihr Katalysator Die Narrhalla als die bis heute prominenteste Karnevalszeitung schaffte auf diese Weise das, was vielen zeitgenössischen Schriftstellern verwehrt blieb – eine (freiheitliche) Politisierung mit Breitenwirkung I. Einleitung „Die Demokratie, die werden wir schützen, Eure Gesinnung wird euch nix nützen. Unsre Kinder werden nicht mehr für euch erfrieren, Auf keinem Schlachtfeld mehr krepieren, Und auch nicht kämpfen bis zuletzt, Während ihr euch in den Führerbunker setzt. Sie vor euch zu schützen, ist erste Bürgerpflicht! Mainz ist weltoffen, ihr nehmt uns die Freiheit nicht!“1

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ZDF, „Mainz bleibt Mainz“. Büttenrede: „Obermessdiener“ schießt gegen Af D, 22.02.2020, https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/mainz-bleibt-mainz-obermessdiener-buettenrede100.html, Aufruf zuletzt am 25.09.2021.

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Nicolas Junglas

Dieses Zitat entstammt der Rede des „Mainzer Obermessdieners“ alias Andreas Schmitt (Session 2020), der seit Jahren fester Bestandteil der traditionellen Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ ist. Auffällig ist die starke politische Ausrichtung dieser Büttenrede. Die politisch-literarische Fastnacht ist gerade ein Kennzeichen der Karnevalshochburg Mainz. Dabei ist sie ein Kind des Vormärz. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt sich das – nach Meinung der Zeitgenossen – daniederliegende närrische Brauchtum in Vereinen zu organisieren. Diese Blüte fällt zeitlich mit einem immer stärker werdenden Streben nach nationaler Einheit und freiheitlichen Rechten zusammen. Ein selbstbewusstes Bürgertum beginnt sich gegen die als restaurativ empfundenen Beschlüsse des Wiener Kongresses zur Wehr zu setzen. Doch die staatlicherseits verordnete Zensur beschneidet das freie Wort auf so eklatante Weise, dass die Opposition nahezu mundtot gemacht wird. Diesen Freigeistern diente der Karneval als Refugium, so dass er zu einem Medium der Systemkritik avancierte. Nicht zuletzt um die Opposition noch effektiver betreiben zu können, entwickelte sich eine eigene karnevalistische Publizistik. Hierin wurden unter  anderem Büttenreden und Lieder der Kampagne abgedruckt. Helmut Wirth spricht in dem Zusammenhang von der „Opposition mit der närrischen Feder“.2 Diese Zeitungen stellen als „Zeit-Zungen“3 eine wichtige Quelle dar, geben sie doch Aufschluss darüber, in welchem Maße die Karnevalisten im Vormärz die Fastnacht als Vehikel nutzten, ihre liberaldemokratischen Ideale – Freiheit und Einheit – zu forcieren. Als Musterbeispiel der närrischen Publizistik kann dabei die ab 1841 erscheinende Karnevalszeitung Narrhalla4 gelten. Sie soll im Folgenden einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Aufgabe der vorliegenden Abhandlung ist es, die Narrhalla-Ausgaben der Jahre 1841–18485

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Helmut Wirth, Ein Spiegel der Zeit: „Die Narrhalla“. Die Mainzer Carneval-Zeitung dokumentiert die politischen und geistigen Strömungen, in: MCV (Hrsg.), Bürgerfest und Zeitkritik. 150 Jahre Mainzer Carneval-Verein 1838–1988. Mainz 1987, 225–234, hier 227. Ebd., 225. Den Namen der Zeitung entlehnte ihr Gründer, der Mainzer Dramaturg Franz Wiest, dem Versammlungsort der Narren, wobei diese Bezeichnung wiederum eine Adaption der Ruhmeshalle König Ludwigs – auch als Walhalla bezeichnet – darstellt (Günter Schenk, Fassenacht in Mainz. Kulturgeschichte eines Volksfestes. Stuttgart 1986, 47). Sie sind lückenlos im Archiv des Mainzer Carneval-Vereins (MCV) vorhanden, der heutzutage als Herausgeber der Zeitung fungiert. Zusätzlich sind die Ausgaben inzwischen über das Internetportal dilibri Rheinland-Pfalz in digitaler Form zugänglich. Im Jahr 1847 ist die Narrhalla nicht erschienen. Die Karnevalszeitung erschien während einer Session in mehreren Ausgaben, die als Lieferungen bezeichnet werden. Diese dienten zunächst vor allem dazu, die vergangenen Sitzungen zu besprechen. Es findet sich daher am Ende jeder Lieferung ein Beitrag, der die vorausgegangenen Veranstaltungen zusammenfasst. Neben den „herkömmlichen“ Lieferungen befindet sich am Ende eines Jahrgangs häufig eine separate Ausgabe, die sich speziell dem Fastnachtswochenende widmet und unter anderem den Rosenmontagszug in Szene setzt. Zieht man all dies in Betracht, so ergibt sich bei sieben untersuchten Jahrgängen à sieben bis neun Lieferungen, die jeweils 15 bis 20 Seiten umfassen, ein Quellenkorpus von etwa 1 000 Seiten.

Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht

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auf ihren revolutionären Gehalt hin zu überprüfen, um schließlich die Frage beantworten zu können, inwiefern die Narrhalla die Bestrebungen der Mainzer Karnevalisten widerspiegelt, Freiheit und Einheit in Deutschland zu erwirken. II. Vorbemerkungen 1. Die Lachkultur nach Michail Bachtin Obwohl Michail Bachtin zu der Einschätzung gelangt, dass auf dem Gebiet der karnevalistischen Volkskultur zwischen Antike und Mittelalter kein Traditionsbruch bestand, soll letzteres als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung dienen, schließlich widmet sich auch Bachtin im Zuge seiner Analyse dieser Epoche am intensivsten.6 Bachtin sieht im Mittelalter die Wurzel der europäischen Lachkultur und bemerkt hierzu: „Am schärfsten und konsequentesten äußert sich der Universalismus des Lachens in den brauchtümlichen, sich zur Schau stellenden Formen des Karnevals und den damit zusammenhängenden Parodien.“7 Die mittelalterliche Lachkultur kann als Erscheinung gelten, die sich lediglich im feiertäglichen Kontext abspielte. Staat und Kirche sahen sich gezwungen, der Öffentlichkeit hin und wieder gewisse Zugeständnisse zu machen. So wurden – begrenzt durch bestimmte Festtagsdaten – „Zeitinseln“ geschaffen. Auf diese Weise konnte die offizielle Bahn zumindest für kurze Zeit verlassen werden, dies allerdings ausschließlich in der „Schutzform“ des Lachens.8 Wie ernst diese stille Übereinkunft zwischen den herrschenden Ständen und dem Volk genommen wurde, zeigt Bachtin, indem er erneut auf die Antike Bezug nimmt: „Die Rechte der Narrenkappe waren im Mittelalter genauso heilig und unantastbar, wie jene des Pileus während der römischen Saturnalien.“9 Das Lachen galt im Mittelalter als Sieg über die Furcht, und zwar in dreifacher Hinsicht: Es war zunächst der Sieg über die mystische, d. h. über die Gottesfurcht. Ferner war es aber auch ein Triumph über die Furcht vor den Naturgewalten. Und nicht zuletzt glaubten die Menschen daran, durch das Lachen die moralische Furcht besiegen zu können, d. h. nicht nur die äußere Zensur, sondern auch den inneren Zensor. Daraus ergibt sich zudem die nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Relevanz des Narren. Er ist der rechtlose Träger der objektiv abstrakten Wahrheit. Im Rittersaal der Burg Eltz ist dies verbildlicht: Hier sind mehrere Narrenmasken dargestellt, die darauf hinweisen, dass in diesem Raum

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Michail M Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990, 56. Ebd., 32. Bachtin, Literatur und Karneval (wie Anm. 6), 34. Ebd., 33.

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Nicolas Junglas

das Recht der freien Rede galt.10 In der profanen Deutungstradition steht der Narr also für Meinungsfreiheit. Der Karneval im Allgemeinen war die temporäre Umkehrung der geltenden Ordnung. Nicht umsonst beschreibt Bachtin die Wahl und den darauffolgenden Sturz des Karnevalskönigs als die „hervorstechendste karnevalistische Handlung“11 im Mittelalter. Er bemerkt hierzu: „Die Erhöhung enthält bereits die Idee der kommenden Erniedrigung: sie ist von Anfang an ambivalent. Gekrönt wird der Antipode des wirklichen Königs, der Sklave oder der Narr. Es öffnet und erhellt sich die umgestülpte Welt des Karnevals.“12 Auf diesen Brauch verweist auch Goethe in seiner Abhandlung Das Römische Carneval (1789) mit der Wahl des Pulcinellen-Königs, der Sinnbild dieser verkehrten Welt ist.13 2. Von der höfischen Praxis zum bürgerlichen Fest Der Rollentausch ist die bis heute prägnanteste Praktik närrischen Brauchtums. Beim sogenannten „Koenig-Spil“ schlüpften Fürsten, aber auch andere Mitglieder des Hofstaats, in die Rolle des Königs. Damit gingen Neckereien, Vermummungen und Gastereien einher, ironische Gedichte wurden vorgetragen und Pfänderspiele gespielt. Dies alles geschah unter dem Motto der Narrenfreiheit. Interessanterweise ist in diesem Kontext vor allem die Karnevalshochburg Mainz von entscheidender Relevanz. Das geistliche Kurfürstentum war zwar vergleichsweise klein, spielte aber bei der Wahl des deutschen Königs eine gewichtige Rolle: Der Mainzer Erzbischof hatte das Erstund ggf. Letztstimmrecht, zudem bekleidete er das Amt des Erzkanzlers und übte am häufigsten das Krönungsrecht aus. Ein Manko gab es aber: Erzbischöfe waren keine gekrönten Staatsoberhäupter, sie mussten vom Domkapitel „demokratisch“ gewählt werden. Bei den weltlichen Fürsten wurden die Lehensfürstentümer mit der Zeit zu Erbfürstentümern. Nichtkönigliche Fürsten nutzten also die Fastnachtstage, um diesen Makel zumindest temporär zu kompensieren.14 Die „Wirtschaften“, wie man das „Koenig-Spil“ auch nannte, waren nicht nur im Mittelalter populär, sondern gerade ein Charakteristikum der Frühen Neuzeit. Allerdings wurde dieses Treiben im Jahre 1775 mittels einer Anordnung eingeschränkt. „Mit dem Ende des höfischen Karnevals

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Ute Ritzenhofen, Burg Eltz. Großer DKV-Kunstführer. 3. Aufl. Berlin/München 2010, 63. Bachtin, Literatur und Karneval (wie Anm. 6), 50. Ebd., 51. König Karneval wird 1839 durch den Prinzen Karneval abgelöst, ein Dreigestirn gibt es in Köln ab 1858. Johann Wolfgang Goethe, Das Römische Carneval. Frankfurt a. M./Leipzig 2007, 29. Adam Michael Reitzel, Mummenschanz und Rollenspiel. Vom fürstlichen Karneval zur bürgerlichen Fastnacht, in: MCV (Hrsg.), Bürgerfest und Zeitkritik. 150 Jahre Mainzer Carneval-Verein 1838–1988. Mainz 1987, 189–196, hier 194 f.

Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht

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in Mainz wurde aber ein Tor weit aufgestoßen, das der bürgerlichen Fastnacht immer mehr Raum gab.“15 Mit dem Erstarken der bürgerlichen Fastnacht wurden die Grundsätze der Freiheit sowie der Wille zur Wahrheit noch stärker akzentuiert als zuvor – ganz im Sinne des Universalgelehrten Erasmus von Rotterdam, der schon in seinem 1515 erschienen Werk Das Lob der Narrheit geschrieben hatte: „Wunderbarerweise bringt es dem Narren besondere Ehre ein, die offene Wahrheit zu sagen. Wenn dasselbe ein Weiser sagte, würde es ihm den Kopf kosten, spricht es aber ein Narr aus, bereitet es unvorstellbaren Spaß. Denn die Wahrheit besitzt eine natürliche Kraft zu erfreuen, wenn sie nichts enthält, was verletzt. Dieses Talent haben die Götter nur den Toren verliehen.“16

Was für die Neuzeit außerdem charakteristisch zu sein scheint, ist der ständige Konflikt zwischen närrischer Zügellosigkeit und staatlicher Ordnung. Schon Goethe berichtet, dass Gouverneur und Senator als die ersten Gerichts- und Polizeiherren von Rom die Aufgabe hatten, den Karneval zu eröffnen, indem sie über den Corso zogen.17 Man könnte dies als Indiz für das permanente Bestreben staatlicher Einflussnahme werten. Die Sorgen des Staates waren nicht unberechtigt. Schon die Franzosen sahen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den karnevalistischen Aktivitäten eine Quelle des Aufruhrs und Requisiten der Revolutionszeit (Trikolore, Jakobinermütze, Freiheitsrufe) fanden im Karneval rege Verwendung, was die häufig oppositionelle Haltung der Karnevalisten des 19. Jahrhunderts widerspiegelt. 1834 kam es sogar zu einem königlich preußischen Verbot des öffentlichen Karnevals in Koblenz. Für Gottfried Kinkel bot der Karneval dieser Tage Freiraum für Oppositionelle, er galt als ein Instrument politischer Beeinflussung, dessen Ziel die Entfaltung einer rheinischen Demokratie darstellte. Das Misstrauen war so groß, dass die Festungsmächte in Mainz (Preußen und Österreich) in den Feierlichkeiten zur Enthüllung des Gutenberg-Denkmals 1837 einen Akt revolutionärer Selbstbehauptung zu sehen glaubten, würdigte es doch den ersten Drucker, der mit seiner Erfindung die Forderung nach Pressefreiheit überhaupt erst relevant hatte werden lassen.18 Vor diesem Hintergrund gründete sich 1823 in Köln das sogenannte „Festordnende Komitee“, 1827 folgte Koblenz, 1837 schließlich Mainz. „Man wollte die Dinge in geordnete Bahnen lenken, wollte der Fastnacht formal und inhaltlich ein ‚edleres Gepräge‘

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Ebd., 196. Erasmus von Rotterdam, zit. n. Peter Krawietz, Fastnacht am Rhein. Kult – Kultur – Geschichte. 2. Aufl. Mainz 2016, 37. Goethe, Das Römische Carneval (wie Anm. 13), 24. Anton Maria Keim, 150 Jahre politisch-literarische Fastnacht. Von der Freiheit der Narren und wechselnden Zensoren, in: MCV (Hrsg.), Bürgerfest und Zeitkritik. 150 Jahre Mainzer CarnevalVerein 1838–1988. Mainz 1987, 131–147, hier 132–134.

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Nicolas Junglas

geben.“19 Außerdem sollte dem allgemeinen Empfinden entgegengetreten werden, dass sich der Fastnachtsbrauch zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Niedergang befand. Eduard Reis etwa prangerte in einer seiner Schriften den Verfall der Mainzer Fastnacht an. Er schreibt: „Bis zum Jahre 1836 war dieses harmlose Volksfest so ziemlich in Verfall geraten und so weit gekommen, daß man in der altkatholischen, lebenslustigen, humorreichen Moguntia das Herumstreifen einzelner, isolierter Harlequins mit bunten abgeschabten Fetzen am Leibe und mit abgeschabten Witzen im Kopfe noch ein Karnevalsfest zu nennen wagte.“20

Dem Mainzer Carneval-Verein kam dabei von Anfang an eine besondere Ordnungsfunktion zu. Als es in den 1840er Jahren zu dem Versuch kam, eine zweite Karnevalsgesellschaft in Mainz zu gründen, wurde dies von der Polizei verboten.21 Eine Diversifizierung der in Vereinen organisierten Fastnacht erhöhte in den Augen der Obrigkeit das Risiko eines Kontrollverlusts. Nichtsdestotrotz musste auch der MCV seine Statuten und Veranstaltungen jährlich aufs Neue vom Regierungspräsidenten genehmigen lassen.22 Dass der organisierte Karneval für den Aufbruch in eine neue Zeit stand, darauf verweist bereits die Geschäftsordnung des Vereins. Diese beinhaltet, wie Keim feststellt, einige parlamentarische Analogien. Dem in den Statuten mehrfach erwähnten Comité, das an den revolutionären Wohlfahrtsausschuss erinnert, steht ein demokratisch gewählter Präsident vor. Redefreiheit und Freiheit der Diskussion gelten als Maximen des Vereins. So heißt es in der „Polizei des Vereins“ (Unterpunkt 4): „Kein Mitglied ist befugt, des andern öffentlichen Vortrag zu unterbrechen, sondern muß warten bis sein Vorgänger den Rednerpult verlassen und auch ihm das erbetene Wort von dem Präsidenten gestattet worden.“23 Ebenfalls garantiert die Satzung die Öffentlichkeit der Streitschlichtung: „Jede wider Erwarten in öffentlicher Versammlung zwischen Mitgliedern des Vereins vorfallende Streitigkeit wird durch den Präsidenten nach Anhörung beider Theilen beigelegt.“24 Die Statuten räumen dem „Angeklagten“ in letzter Instanz sogar das Recht der Appellation an das Comité ein. Diese Bestimmungen erinnern stark an die moderne juristische Praxis und sind laut Keim dem „südwestdeutschen Konstitutionalismus“25 nachempfunden. Auch der Grundsatz der

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Krawietz, Fastnacht am Rhein (wie Anm. 16), 67. Eduard Reis, zit. n. Anton Maria Keim, 11mal politischer Karneval. Weltgeschichte aus der Bütt. Geschichte der demokratischen Narrentradition vom Rhein. Mainz 1966, 42. Krawietz, Fastnacht am Rhein (wie Anm. 16), 80. Ebd., 70. Mainzer Carneval-Verein, Der Mainzer Carneval-Verein und seine Gründer, in: Narrhalla, 1935, 3–4, hier 3. Ebd. Keim, politischer Karneval (wie Anm. 20), 49. Krawietz erkennt in der Wahl des Komitees eine Persiflage der dreistufigen Wahl zur zweiten Kammer des Darmstädter Landtags (Krawietz, Fastnacht am Rhein (wie Anm. 16), 71).

Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht

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Gleichheit wird in der Satzung des MCV beherzigt: „Jeder Bürger oder zeitiger Einwohner von Mainz, welcher sich eines unbescholtenen Rufes zu erfreuen hat, wird zur Unterzeichnung der gegenwärtigen Statuten zugelassen […].“26 Bedingung ist lediglich, dem Motto der Gesellschaft, „Liebe, Freundschaft, Eintracht“,27 treu zu sein. Politisch sollte der MCV, zumindest laut Satzung, nicht sein: „[…] sowohl staatsrechtliche als [auch] bürgerliche und kirchliche Verfassungen oder Personalitäten“28 sollten unangetastet bleiben. Dass man diesem Vorsatz, der wohl eher der Beschwichtigung der Obrigkeit diente, nicht gerecht wurde, zeigt sich bereits an der Motivation zur Gründung der Gesellschaft. Interessanterweise steht diese in Verbindung mit dem sogenannten Kölner Ereignis des Jahres 1837. Der preußische König hatte versucht, die katholische Praxis aufzuheben, konfessionelle Mischehen nur dann zu trauen, wenn die Erziehung der Kinder gemäß katholischem Glauben zugesichert wurde. Als der Kölner Erzbischof Clemens August zu Droste-Vischering dagegen protestierte, wurde er zunächst seines Amtes enthoben und schließlich sogar der Stadt verwiesen.29 „Durch diese radikalen Maßnahmen verstärkten sich auf katholischer Seite die Forderungen nach Freiheit der Kirche von staatlicher Bevormundung, während auf Seiten Preußens das Mißtrauen gegen staatsfeindliche Tendenzen der katholischen Kirche neue Nahrung erhielt.“30 Das „Kölner Ereignis“ deutet Reis rückblickend als Initialzündung einer wiedererstarkenden Mainzer Fastnacht: „Man verbreitete damals das Gerücht, in Köln sei der Carneval todt, denn der weggeführte Erzbischof habe den Kölnern den Humor mitgenommen. Da muß man, riefen einige Narrenhelden, dem närrischen Fürsten einen Königssitz in der Schwesterstadt Mainz bauen, damit der alte Rhein den Verdruß nicht habe, ohne ächte Carnevalsweihe in den Fluten des Ozeans dahinsterben zu müssen. […] So war der geregelte, würdige Mainzer Carneval entstanden.“31

Der Karneval lässt sich in diesem Zusammenhang unter anderem als Ventil deuten, dessen man sich im größtenteils katholischen Rheinland bediente. Konfessionelle Selbstbehauptung war dementsprechend ein Motiv für vermehrte Vereinsgründungen in dieser Zeit. Von dieser Tendenz profitierte in nicht unerheblichem Maße auch der Karneval. Insofern ist das organisierte närrische Treiben dieser Tage in erster Linie 26 27 28 29 30 31

Mainzer Carneval-Verein, Der Mainzer Carneval-Verein (wie Anm. 23), 3. Ebd. Ebd. Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 48.) München 1998, 10. Michael Embach, Die Trierer Heilig-Rock-Tage von 1844 im Spiegel ihrer literarischen Rezeption, in: Erich Aretz u. a. (Hrsg.), Der Heilige Rock zu Trier, Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi. Trier 1995, 799–836, 807. Reis, zit. n. Keim, politischer Karneval (wie Anm. 20), 44.

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Protest gegen die Fremdherrschaft. Sowohl Köln als auch Mainz waren zu katholischen „Inseln“ geworden, gerieten sie doch infolge des Wiener Kongresses unter die Herrschaft eines protestantischen Landesherrn. 3. Zur politischen Ausgangslage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts „Am Anfang war Napoleon.“32 So beginnt Thomas Nipperdey den ersten Band seiner deutschen Geschichte. Tatsächlich kann der Kaiser der Franzosen als Initiator eines deutschen Nationalbewusstseins betrachtet werden, entwickelten doch die einzelnen deutschen Staaten im Kampf gegen den späteren „Erbfeind“ Frankreich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, wie sie es lange nicht verspürt hatten. Man sollte dabei allerdings nicht vergessen, dass Napoleon gerade auch in Deutschland für viele Reformen den Anstoß gab. Das von ihm ratifizierte Gesetzbuch Code Civil (offiziell Code Napoléon) orientiert sich in starkem Maße an den revolutionären Rechtsprinzipien: Öffentlichkeit und Mündlichkeit von Gerichtsverfahren, Verhandlung vor Gericht, Trennung zwischen Strafverfolgung und Urteilsfindung. Zudem stand der Code Civil für eine entfeudalisierte Eigentumsordnung und forcierte den Abbau überkommener Privilegien. Die Ideen der Französischen Revolution, die zu den Prinzipien des liberalen Rechtsstaats avancierten, waren tonangebend: individuelle Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gewissensfreiheit, Laizität des Staates, etc.33 In den annektierten linksrheinischen Gebieten wurde das neue französische Rechtssystem ebenfalls eingeführt. Die neuartigen Konstitutionen dienten der Integration und Stabilisierung der Staaten. Es wurden Ständeversammlungen eingerichtet, die sich nach dem Repräsentativprinzip zusammensetzten. Die neuere Forschung sieht die Staats- und Verwaltungsreformen als Wegbereiter des modernen Konstitutionalismus an. In den linksrheinischen Gebieten blieben die ökonomischen und sozialen Reformen der Franzosenzeit bestehen. Die sog. „rheinischen Institutionen“ gaben dem Westen Deutschlands so ein vergleichsweise fortschrittliches Erscheinungsbild.34 Zugleich sorgte das Erbe Napoleons mitunter dafür, dass der Franzosenhass links des Rheins gar nicht so ausgeprägt war, wie man das zum Beispiel aufgrund der „Rheinkrise“ von 1840 vermuten könnte. Tatsächlich zeichnet die Narrhalla in diesen Zeiten ein recht positives Bild der Franzosen.35

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Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1806. Bürgerwelt und starker Staat. München 2013, 11. Wolfgang von Hippel / Bernhard Stier, Europa zwischen Reform und Revolution 1800–1850. (Handbuch der Geschichte Europas, Bd. 7.) Stuttgart 2012, 117. Ebd., 151 f. Narrhalla, 1845, 98.

Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht

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In politischer Hinsicht ist überdies relevant, dass Köln und große Teile des Rheinlands infolge des Wiener Kongresses preußisch wurden, Mainz wurde hingegen dem Großherzogtum Hessen zugeschlagen.36 Auffällig ist dabei, dass die beiden erzkatholischen Städte im Zuge dessen unter die Herrschaft protestantischer Landesherren gerieten, was zwangsläufig zu Konflikten führen musste. Allgemein war es Leitidee des Wiener Kongresses, ein europäisches Gleichgewicht herzustellen. Auf diese Weise wollten die dort versammelten Staatslenker einerseits die Auswüchse der Französischen Revolution bannen, andererseits sollte das napoleonische Suprematiebestreben ein für alle Mal beendet werden. Verbindliche Rechtsprinzipien sollten ein egoistisches Machtstreben der Einzelstaaten verhindern. Nicht zuletzt sollten dadurch aber auch die gefürchteten nationalen Bewegungen eingedämmt werden, schließlich hätte die nationale Selbstbestimmung der Völker dem Prinzip der Volkssouveränität, und somit dem revolutionären Grundprinzip schlechthin, Tor und Tür geöffnet.37 Von Nipperdey stammt in diesem Zusammenhang – wohlgemerkt in Anlehnung an seinen „Kontrahenten“ Hans-Ulrich Wehler – der Satz „Am Anfang war keine Revolution“.38 Zwar schreiben von Hippel und Stier, dass das national-liberale Spektrum zum Zeitpunkt des Kongresses nur eine marginale Bedeutung innerhalb der Bevölkerung hatte, das Wartburgfest im Jahre 1817 versieht diese These aber zumindest mit einem Fragezeichen. Als Feier zum 300-jährigen Reformationsjubiläum und zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 war das Wartburgfest bereits vom Grundsatz her politisch. Programmatische Reden und symbolträchtige Handlungen, wie das Verbrennen von Büchern und Symbolen des angeprangerten Reaktionismus, bekräftigen diesen ersten Eindruck. Noch deutlicher wurden die Forderungen nach Liberalisierung mit der Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft im Jahr 1818: Studenten aus ganz Deutschland vereinten sich unter dem schwarz-rot-goldenen Banner und riefen nach Freiheit und Einheit. Metternich war diese Bewegung selbstverständlich ein Dorn im Auge und der politisch motivierte Mord an dem Schriftsteller August von Kotzebue durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand gab ihm die Gelegenheit, hart durchzugreifen. Die sogenannten Karlsbader Beschlüsse aus dem Jahr 1819 bilden den Startschuss einer beispiellosen „Demagogen“-Verfolgung: Burschenschaften wurden verboten, Universitäten und Hochschullehrer, Presse und Publizistik strenger Kontrolle unterworfen. Auf diese Weise wurde die freiheitliche Nationalbewegung in die Illegalität gedrängt.39 36 37 38 39

Die Mainzer Bundesfestung wurde abwechselnd von preußischen und österreichischen Truppen besetzt. von Hippel/Stier, Europa (wie Anm. 33), 64 f. Metternichs Angst war wohl deshalb so groß, weil er die Auswirkungen der Revolution seinerzeit hautnah an der Mainzer Universität miterlebt hatte. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. II: Machtstaat vor der Demokratie. München 2013, 11. von Hippel/Stier, Europa (wie Anm. 33), 160. Ein Opfer dieser Bewegung ist unter anderem Büchners berühmtes Werk Dantons Tod

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Die Julirevolution im Jahre 1830 wurde dann zur „ersten gesamteuropäischen Erschütterung des Systems von 1815“.40 Der Sturz des reaktionären Regimes der Bourbonen bewirkte einen Parlamentarisierungsschub in Frankreich, der auch für den Rest Europas nicht folgenlos bleiben sollte. Ein selbstbewusstes Bürgertum beanspruchte größeren gesellschaftlichen Einfluss und mehr politische Mitbestimmung. So kam es zu (neuen) Verfassungen in Frankreich und Belgien. Auch in Deutschland wurde die Forderung nach Beseitigung des spätabsolutistischen Fürstenregiments immer lauter; nationale Bestrebungen spielten in jenen Tagen eine untergeordnete Rolle. Und tatsächlich wuchs das Lager konstitutioneller Staaten in Deutschland – besonders „radikal“ ging man dabei in Kurhessen vor, hier wurde ein Einkammersystem mit parlamentarischem Gesetzesinitiativrecht eingeführt.41 Trotz des Hambacher Festes im Jahr 1832 sind von Hippel und Stier der Auffassung, dass auch in dieser Zeit noch nicht von einer Nationalbewegung mit Breitenwirkung die Rede sein kann, schließlich trafen hier verschiedene Strömungen und Interessen zusammen. Dennoch war das Hambacher Fest mit geschätzten 20 000 bis 30 000 Teilnehmern die für lange Zeit größte politische Massenveranstaltung in Deutschland.42 Die politischen Errungenschaften infolge der Julirevolution waren aber nicht von Dauer: Auf den geheimen Wiener Ministerialkonferenzen von 1834 wurden zum Beispiel die verfassungsmäßigen Rechte der Landstände in den Mitgliedsstaaten möglichst einschränkend ausgelegt. III. Die Narrhalla – publizistisches Organ eines politisierten Karnevals 1. Statistik Die Analyse der insgesamt 370 Beiträge, die in den Narrhalla-Jahrgängen von 1841 bis 1848 ausgemacht werden konnten, liefert zahlreiche Erkenntnisse. Von den 370 Beiträgen konnte in 225 eine politische Konnotation ausfindig gemacht werden. Zwar variiert diese in Art und Umfang recht stark, dennoch beinhalten somit 61 Prozent der Narrhalla-Artikel der Jahrgänge 1841 bis 1848 kritische Töne gegenüber der Staatsmacht und der von ihr vehement verteidigten alten Ordnung. Die ausführlich analysierten Beispiele weisen dabei die größte Intensität auf, es finden sich aber auch immer wieder zwischen den Zeilen propagandistische Seitenhiebe gegen das Establishment. Betrachtet man nun die Zahlen noch etwas genauer, so fällt auf, dass lediglich für den Jahrgang 1841 in Bezug auf die politisch konnotierten Beiträge ein Wert von unter 50 Prozent (um genau zu sein 44 Prozent) festzustellen ist. Alle übrigen hier untersuchten Jahrgänge weisen Werte über der 50 Prozent-Marke auf. Die Schwankungen, 40 41 42

Walter Bussmann, zit. n. von Hippel/Stier, Europa (wie Anm. 33), 73 f. von Hippel/Stier, Europa (wie Anm. 33), 76. Ebd., 161.

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die man im Zeitraum zwischen 1842 und 1846 erkennen kann, sind eher marginal: Hier sind Werte zwischen 56 Prozent und 64 Prozent zu beobachten. Einen Ausreißer stellt das Revolutionsjahr 1848 dar: Drei Viertel aller Beiträge dieses Jahrgangs beinhalten kritische Töne gegenüber der herrschenden Ordnung. Die Kritik wird zusehends deutlicher und die Beiträge nehmen immer mehr den Charakter politischer Leitartikel an. Zusätzlich bildet der Jahrgang deshalb eine Besonderheit, weil in allen Artikeln der siebten und achten Lieferung eine politische Konnotation nachgewiesen werden konnte. Dies trifft zwar zum Teil auch auf andere Lieferungen älterer Jahrgänge zu, diese bestehen dann aber zumeist nur aus einigen wenigen Artikeln. In einem zweiten Schritt wurde untersucht, welche konkreten Themen in den einzelnen politisch konnotierten Beiträgen angesprochen werden. Hierfür hat der Autor – aufgrund der häufigen Thematisierung – sieben Kategorien ausgewählt: Freiheit, Gleichheit, Einheit, Zensur, Monarchie, Aufklärung und Revolution. Diese trennscharf voneinander abzugrenzen, ist nicht immer einfach. Mit der Aufklärung verbindet man Freiheit und Gleichheit, die Zensur ist ein Auswuchs der Monarchie, gegen die man zu revoltieren sucht. Die vielfach thematisierte Unfreiheit, die meist als Appell zu werten ist, an diesem Missstand etwas zu ändern, wurde schließlich der Kategorie Freiheit zugeschlagen. Mit den Punkten Gleichheit und Einheit verhält es sich ähnlich. Betrachtet man das Gesamtbild, so fällt auf, dass sich die verschiedenen Themenschwerpunkte unterschiedlicher Beliebtheit erfreuen. Den Spitzenwert erzielt die Zensur, 64 Prozent der politisch konnotierten Beiträge greifen dieses Thema auf. Dies verwundert nicht, denn die Narrhalla versteht sich doch gerade als Kämpferin für die Meinungsfreiheit. Den meisten Autoren ist das Recht verwehrt, Kritik an der Obrigkeit zu üben. Die Narrhalla nutzt allerdings die Schutzform des Lachens, um genau das zu tun und auf diese Weise dafür zu kämpfen, dass auch die übrigen Zeitungen wieder freie Gedanken verbreiten dürfen. Der zweithöchste Wert ist der Kategorie Freiheit zuzusprechen. In 54 Prozent der politisch konnotierten Beiträge wird diese thematisch aufgegriffen. Selbstverständlich bilden diese beiden Themen eine Symbiose, schließlich ist die Zensur ein Instrument der Unfreiheit und der Antagonist der freien Meinungsäußerung. Es ist daher plausibel, dass diese beiden Kategorien, die offenbar nicht voneinander zu trennen sind, so hohe Werte erzielen. In einzelnen Jahrgängen werden Freiheit und Zensur sogar in über 70 Prozent der politisch konnotierten Beiträge zum Thema gemacht. Die Kategorie Monarchie belegt schließlich mit 41 Prozent den dritten Platz. Ein Grund dafür, dass diese nicht so häufig erwähnt wird (1841 nur in 5 Prozent der Beiträge), mag darin liegen, dass auch die Narrhalla-Autoren die Geißel der Zensur fürchteten. Ein satirischer Angriff auf die Monarchie war deshalb so gefährlich, weil die Fürsten und Könige diejenigen waren, von denen diese Unterdrückung der Gedanken ausging. Wenn die Monarchie Erwähnung findet, dann sind die gekrönten Häupter meist fingierte Charaktere, um sich nicht angreifbar zu machen und den Zorn der Herrscher im Zaum zu halten. Was gegen diese These spricht, ist der Umstand, dass in 27 Prozent der politisch konnotierten Beiträge das Thema Revolution verarbeitet wird.

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Ein politischer Umsturz war das, was jeder Monarch am meisten fürchtete, bedeutete es doch den Verlust seiner Macht oder gar seines Lebens. Es ist daher bemerkenswert, dass revolutionäre Umtriebe in den Narrhalla-Jahrgängen von 1841 bis 1848 so häufig Erwähnung finden. Am seltensten ist tatsächlich von den Kategorien Einheit (18 Prozent) und Gleichheit (13 Prozent) die Rede. Hier weisen sogar mehrere Jahrgänge einstellige Werte auf. Der Jahrgang 1844 thematisiert in keinem einzigen Artikel die Kategorie Gleichheit. Dieser Befund mag zunächst irritieren, waren doch Freiheit und Gleichheit die Maximen der Französischen Revolution, auf die man sich auch im Deutschland des Vormärz zu berufen suchte. Es ist allerdings die These des Autors, dass man zu der Zeit das Prinzip der Gleichheit dem der Freiheit zuschlug. Gleichheit bedeutet die Abschaffung der Ständegesellschaft, was dem Einzelnen schließlich auch Freiheit verschafft. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, insofern wurde das Schlagwort der Freiheit zu Lasten der Gleichheit stärker akzentuiert. Auch das seltene Aufgreifen des Themas der Einheit verwundert, schließlich waren Freiheit und Einheit zwei zentrale politische Forderungen im Vormärz. Zu dieser Zeit scheint den Menschen die persönliche Freiheit aber wichtiger zu gewesen sein als die nationale Einheit – zu dieser Schlussfolgerung kommt man zumindest, wenn man die hier beschriebenen Befunde betrachtet. Dies ist umso interessanter, wenn bedacht wird, dass die Deutschen im Zuge der Reichsgründung 1871 die Forderung nach persönlicher Freiheit zu Gunsten der nationalen Einigung preisgaben, also die Priorisierung offenbar eine Umkehrung erfahren hatte.43 2. Hermeneutische Interpretation Für die hermeneutische Interpretation hat der Autor die zu analysierenden Jahrgänge in drei Phasen eingeteilt: a) Phase 1 Die Jahre 1841 und 1842 bilden die erste Phase. In diesem Zeitraum zeigt sich die Narrhalla noch vergleichsweise vorsichtig, was die politische Stoßrichtung anbelangt. Dennoch ist die Programmatik von Beginn an klar: Schon das Titelblatt der Erstausgabe, auf dem unter anderem Till Eulenspiegel dargestellt ist, macht deutlich, dass die Karnevalszeitung darauf abzielt, unbequeme Wahrheiten zu artikulieren. Der zweite Jahrgang beginnt mit einem Beitrag, der die wachsende politische Schärfe erkennen lässt.

43

Nipperdey, Deutsche Geschichte II (wie Anm. 38), 76.

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In der Narrhalla von 1842 erzählt Dr. Heinrich Börnstein die Schreckliche – aber wahre Geschichte der großen Dezember-Revolution im Königthume Narrenreich. Er nimmt darin expliziten Bezug auf die sich zuvor in Europa ereigneten Revolutionen. Auffällig ist, dass bereits der Titel mit einer Anmerkung versehen ist. Hierin heißt es: „Durch Börnsteins excellente Privat-Narrheit ist nun freilich diesmal die erste universelle Narrheit der Carnevalszeitung in etwas beschränkt worden.“44 Die Redaktion bezieht sich hier offensichtlich auf die Zensur, der die vorliegende Ausgabe zum Opfer gefallen sein muss. Erneut wird ein probates Instrument genutzt, das Fehlen von Meinungsfreiheit öffentlich anzuprangern. Die Geschichte handelt von einer scheinbar unüberbrückbaren Opposition: Auf der einen Seite steht der König des Narrenreichs, Carème X. Der fiktive Monarch referiert unzweifelhaft auf Karl X. von Frankreich, der mit dem Erlass sogenannter Ordonnanzen versucht hatte, die parlamentarische Opposition im Land zu brechen. Es kam zum bewaffneten Aufstand, die ältere Bourbonendynastie wurde gestürzt und der Bürgerkönig Louis Philippe bestieg den Thron. Dieses Ereignis ging als „Julirevolution“ in die Geschichte ein.45 Der vorliegende Beitrag rekurriert eindeutig auf diese Geschehnisse im Jahre 1830. Carème wird als ein der Melancholie verfallener Asket charakterisiert, der ebenso Verzicht von seinen Untertanen einfordert. Diese möchten aber lieber Wein statt Wasser trinken und sind mit der gegenwärtigen Situation entsprechend unzufrieden. Es regt sich Widerstand im Volk, man plant eine Revolte, besinnt sich dann aber eines Besseren, schließlich verheißt die immer näher rückende Fastnacht den nach Wein dürstenden Untertanen Erlösung. Indes wird die Unruhe im Volk von den königlichen Ministern erkannt, die den König entsprechende Gesetze unterzeichnen lassen. Interessant ist an dieser Stelle, dass er die Gesetzesvorhaben quasi blind unterschreibt, ohne deren Inhalt zu prüfen.46 Hierin steckt eine klare Kritik an den Herrschenden der Zeit, die aus Sicht des Volkes völlig willkürlich agieren. Am Folgetag werden die Gesetze schließlich öffentlich verlesen: „Die erste Ordonnanz hob die Trink- und Freßfreiheit auf und stellte eine Zensur für Getränke her. […] Die zweite Ordonnanz löste die Versammlungen der Narrhalla auf […]. Die vierte Ordonnanz endlich hob die Ballfreiheit und den Fasching auf […].“47 Die hier erlassenen Bestimmungen nehmen Bezug auf die Karlsbader Beschlüsse, mit denen die Machthaber versuchten, die freiheitlichen Forderungen zu unterdrücken. Auch in den vorliegenden Anordnungen spielen Zensur und Einschränkung der Versammlungsfreiheit eine Rolle. Der Gipfel ist, dass die Fastnacht, die bereits als Sehnsucht des Volkes herausgestellt wurde, verboten wird.

44 45 46 47

Narrhalla, 1842, 5. von Hippel/Stier, Europa (wie Anm. 33), 124 f. Man fühlt sich an den Prinzen in Lessings Emilia Galotti erinnert. Narrhalla, 1842, 8.

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Eine Revolution scheint nun unvermeidlich und das Volk verfasst ein Pamphlet, das die Missstände anprangert: „Die Regierung ist außer die Schranken der Gesetzlichkeit getreten und unser Gehorsam hört auf, eine Pflicht zu sein. – Wir protestieren daher gegen diese illegalen Ordonnanzen […].“48 Den Bestimmungen des Monarchen wird an dieser Stelle ihre Rechtmäßigkeit seitens des Volkes abgesprochen, was den Startschuss für einen Aufstand markiert. In den Schlachtrufen der revoltierenden Meute finden sich zwei erwähnenswerte Adaptionen. Zunächst singen sie die „Narrseillaise“, was unschwer als Abwandlung der Marseillaise zu erkennen ist: „Allons enfants de la folie! Le jour de gloire est arrivé, Contre nous de l’hypocondrie L’étendard ennuyant s’est élevé.“49

Die Kinder des Narrentums werden in diesem Lied darauf eingeschworen, sich gegen die Hypochondrie, also die von oben verordnete Askese zur Wehr zu setzen. Dadurch, dass hier ein Lied des revolutionären Frankreichs adaptiert wird, findet ein direktes InBezug-Setzen der fiktiven Revolution zu realen Ereignissen statt. Es folgt eine Adaption des Rheinlieds von Nikolaus Becker: „Sie sollen sie nicht haben, Gehören nicht hinein, Sie sollen sich nicht laben An unsern Narrentheyn.“50

Hieran wird einerseits noch einmal die Opposition zwischen Herrschenden (Asketen) und Untertanen (Narren) verdeutlicht. Andererseits wird dadurch, dass ein nationalistisches deutsches Lied abgewandelt wird, die im Vormärz omnipräsente Forderung nach nationaler Einheit unterstrichen. Die Zusammenschau beider Zitate lässt aber auch eine Diskrepanz deutlich werden: Der im 19. Jahrhundert erstarkende deutsche Nationalismus wird häufig als Abgrenzungsnationalismus verstanden, d. h. das Feindbild Frankreich diente der Konstruktion der eigenen Gemeinschaft.51 Das Aufgreifen der Marseillaise macht allerdings deutlich, dass in den Augen vieler Zeitgenossen das revolutionäre Frankreich eher Vorbildcharakter hatte als der Deutsche Bund. Die Mainzer Karnevalisten scheinen dem „Erbfeind“ Frankreich also wohlwollender gesinnt gewesen zu sein, als die deutsche Allgemeinheit, was man bis heute unter anderem an Kokarden und Jakobinermützen der Narren sehen kann. Zugleich könnte man

48 49 50 51

Ebd., 10. Narrhalla, 1842, 11. Ebd., 12. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts. Tübingen 1998, 14.

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hierin ein Indiz dafür sehen, dass die Freiheit (deshalb auch die Faszination für Frankreich als Mutter der Freiheit) den Rheinländern wichtiger war als nationale Einheit. Die fiktive Revolte im „Königthume Narrenreich“ ist schließlich erfolgreich und die Forderung nach Freiheit wird mittels eines amüsanten Wortspiels eingelöst: „König Carème ist sehr verdrießlich und wankt, da macht ihm die Deputation den Vorschlag, mit ihr auf den Balkon zu treten und als Zeichen seiner freundschaftlicheren Gesinnungen öffentlich ein Glas Wein zu trinken. – nein! Schreit entsetzt der König; nein! lieber Thée. – Liberté? wiederholen staunend die Deputierten; das Volk draußen hört es und ruft jubelnd und stürmisch: Liberté! – Liberté!“52

Der König dankt letztlich ab und Prinz Carneval wird zum neuen Regenten gewählt. Dieser gibt dem Narrenreich eine Verfassung, die dem Volk Freiheit und Gleichheit garantiert: „§. 1. Alle Narren sind einander gleich, sie mögen auch noch so große Narren sein. […] §. 3. Es herrscht unbeschränkte Trink- und Freßfreiheit im Narrenreiche […].“53 Das Ideal des Vormärz, eine konstitutionelle Monarchie, steht am Ende dieser fiktiven Revolution. Der neue König verkündet: „Diese Charte wird künftig eine Wahrheit sein.“54 Zumindest in der Fiktion sind die Forderungen des Vormärz Realität geworden. Es zeigt sich an dieser Stelle wieder einmal, dass der Narr Träger – im vorliegenden Fall auch Mittler – einer abstrakten Wahrheit ist. b) Phase 2 Phase 2 umfasst die Jahrgänge 1843 bis 1845. Hier ist eine Steigerung des links-liberalen Gehalts zu verzeichnen, was nicht zuletzt mit dem Umstand zu erklären ist, dass Ludwig Kalisch in diesem Zeitraum federführend an der Narrhalla beteiligt war. Der Jahrgang von 1844 beinhaltet ein Bild, das den Titel Öffentlichkeit und Mündlichkeit trägt. Justitia, die Göttin bzw. Allegorie der Gerechtigkeit, ist hinter Gittern (die aus Zöpfen bestehen) festgesetzt. Sie ist an der Waage zu erkennen, die sie in der Hand hält, und an der Augenbinde. Diese bedeckt aber nicht beide Augen, was die Hypothese zulässt, dass die Gerechtigkeit auf einem Auge blind ist. Im Vordergrund ist ein Kampf zu sehen zwischen Männern mit Perücken, die sich zum Teil unter oder hinter überdimensionierten Büchern verstecken, und einer bewaffneten Meute. Die Männer mit den Perücken lassen sich als Zensoren deuten. In der Mitte ist eine mit einem Brustpanzer bekleidete Frau zu erkennen, die ein Banner in die Luft reckt, auf dem das Wort „Oeffentlichkeit“ zu lesen ist. Diese Darstellung erinnert stark an das Bild von 52 53 54

Narrhalla, 1842, 12. Narrhalla, 1842, 13. Ebd., 14. Mit den sogenannten närrischen Paragraphen erlassen Karnevalsprinzen bis heute Pseudo-Gesetze, die als Grundsatzprogramm ihrer Regentschaft fungieren.

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Eugène Delacroix, das den Titel Die Freiheit führt das Volk trägt. Es bezieht sich auf die Julirevolution in Frankreich, auf die der Künstler der vorliegenden Zeichnung offenbar rekurrieren will. Engel versuchen die Gerechtigkeit aus ihrem Kerker zu befreien, zwei Putti tragen das Schwert Justitias zur Schlacht, um dem aufbegehrenden Volk eine wirkmächtige Waffe an die Hand zu geben. All dies zeigt, dass die Revolution im Angesicht der Unterdrückung einen Akt der Rechtmäßigkeit darstellt. Insofern möchte auch dieses Bild zum Kampf für freiheitlich-demokratische Ideale ermutigen. Die Bedeutung Ludwig Kalischs für diese Phase der karnevalistischen Publizistik kann gar nicht überschätzt werden. Betrachtet man das Werk Kalischs, dann wird schnell klar, dass er ein entscheidendes Merkmal politischen Karnevals verarbeitet hat: Er übt Kritik an der Politik und bedient sich dazu karnevalesker Formen. Ludwig Kalisch wurde 1814 als Sohn einer jüdischen Familie in Posen geboren. Im Alter von zwölf Jahren zog er mit seiner Familie nach Frankfurt. Er studierte Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Medizin und promovierte schließlich. Seine Hauptwirkungsstätte nach dem Studium war Mainz. Zeit seines Lebens war Kalisch ein Kämpfer für die liberaldemokratische Idee, was auch Ausdruck in seinem Wirken fand. 1844 bis 1846 war er Redakteur der Narrhalla. Aufgrund seiner politisch-satirischen Beiträge geriet er schon bald mit der Zensur in Konflikt, über die er sich wiederum mokierte.55 Heinz Seydel schreibt über Kalisch: „Er gehörte, die Behauptung sei gewagt, zu den progressivsten deutschen Schriftstellern des 19.  Jahrhunderts.“56 Einen Grund dafür könnte bereits der Titel seiner Textsammlung Gebunden und Ungebunden offenlegen. Laut Neuhaus verweist dieser Titel auf die künstlerische Programmatik Kalischs: „Kalisch ist ‚gebunden‘, weil er Kritik an der politischen Situation des Reichs nicht direkt äußern darf, er ist aber ‚ungebunden‘ wenn er seine Kritik mit den Mitteln der Literatur zwischen den Zeilen versteckt.“57 Keim stellt in diesem Zusammenhang eine gegensätzliche Entwicklung fest: „So wie die Dichter und Schriftsteller des ‚Jungen Deutschland‘ den Weg vom lyrischen Gedicht zum Leitartikel gegangen waren, so gingen die liberalen Publizisten […] den schmalen Weg vom politischen Leitartikel zum karnevalistischen Blatt und in die Bütt.“58 Die im Vormärz entstehende politisch-literarische Fastnacht ist insofern ein Akt politischer Selbstermächtigung: „Mit dem Lachen“, so Immanuel Nover, „ermächtigt sich das Individuum zum politischen Subjekt, das aktiv politisch handelt; es wird zum zoon politikon.“59 55 56 57 58 59

Anton Maria Keim, Ludwig Kalisch. Karneval und Revolution. (Köpfe der Region, Bd. 1.) Ingelheim 2003, 10 f. Stefan Neuhaus, „Ein zu Unrecht Vergessener.“ Ludwig Kalischs Gebunden und Ungebunden, in: ders. (Hrsg.), Gebunden und Ungebunden. Erlangen 2004, 283–298, hier 284. Ebd., 285. Keim, politischer Karneval (wie Anm. 20), 64. Immanuel Nover, Lachen als politische Selbstermächtigung. Zum Verhältnis von Komik und Politik, in: Hajo Diekmannshenke u. a. (Hrsg.), Das Komische in der Kultur. (Koblenzer Studien zur Germanistik, Bd. 1.) Marburg 2015, 33–48, hier 36.

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Ein Beitrag, der die satirische Genialität Kalischs illustriert, ist Teil des NarrhallaJahrgangs von 1845. Der Titel Stoßseufzer der Redaktion ist dabei programmatisch. Die Redaktion bezieht darin Stellung zu einem Beitrag, der in der vierten Lieferung unter dem Titel An Sie erschienen war. Einige Leser wollten in den Versen spöttische Anspielungen auf bekannte Persönlichkeiten ausmachen. Die Redaktion entgegnet: „Die Narrhalla hat es aber nicht mit Privatzuständen und Persönlichkeiten Einzelner zu thun, ihre Tendenz ist der harmlose Scherz und die allgemeine Satyre.“60 Doch die öffentliche Wahrnehmung brachte schließlich die abstrusesten Interpretationen hervor. Die Redaktion schreibt: „Die fraglichen Verse, sowie das darüber gesetzte Bildchen, haben aber noch eine ganz andere, sogar politische Deutung gefunden.“61 Dabei beschreibt das Gedicht eigentlich eine harmlose Brautwerbung.62 Die Redaktion nutzt in ihrer Stellungnahme die Gelegenheit, die oben angesprochene politische Deutung darzulegen: „Man sagte: Sehen Sie, auf dem Bilde ist die Nacht dargestellt. Dies bedeutet den gegenwärtigen Zustand Deutschlands. Rechts und links erblicken Sie feste Mauern, welche wie Kerkerwände aussehen. Die im Vordergrunde stehende männliche Figur ist der deutsche Michel […] Aufgeweckt durch die hellen Strahlen der über ihm hängenden Laterne, welche das allgewaltige Licht des Menschengeistes versinnlichen soll, fühlt Michel wohl, daß er der Weltgeschichte etwas schuldig ist; er [versucht] deßwegen […] der neben ihm stehenden […] Dame, welche er für die ächte deutsche Freiheit hält, aber nur die falsche Freiheit ist […], den Hof zu machen, um sich mit ihr zu vermählen. Dies will ihm aber nicht gelingen, weil der gute Michel nicht die richtigen Mittel gebraucht und auch die Afterfreiheit mit der wahren Freiheit verwechselt. Deßhalb besteht auch, wie durch die abgebildete Katze dargestellt wird, der Katzenjammer in Deutschland fort.“63

Diese Passage lässt zwei verschiedene Deutungen zu. Einerseits könnte man hierin einen grotesken Auswuchs der Zensur sehen. Eine um sich greifende Paranoia sorgt dafür, dass Zensoren auch hinter den harmlosesten Beiträgen staatsgefährdende Gedanken wittern. Man könnte aber andererseits zu der Überzeugung gelangen, dass die Redaktion durch das Aufgreifen dieser Kritik staatstreuer Bürger selbst Kritik an den Missständen in Deutschland üben möchte, schließlich findet hier eine Verbalisierung jenes Gedankenguts statt, das der Obrigkeit ein Dorn im Auge ist. In diesem Falle läge hier eine Form von Metakritik vor. Dem eigentlichen Zweck des Karnevals wird damit Rechnung getragen. Er soll die „ächte Lebensweisheit […] befördern“64 und somit die Augen öffnen für eine alternative Ordnung.

60 61 62 63 64

Narrhalla, 1845, 95. Ebd. Narrhalla, 1845, 63. Ebd., 95. Ebd., 126.

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c) Phase 3 Die Jahrgänge 1846 und 1848 bilden schließlich die dritte und letzte Phase: Auffällig hieran ist, dass die Beiträge vermehrt das Schutzschild der Satire von sich werfen und die freiheitlichen Forderungen nun unverblümt artikulieren. Zusätzlich finden sich in dieser Phase Beispiele, die nicht bloß verbalisierter Protest sind, sondern den Willen zur Tat erkennen lassen. Dies wird unter anderem an einer Bildquelle deutlich, die in der achten Lieferung des Jahrgangs von 1846 zu finden ist. Hierin wird auf das 360-jährige Jubiläum der Zensur in Deutschland verwiesen. Tatsächlich wurde die erste deutsche Zensurordnung 1486 vom Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg erlassen.65 Im Zentrum des Bildes ist eine Frau zu sehen, deren Körper die Form einer Schere hat. Sie trägt eine Schlafmütze, was wiederum auf Deutschland verweist. Sie ist flankiert von Krebsen, die mit ihren Scheren die Gedanken, die ovalförmig um die zentrale Person angeordnet sind, beschneiden. Im Hintergrund ist schemenhaft ein Stift zu erkennen, vermutlich handelt es sich um einen Rotstift, mit dem die Zensoren verbotenes Gedankengut zu streichen pflegen. Der Untertitel „Das dankbare Vaterland“ ist auch hier durch und durch ironisch zu verstehen.66 Das Bild ist einem Artikel beigefügt, der sich dem Fastnachtswochenende des Jahres 1846 widmet. In dem Beitrag heißt es: „Hier ragte, dem ehernen Standbilde Gutenbergs gegenüber, die Statue der Censur empor. Daß der Sockel, auf welchem dieses Denkmal stand, viel höher und breiter war, als dasjenige, auf welchem der Erfinder der Buchdruckerpresse steht, war eine Andeutung, daß man bei uns die Censur höher stellt, als die Presse […].“67

Es ist nicht ganz klar, ob es sich hierbei um die Schilderung eines realen Ereignisses handelt. Ein gewichtiges Argument spricht allerdings dafür: Keim beschreibt in seinem Werk die gleiche Begebenheit, indem er auf einen Bericht der Neuen Mainzer Narrenzeitung rekurriert. Der Wortlaut dieses Beitrags ist ein anderer, der Inhalt allerdings identisch.68 Insofern liegt die Vermutung nah, dass, wenn zwei Zeitungen unabhängig voneinander über ein solches Ereignis berichten, es sich um eine reale Begebenheit handeln muss. Christina Niem und andere stützen diese These.69 Die Kritik an der Zensur bleibt hier – und das ist das Besondere an diesem Artikel – nicht im geschriebenen Wort gefangen, sondern wird zur Tat. Der Erzähler schildert, dass ein Kampf entbrennt zwischen den Anhängern des Lichts – d. h. den aufgeklärten 65 66 67 68 69

Bodo Plachta, Zensur. Stuttgart 2006, 50. Narrhalla, 1846, 133. Ebd. Keim, politischer Karneval (wie Anm. 20), 67. Christina Niem u a , Alltagskultur im Wandel: Volkskundliche Perspektiven, in: Friedrich P. Kahlenberg / Michael Kißener (Hrsg.), Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, Bd. 2: Vom ausgehenden 18. bis zum 21. Jahrhundert. Mainz 2012, 481–544, hier 484 f.

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Geistern – und den Freunden der Finsternis. Die Lichtfreunde siegen und das Monument der Zensur, das laut Keim aus „verbotenen Zeitungen, aus Censurlücken, aus Acten von Pressprozessen und aus dem ganzen Mißgeschick der Presse“70 besteht, geht in Flammen auf. Mit dem Verbrennen dieses Symbols der Unfreiheit geht nach Aussagen des Erzählers die Hoffnung einher, „daß wie vor diesem Feuer das Bild der Censur, diese selbst vor dem Feuerhauche des Genius der Menschheit bald schwinden würde.“71 Wie wirkmächtig das Verbrennen solcher Symbole sein kann, hat das Wartburgfest bereits gezeigt. Eine wirkliche Revolution wird an dieser Stelle nicht geschildert. Und dennoch weckt diese Handlung die Hoffnung, dass das bislang nur Symbolische irgendwann realisierbar sein könnte. 1848 wird dieser „Traum“ scheinbar wahr. Gleich im ersten Beitrag der achten Lieferung des Jahrgangs heißt es: „Die Presse ist frei! sie ist es durch sich selbst geworden! der geknechtete Gedanke hat zürnend seine Ketten zerrissen und darf nun in den Dienst unseres Volkes treten. Die Presse ist frei!“72 Von dem zuvor satirischen Grundcharakter der Narrhalla-Beiträge scheint nichts mehr übrig zu sein. Mit der Pressefreiheit erlangt auch das Volk seine Freiheit. „Sie wird so lange frei sein, als wir der Freiheit würdig sind.“73 Die Beiträge der Karnevalszeitung unterscheiden sich nun nicht mehr von jenen politischer Kampfblätter. An die Stelle satirischer Vorträge tritt der politische Leitartikel. Zwar gibt der Karneval dadurch zeitweise seinen Grundgedanken auf, dies allerdings nur, um dem hehren Ziel zu dienen, die allgemeine Freiheit in Deutschland zu erwirken. IV. Fazit Die Analyse der Narrhalla-Jahrgänge von 1841 bis 1848 hat sich als ausgesprochen fruchtbar erwiesen, obgleich fraglich bleibt, ob der vorliegende Aufsatz der Menge an Material gerecht werden konnte. Um die ca. 1000 Seiten Quellentext zumindest annähernd bewältigen zu können, hat sich der Autor für eine zweiteilige Vorgehensweise entschieden. Im Zuge des quantifizierenden Verfahrens konnte zunächst herausgestellt werden, dass von den insgesamt 370 Beiträgen, die untersucht wurden, 61 Prozent eine politische Konnotation beinhalten. Über den untersuchten Zeitraum hinweg ist zudem eine Intensivierung dieses kritischen Gehalts zu beobachten. Die Frage, welche konkreten Themen in den politisch konnotierten Narrhalla-Beiträgen angesprochen werden, hat sich der vorliegende Aufsatz ebenfalls zu beantworten bemüht. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass Freiheit und Zensur die Themen sind, die am häufigsten 70 71 72 73

Keim, politischer Karneval (wie Anm. 20), 67. Narrhalla, 1846, 134. Narrhalla, 1848, 123. Narrhalla, 1848, 123.

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aufgegriffen werden (Freiheit: 54 Prozent / Zensur: 64 Prozent). Vergleichsweise selten ist von Einheit und Gleichheit die Rede (Einheit: 18 Prozent / Gleichheit: 13 Prozent), was zunächst verwundert, schließlich handelt es sich auch hierbei um zentrale Schlagworte der Zeit des Vormärz. Um die Untersuchung noch aussagkräftiger zu gestalten, wurden ausgewählte Artikel, die dem Autor für eine intensive Analyse fruchtbar erschienen, einer hermeneutischen Interpretation unterzogen. Die Narrhalla – das liegt durchaus nah – bedient sich in ihren Beiträgen des Instruments der Komik. So erhält das zuvor unterdrückte Volk eines asketischen Königs bloß deshalb die Freiheit, weil dieser verkündet, er trinke lieber Tee, statt Wein. Das Volk hört, was es hören will und feiert die gewonnene Liberté. Die Bedeutung der Satire für die Narrhalla wurde bereits betont. Durch sie wird versteckte Kritik geübt, indem sie das, was kritisiert werden soll, in fernen Ländern und anderen Zeiten spielen lässt. Doppeldeutigkeit und Ironie sind Mittel, die dieselbe Funktion erfüllen. Aussagen werden in kritischer Absicht sinnverkehrt oder verfremdet gebraucht. Die Intention der Narrhalla ist es dabei, nicht bloß eine reine Rezeption der kritischen Beiträge anzustoßen. Die Artikel beinhalten immer auch den Appell zur Tat. Kritik findet in den Beiträgen zuweilen sogar auf einer Metaebene statt. Indem zum Beispiel die fälschlich politische Auslegung eines harmlosen Gedichts aufgegriffen wird, übt die Narrhalla genau an den Missständen Kritik, die sie eigentlich nicht thematisieren darf. Hinzu kommt das Aufgreifen von Themen, die dem rheinischen Karneval ein sehr fortschrittliches Gesicht geben. Das Jahr 1848 lässt die Menschen hoffen. Ein schier grenzenloser Fortschrittsoptimismus bricht sich Bahn. Die Narrhalla lässt die Schutzform des Lachens fallen und übt nun offen Kritik an den bestehenden Verhältnissen. Die Revolution scheitert allerdings und so flüchtet sich auch der politische Karneval zurück unter den Deckmantel des Satirischen. Er wird immer dann bedeutsam, wenn die Opposition mundtot gemacht wird. In der Schutzform des Lachens ist Kritik an der Obrigkeit – wie sie auch geartet sei – möglich. Es gilt nun abschließend die eingangs gestellte Frage zu beantworten: Inwiefern wurde der Karneval im Vormärz genutzt, die Forderungen nach Freiheit und Einheit zu forcieren? Die Kölner Wirren lassen sich als Initiationsereignis der organisierten Mainzer Fastnacht deuten. Religion spielt im Karneval, der seine Wurzeln im christlichen Mittelalter hat, also seit jeher eine gewichtige Rolle. In dieser Verbindung dient er aber auch der Selbstbehauptung einer katholischen Minderheit gegenüber dem protestantischen „Usurpator“. Jene Selbstbehauptung weitet sich auf die Sphäre der Politik aus. Die Rheinländer des Vormärz pochten vehement auf das Rheinische Recht – ein fortschrittliches Erbe aus der Franzosenzeit. In dieser hier dargestellten Trias von Karneval, Religion und Politik liegt der Schlüssel zur Beantwortung der Fragestellung: Ja, die Narrhalla war im Vormärz ein Vehikel, das die Mainzer Karnevalisten dazu nutzten, die prägenden Ideale von Freiheit und Einheit zu forcieren. Die Analyse der Jahrgänge aus dieser Zeit hat allerdings ergeben, dass das Schlagwort der Freiheit

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wesentlich häufiger in den Beiträgen thematisiert wird als das der Einheit. Die in der Zeit aufflammenden Ressentiments gegen Frankreich sind in den Narrhalla-Beiträgen nicht nachzuweisen, offenbar fühlten sich die Mainzer Karnevalisten der einstigen Besatzungsmacht nach wie vor verbunden, schließlich bescherte sie den linksrheinischen Gebieten ein innovatives Rechtssystem. Freiheit nach französischem Vorbild, die sie durch ihren neuen Landesherren bedroht sahen, war insofern die entscheidende Forderung der Mainzer Fastnachter  – nationale Einheit war hingegen nur zweitrangig. Der Tradition des närrischen Brauchtums wird dieser Befund abermals gerecht. Der Narr ist vom Grundsatz her Künder der Wahrheit und als solcher zugleich Mittler der Freiheit – nicht der Einheit. Nicolas Junglas, M. A., nahm zum Sommersemester 2015 ein Lehramtsstudium an der Universität Koblenz-Landau auf, das er im September 2020 mit einer M. A.-Arbeit über den politischen Karneval im Vormärz abschloss. Parallel dazu begann er im Wintersemester 2018/19 Germanistik zu studieren. Auch diesen Studiengang konnte er 2020 abschließen. Seither ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Arbeitsgemeinschaft Mühlsteinrevier RheinEifel tätig. Er verfasst zurzeit eine Dissertation zum Motiv des Karnevals in der neueren deutschsprachigen Literatur.

„The Miserable and Hellish Yankee Nation“1 Politische Erziehung, Propaganda und Nationalismus während des Amerikanischen Bürgerkrieges im Spiegel von Schulbüchern aus den Konföderierten Staaten von Amerika (1861–1865) Felix Paul Maskow Bei der Etablierung eines konföderierten Nationalismus nach Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861–1865) spielte die politische Erziehung von Kindern und Jugendlichen eine zentrale Rolle Hierfür wurden eigens neue Schulbücher produziert, deren Untersuchung in der Schulbuch- und Kriegskinderforschung bisweilen so gut wie ausblieb Dieser Aufsatz arbeitet daher anhand von 35 dieser Lehrwerke die zentralen Propagandanarrative zur Legitimation der neuen „Nation“ heraus Dies sind im Wesentlichen: Die Rechtfertigung des Krieges gegen die Nordstaaten sowie der Institution der Sklaverei; ebenso die Verbreitung von Siegesoptimismus bei gleichzeitiger geistiger Mobilisierung der Jugend für den Kriegseinsatz an der „Heimatfront“ Dabei kann aufgezeigt werden, dass konföderierte Schulbücher in hohem Maße als Werkzeuge nationalistischer Propaganda eingesetzt wurden I. Einleitung Mit der Entstehung der Konföderierten Staaten von Amerika (CSA) war innerhalb weniger Monate aus einer im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) in den 1850er Jahren noch vagen Idee plötzlich handfeste Realität geworden:2 Die Se1 2

Marinda Branson Moore, Primary Geography. Arranged as a Reading Book for Common Schools, with Questions and Answers Attached. 2. Aufl. Raleigh 1864, 47. Im Folgenden werden die Konföderierten Staaten auch als Konföderation sowie die sie bildenden Einzelstaaten als Süden bzw. Südstaaten bezeichnet. Die Vereinigten Staaten werden im Folgenden auch Union sowie jene darin verbleibenden Staaten Norden bzw. Nordstaaten genannt. Zudem wird im Text aufgrund der besseren Lesbarkeit für Personengruppen das generische Maskulinum verwendet, wobei jedoch stets alle Geschlechter gemeint sind.

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zession von elf Südstaaten 1860/1861, die offizielle Gründung der Konföderation am 4. Februar 1861 und der Beginn des bis 1865 andauernden Amerikanischen Bürgerkrieges am 12. April 1861 hatten den Süden der USA zu einem neuen Staat auf dem nordamerikanischen Kontinent werden lassen.3 Doch viele Südstaatler fragten sich, was sie, über den Krieg gegen die Nordstaaten hinaus, eigentlich von diesen unterschied und zu einer eigenen Nation formte.4 Nun unabhängig von Druckerzeugnisimporten und geistigen Einflüssen aus dem Norden, sahen konföderierte Politiker wie Intellektuelle in der Sezession die Chance, durch eine autarke, genuin südstaatliche Literaturproduktion auch die literarische bzw. intellektuelle Unabhängigkeit des Südens herbeizuführen, mit Printmedien als zentralen Transporteuren nationalistischer Narrative und konföderierter Propaganda.5 3

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Ian Bennington, Confederate Visions. Nationalism, Symbolism, and the Imagined South in the Civil War. Charlottesville/London 2013, 2; Richard Current, Confederate States of America, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 275–279; Andreas Reichstein, Civil War, in: USA-Lexikon. 2. Aufl. 2013, 231–233, hier 232; Anne Sarah Rubin, A Shattered Nation. The Rise and Fall of the Confederacy, 1861–1868. (Civil War America.) Chapel Hill/London 2005, 11. Die Abspaltung des Staates South Carolina von den USA am 20. Dezember 1860 stellte den Beginn des Sezessionsprozesses bis Mitte 1861 dar; insgesamt bestanden die CSA, die von keinem Staat der Erde völkerrechtlich anerkannt wurden, aus elf Einzelstaaten mit einer Gesamtbevölkerung (mit Sklaven) von ca. neuneinhalb Millionen: Alabama, Arkansas, Florida, Georgia, Louisiana, Mississippi, North Carolina, South Carolina, Tennessee, Texas und Virginia (bzw. 13 Staaten, werden Missouri sowie Kentucky mitgezählt) (Current, Confederate States, 275–279; Reichstein, Civil War, 232). Zur Sezession der Südstaaten, Gründung und Geschichte der CSA sowie zum Amerikanischen Bürgerkrieg s. William Barney, Secession, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 930–939; Current, Confederate States; James McPherson, Civil War. Causes of Defeat, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 238–245; James McPherson, Für die Freiheit sterben. Die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges. Köln 2011; Reichstein, Civil War. Bennington, Visions (wie Anm. 3), 22; Drew Gilpin Faust, The Creation of Confederate Nationalism. Ideology and Identity in the Civil War South. Baton Rouge/London 1988, 3 f., 7, 10; Reid Mitchell, Nationalism, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 749–755, hier 754. Unter dem Begriff „Nation“ wird im Folgenden eine bestimmte Form der politischen bzw. kulturellen Herrschaft in einem territorialen Gebilde über eine bestimmte Gemeinschaft verstanden (Bennington, Visions (wie Anm.  3), 12–13). Der Begriff „Nationalismus“ im Sinne von „Nationsbildung“ meint den selbstbestimmten Prozess der Kreation von Nationen sowie deren Legitimierung nach innen und außen durch Definierung gemeinsamer politischer, kultureller und gesellschaftlicher Werte und Standards (ebd., 13 f.; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 6, 16), angestoßen meist durch bestimmte soziale bzw. politische Gruppen „to establish their own corporate ideals and purposes as the essence of group self-definition“ (Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 6). Bennington, Visions (wie Anm. 3), 96–99; Michael Bernath, Confederate Minds. The Struggle for Intellectual Independence in the Civil War South. (Civil War America.) Chapel Hill 2010, 2, 4 f., 13–15, 17–28, 30, 33, 69, 81–118, 123, 127, 154–198; Karen Carroll, Sterling, Campbell, and Albright: Textbook Publishers, 1861–1865, in: The North Carolina Historical Review 63/2, 1986, 169–198, hier 198; Robert Curtis, Confederate Classical Textbooks: A Lost Cause?, in: International Journal of the Classical Tradition 3/4, 1997, 433–457, hier 436 f.; Edmund Drago, Confederate Phoenix. Rebel Children and their Families in South Carolina. New York 2008, 50; John Ezell, A Southern Edu-

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Dabei rückte insbesondere die politische Erziehung6 von Minderjährigen in den Fokus südstaatlicher Nationalisten; Kinder als die Zukunft der Konföderation sollten mental mobilisiert werden im Kampf gegen den Norden sowie zu patriotischen, die neue Nation und ihre Institutionen verteidigenden Konföderierten erzogen werden.7

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cation for Southrons, in: The Journal of Southern History 17/3, 1951, 303–327, hier 319, 327; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 16; Mark Groen, Those Incendiary Yankee Schoolbooks. Educational Politics and Sectional Conflict in Mid-Nineteenth Century America, in: American Educational History Journal 31/1, 2004, 44–49, hier 44; Michael Parrish / Robert Willingham, Jr , Confederate Imprints. A Bibliography of Southern Publications from Secession to Surrender. Austin, Texas / Katonah, New York 1987, 9–11; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 25 f.; Keith Whitescarver, School Books, Publishers, and Southern Nationalists: Refashioning the Curriculum in North Carolina’s Schools, 1850–1861, in: The North Carolina Historical Review 79/1, 2002, 28–49, hier 45, 47 f. Unter dem Begriff „Propaganda“ werden die gezielte Steuerung und Beeinflussung von Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen sozialer Großgruppen zugunsten der Interessen sowie Weltanschauung der die Anschauungen verbreitenden Gruppe verstanden, die auf die Integration der Rezipienten in eine Gemeinschaft abzielen (Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien. Wiesbaden 2005, 27–31, 34 f.). Der Begriff „politische Erziehung“ meint die planmäßig vermittelte und zielgerichtet im Interesse der Vermittelnden überformte politische Sozialisation (also alle bewussten und unbewussten Lernprozesse, „die politisch relevante Persönlichkeitsmerkmale, Kenntnisse, Gefühls- und Werthandlungen sowie Verhaltensmuster prägen“ (Peter Massing, Politische Bildung, in: Lexikon der politischen Bildung 1, 1999, 185–188, hier 185)) durch Erlernen politisch relevanter, normativer Einstellungen (ebd.; Paul Ackermann, Politische Sozialisation, in: Lexikon der politischen Bildung 1, 1999, 194–196; Anya Jabour, Topsy-Turvy. How the Civil War Turned the World upside down for Southern Children. Chicago 2010, 66–72). Bernath, Minds (wie Anm. 5), 2, 6, 16, 119, 122, 195–196, 246; AnneMarie Brosnan, Representations of Race and Racism in the Textbooks Used in Southern Black Schools during the American Civil War and Reconstruction Era, 1861–1876, in: Paedagogica Historica 52/6, 2016, 718–733, hier 733; Rebecca de Schweinitz, „Waked Up to Feel“. Defining Childhood, Debating Slavery in Antebellum America, in: James Marten (Hrsg.), Children and Youth during the Civil War Era. (Children and Youth in America.) New York/London 2010, 13–28, hier 25; Curtis, Textbooks (wie Anm. 5), 457; Orville Leland Davis, Jr , The Educational Association of the C. S. A., in: Civil War History 10/1, 1964, 67–79, hier 75; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 5, 8, 11–13, 50, 58; Ezell, Southern Education (wie Anm. 5), 304–306, 308, 326–327; Alice Fahs, The Imagined Civil War. Popular Literature of the North & South 1861–1865. (Civil War America.) Chapel Hill/London 2001, 263; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 5; Dan Frost, Thinking Confederates. Academia and the Idea of Progress in the New South. Knoxville 2000, 32–38; Mark Groen, Teaching, Learning, and Emerging National Identity in the Antebellum South, in: American Educational History Journal 40/1, 2013, 21–35, hier 32–34; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 45 f., 58 f., 83 f.; Edward Janak, A Brief History of Schooling in the United States. From Pre-Colonial Times to the Present. (The Cultual and Social Foundations of Education.) Cham 2019, 15, 17; Elizabeth Kuebler-Wolf, „Train Up a Child in the Way He Should Go“. The Image of Idealized Childhood in the Slavery Debate, 1850–1870, in: James Marten (Hrsg.), Children and Youth during the Civil War Era. (Children and Youth in America.) New York/London 2010, 29–45, hier 41; James Marten, The Children’s Civil War. (Civil War America.) Chapel Hill/London 1998, 13, 21–26, 33, 40, 50, 52, 66; Steven Mintz, Huck’s Raft. A History of American Childhood. Cambridge, Massachusetts 2004, 128; Joseph Moreau, Schoolbook Nation. Conflicts over American History Textbooks from the Civil War to the Present. Ann Arbor 2003, 30; Jörg Nagler, Kinder im Amerikanischen Bürgerkrieg, in: Dittmar Dahlmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Krieg und Revolution vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Kindersoldaten Afrikas. (Krieg in der Geschichte, Bd. 7.) Paderborn u. a. 2000, 43–71, hier 64 f.; Paul Ringel, Thrills for

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Ziel konföderierter Bildungspolitiker und Verleger war es daher, den Ausbau des öffentlichen Schulwesens im Süden zu fördern und die Ausbildung des südstaatlichen Nachwuchses in rein südstaatliche Hand zu bekommen. Letzterer war zuvor oftmals durch nordstaatliche Lehrkräfte sowie mit Hilfe von Lehrwerken aus dem Norden, die mit Sklaverei-kritischem Nordstaaten-„Fanatismus“ aufgeladen schienen, unterrichtet worden. Herzstück dieser Bildungskampagne war die Produktion konföderierter Schulbücher.8 Lehrwerke stellten für Kinder und Jugendliche im 19. Jahrhundert mitunter die wichtigste Informationsquelle dar und bildeten das Zentrum des Schulunterrichts, nicht bloß als Lehrmittel, sondern als „instruments to socialize politically and transmit, inculcate or impose values, norms and beliefs“9. Sie dienen somit als ideengeschichtliche Spiegel für die Werte, Erziehungsziele und nationalen Selbstbilder konföderierter Schulbuchproduzenten und gesellschaftlicher Autoritäten.10

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Children. ‚The Youth’s Companion‘, the Civil War, and the Commercialization of American Youth, in: James Marten (Hrsg.), Children and Youth during the Civil War Era. (Children and Youth in America.) New York/London 2010, 77–91, hier 78 f.; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 28 f.; James Volo / Dorothy Denneen Volo, Family Life in 19th-Century America. (Family Life through History.) Westport, Connecticut/London 2007, 255; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5), 29. In der Forschung werden Kinder epochenübergreifend nicht mehr nur als Opfer von Kriegen, sondern als Akteure und Adressaten kriegspropädeutischer Propaganda begriffen (Alexander Denzler u a , Kinder und Krieg. Ein epochenübergreifender Zugriff, in: ders. u. a. (Hrsg.), Kinder und Krieg. Von der Antike bis in die Gegenwart. (HZ, Beih. 68.) Berlin/Boston 2016, 1–34, hier 2, 6, 10, 13; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 10; Nagler, Kinder (wie Anm. 7), 44; Ringel, Thrills (wie Anm. 7), 87). Bernath, Minds (wie Anm. 5), 1, 6, 21 f., 49, 52–54, 60 f., 66–70, 72, 74, 81, 120 f., 140 f., 200, 244–255; Howard Braverman, Calvin H. Wiley’s „North Carolina Reader“, in: The North Carolina Historical Review 29/4, 1952, 500–522, hier 500–502, 505, 510, 512, 522; Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 170– 174, 177, 182, 196; Curtis, Textbooks (wie Anm. 5), 433–437, 442; Davis, Association (wie Anm. 7), 67–79; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 61; Ezell, Southern Education (wie Anm. 5), 304–309, 311–318, 321–325; Frost, Thinking (wie Anm. 7), 18 f.; Groen, Teaching (wie Anm. 7), 22–29; Groen, Those Incendiary (wie Anm. 5), 44–46; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 52; Laylon Wayne Jordan, Education for Community: C. G. Memminger and the Origination of Common Schools in Antebellum Charleston, in: The South Carolina Historical Magazine 83/2, 1982, 99–115, hier 114; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 13 f., 52 f., 67 f.; Moreau, Schoolbook Nation (wie Anm. 7), 33 f., 59 f.; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 22, 27; Joseph Watras, A History of American Education. Boston u. a. 2008, 91, 102, 110; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5), 28 f., 33 f., 49. Kira Mahamud, Contexts, Texts, and Representativeness. A Methodological Approach to School Textbook Research, in: Petr Knecht u. a. (Hrsg.), Methodologie und Methoden der Schulbuchund Lehrmittelforschung. (Beiträge zur historischen und systematischen Schulbuchforschung.) Bad Heilbrunn 2014, 31–49, hier 10. Bennington, Visions (wie Anm. 3), 96; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 4, 96, 108 f., 112, 125 f., 132, 153, 200, 280; Brosnan, Representations (wie Anm. 7), 719 f.; Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 169, 172; Hilde Coeckelberghs, Das Schulbuch als Quelle der Geschichtsforschung. Methodologische Überlegungen, in: Internationales Jahrbuch für Geschichts- und Geographie-Unterricht 18, 1977/78, 7–29, hier 9, 11, 13; Curtis, Textbooks (wie Anm. 5), 433–435, 437; Davis, Association (wie Anm. 7), 67, 72 f.; Orville Leland Davis, Jr  / Serena Rankin Parks, Confederate School Geographies, I: Marinda Branson Moore’s Dixie Geography, in: Peabody Journal of Education 40/5, 1963, 265–274, hier 265, 274; Lee Deighton, Textbooks: 1. Role in Education, in: The Encyclopedia of Education 9, 1971, 210–214, hier 210 f., 214; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 61; Ezell, Southern Education (wie

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Es soll daher der Frage nachgegangen werden, ob und inwiefern, das heißt durch welche Inhalte und Narrative, Schulbücher in den Konföderierten Staaten als ein Mittel nationalistischer Propaganda gedient haben bzw. zur politischen Erziehung ihrer Rezipienten hin zu einem genuin südstaatlichen Nationalismus eingesetzt worden sind. Gegenstand der Untersuchung bilden dabei 35, von 1861 bis 1865 in den CSA erschienene Schulbücher, darunter sechs Mathematikbücher, sechs Grammatiken, drei Geographiebücher sowie 20 Fibeln bzw. Leselernbücher,11 die hinsichtlich verschiedener propagandistischer Narrativschwerpunkte betrachtet werden sollen.12 Während die Forschung zur Kinder- und Jugendliteratur im Amerikanischen Bürgerkrieg relativ breit gefächert ist, nehmen Schulbücher dabei nur eine Randstellung ein.13 Die Schul-

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Anm. 5), 306, 318; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 15 f.; Groen, Those Incendiary (wie Anm. 5), 44 f.; Mahamud, Contexts (wie Anm. 9), 31–33, 38; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 13, 15, 23, 54, 59; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 11 f., 29 f.; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5), 30–33, 39. Schulbücher waren, da als Massenmedien produziert und regelmäßig konsumiert, die für gesellschaftliche Autoritäten zugänglichsten Printmedien zur Verbreitung nationalistischer Inhalte; insgesamt wurden in den CSA an die 100–150 Schulbuchtitel produziert (Bernath, Minds (wie Anm. 5), 129, 151–153, 199; Curtis, Textbooks (wie Anm. 5), 437; Fahs, Imagined (wie Anm. 7), 281; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 23, 54; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 28 f.; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 272). Hierbei kann man jedoch noch nicht von einer staatlich organisierten, lehrplanbezogenen Schulbuchproduktion sprechen, sondern von Resultaten individueller Unternehmungen von Autoren, Druckern und Verlegern, die häufig auch als Lehrer und Bildungsreformer tätig waren sowie der sklavenhaltenden politischen und ökonomischen Elite des Südens entstammten (hierzu und zu den Autoren der untersuchten Schulbücher vgl. Bennington, Visions (wie Anm. 3), 9, 22 f.; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 179–181; Orville Vernon Burton, Society, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 1014–1023, hier 1015, 1018–1020; Charles Carpenter, History of American Schoolbooks. Philadelphia 1963, 271–278; Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 175 f., 183; Robert Francis Engs, Slavery, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 977–992, hier 979, 982; Charles Holloman, Branson, Levi, in: Dictionary of North Carolina Biography 1, 1979, 213; Parrish/Willingham, Imprints (wie Anm. 5), 12; William Powell, Lander, Samuel, in: Dictionary of North Carolina Biography 4, 1991, 10; Watras, American Education (wie Anm. 8), 99 f.; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5), 45–48). Hierzu auch Bernath, Minds (wie Anm. 5), 201–204, 265 f., 281; Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 198; Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10); Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 56–59; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 29. Da in den ländlich geprägten Südstaaten häufig in einem Schulraum Schüler aus unterschiedlichen Bildungsstufen, Altersgruppen und Schulformen unterrichtet wurden, kamen die meisten Lehrwerke als übergreifende Standardwerke zum Einsatz (Sarah Hyde, Schooling in the Antebellum South. The Rise of Public and Private Education in Louisiana, Mississippi and Alabama. Baton Rouge 2016, 150, 152, 159; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 34; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 291 f.; Watras, American Education (wie Anm. 8), 100). Dabei sollen überblickshaft auch Häufigkeit und Frequenz einzelner Inhalte betrachtet werden. Vgl. zu den Methoden der Schulbuchanalyse Coeckelberghs, Schulbuch als Quelle (wie Anm. 10); Mahamud, Contexts (wie Anm.  9); Peter Meyers, Methoden zur Analyse historisch-politischer Schulbücher, in: Ernst Horst Schallenberger (Hrsg.), Studien zur Methodenproblematik wissenschaftlicher Schulbucharbeit. (Zur Sache Schulbuch, Bd. 5.) Kastellaun 1976, 47–73. Bernath, Minds (wie Anm. 5), 125–133; Carroll, Publishers (wie Anm. 5); Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10); Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 50–64; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 52–61; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 28–34; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5).

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buchforschung konzentriert sich vor allem auf das 20.  Jahrhundert und die beiden Weltkriege im Besonderen – von deren Spezifik vielfach auch in Bezug auf kindbezogene (Kriegs-)Propaganda ausgegangen wird.14 Ziel soll es somit auch sein, diese „Sonderrolle“ des letzten Jahrhunderts durch einen Blick auf das Schulbuchwesen der Jahre 1861 bis 1865 in der Konföderation kritisch zu hinterfragen. II. „The injustice and avarice of the Yankee nation“15 – Die Rechtfertigung der Sezession und des Krieges Die Sezession der Südstaaten 1860/61 und der Beginn des Amerikanischen Bürgerkrieges am 12. April 1861 waren für die Konföderation die beiden zentralen Gründungsmomente ihrer neuen Nation.16 Damit die breite Mehrheit der Südstaatler diese und den Krieg als unmittelbare Folge der Sezession akzeptierten und unterstützten, mussten beide Ereignisse entsprechend begründet bzw. gerechtfertigt werden, so auch in konföderierten Schulbüchern. Entscheidende Legitimationsgrundlage war dabei der aus südstaatlicher Sicht über Jahrzehnte vom Norden begangene „Bruch“ der US-Verfassung durch die Beschneidung der Freiheitsrechte des Südens, in der Hauptsache des Rechts auf Sklaveneigentum: Das Erstarken der Abolitionisten bzw. Sklavereigegner im Norden der USA ab den 1830er Jahren hatte bis zur Sezession zu einem jahrzehntelangen Konflikt zwischen Nord und Süd über die Frage der Sklaverei geführt. Aufgrund der zunehmenden Akzeptanz nordstaatlicher, sklavereikritischer Positionen in der US-Bundespolitik und deren Bestreben, die Ausbreitung der Sklaverei in den USTerritorien im Westen zu verhindern, sah der Süden, spätestens mit der Wahl des Republikaners Abraham Lincoln zum US-Präsidenten Ende 1860, die freie Ausübung seines Rechts auf Sklaveneigentum nicht mehr gewährleistet, die Verfassung gebrochen und sich vom Norden politisch „unterjocht“ bzw. in eine Minderheitenrolle gedrängt.17

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Zu nationalistischer Propaganda in Kinder- und Jugendliteratur in den USA und CSA vgl. Fahs, Imagined (wie Anm. 7); Ringel, Thrills (wie Anm. 7). Zu Kindern bzw. Kindheit im Amerikanischen Bürgerkrieg vgl. Drago, Phoenix (wie Anm. 5); Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6); Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7); Mintz, Huck’s Raft (wie Anm. 7), 118–132; Nagler, Kinder (wie Anm. 7); Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7). Vgl. u. a. Ross Collins, Children, War & Propaganda. (Mediating American History, Bd.  6.) New York u. a. 2011; Eberhard Demm, Kinder und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Eine transnationale Perspektive, in: Alexander Denzler u. a. (Hrsg.), Kinder und Krieg. Von der Antike bis in die Gegenwart. (HZ, Beih. 68.) Berlin/Boston 2016, 105–130; Denzler u a , Kinder und Krieg (wie Anm. 7); Kurt-Ingo Flessau, Schule der Diktatur. Lehrpläne und Schulbücher des Nationalsozialismus. München 1977. So geht Collins davon aus, dass die Entdeckung von Kindern als Adressaten nationalistischer Propaganda erst mit den Weltkriegen einsetzte (Collins, Children (wie Anm. 14), xiii). Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 40. Reichstein, Civil War (wie Anm. 3), 231 f. Barney, Secession (wie Anm. 3), 930–933; Bennington, Visions (wie Anm. 3), 1–3, 25, 101; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 36–39, 44–47; Current, Confederate States (wie Anm. 3), 275 f.; Engs, Slavery

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Konföderierte Geographie- und Grammatikbücher propagierten diese Rhetorik der Entrechtung, gar „Versklavung“ des Südens durch den „fanatischen“ und die Verfassung missbrauchenden Norden gezielt an einigen Stellen.18 So schreibt Marinda Branson Moore in ihrer Primary Geography, dass „when the territories were settled“, die Nordstaaten „were not willing for any of them to become slaveholding. This would soon have made the North much stronger than the South; and many of the men said they would vote for a law to free all the negroes in the country. The Southern men tried to show them how unfair this would be, but still they kept on.“19

Adolphus Spalding Worrell klagt in seiner Grammatik in einem Übungstext an: „Nearly all the Northern States violated the plain letter of the Constitution in their efforts to abolish or circumscribe slavery; for the Constitution which the States all agreed to live under, was a slave Constitution. The North refused to abide by this Constitution. They violated their solemn pledge, and used their efforts to destroy our property.“20

Die Sezession und der Krieg gegen den Norden wurden als Notwendigkeit bzw. einzige Möglichkeit für die Südstaatler dargestellt, um ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Sklaveneigentum, ihre Ehre und ihre politischen Interessen zu verteidigen: „Was it wrong for us to separate from a people who would not regard the obligations to us? who [sic!] were using their utmost energies to destroy our equality, our property, our respectability, and take upon themselves the management of our own property, and thus make

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(wie Anm.  10), 983; McPherson, Civil War (wie Anm.  3), 229–231; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 4), 752; Mark Neely, Jr , Election of 1860, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 365 f.; Reichstein, Civil War (wie Anm. 3), 231 f.; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 16 f., 86; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 18–21; ferner McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 71–191. Trotz des Entgegenkommens des Nordens durch zahlreiche Kompromisse in Hinblick auf die Territorien warf der Süden dem Norden aufgrund von die Sklaverei im Westen nicht vollständig zulassenden Bundesgesetzen einen Bruch der Verfassung vor (ebd.). Levi Branson, First Book in Composition, Applying the Principles of Grammar to the Art of Composing. Also, Giving full Directions for Punctuation; especially Designed for the Use of Southern schools. Raleigh 1863, 37, Nr. 3, 46, Nr. 13; John Burke (Hrsg.), The Dixie Speller and Reader, Designed for the Use of Schools. Macon 1863, 38–39, 46, 80; Robert Fleming, The Revised Elementary Spelling Book. The Elementary Spelling Book, Revised and Adapted to the Youth of the Southern Confederacy, Interspersed with Bible Readings on Domestic Slavery. Atlanta 1863, 3 (Vorwort), 38, 90, 94, 97 f., 105, 142; Marinda Branson Moore, The Geographical Reader, for the Dixie Children. Raleigh 1863, 13, Abs. 1, 20, Abs. 1, 38 f.; Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 13 f., 40; Kensey Johns Stewart, A Geography for Beginners. (Palmetto Series.) Richmond 1864, 43; Adolphus Spalding Worrell, The Principles of English Grammar. Nashville 1861, 86 f., 134, 158 f. Hierzu Davis/ Parks, Geographies (wie Anm. 10), 269; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 33. Zitate aus Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 13, Abs. 3. S. auch ebd., 13, Abs. 4. Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 159. S. auch Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 3 (Vorwort).

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us their slaves? No sane man, unbiased by prejudice, can say that it was. Our obligations, legal and moral, to live with them, ceased when they departed from the Constitution. Secession, or ignominious submission, was our only remedy. The States that seceded, therefore, did right.“21

Gezielt wurde die Regierung Lincoln als Aggressorin bzw. Kriegstreiberin sowie despotische Tyrannei diffamiert und ihre Politik als Ursache für den Krieg herausgestellt, da sie versucht hätte, den Süden militärisch zu unterwerfen. Demgegenüber wurde dieser, obwohl sich von der Union abgespalten und die ersten Schüsse abgegeben habend, als hilfloses Opfer stilisiert, das den Krieg nicht hätte vermeiden können.22 Die USA würden laut Marinda Branson Moore als „once the most prosperous country in the world“ dem Ruin entgegensteuern, und zwar aufgrund der „injustice and avarice of the Yankee nation.“23 Für Moore „the war would have come, sooner or later“, als notwendige, gar göttliche Bestrafung des Nordens für dessen ungerechtes Handeln.24 Der Unabhängigkeitskampf der Konföderation wurde somit als einer zur Bewahrung bzw. Restaurierung der aus der Amerikanischen Revolution hervorgegangenen republikanischen Verfassungsprinzipien stilisiert, als eine Art „zweite Amerikanische Revolution“.25 Rechenaufgaben stellten amerikanische Siege und Ereignisse im Ameri21 22

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Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 159. Hierzu Bernath, Minds (wie Anm. 5), 131. Im „Dixie Speller and Reader“ heißt es: „[O]ur Yankee foes came to take away our rights and homes, and make us their slaves“ (Burke (Hrsg.), Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 46). Branson, Composition (wie Anm.  18), 14, Nr.  1; Fleming, Spelling Book (wie Anm.  18), 3 (Vorwort), 33, 38, 47, 90, 97 f., 142; Moore, Geographical Reader (wie Anm.  18), 14 f., Abs.  5; Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 13, Abs. 4, 14, Abs. 5; John Neely, The Confederate States Speller & Reader. Containing the Principles and Practice of English Orthography and Orthoepy systematically Developed. Designed to Accord with the „Present Usage of Literary and Well-Bred Society“. In three Parts. For the Use of Schools and Families. Augusta 1864, 52; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 41, 43, 200. Anders als dort beschrieben hatte jedoch erst der konföderierte Angriff auf das Unionsfort Sumter am 12. April 1861 US-Präsident Abraham Lincoln zu einer Kriegserklärung veranlasst (Bennington, Visions (wie Anm. 3), 1, 110, 114, 148; Current, Confederate States (wie Anm. 3), 275 f.; McPherson, Civil War (wie Anm. 3), 232 f.; Reichstein, Civil War (wie Anm. 3), 232). Zitate aus Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 40; s. ebenso Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 13, Abs. 1. Burke (Hrsg.), Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 46 f.; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 20, Abs. 1, 38 f. S. dazu Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 273. Der christliche Glaube stellte ein zentrales Fundament des konföderierten Nationalismus und eine zentrale Legitimationsquelle für die stark protestantisch-evangelikal geprägte Konföderation dar (Bennington, Visions (wie Anm. 3), 17, 143 f.; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 124; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 8, 60, 64; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 22–40; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 3), 750; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 17, 34, 36 f., 42; Jon Wakelyn, Religion, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 901 f.; Harry Watson, The Man with the Dirty Black Beard. Race, Class, and Schools in the Antebellum South, in: Journal of the Early Republic 32, 2012, 1–26, hier 10). Bennington, Visions (wie Anm. 3), 3, 8 f., 20–22; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 40; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 14, 21, 26, 30–32, 83; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 297 f.; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 14 f., 18. So ist vor allem in den Geographiebüchern in Hin-

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kanischen Unabhängigkeitskrieg mit militärischen Erfolgen und Gründungsdaten der Konföderation explizit in eine historische Reihe.26 Überdies wurden in Beispielsätzen, Lesetexten und Rechenübungen die Siege der Konföderierten gerühmt sowie die Soldaten und Offiziere der CSA als heldenhafte und siegreiche Vorbilder, dem Feind trotz personeller und materieller Unterlegenheit kämpferisch stets überlegen glorifiziert (wie in dieser Rechenaufgabe: „If one confederate soldier kill [sic!] 90 yankees, how many yankees can 10 confederate soldiers kill?“).27 III. „What do I want to be free for?“28 – Die Rechtfertigung der Sklaverei Die Propagierung eines genuinen „Southern way of life“, mit der agrarischen Prägung von Wirtschaft und Gesellschaft als Basis, nahm einen besonderen Stellenwert im konföderierten Nationsbildungsdiskurs ein.29 Während sich Ökonomie und Gesellschaft im Norden der USA ab Beginn des 19.  Jahrhunderts rasant industrialisierten

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blick auf die Sezession und den Krieg von einer „Revolution of 1861“ (Stewart, Geography (wie Anm. 18), 41) bzw. einem „War of Independence“ (ebd., 42 f.) die Rede (auch ebd., 41–43, 184; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 18, Abs. 3, 20, Abs. 5, 24, Abs. 5, 25, Abs. 6, 29, Abs. 5; Richard Sterling / James Campbell, Our Own Third Reader. For the Use of Schools and Families. Greensboro/Richmond 1862, 61). Zur Amerikanischen Revolution bzw. zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775–1783) vgl. Horst Dippel, American Revolution, in: USA-Lexikon. 2. Aufl. 2013, 102–105. Samuel Lander, Our Own School Arithmetic. Greensboro 1863, 219, Nr. 86; Charles Leverett, The Southern Confederacy Arithmetic for Common Schools and Academies, with a Practical System of Book-Keeping by single Entry. Augusta 1864, 20, Nr. 37–38, Nr. 40; Charles Smythe, Our Own Elementary Grammar, intermediate between the Primary and High School Grammars, and especially Adapted to the Wants of the Common Schools. Greensboro 1863, 51; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 41. Hierzu Bennington, Visions (wie Anm. 3), 9; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 14; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 11, 14. Washington Baird, The Confederate Spelling Book. Interspersed with choice Reading Lessons in Poetry and in Prose – at once to Please and Instruct – many of them Conveying valuable Information and well Calculated to Make a fine Moral Impression. Macon 1864, 156; Branson, Composition (wie Anm. 18), 13, Nr. 2, 17 f., 19, Chapter VIII, Nr. 6, 22, Nr. 12; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 46 f., 79 f.; Adelaide De Vendel Chaudron, Chaudron’s Spelling Book, carefully Prepared for Family and School Use. 4. Aufl. Mobile 1865, 12; Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 166–168; Lemuel Johnson, An Elementary Arithmetic, Designed for Beginners. Embracing the first Principles of the Science. Raleigh 1864, 34, Nr. 7, 43, Section VIII, Nr. 7, 38, Nr. 12, 44, Nr. 6, 51, Nr. 14; Leverett, Confederacy Arithmetic (wie Anm. 26), 122, Nr. 5; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 20, Abs. 5, 21 f., Abs. 4, 25, Abs. 6, 27, Abs. 8; Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 42, 44; Smythe, Elementary Grammar (wie Anm. 26), 11, 14, 20, 32, 51, 92, 109, 123; Sterling/Campbell, Third Reader (wie Anm. 25), 61, 152; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 42, 184, 190; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 159. Zitat aus Johnson, Elementary Arithmetic (wie Anm. 27), 38, Nr. 12. Hierzu Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 196; Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 273; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 322 f.; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 34. Samuel Lander, The Verbal Primer. Greensboro 1865, 27. Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 270; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 3), 751.

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und urbanisierten, bildeten im Süden der enorm profitable Anbau und Export landwirtschaftlicher Güter, insbesondere der Baumwolle, das Zentrum von Wirtschaft und Gesellschaft.30 Dreh- und Angelpunkt war dabei seit dem 17. Jahrhundert die Sklaverei: 1861 machten Sklaven über 40 Prozent der Bevölkerung des Südens aus und waren die wichtigste Produktionsgrundlage der südstaatlichen Landwirtschaft.31 Für die Konföderation stellte die Sklaverei somit „the new nation’s ‚cornerstone‘“ dar und sollte nachhaltig als Institution bewahrt werden,32 was nun, unabhängig von abolitionistischer Kritik aus dem Norden, besser möglich schien – auch mithilfe konföderierter Schulbücher.33 Deren Ziel war es daher zunächst, die Alltäglich- bzw. Selbstverständlichkeit der Sklavenhaltung innerhalb des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems der CSA zu verdeutlichen.34 In Übungssätzen in Grammatiken und Fibeln (zum Beispiel: „In Sep-tember you may see the ne-groes pick-ing cot-ton. […] [T]hey pick the white cot-ton from the pods, and throw it in-to the bas-ket.“35) sowie Rechenaufgaben (wie: „Mr. Tillett 30

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Bernath, Minds (wie Anm. 5), 38 f.; Burton, Society (wie Anm. 10), 1019; Catherine Clinton, Plantation, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 821–825; Mary Decredico, Economy, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 351–356; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm.  4), 43; Jordan, Community (wie Anm.  8), 102 f.; McPherson, Freiheit (wie Anm.  3), 71–133; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 3), 751; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 3–21. 1860 lebten weniger als zehn Prozent aller Südstaatler in Städten, 80 Prozent waren im Agrarsektor tätig; infrastrukturell und industriell blieb der Süden hinter dem Norden zurück, da die meisten Exportprofite direkt wieder in Land und Sklaven reinvestiert wurden (ebd.). Decredico, Economy (wie Anm. 30), 351; Engs, Slavery (wie Anm. 10), 979, 982; McPherson, Civil War (wie Anm. 3), 228 f.; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 88–91, ferner 71–191; Jörg Nagler, Slaverry, in: USA-Lexikon. 2. Aufl. 2013, 984–987. Zwei Drittel der Baumwolle des Weltmarktes wurden im Süden, vor allem durch Sklavenarbeit, produziert (Engs, Slavery (wie Anm. 10); McPherson, Civil War (wie Anm. 3), 228). Bennington, Visions (wie Anm. 3), 10; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 103; Faust, Confederate Nationalism, 58–60, 72; Rubin, Shattered Nation (wie Anm.  3), 100 f. Zitat aus Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 59. Bernath, Minds (wie Anm.  5), 103; Carroll, Publishers (wie Anm.  5), 197; Engs, Slavery (wie Anm.  10), 983; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm.  4), 62; Kuebler-Wolf, Train Up (wie Anm. 7), 38–41; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 987; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 33; Larry Tise, Antislavery, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 40–42, hier 41; Larry Tise, Proslavery, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 866–869, hier 866. Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 44. Nicht nur die Kinder der etwa ein Drittel der Südstaatler ausmachenden sklavenhaltenden Pflanzerelite sollten als zukünftige Sklavenhalter erzogen, sondern auch Kinder der nichtsklavenhaltenden Bevölkerungsmehrheit mit der Sklaverei vertraut gemacht und diese als positive Errungenschaft dargestellt werden (Burton, Society (wie Anm. 10), 1015; Engs, Slavery (wie Anm. 10), 982, 979; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 72, 74 f.; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 14, 17; Kuebler-Wolf, Train Up (wie Anm. 7), 30; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 987; Watras, American Education (wie Anm. 8), 99 f.). Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 100. Hinweis: Bindestriche und Kursivschreibungen in den angeführten Schulbuchzitaten sind, da es sich um Ausspracheübungen handelt, jeweils Teile des Originalzitats.

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had eleven slaves, five of whom were women; how many of them were men?“36) waren Sklaven und deren Arbeit bzw. Präsenz im Farmalltag beliebte Beispiele.37 Darüber hinaus bildete ein zentrales Narrativ die Darstellung alltäglich-vertrauter, emotionaler Beziehungen von Pflanzerkindern zu Sklaven. Entgegen abolitionistischer Kritik, die Sklaverei korrumpiere Kinder in ihrer Moral und mache sie zu autoritären Tyrannen, stellten konföderierte Schulbuchautoren die Sklavenhaltung explizit als positives Sozialisierungs- und Erziehungsinstrument dar.38 Einige Fibelgeschichten porträtierten Sklaven daher als die Kinder ihrer Besitzer unterstützende sowie mit ihnen arbeitende und den Farmalltag verbringende familiäre Wegbegleiter und Freunde.39 In anderen Geschichten wurden Sklaven als fürsorgliche, liebevolle Aufpasser dargestellt. So berichtet ein kleines Mädchen in einem Lesetext: „[M]y doll fell in the wa-ter. I was so sor-ry that I be-gan to cry; but […] old Tom […] came with his rake, and fish-ed her up.“40 36 37

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Samuel Lander, Our Own Primary Arithmetic. 2. Aufl. Greensboro u. a. 1863, 16, Nr. 4. George Bidgood (Hrsg.), The Confederate Spelling Book, with Reading Lessons for the Young, Adapted to the Use of Schools of our Private Instruction. 5. Aufl. Richmond 1865, 85–87; George Browne, Browne’s Arithmetical Tables, Combined with easy Lessons in Mental Arithmetic. For Beginners. Atlanta 1865, 26, Nr. 10, 27, Nr. 3, Nr. 6; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 54; Adelaide De Vendel Chaudron, The Second Reader, Designed for the Use of Primary Schools. Adopted for Use in the Public Schools of Mobile. (Chaudron’s Series.) 2. Aufl. Mobile 1864, 25 f., 29 f., 49–51, 54, 56 f.; Chaudron, Spelling Book (wie Anm.  27), 12, 29; Adelaide De Vendel Chaudron, The Third Reader, Designed for the Use of Primary Schools. Adopted for Use in the Public Schools of Mobile. (Chaudron’s Series.) Mobile 1864, 17, 34, 36, 85, 87, 93; Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 36; Lander, Primary Arithmetic (wie Anm. 36), 16, Nr. 4; Lander, School Arithmetic (wie Anm. 26), 135, Nr. 2, 136, Nr. 18, 171, Nr. 5; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 22; Leverett, Confederacy Arithmetic (wie Anm. 26), 10, Nr. 5, 142, Nr. 7; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 23, 28, 41 f., 100; Richard McAllister Smith, The Confederate First Reader. Containing Selections in Prose and Poetry, as Reading Exercises for the Younger Children in the Schools and Families of the Confederate States. Richmond 1864, 29; Richard Sterling / James Campbell, Our Own First Reader. For the Use of Schools and Families. Greensboro/Richmond 1862, 7; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 28, 96. In allen untersuchten Grammatiken und einigen Fibeln finden sich zudem in Vokabeltabellen und Wortlisten Begriffe wie „slavery“, „negroes“, „master“, „mistress“ oder „overseer“, oft als dichotome Paare (Adelaide De Vendel Chaudron, The First Reader, Designed for the Use of Primary Schools. Adopted for Use in the Public Schools of Mobile. (Chaudron’s Series.) 2. Aufl. Mobile 1864, 42; Chaudron, Spelling Book (wie Anm. 27), 46; J R Keiningham (Hrsg.), The Virginia Speller and Reader. Richmond 1865, 39, 69, 82; Smythe, Elementary Grammar (wie Anm. 26), 25 f.; Charles Smythe, Our Own Primary Grammar for the Use of Beginners. Greensboro u. a. 1861, 18; Richard Sterling / James Campbell, Our Own Spelling Book. For the Use of Schools and Families. 3. Aufl. Greensboro/Richmond 1863, 56; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 21 f., 26). Kuebler-Wolf, Train Up (wie Anm. 7), 29–35. Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 25 f., 29 f., 49–51, 56 f., 61–63; Chaudron, Third Reader (wie Anm. 37), 22; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 13, 22, 27, 36; Marinda Branson Moore, The First Dixie Reader. Designed to Follow the Dixie Primer. Raleigh 1863, 22, 38–40; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 23. Dabei erhielten Sklaven oftmals Kosenamen wie „Uncle“, „Aunt“ oder „Old“ (ebd.). Hierzu Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 23 f., 26. Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 62, Abs. 8. Ebenso ebd., 51, 56, Nr. 11, 57, Nr. 12, 61, Abs. 4; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 13. Hierzu Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 47; KueblerWolf, Train Up (wie Anm. 7), 40.

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Angesichts abolitionistischer Kritik an der Sklavenhaltung als brutale, unmoralische und unchristliche Institution sollte die Sklaverei aber auch als zivilisatorische Wohltat für die Sklaven selbst erscheinen,41 als ein humanitäres, gottgewolltes Werkzeug zur Zivilisierung und christlichen Missionierung der angeblich rassisch „unterlegenen“ Schwarzen zum Schutz dieser vor der „Wildheit“ und „Unzivilisiertheit“ ihrer ursprünglichen afrikanischen Heimat;42 so heißt es in Moores Geographical Reader: „The slaves who are found in America are in much better condition. They are better fed, better clothed, and better instructed than in their native country.“43 Das Argument des paternalistischen, seine Sklaven beschützenden und umsorgenden Sklavenhalters war daher ein häufig auftretendes Narrativ, wobei vor allem die gute Behandlung und Versorgung der Sklaven sowie ihr Christsein betont wurden; in der Leseübung „Old Aunt Ann“ aus Moores First Dixie Reader über eine alte, arbeitsunfähige Sklavin ist sogar davon die Rede, dass es Sklaven teilweise besser gehe als armen, im Alter auf sich allein gestellten Weißen: „[S]he is not like a poor white wo-man […]. Aunt Ann knows that her young Miss […] will take care of her as long as she lives […]. Ma-ny poor white folks would be glad to live in her house and eat what Miss Kate sends out for her din-ner.“44

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de Schweinitz, Waked Up (wie Anm. 7), 18–21; Engs, Slavery (wie Anm. 10), 983; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 60; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 987; Tise, Proslavery (wie Anm. 33), 866 f. Grundlage dafür bildete die Vorstellung der rassisch-biologischen sowie göttlich legitimierten „Minderwertigkeit“ der schwarzen „Rasse“ gegenüber Menschen weißer Hautfarbe (Bernath, Minds (wie Anm. 5), 46; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 17; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 984; Tise, Proslavery (wie Anm.  33), 867). So beinhalten alle untersuchten Geographiebücher „Rassenkunde“-Einheiten, in denen Weiße als fromm, zivilisiert und überlegen, Schwarze hingegen als brutal, wild, unzivilisiert und heidnisch dargestellt werden (Branson, Composition (wie Anm. 18), 92, Nr. 1; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 10, Abs. 1, Abs. 4, 36 f.; Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 46; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 31 f., 35; ebenso Chaudron, Third Reader (wie Anm.  37), 50, Nr.  18; Smith, Confederate First Reader (wie Anm.  37), 39 f.). Hierzu auch Brosnan, Representations (wie Anm. 7), 730 f.; Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 269 f.; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 23–26. Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 10, Abs. 1. Ebenso ebd., Abs. 5. S. dazu Bernath, Minds (wie Anm. 5), 46; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 60 f., 76; Frost, Thinking (wie Anm. 7), 13; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 47; Tise, Proslavery (wie Anm. 33), 866 f. Unterstrichen wird die Annahme einer göttlichen Legitimation der Sklaverei durch das ausführliche Zitieren von Bibelpassagen über diese in einigen der untersuchten Fibeln (Chaudron, First Reader (wie Anm. 37), 45 f.; Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 4 f., 57 f., 64, 71–73, 94 f., 127 f., 154 f.; Sterling/Campbell, Third Reader (wie Anm. 25), 211–222). Hierzu Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 182, 197; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 24, 81; Frost, Thinking (wie Anm. 7), 13; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 58; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 985; Tise, Proslavery (wie Anm. 33), 867; Wakelyn, Religion (wie Anm. 24), 901; s. auch Anm. 24. Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 22, 38–40; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 14, Abs.  4, 19, Abs.  6, 20 f., Abs.  5, 23, Abs.  2, Abs.  4; Moore, Primary Geography (wie Anm.  1), 43; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 100. Zitat aus Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 22. S. dazu Bernath, Minds (wie Anm. 5), 204; Davis/Parks, Geographies

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Als Beweis für diese Argumentation sowie um das abolitionistische Argument der fehlenden Effizienz der Sklaverei mangels Arbeitsmotivation der Sklaven zu entkräften, wurden diese als zufrieden, Spaß an ihrer Arbeit habend und demnach fleißig und motiviert dargestellt sowie als treue, ihre Besitzer liebende und loyal zur Konföderation stehende Partner und Helfer der Sklavenhalter porträtiert.45 So heißt es im Geographical Reader, dass die Sklaven „in time of war, […] generally remain quietly at home, while the master goes and spills his blood for his country.“46 In einer Leseübung im First Dixie Reader kehrt der Sklave Ned, der sich mit Frau und Kindern der US-Armee angeschlossen hat, sogar freiwillig in die Sklaverei zurück, da er „did not fare so well as he did at home wtth [sic!] his masster [sic!]“ und bei diesem lieber „‚all his life‘“ leben wolle.47 Die Sklaven selbst wurden somit als Fürsprecher der Sklaverei inszeniert48 – so antwortet der Sklave Tom in einer Geschichte in Samuel Landers Verbal Primer auf die Frage seiner Herrin, „wouldn’t you rather be free, uncle Tom, so that you could work for yourself?“, wie selbstverständlich: „Why, no, Miss; don’t you know master gives me every thing [sic!] I want, and takes care of me when I am sick? What do I want to be free for?“49

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(wie Anm. 10), 273 f.; de Schweinitz, Waked Up (wie Anm. 7), 22–25; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 75–79; Kuebler-Wolf, Train Up (wie Anm. 7), 33; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 30; Tise, Proslavery (wie Anm. 33), 867. Browne, Arithmetical Tables (wie Anm. 37), 26, Nr. 10; Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 49–51; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 22, 27, 36; Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 38, Abs. 1; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 14, Abs. 4, 19, Abs. 6, 20 f., Abs. 5, 23, Abs. 2; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 100. Manche Leseübungen handeln von Sklaven, die singend und lachend ihre Arbeit verrichten („Hark! how [sic!] mer-ri-ly they sing as they pick the white cot-ton from the pods“ (Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm.  22), 100)), diese stolz ihren Herren präsentieren („Aunt Sal-ly will be glad to show you how it is done. She is proud of her skill in the dai-ry, for her but-ter is ver-y nice.“ (Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 50)) und anschließend ein sorgenfreies Leben führen („When their task is done, there is noth-ing to trouble them.“ (Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm.  22), 100)). Hierzu Bennington, Visions (wie Anm.  3), 4, 41, 95, 111; Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 274; de Schweinitz, Waked Up (wie Anm. 7), 24; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 63; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 44; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 176; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 88. Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 19, Abs. 6. Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 38–40. Zitate ebd., 39. S. dazu Clinton, Plantation (wie Anm. 30), 824; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 3), 754; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 986. Bennington, Visions (wie Anm. 3), 4; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 63; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 44; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 176; Tise, Proslavery (wie Anm. 33), 867. Statt glücklichen, gerne arbeitenden und loyalen Sklaven hatten es Sklavenhalter in Wirklichkeit mit vielfältigen Formen des Sklavenwiderstands zu tun; zudem flohen tausende schwarze Leibeigene hinter die Unionslinien bzw. in den Norden, da die Sklaven meist schlecht versorgt sowie von ihren Besitzern vernachlässigt und mitunter brutal bestraft wurden (Clinton, Plantation (wie Anm. 30), 824; Engs, Slavery (wie Anm. 10), 981–991; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 71; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 176; Mitchell, Nationalism (wie Anm. 3), 754; Nagler, Slavery (wie Anm. 31), 986). Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 27. Zitate ebd.

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IV. „A little child may be useful“50 – Demoralisierungsprävention und Kriegseinsatzappelle für die „Heimatfront“ Die Konföderierten Staaten bildeten den Hauptkriegsschauplatz des Bürgerkrieges und sahen sich permanenten Invasionen von Unionstruppen, die ab 1864 verstärkt auch Zivilisten angriffen, zunehmenden militärischen Niederlagen und Gebietsverlusten ab Ende 1862, Kriegszerstörungen sowie einer gravierenden Versorgungs- und Wirtschaftskrise ausgesetzt, was starke Auswirkungen auf die Moral und Konföderationsloyalität der „Heimatfront“ hatte.51 Südstaatenkinder waren daher allzu regelmäßig mit oftmals äußerst belastenden Kriegserlebnissen konfrontiert,52 weshalb konföderierte Schulbücher gezielt versuchten, einer Demoralisierung ihrer jungen Leserschaft vorzubeugen. Zentral war dabei die Begleitung im Umgang mit den Erfahrungen von Tod und Verlust gefallener Angehöriger und Freunde sowie der Ungewissheit über deren Rückkehr.53 Zahlreiche Beispielsätze, Übungsaufgaben und Lesetexte versuchten Trost zu spenden, ihre Leser auf das etwaige Erleben von Verlusterfahrungen vorzubereiten sowie den Tod als göttlichen Willen oder patriotisches Märtyreropfer zu relativieren.54 50 51

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Sterling/Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 45. Drago, Phoenix (wie Anm.  5), 75, 86–90, 92, 97–101; Paul Escott, Morale, in: The Confederacy. Selection from the four-volume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 727–732, hier 727 f.; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 9 f., 12; Nagler, Kinder (wie Anm. 7), 53–57; Lisa Tendrich Frank, A „Fearful Family Quarrel“. The Union Assault on Southern Households as Battle Strategy, in: dies. / LeeAnn Whites (Hrsg.), Household War. How Americans Lived and Fought the Civil War. Athens, Georgia 2020, 137–154, hier 137–143; Lisa Tendrich Frank, Children of the March. Confederate Girls and Sherman’s Home Front Campaign, in: James Marten (Hrsg.), Children and Youth during the Civil War Era. (Children and Youth in America.) New York/London 2010, 110–124, hier 111–119. Zur wirtschaftlich prekären Lage der CSA und den daraus resultierenden Hungersnöten vgl. Burton, Society (wie Anm. 10), 1021 f.; Clinton, Plantation (wie Anm. 30), 822 f.; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 75–91; Escott, Morale, 730; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 420–445, 601–608; Nagler, Kinder (wie Anm. 7), 64; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 89– 94; Tendrich Frank, March, 113 f. Bernath, Minds (wie Anm. 5), 123 f.; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 9 f., 12; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 167–169; Ringel, Thrills (wie Anm. 7), 84 f. Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 39 f., 88, 102–107; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 10; Marten, Children’s Civil War (wie Anm.  7), 37; Sean Scott, „Good Children Die Happy“. Confronting Death During the Civil War, in: James Marten (Hrsg.), Children and Youth during the Civil War Era. (Children and Youth in America.) New York/London 2010, 92–109, hier 92 f. Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm.  27), 161, 180; George Bidgood, The Confederate Primer. 4. Aufl. Richmond 1864, 10; Bidgood, Confederate Spelling Book (wie Anm. 37), 16, 36; Branson, Composition (wie Anm. 18), 19, Nr. 3, 20, Nr. 11, 25, Nr. 2, 34, Nr. 13, 41, Nr. 6, Nr. 27; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm.  18), 21 f., 38 f., 80, 139 f.; Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 67 f., 90; Chaudron, Third Reader (wie Anm. 37), 73, Nr. 11, 85, Nr. 23; Abijah Fowler / Josiah Fowler, The Southern School Arithmetic; or, Youth’s Assistant. Containing the most concise and accurate Rules for Performing Operations in Arithmetic, Adapted to the easy and regular Instruction of Youth, for the Use of Schools, &c. Richmond 1864, 22, Nr. 43, 41, Nr. 40; J R Keiningham (Hrsg.), The Virginia Primer. Richmond 1864, 13, 23; Keiningham, Virginia Speller

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Schulbuchinhalte sollten zudem Zukunftsoptimismus verbreiten und den Glauben an ein baldiges Ende des Krieges mit dem Sieg der Konföderation hochhalten.55 In ihrem Geographical Reader betont Moore zudem die Improvisations- bzw. Durchhaltefähigkeit und den Zusammenhalt der Südstaaten als nationale Gemeinschaft in Anbetracht aller kriegsbedingten militärischen und wirtschaftlichen Widrigkeiten: „This is a great country. […] [W]e have learned to make many things; to do without many others; and above all to trust in the smiles of the God of battles. We had few guns, little ammunition, and not much of anything but food, cotton and tobacco; but the people helped themselves and God helped the people. We were considered an indolent, weak people, but our enemies have found us strong, because we had justice on one side.“56

Gott und die Gerechtigkeit wurden als auf der Seite der Konföderation stehend, deren Kampf legitimierend und dieser somit als nicht scheitern könnend dargestellt.57 Mithilfe von Appellen zum Gottvertrauen sowie vorformulierten Gebeten für den Frieden und den Sieg der Konföderation wie dem „National prayer for the Southern Confederacy“58 sollten Schulbuchleser zudem aktiv an der Unterstützung des Südens durch Gott mitwirken.59

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and Reader (wie Anm. 37), 15; Lander, School Arithmetic (wie Anm. 26), 160, Nr. 74, 174, Nr. 15; Leverett, Confederacy Arithmetic (wie Anm. 26), 13, Nr. 21, 202 f., Nr. 17; Marinda Branson Moore, The Dixie Primer, for the Little Folks. 2. Aufl. Raleigh 1863, 24, 28; Moore, First Dixie Reader (wie Anm.  39), 34 f.; Moore, Geographical Reader (wie Anm.  18), 14 f., Abs.  5, 27, Abs.  8, 29, Abs.  7; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 38; Smith, Confederate First Reader (wie Anm. 37), 38, 41; Smythe, Elementary Grammar (wie Anm. 26), 24, Nr. 68/2, 112, Nr. 251, 114, 116, 123, 125, 146, 148; Smythe, Primary Grammar (wie Anm. 37), 71; Sterling/Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 24, 37, 84 f.; Richard Sterling / James Campbell, Our Own Second Reader. For the Use of Schools and Families. Greensboro/Richmond 1862, 96–99, 148; Sterling/Campbell, Spelling Book (wie Anm. 37), 14; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 37, Nr. 1, 78, 109, 120, 125, 149, 152, Nr. 18, 155, 157, 159. Hierzu Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 273; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 24 f., 32, 34; Scott, Good Children (wie Anm. 53), 92–95, 106 f. Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm. 27), 183; Branson, Composition (wie Anm. 18), 19, Nr. 3, 23, Nr. 5; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 80; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 60, 80; Smith, Confederate First Reader (wie Anm. 37), 39; Smythe, Elementary Grammar (wie Anm. 26), 72; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 88, 94, 107, 156 f. Hierzu Bernath, Minds (wie Anm. 5), 283–285; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 90 f. So heißt es in einem exemplarischen Übungssatz, dass nach Beendigung des Krieges „the country recovered from its prostration“ (Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 88). Moore, Geographical Reader (wie Anm.  18), 13, Abs.  4, 14, Abs.  3; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 43. Hierzu Davis/Parks, Geographies (wie Anm. 10), 271; Escott, Morale (wie Anm. 51), 730; Reichstein, Civil War (wie Anm. 3), 232. Moore, Geographical Reader (wie Anm.  18), 14, Abs.  3, 26, Abs.  4; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 43. Hierzu Bennington, Visions (wie Anm. 3), 143 f.; Bernath, Minds (wie Anm. 5), 283; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 64; Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 30, 32; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 34, 42; Wakelyn, Religion (wie Anm. 24), 901. Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm. 27), 144. Ebd., 144, 157, 184; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 110; William Campbell / William Dunn, The Child’s First Book. By Campbell and Dunn. Approved by the Educational Association

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Aufgrund der Abwesenheit der meisten Väter als familiäre Hauptversorger und der Flucht zahlreicher Sklaven sah sich die südstaatliche „Heimatfront“ mit einem akuten Arbeitskräftemangel konfrontiert, den Kinder kompensieren und dabei zunehmend Aufgaben und Verantwortlichkeiten von Erwachsenen übernehmen mussten.60 Fleiß und Pflichterfüllung waren deshalb die entscheidenden Tugenden, die es mithilfe von Übungssätzen, Lückentextaufgaben sowie Lesetexten in Grammatiken und Fibeln zu vermitteln galt.61 In Form exemplarischer Geschichten und Dialoge vermittelte man überdies konkrete Handlungsvorschläge, wie selbst die Jüngsten ihre Eltern unterstützen konnten, zum Beispiel bei der Feldarbeit oder im Haushalt.62 Doch auch für die „nationale Gemeinschaft“ und den Sieg der Konföderation sollten Kinder ihren patriotischen Beitrag leisten; Schulbücher appellierten daher an die Unterstützung der Armen und Hilfsbedürftigen an der „Heimat-“ ebenso wie der Sol-

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of Virginia through their Committee. Richmond 1864, 32; Moore, Dixie Primer (wie Anm.  54), 24; Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 53–54; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 39; Moore, Primary Geography (wie Anm. 1), 46; Sterling/Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 82; Sterling/Campbell, Third Reader (wie Anm. 25), 176 f.; Stewart, Geography (wie Anm. 18), 43. Hierzu Faust, Confederate Nationalism (wie Anm. 4), 32; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 42; s. auch Anm. 24. de Schweinitz, Waked Up (wie Anm. 7), 22 f.; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 2, 61, 63 f., 66–68, 80 f.; Fahs, Imagined (wie Anm. 7), 273 f.; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 86, 108–116, 120 f.; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 149, 170 f.; Mintz, Huck’s Raft (wie Anm. 7), 126 f.; Nagler, Kinder (wie Anm. 7), 61, 63 f., 66–68; Ringel, Thrills (wie Anm. 7), 83; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 30 f.; Tendrich Frank, March (wie Anm. 51), 110; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 315–329; Whitescarver, School Books (wie Anm. 5), 42. Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm. 27), 20, 45, 114 f.; Bidgood, Confederate Spelling Book (wie Anm. 37), 17, 37, 58 f., 61–64, 72, 90, 104 f., 107–109, 128; Branson, Composition (wie Anm. 18), 17 f., 20, 22 f., 36–38, 82 f., 88; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm.  18), 27 f., 40, 54 f., 65, 81 f., 96, 102, 110 f.; Campbell/Dunn, Child’s First Book (wie Anm. 59), 38 f.; Chaudron, First Reader (wie Anm.  37), 35; Chaudron, Second Reader (wie Anm.  37), 58; Chaudron, Third Reader (wie Anm. 37), 35 f., 39, 52–54, 102, 122; Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 22, 26, 30, 34, 40, 45, 48, 53, 65 f., 68, 80, 130; Keiningham, Virginia Primer (wie Anm. 54), 17, 23, 32; Keiningham, Virginia Speller and Reader (wie Anm. 37), 20, 49, 63, 80, 89–93; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 5, 32, 38; Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 18; Moore, Geographical Reader (wie Anm. 18), 9 f., 20; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 24, 37 f., 45, 47, 51, 107; Smith, Confederate First Reader (wie Anm. 37), 22, 26, 32–34; Smythe, Elementary Grammar (wie Anm. 26), 19, 26, 37 f., 43, 63, 72, 115, 119, 124, 128, 138, 146, 148; Smythe, Primary Grammar (wie Anm. 37), 62, 72; Sterling/Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 11 f., 32 f., 79; Sterling/Campbell, Second Reader (wie Anm. 54), 18 f., 37 f., 62–68, 103, 117 f., 157–162; Sterling/Campbell, Spelling Book (wie Anm. 37), 41; Sterling/Campbell, Third Reader (wie Anm. 25), 67; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 16, 32, 81, 83, 109, 120, 127, 158. Browne, Arithmetical Tables (wie Anm.  37), 57, Nr.  2; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 27 f., 87 f.; Chaudron, Second Reader (wie Anm. 37), 30; Fleming, Spelling Book (wie Anm. 18), 24; Johnson, Elementary Arithmetic (wie Anm. 27), 29, Nr. 2, 50, Nr. 10; Lander, Verbal Primer (wie Anm. 28), 17 f.; Moore, Dixie Primer (wie Anm. 54), 16; Moore, First Dixie Reader (wie Anm. 39), 11, 44 f.; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 45; Sterling/ Campbell, Second Reader (wie Anm. 54), 26, 158; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 64.

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daten an der Kriegsfront.63 So handeln einige Lesetexte, Beispielsätze und Rechenaufgaben von Kindern, die für die Armen und die Soldaten an der Front Kleidung herstellen sowie Witwen und Waisen Nahrungsmittel oder Geld spenden,64 auch darauf abzielend, ihre Leser durch das Erregen kindlichen Mitleids sowie das Erinnern an das christliche Gebot der Nächstenliebe wie folgt zum Helfen zu mobilisieren: „Many a poor soldier will bless the hands that made him warm clothes […]. […] God speed the efforts of every little child, in adding to the comfort of every noble patriot soldier of the South!“65

V. Fazit Seit Beginn der Sezession 1860/61 forcierten konföderierte Bildungspolitiker, Autoren und Verleger die Schaffung einer genuin südstaatlichen, nationalen Identität, die die Konföderation auch auf intellektuell-literarischer Ebene als eigenständige Nation legitimieren sollte. Der zentrale Fokus konföderierter Nationalisten lag dabei auf der politischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen, wobei Dreh- und Angelpunkt die Produktion eigener, südstaatlicher Schulbücher als massenmediale Träger nationalistischer Propaganda war. Bei der Untersuchung von 35 dieser Lehrwerke konnten zentrale Narrativkomplexe identifiziert werden, die aus Sicht konföderierter Schulbuchautoren die legitimatorischen Eckpfeiler der neuen Nation bilden sollten. So wurden die Sezession des Südens und der Krieg gegen die Nordstaaten als unausweichlich zur Verhinderung einer „Unterwerfung“ durch den kriegstreibenden Norden sowie zur Bewahrung des Rechts auf Sklaveneigentum und damit zur Restauration der republikanischen Verfassungsprinzipien dargestellt, wobei konföderierte 63

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Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm.  27), 185; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 38, 80; Campbell/Dunn, Child’s First Book (wie Anm. 59), 31 f.; Sterling/Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 45 f. S. dazu Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 10, 12; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 39, 43, 50, 149, 177–185; Ringel, Thrills (wie Anm. 7), 84; Rubin, Shattered Nation (wie Anm. 3), 51; Tendrich Frank, Family Quarrel (wie Anm. 51), 140 f., 144; Tendrich Frank, March (wie Anm. 51), 112; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 258 f. Baird, Confederate Spelling Book (wie Anm. 27), 47; Bidgood, Confederate Spelling Book (wie Anm. 37), 16; Branson, Composition (wie Anm. 18), 20, Nr. 13, 22, Nr. 11, 26, Nr. 9, 80, Nr. 2, 84, 88; Browne, Arithmetical Tables (wie Anm. 37), 13, Nr. 10, 57, Nr. 2; Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm.  18), 21–24, 51 f., 68, 82, 84, 87 f., 132–136; Chaudron, First Reader (wie Anm.  37), 36; Chaudron, Third Reader (wie Anm.  37), 13 f., 77, 139; Johnson, Elementary Arithmetic (wie Anm. 27), 18, Nr. 8, 43, Nr. 7, 52, Nr. 26, 148, Nr. 8; Lander, Primary Arithmetic (wie Anm. 36), 26, Nr. 6, 49, Nr. 1; Moore, Dixie Primer (wie Anm. 54), 20 f.; Neely, Confederate States Speller & Reader (wie Anm. 22), 51, 80; Smith, Confederate First Reader (wie Anm. 37), 28, 41; Sterling/ Campbell, First Reader (wie Anm. 37), 71; Sterling/Campbell, Second Reader (wie Anm. 54), 40; Sterling/Campbell, Spelling Book (wie Anm. 37), 74; Worrell, Grammar (wie Anm. 18), 84, 109. Burke, Dixie Speller and Reader (wie Anm. 18), 88. Ebenso ebd., 87.

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Soldaten und Generäle als patriotische, siegreiche Helden glorifiziert und zu nationalen Identifikationsfiguren stilisiert wurden. Zentral war auch die Rechtfertigung der für den Süden enorm profitablen, im Norden aber scharf kritisierten Sklaverei, die als für Kinder selbstverständliche Alltagserfahrung und positives Sozialisierungsinstrument dargestellt wurde, aber auch als zivilisatorische und christlich-missionarische Segnung für die Sklaven selbst. Vor allem ab Ende 1862 mussten Schulbücher jedoch auch der militärisch und ökonomisch zunehmend prekären Lage der Konföderation Rechnung tragen und einer Demoralisierung ihrer Leserschaft entgegenwirken durch die Verbreitung von Sieges- und Zukunftsoptimismus, die Sensibilisierung für das Thema Tod und Verlust, aber auch mithilfe von Appellen zum „Kriegseinsatz“ an der „Heimatfront“. Der tatsächliche Effekt der untersuchten Schulbuchpropaganda auf die politische Erziehung konföderierter Kinder und Jugendlicher ist mangels entsprechender Quellen schwierig zu erfassen.66 Vielleicht vermögen zukünftige Forschungen, deren Einfluss aus Konsumentensicht näher zu beleuchten. Hierfür wird es unabdingbar sein, vor allem Egodokumente von Lernenden und Lehrenden zu betrachten. Eine epochenübergreifende sowie transnationale Verortung konföderierter Schulbuchpropaganda könnten darüber hinaus Vergleiche dieser mit Schulbüchern aus weiteren Epo-

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Coeckelberghs, Schulbuch als Quelle (wie Anm.  10), 10; Mahamud, Contexts (wie Anm.  9), 39; Marten, Children’s Civil War (wie Anm.  7), 66 f. Viele Kinder mussten ohnehin den Schulbesuch aussetzen, da ihre Arbeitskraft benötigt wurde; zudem wurden zahlreiche Schulen kriegsbedingt geschlossen und Lehrer eingezogen (Bernath, Minds (wie Anm.  5), 127, 133–135, 240 f.; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 50 f., 55–57; Frost, Thinking (wie Anm. 7), 30; Groen, Teaching (wie Anm. 7), 33; Marten, Children’s Civil War (wie Anm. 7), 53; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), 304 f.). Bereits vor dem Krieg betrug mangels einer einheitlichen Schulpflicht und Bildungsstandards die durchschnittliche Schulbesuchsrate im Süden nur knapp 50 Prozent, meist nicht länger als drei Monate pro Jahr; zudem gab es im Süden nur wenige öffentliche bzw. meist kostenpflichtige, aber unterfinanzierte und schlecht ausgestattete Landschulen – der Zugang zu höherer, weiterführender Bildung war meist nur den Kindern der wohlhabenden Pflanzerelite möglich (Brosnan, Representations (wie Anm. 7), 728; Drago, Phoenix (wie Anm. 5), 50; Groen, Teaching (wie Anm. 7), 23–25; Hyde, Schooling (wie Anm. 11), 2, 4–6, 25–27, 51–148; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 35; Jordan, Community (wie Anm. 8), 103–105; McPherson, Freiheit (wie Anm. 3), 15; Volo/Volo, Family Life (wie Anm. 7), xi, 278 f., 288, 290, 297 f., 304; Watras, American Education (wie Anm. 8), 88–90, 92, 100, 102, 109 f.; Watson, Dirty Black Beard (wie Anm. 24), 8 f., 12, 14). Allerdings waren im ländlich geprägten Süden aufgrund der oft weiten Entfernungen zur nächstgelegenen Schule andere, der landwirtschaftlichen Arbeit angepasste Formen des Lernens geläufig, vor allem der Heimunterricht (Groen, Teaching (wie Anm. 7), 25; Hyde, Schooling (wie Anm. 11), 1–3, 7–13, 21–23, 150, 166, 170; Jabour, Topsy-Turvy (wie Anm. 6), 34; Watras, American Education (wie Anm. 8), 107). Zum Bildungswesen in den Südstaaten bzw. den CSA vgl. Edward Campbell, Jr , Education. Primary and Secondary Education, in: The Confederacy. Selection from the fourvolume Macmillan Encyclopedia of the Confederacy, 1998, 359 f.; Frost, Thinking (wie Anm. 7); Groen, Teaching (wie Anm. 7); Hyde, Schooling (wie Anm. 11); Watras, American Education (wie Anm.  8), 87–112. Zweifelsohne wurden konföderierte Lehrwerke tausendfach gelesen, wie teils hohe Verkaufs- bzw. Auflagenzahlen einiger Schulbücher belegen (Bernath, Minds (wie Anm. 5), 199 f., 262, 266, 280; Carroll, Publishers (wie Anm. 5), 195 f.).

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chen der US-Geschichte67 sowie anderen Kriegsgesellschaften liefern. Fruchtbar wäre hier insbesondere der Blick auf die Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Es konnte vielleicht schon jetzt deutlich gemacht werden, dass konföderierte Schulbücher massenmedial bereits während des Amerikanischen Bürgerkrieges als dem Wegbereiter der „totalen“ Kriegsführung68 in noch nie dagewesenem Ausmaß als Werkzeuge nationalistischer Propaganda bzw. zur politischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen eingesetzt worden sind. Felix Paul Maskow, B. A., nahm zum Wintersemester 2016/17 ein Studium der Geschichte und Ethnologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf. Im vierten Universitätssemester wechselte er zum B. A.-Studium der Geschichte und des Öffentlichen Rechts, das er im Wintersemester 2020/21 mit einer Bachelorarbeit über Schulbücher als Mittel politischer Erziehung in den Konföderierten Staaten von Amerika abschloss. Seit dem Wintersemester 2020/21 studiert er Geschichte im M. A. an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Interessant wären hier Vergleiche mit Schulbüchern aus der Zeit des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges sowie mit solchen aus anderen im Prozess der Nationsbildung begriffenen Gesellschaften bzw. Staaten des 19. Jahrhunderts, ebenso ein Vergleich mit dem nordstaatlichen Schulbuchwesen während des Bürgerkrieges. Dies aufgrund der zunehmend industrialisierten und die zivile „Heimatfront“ stark beanspruchenden Kriegsführung (Reichstein, Civil War (wie Anm. 3), 232).

Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik Karlheinz Lipp Alexander Moritz Frey (1881–1957) arbeitete sein ganzes Leben als freier Schriftsteller Obwohl Frey pazifistisch eingestellt war, nahm er ab 1915 als Sanitäter am Ersten Weltkrieg teil Er diente im gleichen Regiment wie der Meldegänger Adolf Hitler Im Jahre 1927 veröffentlichte Frey seinen Antikriegsroman „Die Pflasterkästen“, der von der Kritik mit Remarques „Im Westen nichts Neues“ auf eine Stufe gestellt wurde Nach 1918 versuchte die NSDAP mehrmals Frey zur Mitarbeit anzuwerben – jedoch vergeblich Der Schriftsteller blieb als Demokrat auf Distanz zum Nationalsozialismus und musste daher im März 1933 flüchten, zunächst nach Österreich und 1938 in die Schweiz Während der Zeit des Exils lebte Frey in prekären Verhältnissen In seinen Werken beschäftigt sich der Autor mit dem Krieg und Hitler I. Einführung Alexander Moritz Freys Werk ist recht umfangreich: Romane, Kurzgeschichten, Erzählungen, Gedichte, Schriften zur Literatur und Kunst, eine Autobiographie, Drehbücher und sehr viele Rezensionen in Tageszeitungen – teils veröffentlicht, teils unveröffentlicht, teils datiert, teils undatiert.1 Dennoch gehört dieser Autor zu den vergessenen, unbekannten und verkannten Schriftstellern des letzten Jahrhunderts.2 Besonders zwei 1

2

Zu Freys Werkbibliographie: Katrin Hoffmann-Walbeck, Alexander M. Frey. (Allegorische) Phantastik und Groteske als Mittel der Zeitkritik. Frankfurt a. M. 1984, 447–464; Stefan Ernsting, Der phantastische Rebell Alexander Moritz Frey oder Hitler schießt dramatisch in die Luft. Zürich 2007, 203–228. Zu ersten biographischen Annäherungen an Frey: Hans J Schütz, „Ein deutscher Dichter bin ich einst gewesen“. Vergessene und verkannte Autoren des 20. Jahrhunderts. München 1988, 66–71; Armin Strohmeyr, Verlorene Generation. Dreissig vergessene Dichterinnen und Dichter des „Anderen Deutschland“. Zürich 2008, 173–187.

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Romane Freys werden immerhin bis in unsere Gegenwart hinein neu aufgelegt: Solneman der Unsichtbare von 1914 sowie Die Pflasterkästen aus dem Jahr 1929. Das letztere Werk zählt zu den wichtigen Antikriegsromanen der späten Weimarer Republik und wurde von einigen zeitgenössischen Kritikern in einem Atemzug mit Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues, ebenfalls aus dem Jahr 1929, genannt. Auch über den eigentlichen Zeitraum seiner Entstehung hinaus kann Freys Roman heute zur Herausbildung einer pazifistischen Grundhaltung beitragen.3 Im Folgenden werden die wichtigsten biographischen Abschnitte Freys (Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Exil in Österreich und in der Schweiz) dargestellt. Quellengrundlagen sind hierfür Auszüge aus dem belletristischen Werk des Autors sowie seine zeitgeschichtlichen Äußerungen zum 20. Jahrhundert. II. Freys Anfänge In seinem um 1939 entstanden Curriculum Vitae schildert Frey seinen Werdegang: „In München am 29. März 1881 geboren, stehe ich da als eine Mischung von süddeutschem und norddeutschem Wesen, von Rundschädel und Langschädel. Die Vorfahren meines Vaters, aus der Schweiz über den Rhein gewandert, waren im Badischen Steuerbeamte, Offiziere, evangelische Pfarrer; die meiner Mutter lebten droben im Mecklenburgischen, nahe der Küste als Offiziere, Geistliche, Apotheker und Gutsbesitzer. Mein Vater schlug aus der Art: er wurde Maler, dann ging er zur Bühne als Opernsänger, dann malte er wieder. Schließlich starb er 84jährig als Galeriedirektor in Mannheim; dort hatte er fünfzig Jahre vorher den Raoul in den Hugenotten und den Tannhäuser gesungen. – Bei einem Gastspiel an der kleinen Hofoper in Schwerin hatte er meine Mutter – 18jährige Tochter eines Gutsherren  – kennen- und lieben gelernt. Zwanzig Jahre später heirateten sie – man ließ sich damals viel Zeit – und riefen mich ins Leben. Ich blieb der einzige dieser Ehe, ein Spätgeborener; meine Eltern waren zusammen 100 Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Die doppelte Belastung mit evangelischen Geistlichen und preußischen Offizieren ist vielleicht daran schuld, daß ich beiden von Jugend auf aus dem Weg ging, so gut ich nur konnte. Die einen hatten mir zuviel Salbung und die anderen zuviel Schneid. […] Die Schule war schlimm – wie sie eben schlimm war in jenen Jahren in Deutschland. Mit Lernkram überbürdet, waren wir Gymnasiasten die reinsten Packesel, angetrieben von

3

Christoph Kleemann, Die Pflasterkästen von Alexander Moritz Frey. Die Bedeutung eines Antikriegsromans für das eigene Bewusstsein, in: Erich Maria Remarque Jahrbuch XXI, 2001, 65–72.

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den Stockschlägen der Lehrer, die darauf sahen, daß das ‚Klassenziel‘ und schließlich das Endziel, die Matura, erreicht wurde, koste es, was es wolle. […] Bei mir ging der Druck weiter; unter dem Druck der Familie, besonders unter dem Einfluß eines juristisch hoch geklommenen Onkels, begann ich Jura zu studieren, obgleich mich die Sache ankotzte vom ersten Tag an. […] Nach dreieinhalb Jahren fiel ich durchs Staatsexamen, ich war mit dem Entschluß hineingegangen, durchzufallen, der Entschluß fiel mir nicht schwer, ich konnte so gut wie nichts, ich gab mit großem Genuß weiße Blätter ab. […] Man wollte mich noch zur Ablegung irgendeines Doktorexamens bewegen. Aber ich widerstand. Ich begann inbrünstiger zu schreiben – zaghaft hatte ich es schon als Primaner getan – und veröffentlichte meine ersten Arbeiten in deutschen Zeitungen und Zeitschriften.“4

Frey zeigte also schon früh nonkonformistische Verhaltensweisen. Er vertrat ein pazifistisches Gedankengut – vielleicht eine Folge seiner großen Distanz zu den vielen Militärs in seiner Verwandtschaft. Das von Frey angesprochene Unbehagen gegenüber den Theologen in der Familie spiegelt sich in seiner antimilitaristischen Belletristik nicht wider. Eine Kritik an den vielen kriegsbegeisterten Pfarrern5 wäre möglich, jedoch fehlt dies ebenso wie die positive Erwähnung von evangelischen Friedenspfarrern6. Nach einigen frühen Veröffentlichungen arbeitete Frey an seinem ersten großen Roman Solneman der Unsichtbare Im Jahre 1909 las Frey in München einige Passagen dieses Werkes – und im Publikum saß Thomas Mann. Es sollte der Beginn einer großen Freundschaft werden, die bis zu Manns Tod 1955 andauerte. Nach dem Ersten Weltkrieg begegnete Frey dann Heinrich Mann. Auch zwischen diesen beiden Autoren entwickelte sich eine herzliche Beziehung.7 Freys Solneman der Unsichtbare8 erschien 1914 noch vor Kriegsbeginn. Ein Vorabdruck in der Neuen Züricher Zeitung wurde wegen des Krieges gestoppt. Bei dem Roman handelt es sich um eine phantastische sowie satirische Groteske. Der Milliardär Hciebel Solneman (d. i. rückwärts zu lesen, also: namenloS lebe icH) erscheint beim Bürgermeister, um den Park im Zentrum der Stadt zu kaufen. Über diesen reichen Mann weiß die bürgerliche Welt sehr wenig und dies ändert sich auch nach dem Kauf

4 5 6

7 8

Zit. n. Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 18 f. Die Rechtschreibung folgt dem Original. Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie 1870–1918. München 1974. Reinhard Gaede, Kirche – Christen – Krieg und Frieden. Die Diskussion im deutschen Protestantismus in der Weimarer Republik. Bremen 2018; Karlheinz Lipp, Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg. Ein Lesebuch. Freiburg 2013; ders , Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Lesebuch. Nordhausen 2014; ders , Der Thüringer Friedenspfarrer Ernst Böhme (1862–1941). Ein Lesebuch. Nordhausen 2010; ders , Religiöser Sozialismus und Pazifismus. Der Friedenskampf des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik. Pfaffenweiler 1995. Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 34, 39 f. Hoffmann-Walbeck, Frey (wie Anm. 1), 143–181.

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des Geländes nicht. Dies führt dazu, dass die Stadtbevölkerung nun erst recht mehr über Solneman erfahren möchte, zumal der Park von einer Mauer umgeben und daher nicht zugänglich ist. Nur zwei Personen können problemlos ins Parkinnere gelangen, die Artistin Sirene Golfström und der zerstreute Professor Lautenschlag. Das Treiben des Fremden wird immer undurchsichtiger und Frey demaskiert das Verhalten des deutschen Spießbürgertums im Kaiserreich. Schließlich stürmen die Bürger den Park und finden den verschollenen Leutnant Eckern-Beckenbruch – er sitzt nackt in einem Affenkäfig. Der städtische Justitiar Schlicksupp verliest Solnemans Abschiedsbrief. III. Frey als Sanitäter an der Westfront von 1915 bis 1918 – und in einem Regiment mit Adolf Hitler und Max Amann Im September 1915 meldete sich der Schriftsteller freiwillig zum Kriegsdienst – obwohl er ein Kriegsgegner war. Zugeordnet wurde er dem Offiziersstab der 8. Kompagnie des bayerischen Reserve-Infanterieregiments Nr.  16 (Regiment List) als Sanitäter. Dort begegnete Frey dem Meldegänger Adolf Hitler. Vermutlich ist Frey der einzige Autor von Friedensromanen, der eine längere Zeit mit dem späteren „Führer“ und obersten Kriegsherrn Hitler zusammentraf. In seinem Curriculum Vitae schreibt der Schriftsteller darüber: „Meine ersten Bücher kamen ein paar Jahre vor dem Krieg – und dann kam er, der uns alle verschlang, um den und jenen nach vier Jahren wieder auszuspeien. Ich gehörte zu ihnen – erstaunlicherweise. Es erstaunt mich noch heute, denn ich war 3 Jahre an vorderster Front und war nie verwundet, ein paar Kratzer abgerechnet. Links und rechts fielen sie, tot und zerfetzt waren sie, verröchelt sind sie mit dem Kopf in meinem Schoß, den Schweiß des Endes habe ich ihnen aus der bläulichen, vom letzten Zittern überhuschten Stirn gewischt – und bin selber dageblieben in dieser sinnlosen, dummen, brutalen Welt. Zufall. Zufall. Ich war als Sanitätsoffizier draußen, ununterbrochen im Westen in Nordfrankreich – und der Gefreite Adolf Hitler ‚kämpfte‘ neben mir. Beide gehörten wir dem Regimentsstab des 16. bayerischen Reserve-Infanterieregiments an. Wir kamen nicht weg aus der Hölle dieser schwersten militärischen Auseinandersetzungen des Weltkrieges, keinen Tag kamen wir fort aus der Atmosphäre Verduns und der Somme – etwa in die paradiesischen Gefilde Italiens oder Rumäniens.“9

Neben Hitler traf Frey auch auf seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Feldwebel Max Amann. In Freys Roman Die Pflasterkästen als Feldwebel Asam erwähnt, gehörte

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Zit. n. Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 47 f.

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Amann (NSDAP-Mitgliedsnummer: 3) als brauner Pressezar und Banker (Bayerische Hypotheken- und Wechselbank) zu den engeren Vertrauten Hitlers. Amann leitete ab dem 1. April 1922 den nationalsozialistischen Eher-Verlag in München und als Geschäftsführer das NS-Organ Völkischer Beobachter. Im Jahre 1923 nahm er am „Hitler-Putsch“ in München teil. Auf Amann geht der Titel von Hitlers Mein Kampf zurück. Als Finanzberater Hitlers verwaltete Amann die Tantiemen von diesem Werk Hitlers, das eine Auflage von ca. zehn Millionen im Eher Verlag erlebte. Es war vor allem Amann, der Hitler und sich selbst zu einem großen finanziellen Aufstieg verhalf. Ab dem Jahre 1933 fungierte Amann als Präsident der Reichspressekammer. Damit kam ihm eine wichtige Rolle bei der Zerschlagung der politisch unerwünschten Presse zu. An der innerparteilichen Ausschaltung der SA im Sommer 1934 („Röhm-Putsch“) beteiligte sich auch Amann. Innerhalb der NSDAP verteilte der Pressemogul großzügige Honorare für Publikationen an prominente Führungskräfte. Amanns persönliches Einkommen stieg – nach den Steuerakten – von 108 000 Reichsmark (1934) auf 3,8 Millionen Reichsmark (1942) – während Frey im Exil ab 1933 am Rande des Existenzminimums leben musste. Nach dem Ende des NS-Staates wurde Amann 1948 zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, jedoch schon 1953 entlassen. Er starb 1957, wenige Monate nach Frey.10 Über die beiden Nationalsozialisten Hitler und Amann schreibt Frey in seinem undatierten Manuskript Der unbekannte Gefreite – persönliche Erinnerungen an Hitler: „Während Hitler mit dem neu formierten Regiment von München aus im Oktober 1914 ins Feld ging, kam ich, der wesentlich älter war als er, nach fast einjähriger Ausbildungszeit im September 1915 zur Truppe. Obwohl dienstlich verschieden beschäftigt, kamen wir doch häufig miteinander in Berührung. Unseren Kompanien entzogen, waren wir beide dem Regimentsstab zugeteilt: er als Meldegänger im Gefreitenrang, ich zuerst als einfacher Sanitätssoldat, dann als Unteroffizier. Die Mannschaft des Regimentsstabes war eine verhältnismäßig kleine Gruppe, die den Wünschen der Offiziere unmittelbar unterstellt war. Hitler, als Befehlsempfänger, hatte Meldungen an Bataillonsstäbe und ähnliches zu überbringen, ich tat Dienst an der Seite des Regimentsarztes auf den Verbandplätzen oder in den Ruhequartieren als Schreiber. Übrigens gehörte auch Max Amann, späterer Direktor des berüchtigten Eher Verlages in München und prächtiger Bonze im Bezirk der Presse des Dritten Reiches, zu den Abkommandierten: Er hatte die Regimentskanzlei unter sich, war im Feldwebelrang, klein und ehrsüchtig, kriecherisch und schlau in der Behandlung der Vorgesetzten, brutal in der der Untergebenen. Er wollte von mir lernen, wie man auf literarischem und journalistischem

10

Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945 4. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, 14 f.; Hermann Weiß (Hrsg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich Frankfurt a. M. 2002, 21 f. Zum finanziellen Aufstieg Hitlers durch Amanns Hilfe: Wulf C Schwarzwäller, Hitlers Geld. Vom armen Kunstmaler zum millionenschweren Führer. Wiesbaden 2001, 86–95.

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Gebiet geschickt verfährt. Auf eine primitive Art begierig, aus seiner Ausbildung herauszukommen, benahm er sich, als habe er damals schon eine Nase dafür gehabt, es könne ihm später einmal ein hohes Amt im Bereich des Schrifttums winken. […] Hitler wirkte damals lang, weil er mager war, ein voller Schnurrbart, der später der neuen Gasmaske wegen gekappt werden mußte, verdeckte noch den häßlichen, meist verkrampften Schlitz des Mundes. […] ‚Sie waren im Sanitätsdienst? Warum haben Sie dem Mann nicht rechtzeitig Rattengift oder eine entsprechende Spritze gegeben?‘ bin ich mehrmals in den letzten Schreckensjahren fürchterlich  – halb im Scherz, halb im Ernst  – gefragt worden. Er war in meiner Behandlung, sie bestand nur darin, daß ich ihm irgendwelche Tabletten zu schlucken gab. […] Er gewann sich das Ohr des Regiments, und die Offiziere bauten darauf; er schwatzte nach ihrem Sinn, wenn er gegen die dummen Engländer kollerte, die den Saufranzosen die Geschäfte besorgten; aber kaputt würden ja doch alle miteinander gehen. Denn gegen die deutsche Leistung sei selbstverständlich auf die Dauer kein Kraut gewachsen, von seiten dieser Idioten schon gar nicht. Es war tatsächlich so: Er redete, schimpfte, trumpfte auf und verzerrte mit einem gewissen abgefeimten Geschick die wahre Sachlage schon damals [als] kleiner Gefreiter so und mit im Grunde den gleichen Worten, wie er es 25 Jahre später als uferloser Machthaber tat. Wenn behauptet wird, er sei feige gewesen, so stimmt das nicht. Aber er war auch nicht mutig, dazu fehlte ihm die Gelassenheit. Er war allzeit wach, sprungbereit, hinterhältig, sehr um sich in Sorge, alle Kameradschaftlichkeit war Kostüm, für den Einfachen und Naiven geschickt gewähltes Kostüm, um sich beliebt zu machen und um sich verblüffend in Szene zu setzen. Er kannte die Tricks, mit denen man den Burschen Brocken hinwarf, die sie gerne schluckten. Und er inszenierte die im Herzen eiskalte, nach außen brodelnde Komödie vielleicht nur zum Teil bewußt.“11

Frey wurde am 31. Dezember 1917 mit dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. Hitler erhielt, sehr ungewöhnlich für einen einfachen Gefreiten, am 8. August 1918 das Eiserne Kreuz 1. Klasse.12

11 12

Zit. n. Ernsting, Frey (wie Anm. 1), 49–54. Zu Hitlers Zeit im Ersten Weltkrieg: Ian Kershaw, Hitler 1889–1936. München 2013, 109–147; Peter Longerich, Hitler. Biographie. München 2015, 43–55; Volker Ullrich, Adolf Hitler. Biographie. Die Jahre des Aufstiegs. Frankfurt a. M. 2013, 64–89. Bei Kershaw und Longerich wird Frey nicht erwähnt, bei Ullrich einmal. Ausführlicher zu Wort kommt Frey bei Thomas Weber, Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit. Berlin 2012, 138–141, hier 190, 195.

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IV. Zwei Novellen und ein erster Roman Freys gegen den Krieg Bereits vor seinem Antikriegsroman Die Pflasterkästen veröffentlichte Frey zwei Novellen sowie einen Roman, die seine antimilitaristische Haltung ausdrückten. Zu den verbreiteten Erscheinungen einer Massenhysterie in den ersten Kriegsmonaten gehörte die Verdächtigung von Menschen, die angeblich für den Feind, besonders für Frankreich, Spionage betrieben. Unbewiesene, vermeintliche Verdachtsmomente genügten schon, um solche Personen einer wilden Hetzjagd durch den Mob auszusetzen. In diesem vergifteten Klima spielt Freys Der Paß, eine Novelle gegen den Krieg und die entsprechenden Begleitumstände, die 1915 in der Sammlung Der Gespensterkrieg erschien. Im Mittelpunkt steht dabei der Student Viktor Mann. Bei ihm wird ein Militärpass des Franzosen Viktor Montélié gefunden – und flugs wird Mann für einen feindlichen Franzosen gehalten. Die tobende Menge stürzt sich auf den Studenten, um ihn zu lynchen. Viktor Mann und Viktor Montélié – die Vornamen, die Initialen und der Jahrgang der beiden Männer sind identisch. Durch die Angleichung dieser beiden Menschen, eines Franzosen und eines Deutschen, ist daher die angebliche „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich hinfällig. Freys Friedensbotschaft geht dahin, dass vermeintliche „nationale Identitäten“ nicht existieren und kollektive Vorurteile überwunden werden sollen. So singt Viktor Mann auf offener Straße die Marseillaise.13 Freys erster Antikriegsroman Kastan und die Dirnen ereilte das gleiche Schicksal wie Heinrich Manns berühmter Roman Der Untertan über das Kaiserreich. Bereits vor dem Kriegsbeginn fertiggestellt, konnten beide Romane wegen der Kriegszensur erst 1918 nach dem Kriegsende erscheinen. Im Mittelpunkt von Freys Roman steht der Invalide Andreas Ammann, der von der Front in die Heimat zurückgeschickt wird. Er tötet zunächst seinen Kriegskameraden Karl Dobler, der Ammanns zahme Maus umbrachte und begeht dann Suizid. Frey problematisiert und vergleicht das Töten im Krieg – dafür werden militärische Auszeichnungen verliehen – mit dem Töten im zivilen Leben – dafür gibt es juristische Bestrafungen. Der Autor vermeidet patriotische Positionen sowie Impressionen von der Front. Im Jahre 1918 beging Freys Mutter Suizid. Sie hatte sich finanziell (Verlust des Vermögens als Kriegsanleihe) und körperlich (abhängig von Morphium) ruiniert. Johanna Patin und Frey heirateten am 1. April 1919. Nach anderthalb Jahren starb die Ehefrau an einer Krankheit.14 Im Jahre 1919 erschien Freys Novelle Verzweiflung (auch unter dem Titel Die Ernte) – eine direkte Vorläuferin seines genau zehn Jahre später publizierten Antikriegsromans. Freys Novelle gehört zur phantastischen Literatur, gleichwohl schildert der

13 14

Hoffmann-Walbeck, Frey (wie Anm. 1), 182–193. Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 60 f., 73.

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Autor sehr realistisch einige Szenen des Alltags an der Westfront. Hierzu gehört etwa die Schilderung von Schwerverletzten und Leichen: „Ihr Mütter und Geliebten gefallener Männer – euch blieb Schlimmstes erspart! Habt ihr eure Toten blaugrün und zum Bersten gedunsen gesehen, schauerlichste Spukgestalten nach dem Ende durch Gas? Habt ihr sie ohne Kinn und Lippen und Nase und Augen gesehen und dennoch lebend – lallend für kurze Zeit noch und lebend –, an Stelle des ganzen Gesichts eine blutige Fleischfläche, weil ein einziger Granatsplitter alles weggerissen hatte? Habt ihr sie nach den nächtlichen Besuchen der massenhaften Ratten gesehen? – Geht, ihr alle habt nie erfahren, welch schamlose Bestie der Krieg ist.“15

Mit den großen Themen Schuld und Töten im Kriege befassen sich die letzten Gedanken in Freys Novelle: „Ich hätte nicht töten dürfen. Ich nicht! Mir selbst habe ich ruchlos das Wort gebrochen, ich habe mich vergewaltigt, ich bin ein Verbrecher geworden. Der ich begnadet war zu erkennen, was gut und menschlich ist – ich habe die Gnade verraten an die Gewalt. Die Gewalt hätte mich ausgelöscht – vielleicht. Als Feigling wäre mir unrühmlicher Tod widerfahren. Aber ich Feigling hätte denen Mut gemacht, die auf meinem Wege gewesen sind. Und wenn hundert sich geweigert hätten zu töten, gleich mir, hätten sich auch tausend geweigert. Und wenn tausend widerstanden wären, wären zehntausend ihnen gefolgt. Und die Welt wäre weniger durchtränkt mit Blut, und der gute Same wäre gesät in aller Welt – und was hier um meine verruchten Knie verwest, hätte nicht unerbittlich die letzte Fahrt zu mir gemacht.“16

V. Deutliche Distanz zum frühen Nationalsozialismus Das Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete für Frey nicht das Ende der Begegnungen mit Hitler und Amann. Mehrfach versuchte die NSDAP, die am Anfang der Weimarer Republik kaum über den Großraum München hinaus bekannt war, Frey für ihre Agitation zu gewinnen – allerdings stets vergeblich. In seinem Manuskript Der unbekannte Gefreite erinnert sich Frey: „Nach Kriegsende in München, wo wir beide lebten, habe ich Hitler nicht mehr gesprochen, aber oftmals gesehen. Eine Zeitlang wohnten wir im gleichen Quartier. Ich begegnete ihm häufig in der Maximilianstraße, er kaufte seine Blätter am gleichen Zeitungsstand wie ich. Er kaufte viel Papier zusammen, vor allem die Berliner demokratischen Zeitun-

15 16

Alexander Moritz Frey, Verzweiflung, in: ders., Phantastische Geschichten, hrsg. von Winfried Freund. Stuttgart 1985, 14. Frey, Verzweiflung (wie Anm. 15), 22 f.

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gen, offenbar ein eifriger Leser der ihm feindlichen Presse. […] Wir begegneten uns auch manchmal im Café Heck, einem der drei Hofgarten-Cafés. Dort saß er samt einem halben Dutzend seiner Vertrauten. Er grüßte immer hastig, mit einer schnellen Blutwelle im Gesicht, wohl vom Abscheu gegen mich hervorgerufen, denn er wußte Bescheid. Er hatte mir seinen Max Amann geschickt, der es unternehmen sollte, mich für die Bewegung zu gewinnen. ‚Der Hitler macht es, glauben’s mir das Frey, – er macht es. Und Sie werden’s noch bereuen, indem daß Sie nicht auf mich hören wollen‘, sagte er mit seiner flinken, zischelnden Intrigantenstimme. Er bearbeitete mich mehrmals, lud mich ein zu den großen Versammlungen im Zirkus Krone, auf einen Ehrenplatz. Dieses ‚Sie werden es noch bereuen‘ war zwiefach auszulegen. Es konnte einfach heißen: Du stehst Deinem Glück im Wege, falls Du nicht die gewaltige Chance, in unserer Partei ein Amt zu übernehmen, ausnützen willst. Es konnte aber auch in abgefeimter Weise bedeuten: Wir werden eines Tages wegen deiner Weigerung mit dir abrechnen. ‚Es ist nämlich so‘, sagte er aus seinem dicken Zwergenkopf heraus, mit einem Zwinkern seiner wasserblauen Augen, ‚wer nicht für uns ist, den müssen wir glatt als gegen uns betrachten, besonders wenn es ein ehemaliger Regimentskamerad ist, der wo uns doch kennt und [um] seine kameradschaftlichen Verpflichtungen wissen muß.‘ Ich machte ihm unmißverständlich klar, daß die nationalsozialistische Weltanschauung nicht die meine sei. Ihm war bekannt, daß ich in demokratischen und sozialdemokratischen Blättern gedruckt wurde, und er verurteilte meinen ‚Dienst im Solde der Judenpresse‘ scharf. Ich verabschiedete ihn nicht weniger energisch.“17

Nach dem Vorbild des selbst ernannten Duce Benito Mussolini, der im Jahre 1922 durch einen „Marsch“ auf Rom in Italien an die Macht gelangte, wollte Hitler durch einen Putsch in München und einen sich anschließenden Marsch auf Berlin die politische Macht in Deutschland erlangen. Frey sah Hitler am Vorabend des Hitler-Putsches und entwarf ein interessantes Psychogramm des noch relativ unbekannten NS-Politikers: „Der Zufall hat gewollt, daß ich auf Hitler am Abend vor seinem Putsch im Bürgerbräukeller stieß. […] Er war allein, er schlich in der Verhaltenheit eines Raubtieres vor dem Sprung, und die Beute lockte in seinen Gedanken, er sah die Umgebung nicht; der böse, fanatisch glotzende Blick ging ins Leere, das heißt, er ging in die Fülle von teuflischen Visionen. Für mich war es, als habe er in dieser Abendstunde, umgeben von der Menge, die ihm später charakterlos und masochistisch dienen sollte, noch unverherrlicht von ihr und über sie wegsehend wie über Dreck, zu dem er sie später gemacht hat – als habe er in jener Stunde alle Ungeheuerlichkeiten, alle endlosen und zahllosen Verbrechen der kommenden Jahre konzipiert und schlafwandelnd in ihren fürchterlichen Grundzügen erschaut und durchdacht. So wenig er irgend jemand sah, bemerkte er mich, der einige Minuten neben ihm herging, denn diese infernalische Fratze wollte ich weiter beobachten.

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Zit. n. Hans-Albert Walter, „Der Meisterzeichner von Nachtstücken und Traumgesichten“. Alexander Moritz Frey – wiederzuentdecken. Frankfurt a. M. 1988, 251 f.

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Damals kam mir der Eindruck, den ich niemals mehr verlor: einen spintisierenden Abnormen, einen Geisteskranken in Halluzinationsverfassung gefährlich grübelnd heraufwachsen zu sehen. Er ging ohne Hut, das immer ölig schimmernde Schwarzhaar peinlich exakt gescheitelt, schlotterig steckend in einem gelben Trench-Coat. Seine Gesichtsfarbe glühte wider, wie von einem inneren Sieden rosig aufgeschwemmt. Die Reitpeitsche klatschte gegen die Mantelseite, von einer versteckt erregten Hand automatisch dirigiert. Die hochgehobene, wie ins Gesicht gepackte Nase stach gleich einem waffenartigen Werkzeug in die Welt, der lippenlose Mund war nach unten verkrümmt. Fünf Stunden später feuerte er seinen Pistolenschuß gegen die Decke des Bierkellers und schrie, die nationale Rrrrevolution [sic] sei ausgebrochen; solches geschah am 9. November 1923.“18

VI. Die Jahre 1927 bis 1930 Die ersten Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges brachten ein Aufblühen der Friedensbewegung und damit einhergehend frühe kriegskritische Titel mit sich.19 Nach dem langsamen Ende der Phase der relativen Stabilisierung und dem Übergang in die Jahre der Krise, Radikalisierung und der Zerstörung der Demokratie durch die politische Rechte entwickelte sich ein regelrechter Boom von Büchern über den Ersten Weltkrieg.20 In diesem Zeitraum erschienen unter anderem mehrere bedeutende Titel der pazifistischen Belletristik: Arnold Zweig, Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene (1927) Georg von der Vring, Soldat Suhren (1927) Siegfried Kracauer, Ginster (1928) Ludwig Renn (d. i. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau), Krieg (1928) Ernst Glaeser, Jahrgang 1902 (1928)

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Zit. n. Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 252 f. Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933. München 2017, 513–537. Kiesel, Geschichte (wie Anm. 19), 770–792 (zu Frey: 779, 781, 798); Michael Gollbach, Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur. Zu den Frontromanen der späten Zwanziger Jahre. Kronberg/Taunus 1978 (zu Frey: 249–251); Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart 1986 (zu Frey: 94 f., 99–101); Eckhardt Momber. ’S ist Krieg! ’S ist Krieg! Versuch zur Literatur über den Krieg 1914–1933. Berlin 1981 (Hier wird Frey nicht näher berücksichtigt.); Martin Rooney, Literatur und Pazifismus, in: Helmut Donat / Karl Holl (Hrsg.), Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Düsseldorf 1983, 256–260 (Hier wird Frey nicht näher berücksichtigt.).

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Schlump (d. i. Hans Herbert Grimm), Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt ‚Schlump‘, von ihm selbst erzählt (1928) Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues (1929). Verfilmt 1930 von Lewis Milestone. Ernst Johannsen, Fronterinnerung eines Pferdes (1929) ders., Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918 (1929). Verfilmt 1930 von Georg Wilhelm Pabst. Alexander Moritz Frey, Die Pflasterkästen (1929) Ernst Ottwalt (d. i. Ernst Gottwalt Nicolas), Ruhe und Ordnung (1929) Jakob Stab (d. i. Friedrich Dessauer), Die Versuchung des Priesters Anton Berg (1929) A. Artur Kunert, Kriegsfront der Frauen (1929) Heinrich Wandt, Erotik und Spionage in der Etappe Gent (1929) Karl Federn, Hauptmann Latour (1929) Hanns Weinberg, Staatsanwalt Dennoch (1929) Richard Hoffmann, Frontsoldaten Verdun – Arras – Flandern (1929) Heinrich Brandt, Trommelfeuer Symphonie der Kriegs-Toten (1929) Meta Scheele, Frauen im Krieg (1930) Rudolf Grillitsch, Ihr Kriegsdienst Der Kriegsroman eines Weibes (1930) Friedrich Griese, Der ewige Acker (1930) Adrienne Thomas (d. i. Hertha Strauch), Die Katrin wird Soldat (1930) Theodor Plivier, Des Kaisers Kulis Roman der deutschen Kriegsflotte (1930) Adam Scharrer, Vaterlandslose Gesellen (1930) Edlef Köppen, Heeresbericht (1930) Hans E. Hinzelmann, Der Freund und die Frau des Kriegsblinden (1930) Hanns Gobsch, Wahn-Europa 1934 (1930) Gerhard Uhde, Der Bibelrekrut (1930) Freys Roman ist also bestens eingebettet in das Spektrum der Antikriegsliteratur. Ergänzt wurde dies zudem durch internationale Dimensionen. In den Jahren 1926 und 1927 verlieh das Nobelkomitee die Friedenspreise im Sinne der deutsch-französischen Verständigung. Ausgezeichnet wurden 1926 die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Aristide Briand und Gustav Stresemann, und nur ein Jahr später der französische Friedensaktivist und Menschenrechtler Ferdinand Buisson sowie der deutsche Pazifist Ludwig Quidde.21 Durch den Briand-Kellog-Pakt (1928) sollte der Krieg grundsätzlich geächtet werden.

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Karlheinz Lipp, Die Friedensnobelpreise 1926 und 1927, in: Wissenschaft und Frieden 29/4, 2011, 41–43.

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VII. Freys Roman Die Pflasterkästen (1929) Im sozialdemokratischen Vorwärts erfolgte ein Abdruck in Fortsetzungen von Freys Roman – eine gute Werbung für den Autor und den Gustav Kiepenheuer Verlag. In diesem Verlag publizierten bedeutende Autoren und Autorinnen des linksbürgerlichen Milieus der Weimarer Republik: Bertolt Brecht, Joseph Breitbach, Lion Feuchtwanger, Marieluise Fleißer, Ernst Glaeser, Arthur Hollitscher, Georg Kaiser, Heinrich Mann, Joseph Roth, Anna Seghers, Ernst Toller, Arnold Zweig – und Alexander Moritz Frey, dessen Roman in einer Auflage von 20 000 Exemplaren und dessen Werk Das abenteuerliche Dasein (1930) in einer Auflage von 10 000 Exemplaren erschienen.22 Im Mittelpunkt des Romans Die Pflasterkästen steht der Feldsanitäter Christian Friedrich Funk, Freys Alter Ego. Im Herbst 1915 beginnt sein Einsatz an der Westfront des Ersten Weltkrieges im Großraum Lille und dann an der Somme.23 Schon zu diesem frühen Zeitpunkt stellt Funk den Krieg grundsätzlich infrage: „Immer mehr verliert sich das Gefühl, ein Soldat sei da, um Sinnvolles zu leisten. So viehmäßig ist das Ziel alles Soldatischen, der Krieg, daß er gewissermaßen nur ausbalanciert werden kann durch vollkommen sinnwidriges Dahinleben in den Mordpausen.“24

Über die eigene Motivation zum Kriegsdienst bemerkt Funk – nicht ohne Kritik an der Kriegspropaganda des Kaiserreichs: „Funk hat sich zum Krankenträger ausbilden lassen, weil er heimlich geschworen hat, den Irrsinn, auf Menschen zu schießen, nicht mitmachen zu wollen. Gegen die Darlegungen, sein ganz unschuldiges Land sei von Mordgesellen meuchlings überfallen, es gälte den Verteidigungskampf oder Versklavung und Tod – gegen solch pathetisches Gerede instinktiv mißtrauisch in einer Zeit, die ihm Beweise für oder wider sein Mißtrauen nicht heranbringen konnte, glaubt er nur in der Weise für die sämtlichen Verblendeten und Genasführten sich einsetzen zu können, daß er versucht, die Wunden und Verstümmelungen, die sie einander beibringen, mit heilen zu helfen. Aber Funk versagt, er ist unbrauchbar.“25

Große Gegensätze sieht Funk nicht so sehr zwischen den verschiedenen Armeen und ihren Soldaten, sondern vielmehr zwischen den einfachen Soldaten und ihren Befehlshabern innerhalb einer Armee:

22 23 24 25

Cornelia Caroline Funke, „Im Verleger verkörpert sich das Gesicht seiner Zeit“. Unternehmensführung und Programmgestaltung im Gustav Kiepenheuer Verlag 1909 bis 1944. Wiesbaden 1999, 169 (Anm. 186), 179. Zum historischen Hintergrund Gerhard Hirschfeld / Gerd Krumeich / Irina Renz, Die Deutschen an der Somme 1914–1918. Krieg, Besatzung, Verbrannte Erde. Essen 2006. Alexander Moritz Frey, Die Pflasterkästen. Ein Feldsanitätsroman. Coesfeld 2015, 28. Ebd., 43.

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„Der Oberst bleibt in Fournes, dort ist es geradezu herrschaftlich, dort gibt es ja noch Villen, die kaum einen Schuß bekommen haben, und Kasinoräume mit Teppichen, gedeckten Tischen und Polstermöbeln, von den feinen Betten ganz zu schweigen. Dort hocken auch die maschinenschreibenden eingebildeten Kompagniefeldwebel und tun ihren aufgeblasenen Kanzleidienst – kaum anders als ehemals in der Kaserne zu Hause. Die Sanität aber weilt hier vorne, mehr als eine Wegstunde ist es bis zu den Kanzleipalästen – und andere sind noch weiter vorn: sie, die ständig im Arm des Todes liegen. Doch da braucht der Kommandeur nicht mitzuhalten, er hat ja seine Meldegänger und Telephonisten. […] Die unverschämt bessere Lebensführung des Offiziers hat der deutsche Soldat lange geduldet, ohne aufzumucken. Er mußte erst ganz erschöpft und ausgeplündert sein, ehe er deutlich begriff, welche Dreistigkeit, welcher Hochmut, welch unkameradschaftliche Gier darin lag, selber gebratenes Fleisch vom weißen Teller zu essen und den anderen Rübenmarmelade aus dem Blech des Feldkessels futtern zu lassen – den anderen, der körperlich die größere Leistung vollbrachte und die kräftigste Nahrung verdient hätte. […] Aber nichts schadete ihm [Oberst Lang] so wie das, daß er nie in die vorderste Linie ging. Niemals, auch in den ruhigsten Zeiten, an harmlosesten Tagen nicht. Er besuchte nicht einmal die Regimentsbefehlsstelle, die immer noch einen guten Kilometer hinter dem Kampfgraben lag. […] Er beanstandete, wenn ein Gewehr nicht ausgerichtet an der Wand hing, wenn ein Feldkessel ohne Deckel da stand oder mit ungleich dicken Riemen an den Tornister geschnallt war. Er ritt in die Ruheunterkünfte, die rückwärts gelegenen. Er hielt jeden zweiten Mann auf der Straße an: ein Knopf war nicht fest genug genäht, die Achselklappe saß schief, die verhaßte Halsbinde fehlte gar ganz.“26

Funks Blick auf die Geschlechterbeziehungen beinhaltet im Ersten Weltkrieg auch das Verhältnis deutscher Soldaten zu französischen Zivilistinnen: „Das Herz schlägt freier, das Herz will sich wieder zuwenden den Schätzen der Welt. Eine kleine Herde Mädchen wäscht irgendwo Berge von Soldatenunterzeug innerhalb des Fabrikkomplexes. Mittags, wenn man vor der Küche ansteht, um Essen zu fassen, haben sie gerade freie Zeit und flanieren vorbei. Wie schön sie sind! Die Männeraugen, die seit langem keine junge Frau mehr gesehen haben, zittern vor Begier. Gibt es das: einen so kleinen Fuß, und wo kommt der kokette Schuh her? Gibt es das: eine so drollig gepolsterte Hand? – Sie lachen sehr keck, denn sie wissen: es kann ihnen nichts geschehen von diesen Frontsoldaten, die heute da sind, keinen unbewachten Schritt tun dürfen, wie Klosterbrüder, und morgen wieder verschwinden. […]

26

Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 39, 65. Zu Major Dusang, der nur an sich denkt, vgl. ebd., 184 f., 193.

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Eine brünstige Welle von Verlangen schlägt hinüber zu den jungen Tieren. Wenn die Soldaten vorne sind, zoten sie nie, hier macht Erregung sich in Derbheiten Luft. Sie rufen den Lippen und Schößen Dinge zu, die drüben gut verstanden werden – ohne daß ein Wort verstanden würde. Jene kichern, sie schütten sich aus in willenlosem Lachen, halb hingegeben, einige sogar werden rot. Ein paar Schamlose aber machen mit ihren beredten Fingerchen nicht mißzuverstehende Kunststücke. Wenn es das gäbe, Frauen zu erobern, zu umarmen durch die pure Intensität des Verlangens  – hier würden alle geschwängert werden. Das geht eine Woche so, dann sind die jungen Weiber mit eins vergessen, denn ungeheuer drängt sich in den Vordergrund das alte, das ewige Gespenst. Der Abmarsch ist da, der finstere, trostlose Gang nach vorn, durch einen kalten Oktoberregen, lichtlos, stumm, über schlammige Landstraßen in den noch viel ärgeren Lehm der Gräben.27

Bereits im Februar 1914 äußerte sich Erich Mühsam in prophetischer Klarheit zur Gewaltbereitschaft in einem bevorstehenden Krieg: „Denkt an die Eroberungen der Städte, wie die Soldaten, wochenlang keiner Schürze nah, sich mit geilen Nerven auf die fremden Frauen stürzen. Denkt an die innere Verwilderung des Einzelnen, der in ununterbrochener Angst um das eigene Leben täglich Sterbende und Leichen sieht, dem schon dadurch alle Raubtierinstinkte wach werden, und dem noch dazu stündlich gelehrt wird, daß das Umbringen von Menschen Tapferkeit sei“.28

Angesichts der vielen Toten des Ersten Weltkrieges möchte Funk eine klare, nicht beschönigende sprachliche Ausdrucksweise: „Wer gefallen ist, steht – er müßte schon besonderes Unglück haben – wieder auf. Die Gefallenen aber in den jahrelangen Schlächtereien sind, richtig benannt, nichts anderes als Ermordete. Selbst der sanftere Ausdruck ‚Getötete‘ wäre ungenau. Zu Millionen Gemordete – bei einwandfreiem Tatbestand, da keineswegs Überlegung und Vorsatz gefehlt haben, Leben zu vernichten. Wenn man, um der Wahrheit zu helfen, übereinkäme, nie mehr von Gefallenen, immer von Ermordeten zu reden – das könnte vielleicht die Neigung zum Kriegführen ausrotten, denkt Funk.“29

Der Blick des Sanitäters registriert nicht nur den Krieg und seine Folgen für die Menschen, sondern auch für die Tiere sowie deren sensible Wahrnehmungen:

27

28 29

Ebd., 44 f. Zu diesem Komplex Lutz Sauerteig, Sexualität, in: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2.  Aufl. Paderborn 2004, 836–838; Christa Hämmerle (Hrsg.), Gender and the First World War. Basingstoke 2014; Dagmar Herzog (Hrsg.), Brutality and Desire. War and Sexuality in Europe’s Twentieth Century. New York 2009; Monika Szcepaniak, Militärische Männlichkeiten in Deutschland und Österreich im Umfeld des Großen Krieges. Würzburg 2011. Zit. n. Karlheinz Lipp, Pazifismus im Ersten Weltkrieg. Ein Lesebuch. Herbolzheim 2004, 11. Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 143.

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„Und auf einmal sieht Funk etwas Unglaubliches. Ein ausgewachsener Gaul läßt sich auf die Knie nieder und versucht, unter den Wagen zu kriechen, neben dem er gestanden ist. Er macht Wackelbewegungen, als seien sie ihm vom Dresseur beigebracht. Er ist viel zu groß für den kleinen Raum da unten zwischen den Rädern. Er bleibt mit dem ganzen braunglänzenden, angstschweißübertrieften fliegenden Körper draußen, aber den Kopf am langgestreckten Hals schiebt er sehnsüchtig unter die Deichsel. Was ist ein Pferd? Und was bedeutet es gar im Hingemordetwerden von Millionen? Sein Benehmen zu dieser Stunde hat etwas Törichtes und sehr Komisches – hat etwas Rührendes und Erschütterndes und verkörpert die stummschreiende Qual aller kriegsgefolterten Kreatur von Europa.“30

Um die Entfernung von der Truppe und der Front zu bewerkstelligen, lassen sich kriegsmüde Soldaten einige Gründe einfallen, wenn nur die Flucht vor den Schützengräben gelingt: Geschlechtskrankheiten, Beingeschwüre, Blutvergiftungen, Durchfallerkrankungen durch häufiges Trinken von Rizinus, künstliche Verlängerung von Wunden und Selbstverstümmelungen. Als Sanitäter hat Funk entsprechende Erlebnisse.31 Den Antisemitismus – als berüchtigtes Beispiel gilt die Judenzählung im Heer von 1916  – bekommt auch der neue jüdische Regimentsarzt Dr.  Fünfer zu spüren.32 Berührend wird das Kriegsschicksal des Geigers Höberg geschildert, der erst seinen Arm verliert und dann stirbt.33 Mehrfach werden die tiefsitzenden Animositäten zwischen preußischen und bayerischen Soldaten dargestellt.34 Im Frühjahr 1918 versuchte die Dritte Oberste Heeresleitung Hindenburg/Ludendorff – de facto eine Diktatur – durch eine neue Offensive den Ersten Weltkrieg doch noch zu gewinnen. Sanitäter Funk wirft einen kritischen Blick auf diese Aktion: „Es soll so aussehen, als bringe uns bestimmt eine letzte Aktivität ans Ziel. […] So wenigstens erzählen die Offiziere in Vorträgen den Mannschaften, zu denen sie befohlen sind – sonst kämen sie bestimmt nicht. Sie kommen auch so nur widerwillig, hören halben Ohres zu, mehr müde als mißtrauisch; aber auch mißtrauisch, und vor allem gelangweilt und resignierend. Daß alles, was da noch in letzten Ruhequartieren geredet, was schon tätig begonnen wird, Gesten der Verzweiflung sein könnten, das will freilich keiner so richtig wahrhaben.“35

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Ebd., 161. Ferner ebd., 163 f. Zu den Animal Studies bezüglich des Ersten Weltkrieges: Rainer Pöppinghege, Tiere im Ersten Weltkrieg. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2014; Rolf Schäfer / Wolfgang Weimer, Schlachthof Schlachtfeld. Tiere im Menschenkrieg. Erlangen 2010. Ebd., 148–153. Ebd., 168–172. Zu diesem Komplex Ernst Piper, Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Bonn 2014, 315–367. Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 176–179. Ebd., 102, 182. Ebd., 172. Zur Offensive der Obersten Heeresleitung an der Westfront Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. Bonn 2014, 827–855.

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Die neuen Weisungen des Chefs des Generalstabes für den Sanitätsdienst kommentiert Funk höchst süffisant. Hierbei zeigt sich erneut die tiefe Verachtung eines einfachen Soldaten gegenüber seinem Vorgesetzten: „Drei eng betippte große Aktenseiten, einundzwanzig wichtigtuerische Punkte, die Funk bitter grinsend studiert. Wegen besserer Arbeitsteilung sei nur ein Truppenverbandplatz anzustreben. – In Wahrheit: weil euch die Mittel ausgehen. Die Verbandplätze müssen sich darauf beschränken, die Verwundeten schnell transportfähig zu machen. – Mach’ du mal jeden Durchlöcherten im Handumdrehen transportfähig. Tragen schonen, weil auf Nachschub von solchen aus der Etappe nicht zu rechnen ist!  – Es hat noch kein Träger eine Trage zerbrochen, an die Wand geschmissen oder kleingehackt. Der sie zerschmeißt und zerhackt, das ist die Allerweltsgranate. Und wenn sie’s getan hat, Herr Chef, ist Ersatz aus der göttlichen Etappe also nicht mehr zu erwarten. Erfrischungsstellen für zurückflutende Verwundete richten sie ein. Wie das klingt! Es wird sich bestenfalls um sogenannten Kaffee, verfertigt unter Vermeidung jeglicher Bohne, handeln. Beschilderung der Wege ist ‚rechtzeitig‘ durchzuführen. – Was heißt rechtzeitig? Darüber sollen die vorne sich den Kopf zerbrechen. Hauptsache, daß der Befehl glatt auf dem Papier steht. Kriegsgefangenen sind die Verbandpäckchen abzunehmen und zu benutzen, um eigene zu sparen.  – Und die Gefangenen, falls sie verwundet werden? Infolge der Gummiknappheit ist größte Schonung der Krankenautos geboten! Auf schlechten Wegen sind die Pferdewagen der Sanitätskompagnien zu benutzen. – Wo sind die Wege gut hier draußen, Herr Chef? Gerade auf den miserablen Straßen wären die federnden Autos angebracht und nicht Rumpelkästen mit Gäulen davor. Aber dringender als Schonung des Menschen ist Materialschonung. Verbandplätze und Lazarette des Feindes müssen ‚restlos erfaßt‘ werden. Erbeutetes Sanitätsmaterial ist ‚von außerordentlicher Bedeutung für die Verwundetenfürsorge‘. So weit sind wir. Wir müssen schauen, Stoffbinden zu ergattern, weil bei uns schon die Papierbinden rar werden.“36

Gerade als Sanitäter ist Funk sehr oft mit Verwundeten und Sterbenden umgeben. Der Tod gehört zum Kriegsalltag: „Funk fragt sich, ob das Schrecklichste, was in dieser erzwungenen Unmenschlichkeit liegen kann, eintritt: ob die Aufgegebenen erkennen, daß man sie bereits auf den Abfallhaufen wirft. […] So liegen viele in Reihen auf Heu, auf Matratzen, mit zerstörten Därmen, zerplatzten Harnblasen, zerhackten Lungen, zerschossenen Röchelhälsen, eisenversehenen Schädeln – die Aufgegeben. Sie werden nicht einmal weggeschafft, wenn die Rumpelkästen der Sanitätskompagnie angeprescht kommen, wenn die in Schweiß und Angst getauchten Fahrer und Begleiter ihre Wagen überstürzt füllen – in Angst deshalb, weil sie 36

Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 186 f.

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mit jeder weiteren Minute fürchten müssen, Artillerie bricht erneut los und über sie herein, während sie unterwegs sind. Nein – fortgeschafft werden zuerst die, die noch irgendwie dem Arzt Hoffnung geben, sie könnten mit dem Leben davonkommen. Aber auch sie kommen manchmal nicht mehr weit, sondern sehr schnell um.“37

Funks Fazit angesichts der vielen Verstümmelten und Leichen fällt gleichermaßen ernüchternd und erschütternd aus: „Wie es auf diesem Verbandplatz irgendeines Infanterieregiments zuging, so ging es ununterbrochen auf vielen Hunderten anderer deutscher Truppenverbandplätze zu, auf Tausenden an allen Fronten des Krieges – nicht mitgezählt die Scharen der Hauptverbandplätze von Sanitätskompagnien, der Feldlazarette, der Kriegslazarette, die nebeneinander aufgebaut, allein eine Weltstadt, eine Millionenstadt von Verstümmelter [sic] ergeben hätten.“38

Daneben werden im Roman immer wieder die Offiziere erwähnt, die nach Hause wollen – und es irgendwie durch Beziehungen schaffen, dem alltäglichen Wahnsinn der Front den Rücken zu kehren – und vielleicht sogar noch die Zahlung einer Rente ergattern können.39 Völlig desillusioniert erkennt der Sanitäter Funk die katastrophalen Zustände und die großen Mängel der verschiedenen Sanitätsbestände in seinem unmittelbaren Umfeld.40 Der amerikanische Kriegseintritt vom Dezember 1917 macht sich nun auf den Schlachtfeldern der Westfront immer stärker bemerkbar. Im Sommer 1918 erreicht die Kriegsmüdigkeit der deutschen Soldaten einen neuen Höhepunkt. Der Regimentsarzt und der Regimentskommandeur wollen kämpfen – aber nicht gegen andere Armeen, sondern gegen die eigene Oberste Heeresleitung. Funk schreibt schließlich einen wahrheitsgemäßen und schonungslosen Bericht über den tatsächlichen Zustand der Truppe.41 Ein weiteres Problem in der Endphase des Ersten Weltkrieges stellen die zunehmenden Auflösungserscheinungen der Armee dar. Soldaten wollen Befehle nicht ausführen und protestieren damit gegen den Krieg.42 Hinzu kommen Konflikte zwischen den Soldaten und ihren Vorgesetzten wegen lächerlicher Lappalien im Alltag.43 Eine Verweigerung gegenüber dem Krieg (etwa Desertion und Kriegsdienstverweigerung) spielt keine Rolle in dem Roman – eine wichtige Ausnahme bildet jedoch der 37 38 39 40 41 42 43

Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 190–192. Ebd., 196. Ebd., 199, 204. Ebd., 205. Ebd., 209 f. Ebd., 216 f. Zu dem Verhalten der Soldaten in der deutschen Armee Leonhard, Büchse (wie Anm.  35), 634–651 sowie Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914–1918. Göttingen 1998. Ebd., 221 f.

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Schluss des Buches. Es ist Funk selbst, der sich dem Krieg völlig entzieht. Der Sanitäter teilt dem leicht konsternierten Oberarzt in einem Gespräch mehrfach und entschieden diesen Schritt mit. Funks zentrales Fazit nach mehreren Jahren Krieg lautet: „‚Ich mache nicht mehr mit‘ ruft er außer sich. ‚Nicht als Gesunder, nicht als Kranker. Ich will, will die Wahrheit sagen – ich will sagen: Militär und Krieg sind die albernste, schamloseste, dümmste Gemeinheit von der Welt.‘ […] Er ist trotzdem auf dem Weg in das Dorf, in dem sein Bataillon liegt. Als er es wahrnimmt, macht er sofort halt und setzt sich an den Grabenrand. Ein schöner Herbsttag. Ein warmer Tag; über die Wiesen wellt ein sanfter verschlafener Wind. Was beginne ich? – Die Frage stumpft sich ab. Gar nichts beginnen, da sitzen, vor sich hinschauen, in die Ferne schauen, die Augen schließen, es ist gut so. Er wirft den Stahlhelm in den Graben, an der Sohle ist Wasser in ihm; glucksend geht das gewölbte Eisen unter. […] Funk läßt sich ohne Widerstreben ins Revier führen.“44

Mit Funks individueller Verweigerung endet Freys Buch. Hinweise zur Novemberrevolution gibt es nicht. Im Roman finden sich ferner keine Bezüge zur bürgerlichliberalen Friedensbewegung bzw. zum sozialistischen Antimilitarismus während des Ersten Weltkrieges.45 Freys Werk wurde mehrfach übersetzt, so ins Niederländische (Funk ziekendrager aan het Westelijk front. Utrecht 1929), ins Amerikanische (The Cross Bearers – A Story of the Medical Corps. New York 1930), ins Englische (The Cross Bearers. London 1931) und ins Polnische (Apteczka polowa. Warschau 1931). Dies muss als großer Erfolg für den Autor gedeutet werden. VIII. Rezensionen von Freys Roman Je nach politischer Couleur fielen die Reaktionen auf Freys Roman aus. Die Deutsche Allgemeine Zeitung, ein Organ der Schwerindustrie von der Ruhr, druckte die folgende Annotation: „Da Kriegsromane jetzt nun einmal sehr gefragt sind, ist es kein Wunder, daß jetzt auch ein Feldsanitäts-Roman anrückt. Aber nicht in der Absicht, die Wunden, die der Krieg schlug, zu heilen, sondern sie aufzureißen und mit dem Finger darin herumzubohren, damit die erschreckten Leser zum Schluß in den Schlachtruf, den der Autor ihnen heimlich souff-

44 45

Frey, Pflasterkästen (wie Anm. 24), 224 f. Karlheinz Lipp / Reinhold Lütgemeier-Davin / Holger Nehring (Hrsg.), Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892–1992. Ein Lesebuch. Essen 2010, 83–115.

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liert, einstimmen: ‚Nie wieder Krieg!‘ Der schriftstellernde Sanitäter arbeitet hier nicht mit sterilen, sondern mit tendenziös infizierten Instrumenten.“46

Frey wandte sich in einem Brief an diese Zeitung, der jedoch nicht abgedruckt wurde. Die Stellungnahme des Schriftstellers erschien daraufhin in der Zeitschrift Die Weltbühne: „Ich habe selbstverständlich von Ihrer Seite nur eine Ablehnung erwartet. Jedoch mir scheint, Sie machen es sich ein wenig zu leicht. […] Ich reiße nicht Wunden, die der Krieg schlug, auf, ‚um mit dem Finger darin herumzubohren‘ – sondern diese Wunden, denken Sie, sind allesamt noch nicht verheilt. […] Das könnte Ihnen so passen, diese Wunden als längst erledigt zu erklären (den Heeren von geistig und körperlich Verstümmelten sind die fehlenden Organe wieder gewachsen, wie?) alles in bester Ordnung zu erklären, damit Sie auf solch schöner Basis zu einem neuen Kriege blasen können. ‚Nie wieder Krieg!‘ souffliere ich? Ach, diese Losung erschiene mir viel zu schwach. Gegen die hätten Sie leichtes Spiel: man läßt die friedfertigen Rufer in solchen Rufen sich erschöpfen, belächelt sie und tut dann, was man für einträglich hält. Nein, wenn Sie mir schon eine Devise anhängen wollen, dann müssen Sie mich etwa mit dem Schrei: Krieg dem Kriege! abstempeln. Gegen Leute, die wie Ihresgleichen skrupellos über den heutigen Maschinenkrieg hinwegzutändeln versuchen, muß man es nicht mit beschwörenden Worten probieren, sondern mit Kampf. Ein ‚schriftstellernder Sanitäter‘ bin ich? Diese Bezeichnung ehrt mich, obwohl sie nicht stimmt, ich bin seit zwanzig Jahren Schriftsteller von Beruf. Ich arbeite ‚nicht mit sterilen Instrumenten‘, höhnen Sie? Gottlob, nein! Ihre Art, Dinge abzulehnen, die Ihnen nicht passen, ist freilich steril, aber das scheinen Sie ja für einen Vorzug zu halten. Wie arbeite ich also nach Ihrer Meinung? ‚Mit tendenziös infizierten Instrumenten‘. Ich bin demnach ein schriftstellernder Sanitäter, womit Sie meinen: schmierender Dilettant, der die Leser tendenziös infiziert, das heißt, sie mit Gift und Schwindel versieht. Ich war drei Jahre im Sanitätsdienst eines Infanterieregiments und immer an der Westfront. Ich habe diese Dinge, die ich niedergeschrieben habe, erlebt – und schlimmer erlebt, als ich sie niedergeschrieben habe. Ich kann diese Offiziere, die Champignons für Stäbe züchteten, statt sich der kranken Soldaten anzunehmen; die sich allein in einen Stollen verkrochen, wenn Artilleriefeuer kam; die einen Krankenträger bestrafen wollten, weil er das Sanitätsabzeichen nicht trug, das er nicht zu tragen hatte; die betrunken waren, wenn es darauf ankam, nüchtern zu sein – ich kann diese Offiziere benennen und habe Zeugen für die Wahrheit der geschilderten Vorgänge. Sollte ich eines Tages Namen aussprechen, so

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Deutsche Allgemeine Zeitung, 08.05.1929.

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wird die Deutsche Allgemeine Zeitung das Verdienst für sich beanspruchen können, mich durch Ihre Verdächtigungen auf diesen Weg gewiesen zu haben.“47

Zu den Schwerpunkten der Weltbühne und ihrem Leiter Carl von Ossietzky zählte die grundsätzliche Kritik am Krieg, dem Militarismus, dem Nationalismus und dem Aufstieg des Nationalsozialismus.48 Frey passte also politisch und publizistisch ausgezeichnet zur Weltbühne  – und es konnte daher nicht überraschen, dass Ossietzky höchstpersönlich Freys Die Pflasterkästen rezensierte. Der Chefredakteur der Weltbühne schrieb eine wohlwollende Rezension und lobte die vielen autobiographischen Bezüge des Autors in seinem Roman.49 Die Ärzteschaft hingegen fühlte sich durch den Roman persönlich angegriffen. Sie bekundete ihr Missfallen daran, wie der Autor die Ärzte darstellte. Besonders an der süffisanten Darstellung des Stabsarztes Dr. Lipp entzündete sich die Kritik. Dieser Mediziner hielt sich im Roman gerne und oft weit von der Front entfernt auf. Sein großes Hobby, das ihn mitten im Weltkrieg vollkommen ausfüllte – war die Zucht von Champignons in dunklen Kellern. Frey habe ferner seine Vorgesetzten diskreditiert, könne mit dem Patriotismus nichts anfangen und sei aus Feigheit zum Kriegsgegner geworden.50 IX. Gegen die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht Der Versailler Vertrag beendete für Deutschland die allgemeine Wehrpflicht. Die offizielle Zahl der Reichswehr sollte 100 000 Mann betragen. Im Rahmen der Revisionspolitik in der Endphase der Weimarer Republik erfolgte die Idee einer Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Gegen diese Überlegungen formierte sich Widerstand. So veröffentlichte die Gruppe Revolutionärer Pazifisten eine entsprechende Stellungnahme.51 Als führender Kopf dieser Friedensorganisation wirkte Kurt Hiller. Auch Frey unterzeichnete die Erklärung.52 Jenseits von Freys Unterschrift zu dieser

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Die Weltbühne 25/1. Halbbd., 1929, 879 f. Friedhelm Greis / Stefanie Oswalt (Hrsg.), Aus Teutschland Deutschland machen. Ein politisches Lesebuch zur „Weltbühne“. Berlin 2008, 57–114. Die Weltbühne 25/1. Halbbd., 1929, 686 f. Hoffmann-Walbeck, Frey (wie Anm.  1), 302. Zu den Medizinern Susanne Michl, Im Dienste des „Volkskörpers“. Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg. Göttingen 2007. Rolf von Bockel, Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik. Hamburg 1990, 158–161; Reinhold Lütgemeier-Davin, Die Verortung eines eigenwilligen Linksintellektuellen. Kurt Hiller zwischen Heroismus, Nationalsinn, Pazifismus und Sozialismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 69, 2021, 25–47. Die Weltbühne 28/2. Halbbd., 1932, 742 f.

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Resolution ist der Autor in der Friedensbewegung der Weimarer Republik nicht mehr hervorgetreten.53 X. Freys Satire von 1932 über Hitler Bei der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 gewann die NSDAP 37,3 Prozent der Stimmen und wurde mit 230 Mandaten erstmals stärkste Fraktion. Nur wenige Tage zuvor veröffentlichte Frey seine treffsichere Satire über den Führer dieser Partei – und die „Verführten“: „Es fing damit an, daß er in der Volksschule erkannte, wie leicht andre zu kommandieren seien. Anläßlich des Aufbaues eines Schneemannes entdeckte er seine Fähigkeiten – die in Wahrheit die Fähigkeiten der anderen waren. Er stand im Schulhof und verspürte wenig Lust, sich viel zu bücken und rote, nasse und kalte Hände zu bekommen. Mitzumachen trieb es ihn aber, er wollte keinesfalls ausgeschaltet sein – o ganz im Gegenteil, er wollte sich so einschalten in den Gang der Handlungen, die in diesem Fall nur auf einen Schneemann abzielten, daß er schließlich vom Ergebnis emporgehoben würde, distanziert gegen die andern und in irgendeiner Weise gezeichnet und ausgezeichnet. Er sah sofort, was die andern nicht sahen oder nicht sehen wollten: daß nicht alle gleichzeitig am Schneemann bauen konnten. Einige mußten das notwendige Material herbeischaffen – und er beorderte sie dazu. Sie gaben dem Druck seiner bestimmt herausgestoßenen Worte zögernd nach, aber als sie erst einmal angefangen hatten, sich keuchend mit dem Heranrollen von Schneeklumpen zu befassen, empfanden sie alsbald ihre Arbeit als die für sie gegebene. Er entdeckte: dies seien die wahren Kulis und die zuverlässigen. […] Zehn Jahre später, als er immer noch reichlich jung war, kam ihm durch ein Geschehnis seine Eignung zum Führer erst richtig ins Bewußtsein. Wieder war es Winter, und ein schweres Fuhrwerk war an einer Straßenbiegung in zusammengeschobenen Schneehaufen stecken geblieben. […] Da griff er ein. Er nahm einem Schneeschipper in der hintersten Reihe der Gaffer die Schaufel und reichte sie dem, der bisher mit seinen Händen das bißchen Schnee beiseite gekratzt hatte. Er tat gut daran, das Instrument weiterzugeben und sich nicht selbst mit ihm zu versuchen, denn er hatte keinerlei Erfahrung und Übung im Gebrauch von Schau-

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Zur Friedensbewegung in der Weimarer Republik: Reinhold Lütgemeier-Davin, Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das Deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik. Köln 1982; Karl Holl / Wolfram Wette (Hrsg.), Pazifismus in der Weimarer Republik. Paderborn 1981; Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, 138–204; Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933. Göttingen 1985, 143–236.

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feln. […] Die Leute horchten auf. Es fesselte sie weniger das, was er sagte, als daß überhaupt einer etwas sagte, und zwar ununterbrochen, unterstrichen und befehlerisch. […] Aus der hängenden Hand nahm jener die Peitsche, und als er sie hatte, erklärte er, während er sie leicht und fast anmutig in die Höhe hob, mit einer tönenden Stimme: nun müßten alle anpacken. Auf den letzten Mann käme es an! Er blickte mit schauspielerhaft drohendem Gesicht in die Runde. Es kamen zwar nicht alle bis zum letzten Mann, aber es lösten sich rasch einige aus dem Gafferkreis, hinter ihnen her schritten unsicher, dennoch widerstandslos mitgezogen, viele. […] Er fing an, die Menschen hämisch zu betrachten. Er fing an, umfassender zu spüren, wie bereit sie waren, auch auf eine unwissende Stimme zu hören, wenn sie es nur verstand, Sicherheit und Sachkenntnis vorzutäuschen. Er fing an, die Objekte, die seinen Aufstieg ermöglichen konnten, liebevoll zu verachten. Er beschloß in die Bahn des Politikers einzubiegen – nicht anders, als er mit dem Lastwagen und den schiebenden Männern in jene Straße eingebogen war.54

XI. Die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 Die Bücherverbrennungen in 22 deutschen Universitätsstädten am 10. Mai 1933 zählen zu den Schandtaten des NS-Staates an der Kultur. Eine Barbarei, die sich auch gezielt gegen die Friedensbewegung und die Antikriegsliteratur der Weimarer Republik richtete. Der 10. Mai stellte den Höhepunkt der nationalsozialistischen „Aktion wider den undeutschen Geist“ dar, und die zentrale Veranstaltung fand in Berlin statt. Nach einer Kundgebung der NS-Studierenden sahen Tausende von Schaulustigen den Fackelzug von Professoren (auch der Germanistik) in Talaren. Die eigentliche Bücherverbrennung begann gegen 23:30 Uhr mit dem Propagandaminister Joseph Goebbels auf dem Opernplatz (heute Bebelplatz). Studierende warfen die Bücher von 15 Autoren ins Feuer und brüllten dabei insgesamt neun Feuersprüche. Drei dieser Feuersprüche richteten sich konkret gegen die Pazifisten Friedrich Wilhelm Foerster, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky55 – nur sechs Jahre vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges.56 Auch Freys Die Pflasterkästen gehörte zu den verbotenen Büchern, die aus den Bibliotheken entfernt wurden. 54 55 56

Die Weltbühne 28/2. Halbbd., 1932, 134–137. Unberücksichtigt bleibt Freys Artikel bei Gerhard Schreiber, Hitler in der „Weltbühne“ – 1923 bis 1933, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung. Paderborn u. a. 1984, 313–330. Werner Threß, Verbrannte Bücher 1933. Mit Feuer gegen die Freiheit des Geistes. Bonn 2009, 46 f. Treß, Verbrannte Bücher (wie Anm. 55), 206–338. In Werken zur Bücherverbrennung wird Frey oft nur sehr kurz erwähnt. Eine etwas längere Würdigung erfährt der Schriftsteller bei Volker Weidermann, Das Buch der verbrannten Bücher. München 2009, 31–34.

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XII. Exil in Österreich Bereits die ersten Monate des Jahres 1933 stellten schnell, deutlich und unerbittlich die Weichen in Richtung Diktatur. Für Menschen, die kritisch zur NSDAP eingestellt waren, bedeutete diese Entwicklung eine existenzielle Bedrohung. Am 9. März wurde der Nationalsozialist Franz Xaver Ritter von Epp Reichskommissar (ab dem 10. April Reichsstatthalter) in Bayern. Nun wuchs die Gefahr für Frey in München deutlich. Nach seinen eigenen Angaben am 15. März, eventuell schon einige Tage vorher, besuchte er seinen Kollegen Alfred Neumann in Brannenburg (bei Rosenheim) – frühzeitig genug, denn seine Haushälterin Maria Senzig informierte Frey darüber, dass die SA die Wohnung durchsucht und demoliert hatte. Frey entkam einer Festnahme und Neumann schmuggelte ihn noch in derselben Nacht über die Grenze nach Österreich. Frey sollte Deutschland nie wiedersehen. Das erste offizielle Konzentrationslager in Dachau wurde nur wenige Tage später, am 20. März, errichtet. Freys erster Aufenthaltsort in Österreich war Innsbruck. Der Schriftsteller bezeichnete die Hauptstadt Tirols mit seinem sicheren politischen Gespür als „Nazihochburg“ – und wechselte bald nach Salzburg. In einem Brief vom 5. Mai 1933 an Thomas Mann schreibt Frey, dass auch im Salzkammergut der Nationalsozialismus auf dem Vormarsch sei.57 In den Jahren 1933 bis 1938 verfasste Frey seinen unveröffentlichten Antikriegsroman Der Gefallene steht auf mit einem Umfang von 619 Seiten. Mehrmals überarbeitete der Schriftsteller dieses Werk. Die Kopie der Endfassung befindet sich im Archiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main. Insbesondere die Politik des NS-Staates, die auf einen Krieg hinzielte, mag Frey bewogen haben, ein weiteres Werk gegen den Krieg zu schreiben. Freys Roman58 besteht aus vier Teilen und vereint viele Dialoge und Reflexionen mit der Handlung. Im Mittelpunkt steht die Kritik des Autors am Militarismus. Der unbekannte Soldat verlässt seine bewachte Ehren-Gedenkstätte und will die Menschen von der Fraglichkeit des soldatischen Heldentums überzeugen – und wird erneut erschossen. Der Graue (Feldgraue) ist körperlich schwer gezeichnet – und hier zeigen sich, wie in Die Pflasterkästen – Freys Erfahrungen als Sanitäter im Ersten Weltkrieg. Dem Soldaten fehlen ein Auge, ein Bein, zwei Finger und ein Oberarm. Der Schriftsteller weist auf die Vorbereitungen auf einen neuen Krieg hin und nennt konkrete Beispiele einer sozialen Militarisierung: Kasernen, Kriegsspielzeug, die Verbreitung von Soldatenliedern und die Erziehung zum Krieg im Unterricht. Die Aufrüstung fehlt ebenfalls nicht. Mit den „Gepanzerten“ verweist Frey auf die NSDAP – und ein Gesprächspartner des Grauen ist Hitler, auch wenn dieser nicht namentlich genannt, sondern als dämonischer Mann umschrieben wird. Eine weitere Verknüpfung zu dem Roman Die

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Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 23 f. Hoffmann-Walbeck, Frey (wie Anm. 1), 335–345.

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Pflasterkästen zeigt sich in den Dialogen des Grauen mit den Medizinern Dr. Pontopp sowie einem Generalarzt. Themen sind: neue Superwaffen, Steigerung der Leistungsfähigkeit der Soldaten durch Medikamente, Bedeutung der Luftwaffe im Krieg und eine bakteriologische Kriegführung. Den Sinn von Abrüstungsgesprächen negiert der Graue – vermutlich ist dies Freys Reaktion auf die gescheiterten Verhandlungen der Jahre 1931 und 1932.59 Berthold Jacob stand als kritischer Journalist, Pazifist und Jude gleich mehrfach im Visier des NS-Staates. Anfang März 1935 entführten Nationalsozialisten Jacob, der zu dieser Zeit in der Schweiz lebte, und brachten ihn nach Deutschland, wo er unter anderem in Berlin-Tempelhof im berüchtigten Columbiahaus drangsaliert wurde. Als Drahtzieher dieser Aktion wirkte der Gestapo-Agent Hans Wesemann.60 Frey verurteilte diese Tat und nahm dieses Beispiel des NS-Terrors auf, um Thomas Mann in Briefen eindringlich vor einer Reise nach Deutschland sowie einer Niederlassung in Wien zu warnen.61 Ebenfalls in der Salzburger Zeit entstand der Roman Hölle und Himmel, der 1945 in Zürich erschien.62 Die Hauptgestalt heißt – wie in Die Pflasterkästen – Funk, nur der Vorname lautet nun Alexander. Der Schriftsteller beschäftigt sich mit seiner eigenen Lebensgeschichte, besonders in den Jahren nach 1933. Mit der Figur von Wegwart entwirft Frey das Profil des typischen Mitläufers. Hitler als „Severin“ und Amann als „Bähmann“ tauchen wieder auf. In fiktiven Tagtraumdialogen treffen Severin und Funk aufeinander. Es gelingt dem Autor, Hitler als einen gefährlichen, narzisstischen Gewaltmenschen zu charakterisieren. Frey greift dabei auf seine Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zurück: „Viele Kameraden hingen an seinen Lippen. Sie hörten ihn gern sprechen. Er schimpfte und höhnte über Dinge, die ihnen Furcht und Ratlosigkeit und Wankelmut verursachten. Sich über solche Dinge für einen Augenblick grinsend hinwegsetzen zu können, dank der Beredsamkeit eines der Ihren, einstimmend in seinen Hohn, das tat wohl. Er versprach ihnen schon damals alles. Er sah, wie sie zu ihm aufschauten, weil er ihnen den Sieg malte. Und er malte ihn mit keifendem Eifer, weil er den Glauben an seine Person und sein Wort genießen wollte. Er steigerte seine Wirkung, so sehr es nur ging, wobei er in ein hitziges Spektakel geriet. Wie weit er sich künstlich befeuerte, um dann durch dieses Feuer wirklich in Brand zu geraten – wie weit er etwas sagte, um Glauben zu erwecken – und dann 59

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Rudolf Nadolny, Abrüstungsdiplomatie 1932/33. Deutschland auf der Genfer Konferenz im Übergang von Weimar zu Hitler. München 1978; Hans-Jürgen Rautenberg, Deutsche Rüstungspolitik vom Beginn der Genfer Abrüstungskonferenz bis zur Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1932–1935. Diss. phil. Bonn 1973. Charmian Brinson / Marian Malet (Hrsg.), „Warum schweigt die Welt?“. Die Entführung von Berthold Jacob. Eine Dokumentation. Bern 2014. Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 27. Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 59–99; Hoffmann-Walbeck, Frey (wie Anm. 1), 350– 360; Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 156–164.

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selber zu glauben, was er sagte, das ist schwer zu entscheiden, denn es floß und brodelte durcheinander.“63

Frey analysiert und kritisiert nicht nur die Verführer und ihre geschickte Propaganda, sondern ebenso die vielen politisch ahnungslosen, denkfaulen und dummen angeblich Verführten. Über diese, die dem NS-System zum Aufstieg verhalfen und es jahrelang stabilisierten, sagt Funk: „Ja, sie haben da einen Ausweg gefunden, einen Ersatz für das eigene weggeschaltete Hirn: sie lassen den und jenen mal denken. Und weil sie selber es durchaus nicht tun, merken sie nicht, daß auch jener es nicht eigentlich tut. Das heißt, er denkt schon ein wenig und dadurch kommt er dahinter, daß es falsch wäre, denen richtige Gedanken zu vermitteln, die beschlossen haben, ihn für sich denken zu lassen. […] Dann also tritt dieser Betraute hervor aus der Kammer und hin vor den Jammer, – und es wird eine Szene daraus wie die um den hohlen Baumstamm: der Propagandaminister furzt in die Tube, und die zu Lemuren Degradierten tanzen im Lärm und Gestank seiner Blähungen.“64

Frey verfügte über kein Vermögen. Da er in Deutschland nicht mehr veröffentlichen konnte, war er als Schriftsteller auf Publikationen in der deutschsprachigen Presse in Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei sowie auf Exilverlage angewiesen. Er konnte einige kleine Werke unterbringen, jedoch bedeutete dies keine Kompensation nach dem Wegfall der deutschen Verlage. Wie sein sozialer Abstieg aussah, schildert Frey deprimiert in einem Brief vom 10. Mai 1935 an Johann David Sauerländer – einen langjährigen Freund, der den Autor finanziell unterstützte: „Ich gehe seit sechs Jahren im gleichen Rock umher, meine Kleidung kann man allmählich als abgerissen bezeichnen. Meine Einkünfte haben mit diesem Jahr völlig aufgehört: ich habe keinerlei Honorar mehr erhalten und keinerlei Arbeiten mehr untergebracht. Ich lebe auf das Bescheidenste; das ist sicher wahr, gemessen an der Lebenshaltung der Kreise, zu denen ich bis heute noch gehöre. Gemessen am Leben derer, die unter den Brückenbögen hausen, lebe ich noch gut. Gehungert habe ich bisher nicht, wenn ich auch manchmal nur ein Stück Brot esse; aber noch ist das mein freier Wille.“65

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Alexander Moritz Frey, Hölle und Himmel. Mit einem Nachwort von Hans-Albert Walter. Hildesheim 1984, 286. Ferner: Walther Thaler, Hitlers Frontkamerad wurde vom Führer ins Schweizer Exil getrieben. Alexander Moritz Frey hinterließ in Salzburg fünf Jahre lang seine literarischen Lebensspuren, in: Zwischenwelt. Zeitschrift der Theodor-Kramer-Gesellschaft 35/3, 2018, 15–19. Frey, Hölle und Himmel (wie Anm. 63), 189. Zit. n. Eckart Früh, „Die Flucht geriet, sie ward nicht lang besonnen“. Alexander Moritz Frey im Salzburger Exil, in: Ursula Seeber (Hrsg.), Asyl wider Willen. Exil in Österreich 1933–1938. Wien 2003, 81.

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Im Jahre 1936 wurde Frey als vermeintlicher Kommunist denunziert und sein Zimmer durchsucht. Thomas Mann sorgte durch seine Fürsprache für eine Beendigung des Verfahrens.66 XIII. Exil und Tod in der Schweiz Am 15. März 1938, also nur wenige Tage nach dem „Anschluss“ Österreichs an den NSStaat, flüchtete Frey – unter unbekannten Umständen – in die Schweiz nach Basel. Das nationalsozialistische Deutschland veröffentlichte am 25. August 1933 die erste Ausbürgerungsliste. Fünf Jahre später findet sich Freys Name auf der Ausbürgerungsliste Nummer 71 vom 29. September 1938.67 Das Asylland wechselte, die Probleme blieben. Die unheilige Trinität des Elends im Exil bestand weiterhin: Hunger, Kälte, finanzielle Not. Problematisch verschärfte sich auch die seelische Situation: Vereinsamung und Depressionen. Basel empfand der Autor als eine spießbürgerliche Stadt. Die Fremdenpolizei in Zürich lehnte Freys Bitte nach einem Umzug in die größte Stadt der Schweiz ab. Seine offizielle Adresse blieb bis zu seinem Tod Basel, oft weilte er in Zürich bei seiner Freundin Gussy Warschauer-Gerson. Deutlich drastischer als in Österreich bekam Frey den Druck der Eidgenössischen Fremdenpolizei und der Schweizer Armee zu spüren, die ihm zu verstehen gab, dass er schlichtweg unerwünscht sei – und ihn überwachte. Lediglich Konrad Merz von der Basler Fremdenpolizei unterstützte den Schriftsteller gegen die Berner Bürokraten. Eine mögliche Ausweisung bedrohte Frey permanent. Es begann nun der jahrelange, äußerst zermürbende Kampf um die Aufenthaltsbewilligung und Einbürgerung.68 Die rigorose Flüchtlingspolitik im Rahmen der „geistigen Landesverteidigung“ (so der konservative Nationalrat Philipp Etter) der Alpenrepublik bekam auch Frey zu spüren. Die erfolgreichen Rettungsaktionen für Flüchtlinge des St. Galler Polizeihauptmanns Paul Grüninger, der deshalb vom Dienst suspendiert wurde, bildete eine der wenigen humanitären Ausnahmen.69 Kontakte zu deutschen Pazifistinnen und Pazifisten, die, wie Frey, in die Schweiz geflüchtet waren, knüpfte der Autor nicht. Besonders tatkräftig wirkte Ludwig Quidde (Koordination einer Hilfsorganisation für Geflüchtete, Teilnahme an Friedenskongressen in der Schweiz und in Frankreich), der bis zu seinem Tod 1941 in Genf lebte.70 66 67 68 69 70

Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 148; Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 33 f. S. das Faksimile bei Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 164 f. S. die entsprechenden Dokumente bei Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 176–189. Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. München 2015, 283–288; Kristina Schulz, Die Schweiz und die literarischen Flüchtlinge (1933–1945). Berlin 2012; Stefan Keller, Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe. 5. Aufl. Zürich 2013. Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie. Düsseldorf 2007, 511–588.

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Am 24. September 1947 veröffentlichte Frey in einem Beitrag für den Tages-Anzeiger (Zürich) die Namen der 88 deutschen Autorinnen und Autoren, die im Oktober 1933 dem Reichskanzler Hitler in einem Gelöbnis ihre rückhaltlose Unterstützung zusagten.71 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verbesserten sich Freys Publikationsmöglichkeiten etwas. Er rezensierte Bücher von schweizerischen Autoren aus schweizerischen Verlagen in schweizerischen Zeitungen. Diese Honorare und die Veröffentlichung von drei Büchern bildeten die finanzielle Basis des inzwischen über 70jährigen.72 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus stellte sich für Frey die Frage, ob er nach Deutschland zurückkehren würde. Eine Remigration stellte sich aus verschiedenen Gründen im Zeitalter des Kalten Krieges letztlich als aussichtslos dar. Obwohl Frey kein Kommunist war, lehnte er den permanenten Antikommunismus der westlichen Welt ab – und kritisierte das Bündnis der USA mit dem spanischen Diktator Franco. Es entwickelten sich zwei deutsche PEN-Zentren, PEN-Ost und PEN-West. Frey missbilligte dies und verstand sich als Mitglied des internationalen PEN mit Sitz in London. Die Menschen, die ins Exil getrieben wurden, sind bei ihrer Rückkehr nicht gerade begeistert begrüßt worden.73 Vermutlich war Frey menschlich gesehen zu müde, zu verbittert und zu resigniert, um eine Rückkehr ins Auge zu fassen.74 Kritische Stellungnahmen des Autors zur Remilitarisierung der Bundesrepublik liegen nicht vor.75 Erst Ende 1956 wurde Frey die schweizerische Staatsangehörigkeit verliehen – da war er nach einem Gehirnschlag schon sterbenskrank. Der „Schriftsteller unter Ausschluß der Öffentlichkeit“ (Frey über Frey) starb am 24. Januar 1957 in seiner kleinen Wohnung in Basel. Die Trauerrede im Krematorium von Zürich am 28. Januar 1957 hielt der Pazifist Walter Fabian. XIV. Fazit Alexander Moritz Frey gehört zu den vergessenen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Bis heute gibt es erst eine Dissertation und zwei wichtige Bücher über sein Leben und sein Werk. Noch immer fehlt eine vollständige Bibliographie seiner Werke. Auch sind bisher noch nicht alle Manuskripte und Fragmente des Autors veröffentlicht worden – 71 72 73 74 75

Ernsting, Rebell (wie Anm. 1), 177–179. Walter, „Der Meisterzeichner“ (wie Anm. 17), 48 f. Jost Hermand, Unbewältigte Vergangenheit. Auswirkungen des Kalten Kriegs auf die westdeutsche Nachkriegsliteratur. Köln 2019. Walter, „Der Meistererzähler“ (wie Anm. 17), 50–57. Karlheinz Lipp, Chronologie der Friedensinitiativen in den beiden deutschen Staaten von 1945 bis 1955. Norderstedt 2021.

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dabei stellen sie interessante Quellen sowohl für die Germanistik als auch die Zeitgeschichte dar. Freys Leben umfasst zentrale Aspekte der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts: Erster Weltkrieg, Aufstieg des Nationalsozialismus, Vertreibung ins Exil durch den NS-Staat, Kalter Krieg nach 1945. Diese Epochen kommentierte Frey als Autor in seinen belletristischen Werken. Insbesondere Freys Roman Die Pflasterkästen bietet eine interessante Fundgrube für die Zeit des Ersten Weltkrieges und die historische Friedensforschung. Noch zu gering beachtet ist Freys Begegnung mit Hitler in den Jahren 1915 bis 1918 in einem Regiment an der Westfront. Dieses Aufeinandertreffen reflektierte der Autor in Romanen mehrfach nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Es existieren also genug Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um Alexander Moritz Frey wieder oder neu zu entdecken. Dr. Karlheinz Lipp studierte Geschichte und Evangelische Theologie an der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Die Promotion erfolgte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er wirkte von 1985 bis 2020 als Studienrat in Hessen sowie in Berlin, ist Mitglied im Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung und war Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Universität der Künste Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Historische Friedensforschung, Religiöser Sozialismus und die Geschichte der Pfalz.

Pfade der Pogrome Rollkommandos in Rheinhessen während der Novemberpogrome 1938 Christian Müller Die Novemberpogrome bildeten den vorläufigen Höhepunkt der antisemitischen Agitation im nationalsozialistischen Deutschen Reich – auch in Rheinhessen Anhand ausgewählter rheinhessischer Landgemeinden zeigt dieser Beitrag auf, wie mobile Kommandos, sogenannte „Rollkommandos“, die Novemberpogrome über die Ortsgrenzen hinaus verknüpfen konnten Die Zusammensetzung dieser Kommandos variierte, ihr Wirken ist auf Grund der Mobilität und Quellenlage meist schwierig zu rekonstruieren In der historischen Forschung fristen diese mobilen Kommandos daher ein Schattendasein in der oft ortsbezogenen Aufarbeitung der Novemberpogrome Dieser Beitrag stellt verschiedene Rollkommandos im rheinhessischen Kontext vor und analysiert somit lokale Verbindungslinien zwischen den einzelnen Ortschaften und den Rollkommandos I. Einleitung „In der Nacht vom 9. zum 10. erwachten wir von dem Geräusch umstürzender Möbel und konnten feststellen, dass die SA in Uniform in privaten Kleinautos, immer je sieben bis acht Mann, in die jüdischen Wohnungen eindrang und alles vandalisch vernichtete.“1

So beschreibt ein jüdischer Augenzeugenbericht die Novemberpogrome in Franken. Wie viele Quellen, die das Geschehen aus der Perspektive der Opfer beschreiben, drückt dieser Bericht ebenfalls Fassungslosigkeit angesichts der rohen Gewalt der Täter aus: verwüstete Häuser, zerstörte nachbarschaftliche Beziehungen und Existenzen, vertriebene und gebrochene Menschen – oder, wie es Wildt und Baillet formulieren: 1

Report Regarding the Run up to the November Pogrom, the Event Itself and Its Aftermath in Frankonia, in: The Wiener Library. Pogrom: November 1938. Testimonies from ‚Kristallnacht‘, https:// www.pogromnovember1938.co.uk/viewer/fulltext/93837/de/, Aufruf zuletzt am 17.07.2021.

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„Le pogrom amena les Juifs allemands à prendre brutalement conscience du degré de violence antisémite déjà atteint, et à constater que des meurtres pouvaient être commis en pleine rue sans susciter de véritable résistance de la part de la population.“2

Diese Gewalt der Novemberpogrome konnte bis in die kleinsten Dörfer des Deutschen Reichs getragen werden – beispielsweise durch mobile Kommandos, die vielfach, wie im Eingangszitat, aus SA-Leuten bestanden und in privaten Automobilen die Pogrome in die Ortschaften trugen. Wolfgang Benz bezeichnet diese Entwicklung bildhaft und gleichzeitig bedrückend sogar als „Pogrom-Tourismus fanatischer Aktivisten.“3 Als mobile Kommandos bildeten solche Aktivisten eine wichtige Komponente für die Ausbreitung der Novemberpogrome – auch in Rheinhessen. Ihre Fahrten waren die Pfade der Pogrome. Dieser Beitrag möchte anhand von ausgewählten Beispielen aus den damaligen rheinhessischen Landkreisen Bingen und Mainz aufzeigen, inwieweit diese mobilen Kommandos, zeitgenössisch auch als „Rollkommandos“ bekannt, das regionale Pogromgeschehen verknüpfen konnten. Gleichzeitig plädiert der Autor am Beispiel der Rollkommandos dafür, ortsübergreifende Pogromdynamiken stärker in den Fokus zu rücken. Dem vergleichenden regionalgeschichtlichen Ansatz, zugleich auch die Grundlage dieses Beitrags, kommt hier eine wichtige Bedeutung zu, da er das Pogromgeschehen an unterschiedlichen Ortschaften zueinander in Bezug setzt. Um diese Rollkommandos in einen ortsübergreifenden Bezug zu setzen, sind die Quellen zu den Novemberpogromen eine zentrale Forschungsgrundlage. Allerdings muss die Quellenlage im rheinhessischen Kontext als lückenhaft bezeichnet werden. Ein großes Problem bilden wechselnde territoriale Zugehörigkeiten der Provinz Rheinhessen, Kriegszerstörungen in kommunalen Archiven4 und die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte Aktenvernichtung in Gemeindearchiven. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das Innenleben der Verwaltung unmittelbar vor den Novemberpogromen verändert hat; im Rahmen einer Kreisreform erfolgte die Auflösung des Kreises Oppenheim, während Mainz und Worms zwei Stadtkreise bildeten.5

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Michael Wildt / Florence Baillet, Avant la solution finale. La politique juive du service de sécurité de la SS, in: Genèses 21, 1995, 29–52, hier 48. Wolfgang Benz, Der frühe NS-Terror im öffentlichen Gedächtnis. Formen der Erinnerung und des Gedenkens, in: Stefan Hördler (Hrsg.), SA-Terror als Herrschaftssicherung. „Köpenicker Blutwoche“ und öffentliche Gewalt im Nationalsozialismus. Berlin 2013, 214–231, hier 230. Hier ist insbesondere die kriegsbedingt schwache Quellenlage für das Kreisamt Bingen hervorzuheben. Markus Würz, Die Zeit des Nationalsozialismus in Rheinhessen. Ein Überblick über die (Forschungs-) Literatur., in: Museum Alzey (Hrsg.), „Beseelt mit Hitlergeist“ … bis zum bitteren Ende. Nationalsozialismus im Alzeyer Land. Begleitband zur Sonderausstellung im Museum Alzey. (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft 26.) Alzey 2012, 11–29, hier 17. Vgl. zudem StA Mainz, VOA 11/35 für die Auflösung des Kreises Oppenheim.

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Dennoch lassen sich lokale Ereignisse zumindest rekonstruieren: Nachkriegsprozessakten und Spruchkammerakten aus dem Landesarchiv Speyer und dem Landeshauptarchiv Koblenz geben Einblicke in die Struktur dieser Rollkommandos, ihrem Einsatzzweck und ihren Einsatzzielen.6 Hierbei kommt den Novemberpogromen eine hervorgehobene Stellung zu, waren sie doch das Ereignis aus nationalsozialistischer Zeit, das vergleichsweise früh in Nachkriegsprozessen zumindest ansatzweise aufgearbeitet wurde.7 Dadurch konnten viele Zeugenaussagen zwar mit zeitlichem Abstand, aber eben in einem derartigen Umfang getätigt werden, dass eine relativ große Zahl an Quellen produziert wurde. Zu den Novemberpogromen ist bereits eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen publiziert worden – auch zu Rheinhessen. Dagegen sind Rollkommandos in der Literatur bislang nur eine Randerscheinung und werden hauptsächlich kontextuell erwähnt – sei es in allgemeinen Darstellungen zu den Novemberpogromen,8 Forschungen zur Gesellschaft in der NS-Zeit,9 oder meist in kapitelbezogenen Fallbeispielen in Ingelheim, Nierstein, Bingen, Jugenheim, Nieder-Olm, Ebersheim oder dem südlichen Rheinhessen.10 Die wissenschaftliche Untersuchung dieser Rollkommandos bildet ein Forschungsdesiderat, das dieser Beitrag aufgreifen möchte. 6 7 8

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Vgl. für Nachkriegsprozessakten mit Bezug zu rheinhessischen Rollkommandos: LA Speyer, J 76, die Nr. 3, 23, 34, 35, 54, 59, 60, 61, 73, 74, 75, 97, 158 und 159. Vgl. u. a. für Spruchkammerakten mit Bezug zu den Rollkommandos: LHA Koblenz, 856, die Nr. 132749, 134640, 135240, 135326 und 135397. Dieter Obst, „Reichskristallnacht“. Ursachen und Verlauf des antisemitischen Pogroms vom November 1938. Frankfurt a. M. 1991, 4 f. Vgl. zu allgemeinen Darstellungen zu den Novemberpogromen Hermann Graml, Reichskristallnacht. Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich. München 1988; Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen: Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation. (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Bd. 10.) Wiesbaden 1988; Obst, „Reichskristallnach“ (wie Anm. 7); Alan E Steinweis, Kristallnacht 1938. Cambridge, Massachusetts 2009. Vgl. zu Darstellungen der SA und ihrer Rolle in den Novemberpogromen Daniel Siemens, Stormtroopers. A New History of Hitler’s Brownshirts. New Haven, Connecticut / London 2017; Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA. München 1989. Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz, 1919–1939. Hamburg 2007; Dietmar Süß, Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich. München 2017. Vgl. zu ortsspezifischen Darstellungen in Rheinhessen die Arbeiten von Hans-Georg Meyer / Gerd Mentgen, Sie sind mitten unter uns. Zur Geschichte der Juden in Ingelheim. Ingelheim 1998; Birgit Bernard, „… alles war beschmutzt und besudelt“. Das Judenpogrom in Bingen und die Zerstörung der Binger Synagogen am 10.  November 1938, in: Matthias Schmandt (Hrsg.), Bingen im Nationalsozialismus: Quellen und Studien. (Binger Geschichtsblätter, Bd.  28.) Bad Kreuznach 2018, 303–360; Franz Maier, Die Novemberpogrome von 1938 in Nierstein und Rheinhessen, in: Niersteiner Geschichtsblätter 25, 2019, 34–53; Wolfhard Klein, Juden in Jugenheim. Zur Erinnerung an eine 500-jährige Geschichte. Jugenheim 2020; Anton Weisrock / Elmar Rettinger / Peter Weisrock (Hrsg.), Die Jüdische Gemeinde von Nieder-Olm. 2. Aufl. Nieder-Olm 2000, 34–112; Berthold Tapp, Die israelitische Gemeinde Ebersheim mit Harxheim und ihre Synagoge (1830–1938). Aufstieg und Untergang einer rheinhessischen Landjudengemeinde. Norderstedt 2014; Dieter Hoffmann, „… wir sind doch Deutsche“. Zu Geschichte und Schicksal der Landjuden in Rheinhessen. (Alzeyer Geschichtsblätter, Sonderheft 14.) Alzey 1992.

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Zunächst wird dieser Beitrag kurz auf den historischen Kontext der Novemberpogrome sowie auf die Rolle lokaler mobiler Einsatztrupps eingehen. Dabei wird der für diesen Beitrag zentrale Begriff „Rollkommando“ vorgestellt und anhand von historischen Beispielen und den mit den Novemberpogromen verbundenen Entwicklungen erläutert. Es folgt der Hauptteil, in dem die Route von drei rheinhessischen Rollkommandos exemplarisch analysiert wird. Die verschiedenen und teils miteinander verknüpften Pfade des Pogroms treten hier deutlich in Erscheinung, wobei lokale Eigendynamiken aufgezeigt und in das jeweilige Pogromgeschehen eingeordnet werden. II. Historischer Kontext Innerhalb der nationalsozialistischen Judenverfolgung bildeten die Novemberpogrome zeitlich betrachtet zwar nur einen Wimpernschlag innerhalb der zwölf Jahre staatlich betriebener antisemitischer Agitation. Dennoch bildete die öffentliche Gewalt im November 1938, wie Daniel Siemens aufzeigt, eine neue Eskalationsstufe, „the most excessive incident of its kind, yet in many ways not a singular event. Its scale and dimension were unique, but the perpetrators’ rationale and the forms of violence to which they resorted were not.“11 Doch wie konnte es überhaupt zu den Novemberpogromen kommen? 1. Die Novemberpogrome – Ein Wechselspiel zwischen Reich und Region Das Attentat von Herschel Grynszpan auf den Botschaftssekretär Ernst vom Rath ereignete sich am 7. November 1938 in der deutschen Botschaft in Paris. Auch wenn es sich dabei nicht um das erste Attentat eines Juden auf einen nationalsozialistischen Funktionsträger handelte,12 fand Grynszpans Tat in einem besonderen innen- wie außenpolitischen Kontext statt: Das innenpolitische Klima war durch die anhaltende antisemitische Gesetzgebung sowie eine sich radikalisierende Presse aufgeheizt; eine „Pogromstimmung“ lag geradezu in der Luft.13 Zusätzlich hatten NS-Aktivisten „die außenpolitische Spannung und die darauffolgenden Triumphe“, darunter die Sudetenkrise und das Münchner Abkommen, ausgenutzt, um ihren antisemitischen Ressen-

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Siemens, Stormtroopers (wie Anm. 8), 198. So gab es im Februar 1936 ein Attentat auf Wilhelm Gustloff (1895–1936), den Leiter der NSDAPAuslandsorganisation (NSDAP-AO) in der Schweiz (Alan E Steinweis, The Trials of Herschel Grynszpan. Anti-Jewish Policy and German Propaganda, 1938–1942, in: German Studies Review 31/3, 2008, 471–488, hier 472 f.). Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm.  9), 312–314; Peter Longerich, Politik der Vernichtung: eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung. München 1999, 191–193.

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timents freien Lauf zu lassen.14 Dabei handelte es sich aber vor allem um regionale Exzesse. Regional fiel zunächst auch die Antwort auf Grynszpans Attentat aus. Eine reichsweite Lenkung der folgenden Ereignisse fand (noch) nicht statt. Im Gau Kurhessen ereigneten sich die ersten Pogrome, zum Beispiel in Kassel in den Abendstunden des 7. November, gesteuert durch die regionale Parteileitung.15 Bereits in dieser Frühphase der Novemberpogrome lassen sich erste mobile Kommandos in ländlichen Gebieten beobachten, die sich auf diese lokale Lenkung zurückführen lassen: Während im nordhessischen Dorf Abterode die örtlichen Nationalsozialisten darüber informiert wurden, dass „etwas für den Abend geplant war“, schufen Auswärtige Fakten, indem sie in den Ort kamen und die Synagoge sowie ein Geschäft attackierten.16 Die einheimische Bevölkerung schloss sich daraufhin dem Pogromgeschehen an. Somit „ging der erste Impuls wohl zunächst von unten aus“, von der Kreis- bzw. Provinzialebene.17 Allerdings erreichten die Novemberpogrome in den folgenden Tagen eine nationale Dimension – und diese Entwicklung lässt sich nicht ohne den zeitlichen Faktor erklären: Das Attentat ereignete sich nur zwei Tage vor dem 9. November 1938. Dies war der 15. Jahrestag des Marsches auf die Feldherrenhalle, die mystisch verklärte „Geburtsstunde“ des Nationalsozialismus. Alljährlich gedachten die Nationalsozialisten der erschossenen Marschteilnehmer vom 9.  November 1923 in München. In diesen Opfermythos stellte die Propaganda den ermordeten Botschaftssekretär vom Rath und machte ihn so zum „newest martyr for the Nazi cause – the latest German victim of Jewish terror.“18 Diese emotional wie propagandistisch aufgeladene Kulisse war geradezu perfekt, wie Benz ausführt: „Keine günstigere Gelegenheit konnte es geben, um die Spitzen der Partei auf ebenso informelle wie zwingende Weise zur Aktion zu treiben.“19 Der Entschluss, die bereits lokal stattfindenden Pogrome zu einer reichsweiten Aktion auszuweiten, fiel in den Abendstunden des 9. November. Um 21 Uhr erhielt Hitler, der sich zu diesem Zeitpunkt im Münchner Rathaussaal aufhielt, die Nachricht, dass Ernst vom Rath seinen, durch das Attentat Grynszpans erlittenen, schweren Verletzungen erlegen war.20 Der ebenfalls in München anwesende Goebbels nahm diese Todesnachricht auf und hielt gegen 21:30 Uhr eine Rede, deren antisemitischer Inhalt zwar nicht wörtlich überliefert ist, nach deren Ende aber eine hektische Betriebsam-

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Ian Kershaw, Antisemitismus und Volksmeinung. Reaktionen auf die Judenverfolgung, in: Martin Broszat  / Elke Fröhlich (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd.  2: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. München/Wien 1979, 281–348, hier 318. Kropat, Kristallnacht in Hessen (wie Anm. 8), 23; Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 69. Steinweis, Kristallnacht 1938 (wie Anm. 8), 29 f. Süß, deutsche Gesellschaft (wie Anm. 9), 154. Steinweis, Kristallnach 1938 (wie Anm. 8), 40. Wolfgang Benz, Gewalt im November 1938. Die „Reichskristallnacht“: Initial zum Holocaust. Bonn 2018, 58. Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 232.

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keit in München einsetzte.21 Anwesende riefen regionale Parteifunktionäre und SAKommandeure an, die ihrerseits Telefonate an lokale Dienststellen absetzten.22 Es ist daher logisch, dass Benz die Rede von Goebbels „als Signal zum Losschlagen und gleichzeitig [als] Handlungsanweisung“ interpretiert.23 Longerich unterstützt diese Interpretation: „Die politische Führung gab eine allgemein gehaltene Aufforderung zum aggressiven Vorgehen, in diesem Rahmen hatte sich dann die Eigeninitiative der örtlichen SA-Einheiten zu bewähren.“24 Eine besondere Eigeninitiative zeigte der Stoßtrupp Hitler, dessen historische Bedeutung eine doppelte war: Als Veteranentrupp des Marsches auf die Feldherrenhalle fiel ihm alljährlich eine besondere Bedeutung bei der Gedenkfeier am 9. November zu – und am 9. November 1938 zog der Trupp direkt nach Goebbels Rede los, setzte die Synagoge Ohel Jakob25 in Brand und randalierte in jüdischen Geschäften der Münchener Innenstadt.26 In der Zwischenzeit bemühte sich die Gestapo, das Pogrom zu lenken und mit einigen Parametern zu versehen. Ein erster Befehl am 9. November, kurz vor Mitternacht, kam von Heinrich Müller, dem stellvertretenden Leiter des Amtes Politische Polizei im Hauptamt Sicherheitspolizei: Als direkter Untergebener von Heinrich Himmler informierte Müller sämtliche Polizeistellen im Reich, dass in Kürze Aktionen gegen Juden stattfinden würden. Dabei sollte die Verhaftung von 20 000–30 000 vermögenden Juden vorbereitet, Archivmaterial aus den Synagogen sichergestellt und jüdischer Waffenbesitz streng sanktioniert werden.27 Zusätzlich stellte Müller eine Aktivierung der Allgemeinen SS und der Verfügungstruppen der SS für diese Vorgänge in Aussicht – eine Information, die Heinrich Himmler wenig später wieder kassierte.28 Gemeinsam mit Reinhard Heydrich entwarf Himmler daher noch um 1:20 Uhr ein weiteres Fernschreiben, das die Angaben für die Polizei und die Geheime Staatspolizei an den Pogromorten präzisierte: Sicherheitsbehörden und SS sollten sich im Hintergrund halten, Plünderungen waren nach wie vor untersagt, Ausländer sollten in Ruhe gelassen werden, nichtjüdischer Besitz unzerstört bleiben.29 Außerdem sei die Aktion nicht in Uniform, sondern in Zivil durchzuführen. Dieser Befehl führte zu einer vielerorts praktizierten Tätervermummung, was die Identifizierung – gerade von Ortsfremden – erheblich erschwerte: So trugen Täter mitunter Schlapphüte oder Masken.30 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Sven Felix Kellerhoff, Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf. Stuttgart 2018, 106. Richard J Evans, The Third Reich in Power (1933–1939). London 2006, 582. Benz, Gewalt (wie Anm. 19), 59. Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 233. „Ohel“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet hier wörtlich übersetzt „Zelt Jakobs“. Angela Hermann, Hitler und sein Stoßtrupp in der ‚Reichskristallnacht‘, in: Vf Z 56/4, 2008, 603– 620, hier 614–616. Evans, Third Reich (wie Anm. 22), 582 f.; Steinweis, Kristallnacht 1938 (wie Anm. 8), 52. Kropat, Kristallnacht in Hessen (wie Anm. 8), 54 f. Evans, Third Reich (wie Anm. 22), 583. Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 247.

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In Mainz erhielt der SA-Brigadeführer Kraft, dem die Brigade 150 mit Standarten im Rheingau, Rheinhessen und der Vorderpfalz unterstand, die Instruktionen „im Laufe der Nacht“.31 Kraft erklärte, „dieser Befehl sei von der obersten SA-Führung wegen der Ermordung des Botschaftsrats [sic] vom Rath gegeben worden. Die Aktion sei in Zivil durchzuführen. Polizei und Feuerwehr würden das Übergreifen eines etwaigen Feuers auf Wohnungen verhindern.“32 Die Außenstellen in Mainz und Worms wurden gegen 5 Uhr durch die Staatspolizeidienststelle Darmstadt informiert.33 In den Morgenstunden des 10. November hob das Gaupropagandaamt Hessen-Nassau schließlich einen zuvor verhängten Geheimbefehl auf, der seit dem 8. November zunächst eigenmächtige antijüdische Aktionen angesichts der damals unklaren reichsweiten Befehlslage untersagt hatte.34 Nun setzten die Novemberpogrome auch in Rheinhessen großflächig ein und mobile Kommandos setzten sich gleichermaßen in Bewegung. 2. Was ist ein Rollkommando? – Eine Annäherung In seiner Publikation zu den Novemberpogromen in Hessen beschreibt Kropat die Rolle der nun gebildeten Rollkommandos folgendermaßen: „Im Laufe des Tages schwärmten SA-,Rollkommandos‘ von den Städten auch in kleinere Gemeinden aus, um hier die Synagogen oder jüdischen Geschäfte und Wohnungen zu zerstören, sofern dort nicht schon der Ortsgruppenleiter der NSDAP den Pogrom inszeniert hatte.“35

Diese Rolle, das Pogrom in die Ortschaften zu tragen und somit für eine möglichst umfassende Ausbreitung der Gewalt zu sorgen, präzisiert Dieter Obst im reichsweiten Kontext: „Manchmal erschien im Laufe des Vormittags der höhere NS-Führer persönlich im Ort zur Überbringung der Zerstörungsanweisungen, nachdem er bereits einige Ortschaften seines Kreis- oder Standartengebiets aufgesucht hatte. In einigen Fällen brachte er gleich einen LKW oder mehrere PKW mit SA-Männern aus seinem Standort mit.“36

Die Bedeutung der Rollkommandos, gerade im ländlichen Raum, lässt sich bereits erahnen. Doch was ist eigentlich ein Rollkommando?

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Kropat, Kristallnacht in Hessen (wie Anm. 8), 129. Zit. n. Benz, Gewalt (wie Anm. 19), 61. Abschrift des Fernschreibens der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeistelle Darmstadt, 10.11.1938 (5 Uhr), in: LA Speyer, H 53 1772. Hoffmann, Landjuden (wie Anm. 10), 250. Kropat, Kristallnacht in Hessen (wie Anm. 8), 60. Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 179.

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Der Name „Rollkommando“ fiel im Zusammenhang mit der NSDAP erstmals prominent im sogenannten Eden-Palast-Prozess in der Spätphase der Weimarer Republik: Am 22. November 1930 hatte der SA-Sturm 33 den Berliner Tanzpalast „Eden“ überfallen und drei Personen verletzt.37 Bei dem darauffolgenden Prozess trat Adolf Hitler als Zeuge auf und definierte beiläufig den Begriff „Rollkommando“, als er sich über den SA-Führer Walther Stennes mokierte: „Jetzt hat Stennes es nur zu ein paar erbärmlichen Rollkommandos gebracht. […] Der Name Rollkommando stammt von der Front. Rollkommandos waren Gruppen von 10–12 Mann, die den Befehl hatten, feindliche Gräben aufzurollen. Das war eine heroische Aufgabe, die man den Rollkommandos gestellt hat, denn sie mussten gegen einen viel stärkeren Feind vorgehen.“38

In der später verklärten „Kampfzeit“, als die SA ihre politischen Gegner in der Weimarer Republik bekämpfte, erfüllten diese ersten Rollkommandos aus Sicht der Nationalsozialisten eine ähnliche Aufgabe, die Hochstetter anhand des hessischen SAMotorsturms in Langen aufzeigt: „Er wurde immer dann eingesetzt, wenn eine Einheit in der Region benötigt wurde, die kurzfristig und schnell handlungsfähig sein konnte.“39 Vergleichbar agierte der von Hitler als Rollkommando identifizierte SA-Sturm 33 in Berlin, der zu den besonders berüchtigten SA-Einheiten gehörte.40 Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme kehrte sich die Aufgabe der Rollkommandos aber um – weg von einem kleinen, zahlenmäßig unterlegenen Kampfverband, hin zu einem mobilen wie effektivem Werkzeug, das nun in staatlichem Auftrag gegen politische Gegner eingesetzt wurde. So brachten nach der Machtübernahme beispielsweise mobile Kommandos Regimegegner in Konzentrationslager, unter anderem im rheinhessischen Guntersblum, wo ein „Überfallwagen“ aus SA, Kriminalpolizei und weiteren Gliederungen zum Einsatz kam.41 Die Novemberpogrome, fünf Jahre nach der Machtübernahme, führten zu einer Wiederbelebung dieser rollenden Kommandos. Denn, wie Longerich analysiert, kam es im November 1938 „erneut zu jener ‚bewährten‘ Arbeitsteilung zwischen Parteiführung und SA; zwischen zentraler Befehlsgebung und örtlicher Spontaneität, wie sie

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Vgl. zu den Hintergründen dieses Prozesses Sven Reichardt, Violence and Community. A MicroStudy on Nazi Storm Troopers, in: Central European History 46/2, 2013, 275–297, hier 278 f., sowie Knut Bergbauer u a , Denkmalsfigur. Biographische Annäherung an Hans Litten (1903–1938). Göttingen 2008, 140 f. Bergbauer, Denkmalsfigur (wie Anm.  37). Vgl. auch die erhaltenen Prozessakten im LA Berlin, A Rep. 358–02 Nr. 98/2. Zit. n. Dorothee Hochstetter, Motorisierung und Volksgemeinschaft. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), 1931–1945. (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 69.) München 2005, 42. Siemens, Stormtroopers (wie Anm. 8), 52. Vgl. Landskrone. Oppenheimer Kreisblatt, 12.04.1933. Hier wird sogar explizit von einem „Überfallwagen“ gesprochen, der missliebige Personen in das KZ Osthofen abtransportierte.

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vor allem die Machtergreifungsphase gekennzeichnet hatte.“42 Dieses Wechselspiel zeigt sich anschaulich in den Rollkommandos, die einerseits in einem klar definierten Bereich operierten und geradezu pflichtbewusst von Ort zu Ort zogen, andererseits aber durch ihr Umherstreifen eine gewisse Spontaneität und Dynamik in das örtliche Pogromgeschehen brachten. Schließlich zeichneten sich diese Trupps durch eine im Pogromgeschehen häufiger anzutreffende Gruppendynamik aus, die Aktivisten anspornte, Mitläufer mitriss und Zögernde in ihren Bann zog; diese „aggressive Bandenmentalität“ wurde durch die Präsenz eines oder mehrerer Anführer noch verstärkt.43 Gleichzeitig bildeten diese Trupps, wie Steinweis ausführt, den Kern der Pogromtäter, aber „the circle of perpetrators widened considerably as the pogrom unfolded, coming to include many other categories of people.“44 Dadurch verbanden sich Auswärtige mit Einheimischen, was das Pogromgeschehen lokal radikalisieren konnte. Wie in der „Kampfzeit“ oder in der Zeit nach der Machtübernahme konzentrierte sich der Einsatz der Rollkommandos auf Regimegegner – dieses Mal exklusiv auf die Juden, die in den Jahren zuvor durch den nationalsozialistischen Aktivismus, Propaganda und die staatliche Gesetzgebung sukzessive zu Staatsfeinden avancierten und aus der „Volksgemeinschaft“ sichtbar ausgeschlossen worden waren.45 Durch ihre Mobilität stellten die Rollkommandos sicher, dass sich das Pogromgeschehen nicht nur auf die morgendlichen Vorfälle in den Städten konzentrierte, sondern auch in die Provinz getragen wurde – zur Unterstützung oder Aktivierung lokaler Funktionsträger auf dem Land.46 Essentiell für diese Rollkommandos war der Einsatz eines Fahrzeuges: Dieses konnte ein Automobil, ein Lastwagen oder ein Motorrad sein. Die Mobilisierung im Deutschen Reich war seit dem Ende der Weimarer Republik weiter fortgeschritten: So gab es im Jahr 1938 ca. 1,3 Millionen Automobile sowie weitere 1,5 Millionen Motorräder.47 Gleichwohl konnten sich die meisten Bürger nach wie vor lediglich ein Fahrrad leisten, und die Anzahl an Automobilen in den ländlichen Gebieten war ohnehin überschaubar. So verfügten in Rheinhessen vor allem die örtlichen Honoratioren über dieses Fortbewegungsmittel: Landärzte,48 Weinhändler, Spediteure und Verwaltungs-

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Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 233. Für eine vergleichbare Einschätzung vgl. Bruce Campbell, The SA after the Röhm Purge, in: Journal of Contemporary History 2, 1993, 659–674, hier 665. Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 176 f. Steinweis, Kristallnacht 1938 (wie Anm. 8), 61. Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm. 9), 13, 372. Kropat, Kristallnacht in Hessen (wie Anm. 8), 60; Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 235. Vgl. für lokale Fallbeispiele auch Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862–1940. (Studien zur jüdischen Geschichte, Bd.  7.) Hamburg 2000, 238; Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 179. Wolfgang König, Adolf Hitler vs. Henry Ford: The Volkswagen, the Role of America as a Model, and the Failure of a Nazi Consumer Society, in: German Studies Review 27/2, 2004, 249–268, hier 250. Die Gruppe der Landärzte spielte für die Etablierung nationalsozialistischer Ideen in Rheinhessen eine wichtige Rolle – auch wegen ihrer Mobilität (Markus Würz, Kampfzeit unter französischen

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personal. Während der Novemberpogrome dienten diese Honoratioren als logische Anlaufstelle für Aktivisten, die einen fahrbaren Untersatz suchten, um die Pogrome in andere Ortschaften zu tragen.49 Dabei erkennt man, dass es sich bei diesen Aktivisten und ihren Unterstützern keinesfalls um eine gleichförmige Masse handelte, sondern um individuell wie situationsbezogen zusammengesetzte mobile Trupps mit lokal bedingten Eigenheiten. III. Rollkommandos in Rheinhessen 1. Im zentralen Rheinhessen – Ein klassisches Rollkommando? Die regionale Untersuchung beginnt mit einem rheinhessischen Fallbeispiel, das geradezu schematisch die verschiedenen Punkte eines Rollkommandos abzudecken scheint. In der Gemeinde Nieder-Olm im zentralen Rheinhessen war am 10. November das Pogromgeschehen in vollem Gang und hatte bereits zu ersten Zerstörungen von jüdischen Geschäften und Häusern geführt.50 Doch am späten Nachmittag reorganisierte sich die örtliche SA unter ihrem Anführer Karl Ludwig Simon im zentral gelegenen Gasthaus „Pfälzer Hof “, das zugleich auch als Sitz der Nieder-Olmer SA diente.51 Dort dürften die Pogromtäter eine erste Bilanz gezogen haben. Eine Synagoge konnten sie in Nieder-Olm nicht zerstören, da das Gebäude verkauft worden war.52 Im benachbarten Ebersheim standen dagegen sowohl eine intakte Synagoge als auch weitere, bislang unzerstörte jüdische Häuser. Inwiefern dies auf Untätigkeit oder interne Planungen zurückzuführen ist, lässt sich in der Rückschau nicht ermitteln. Fest steht, dass die Beziehungen zwischen der Nieder-Olmer und Ebersheimer SA vor den Novemberpogromen eng gewesen waren – zumal Ebersheim als Zelle der Ortsgruppe Nieder-Olm parteipolitisch angeschlossen war.53 Außerdem verfügte die Nieder-

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Bajonetten. Die NSDAP in Rheinhessen in der Weimarer Republik. (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 70.) Stuttgart 2012, 185). Vgl. für ein anschauliches Beispiel aus Republikzeiten HStA Darmstadt, G 12 A 19/8, S. 1394. Vgl. für Ingelheim den Weinhändler Berndes, in: LA Speyer, J 10 5471 sowie J 76 159. Vgl. für Nieder-Olm den Spediteur Georg, in: LA Speyer, J 76 35. Vgl. für St. Johann den Gastwirt Schmeck, in: LHA Koblenz, 856 135326. Vgl. für Sprendlingen den Weinhändler Bernhardt, in: LA Speyer, J 76 73 und 74. Vgl. für Finthen den Buchdrucker Weil, in: LA Speyer, J 76 155. Aussagen von Anna Petry und Heinrich Dang, 13.02.1947; Aussage von M. H., 14.02.1947; Aussage von Peter Neeb, 16.02.1947; Aussage von Elisabeth Stauder, 20.02.1947; Aussage von Jakob Sieben, 25.02.1947 sowie Aussagen von Katharina Binz, Wilhelm Sieben und Fritz Schwarz, 07.08.1947, alle in: LA Speyer, J 76 35. Vgl. auch Weisrock/Rettinger/Weisrock, Jüdische Gemeinde von Nieder-Olm (wie Anm. 10), 113. Vernehmung von Karl Ludwig Simon, 27.09.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang  – Untergang  – Neubeginn, 2.  Bd. Frankfurt a. M. 1971, 141. Vgl. beispielsweise LA Speyer, H 53 1184.

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Olmer Ortsgruppe über einen starken SA-Sturm mit mindestens 29 Mitgliedern.54 Es ist denkbar, dass sich die Nieder-Olmer SA mit fortschreitendem wie langsam abflachendem Pogromverlauf im eigenen Ort für eine Fahrt nach Ebersheim bereithielt. Wahrscheinlich unterhielten die örtlichen SA-Leute an jenem Novembertag eine telefonische Verbindung nach Ebersheim.55 Der Entschluss, nach Ebersheim zu fahren, musste am frühen Abend gefallen sein. Entweder kam aus Ebersheim ein entsprechender Anruf oder jemand war aus dem Nachbarort zurückgekehrt und hatte von einem dort einsetzenden Aktivismus berichtet, wie Karl Ludwig Simon in der Rückschau behauptete.56 So soll Simon ausgerufen haben: „In Ebersheim tut sich etwas, da müssen wir hin.“57 Tatsächlich herrschte nun in Nieder-Olm hektische Betriebsamkeit: Simon sprach Jugendliche und einige heimkehrende Angestellte an, um sie für eine Fahrt nach Ebersheim zu mobilisieren – und nutzte so den einsetzenden Feierabend, der in vielen Ortschaften den Pogromen eine neue Dynamik verleihen konnte.58 Gasthäuser oder Dienststellen waren hier effiziente Multiplikatoren, um Unterstützer zu finden.59 In Nieder-Olm wurde bei dem Spediteur Georg ein Lastwagen organisiert, der die von Simon rekrutierte Gruppe aus SAMännern und älteren Hitlerjungen am Ortsausgang einsammelte.60 Ein Teilnehmer, der damals minderjährige A. F., erinnert sich: „Wir gingen sodann geschlossen mit der Gruppe von Männern zur Brücke, welche nach Ebersheim führt und stiegen dort auf einen LKW. Vor dem Ortseingang in Ebersheim setzten wir alle ab und begaben uns in den Ort selbst.“61 Am Ortsschild von Ebersheim hatte sich bereits der Ebersheimer Ortsgruppenleiter Heinrich Stuppert postiert und empfing die Verstärkung aus Nieder-Olm62  – ein weiteres klares Indiz dafür, dass das Rollkommando seine Ankunft vorab angekündigt hatte. Die ortskundigen Mitglieder des Nieder-Olmer Rollkommandos gingen  – wahrscheinlich gemeinsam mit einigen Einheimischen63 – zielstrebig in die jüdischen Häuser in Ebersheim. Das nahe dem Ortseingang gelegene kleine Haus von Sophie Bernay

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Weisrock/Rettinger/Weisrock, Jüdische Gemeinde von Nieder-Olm (wie Anm. 10), 113. Tapp, israelitische Gemeinde Ebersheim (wie Anm. 10), 72. Vernehmung von Karl Ludwig Simon, 27.09.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Tapp, israelitische Gemeinde Ebersheim (wie Anm. 10), 88. Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 200 f. Ebd. Aussagen von R. F. und A. F., 24.08.1947 bzw. 29.08.1947 sowie die Aussage von Josef Klepper, 28.12.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Aussage von A. F., 29.08.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Vgl. ebendort zur Beschaffung des Lastwagens auch die Aussage von Peter Klos, 15.02.1947. Vernehmung von Karl Ludwig Simon, 29.11.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Vgl. ebendort zum Eintreffen in Ebersheim die Aussage von Anton Ambach, 12.09.1947. Tapp, israelitische Gemeinde Ebersheim (wie Anm. 10), 102.

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war das Erste, in dem die wüsten Zerstörungen jüdischen Eigentums stattfanden.64 Durch das vergleichsweise spärliche Quellenmaterial bleiben die Kenntnisse zu den einzelnen Vorfällen in den jüdischen Häusern relativ oberflächlich. Der Sachschaden in diesen fünf jüdischen Häusern war aber im kreisweiten Vergleich mit rund 13 000 Reichsmark relativ hoch.65 Die Synagoge wurde in diesen Abendstunden ebenfalls in Brand gesteckt; hier sprechen die Aussagen von Zeitzeugen keine klare Sprache hinsichtlich der Täter.66 Die Abfolge der Ereignisse sowie das Eintreffen des Rollkommandos in Ebersheim legen aber nahe, dass die Verantwortung beim Rollkommando und seinen örtlichen Unterstützern lag.67 Generell zeigt sich hier eine Unübersichtlichkeit, die geradezu typisch für kleinere Gemeinden war: „Zunächst Unbeteiligte gerieten rasch in den Sog der vandalisierenden Avantgarden, Neugierige vermischten sich mit den tobenden Fanatikern zu einem marodierenden, johlenden, gewalttätigen Mob […].“68 Das Feuer an der Synagoge griff nicht auf andere Häuser über, und so konnte die Ebersheimer SA beruhigt dazu übergehen, die nächste Phase des Pogroms einzuleiten: Vor den zerstörten jüdischen Häusern stellte sie Wachen auf, um die Lage im Blick zu behalten und Plünderungen zu vermeiden.69 Parallel zu diesem Vorgehen fanden sich das Rollkommando aus Nieder-Olm sowie lokale Aktivisten aus Ebersheim in der Gaststätte Gabel ein. Dort herrschte nach dem Synagogenbrand reger Betrieb, wobei Simon als Redner herausstach.70 Es war nicht unüblich, dass die Zerstörungstrupps ihnen bekannte – nichtjüdische – Gaststätten aufsuchten und „dort bis in die Nacht hinein zechten.“71 Die vielfältigen persönlichen wie politischen Verbindungen zwischen Nieder-Olm und Ebersheim ermöglichten eine solche Zusammenkunft nach den Pogromaktivitäten. Das Rollkommando hatte seine Funktion als lokale Verstärkung erfüllt – im Zusammenspiel mit örtlichen Aktivisten. Die Aufarbeitung dieses ortsübergreifenden Zusammenspiels erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg extrem lückenhaft – selbst im Vergleich zu anderen Pogromschauplätzen in Rheinhessen. Ein wiederkehrendes Element bleibt aber die gegenseitige Schuldzuweisung von Bürgern beider Ortschaften, die eine perfide Nachwirkung der Rollkommandos ist. Denn diese mobilen, ortsfremden Einheiten eigneten sich perfekt dazu, um die eigene Tat zu verschleiern. Denn, wie Longerich allgemein ausführt,

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Vgl. zu der Lage des Hauses von Sophie Bernay am Ortseingang die Fotografie bei Friedrich Eckert (Hrsg.), Juden in Mainz-Ebersheim. Mainz 1992, 48. Zu den Zerstörungen vgl. die Aussagen von Adam Eigenbrodt, 17.02.1947; A. F., 19.02.1947 und R. F., 24.08.1947, alle in: LA Speyer, J 76 35. Schadensverzeichnis, in: StA Mainz, ZGS/E3/15. Vgl. diverse Aussagen zu den Geschehnissen in Ebersheim, in: LA Speyer, J 76 35. Tapp, israelitische Gemeinde Ebersheim (wie Anm. 10), 72. Benz, Gewalt (wie Anm. 19), 113. Aussage von Jakob Becker II., 01.08.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Aussage des Gastwirtes Johann Josef Gabel, 01.08.1947, in: LA Speyer, J 76 35. Obst, „Reichskristallnacht“ (wie Anm. 7), 202.

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war es in der Rückschau stets die „andere SA“ aus der Nachbargemeinde, die für das Pogrom verantwortlich schien.72 2. Im nördlichen Rheinhessen – Ein ungewöhnliches Rollkommando Österreich – das ist nicht gerade ein Begriff, den man mit den Novemberpogromen in Rheinhessen verbindet. Dennoch spielte das Nachbarland Österreich in den 1930erJahren eine wichtige Rolle für die Umgebung rund um das rheinhessische Wackernheim. Dort, auf dem ehemaligen kaiserlichen und französischen Kasernengelände, waren zwischen 1935 und 1938 rund 1 700 „Legionäre“ – so bezeichnete man die nach dem gescheiterten Juliputsch 1934 ins Deutsche Reich geflüchteten österreichischen Nationalsozialisten – in einem sogenannten „Hilfswerklager“ untergebracht.73 Eigentlich hatten die Hilfswerklager im Herbst 1938 längst ausgedient; der „Anschluss“ im März 1938 und die damit verbundene Rückkehr der Österreicher in ihre nunmehr nationalsozialistische Heimat machten die Hilfswerklager überflüssig. Allerdings diente Wackernheim als Knotenpunkt für den Rücktransport der österreichischen Legionäre aus nord- und mitteldeutschen Lagern; der Fuhrpark wurde ebenfalls über Wackernheim abgewickelt.74 Dies geschah offiziell bis zum 31. Oktober 1938, aber die Übergabe des Lagers führte dazu, dass Anfang November 1938 eine kleine Nachhut in Wackernheim ausharrte – was auch Jakob Koch, der Bürgermeister des benachbarten Heidesheim, bestätigte.75 Koch befand sich am Morgen des 10. November zu einer Besprechung mit einem „Rücklasskommando“ im Hilfswerklager.76 Was genau er dort mit wem besprach, ist unbekannt. Klar ist aber, dass die österreichischen „Legionäre“ irgendwie für die Novemberpogrome mobilisiert wurden – sei es von lokalen Funktionsträgern oder überregionalen Befehlsstellen. Sie schienen perfekt dafür geeignet, die Pogrome in die Ortschaften des Umlandes zu tragen: Auf dem Kasernengelände 72 73

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Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 235. Für die wenigen Informationen zu dem Lager in Wackernheim vgl. Otto Bokisch / Gustav A Zirbs, Der österreichische Legionär. Aus Erinnerungen und Archiv, aus Tagebüchern und Blättern, mit zahlreichen Aufnahmen aus dem Bilderarchiv der Österreichischen Legion. Wien 1940, 98 bzw. 151; Hans Schafranek, Söldner für den Anschluss. Die Österreichische Legion 1933–1938. Wien 2011, 172; Michael E Holzmann, „… und steht die Legion auf dem ihr zugewies’nen Posten“: Die Österreichische Legion als Instrument früher NS-Aggressionspolitik. Berlin 2018, 439. Während die Veröffentlichung von Bokisch und Zirbs einen zeitgenössischen Blick auf die „Österreichische Legion“ bietet, bilden die Publikationen von Schafranek und Holzmann eine erste geschichtswissenschaftliche Forschungsgrundlage. Bokisch/Zirbs, der österreichische Legionär (wie Anm. 73), 248; Neues Wiener Tagblatt, 18.03.1938. Schreiben von Bürgermeister Koch an das Kreisamt, 30.12.1938, in: Privatarchiv W. Geisenhof, Heidesheim. Vgl. zudem die Akte des Hilfskochs des Hilfswerklagers in LHA Koblenz, 856 138649. Da dieser den 15. November 1938 als seinen letzten Arbeitstag angibt, dürfte das Hilfswerklager bis zu diesem Zeitpunkt noch in einer Art Übergangsstatus existiert haben. Ebd.

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verfügten sie über Automobile und ideologisch gefestigtes sowie kampferprobtes Personal. Außerdem hatten sich die antisemitischen Haltungen nach dem „Anschluss“ durch antisemitische Aktionen in Österreich weiter radikalisiert.77 Der fehlende oder nur schwach ausgeprägte Bezug zur Region ließ zudem die Hemmschwelle zu Gewalt und Zerstörung weiter sinken. Da es in Wackernheim keine jüdischen Bürger gab, setzte sich von der Kaserne aus ein Rollkommando in Richtung der viel größeren Ingelheimer Gemeinden in Bewegung. Gegen 10 Uhr traf das Rollkommando aus österreichischen Legionären am Marktplatz in Nieder-Ingelheim ein. Von der Wackernheimer Kaserne war dieser Weg durchaus nachvollziehbar, da von Wackernheim aus noch heute die Landstraße direkt nach Nieder-Ingelheim führt. Bei ihrer Ankunft wurden die österreichischen Legionäre bereits von der Nieder-Ingelheimer SA erwartet: Ortsgruppenleiter Gottlieb Glässel hatte den Zellenleiter Willi Stritter und SA-Truppführer Hermann Laun damit beauftragt, dass die Nieder-Ingelheimer SA das Rollkommando zu den einzelnen jüdischen Häusern lotsen und vor Schaulustigen abschirmen sollte.78 Hier wirkte das Rollkommando klar als Verstärkung und befand sich mit Parteistellen in Kontakt – ein relativ klassischer Fall bei der Einsetzung mobiler Trupps bei den Novemberpogromen.79 In Nieder-Ingelheim spielten persönliche Abneigungen der lokalen Befehlshaber eine wichtige Rolle und definierten damit die Route des Rollkommandos.80 So rückten einzelne jüdische Bürger ins Blickfeld, darunter die Metzgersfamilie Strauß oder die alleinstehende Fabrikantentochter Lina Koch. An diesen Häusern, in denen sich das Zerstörungsverhalten von Legionären und lokaler SA radikalisierte, fanden sich auch Gruppen von Schaulustigen ein. Die Umherstehenden – oftmals waren es Leute aus der Nachbarschaft – blieben weitgehend passiv, wobei einzelne Personen den Zerstörungstrupp anspornten.81 Dadurch, dass Menschenmengen wie diese mit dem Rollkommando interagierten oder durch ihre simple Anwesenheit eine Kulisse schufen, wurden sie, wie Wildt trefflich analysiert, „zu Komplizen des Pogroms“.82 Als Nachbarn oder Ortsbürger kannten sie die Opfer und gaben dem Pogromgeschehen eine persönliche Bedeutung. Mutmaßlich wäre es für Umherstehende gefährlich gewesen,

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Siemens, Stormtroopers (wie Anm. 8); Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 231. Urteil gegen Stritter u. a., 27.02.1947, in: LA Speyer, J 76 3; vgl. auch LHA Koblenz, 856 134261 (für Stritter) und 134266 (für Laun). Graml, Reichskristallnacht (wie Anm. 8), 26 f. Aussage von Willi Jakob Stritter, 18.02.1946, in: LA Speyer, J  76 59; Urteil gegen Stritter u. a., 27.02.1947, in: LA Speyer, J 76 3. Urteil gegen Specht und Sperl, 09.04.1948, in: LA Speyer, J 76 23. Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm. 9), 344 f. Vgl. zu diesem Phänomen auch Süß, deutsche Gesellschaft (wie Anm. 9), 158 f.

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einzuschreiten oder den Opfern Zuflucht zu gewähren; im rheinhessischen Kontext gibt es wohl deshalb nur wenige dokumentierte Beispiele.83 Allerdings ist es bemerkenswert, dass das Rollkommando in schneller Abfolge von Haus zu Haus ziehen, in den meisten Häusern Zerstörungen vornehmen und bei einzelnen jüdischen Bürgern auch körperliche Gewalt anwenden konnte.84 Dies alles ist nur durch das Zusammenwirken mit lokalen Funktionsträgern zu erklären, die auch lokale Parteimitglieder zu Tätern machten. Ortsgruppenleiter Glässel schien zumindest hier, nach einer initialen Instruktion, auf „seine“ SA zu vertrauen, die in NiederIngelheim eine effiziente und ortskundige Ergänzung zu dem Rollkommando bildete. Den vereinten Zerstörungstrupp begleitete Glässel nicht; es bestätigt sich der Eindruck, dass der SA die Aufgabe für das „Grobe“ zufiel.85 Glässel dürfte dagegen für die NSDAP-Ortsgruppe die Verbindung zu Gendarmerie und Nachbargemeinden aufrechterhalten haben, was für den späteren Pogromverlauf wichtig war: Die Verhaftung der jüdischen Bürger in Nieder-Ingelheim wurde jedenfalls in einer separaten Aktion koordiniert;86 das Gemeindepersonal räumte das auf die Straße herausgeworfene Mobiliar an einigen Häusern zur Seite, um den Durchgangsverkehr nicht zu behindern.87 Dies geschah jedoch erst in den Abendstunden, da zuvor wieder Zerstörungstrupps ihr Unwesen getrieben hatten.88 Dieses Mal bestanden die Trupps aus Ortsbürgern und beschlagnahmten in einigen Häusern auch Vermögenswerte89 – ein klares Indiz dafür, dass das Rollkommando mit den wüsten Zerstörungen am Vormittag eine Szenerie der Rechtlosigkeit in den jüdischen Häusern geschaffen hatte, die lokale Aktivisten und Trittbrettfahrer nutzten, um persönliche Rechnungen zu begleichen. Die NSDAP-Parteizentrale von Nieder-Ingelheim, die Schaltzentrale von Ortsgruppenleiter Glässel, befand sich in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes an der Schule. 83

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Für ein Beispiel aus Bodenheim vgl. den Artikel von Horst Kasper in der Allgemeinen Zeitung, 20.08.2016, in: Privatarchiv H. Kasper, Bodenheim. Vgl. für die Hilfsbereitschaft der Nachbarsfamilie auch ein Schreiben der Gemeinde Bodenheim, 27.11.1963, in: LA Speyer, J 10 1210. Für ein Beispiel aus Nieder-Olm vgl. Weisrock/Rettinger/Weisrock, jüdische Gemeinde von Nieder-Olm (wie Anm. 10), 114. StA Ingelheim, Rep. III/543/064 sowie Rep. III/543/163; Urteil gegen Stritter u. a., 27.02.1947, in: LA Speyer, J 76 3; Meyer/Mentgen, Geschichte der Juden in Ingelheim (wie Anm. 10), 213 f.; Hans-Georg Meyer, „Wer mit Juden handelt, gilt daher als unehrenhaft“. Die Geschichte der israelitischen Gemeinde Ingelheim, in: ders. / Caroline Klausing (Hrsg.), Freudige Gefolgschaft und bedingungslose Einordnung …? Der Nationalsozialismus in Ingelheim. Ingelheim 2011, 420–467, hier 450. Siemens, Stormtroopers (wie Anm. 8), 195; Evans, Third Reich (wie Anm. 22), 583–585. StA Ingelheim, Rep. III/543/052 sowie Rep. III/543/160. Vgl. Meyer/Mentgen, Geschichte der Juden in Ingelheim (wie Anm. 10), 208 bzw. 481. Aussagen von Ernst Michel und Ernst Schröder, 11.05.1949 bzw. 23.07.1949, in: LA Speyer, J 76 159. Aussage von J. K. R., 18.02.1948, in: LA Speyer, J 76 59. Aussagen von H. G. S., 27.08.1948, von Georg Nehrbass, 30.08.1949 und 28.01.1949 sowie von Adam Bender, 26.01.1948, in: LA Speyer, J 76 131; Aussage von Ernst Michel, 11.05.1949, in: LA Speyer, J 76 159. StA Ingelheim, Rep. III/543/043 und III/543/060; Meyer/Mentgen, Geschichte der Juden in Ingelheim (wie Anm. 10), 250.

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Für den weiteren Pogromverlauf spielten in den Ingelheimer Gemeinden die Schulen eine wichtige Rolle und definierten die Fahrtroute des Rollkommandos, das zur Mittagszeit weiterzog. Ziel war Ober-Ingelheim, die mit Nieder-Ingelheim verbundene, südlichste der drei Ingelheimer Gemeinden.90 Das Rollkommando wurde in Ober-Ingelheim erwartet – von Adolf Mathes, dem Rektor der höheren Bürgerschule und SA-Sturmbannführer.91 Durch seine hohe Position innerhalb der SA-Hierarchie dürfte Mathes eine Schlüsselrolle bei dem Empfang des Rollkommandos gespielt haben. Im Kreis Bingen waren die Schulen zur Mittagszeit geschlossen worden,92 sodass Mathes weitere Lehrer aus seinem Kollegium als Verstärkung gewinnen konnte. Einige Lehrer bekleideten zudem Ämter in der SA.93 Mathes rekrutierte einige Kollegen und rief einige weitere SA-Mitglieder zu Hause oder an ihrem Arbeitsplatz an, um sie zum Marktplatz zu zitieren. Die Rekrutierung innerhalb der SA verlief daher angesichts der höherrangigen Befehlsträger wahrscheinlich intensiver als in Nieder-Ingelheim. Gleichzeitig veränderte sich die Dynamik des Rollkommandos: War es als reine Verstärkung nach Nieder-Ingelheim gekommen, hatte es nun deutlich höherrangige lokale SA-Leute im Schlepptau. Mathes als Sturmbannführer konnte deutlich selbstständiger operieren als ein einfacher Truppführer. Diese „straffere“ Organisation machte die Rollkommandos autonomer.94 Tatsächlich dachte Mathes bereits über Ober-Ingelheim hinaus, wie ein Gespräch mit seinem Kollegen Wilhelm Immerheiser deutlich macht, das dieser im Nachkriegsprozess zu Protokoll gab: So habe Mathes Immerheiser erläutert, er habe von dem Alzeyer Standartenführer Sauer den Befehl erhalten, in seinem Sturmbannbereich Plünderungen zu verhindern.95 Mathes müsse daher mit einigen SA-Leuten eine Fahrt durch den Sturmbannbereich unternehmen. Ein solcher Befehl war durchaus plausibel, verwahrte sich doch der Standartenbefehl gegen Plünderungen. Allerdings ist es zweifelhaft, dass Mathes als eine Art Hilfspolizist mit seinen SA-Männern in den umliegenden Ortschaften für Ordnung sorgen sollte – obwohl noch nicht einmal in seinem eigenen Wohnort das Pogrom aus SA-Sicht zufriedenstellend verlaufen war bzw. noch im Gange war. Die österreichischen Legionäre mit ihren Ober-Ingelheimer Unterstützern, zu denen auch Lehrer und deren Schüler zählten, demolierten in den Mittagsstunden einige jüdische Häuser in der Stiegelgasse.96 Die Synagoge, die sich wie einige jüdische Anwesen ebenfalls in der Stiegelgasse befand, wurde vollständig zerstört.97 Die teils pa90 91 92 93 94 95 96 97

In der dritten Ingelheimer Gemeinde, Frei-Weinheim, gab es im November 1938 keine jüdischen Bürger. Fragebogen (posthum) von Adolf Mathes, in: LHA Koblenz, 856 054041. Aussage von Georg Ewald, Sprendlingen, 20.08.1946, in: LA Speyer, J 76 73. Aussagen von K. L. und Friedrich Geiß vom 02.08. bzw. 19.08.1947, in: LA Speyer, J 76 59. Graml, Reichskristallnacht (wie Anm. 8), 27. Aussage von Wilhelm Immerheiser, 25.06.1948, in: LA Speyer, J 76 159. Vgl. für weitere Informationen LA Speyer, J 76 60. Meyer/Mentgen, Geschichte der Juden in Ingelheim (wie Anm. 10), 410 f.

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rallel verlaufenden Vorfälle an verschiedenen Tatorten in Ober-Ingelheim zogen sich bis in die Abendstunden hin. In der Zwischenzeit – wahrscheinlich noch in der Mittagszeit – erreichte Mathes eine Nachricht der Bad Kreuznacher SA-Standarte, die mit einem eigenen Rollkommando die Novemberpogrome nach Sprendlingen getragen hatte. Unter der Führung des SA-Standartenführers August Bretz, seines Zeichens auch Bürgermeister von Welgesheim, war es in Sprendlingen zu Zerstörungen gekommen, an denen sich auch Einheimische beteiligt hatten.98 Dabei soll Bretz einer Sprendlinger Kontaktperson erklärt haben, er wolle sich mit Kollegen der Ingelheimer SA-Standarte treffen, um die nächsten Schritte zu besprechen.99 Das ist nachvollziehbar – zumal Sprendlingen genau an der Grenze des Kreises Bingen zur Rheinprovinz lag und das Vorgehen der Kreuznacher SA-Leute aus der Rheinprovinz eigentlich in den Operationsbereich der SA aus dem Kreis Bingen fiel.100 In diesem Fall wäre Mathes als ranghöchster SA-Führer der Ingelheimer Gemeinden ein logischer Ansprechpartner gewesen – und tatsächlich setzte sich Mathes mit einigen SA-Leuten, darunter Lehrerkollegen und einzelne österreichische Legionäre, in einem Lastwagen in Richtung Sprendlingen in Bewegung.101 Es ist daher anzunehmen, dass Mathes tatsächlich mit Bretz Rücksprache hielt – ob telefonisch oder sogar persönlich, bleibt offen. Und hier kommt wieder der Lehrer Immerheiser ins Spiel: Er hatte in seiner Aussage aus dem Jahr 1948 davon gesprochen, der Auftrag des Rollkommandos sei gewesen, Plünderungen zu verhindern. In seiner ersten Aussage aus dem Jahr 1946 hatte die Intention des Rollkommandos noch so geklungen: „Auf dem Marktplatz angekommen, war bereits der damalige SA-Standartenführer Mathes und andere SA-Führer dort versammelt und Mathes sagte, dass wir nach Sprendlingen fahren würden, um dort an der Judenaktion teilzunehmen. Da ich SA-Mann war, habe ich mich diesem Befehl nicht widersetzt und bin mitgefahren.“102 Diese Aussage zeigt beispielhaft, welche unterschiedlichen Akzente sich in der Selbstwahrnehmung eines Rollkommandos auftaten. Und selbst wenn beide Aussagen der Wahrheit entsprechen, würde dies die fließenden Grenzen hinsichtlich der Aufgaben eines Rollkommandos vor Ort zeigen. Das Rollkommando aus Ingelheim nutzte für die Fahrt ins rheinhessische Umland einen Lastwagen des Weinhändlers Hermann Berndes.103 Da Berndes Parteimitglied

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Vernehmung von Friedrich Philipp Bernhardt, 25.10.1946 sowie Aussagen von Jakob Sitzius und Minna Schloß, 05.10.1946, in: LA Speyer, J 76 73. Vgl. zudem für die Vorgänge in Sprendlingen LA Speyer, J 76 73 und 75 sowie LHA Koblenz, 662,005 97. 99 Aussage von Friedrich Bernhardt, 24.06.1947, in: LA Speyer, J 76 73. 100 Urteil gegen Bretz, 03.08.1949, in: LHA Koblenz, 860 11412. 101 Aussage von Hans-Joachim Berndes, 10.06.1955, in: LA Speyer, J 10 5471. 102 Aussage von Wilhelm Immerheiser, 14.03.1946, in: LA Speyer, J 76 59. 103 Für eine zusammenfassende Einordnung dieses Vorgangs, vgl. Hartmut Geißler, Hermann Berndes. Neue Erkenntnisse. (Kleine Schriften: Ingelheimer Geschichtsthemen, Bd.  9.) Ingelheim 2015, 28–30.

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und NSDAP-Ratsmitglied war, erscheint es nachvollziehbar, dass die örtlichen Funktionsträger gerade ihn ansprachen. Interessanterweise wohnte er selbst in unmittelbarer Nähe zur Stiegelgasse,104 sodass er die dortigen Zerstörungen zumindest registriert haben dürfte. Es ist dabei bemerkenswert, dass Hermann Berndes, der in keiner Aussage zu den Vorfällen in der Stiegelgasse auftaucht, darauf verzichtete, selbst zu fahren oder seinen Fahrer zu rufen. Stattdessen bestimmte er seinen Sohn Hans-Joachim zum Fahrer, obwohl dieser nach eigener Aussage den LKW noch nie gefahren hatte.105 Zugleich macht der Vater seinem Sohn „ausdrücklich“ klar, dass dieser stets im LKW zu bleiben hatte.106 Durch die Vorsicht sowie die Warnung an den Sohn besteht die Chance, dass die SA-Leute ihre Pläne angedeutet hatten und Hermann Berndes jemanden mit der Fahrt betrauen wollte, dem er vertraute, sich aus den Vorfällen vor Ort herauszuhalten. Die eigentümliche wie schwer zu überblickende Gruppe aus Ingelheimer SA-Leuten und österreichischen Legionären, die ein Fahrtziel vorgab, das rund 30 Autominuten von Ober-Ingelheim entfernt lag, dürfte diese Entscheidung zusätzlich beeinflusst haben. In Sprendlingen fehlen Einzelheiten zur Ankunft des Rollkommandos. Die Novemberpogrome waren dort aber in den Mittagsstunden bereits weit fortgeschritten, sodass die Ingelheimer SA zumindest nicht an der Initiierung beteiligt war. Dass man sich dort mit der Kreuznacher SA-Standarte über das weitere Vorgehen beriet, ist wahrscheinlich; anders als die Ingelheimer SA-Leute, die zur Gruppe „Kurpfalz“ gehörten, erhielt die Kreuznacher Standarte aus der preußischen Rheinprovinz ihre Befehle von der SA-Brigade aus Trier.107 Eine Abstimmung war daher notwendig, um den weiteren Operationsbereich abzustecken. Die Kreuznacher SA-Standarte griff jedenfalls in den Nachmittagsstunden nicht mehr weiter in den Kreis Bingen über. Stattdessen kam es in Sprendlingen zu einer Vereinigung mit einem zweiten Rollkommando, das sich aus dem Sprendlinger Umland gebildet hatte und mit mindestens einem Personenwagen unterwegs war.108 Die Fahrtroute führte stattdessen in den benachbarten Landkreis

104 Berndes’ Wohnhaus und Weinhandlung befand sich im Neuweg (Geißler, Hermann Berndes (wie Anm. 103), 16). 105 Aussage von Hans-Joachim Berndes, 26.07.1948, in: LA Speyer, J 76 159. Vgl. dort auch die Aussage von Karl Reith, 26.07.1948. S. für eine weitere Einordnung der Bereitstellung des LKWs die Aussage von Hans-Joachim Berndes, 10.06.1955, in: LA Speyer, J 10 5471. 106 Vgl. LA Speyer, J 76 159. 107 Urteil gegen Bretz, 03.08.1949, in: LHA Koblenz, 860 11412. 108 Vgl. für den ersten Personenwagen das Urteil vom 21.04.1950 (Durchschlag), in: LHA Koblenz, 856 135326. Vgl. ebendort für einen möglichen zweiten, eventuell später losgefahrenen Personenwagen sowie die Aussage von Johann Strunk VI., 30.11.1947, in: LA Speyer, J 76 74; Aussage von Albert Hirschmann, 23.07.1946, in: LA Speyer, J  76 73; Aussage von Ernst Bittmann, 01.12.1947, in: LA Speyer, J 76 97. Friedrich Bernhardt identifiziert in einer Aussage vom 24.10.1946 (ebd.) den Personenwagen als sein Auto und präsentiert ein vages Alibi: Er sei mit mehreren Personen, die er nicht benennen könne, zur Bank nach Alzey gefahren. Dies stellt Albert Hirschmann in seiner Aussage vom 7. Oktober 1946 (ebd.) klar, als er den Aufenthalt in Wallertheim und Flonheim anspricht. Er

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Alzey, tief in die rheinhessische Provinz – und direkt in den unmittelbaren Befehlsbereich des erwähnten Standartenführers Sauer aus Alzey, der wie bereits erwähnt mit Mathes in Kontakt gestanden haben soll.109 Zunächst hielten die beiden Rollkommandos in Wallertheim an, wo sich noch in Republikjahren eine überaus aktive wie selbstbewusste jüdische Landgemeinde befunden hatte. Die in Wallertheim noch lebenden Juden erlebten ähnliche Zerstörungen wie ihre Leidensgenossen in den Ingelheimer Gemeinden.110 In dieser Ortschaft ereigneten sich ebenfalls gewalttätige Übergriffe; der 94-jährige Abraham Mann erlag zwei Wochen nach den Novemberpogromen seinen schweren Kopfverletzungen.111 Das kleinere Sprendlinger Rollkommando, gebildet aus regional bekannten Personen, wurde am Tatort gesichtet.112 Das größere Ingelheimer Rollkommando, bestehend aus ortsfremden Personen, hielt sich zwar hier auf und beschlagnahmte ein Automobil;113 es existieren aber keine Zeugenaussagen aus dem Ort selbst. Hier verschwimmen die Grenzen zu möglichen ortsansässigen oder aus Nachbarorten hinzugekommenen Unterstützern.114 Das genaue Pogromgeschehen bleibt diffus. Nach dem Halt in Wallertheim trennten sich die beiden Rollkommandos wieder: Während das in Sprendlingen gebildete Rollkommando weiter nach Süden fuhr,115 steuerte das Ingelheimer Rollkommando Partenheim an. Dort soll das Rollkommando aus Ingelheimer SA-Leuten und österreichischen Legionären nach einer Zeugenaussage Gegenstände aus dem Anwesen Neis auf die Straße geworfen haben; allerdings ist die Quellenlage für Partenheim außerordentlich kompliziert, weshalb man diese Beobachtung mit Vorsicht genießen muss.116 Dieser Zwischenstopp lag bereits auf dem Rückweg in die Ingelheimer Gemeinden und dürfte angesichts eines einzelnen jüdischen Anwesens vergleichsweise kurz ausgefallen sein.

beteuert aber, wie viele SA-Leute in vergleichbaren Fällen, dass sie sich „die Sachen nur angesehen hätten“. 109 Vgl. die Aussage von Wilhelm Immerheiser, 25.06.1948, in: LA Speyer, J 76 159. 110 Vgl. diverse Aussagen zu Wallertheim im LA Speyer, J 76 97. 111 Hoffmann, Landjuden (wie Anm. 10), 263. 112 Urteil, 21.04.1950 (Durchschlag), in: LHA Koblenz, 856 135326. 113 Aussage von Wilhelm Immerheiser, 25.06.1948, Vernehmung von Friedrich Geiß, 25.08.1948 und Aussage von Hans-Joachim Berndes, 26.07.1948, in: LA Speyer, J 76 159. 114 Vgl. hierzu diverse Berichte aus folgenden Strafprozessen, die alle Wallertheim thematisieren, in: LA Speyer, J 76 73, 74, 75, 97 und 159. 115 Aussage von Albert Hirschmann, 07.19.1946, in: LA Speyer, J 76 97. S. für detailliertere Informationen zu dem weiteren Vorgehen auch das Urteil, 21.04.1950 (Durchschlag), in: LHA Koblenz, 856 135326. 116 Bericht der Gendarmerie Ober-Hilbersheim, 30.11.1948, in: LA Speyer, J 76 159. Es ist an dieser Stelle zu bemerken, dass das Urteil vom 21. November 1949 (ebd.) diese Beobachtungen wieder verwirft, ebenso wie zahlreiche Hinweise zu den Novemberpogromen in Jugenheim. Vgl. für diese Diskrepanz zwischen Gendarmeriebericht bzw. den ersten Ermittlungen sowie die außerordentlich laxe Prozessführung Klein, Juden in Jugenheim (wie Anm. 10), 112–114.

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Die letzte Station des Rollkommandos war Jugenheim. Hier wird das Zusammenwirken zwischen Rollkommando und Ortsansässigen deutlicher. Inwieweit hier der Umstand, dass der Ingelheimer Geiß aus Jugenheim stammte,117 die Wahl dieses Zwischenstopps oder den Empfang der Auswärtigen beeinflusste, ist unklar. Gesichert ist jedoch, dass das Zusammenspiel mit der örtlichen SA funktionierte: Ortskundige Lotsen brachten das Rollkommando zu den jüdischen Häusern, die durch umfangreiche Zerstörungen unbewohnbar wurden.118 Örtliche Unterstützer waren daran ebenso beteiligt wie an der Zerstörung der Synagoge; Klein beziffert die Zahl dieser Personen auf „50 bis 60“.119 Nach diesem letzten Zwischenstopp machte sich das Rollkommando wieder auf den Weg in die Ingelheimer Gemeinden. Mit dem Aufenthalt in Jugenheim war aber der Tag für die Ingelheimer SA-Leute um Adolf Mathes nicht beendet. Zwar war mittlerweile das Pogromende im Rundfunk gemeldet worden,120 was auch in Ingelheim die bereits angedeuteten Aufräumarbeiten nach sich zog. Dennoch unternahmen die Ingelheimer SA-Leute in den Abendstunden eine letzte Fahrt nach Bingen – nach eigener Aussage waren sie dorthin befohlen worden, um Plünderungen zu verhindern.121 In Bingen kam es aber zu einem Zwischenfall, der ihren angeblichen Fahrtgrund konterkarierte: Die lokale Gendarmerie und SS setzten die Ingelheimer SA-Leute im Binger Stadtzentrum fest, weil sie diese bei Plünderungen in einem jüdischen Anwesen antrafen.122 Erst nach einem klärenden Gespräch mit dem Binger Bürgermeister wurden die Ingelheimer SA-Leute wieder in ihre Heimatgemeinde entlassen. Diese Episode zeigt erneut, wie dynamisch kleinere mobile Kommandos operieren und welches Eigenleben sie entwickeln konnten. 3. Im südlichen Rheinhessen – Ein SS-Rollkommando Nierstein und Oppenheim sind nicht nur geographisch und sozial eng miteinander verbunden. Beide Ortschaften teilten sich früher eine jüdische Gemeinde, deren Synagoge in der an jüdischer Bevölkerung größeren Stadt Oppenheim lag.123 Am Morgen des 10. November hatten bereits zwei Männer an der Niersteiner Tankstelle angehalten

Vernehmung von Friedrich Geiß, 19.08.1947, in: LA Speyer, J 76 59; Klein, Juden in Jugenheim (wie Anm. 10), 57. 118 Aussagen von Bertha Müller, 07.01.1948 sowie von Maria Wolf (geb. Hock), 06.02.1948, in: LA Speyer, J 76 159. 119 Klein, Juden in Jugenheim (wie Anm. 10), 57. 120 Süß, deutsche Gesellschaft (wie Anm. 9), 156. 121 Vernehmung von Friedrich Geiß, 07.06.1949, in: LA Speyer, J 76 159. 122 Bernard, Judenpogrom in Bingen (wie Anm. 10), 333 f. 123 Wolfgang Kemp, Dokumentation Oppenheimer und Niersteiner Juden: 1933–1945. Alzey 2009, 37. Dort befindet sich auch ein ausführliches Kapitel zu Juden in Oppenheim. 117

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und sich nach dem Stand der Pogrome in Nierstein und Oppenheim erkundigt.124 Da der Tankwart, von dieser Anfrage überrascht, die Auswärtigen darüber informierte, dass derartige Vorfälle bislang nicht vorgekommen seien, hätten die beiden Männer über das Geschäftstelefon entsprechende Anweisungen an die Ortsgruppenleitung in Nierstein und Oppenheim durchgegeben.125 Zunächst beschränkte sich das Pogromgeschehen auf Oppenheim, doch im Laufe des Vormittags kam es zum Ausgreifen der Novemberpogrome auf Nierstein. Dies lässt sich zurückführen auf die Tätigkeit eines kleinen Rollkommandos, das aus dem SS-Unterscharführer August („Aule“) Bauer, dem Schornsteinfeger Georg Klemmer, eventuell noch dessen Lehrling, sowie dem HJ-Mitglied Hans Seilheimer und weiteren Personen aus Oppenheim bestand.126 Ob das Rollkommando zu allen Zeiten zusammenblieb oder einige dieser Personen nur etappenweise dabei waren oder unabhängig voneinander nach Nierstein kamen, ist offen. Gesichert ist, dass Niersteiner SA-Leute die auswärtigen „Gäste“ empfingen und diese als Lotsen zu den fünf jüdischen Häusern im Ortszentrum führten; dort wurden die Zerstörungen gemeinsam vorgenommen.127 Irrtümlicherweise wurden dabei aber auch nichtjüdische Wohnungen verwüstet, was den Pogrombefehlen zuwiderlief und nach den Novemberpogromen zu Problemen innerhalb der NSDAP-Ortsgruppe führte.128 Die Auswärtigen, die an diesen Zerstörungen teilnahmen, waren dafür nicht sensibilisiert: Sie sammelten sich am frühen Nachmittag in Nierstein und fuhren weiter ins rheinhessische Hinterland. Hier befand sich eine Vielzahl kleinerer Dörfer, denen das Rollkommando nun einen Besuch abstattete. Es liegt nahe, dass SS-Unterscharführer Bauer nun, da die Pogrome in Oppenheim und Nierstein in Gang gebracht worden waren, seine Aufmerksamkeit auf das Geschehen in den umliegenden Ortschaften lenkte. Bauer, Klemmer, Seilheimer und wahrscheinlich der Lehrling von Klemmer bildeten daher ein kleines Rollkommando, das unter dem Befehl des SS-Mannes Bauer stand und den Wagen des Schornsteinfegers Klemmer nutzte.129 Dass es sich dabei nicht um 124 Aussage von Peter Hartmann, 09.12.1945, in: LA Speyer, J 76 54. Vgl. auch Maier, Novemberpogrome (wie Anm. 10), 40. 125 Aussage von Peter Hartmann, 09.12.1945, in: LA Speyer, J 76 54. 126 Aussage von Katharina Hildebrandt, 08.05.1947, in: LHA Koblenz, 856 132749. Für die Zusammensetzung dieses Rollkommandos vgl. den Urteilsspruch (Durchschlag) des Strafprozesses, 30.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397. 127 Maier, Novemberpogrome (wie Anm. 10), 41. Vgl. hierzu insbesondere die Aussagen von Katharina Bernhardt, 26.07.1947, in: LHA Koblenz, 856 134310; Katharina Hildebrandt, 08.05.1947, in: LHA Koblenz, 856 132749 und Gertrude Wemmer, 24.06.1945, in: LHA Koblenz, 856 137403. Vgl. auch LA Speyer, J 76 54. 128 LA Speyer, H 53 1772; Kemp, Dokumentation (wie Anm. 123), 164; Maier, Novemberpogrome (wie Anm. 10), 44 f. 129 Vgl. Urteilsspruch (Durchschlag) des Strafprozesses, 30.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397. Der Lehrling wurde im Prozessverlauf nicht identifiziert. Vgl. auch Vernehmung von Rudolf Thomas, 31.12.1946, in: LA Speyer, J 76 34; Aussage des SPD-Ortsvorsitzenden Philipp Schwamb III., 18.03.1949, in: LHA Koblenz, 856 133413. Aussage von Änne Heinz, 18.02.1947, in: LHA Koblenz,

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simple Kontrollfahrten gehandelt haben sollte, wie Bauer im Nachkriegsprozess behauptete,130 wird sich in der Folge zeigen. Von Nierstein aus brach das Rollkommando in die umliegenden Gemeinden auf und näherte sich zunächst Hahnheim. Die beiden Ortsgruppen waren durch die verklärte „Kampfzeit“ vernetzt, als die SA einen Sturm in Nierstein unterhalten hatte, der wegen des regen Zulaufs geteilt wurde – in einen SA-Sturm für das größere Nierstein und in einen SA-Sturm für die umliegenden Orte.131 Dieser zweite Sturm hatte seinen Sitz in Hahnheim.132 Dort kannte August Bauer die Weinhändlerfamilie Trum, denn nach einer späteren Auskunft der Bürgermeisterei Hahnheim hatte Bauer gemeinsam mit SS-Kollegen aus Worms und Nierstein Bernhard Trum nach 1933 unter Androhung von Gewalt erpresst.133 Änne Heinz, die Tochter von Bernhard Trum, gab nach dem Zweiten Weltkrieg zu Protokoll: „Auch erschienen SS-Männer, meistens in der Dunkelheit und verlangten Geld von meinem Vater, so einmal nachts 1.000 RM, das mein Vater aus Angst immer gegeben hat.“134 Im November 1938 war das Geschäft der Familie Trum im Zuge des kontinuierlichen Drucks und der allgemeinen antijüdischen Maßnahmen im Wirtschaftsleben quasi am Ende gewesen, der zuckerkranke Bernhard Trum im Oktober 1938 verstorben.135 Die Novemberpogrome erlebte er so nicht mehr; seine Angehörigen sowie die anderen beiden jüdischen Familien Mann und Haas hielten sich aber beim Eintreffen des Rollkommandos im Ort auf.136 Die männlichen Juden von Hahnheim waren aber in den Morgenstunden von der zuständigen Gendarmerie Undenheim befehlsgemäß verhaftet und im Gemeindehaus festgesetzt.137 Die Ankunft eines auswärtigen Rollkommandos machte in Hahnheim Eindruck. Nach den Erinnerungen von Änne Heinz, die August Bauer unter den SS-Männern erkannte, wurde nach den Novemberpogromen von einem „Sonderkommando“ gesprochen.138 Dieses Kommando wurde in Hahnheim erwartet und von Ortsansässi-

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856 132310. Vgl. für die Erwähnung eines auswärtigen Kommandos aus SS-Leuten in Nierstein außerdem: LA Speyer, J 76 54. Urteil, 31.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397. Aussage von Heinrich Kalbfuss, [28.]10.1948, in: LHA Koblenz, 856 132310. Aussage von Friedrich Held, 05.04.1948, in: LHA Koblenz, 856 135240. LA Speyer, J 10 1108. Aussage von Änne Heinz, 18.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135240. HHStA Wiesbaden, 685 818. Marek Zurowski, Hahnheim. 764–1990. Aus der Geschichte einer rheinhessischen Weinbaugemeinde. Horb a. N. 1991, 197 f. Für die jüdische Bevölkerung in Hahnheim vgl. auch LA Speyer, U 185 1. Aussage des damaligen Verhafteten Heinrich Haas, 25.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135240; Aussage des Polizeidieners und christlichen Stiefbruders von Heinrich Haas, Karl Dexheimer, 23.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135321. Aussage von Änne Heinz, 18.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135240. Bei der angeblichen Wiedererkennung der SS-Männer Schuch und Blüm täuschte sie ihre Erinnerung; sie waren aber an den Vorfällen bei den Trums vor den Novemberpogromen beteiligt, was in Änne Heinz’ Restitutions-

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gen zu den jüdischen Häusern geführt.139 Das Zusammenspiel von Ortsbürgern und „Fremden“ wird hier deutlich. Der – trotz der Geschäftsverluste – intakte Weinkeller der Familie Trum wurde teilweise zerstört, und in allen vier jüdischen Wohnhäusern kam es zu größeren Zerstörungen.140 Es ist offen, ob das Rollkommando die Synagoge in Brand setzte; der Aufenthalt des Rollkommandos in Hahnheim stand jedoch mit der Brandstiftung zumindest zeitlich in enger Abfolge.141 Inventar aus den jüdischen Häusern wurde von den Herumstehenden in das Feuer geworfen.142 Dass die Ortsbevölkerung die Szenerie erst nachträglich mitbekam, „als sie von den Kartoffelfeldern heimeilte“, wie es der Hahnheimer Pfarrer August Semmler nach dem Krieg zu Protokoll gab, ist höchst unwahrscheinlich.143 Stattdessen spricht Vieles für ein Zusammenwirken von Einheimischen und Auswärtigen. Dieses Zusammenwirken fand auch im nahen Undenheim statt, wohin das Rollkommando nach seinem Zwischenhalt in Hahnheim als nächstes fuhr. In Undenheim befand sich zum Zeitpunkt der Novemberpogrome lediglich ein einziges jüdisches Haus, das Anwesen des Kaufmanns Julius Baum.144 Bei der Ankunft des Rollkommandos im Ort war nach Zeugenaussagen eine Kontaktperson zugegen: Johann Schickert, der Gründer der NSDAP-Ortsgruppe.145 Er schien das Rollkommando zu erwarten und wurde mit Klemmer an dem jüdischen Haus gesehen. Dass der Belastungszeuge, der SPD-Ortsvorsitzende Philipp Schwamb III., in seiner Nachkriegsaussage explizit präzisiert, es seien nur diese beide Personen „von [den] Erwachsenen“ dabei gewesen,146 legt nahe, dass sich, wie an anderen Tatorten, in Undenheim Kinder aufgehalten haben könnten. Die Nachkriegsverfahren verfolgten diese Spur für Undenheim nicht. Es kann aber angenommen werden, dass das Rollkommando in Undenheim von einer einheimischen Kontaktperson aus dem Kreis der NSDAP-Ortsgruppe zu dem jüdischen Anwesen gelotst wurde und dort sein Zerstörungswerk, das es in anderen Orten

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prozess zur Sprache kam (LA Speyer, J 10 1108). Bauers Präsenz wird dagegen im Urteil eines anderen Nachkriegsprozesses bestätigt (Urteil, 31.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397). Aussagen von Georg Plattner und Walter Heinz, 18.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135240. Vgl. auch LA Speyer, H 53 1893. Diese drei Quellen weisen auf Kontaktpersonen hin, nennen aber unterschiedliche Namen, die alle einen Bezug zur Bürgermeisterei erkennen lassen. Aussagen von Georg Plattner und Walter Heinz, 18.02.1947, in: LHA Koblenz, 856 135240. Vgl. zu den Zerstörungen auch das Schadensverzeichnis (Tabelle), in: StA Mainz, ZGS/E3/15. Da das Gericht bzgl. der Vorfälle in Hahnheim auf die Vorladung von Zeugen aus dieser Gemeinde verzichtete, folgte es in diesem Punkt den Ausflüchten der Angeklagten; der Aufenthalt des Rollkommandos in Hahnheim hatte damit keinen weiteren Einfluss auf die Urteilsfindung (Prozessurteil von Bauer, 30.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397). Zurowski, Hahnheim (wie Anm. 136), 199. HHStA Wiesbaden, 520/05 29771. Diese Aussage kann man als typischen „Persilschein“ werten. Walter Schwamb, Die jüdischen Bewohner der Selztalgemeinden und ihrer Nachbardörfer. Ihre Schicksale. Köngernheim 2012, 43. Aussage des SPD-Ortsvorsitzenden Philipp Schwamb III., 18.03.1949, in: LHA Koblenz, 856 133413. Vgl. ebendort auch das Sitzungsprotokoll, 21.05.1949, in dem diese Aussage erneuert wurde. Ebd.

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bereits praktiziert hatte, fortsetzte. Eine direkte Begegnung des Rollkommandos mit Julius Baum war zeitlich prinzipiell möglich, dürfte jedoch unwahrscheinlich gewesen sein. Schließlich koordinierte die Gendarmerie Undenheim die Verhaftungen der Juden für die umliegenden Gemeinden und dürfte dementsprechend im eigenen Ort die Verhaftung von Julius Baum frühzeitig eingeleitet haben. Nach dem Aufenthalt in Undenheim stieß das Rollkommando tief ins südliche Rheinhessen vor: Dabei ließ es mit Köngernheim, Friesenheim und Weinolsheim drei kleinere Gemeinden ohne jüdische Bürger hinter sich, ehe die SS-Männer in Dolgesheim und Hillesheim einfielen. Beide Gemeinden markierten die südliche Grenze des damaligen Kreises Mainz.147 In Dolgesheim zerschlug das Rollkommando Fenster und Möbel bei der Familie Michel, den letzten in Dolgesheim verbliebenen Juden.148 Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Rollkommando ebenfalls an den umfangreichen Zerstörungen in drei jüdischen Wohnungen im angrenzenden Hillesheim beteiligt war.149 Während die Synagoge von Dolgesheim nicht mehr genutzt wurde und dadurch einer Brandstiftung entging, wurde die Synagoge von Hillesheim beschädigt.150 Abgesehen von diesen geradezu paradigmatischen Tathergängen ist eine Zeugenaussage im Dolgesheimer Kontext besonders interessant. Sie nennt nicht nur den Guntersblumer Johann Oswald als Bestandteil des SS-Rollkommandos, sondern erwähnt auch, dass „sich außerdem der Jude Mann aus Hahnheim auf [sic] dem Auto“ befunden habe.151 Dass sich wirklich Johann Oswald am Tatort befand, ist angesichts seiner parallel stattfindenden Verstrickung in die ortsbezogenen Novemberpogrome in Guntersblum geradezu unmöglich;152 die Erwähnung von Otto Mann lässt aber aufhorchen. Könnte er von dem Rollkommando aufgegriffen worden sein, weil er aus Osthofen stammte und somit der dortigen Gendarmerie überführt werden sollte? Warum hat ihn aber niemand in den anderen Ortschaften erkannt oder in Hahnheim die Verschleppung erwähnt? Dies sind nur einige der vielen offenen Fragen rund um die Rollkommandos. Die Aussage zu Otto Mann kann mangels Quellenmaterials nicht bestätigt werden.

147 Nach der Auflösung des Kreises Oppenheim, der mit Mainz zusammengelegt wurde (vgl. hierzu StA Mainz, VOA 11/35), gehörten Dolgesheim und Hillesheim seit Juli 1938 zum Kreis Mainz. 148 Aussage von Jakob Eifler, 02.02.1947, in: LA Speyer, J 76 31; Winfried Seibert, Dolgesheimer Mord. Der Tod des Juden Julius Frank im Frühjahr 1933. Eine Annäherung. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2002, 103 (Anm. 1 und 4). 149 Vgl. das kreisweite Schadensverzeichnis, in: StA Mainz, ZGS/E3/15. 150 Stefan Fischbach u a , Synagogen Rheinland-Pfalz, Saarland: „und dies ist die Pforte des Himmels“. (Gedenkbuch der Synagogen in Deutschland, Bd. 2.) Mainz 2005, 140 (für Dolgesheim) und 186 (für Hillesheim). 151 Aussage von Jakob Eifler, 02.02.1947, in: LA Speyer, J 76 31. 152 Vgl. die Strafprozessakte zu Guntersblum, in: LA Speyer, J 76 31. Daraus ergeben sich diverse Tathergänge und persönliche Verstrickungen, die diese Zeugenaussage – die einzige, die Oswald in Dolgesheim gesehen haben will  – entkräftet. Es gibt keine Anhaltspunkte, dass Guntersblumer Bürger, die bei den Novemberpogromen im eigenen Ort aktiv waren, sich zwischenzeitlich in andere Ortschaften entfernten. Vgl. hierzu LA Speyer, J 76 33.

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Das Rollkommando erreichte in den späten Abendstunden erneut die Rheinfront und reorganisierte sich im Raum Oppenheim; der bisherige Fahrtteilnehmer Seilheimer verließ das Rollkommando, während mit den SS-Männern Johann Bottmann und Hermann Wolf zwei neue Helfer mobilisiert wurden.153 Denn es gab noch ein Fahrtziel: Dienheim. In diesem Ort lebte als einziger jüdischer Bürger der Kriegsinvalide Berthold Hirsch mit seiner christlichen Ehefrau Katharina.154 Berthold Hirsch war aber bereits am Morgen verhaftet und nach Oppenheim gebracht worden; eine anschließende Hausdurchsuchung durch den Dienheimer Bürgermeister und den Ortsgendarm verlief ergebnislos.155 Während ihr Ehemann im Oppenheimer Gefängnis saß, suchte Katharina Hirsch Hilfe bei ihren nichtjüdischen Verwandten, die ihr in ihrem Wohnhaus beistanden. Trotz der Ereignisse zu Tagesbeginn schien Ruhe eingekehrt zu sein – bis das Rollkommando gegen 21 Uhr den Ort erreichte und zielstrebig auf das Wohnhaus des Ehepaars Hirsch zusteuerte.156 Die SS-Leute um August Bauer drangen gewaltsam ins Haus ein, drängten die Verwandten ins Freie und schlossen die Haustür von innen ab.157 In der Folge zerstörten die SS-Leute die Einrichtung und bedrängten Katharina Hirsch derart, dass sie sich nur durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten wusste. In der Zwischenzeit suchten die Verwandten bei dem Bürgermeister um Unterstützung. Dieser erschien mit den Verwandten tatsächlich am Tatort – zu diesem Zeitpunkt war das Rollkommando aber schon wieder abgezogen. Diese Episode verdeutlicht, verbunden mit einem persönlichen Wortwechsel zwischen Bauer und Hirsch im Haus,158 dass die Rollkommandos durchaus persönliche Rechnungen beglichen. Die Aussagen von Hirsch und ihrer Verwandten sowie die Bereitschaft des Bürgermeisters, zum Tatort zu kommen, legen hier ein eigenmächtiges Vorgehen des Rollkommandos nahe. Außerdem fehlt in Dienheim – anders als zum Beispiel in Undenheim – die örtliche Kontaktperson. In den Abendstunden soll August Bauer mit seinem Oppenheimer Rollkommando sogar wieder im nahen Nierstein gesehen worden sein. In der Weinbaugemeinde am Rhein ereigneten sich entgegen des Standartenbefehls am Abend Plünderungen in den jüdischen Anwesen – was zu einem erheblichen Nachspiel für die NSDAP-Ortsgrup-

153 154 155 156 157 158

Urteilsspruch (Durchschlag) des Strafprozesses, 30.10.1950, in: LHA Koblenz, 856 135397. Gemeinde Dienheim (Hrsg.), 1250 Jahre Weinbaugemeinde Dienheim am Rhein: 754–2004. Dienheim 2004, 271. Aussage von Katharina Hirsch, 20.06.1945, in: LHA Koblenz, 856 135397. Ebd. Sitzungsprotokoll, 20.02.1951, in: LHA Koblenz, 856 135397. Die folgenden Informationen stammen aus dem Säuberungsspruch, der die Aussagen von Katharina Hirsch und ihrer Verwandten bestätigte. Ebd. Nach den dort von Zeugen und Angeklagten bestätigten Wortwechseln schien August Bauer die nach nationalsozialistischer Ideologie „Mischehe“ genannte Ehe zwischen dem Juden Berthold Hirsch und der Christin Katharina Hirsch zu kennen.

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pe führte.159 Nach Informationen von Wolfgang Kemp soll August Bauer zum Zeitpunkt der Plünderungen am Tatort erschienen sein, „um Juden abzuholen.“160 Da aber die männlichen Juden Niersteins in Haft saßen, soll er sich damit begnügt haben, drei Flaschen Wein, die aus jüdischen Häusern entwendet worden waren, mitzunehmen. Allerdings ist diese Episode durch keine Quellenaussagen belegt, könnte aber durch die räumliche Nähe zu Nierstein eine weitere Etappe einer folgenreichen Rundfahrt durch die Rheinfront markiert haben. 4. Weitere Rollkommandos in der Region? Neben diesen bereits vorgestellten Rollkommandos tauchen in Zeitzeugenberichten immer wieder Schilderungen von weiteren, angeblichen auswärtigen Personen auf, die sich während der Novemberpogrome in den Ortschaften aufgehalten hätten. Selbst wenn es diese Auswärtigen tatsächlich gegeben hätte, gaben sie den lokalen, vielerorts mit den Auswärtigen verbündeten, Tätern den Vorteil, ihre eigene Beteiligung zu verschleiern.161 Die Rollkommandos konnten als Täter vorgeschoben, in ihrem Wirken überhöht oder in Gänze erfunden werden. Dies bringt Schwierigkeiten für die Analyse des örtlichen Pogromgeschehens mit sich. Ein Beispiel aus Nieder-Olm verdeutlicht die mitunter schwierige Ereignisrekonstruktion. So will der Heimathistoriker Anton Weisrock ein auswärtiges Rollkommando vor Ort gesehen haben, wenige Stunden bevor von Nieder-Olm aus ein weiteres Rollkommando nach Ebersheim aufbrach: „Mittags, etwa um 12 Uhr, fuhr auf der Pariser Straße ein DKW-Union-Bus mit vier Insassen vor. Diese waren mit schwarzen Stiefeln und eben solchen Hosen bekleidet. Oben waren sie in Zivil, auf dem Kopf trugen sie Schlapphüte. Sie luden runde Flußsteine aus dem Auto und warfen damit bei Leopold Kramer die Schaufensterscheiben ein. Dabei ermunterten sie die eben von der Volksschule kommenden Kinder, bei der Demolierung mitzuhelfen – sie dürften dies tun.“162

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Der Beigeordnete Hock wurde seines Amtes enthoben, die Plünderer durch die angeblich abwesenden Funktionsträger (Bürgermeister Strub und Ortsgruppenleiter Bittel) verhaftet. Vgl. hierzu LA Speyer, U 278 1978. S. auch: Sitzungsprotokoll, 04.02.1949, in: LHA Koblenz, 856 133911. Für eine Einordnung vgl. auch Maier, Novemberpogrome (wie Anm. 10), 48. 160 Kemp, Dokumentation (wie Anm. 123), 168. Die folgenden Informationen zu Bauers Präsenz in Nierstein sind dieser Textstelle entnommen. Bauer erwähnte diese Episode in seinem Spruchkammerverfahren nicht. 161 Vgl. Longerich, braune Bataillione (wie Anm. 8), 235. 162 Weisrock/Rettinger/Weisrock, jüdische Gemeinde von Nieder-Olm (wie Anm. 10), 113. Diese Beobachtung bestätigen die Aussagen von Katharina Binz und Wilhelm Sieben, 07.08.1947, in: LA Speyer, J 76 35.

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Die Steinwürfe bildeten den Auftakt des örtlichen Pogromgeschehens in den Mittagsstunden: Es kam in den anderen jüdischen Häusern in Nieder-Olm daraufhin zu den erwähnten, vergleichbaren Vorfällen.163 Die Auswärtigen werden in Zeitzeugenberichten zu diesen Vorfällen übereinstimmend genannt – doch woher sie kamen und inwieweit sie wirklich ein koordiniertes Rollkommando bildeten oder situationsbezogen antisemitische Gewalt ausübten, bleibt unklar. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Zeugenaussage aus dem nahen Klein-Winternheim, die das Wirken von Rollkommandos nahelegt. So sagte ein dortiger SA-Mann aus: „Ich kam abends nach meinem Spätdienst in die Wirtschaft Wassermann. Gegenüber befand sich das Haus der Firma Alex und Otto Abraham, in dem nachmittags angeblich von Finther Einwohner [sic] die Einrichtungen der Büroräume zertrümmert wurden.“164

Allerdings förderte der Prozess zu einem Finther Rollkommando, das in Nieder-Saulheim (Kreis Alzey) sein Unwesen trieb, keine Erkenntnisse zu einem Zwischenstopp in Klein-Winternheim zutage.165 Außerdem beruht die Aussage des Klein-Winternheimer SA-Mannes auf Hörensagen und könnte durchaus eine Schutzbehauptung gewesen sein, um Einwohner, die sich an den Vorfällen beteiligt haben könnten, zu decken. Während die Aussagen in Nieder-Olm und Klein-Winternheim nicht zu verifizieren waren, konnte eine vergleichende Regionalstudie die Präsenz eines kleinen Rollkommandos in Guntersblum aufzeigen. Hier wurden auswärtige Personen in Motorradjacken genannt, die sich an Tatorten des Pogroms aufhielten.166 Tatsächlich durchstreifte an diesem Tag der Eicher SA-Truppführer Heinrich Widder mit einem SA-Kollegen mit einem Motorrad einige Rheindörfer – und kam auch nach Guntersblum.167 Ähnlich wie August Bauer gab Heinrich Widder im Nachkriegsprozess den Zweck seiner Route als „Kontrollfahrt“ an  – was wieder zeigt, dass die Definition einer solchen „Kontrollfahrt“ mitunter weit gefasst wurde. Dies unterstreicht ein abendlicher Abstecher Widders nach Hamm am Rhein, der stark demjenigen von August Bauer nach Dienheim ähnelte: Wieder erreichte ein Rollkommando in den Abendstunden einen vergleichsweise ruhigen Tatort, wieder kannten Mitglieder des Rollkommandos ihre

163

Aussage von Jakob Sieben, 25.02.1947; Aussage von Elisabeth Stauder, 20.02.1947; Aussage von Fritz Schwarz, 07.08.1947; Aussage von Anna Petry, 13.02.1947; Aussage von Peter Neeb, 16.02.1947, alle in: LA Speyer, J 76 35. S. hierzu ebenfalls Weisrock/Rettinger/Weisrock, jüdische Gemeinde von Nieder-Olm (wie Anm. 10), 113. 164 Gesuch von Johann Limberger, 21.09.1945, in: LHA Koblenz, 856 134540. 165 Vgl. LA Speyer, J 76 155 bzw. 158. 166 Aussage von Heinrich Schmunk, 25.11.1938 sowie Aussagen von W. R. und Johann Rauschkolb, 26.11.1938, in: LA Speyer, H 53 1772. 167 Vernehmung von Heinrich Widder, 05.08.1945, in: LHA Koblenz, 856 134640.

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Opfer persönlich – und wieder kam es zu massiven Zerstörungen und Übergriffen.168 Diese Verknüpfung der Novemberpogrome in Guntersblum und in Hamm am Rhein zeigt, wie viel Potenzial in der Analyse von Quellendokumenten zu den Novemberpogromen stecken kann. Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Spruchkammerakte oder eine Nachkriegsprozessakte vergleichbare Verknüpfungen und Erkenntnisse für Nieder-Olm oder Klein-Winternheim bereithalten könnte. Im Fall Guntersblum war die Akte des SA-Truppführers aus Eich ein Zufallsfund, der aber nur durch die Ausweitung der Quellenrecherche auf die südlichen Rheindörfer überhaupt möglich wurde. Die Recherche zu den Rollkommandos zeigt, dass systematische Quellenrecherchen in den betroffenen Ortschaften schnell an ihre Grenzen stoßen – insbesondere bei den hier aufgezeigten dynamischen Pogromverläufen in Rheinhessen mit seiner Vielzahl an jüdischen Landgemeinden. IV. Fazit Der Historiker Hermann Graml, langjähriger Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, urteilte einst über die Rolle der Rollkommandos: „30 oder 50 Mann, die von einem oder zwei Lastwagen heruntersprangen und Synagogen stürmten, konnten eine ‚spontane Demonstration‘ weder provozieren noch vorspiegeln. Sie machten die lenkende Hand der obersten Führung nur besonders sichtbar.“169 Tatsächlich konnten die Rollkommandos dem Pogromgeschehen eine neue Bedeutung geben – gleich, wie viele Personen sie genau umfassten: Durch ihre Organisation und Präsenz in Ortschaften, denen sie häufig nicht als Ortsbürger verbunden waren, zeigten sie, dass die Novemberpogrome ein reichsweites Ereignis waren, das bis zu einem gewissen Grad von höheren Befehlsträgern (Kreisleitung, Gauleitung, SA-Standartenstellen) gesteuert werden konnte. Freilich konnte es auch durch den Aktivismus lokaler Parteifunktionäre in größeren Städten ebenso wie in kleineren Landgemeinden zu antisemitischen Ausschreitungen kommen – und man sollte nicht dem Irrtum unterliegen, die Novemberpogrome als einen reichsweit organisierten, wie lückenlos durchgezogenen Masterplan sinisterer Fanatiker fehlzuinterpretieren. Die Novemberpogrome konnten vor allem deshalb reichsweit zur Entfaltung kommen, weil lokale Funktionsträger die jahrelang vorhandene antisemitische Agitation entweder unabhängig oder im Einklang mit auswärtigen Rollkommandos in Gewalt münden ließen. Durch ihre Mobilität konnten die Rollkommandos das Pogromgeschehen in mehreren Ortschaften beeinflussen und so die Pogrombefehle vergleichsweise effizient vollstrecken oder kontrollieren. Örtliche Aktivisten, die das Rollkommando bei sei168

Aussagen der überlebenden jüdischen Bürger Alma Hess und Arthur Kaiser, 21.12.1945 bzw. 09.01.1946, in: LHA Koblenz, 856 134593. 169 Graml, Reichskristallnacht (wie Anm. 8), 26.

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ner Ankunft erwarteten, konnten die mobilen Aktivisten in ihrer Tätigkeit bestärken und geografisch orientieren. Wie in den Beispielen aufgezeigt, kam es häufig zu einem Austausch zwischen Mitgliedern des Rollkommandos und Mitgliedern der örtlichen SA- oder NSDAP-Ortsgruppe. Dieses heterogene Konglomerat aus lokalen und fremden Aktivisten sowie einheimischen Schaulustigen gab den Novemberpogromen eine Öffentlichkeit. Die Ankunft der Auswärtigen begünstigte zudem einen Voyeurismus an den Tatorten. Wie Wildt für antisemitische Vorfälle in der NS-Zeit allgemein analysiert, hatten stets „auch die Zuschauer, Passanten, bystanders eine gleichermaßen elementare Rolle als Duldende oder Billigende, als Komplizen.“170 Es wäre daher ein Fehler, gerade in den Landgemeinden stets die Verantwortung auf Auswärtige abzuladen, da diese vielerorts nur einen Teil der Täterschaft bildeten – so auch in den hier vorgestellten Ortschaften. Besonders anschaulich lässt sich die Mittäterschaft der Einheimischen an den ortskundigen Lotsen aufzeigen, die auch in Rheinhessen den Rollkommandos den Weg zu den jüdischen Häusern wiesen. Ein weiterer Fehler wäre es, die Novemberpogrome isoliert für jede einzelne Gemeinde zu betrachten. Wenn man sich für diese Herangehensweise entscheidet, stößt man zwar auch auf das in den Quellen vorhandene Topos der „Auswärtigen“, kann jedoch durch die vielfach ungenauen Zeugenaussagen diesen Auswärtigen meistens nicht auf die Spur kommen. Diese Spur kann man aber aufnehmen, wenn man sich der Existenz von Rollkommandos bewusst ist. Verfolgt man die Pfade dieser Rollkommandos konsequent, verknüpft man im optimalen Fall das Pogromgeschehen von verschiedenen Landgemeinden – und erhält so einen neuen Blick auf die Ereignisabläufe. Gleichzeitig erscheinen einzelne Vorgänge in den Landgemeinden in neuem Licht. Persönliche Beziehungen – man denke an die Vorfälle in Hahnheim und Dienheim – werden sichtbar, während lokale Schwerpunkte wie Sprendlingen, wo gleich mehrere Rollkommandos auftauchen, klar hervortreten. Man sollte nicht in jeder Schilderung von auswärtigen Pogromtätern direkt ein Rollkommando vermuten; gibt es aber berechtigte wie vielversprechende Anhaltspunkte, so sollte diesen nachgegangen werden. Durch ihre Mobilität und die mitunter erfolgreich praktizierte Vermummung war es nach dem Zweiten Weltkrieg oft schwierig, die Täter zu identifizieren. Die vielerorts unklare Grenze zwischen Einheimischen und Auswärtigen bei dem Pogromgeschehen führte zu widersprüchlichen Beobachtungen, Vermutungen oder bewussten Falschaussagen, die schwierig nachzuprüfen und noch schwieriger einzuordnen sind. Manche Hinweise oder Anhaltspunkte in den Quellen können dadurch nicht mehr als Denkanstöße sein, da eine Verifizierung mangels Querverweisen nicht möglich ist. Die Strafverfolgung der Nachkriegszeit stand daher vor erheblichen Herausforderungen, auch weil sie das genaue Ausmaß der Novemberpogrome erst aufarbeiten musste

170 Wildt, Volksgemeinschaft (wie Anm. 9), 372.

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und dabei ermittlungstaktische Fehler nicht vermeiden konnte.171 Allerdings konnten diese Nachkriegsprozesse das Wirken einiger Rollkommandos manchmal andeuten, ja gelegentlich sogar offenlegen. Dabei waren die Ermittler stets am erfolgreichsten, wenn sie den Blick weiteten: Die Wirkungsbereiche einzelner rheinhessischer Rollkommandos konnten durch ortsübergreifende Ermittlungen weitgehend rekonstruiert werden. Zukünftige Forschungen zu den Novemberpogromen – insbesondere in Rheinhessen, aber auch jenseits des hier analysierten Raumes – sollten daher verstärkt ortsübergreifende Verbindungen aufzeigen und dabei solche mobilen Kommandos ausführlicher in den Blick nehmen. Zu diesen ortsübergreifenden Verbindungen zählt auch die Ebene der Kreisämter und SA-Standarten, deren Einfluss auf die Initiierung der Novemberpogrome in der Region bislang unzureichend für den rheinhessischen Kontext geklärt ist. Dementsprechend versteht sich dieser Beitrag schließlich als ermutigendes Plädoyer für eine tiefergehende ortsübergreifende Analyse der Novemberpogrome und der mit ihnen verbundenen Rollkommandos. Idealerweise werden so weitere Pfade des Pogroms sichtbar. Christian Müller, M. A./M. Sc., studierte ab dem Wintersemester 2014/2015 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Geschichte (Hauptfach) und Amerikanistik (Beifach). Das Bachelorstudium schloss er im Sommer 2017 mit dem Bachelor of Arts ab, die Bachelorarbeit beschäftigte sich mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Heidesheim. Es folgten ein Masterstudium in Geschichte mit dem Schwerpunkt Neuzeit an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz sowie ein weiteres Masterstudium der Internationalen Beziehungen an der London School of Economics and Political Science. Das britische Masterstudium wurde im Jahr 2019 mit dem Master of Science abgeschlossen, das deutsche Masterstudium im Jahr 2020 mit dem Master of Arts. Der vorliegende Beitrag baut auf der deutschen Masterarbeit auf, die sich im Rahmen einer vergleichenden Regionalstudie mit den Novemberpogromen in den rheinhessischen Landgemeinden befasst. Aktuell ist Christian Müller in der Unternehmenskommunikation bei dem Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim tätig.

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Vgl. exemplarisch für Rheinhessen: LA Speyer, J 76 35, 73, 74, 75, 97 und 159.

„Von Erbkranken und asozialen Familien“ Sozialrassismus zwischen Devianz und Delinquenz in Neustadt an der Weinstraße 1938–1945 Sebastian Senger Die sozialrassistische Exklusion sogenannter „Asozialer“ stigmatisierte und bedrohte diverse Personen, deren Lebensweise nicht in das normierte Weltbild des NS-Regimes zu passen schien Der Nationalsozialismus konnte hierbei an bestehende Ressentiments anknüpfen und bediente sich zur Ausgestaltung der von ihm propagierten „Volksgemeinschaft“ radikaler repressiver Maßnahmen Die gewaltsame Ausgrenzung wurde insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene in die Praxis umgesetzt Sie war wesentlich von den Entscheidungen und Handlungsspielräumen der örtlichen, miteinander kooperierenden Behörden geprägt Mit dem Verweis auf „asoziales“, „arbeitsscheues“ oder „minderwertiges“ Verhalten zerriss das Fürsorgeamt Familien, ordnete die Kriminalpolizei Haftstrafen an und beantragte das Erbgesundheitsgericht Sterilisationen Die am prägnanten Beispiel von Neustadt an der Weinstraße untersuchte sozialrassistische Praxis zeigt zudem sowohl die große Dehnbarkeit der Zuschreibung „asozial“ als auch den elementaren Zusammenhang zwischen großzügiger Sozialpolitik und gewaltsamer Aussonderung I. Einleitung „Bei der Familie Schüler handelt es sich um eine asoziale Großfamilie. […] Die Schüler ist des Mutter-Ehrenkreuzes nicht würdig.“

Mit diesen Worten beurteilte ein Neustadter Kriminalsekretär am 31. Januar 1944 einen Antrag auf ein „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“.1 Wie er zu diesem Urteil gelangte, spezifizierte er nicht weiter. Mit der Zuschreibung „asozial“ schloss er Familie 1

Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  S., 31.01.1944/17.02.1944, in: Stadtarchiv Neustadt an der Weinstraße (StANW), A 5632. Grundsätzlich sind alle genannten Personen, die aus Akten der Archive stammen, pseudonymisiert.

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Schüler verbal aus einer vermeintlich homogenen sozialen Gruppe, vom NS-Regime als „Volksgemeinschaft“ propagiert, aus.2 Diese Form der Exklusion, der sogenannte Sozialrassismus, beruhte auf rassistischen und rassenhygienischen Denkmustern und verband diese mit Wertungen des Klassismus. Ihm fielen während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland unzählige Menschen zum Opfer; sie wurden sozialpolitisch benachteiligt, inhaftiert, zwangssterilisiert, in Konzentrationslager verschleppt und ermordet.3 Erst seit den 1990er Jahren hat diese Seite des Nationalsozialismus verstärkt Beachtung innerhalb der Geschichtswissenschaft gefunden.4 In jüngerer Zeit standen häufig einzelne als „asozial“ verfolgte Teile der Bevölkerung wie Frauen – oder noch weiter präzisiert –, kriminelle Personen und Prostituierte im Fokus der Forschung.5 Ein deutlicher Mangel besteht indes bei regional- bzw. lokalhistorischen Studien – was umso bedauerlicher ist, da menschliches Leben elementar durch die Region, in der man lebt,

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Zum analytischen Potential des Begriffs „Volksgemeinschaft“ und der Etablierung der Volksgemeinschaftsforschung Frank Bajohr, Vom Herrschaftssystem zur Volksgemeinschaft Der lange Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, in: Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hrsg.), Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Beih. 13.) Göttingen 2017, 23–36; Frank Bajohr / Michael Wildt, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 2009, 7–23; Bernhard Gotto / Martina Steber, Volksgemeinschaft – ein analytischer Schlüssel zu Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Uwe Danker / Astrid Schwabe (Hrsg.), Die NS-Volksgemeinschaft. Zeitgenössische Verheißung, analytisches Konzept und ein Schlüssel zum historischen Lernen? (Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Beih. 13.) Göttingen 2017, 37–47; Detlef Schmiechen-Ackermann, „Volksgemeinschaft“!? Vom Streit um Begriffe und Konzepte zur Erweiterung der Forschungsperspektive, in: ders. u. a. (Hrsg.), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. (Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung, Bd. 7.) Paderborn u. a. 2018, 9–24. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, 9–12. Zu den Pionieren auf diesem Gebiet zählen Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus. Köln 1982; Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3); Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 34.) Hamburg 1996. So z. B. bei Thomas Roth, Verbrechensbekämpfung und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende. (Schriftenreihe des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Bd. 15.) Köln 2010; Christa Schikorra, Arbeitszwang, Psychiatrie und KZ. Als „asozial“ verfolgte junge Frauen im Dritten Reich, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), „Gemeinschaftsfremde“. Zwangserziehung im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR. Berlin/Dachau 2016, 83–103; Mirjam Schnorr, Jenseits der „Volksgemeinschaft“? Von Prostituierten und Zuhältern, in: Klaus Latzel u. a., Geschlechterbeziehungen und „Volksgemeinschaft“. (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 34.) Göttingen 2018, 109–132.

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durch die Kommune, in der man wohnt, bestimmt wird, und auch „Nationalsozialismus“ in beträchtlichem Maße vor Ort „gelebt“, „gemacht“ und „verteidigt“ wurde.6 Gegenstand dieses Aufsatzes, der die instruktiven Forschungen von Miriam Breß zu den 1930er Jahren fortführt,7 sind alltägliche Ausprägungen des Sozialrassismus in Neustadt an der Weinstraße in den Jahren 1938–1945.8 Somit steht eine Phase der NS-Herrschaft im Vordergrund, die maßgeblich von den Anforderungen des Zweiten Weltkrieges, einer damit verbundenen Neuausrichtung der „Volksgemeinschaft“ und einer radikalisierten Verfolgung von angeblich „Gemeinschaftsfremden“ geprägt war.9 Um die Argumentations- und Handlungsmuster der Behörden vor Ort für den gewählten Zeitraum aufzeigen und verstehen zu können, bedarf es zuerst eines chronologischen Überblicks über prägende Gesetze, staatliche Maßnahmen und den juristischen Diskurs in Sachen „Asozialität“. Dieser Teil basiert überwiegend auf von Wolfgang Ayaß editierten Gesetzen und Erlassen, welche die „Asozialenverfolgung“ maßgeblich beeinflussten.10 Die anschließende Untersuchung des lokal greifbaren Sozialrassismus in den Jahren 1938–1945 widmet sich der Fürsorgepflichtarbeit, der Vergabe der Mutterkreuze, der Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, der Vergabe von Ehetauglichkeitszeugnissen gemäß den „Richtlinien zur Beurteilung der Erbgesundheit“ und erzieherischen Maßnahmen. Dabei handelt es sich um verschiedene Bereiche der nationalsozialistischen Sozialpolitik, die alle von sozialrassistischem Denken bestimmt waren und die Lebensrealität der Menschen auf unterschiedliche Art prägten. Exemplarisch werden Argumentationsmuster, organisationspraktische Fragen und Auswirkungen für die Betroffenen qualitativ erörtert, um Einblicke in die alltäglichen Prozesse behördlicher Entscheidungsfindung und lokalen, sozialrassistischen Agierens zu erhalten. Abschließend erfolgt eine Einordnung der gewonnenen Er-

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Bernhard Gotto, Volksgemeinschaft (wie Anm.  2), 42–45; Markus Raasch, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020, 1–58, hier 5–9. Miriam Breß, Die sozialrassistische und „kriminalpräventive“ Verfolgung, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020, 475–492. Im Jahr 1936 benannte sich „Neustadt an der Haardt“ in „Neustadt an der deutschen Weinstraße“ um. Zur Vereinfachung und Verdeutlichung, dass auch Akten der heutigen Stadtteile Haardt und Hambach in diese Arbeit einflossen und diverse Personen aus dem gesamten Amtsgerichtsbezirk in gesichteten Akten des Bestandes A im Stadtarchiv Neustadt greifbar sind, verzichtet der Verfasser auf die Namenszusätze und begnügt sich lediglich mit „Neustadt“. (August Scherl u a , Die Gebietsorganisation der Verwaltung und Gerichtsbarkeit in Bayern, in: Wilhelm Volkert (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Ämter, Gemeinden und Gerichte 1799–1980. München 1983, 397–604, hier 538 f.) Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 100; Raasch, Einleitung (wie Anm. 6), 39–44. Wolfgang Ayaß, „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933–1945. (Materialien aus dem Bundesarchiv, H. 5.) Koblenz 1998.

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kenntnisse aus Neustadt in die reichsweite Entwicklung der „Asozialenverfolgung“ – orientiert am Konstrukt der „Volksgemeinschaft“. Die in diesem Aufsatz geschilderten Fälle basieren auf Unterlagen der Bürgermeisterämter Neustadt und Haardt, in denen der Schriftverkehr zwischen städtischer Fürsorge, Kriminalpolizei, Jugendämtern und dem Amtsgericht zusammenlief. Da die einzelnen Bestände unvollständig sind, wird weitgehend auf quantifizierende Aussagen verzichtet. Dass innerhalb der Rekonstruktionen bisweilen die „Opfer“ nationalsozialistischer Aussonderungspolitik im Zentrum zu stehen scheinen, darf nicht über das Fehlen von Selbstzeugnissen hinwegtäuschen, denn auch dieser Aufsatz spiegelt in erster Linie die behördliche Perspektive.11 II. „Asozialität“ im NS-Staat Bereits 1933 begann die nationalsozialistische Regierung, sozialrassistische Verfolgung abzusichern, indem sie bestehende Gesetze missbrauchte oder neue erschuf. Dabei konnte die NSDAP an Diskussionen und Positionen verschiedener Parteien der Weimarer Republik anknüpfen und tiefsitzende Ressentiments in der Bevölkerung für ihre Zwecke instrumentalisieren.12 So zeigte sich bereits in der sogenannten „Bettlerwoche“ im September 1933 ein scharfes Vorgehen gegen bettelnde Personen. Menschen, welche die Fürsorge als Belastung ansah und, so die Presse, durch ihr eigenes Verschulden in ihre missliche Lage gekommen waren, aus der sie sich wegen „Arbeitsscheu“ auch nicht befreien wollten, waren die Opfer der Aktion. Diese organisierten Massenverhaftungen, bei der § 361 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871 radikale Anwendung fand, wurde umfangreich propagandistisch begleitet. Polizei und Schutzstaffel verhafteten dabei – meistens nicht langfristig – im ganzen Reich etwa 10 000 Obdachlose.13 11

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Wenn in diesem Aufsatz von „Opfern“ die Rede ist, geschieht dies losgelöst von einer juristischen, politischen oder religiösen Definition und im Wissen um die Historizität des Begriffs. Gemeint sind Menschen, denen durch den Nationalsozialismus auf unterschiedliche Art und Weise strukturell Leid widerfahren ist, dem sie sich aufgrund ihrer begrenzten Handlungsspielräume innerhalb der vorherrschenden Machtstrukturen, die die Volksgemeinschaftsforschung gegenwärtig erforscht, nicht oder nur schwer entziehen konnten. (Svenja Goltermann, Opfer. Die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt in der Moderne. Frankfurt a. M. 2017, 9–18; Jens-Christian Wagner, NS-Gesellschaftsverbrechen in der Gedenkstättenarbeit, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u. a. (Hrsg.), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. (Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“. Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung, Bd. 7.) Paderborn u. a. 2018, 421–437, hier 428). Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 9), 13–18; Julia Hörath, „Arbeitsscheue Volksgenossen“. Leistungsbereitschaft als Kriterium der Inklusion und Exklusion, in: Marc Bruggeln / Michael Wildt (Hrsg.), Arbeit im NS. München 2014, 309–328, hier 311–314; Jürgen Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1920–1945. Münster 2001, 48 f., 53–55. Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 476 f.; Oliver Gaida, Zwischen Arbeitshaus und Konzentrationslager. Die nationalsozialistische Verfolgung von als „asozial“ Stigmatisierten 1933 bis 1937, in: Jörg

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Wegweisend war das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933.14 Laut seiner Begründung galten „Geistesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Asoziale“ als kostenverursachende Personengruppen, die an Krankheiten wie „angeborenem Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein“ leiden und ebenso wie Alkoholkranke an der Fortpflanzung gehindert werden müssten.15 Ein zugehöriger Gesetzeskommentar von 1936 machte deutlich, dass Menschen zu sterilisieren waren, deren Art zu leben „asozial“ sei.16 Darüber hinaus konnte ab dem 16. Oktober 1934 in Bayern fürsorgerechtlicher Arbeitszwang nicht nur in bestehenden Arbeitshäusern17, sondern auch im Konzentrationslager Dachau vollstreckt werden.18 Dies sollte der Disziplinierung von Fürsorgeempfängern gemäß der Reichsfürsorgeverordnung von 1924 dienen. In Bayern und somit in Neustadt galten laut einem Schreiben des Reichsstatthalters vom 20. März 1934 „Trunksucht“, „Arbeitsscheu“ und „asoziales Verhalten“ ohnehin als Gründe für Schutzhaft in Konzentrationslagern.19 An diesen Gesetzen und Regelungen lassen sich bereits die wesentlichen Motive und Charakteristika hinter dem Vorgehen des nationalsozialistischen Staates gegen vermeintliche soziale Randgruppen zeigen: Anknüpfung an in der Weimarer Republik bestehende Vorstellungen einer sozialdarwinistisch begründeten Rassenhygiene, kriminalpolitische Forderungen, wirtschaftliche Entlastung der Fürsorge und damit der

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Osterloh / Kim Wünschmann (Hrsg.), „… der schrankenlosesten Willkür ausgeliefert“. Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933–1936/37. (Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 31.) Frankfurt a. M. 2017, 247–267, hier 250; Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 222.) Göttingen 2017, 323. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 14.07.1933, in: RGBl. 1933/I, 529–531, hier 529. Begründung, 26.07.1933, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 9; Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (wie Anm. 14), 529. Angela Erbacher / Ulrike Höroldt, Erbgesundheitsgerichtsbarkeit, in: Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Justiz im Dritten Reich. Justizverwaltung, Rechtsprechung und Strafvollzug auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz, Teil 2. (Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz, Bd. 3.) Frankfurt a. M. 1995, 1141–1394, hier 1203. Bereits in der Weimarer Republik konnte Bettelei, Verstöße gegen Auflagen der Reichsfürsorgeverordnung oder das „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ in Verbindung mit anderen Delikten zu einer Einweisung in ein Arbeitshaus führen. Im Nationalsozialismus wurden Arbeitshäuser mit verschärften Bedingungen zu häufig genutzten Haftstätten für „asoziale“ Personen und verschmolzen teilweise mit Konzentrations- und Arbeitserziehungslagern (Ayaß, „Asozial“ (Wie Anm. 3), 41–46; Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 483–486; Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. (Dokumente – Texte – Materialien, Bd. 41.) Berlin 2001, 60–65). Vollzugsvorschrift, 16.10.1934, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 31. Die Reichsfürsorgepflichtverordnung von 1924 sah mit der Möglichkeit des Arbeitszwangs vor, arbeitsfähige Personen, die wegen „sittlichen Verschuldens“ zu Fürsorgeempfängern geworden waren und mehrfach zugewiesene Arbeiten abgelehnt hatten, zur Arbeit zu zwingen (Verordnung über die Fürsorgepflicht, 13.02.1924, in: RGBl. 1924/I, 100–107, hier 104; Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 481). Schreiben des Reichsstatthalters in Bayern, 20.03.1934, zit. n. Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 96.

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„Allgemeinheit“20 als legitimierend propagiertes Motiv, unscharfe Grenzen und weite Interpretationsrahmen der einzelnen negativen Zuschreibungen und ein bis in die privatesten Bereiche der Menschen eindringender Gesetzgeber.21 Ein weiterer Markstein war der Grunderlass über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, am 14.  Dezember 1937 durch den Reichsinnenminister Dr. Wilhelm Frick ergangen. Er definierte es als Aufgabe der Polizei und insbesondere der Kriminalpolizei, „die Gemeinschaft vor jedem Schädling“ zu schützen.22 Damit stattete der Reichsinnenminister die Polizei reichsweit mit erweiterten Möglichkeiten zur Verbrechensbekämpfung und präventiven Verbrechensverhütung aus.23 Nahezu beiläufig erweiterte Frick die Maßnahmen auf denjenigen, der „durch sein asoziales Verhalten die Allgemeinheit“ gefährde „ohne Berufs- oder Gewohnheitsverbrecher zu“ sein.24 Hier zeigt sich einerseits eine begriffliche Abgrenzung zwischen „Asozialität“ und „Kriminalität“, andererseits verschmolzen beide Bereiche in dem Moment, indem sie gemeinsam genannt, gedacht, geahndet und im gleichen sozialen Milieu gesucht wurden. Ein weiterer, nicht veröffentlichter Erlass von Reinhard Heydrich vom 4. April 1938 präzisierte und radikalisierte den Grunderlass noch weiter: rigorose Abwehr jeder „Gefährdung der Volksgemeinschaft“, Konzentrationslager als Haftort, keine zeitliche Beschränkung der Vorbeugungshaft und eine umfassende Auflistung „asozialer“ Ver-

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Begründung, 26.07.1933, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 9. Gaida, Arbeitshaus (wie Anm.  13), 258; Hörath, Volksgenossen (wie Anm.  12), 310–314; Ingrid Tomkowiak, „Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft vollkommen unerwünscht“. Eugenik und Rassenhygiene als Wegbereiter der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter, in: Dietmar Sedlaczek (Hrsg.), „Minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich 2005, 33–50, hier 33–39. Erlass, 14.12.1937, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 50. Der Grunderlass, auf die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 gestützt, führte nicht überall neue Maßnahmen ein. In Preußen und Bayern gab es z. B. seit 1933 die Möglichkeit der polizeilichen Vorbeugungshaft. Diese war jedoch präzise gegen „Kriminelle“ gerichtet und stellte noch keine direkte Verbindung zu „asozialen“ Verhaltensweisen her; anders in Baden, das sich speziell auf diese Menschen fokussiert hatte. (Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 128–135.) Erlass, 14.12.1937, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 50. Da Kriminalität immer das konstruierte Produkt aus Gesetzgebung und der Anwendung dieser Gesetze ist, wobei die gängigen Moralvorstellungen aktiv und passiv mit der Gesetzgebung interagieren, aber dennoch nie mit dieser zur Gänze übereinstimmen, ist bei einer Bewertung der Kriminalität – erst recht bei historischen Betrachtungen – Vorsicht geboten (Gerd Schwerhoff, Historische Kriminalitätsforschung. (Historische Einführungen, Bd. 9.) Frankfurt a. M. 2011, 7–11). Als „Gewohnheitsverbrecher“ galt nach dem Grunderlass schon jemand, der „aus verbrecherischem Trieb oder verbrecherischer Neigung“ heraus dreimal straffällig geworden war. Dies konnte z. B. Personen treffen, die die Justiz mehrfach aufgrund von homosexuellen Handlungen nach § 175 RStGB oder wegen Prostitution belangt hatte. Wer zuerst unter polizeiliche Überwachung geriet, konnte sich bei Verstößen gegen die zahlreichen Auflagen schnell in Vorbeugungshaft wiederfinden. (Burkhard Jellonnek, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich. Paderborn 1990, 139; Victoria Harris, Selling Sex in the Reich. Prostitutes in German Society 1914–1945. Oxford 2010, 176; Roth, Verbrechensbekämpfung (wie Anm. 5), 219).

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haltensweisen.25 Im Jahr 1938 kam es im Rahmen der sogenannten Aktion „Arbeitsscheu Reich“, gestützt auf den Grunderlass, zu zwei Verhaftungswellen. Die Kriminalpolizei und die Geheime Staatspolizei verschleppten dabei etwa 12 000 Personen in Konzentrationslager.26 Die von Hitler am 16. Dezember 1938 begründete „Stiftung des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter“ rückte Frauen und Familien in den Vordergrund sozialrassistischer Bewertung.27 „Mütter von erbkranken und asozialen Familien“ wurden von der zelebrierten Vergabe der Mutterkreuze ausgeschlossen. Die Zuschreibung von Eigenschaften wie „Arbeitsscheu“, „Haushalt vernachlässigen“, „Kinder verkommen lassen“ und „unsittlicher Lebenswandel“ genügte, um Frauen und deren Familien als „asozial“ zu stigmatisieren.28 Am 18. Juli 1940 listete das Innenministerium in den „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“ diese und weitere Charakteristika, die eine Familie bzw. eine Person als „gemeinschaftsfremd“ kennzeichneten, auf. Die Richtlinien sprachen den „asozialen“ Personen, deren negative Eigenschaften erblich bedingt seien, zudem jedwede Besserungsfähigkeit ab. Wem die Behörden eine oder mehrere dieser Eigenschaften unterstellten, war von jeder Form der staatlichen Unterstützung ausgeschlossen.29 III. Sozialrassistische Praxis in Neustadt 1. „wegen Arbeitsunwilligkeit den Asozialen gleichzustellen“ In den Jahren 1933–1938 fanden in Neustadt unterschiedliche Formen der Verfolgung von sozial stigmatisierten Personen statt. Laut der nationalsozialistischen Zeitung

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Erlass, 04.04.1938, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 62; Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 147 f. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Überblick über die Breite der Maßnahmen gegen soziale Außenseiter und die hieran beteiligten Stellen, in: Dietmar Sedlaczek (Hrsg.), „Minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich 2005, 51–64, hier 90; Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 158, 306 f. Verordnung des Führers und Reichskanzler über die Stiftung des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter, 16.12.1938, in: RGBl. 1938/I, 1923. Merkblatt für die Auslese der Mütter, 1939, in: StANW, A 5632. Erlass, 18.07.1940, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm.  10), Nr.  104. Die Kriterien für „Asozialität“ innerhalb der Richtlinien deckten sich weitgehend mit denen des Grunderlasses. Die Neuerung bestand darin, dass diese nun vereinheitlicht in alle Entscheidungen über staatliche Fördermaßnahmen einflossen. (Erlass, 14.12.1937, zit. n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 50; Informationsheft „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, 01.08.1941, in: StANW, A 5632; Irmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter“ im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1993, 59 f.) Eine weitere Richtung, in die sich die Erlasse nach 1938 entwickelten und damit das Verständnis von „Asozialität“ prägten, zielte auf jugendliche Formen der Devianz ab (Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 60).

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„NSZ Rheinfront“30 griffen Neustadter Behörden 1933 in der „Bettlerwoche“ 33 Männer auf. Diese wurden nach einer kurzen Untersuchungshaft im Amtsgerichtsgefängnis entweder entlassen oder zu Haftstrafen von bis zu sechs Wochen verurteilt.31 In den folgenden Jahren richtete sich die sozialrassistische Ausgrenzung weiter gegen benachteiligte Bevölkerungsschichten. In den Akten des Neustadter Wohlfahrtsamtes sind für die Jahre 1934–1938 26 Beschlüsse auf fürsorgerechtlichen Arbeitszwang dokumentiert. Davon betreffen 25 Einträge Einweisungen von Männern ins Arbeitshaus Rebdorf bei Eichstätt oder in das Konzentrationslager Dachau. Ein Beschluss betrifft eine Frau, die in die Arbeitsanstalt Aichach gehen musste. Für die Jahre 1939–1945 sind lediglich drei Einträge vorhanden. Der einzige Eintrag des Jahres 1939 betrifft den Hilfsarbeiter Johann Bauer, der Arbeitszwang in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald verbüßte, nachdem er wegen Diebstahl mehrere Monate im Gefängnis gewesen war. Die zwei Einträge aus den Jahren 1942 und 1943 betreffen zwei Frauen, die Arbeitszwang in Aichach und Rebdorf ableisteten. Anstelle eines Entlassungsdatums ist eine Verlegung der Gefangenen vermerkt, wodurch beide Frauen dem Zugriff des Neustadter Wohlfahrtsamtes entgingen.32 Aus dem Umstand, dass zu den Jahren 1940, 1941, 1944 und 1945, obwohl die angefangene Liste dafür ausreichend Platz geboten hätte, keine Einträge existieren, ist auf einen Wandel in der praktischen Anwendung des fürsorgerechtlichen Arbeitszwangs zu schließen.33 In Verbindung mit den reichsweiten Entwicklungen ist von einer Unterbringung der betroffenen „Asozialen“, die dem Wohlfahrtsamt weiterhin negativ als „arbeitsscheu“ auffielen, in polizeilicher Vorbeugungshaft auszugehen.34 Zentral organisiert kam die polizeiliche Vorbeugungshaft in Neustadt in der Aktion „Arbeitsscheu

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Die „Nationalsozialistische Zeitung Rheinfront“ war das Presseorgan der NSDAP im Gau Rheinpfalz bzw. ab 1940 im neu geschaffenen Gau Westmark (dann als NSZ Westmark), die auch als regionale Ausgabe für Neustadt erschien (Tobias Hirschmüller, Art. NSZ-Rheinfront / NSZ-Westmark, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/ nsz-rheinfront-nsz-westmark, Aufruf zuletzt am 21.01.2020). Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 477. Liste der Beschlüsse auf fürsorgerechtlichen Arbeitszwang, 08.11.1934–25.02.1943, in: StANW, A 5769; Gefängnisvorstand Frankenthal an das Amtsgericht Bad Dürkheim, 07.06.1939 in: Landesarchiv Speyer (LASp), J86 42; Amtsgericht Bad Dürkheim an den Gefängnisvorstand Frankenthal, 22.06.1939, in: LASp, J86 42; Erfassung der abgegebenen Gegenstände bei Einlieferung in Buchenwald, 27.09.1939–19.08.1940, in: Arolsen Archive, Häftlingsunterlagen 5512396; Verpflichtung zur Rückzahlung der Rückfahrkarte, 19.08.1940, 5512399, in: Arolsen Archive, Häftlingsunterlagen 01010503; Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 482. Ob sich die Zahl der Fürsorgeempfänger verringerte, die Wahrnehmung von Arbeitsunwilligkeit veränderte oder ob andere Möglichkeiten der Ahndung und Unterbringung den Wandel verursachten, ist anhand der hierfür gesichteten Akten nicht zu entscheiden (Liste der Beschlüsse auf fürsorgerechtlichen Arbeitszwang, 08.11.1934–25.02.1943, in: StANW, A 5769). Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 159; Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 487 f.; Gaida, Arbeitshaus (wie Anm. 13), 262.

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Reich“ im April und Juni 1938 zum Einsatz. Wie viele Personen in Neustadt von dieser Aktion betroffen waren, bleibt unbekannt.35 Das Wohlfahrtsamt Neustadt führte in weiteren Listen zudem Personen, unabhängig von einer etwaigen Verurteilung zu Arbeitszwang, als „Asoziale“.36 2. „des Mutter-Ehrenkreuzes nicht würdig“ Über die sozialrassistische Ausgrenzung von „asozialen Großfamilien“ können heute die erhaltenen Akten des Bürgermeisteramtes Neustadt zur Verleihung der sogenannten Mutterkreuze Auskunft geben. Auf institutioneller Ebene organisierte der Oberbürgermeister die Vergabe der Mutterkreuze in Neustadt. Es folgten Ermittlungen bei diversen Behörden und verschiedenen Dienststellen der NSDAP, um Informationen über die Familien zusammenzutragen. Besonders sollten Informationen der Jugend-, Wohlfahrts- und Standesämter, der Polizeibehörden und der Gerichte mit einfließen.37 Das Bürgermeisteramt in Neustadt stützte seine Recherchen auf Aussagen der Kriminalpolizei und der städtischen Fürsorge.38 Es ist davon auszugehen, dass sich Fürsorge und Kriminalpolizei ihre Schreiben in unterschiedlicher Reihenfolge zuspielten und sich damit gegenseitig beeinflussten.39 Falls Indizien für die „Asozialität“ einer Familie sprachen, war darauf besonders hinzuweisen und möglichst genau nachzuforschen.40 Im nächsten Schritt leitete der Oberbürgermeister die Anträge an das Gesundheitsamt weiter und bat um eine amtsärztliche Auskunft über die jeweiligen Frauen und deren Familien.41 Anschließend einigte er sich mit der Kreisleitung der Partei auf eine 35 36 37 38

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Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 487 f. Liste der Unterstützungsbettler, 08.05.1937, sowie Liste über sonstige Asoziale, 24.02.1939, in: StANW, A 5769. Informationsheft „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, 01.08.1941, in: StANW, A 5632. Innerhalb der Akte StANW, A 5632 sind nur die Reaktionen der Stadtfürsorgerin und der Kriminalabteilung vorzufinden. Ein Abgleich einer Liste der abgelehnten Mütter mit den vorhandenen Reaktionen macht die Unvollständigkeit der Akte deutlich. (Liste der abgelehnten Mütter, 1940, in: StANW, A 5632.) Inwiefern das Arbeitsamt oder NSDAP-Dienststellen zu der Beurteilung des Oberbürgermeisters beitrugen, kann nicht gesagt werden. Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau S., 31.01.1944/17.02.1944, sowie Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau L., 31.01.1944/17.02.1944, in: StANW, A 5632. Merkblatt für die Auslese der Mütter, 1939; Schreiben „Asoziale und Erbtüchtige“ an den Oberbürgermeister von Neustadt, 20.02.1939; Informationsheft „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, 01.08.1941, alle in: StANW, A 5632. Manchmal übernahm diese Aufgabe auch ein Bürgermeister oder der Stadtamtmann von Neustadt. Die dafür erstellten Listen der weitergereichten Anträge sind vereinzelt im Archiv erhalten (Bürgermeister von Neustadt an das staatliche Gesundheitsamt Neustadt, 16.09.1940; Oberbürgermeister von Neustadt an das staatliche Gesundheitsamt Neustadt, 21.03.1941; Oberbürgermeister von Neustadt an das staatliche Gesundheitsamt Neustadt, 18.02.1943; Stadtamtmann von Neustadt an das staatliche Gesundheitsamt Neustadt, 21.02.1944, alle in: StANW, A 5632).

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Empfehlung. In letzter Instanz entschied die Präsidialkanzlei der NSDAP über die Annahme oder Ablehnung der Anträge und stellte die zum Mutterkreuz gehörende Besitzurkunde aus.42 Die Länge der Beurteilungen durch Stadtfürsorge und Kriminalabteilung fiel in Neustadt bisweilen sehr unterschiedlich aus. Abhängig war dies vom zuständigen Sachbearbeiter, der Menge an vorhandenen Informationen und der Eindeutigkeit, mit der sich die entsprechende Stelle für oder gegen eine Verleihung des Ehrenkreuzes aussprach. Zum Beispiel nutzte ein Neustadter Kriminalsekretär am 31. Januar 1944 bei drei negativ ausfallenden Stellungnahmen schematisch die gleichen Formulierungen. Im ersten Satz betonte er, dass „es sich um eine asoziale Großfamilie“ handele und die „Kindererziehung […] sehr mangelhaft“ sei. Damit brachte er zu Beginn seine klare Haltung zum Ausdruck und stellte die für die Verleihung der Mutterkreuze so bedeutsame „Asozialität“ der Familie und die schlechte Erziehung der Kinder, ebenfalls ein wichtiges Kriterium, heraus. Danach begründete er in unterschiedlichem Umfang die vorangestellte These. Diese Begründungen basierten häufig auf Informationen über die Kinder, den Ehemann oder weitere Verwandte. Im Falle der Familie Frei führte er an, dass die erste Ehe von Anne Frei mit Heinrich Happel angeblich wegen ihr geschieden worden war. Bevor Anne jedoch Friedrich Frei ehelichte, lebte sie mit ihm „jahrelang im Konkubinat“ zusammen und gebar vier Kinder. Dies ist nur ein Bespiel dafür, wie lange bestehende gesellschaftliche Stigmata in die Beurteilungen mit einflossen.43 In vielen Fällen verzichteten die befragten Stellen darauf, die Familie direkt als „asozial“ zu bezeichnen, und griffen auf Alternativen zurück. Sie nutzten dafür Formulierungen wie „geistig minderwertig“44 oder „moralisch minderwertig“45; allesamt Wörter, die mit dem vielfältig und dehnbar gestalteten, nationalsozialistischen Feindbild des „Asozialen“ verbunden waren. Bemerkenswert sind Fälle, bei denen Kriminalsekretär und Stadtfürsorgerin nicht einer Meinung waren oder ihre eigene Unschlüssigkeit aus den Schreiben hervorgeht. Ein Kriminal-Obersekretär schrieb am 12.  März 1942 ausführlich über die Eheleute Katrin und Emil Dahmen, die gemeinsam acht Kinder hatten. „Begründete Tatsachen, welche der Verleihung des Ehrenkreuzes“ entgegenstünden, lagen zwar nicht vor, aber

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Informationsheft „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, 01.08.1941, in: StANW, A 5632; Weyrather, Muttertag (wie Anm. 29), 56, 89. Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau S., 31.01.1944/17.02.1944; Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau L., 31.01.1944/17.02.1944; Stellungnahme des Kriminalsekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau F., 31.01.1944, alle in: StANW, A 5632; Weyrather, Muttertag (wie Anm. 29), 62. Stellungnahme des Kriminalsekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  F., 03.02.1944, in: StANW, A 5632. Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  L., 17.02.1944, in: StANW, A 5632.

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Katrin mache dennoch „einen etwas geistigminderwertigen [sic] Eindruck“. Trotz dieses nicht näher begründeten Eindrucks nannte er, anscheinend um eine umfangreiche Stellungnahme bemüht, das Fehlen von Vorstrafen, „sittlicher und moralischer“ Bedenken und einen geordneten Haushalt. Informationen zu Ungunsten der Familie Dahmen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Mutmaßungen, die der Kriminal-Obersekretär schon rein sprachlich als nicht überprüfte Angaben anderer präsentierte. Er habe zum Beispiel gehört, Emil sei öfter dem Alkohol zugeneigt und sterilisiert. Das Urteil endet unpräzise mit dem Hinweis darauf, dass keine weiteren Mängel über Katrin Dahmen bekannt seien, ihr Ruf aber besser sei als der ihres Mannes.46 Die Neustadter Stadtfürsorgerin äußerte sich mit Bezug auf das Schreiben des genannten Kriminal-Obersekretärs zu Gunsten einer Verleihung. Sie stimmte ihm in den wesentlichen Punkten zu und ergänzte vereinzelt weitere Informationen. Bezüglich der ältesten Tochter, Hannelore Dahmen, deren Aufenthalt in einer Erziehungsanstalt er als Manko der elterlichen Erziehung gedeutet hatte, widersprach sie. Denn die Ursache dafür sei „auf einen moralischen Schwachsinn“, der als erblich bedingt galt, zurückzuführen.47 Diese Feststellung sollte, ebenso wie die gute Erziehung der anderen sieben Kinder, für eine Verleihung des Kreuzes sprechen. Trotz dieses neutralen bis positiven Gutachtens von 1942 hatte man Katrin Dahmen bereits 1940 mit dem Argument der „schlechten Kindererziehung“ abgelehnt.48 Dieses Beispiel zeigt, wie ein Urteil ein anderes beeinflussen konnte und wie vage manche Aussagen waren. Es verdeutlicht zudem die Angewohnheit der beteiligten Stellen, alles in eine Beurteilung einzubeziehen, was mit der jeweiligen Familie in Verbindung zu bringen war; alles konnte relevant sein – ob es sich um die in einer Anstalt verstorbene Schwiegermutter oder um den vermutlich nicht näher überprüften Zustand des Haushaltes handelte.49 Kritisch bemängelte sowohl die Stadtfürsorge als auch die Kriminalabteilung Kontakte der Familien zu Heil- und Erziehungsanstalten.

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Stellungnahme des Kriminalobersekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau D., 12.03.1942, in: StANW, A 5632. Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  D., 24.03.1942, in: StANW, A 5632. Liste der abgelehnten Mütter, 1940, in: StANW, A 6532. Das hier rekonstruierte Vorgehen wirft die Frage auf, warum die Behörden mehrfach die gleichen Mütter überprüften. Möglicherweise liegt eine Erklärung dieses Sachverhaltes in der Art und Weise wie bzw. wer Vorschläge beim Bürgermeister einreichen konnte, denn neben den Behörden stand auch Privatpersonen diese Möglichkeit offen. Da die Behörden die Mütter nicht über eine Ablehnung informierten, konnten z. B. volljährige Kinder ihre Mutter erneut für ein Ehrenkreuz vorschlagen (Informationsheft „Ehrenkreuz der Deutschen Mutter“, 01.08.1941, in: StANW, A 5632). Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  L.; Stellungnahme des Kriminalobersekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  D., 12.03.1942; Stellungnahme der Kriminalabteilung und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau  S., 31.01.1944/17.02.1944, in: StANW, A 5632.

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Sie differenzierten in der Gewichtung eines solchen Kontaktes kaum, legten ihn negativ aus und missachteten denkbare soziale Hintergründe.50 Auffällig am Schreiben der Stadtfürsorgerin über Familie Dahmen ist ihre Akzeptanz gegenüber vereinzelt auftretenden „Erbkrankheiten“. Die vorhandenen Spielräume nutzten die beteiligten Behörden offensichtlich aus, wobei dies den Betroffenen sowohl Vor- als auch Nachteil sein konnte. Die Stadtfürsorgerin wertete den erblichen „moralischen Schwachsinn“ von Hannelore Dahmen zu Gunsten der Mutterkreuzverleihung, da er nicht auf die mütterliche Erziehung zurückgeführt werden könne; zugleich nutzte sie diese Erkenntnis, um Hannelores Sterilisation zu beantragen.51 Die Gesamtzahl der erfassten Familien mit vier oder mehr Kindern ist im Stadtarchiv lediglich für den Sommer 1940 und nur für die Stadt Neustadt greifbar.52 Am 5. September 1940 sandte der Bürgermeister von Neustadt der NS-Frauenschaft des Gaus Saarpfalz eine Liste aller bisher untersuchten Mütter, die abgelehnten Mütter wurden dabei separat aufgeführt.53 Insgesamt waren zu diesem Zeitpunkt 177 Familien erfasst, wovon 65 kein Mutterkreuz erhalten hatten. Die sozialrassistische Ausgrenzung durch die Mutterkreuze umfasste in Neustadt folglich nicht nur eine kleine Gruppe,

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Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau L.; Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau K.; Stellungnahme des Kriminalobersekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau D., 12.03.1942; Stellungnahme des Kriminalsekretärs zu einem Mutterkreuzantrag über Frau F., 03.02.1944, alle in: StANW, A 5632; Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 114. Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau D., 24.03.1942, in: StANW, A 5632. Möglicherweise war diese Toleranz gegenüber sterilisierten Familienmitgliedern eine Eigenart der Neustadter Stadtfürsorgerin. Denn entgegen der grundsätzlich ablehnenden Haltung der Behörden plädierte sie in einem undatierten Schreiben sogar bei der sterilisierten Frau Kamm zu Gunsten eines Mutterkreuzes. Die Behörden lehnten eine Verleihung an Mütter mit sterilisierten Kindern meistens ab. Dass die Stadtfürsorgerin nun eine sterilisierte Frau nicht ablehnte, sondern auf eine gelungene Erziehung und erbrachte Arbeitsleistung hinwies, ist daher überraschend. (Weyrather, Muttertag (wie Anm. 29), 61, 110; Stellungnahme der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau K., in: StANW, A 5632.) Ob Hannelore Dahmen tatsächlich dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zum Opfer gefallen ist, muss an dieser Stelle offenbleiben. Jedoch äußerte die Stadtfürsorgerin, dass sie „einen Antrag auf Sterilisation stellen werde“. Überraschend ist das nicht, da es sich bei „angeborenem Schwachsinn“ um die häufigste Begründung für Zwangsterilisationen handelte (Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 48.) Opladen 1986, 302). Liste der abgelehnten Mütter 1940; Liste der ausgezeichneten Mütter, 1940, beide in: StANW, A 5632. Das Mutterkreuz wurde in drei Stufen ab vier, sechs und acht Kindern in Bronze, Silber und Gold verliehen (Satzung des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter, 16.12.1938, in: RGBl. Teil I, 1938, 1924). Liste der abgelehnten Mütter 1940; Liste der ausgezeichneten Mütter, 1940, beide in: StANW, A 5632. Mit diesen Listen reagierte das Bürgermeisteramt auf ein Schreiben der NS-Frauenschaft Gau Saarpfalz, das am 9.  Juli 1940 in Neustadt einging. Darin forderte der zuständige Kreisbeauftragte eine Auflistung der „kinderreichen Familien“ mit einer besonderen Kennzeichnung der „asozialen“, für das Mutterkreuz abgelehnten Familien. (Kreisbeauftragter der NS-Frauenschaft Gau Saarpfalz an das Bürgermeisteramt Neustadt, 1940, in: StANW, A 5632.)

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sondern 37  Prozent der Familien mit vier oder mehr Kindern. Neben persönlichen Daten der Mütter wurden auf der Liste der abgelehnten Frauen die Ablehnungsgründe angegeben. Bei 40 Prozent der abgelehnten Anträge lautete der Grund für die Ablehnung „asozial“. Mit 18,5 Prozent war „schlechte Kindererziehung“ die zweithäufigste Begründung. An dritter Stelle stand „nicht würdig“, womit die Behörden 9 Prozent der Ablehnungen begründeten. Die verbliebenen 32,5 Prozent verteilten sich auf 13 weitere, nur sehr vereinzelt genannte Gründe. Teilweise basierten diese auf medizinischen Formulierungen, einer unterschiedlich hergeleiteten „Minderwertigkeit“, oder auf Zuschreibungen wie „leichtsinnig“ oder „schlampig“. Die Aufteilung zeigt, wie Neustadts Behörden die mitunter komplexen Lebensverhältnisse einzelner Familien auf ein einziges, negativ behaftetes Adjektiv herunterbrachen und sie damit außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stellten. Aus der Vielfältigkeit der Begründungen geht hervor, dass die Behörden vor Ort nur bedingt den bereits aufgezeigten juristischen Diskurs übernahmen und verschiedene Formen der Devianz unter „asozial“ zusammenfassten, sondern vielmehr innerhalb des Begriffsfeldes der „Asozialität“ willkürlich weiter differenzierten.54 3. „weit unter dem Durchschnitt normaler Veranlagungen“ Das Erbgesundheitsgericht Frankenthal, in dessen Zuständigkeitsbereich Neustadt fiel, kontaktierte am 28. April 1939 das Bürgermeisteramt Haardt wegen eines Sterilisationsantrags in Bezug auf Anna Keller, die sich derzeit in der Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster befand. Neben einem Fall von Epilepsie beim Großcousin nannte der Bürgermeister eine frühere Neigung des Vaters zum Alkohol und referierte ihre guten Leistungen in der Schule.55 Ebenfalls positiv hob der Bürgermeister von Haardt hervor, dass Anna Keller keine Vorstrafen habe und in einem andauernden Beschäftigungsverhältnis stünde.56 Hier ist das positive Verständnis einer anhaltenden, aus nationalsozialistischer Sicht nützlichen Beschäftigung ersichtlich. Wer sich der arbeitenden „Volks54

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Die Person, die besagte Liste erstellte, hat entweder selbst anhand vorhandener Informationen entschieden, was der ausschlaggebende Faktor gegen eine Verleihung gewesen ist, oder sie hat diese Zuordnung in einem anderen Dokument vorgefunden und übernommen. In beiden Fällen erachtete man eine Differenzierung offensichtlich für sinnvoll und sah Unterschiede zwischen den genannten Gründen. Ein Blick auf den Hintergrund der Listen zeigt zudem eine lokale Initiative des Bürgermeisteramtes, nach den Vorgaben der NS-Frauenschaft waren Begründungen gar nicht gefordert. (Kreisbeauftragter der NS-Frauenschaft Gau Saarpfalz an das Bürgermeisteramt Neustadt, 1940, in: StANW, A 5632). Erbgesundheitsgericht Frankenthal an den Bürgermeister von Haardt, 28.04.1939; Bürgermeister von Haardt an das Erbgesundheitsgericht Frankenthal, 01.06.1939, beide in: StANW, OT Haardt 198. Bürgermeister von Haardt an das Erbgesundheitsgericht Frankenthal, 01.06.1939, in: StANW, OT Haardt 198.

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gemeinschaft“ anschloss, war dementsprechend geschützter vor Zwangssterilisation als erwerbslose Personen. Die Anwendung von umstrittenen Intelligenztests zur besseren Einordnung der angeblichen „Erbfähigkeit“ scheint die klassistische Stoßrichtung der nationalsozialistischen Familienpolitik zusätzlich zu unterstreichen.57 Schon das vorgedruckte Formular, dass das Erbgesundheitsgericht bei der Ermittlung der „Erbtüchtigkeit“ nutzte, lenkte die Aufmerksamkeit der Behörden auf „verbrecherische oder asoziale Veranlagungen“.58 Dadurch wuchs der Einfluss gesellschaftlicher Wertungen auf die Anwendung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.59 Neben solchen direkten physischen Eingriffen in die menschliche Fortpflanzung intervenierten der nationalsozialistische Staat und seine Behörden bereits vor Abschluss einer Ehe: Um zu heiraten, benötigte das verlobte Paar ein Ehetauglichkeitszeugnis bzw. eine Eheerlaubnis und ein amtsärztliches Gutachten.60 Exemplarisch sei hier auf Annegret Katz und ihren bereits sterilisierten Verlobten Johannes Kiefer verwiesen. Um Informationen zu erhalten, wandte sich das Bezirksamt Neustadt am 22. November 1938 an einen Standesbeamten in Haardt. Der dort zuständige Beamte berichtete von einem Hang des Vaters zum Alkohol und unterstellte der Mutter, „geistig minderwertig“ zu sein. Des Weiteren beurteilte er Annegret und ihre Geschwister negativ. Obwohl dem Standesbeamten vermutlich weitere Informationen zu Krankheiten oder Ähnlichem fehlten, verzichtete er darauf, dies der Familie Katz positiv anzurechnen. Abschließend stimmte er, ohne darin eine bevölkerungspolitische Bedeutung zu sehen, der Ehe grundsätzlich zu, auch wenn die Familie unterdurchschnittlich veranlagt sei.61 Ob er zu diesem Urteil gelangte, obwohl – oder gerade weil – Johannes bereits sterilisiert worden war, bleibt unklar. Das Ehegesundheitsgesetz, das sterilisierten Personen eine Ehe grundsätzlich erlaubte, spricht für letzteres.62 Nach einer Eheschließung und den damit einhergehenden Kontrollen war das betroffene Paar noch nicht automatisch ein vollumfänglich vom Staat akzeptierter Teil der „Volksgemeinschaft“. Bei der Vergabe von Kinderbeihilfe und Ehestandsdarlehen kam es erneut zu Kontrollen und möglicherweise zu einer Exklusion.63 Innerhalb der Jahre 1938–1945 sind in den gesichteten Akten keine Hinweise auf abgelehnte Kinderbeihilfe-Anträge vorhan57 58 59 60 61 62 63

Erbacher, Erbgesundheitsgerichtsbarkeit (wie Anm. 16), 1160 f. Erbgesundheitsgericht Frankenthal an den Bürgermeister von Haardt, 28.04.1939, in: StANW, OT Haardt 198. Erbacher, Erbgesundheitsgerichtsbarkeit (wie Anm. 16), 1157, 1159. Ute Frevert, Frauen, in: Wolfgang Benz u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Stuttgart 1997, 220–234, hier 224; Simon, Kriminalbiologie (wie Anm. 12), 233. Bezirksamt Neustadt an den Standesbeamten in Haardt, 22.11.1938; Standesbeamte von Haardt an das Bezirksamt Neustadt, 08.12.1938, beide in: StANW, OT Haardt 171. Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des Deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz), 18.10.1935, in: RGBl. Teil I, 1935, 1246. Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 107 f.; Andrea Becker, Mutterschaft im Wohlfahrtsstaat. Familienbezogene Sozialpolitik und die Erwerbsintegration von Frauen in Deutschland und Frankreich. Berlin 2000, 180.

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den. Der erhaltene Schriftverkehr weist dennoch Parallelen zu den Ermittlungen für die Mutterkreuze oder die Erbgesundheitsgerichte auf. Das Bürgermeisteramt kontaktierte andere Städte, um Informationen über zugezogene Personen zu erhalten, fragte bei der Kreisleitung der Partei nach einem politischen Führungszeugnis und zog Bedienstete der Fürsorge zur Begutachtung der Lage heran. Zudem trugen Lehrkräfte zur Erhebung von Daten bei und beurteilten die betroffenen Kinder hinsichtlich ihrer schulischen Leistungsfähigkeit.64 4. „Bei dem Grad sittlichen und moralischen [sic.] Verwahrlosung […] kann nur Anstaltserziehung Erfolg versprechen“ Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges waren Jugendliche immer häufiger repressiven Maßnahmen ausgesetzt und wurden aufgrund verschiedener Formen der Devianz verfolgt. In Verbindung mit einer steigenden Jugendkriminalität, vor allem durch neue Gesetze, Einschränkungen und strengere Kontrollen verursacht, wuchs die Zahl der als „asozial“ verfolgten Jugendlichen.65 Wie die Behörden Mütter und ihre Kinder wegen „sittlicher“ oder „moralischer“ Bedenken zu „asozialen Großfamilien“ erklärten, so überstellten sie Jugendliche aufgrund derselben Zuschreibungen der Fürsorgeerziehung. Die Fürsorgeerziehung der Kinder konnte wiederum als Argument zur sozialrassistischen Ausgrenzung der ganzen Familie dienen.66 Schreiben, in denen das Kreisjugendamt Neustadt dem Bürgermeisteramt Haardt Beschlüsse des amtsgerichtlichen Vormundschaftsgerichtes Neustadt mitteilte, ermöglichen Einblicke in den behördlichen Umgang mit der Fürsorgeerziehung.67 Die Entlassung der 20-jährigen Gudrun Müller aus dem oberfränkischen Erziehungsheim

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Bürgermeisteramt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 10.08.1937; Bezirksamt Neustadt an den Standesbeamten in Haardt, 22.11.1938; Antrag auf die Gewährung von Kinderbeihilfe, 26.11.1938; Bürgermeisteramt von Haardt an das staatliche Gesundheitsamt Neustadt, 24.12.1938; Bürgermeister von Haardt an die NSDAP-Kreisleitung Neustadt, 24.12.1938, alle in: StANW, OT Haardt 171. Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 12; Thomas Roth, Von den „Antisozialen“ zu den „Asozialen“. Ideologie und Struktur kriminalpolizeilicher „Verbrechensbekämpfung“ im Nationalsozialismus, in: Dietmar Sedlaczek (Hrsg.), „Minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich 2005, 65–88, hier 74. Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 04.05.1934; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 16.01.1936; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 18.01.1936, alle in: StANW, OT Haardt 206; Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 17.08.1940, in: StANW, OT Haardt 77. Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 17.08.1940 sowie Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 18.12.1942, in: StANW, OT Haardt 77; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 04.05.1934; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 16.01.1936; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 18.01.1936, alle in: StANW, OT Haardt 206.

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Fassoldshof am 21. Oktober 1942, „da ihr Zweck erreicht“ sei, zeigt zum einen, dass eine gewöhnliche Rückkehr in die eigene Familie aus einer Erziehungsanstalt auch während des Krieges und trotz einer Radikalisierung im Vorgehen gegen Jugendliche möglich war. Zum anderen deutet dies auf die Motivation der Behörden hin, die im Falle von Gudrun Müller die Fürsorgeerziehung aufgrund einer „sittlichen und moralischen Verwahrlosung“ für unumgänglich hielten. Fürsorgeerziehung schien dem Vormundschaftsgericht in Neustadt die einzige Möglichkeit zu sein, um diesen angeblichen Missstand zu beseitigen. Nach zwei Jahren sah das Vormundschaftsgericht bzw. das Erziehungsheim Fassoldshof dieses Ziel erreicht.68 Die Zielsetzung, einen bestimmten, im Einzelfall aber nicht näher definierten Zweck zu erfüllen, stellt eine Parallele zum Grunderlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung dar.69 Auch der drei Jahre jüngere Bruder von Gudrun, Wilhelm Müller, musste die Familie verlassen und in Fürsorgeerziehung gehen. Das Kreisjugendamt Neustadt hatte diese Anordnung mit einer „geistigen und sittlichen Verwahrlosung“ begründet. Weshalb das Kreisjugendamt hier einen anderen Ausdruck als bei seiner Schwester nutzte, ist unklar. Abgesehen von diesem marginalen Unterschied, den personenbezogenen Daten und der Unterbringung von Wilhelm in der Staatserziehungsanstalt Speyer, sind beide Schreiben, datiert auf den 17. August 1940, praktisch identisch. Das Vormundschaftsgericht beschloss erst am 26. Januar 1943 die Aufhebung der Fürsorgeerziehung des inzwischen 17 Jahre alten Jungen. Wilhelms längerer Aufenthalt in einer Anstalt ist im Gegensatz zur Begründung der Aufhebung nicht weiter bemerkenswert. Nach Meinung des Kreisjugendamtes sei das eigentliche Ziel der Fürsorgeerziehung zwar noch nicht erreicht, aber „die Erreichung ihres Zweckes anderweitig sichergestellt“. Was das Kreisjugendamt hinter dieser nebulösen Formulierung verbarg, ist nicht ersichtlich. In seinem Fall argumentierten die Behörden ebenfalls mit einer vermeintlichen Zweckmäßigkeit, hier jedoch zu Ungunsten seiner Freiheit.70 Hätte die Staatserziehungsanstalt Speyer Wilhelm lediglich der eigenen oder einer anderen Familie zur weiteren Aufsicht überstellt – diese Form der Fürsorgeerziehung ist mehrfach für Neustadt belegt71 – wäre das Bürgermeisteramt vermutlich präziser darüber informiert worden. Das Ende der Fürsorgeerziehung, als drastischstes Mittel der Jugendäm-

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Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 17.08.1940, in: StANW, OT Haardt 206; Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 18.12.1942, in: StANW, OT Haardt 77. Erlass, 14.12.1937, nach Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 50. Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 17.08.1940; Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 02.02.1943, beide in: StANW, OT Haardt 77; Kreisjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 17.08.1940, in: StANW, OT Haardt 206. Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 22.12.1936; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 12.05.1937; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 28.03.1939; Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 10.10.1938, alle in: StANW, OT Haardt 206.

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ter,72 deutet darauf hin, dass das Kreisjugendamt Neustadt seinen Einfluss auf den Jungen verlor. Mögliche Überlegungen, ob Wilhelm in eine andere Erziehungsanstalt, in ein Jugendschutzlager oder ein Konzentrationslager kam, bleiben spekulativ. Denkbar ist auch ein Übergang von Wilhelm in den Reichsarbeitsdienst mit anschließendem Militärdienst. Dies nahm das Vormundschaftsgericht Neustadt, wie ein anderer Beschluss vom 17. November 1938 zeigt, als eine Möglichkeit wahr, den vermeintlichen „Zweck“ der Fürsorgeerziehung immer noch zu erreichen.73 Das Vormundschaftsgericht Neustadt schilderte im März 1942 ausführlich die Gründe, warum es die 16-jährige Emma Schuster unter Schutzaufsicht stellte. In der eine Seite umfassenden Begründung erläuterte das Gericht alle bisherigen Vergehen; es handelte sich um mehrere Diebstähle. Da sie ihr Verhalten trotz einer Verwarnung nicht geändert und bei der NS-Frauenschaft mehrfach ihre Mitarbeiterinnen bestohlen habe, habe sie „Zeichen starker Verwahrlosung zu erkennen gegeben“. Das Gericht präsentierte sein Urteil als milde und drohte bei weiteren Vorkommnissen mit schärferen Maßnahmen.74 Die Drohung veranschaulicht den Anspruch der Gerichte auf Disziplinierung.75 Die Konstruktion eines „kriminellen Lebenslaufs“ – gängige Praxis bei der Kriminalpolizei – ermöglichte es den Behörden, alle bekannten Verstöße gegen geltendes Recht oder nationalsozialistische Normvorstellungen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und anhand dessen zu urteilen. Das eigentlich konkret zu ahndende Vergehen zerschmolz so zu einer weiteren, für die „Volksgemeinschaft“ negativen Charaktereigenschaft.76 III. Sozialrassistische „Volksgemeinschaft“ Teile der bisher betrachteten Formen der sozialrassistischen Ausgrenzung bauten auf Gesetze und Maßnahmen aus der Zeit vor 1938 oder sogar vor 1933 auf und stellten somit ein Kontinuum dar. Neu waren die Auswirkungen des Grunderlasses, die „Stif-

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Esther Sattig, „Minderwertig, unerziehbar, gemeinschaftsfremd“. Zwangserziehung von „Zigeunerkindern“ im NS-Staat, in: Wolfgang Benz  / Barbara Distel (Hrsg.), „Gemeinschaftsfremde“. Zwangserziehung im Nationalsozialismus, in der Bundesrepublik und der DDR. Berlin/Dachau 2016, 49–82, hier 55. Das Vormundschaftsgericht Neustadt entließ am 17. November 1938 Ferdinand Schießer aus der Fürsorgeerziehung, „da ihr Zweck durch den Eintritt des Jungen in den Arbeitsdienst und die anschließende Militärzeit andersweit sicher gestellt [sic]“ sei (Bezirksjugendamt Neustadt an den Bürgermeister von Haardt, 24.11.1938, in: StANW, OT Haardt 206). Beschluss des Vormundschaftsgerichtes Neustadt auf Schutzaufsicht von S., 23.03.1942, in: StANW, OT Haardt 77. Jeremias Fuchs, Die „kriegerische Volksgemeinschaft“. Strafrechtspraxis am Amtsgericht Neustadt 1939–1945, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020, 651–668, hier 663. Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 173; Fuchs, Strafrechtspraxis (wie Anm. 75), 667 f.

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tung der Ehrenkreuze der deutschen Mutter“ und die „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“.77 Diese Veränderungen führten zu einer Systematisierung und Vereinheitlichung des polizeilichen und sozialpolitischen Vorgehens gegen gesellschaftliche Randgruppen und beschleunigten die „erbbiologische“ Erfassung ganzer Familienzweige.78 In diesem Kontext steht der aufgezeigte Sozialrassismus in Neustadt. Insgesamt decken sich die gewonnenen Erkenntnisse mit anderen regionalen und reichsweiten Studien. So passt Neustadt Stadt mit 37 Prozent „asozialen Großfamilien“ durchaus zu der von Ayaß wiedergegebenen zeitgenössischen Schätzung, die von 40 bis 45  Prozent ausgeht.79 Die aufgezeigte Beteiligung der verschiedenen Behörden an sozialrassistischer Exklusion war ebenfalls kein Spezifikum Neustadts.80 In Anknüpfung an die Erkenntnisse von Breß zur sozialrassistischen und „kriminalpräventiven“ Verfolgungspraxis 1933–1938 bleibt festzuhalten, dass sich Sozialrassismus in Neustadt nicht nur in organisierten Aktionen, wie zum Beispiel der „Bettlerwoche“, zeigte, sondern auch auf sozialpolitischer Ebene den Alltag der Menschen prägte.81 Gerade durch die neuen bzw. erweiterten Regelungen hinsichtlich der „Erbgesundheit“, des Grunderlasses und der Mutterkreuze kam es ab 1938 zu einer radikalisierten und umfassenderen sozialrassistischen Gewalt und Diffamierung, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern.82 Entscheidend ist es, die unterschiedlichen Spielarten des nationalsozialistischen Sozialrassismus in einem (mindestens) doppelten Zusammenhang zu begreifen. Zum einen ergab sich dieser aus strukturellen Umständen, wie der behördenübergreifenden Zusammenarbeit, der Art der Argumentation und der immer gleichen diffusen Opfergruppe, zum anderen aus der Zugehörigkeit und dem Beitrag zur menschenverachtenden Ideologie des Nationalsozialismus, die unabdingbar an Konstruktionen eines vermeintlich „Anderen“ geknüpft war. Die hier exemplarisch

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Erlass, 14.12.1937, Nr.  50; Erlass, 18.07.1940, Nr.  104, beide n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm.  10); Verordnung des Führers und Reichskanzlers über die Stiftung des Ehrenkreuzes der Deutschen Mutter, 16.12.1938, in: RGBl. Teil I, 1938, 1923. Gaida, Arbeitshaus (wie Anm. 13), 262; Julia Hörath, Terrorinstrument der „Volksgemeinschaft“? KZ-Haft für „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ 1933 bis 1937/38, in: ZfG 6, 2012, 513–532, hier 515. Vor 1938 bestehende Möglichkeiten der Datenerfassung waren, genauso wie polizeiliche Aktionen, überwiegend regionaler oder lokaler Natur, wie z. B. Karteien der Wanderfürsorge, Listen arbeitsloser Unterstützungsempfänger bei Wohlfahrts- und Fürsorgeämtern oder Akten der Polizei über bekannte Gewohnheitsverbrecher (Liste der Beschlüsse auf fürsorgerechtlichen Arbeitszwang, 08.11.1934–25.02.1943; Liste der Unterstützungsbettler, 08.05.1937; Liste der sonstigen Asozialen, 24.02.1939, alle in: StANW, A 5769; Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 41; Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 324). Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 107. Ebd. 93–95; Gaida, Arbeitshaus (wie Anm. 13), 252 f. Breß, Verfolgung (wie Anm. 7), 490–492. Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm.  3), 180, 184; Christa Schikorra, Schwarze Winkel im KZ. Die Haftgruppe der „Asozialen“ in der Häftlingsgemeinschaft, in: Dietmar Sedlaczek (Hrsg.), „Minderwertig“ und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich 2005, 105–126, hier 112.

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untersuchte Praxis der alltäglichen sozialpolitischen Diskriminierung in Neustadt nach 1938 offenbart deutlich die Selbstverständlichkeit, mit der verschiedene Behörden zusammenarbeiteten und auf Grundlage von Macht, Willkür, Spekulation und sozialrassistischen Pseudoargumenten „Asozialität“ ausbuchstabierten. Aus der fluiden Definition von „Asozialität“ folgte eine ebenso dynamische Grenze der „Volksgemeinschaft“, die die Behörden durch ein Urteil, die Ablehnung eines Mutterkreuzantrags, eine Sterilisation oder eine kriminalpolizeiliche Vorbeugungshaft immer wieder neu präzisierten und weiter manifestierten. Ob sich die urteilenden Beamten auf lokaler Ebene, wie hier in Neustadt, über ihre Partizipation an der „Volksgemeinschaft“ bewusst waren, bleibt in den meisten Fällen unklar. Nur selten ordneten die Beamten ihr Handeln direkt in einen dahingehenden Zusammenhang ein. Unterbewusst schwang das Konzept der „Volksgemeinschaft“, entweder als bereits gedanklich verankerter Bestandteil des nationalsozialistischen Herrschaftssystems und/oder als in Gesetze gegossene Idee sowie bei den Entscheidungen und Beurteilungen der Beamten mit.83 So wie sich das Konstrukt der „Volksgemeinschaft“, indem es in exkludierende Maßnahmen und Beschlüsse einfloss, von selbst bestätigte, funktionierte auch die Verfolgung und Diskriminierung der sozialen Unterschicht. Da der Fürsorge, den Gesundheits-, Arbeits- und Wohlfahrtsämtern nur Informationen zu den Personen, die bereits mit ihnen in Kontakt gekommen waren, vorlagen, blieb die sozialrassistische Ausgrenzung auch auf diese Teile der Gesellschaft fokussiert. Wer einmal als „asozial“ galt, dem war es nur schwer möglich, dies hinter sich zu lassen.84 Durch den verstärkten Zugriff auf „asoziale Großfamilien“ und die damit einhergehenden Ermittlungen fanden die Behörden die Annahme scheinbarer Erblichkeit sozialer Devianz bestätigt, wegen der eine Besserung angeblich nicht möglich war.85 Diese Praxis lässt sich am Beispiel der Familie Lemmpert zeigen, welche die Kriminalabteilung von Neustadt durch ihr Urteil über ein Mutterkreuz außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stellte: Bereits 1939/40 lehnten die Behörden einen Antrag auf ein Mutterkreuz für die mit Herbert Kaufmann verheiratete Katharina Lemmpert ab, da sie „sittlich nicht einwandfrei“ sei.86 Die Beurteilung eines Kriminalsekretärs vom 31. Januar 1944 verweist auf mögliche Ursachen. Darin führte er drei geschiedene Ehen und sexuellen Kontakt von Herbert Kaufmann zu seiner Stieftochter an.87 Insgesamt sind die Ursachen für die 83 84 85

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Z. B. ist jeder Antrag auf Sterilisation vor diesem Hintergrund zu sehen. Frank Bajohr, Einleitung (wie Anm. 2), 9; Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 323. Bekämpfung, 20.06.1942, n. Ayaß, Gemeinschaftsfremde (wie Anm. 10), Nr. 129; Hierin zeigt sich eine gewisse Vielseitigkeit des Sozialrassismus bzw. eine Widersprüchlichkeit zwischen juristischem Diskurs und sozialrassistischer Praxis. Hinsichtlich der Möglichkeit auf Besserung stehen sich Maßnahmen wie Fürsorgeerziehung und Zwangssterilisation konträr gegenüber. Liste der abgelehnten Mütter, 1940, in: StANW, A 5632. Stellungnahme des Kriminalsekretärs und der Stadtfürsorgerin zu einem Mutterkreuzantrag über Frau L., 31.01.1944/17.02.1944, in: StANW, A 5632.

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Ablehnungen als Konglomerat aus konservativen gesellschaftlichen Vorstellungen von Partnerschaft und sozialrassistischem Milieudenken zu deuten. Die Selbstwahrnehmung der Opfer innerhalb dieser sozialen Grenzziehung ist ohne Selbstzeugnisse nicht zu beurteilen. In einem Brief an den Reichsleiter der NSDAP Robert Ley aus dem Jahr 1943 bat zum Beispiel der kriegsversehrte Gustav Schulz um eine Stelle als Wachmann, die ihm die Geheime Staatspolizei (Gestapo) bisher verweigert hatte. Die Behörden hatten bereits zuvor Frau, Bruder und Schwägerin an verschiedenen Stellen als „asozial“ bezeichnet. In dem Schreiben präsentierte er sich als arbeitswilliger, aber körperlich eingeschränkter Kriegsveteran, den die nachtragenden Behörden wegen verschiedener Haft- und Geldstrafen vom angestrebten Beruf abhalten. Dem Brief ist nicht zu entnehmen, wie bewusst sich Gustav Schulz dem Umstand war, dass ihn die Behörden mindestens seit 1935 als „asozial“ einstuften.88 In der Praxis war es für den sozial ausgegrenzten Menschen weniger relevant, wo die dehnbare Grenze zwischen Exklusion und Inklusion verlief, sondern wie ihn die Exklusion aus der „Volksgemeinschaft“ traf. Devianz von nationalsozialistischen Normvorstellungen konnte zu Haft in einem Arbeitserziehungs- oder Konzentrationslager führen.89 Zudem konnten als „asozial“ stigmatisierte Personen – dies ließ sich am Beispiel von Neustadt belegen – Opfer von sozialpolitischer Benachteiligung, Fürsorgeerziehung, Zwangssterilisation und Arbeitshausunterbringung werden. Personen mit geringer Bildung und auferlegten Zuschreibungen wie „schwachsinnig“ und „sittlicher“ oder „moralischer Minderwertigkeit“ wurden außerdem häufig im Rahmen der sogenannten „Euthanasie-Programme“ ermordet.90 IV. Fazit Der Nationalsozialismus erweiterte das Begriffsfeld der „Asozialität“ und radikalisierte sozialrassistische Maßnahmen. Letztlich entwickelte sich die Zuschreibung „asozial“ zu einem weit dehnbaren, nie abschließend definierten Begriff, der alle denkbaren Formen der sozialen Devianz umfassen konnte, und als Kriterium für Exklusion und Inklusion galt. Dabei bestand das spezifisch Nationalsozialistische nicht in nor-

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Brief von G. S. an Reichsleiter Dr. Ley, 21.08.1943, in: Landesarchiv Speyer, T65 8202; Liste der Beschlüsse auf fürsorgerechtlichen Arbeitszwang, 08.11.1934–25.02.1943; Liste über sonstige Asoziale, 24.02.1939, beide in: StANW, A 5769. Barbara Distel, Kriminelle und „Asoziale“ als Häftlingskategorien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.) Nationalsozialistische Zwangslager. Strukturen und Regionen, Täter und Opfer. Dachau 2012, 194– 204, hier 201; Hörath, „Asoziale“ (wie Anm. 13), 29; Cord Pagenstecher, Arbeitserziehungslager, in: Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Arbeitserziehungslager, Ghettos, Jugendschutzlager, Polizeihaftlager, Sonderlager, Zigeunerlager, Zwangsarbeiterlager. (Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 9.) München 2009, 75–99, hier 75–77; 82 f. Ayaß, „Asoziale“ (wie Anm. 3), 10, 95–98; Tomkowiak, Nachwuchs (wie Anm. 21), 45.

„Von Erbkranken und asozialen Familien“

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mativen Wertvorstellungen, sondern in der Möglichkeit, radikale sozialrassistische Maßnahmen mit dem fluiden Konstrukt der „Asozialität“ zu begründen und bis in die privatesten Bereiche der Menschen einzudringen. In der Zeit ab 1938 wurden zunehmend Frauen, Familien und Jugendliche „asozialen“ Verhaltens bezichtigt. Der staatlich forcierte Sozialrassismus bewegte sich von sozial geächteter Devianz hin zur willkürlich, gerichtlich oder polizeilich geahndeten Delinquenz. Als Mittel der Exklusion trug das Feindbild des „Asozialen“ zur schärferen Darstellung der propagierten „Volksgemeinschaft“ bei und wurde wiederum selbst durch die „Volksgemeinschaft“, welche die lokalen Behörden direkt oder indirekt als handlungsweisende Maxime übernahmen, geprägt. Die praktische Form sozialrassistischer Diskriminierung in Neustadt an der Weinstraße und den umliegenden, heute eingemeindeten Ortsteilen, ist in der Vergabe der Mutterkreuze, in Ermittlungen zu Ehestandsdarlehen, „Erbgesundheit“ und Kinderbeihilfe, in Beschlüssen auf Fürsorgeerziehung und in der Anordnung von fürsorgerechtlichem Arbeitszwang greifbar. Auf eine sozialpolitische Benachteiligung und Ausgrenzung konnte Zwangssterilisation, Haft in Konzentrationslagern oder Ermordung folgen. In der Praxis in Neustadt prägten vor allem die Beamten der Kriminalpolizei, der Fürsorge und des Bürgermeisteramtes die Ausgrenzung. Aus der Möglichkeit und Notwendigkeit, die unspezifischen weit dehnbaren Gesetze, Erlasse und Richtlinien nach persönlichen Wertvorstellungen, mehr oder weniger vom juristischen Diskurs und der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst, anzuwenden, erwuchs eine willkürliche und von traditionellen Stigmata bestimmte Form der Ausgrenzung und Verfolgung. Bedingt durch die Art und Weise, wie die Behörden zusammenarbeiteten, blieben einmal als „asozial“ ausgegrenzte Personen, die zu großen Teilen aus den armen und randständigen Teilen der Gesellschaft kamen, in der ihnen aufgezwungenen Opferrolle gefangen. Im Vergleich zu anderen Verfolgten des Nationalsozialismus endete die Unterdrückung der „Asozialen“ als außerhalb eines normativ konstruierten Gesellschaftsbildes stehende Individuen nicht 1945.91 Beispielhaft zeigt dies die Abstimmung des deutschen Bundestages vom 13. Februar 2020: Erst 75 Jahre nach Kriegsende stimmte der Bundestag für die Anerkennung der „als ‚asozial‘ und ‚Berufsverbrecher‘ Verfolgten“92 und beschloss, dahingehende Forschung und Gedenkarbeit zu fördern.93 Zudem bezeichnet das Wort „asozial“ noch heute, mit zumeist negativer Konnotation, unterschiedlichste Formen einer vermeintlich gesellschaftlichen Normabweichung.

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Roth, „Antisozialen“ (wie Anm. 65), 83; Tomkowiak, Nachwuchs (wie Anm. 21), 46–49. Alexander Dobrindt u a , Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD. Anerkennung der von den Nationalsozialisten als „Asozial“ und „Berufsverbrecher“ Verfolgten. (Drucksache 19/14342.) Berlin 2019, 4. Tagesordnungspunkt 16 (13.02.2020), in: Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/146. Stenografischer Bericht 146. Berlin 2020, 18325–18332, hier 18332.

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Sebastian Senger

Sebastian Senger, B. A., nahm zum Wintersemester 2016/2017 ein Studium der Geschichte und Archäologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf, das er im August 2020 mit einer B. A.Arbeit über sozialrassistische Verfolgung im Nationalsozialismus in Neustadt a. d. W. abschloss. Seit dem Wintersemester 2020/2021 studiert er Geschichte (M. A.) mit dem Studienschwerpunkt Public History an der Universität zu Köln.

Die Rolle nationalsozialistischer Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann (1920–1948) Katherina Handschuh Dieser Aufsatz beschäftigt sich anhand der Biographie Lieselotte Hartmanns (1920–1948) mit den Auswirkungen von Mehrfachdiskriminierung in der NS-Zeit Es wird analysiert, wie verschiedene Akteur*innen Hartmanns Herkunft als uneheliche Tochter eines Besatzungssoldaten, ihr als „asozial“ gewertetes Verhalten und ihre Tbc-Erkrankung deuteten und welche Konsequenzen sie daraus zogen Hartmanns Weg führte über ein Kinderheim und einen abgelehnten Zwangssterilisationsantrag 1940 in die „LHA“/Mordanstalt Eichberg und Anfang 1945 in die Mordanstalt Hadamar Ihre Geschichte zeigt, dass der Einfluss des NS-Systems auf Kinder von Besatzungssoldaten nicht nur auf die illegalen Zwangssterilisationen von Kindern of Color reduzierbar ist Vielmehr verweist sie auf die Notwendigkeit von weiteren Untersuchungen zu den Kindern von Besatzungssoldaten im Kontext des NS„Anstaltensystems“ I. Einleitung Die Forschung zu den NS-Zwangssterilisationen und NS-„Euthanasie“-Verbrechen hat bereits viele Aspekte beleuchtet.1 Die Betrachtung einzelner Biographien kann jedoch nach wie vor den Blick auf neue Fragestellungen lenken. Dies zeigt auch der hier unter-

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In seinem 1967 erschienen Aufsatz gibt Dörner einen knappen Überblick über die wenige bis dato erschienene Literatur zum Thema NS-„Euthanasie“-Verbrechen und erörtert einige grundsätzliche Fragen und Ereignisse des Themenkomplexes (Klaus Dörner, Nationalsozialismus und Lebensvernichtung, in: Vf Z 15, 1967, 121–152). 1983 erschien mit Klees „‚Euthanasie‘ im NS-Staat“ eine umfassende Monographie zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen (Ernst Klee, „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2018). 1986 veröffentlichte Bock eine ausführliche Monographie zu den NS-Zwangssterilisationen (Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 48.) Opladen 1986). Seither wurden zahlreiche weitere Aufsätze, Sammelbände und Monographien

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Katherina Handschuh

suchte Fall der Lieselotte Hartmann (1920–1948). Sie war die deutsche Tochter eines französischen, möglicherweise auch marokkanischen Besatzungssoldaten. Im Rahmen der NS-Ideologie wurde ihr ein „asoziales Verhalten“ zugesprochen. Ab 1944 war sie an Tuberkulose (Tbc) erkrankt. 1938 wurde ein Antrag auf Zwangssterilisation abgelehnt. Zwischen dem 11. Oktober 1940 und dem 15. Februar 1945 wurde sie in der „Landesheilanstalt“ („LHA“)/Mordanstalt Eichberg und anschließend bis zum 9. April 1946 in der Mordanstalt/LHA Hadamar untergebracht.2 Im Kontext der NS-Zeit legt dies alles nahe, dass Lieselotte Hartmann Mehrfachdiskriminierung3 ausgesetzt war.4 Daher soll

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zu verschiedenen Fragestellungen verfasst. Dabei werden u. a. Schwerpunkte auf Städte/Ortschaften gesetzt. S. z. B. Rita Hohnholz, Zwangssterilisationen in Wiesbaden von 1933–1945. Diss. phil. Mainz 2016; Matthias Klein, NS-„Rassenhygiene“ im Raum Trier. Zwangssterilisationen und Patientenmorde im ehemaligen Regierungsbezirk Trier 1933–1945. (Rheinisches Archiv, Bd. 161.) Köln u. a. 2020; zugl. Diss. phil. Trier [2017]. Die Geschichte einzelner Anstalten und Institutionen wird, nicht nur in Bezug auf die NS-Zeit, untersucht. Für diese Arbeit ist dabei insbesondere die Forschung zur „Landesheilanstalt“ („LHA“)/Mordanstalt Eichberg und zur Mordanstalt Hadamar relevant. S. z. B. Peter Sandner, Der Eichberg im Nationalsozialismus. Die Rolle einer Landesheilanstalt zwischen Psychiatrie, Gesundheitsverwaltung und Rassenpolitik, in: Christina Vanja u. a. (Hrsg.), Wissen und irren. Psychiatriegeschichte aus zwei Jahrhunderten – Eberbach und Eichberg. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 6.) Kassel 1999, 164–220. Zur Mordanstalt Hadamar s. z. B. die verschiedenen Aufsätze in Uta George u a (Hrsg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd.  12.) Marburg 2006; Jan Erik Schulte, Die „Euthanasie“-Tötungsanstalt Hadamar und die Ausdehnung der Mordaktionen 1942–1945, in: Andreas Hedwig / Dirk Petter (Hrsg.), Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert. (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Bd.  35.) Marburg 2017, 117–135. Zu einer fortlaufenden Forschung, vor allem bezüglich der NS-„Euthanasie“-Verbrechen, tragen auch die Gedenkstätten bei. Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV-Archiv), K 12 4449, Aktendeckel der Krankengeschichte der „LHA“/Mordanstalt Eichberg. Im Kontext der schlechten Behandlung und der Ermordung von Patient*innen in den Anstalten Eichberg und Hadamar in der NS-Zeit erschien es nicht sinnvoll, die damaligen, verschleiernden Bezeichnungen der Anstalten zu übernehmen. „LHA“ soll als Gegensatz zu LHA verdeutlichen, dass die Anstalten wider ihren eigentlichen Zweck handelten; Mordanstalten wird verwendet, sobald das Morden begann. Das Konzept der „Mehrfachdiskriminierung“ hat starke politische und aktivistische Konnotationen, ist hier jedoch als Analysekategorie zu verstehen. Das Konzept auf eine Zeit zu übertragen, in der es nicht bekannt war, ist nicht unproblematisch, ermöglicht es aber, historische Fälle wie den Lieselotte Hartmanns, bei denen mehrere Zugehörigkeiten zu stigmatisierten und diskriminierten Gruppen vorlagen, einzuordnen und besser zu verstehen. Das „Problem“ der Mehrfachzugehörigkeiten wurde im Kontext der Forschung zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen bisher insbesondere in Bezug auf jüdische Patient*innen aufgegriffen. Einen Überblick über die spezifischen Maßnahmen gegen jüdische Patient*innen gibt Georg Lilienthal, Der NS-Anstaltsmord an jüdischen Patientinnen und Patienten, in: Ingo Wille (Hrsg.), Transport in den Tod. Von Hamburg-Langenhorn in die Tötungsanstalt Brandenburg. Lebensbilder von 136 jüdischen Patientinnen und Patienten. Hamburg 2017, 17–39. Die Diskriminierung stellt eine sprachliche Herausforderung dar. Für das Verstehen und Darstellen der damaligen Diskriminierung ist es wichtig, die zeitgenössischen rassistischen, ableistischen und eugenischen Begriffe wiederzugeben und zu analysieren. Zugleich sollten die damaligen Ideen dekonstruiert und sprachlich mit ihnen gebrochen werden. Wo es kein tieferes Verständnis

Nationalsozialistische Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann

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in diesem Aufsatz die folgende Frage diskutiert werden: Wie wurden Lieselotte Hartmanns Herkunft, ihr Verhalten sowie ihre Tbc-Erkrankung in der NS-Zeit verstanden, und welche Auswirkungen hatten diese Interpretationen und Diskriminierungen auf ihren Lebensweg? Grundlage für das Wissen über Lieselotte Hartmann sind ihre Patient*innenakten aus der „LHA“/Mordanstalt Eichberg und der Mordanstalt/LHA Hadamar,5 sowie ein Vernehmungsprotokoll aus dem Jahr 1945.6 Die Mehrheit des zu Lieselotte Hartmann vorhandenen Materials stammt aus den Jahren 1937–1945. Bei den (Abschriften von) Schreiben aus der Zeit vor Oktober 1940, die nicht direkt mit den Anstalten zu tun hatten, handelt es sich vermutlich um die Vorgänge, die Hartmanns Vormund vom „Amt für Volkswohlfahrt“ Wiesbaden der „LHA“ Eichberg Ende 1940/Anfang 1941 zur Verfügung stellte.7 Aus der Zeit rund um die Aufnahme in die „LHA“ Eichberg 1940 gibt es weiteren Schriftverkehr sowie einen Fragebogen, der zur Untersuchung Hartmanns verwendet wurde. Informationen über ihren Aufenthalt in der „LHA“/Mordanstalt Eichberg bieten die unregelmäßigen Eintragungen in Hartmanns Krankenblatt, die Korrespondenz, die von Seiten der „LHA“/Mordanstalt Eichberg mit anderen Stellen geführt wurde, sowie ein einzelner Brief von Lieselotte Hartmann selbst. Die Akte der „LHA“/Mordanstalt Eichberg folgte Lieselotte Hartmann in die Mordanstalt/LHA Hadamar, doch erst ab Juni 1945 setzte die Dokumentation in der Akte wieder ein.8 Einblicke in die Zeit in der Mordanstalt Hadamar gibt das Protokoll einer Vernehmung von Lieselotte Hartmann im August 1945, in der jedoch vor allem ihr Wissen über die Vorgänge in der Mordanstalt im Fokus stand.9 Für die Zeit in der LHA Hadamar gibt es einige Eintragungen im Krankenblatt, die Einblicke in ihren Alltag zulassen, sowie verschiedene Korrespondenz, die sich mit ihrer Erkrankung befasste.10

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der Situation verhindert, soll daher eine möglichst wenig diskriminierende Sprache verwendet werden. Aktuelle sprachliche Konzepte zu verwenden, ist nicht unproblematisch, erscheint aber beim aktuellen Wissensstand und in Hinblick auf die in der bisherigen Forschung verwendeten Begriffe als vorerst hilfreichster Lösungsansatz, der aber weiter zur Debatte steht. LWV-Archiv, K 12 4449. Liselotte Hartmann, Protokoll der Vernehmung vom 27.  August 1945, in: Christoph Schneider (Hrsg.), Hadamar von innen. Überlebenszeugnisse und Angehörigenberichte. Berlin 2020, 125– 127. Die Versuche, das Wissen über Hartmanns Leben durch Quellen des Stadtarchivs Wiesbaden, des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM), zu dem das Kinderheim Biebrich gehörte, sowie durch Erbgesundheitsakten aus dem Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW) zu ergänzen, waren erfolglos. Schreiben des Kreisamtsleiters des Amts für Volkswohlfahrt an die „LHA“ Eichberg, 22.11.1940; Schreiben der [„LHA“ Eichberg] an das Amt für Vol[k]swohlfahrt Wiesbaden, 10.01.1941, beide in: LWV-Archiv, K 12 4449. LWV-Archiv, K 12 4449. Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 125–127. Schneider ergänzt einige knappe Angaben zur Biographie Hartmanns, allerdings ohne Quellenangaben. LWV-Archiv, K 12 4449.

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Im April 1946 wurde Hartmann verlegt, die Akte verblieb aber in der LHA Hadamar. Durch mehrere Briefwechsel mit dem Direktor der LHA Hadamar11 bis März 1947 trat Hartmann nun selbst in Erscheinung. Informationen über ihr gesamtes letztes Lebensjahr fehlen.12 Insgesamt geben die Quellen zu Lieselotte Hartmann vor allem eine Perspektive von außen wieder. Dabei wurde sie durch einen Filter nationalsozialistischer Ideen und Ideologie(n) beurteilt und wahrgenommen,13 der aufgrund der einseitigen Dokumentation schwer zu dekonstruieren ist. Um die Ereignisse in Hartmanns Leben einordnen zu können, wird zunächst ein kurzer Überblick über die Rahmenprozesse und -bedingungen der NS-Zwangssterilisationen und NS-„Euthanasie“-Verbrechen gegeben (Kapitel II). In einem zweiten Schritt wird Lieselotte Hartmanns Biographie kurz wiedergegeben (Kapitel III). Hierbei wird der Fokus, in Vorbereitung auf die Analyse, insbesondere auf ihren Weg durch die NS-Institutionen gelegt. Anschließend folgt eine Analyse der nationalsozialistischen Interpretationen verschiedener Aspekte von Hartmanns Identität sowie eine Untersuchung von deren Auswirkungen auf ihre Leben. Dies erfolgt zunächst in Bezug auf ihre Herkunft als Kind eines Besatzungssoldaten und einer deutschen Frau (Kapitel IV.1). Anschließend werden die Interpretationen und deren Auswirkung in Bezug auf ihr Verhalten untersucht (Kapitel IV.2). Zum Schluss werden die Wahrnehmungen und Konsequenzen von Lieselotte Hartmanns Tbc-Erkrankung diskutiert (Kapitel IV.3). Die Trennung in die einzelnen Unterpunkte soll für einen möglichst klaren Blick auf die jeweiligen Wirkmechanismen sorgen, eine Überschneidung der Aspekte aber nicht ausschließen. Für die Analyse wurde neben den Akten auch auf bereits vorhandene Forschungsliteratur zu den Themenfeldern „‚Asozialität‘/‚Psychopathie‘/‚angeborener Schwach-

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Dr. William Altvater (1880–1961) war vom 3. Mai 1945 bis zum 1. Oktober 1948 Direktor der LHA Hadamar. Während der „Aktion T4“ war er, bis zu seinem Ruhestand, Oberarzt und stellvertretender Direktor der Anstalt Herborn gewesen (Franz-Werner Kersting, Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nachkriegsjahren, in: Uta George u. a. (Hrsg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd.  12.) Marburg 2006, 327–343, hier 331). Diese war 1941 eine von neun Zwischenanstalten der Mordanstalt Hadamar (Georg Lilienthal, Gaskammer und Überdosis. Die Landesheilanstalt Hadamar als Mordzentrum (1941–1945), in: ebd., 156–175, hier 159). LWV-Archiv, K 12 4449. Uta George, „Erholte sich nicht mehr. Heute exitus an Marasmus senilis“. Die Opfer der Jahre 1942–1945 in Hadamar, in: dies. u. a. (Hrsg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 12.) Marburg 2006, 234–258, hier 234.

Nationalsozialistische Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann

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sinn‘ in der NS-Zeit“14, „Tuberkulose in der NS-Zeit“15 und „Kinder von Besatzungssoldaten der Rheinlandbesatzung nach dem 1. Weltkrieg“16 zurückgegriffen. II. NS-Zwangssterilisationen und NS-„Euthanasie“-Verbrechen Ab 1933 wurde „die Rassenhygiene zur Leitwissenschaft der Gesundheits- und Sozialpolitik in Deutschland.“17 Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken 14

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1990 veröffentlichte Scherer eine Monographie zum Thema „Asoziale“ (Klaus Scherer, „Asozial“ im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990). Dem folgte Ayaß 1995 mit einer weiteren Monographie, die sich mehr als Scherers Werk mit der gelebten Verfolgung befasste (Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995). Forschung zu diesem Thema findet aus verschiedenen Blickwinkeln statt. So widmet sich z. B. Buske in einer Langzeitperspektive dem Thema „Unehelichkeit“ und greift dabei auch den Umgang mit den stigmatisierten ledigen Müttern und unehelichen Kindern in der NS-Zeit auf (Sybille Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard. Eine Geschichte der Unehelichkeit in Deutschland 1900–1970. (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 5.) Göttingen 2004; zugl. Diss. phil. Freiburg 2003, u. d. T.: Ledige Mütter – Uneheliche Kinder). Ein stärkerer Bezug zu den NS„Euthanasie“-Verbrechen findet sich bei Götz Aly, Die Belasteten. ‚Euthanasie‘ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Frankfurt a. M. 2014, 213–241, sowie George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 250–254. Ein Überblick über die bisherige Forschung zum „Umgang mit Tuberkulose in der NS-Zeit“, die in den 1980er Jahren begann und noch einige Lücken aufweist, findet sich bei Christoph Wehner, Tuberkulosekranke in Heilstätten der LVA Schleswig-Holstein im „Dritten Reich“. Medizinische Versorgung und soziale Praxis zwischen 1933 und 1945. [Bochum] 2020, http://www.sv-dok.de/ downloads/Tuberkulosekranke_in_Heil-staetten.pdf, Aufruf zuletzt am 08.01.2021, 10–12. Ein Ausgangspunkt für die historische Forschung zu diesen Kindern ist die rassistische Kampagne gegen die Soldaten of Color der Rheinlandbesatzung in den frühen 1920er Jahren. Robert C. Reinders’ Aufsatz von 1968 stieß die Forschung zur Kampagne an, ging jedoch noch nicht auf die Kinder von Besatzungssoldaten of Color ein (Robert C Reinders, Racialism on the Left. E. D. Morel and the „Black Horror on the Rhine“, in: International Review of Social History 13, 1968, 1–28). Ein weiterer Ausgangspunkt sind die illegalen Zwangssterilisierungen deutscher Kinder von Besatzungssoldaten of Color im Jahre 1937. Historisch wurden sie zuerst in einer 1979 erschienenen Monographie von Reiner Pommerin beleuchtet (Reiner Pommerin, Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1918–1937. Düsseldorf 1979). Seither wurden beide Themen auch im Kontext der afrodeutschen Geschichte betrachtet, s. z. B. May Opitz, Rassismus, Sexismus und vorkoloniales Afrikabild in Deutschland, in: Katharina Oguntoye u. a. (Hrsg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986, 17–64; Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um „Rasse“ und nationale Identität 1890–1993. Frankfurt a. M./ New York 2001, 142–202; zugl. Diss. phil. Hamburg 1999, u. d. T.: Schwarze Deutsche und deutscher Rassismus. Alle drei Ansätze beziehen sich insbesondere auf die Kinder von Besatzungssoldaten of Color. In jüngerer Zeit hat insbesondere Roos daran gearbeitet, Forschungslücken zu füllen, die u. a. in Bezug auf einzelne Lebensläufe, sowie in Bezug auf die allgemeinen Lebensumstände aller Kinder von Besatzungssoldaten und der Zeit nach 1937 bzw. 1945 bestehen (z. B. Julia Roos, Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte des Rassismus. Anregungen für die Erforschung der „Rheinlandbastarde“ aus einem privaten Briefwechsel, in: Birthe Kundrus / Sybille Steinbacher (Hrsg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten. Der Nationalsozialismus in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 29.) Göttingen 2013, 154–170). Gerrit Hohendorf, Die Patientenmorde im Nationalsozialismus zwischen „rassenhygienischer Ausmerze“, ökonomischem Kalkül und der vermeintlichen Erlösung vom Leiden, in: Andreas

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Nachwuchses“ (GzVeN) verabschiedet, das Zwangssterilisationen legalisierte. Es trat zum 1. Januar 1934 in Kraft und gab neun vage definierte Diagnosen vor, bei denen es sich angeblich um „Erbkrankheiten“ handeln sollte.18 Insbesondere beim „angeborenen Schwachsinn“ waren auch soziale und „moralische“ Kriterien von Bedeutung.19 Zudem war bei vielen Diagnosen die Erblichkeit nicht nachgewiesen.20 Bis 1945 wurden im gesamten Deutschen Reich etwa 400 000 Menschen zwangssterilisiert.21 Etwa 5 000 Zwangssterilisierte starben an den physischen Folgen, weitere ca. 1 000 Menschen begingen anschließend Suizid. Spätestens mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begannen auch die NS-„Euthanasie“Verbrechen.22 Unter diesem Begriff bzw. dessen Alternativversionen werden mehrere Mordaktionen zusammengefasst.23 Für den Kontext von Lieselotte Hartmanns Leben

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Hedwig / Dirk Petter (Hrsg.), Auslese der Starken – „Ausmerzung“ der Schwachen. Eugenik und NS-„Euthanasie“ im 20. Jahrhundert. (Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Bd. 35.) Marburg 2017, 83–104, hier 88. Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm. 1), 15–18, 26. Dies waren: „[A]ngeborener Schwachsinn, Schizophrenie, zirkuläres (manisch-depressives) Irresein (bipolare Störung), erbliche Fallsucht (Epilepsie), erblicher Veitstanz (Chorea Huntington), erbliche Blindheit oder Taubheit, schwere erbliche körperliche Missbildung sowie schwerer Alkoholismus“ (ebd., 18). Klein, Trier (wie Anm. 1), 45. Dies zeigte sich auch bei den Intelligenztests, die bei einer bildungsbürgerlichen Lebensrealität und Moral ansetzten. Der Bezug von Sozialleistungen konnte als Merkmal „angeborenen Schwachsinns“ ausgelegt werden (ebd., 45–47). Hohendorf, Patientenmorde (wie Anm. 17), 91. Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm. 1), 19; Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 86. Die Zwangssterilisationen hatten ihren Höhepunkt während der Jahre 1934/35 (Klein, Trier (wie Anm. 1), 47 f.). Klein widerspricht Klees Idee eines offiziellen „Sterilisierungsstopps“ zum 31. August 1939. Es sei angeordnet worden, nur noch Fälle zu verhandeln, die eine besonders große „Gefahr“ darstellten. In einigen Reichsteilen hätte dies (zunächst) ein Ende der Verfahren bedeutet. Nachfolgend seien immer wieder verschiedene Verordnungen erlassen worden. (ebd., 43; Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 85). Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 86 f. In Bezug auf die Frage, ob die zentral gesteuerten, gezielten Morde an Patient*innen von Heil- und Pflegeanstalten schon vor Beginn des Zweiten Weltkriegs begannen und wann diese Idee zuerst auf der Führungsebene diskutiert wurde, kommt Klein zu keinem eindeutigen Ergebnis (Klein, Trier (wie Anm. 1), 49 f., 53). Regionale Debatten hätten bereits vor Kriegsausbruch stattgefunden: „Unterhalb der Führungsebene hingegen lassen sich in den Kreisen der Landeshauptmänner und Anstaltsdezernenten erste Diskussionen zur gezielten, teilweise lebensgefährdenden Vernachlässigung von Anstaltspatienten seit den Jahren 1936 und 1937 nachweisen.“ (ebd., 51.) Dennoch sei noch umstritten, ob und wenn ja, wo man versucht habe, Patient*innen durch Sparmaßnahmen zu töten (ebd., 51–53). Bereits 1936 gab es in einigen Anstalten erhöhte Sterberaten (Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 70 f.). Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm. 1), 117 f. Zu den Opfern dieser weiteren Mordaktionen gehören u. a. die „etwa 80.000 ermordeten Kranken in den von den Deutschen besetzten Gebieten“ (Tobias Freimüller, Erlösung oder Mord? Die strafrechtliche Verfolgung nationalsozialistischer Medizinverbrechen in der Bundesrepublik, in: Jörg Ganzenmüller (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit. Die strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturen in Europa. (Europäische Diktaturen und ihre Überwindung, Bd. 23.) Köln u. a. 2017, 55–69, hier 56). Zwischen 1939 und 1945 wurden rund 5 000 behinderte Kinder und Jugendliche in 30 sogenannten „Kinderfachabteilungen“ ermordet (Hohendorf, Patientenmorde (wie Anm. 17), 95). Die Tötung behinderter Kinder und Jugendliche,

Nationalsozialistische Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann

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sind besonders die illegalen24 Mordaktionen an (erwachsenen) Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich relevant.25 Während der sogenannten „Aktion T4“ wurde die Ermordung von rund 70  000 Patient*innen aus Heil- und Pflegeanstalten zentral durch die Organisation „T4“ organisiert.26 Ab Oktober 1939 wurden Meldebögen an die Anstalten verschickt,27 mittels derer bestimmte Gruppen von Patient*innen herausgefiltert und erfasst werden sollten.28 Die Ermordung durch Kohlenmonoxid übernahmen sechs Tötungsanstalten, darunter auch die Mordanstalt Hadamar,29 zu denen die Patient*innen über Zwischenanstalten gebracht wurden.30 Am 24. August 1941 kam es zu einem offiziellen Stopp der NS-„Euthanasie“-Verbrechen.31 Die Ermordung von Menschen in Heil- und Pflegeanstalten wurde jedoch von den Länder- und Provinzialverwaltungen in lokalen und regionalen Aktionen fortgesetzt.32 Laut Hohendorf fielen diesen Aktionen „allein im Deutschen Reich (ohne Österreich)“ ca. 90 000 Menschen zu Opfer. Zur Gruppe der

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auch in den von den Deutschen besetzten Gebieten, erfolgte auch außerhalb dieser gesonderten Abteilungen (Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 336–339). Klein, Trier (wie Anm.  1), 41. Es gab eine, von Hitler ca. im Oktober 1939 verfasste, „‚Euthanasie‘-Ermächtigung“, die auf den 1. September 1939 zurückdatiert wurde (Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 114). Sie hatte keine legale Bindung, führte aber dazu, dass diese Verbrechen während der NS-Zeit nicht verfolgt wurden (Klein, Trier (wie Anm. 1), 53). Diese Mordaktionen können, so Hohendorf, „nicht ohne weiteres als Fortsetzung der Sterilisationspolitik mit anderen Mitteln gesehen werden. […] Mit der Sterilisation sollten diejenigen ‚Erbkranken‘ erfasst werden, die außerhalb der Anstalten noch irgendeine Form nützlicher Arbeit leisten konnten. Dagegen richtete sich die ‚Euthanasie‘-Aktion gegen die angeblich unheilbar Kranken, die als ökonomisch unbrauchbar gesehen wurden. Gleichwohl gab es doppelte Opfer, die zuerst sterilisiert und dann ermordet wurden.“ (Hohendorf, Patientenmorde (wie Anm. 17), 92). Ebd., 99; Lilienthal, Gaskammer (wie Anm. 11), 156. Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 89–91. Klein, Trier (wie Anm. 1), 54 f. Der Text des Merkblatts zum Meldebogen ist abgedruckt in: Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 92. Klein, Trier (wie Anm. 1), 56. Die anderen Tötungsanstalten befanden sich in Brandenburg, Bernburg an der Saale, Grafeneck, Schloss Hartheim in Linz/Donau und Pirna-Sonnenstein (Lilienthal, Gaskammer (wie Anm. 11), 158). Klein, Trier (wie Anm. 1), 56. Bei den Zwischenanstalten konnte es sich auch um die Ursprungsanstalten von Patient*innen handeln, die demnach nicht zwischenverlegt wurden (Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 188 f.). Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 259. Für einen kurzen Überblick über die vielfältigen Ursachen dieses „Stopps“ s. Klein, Trier (wie Anm. 1), 56 f. Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm.  1), 118; Lilienthal, Gaskammer (wie Anm.  11), 168. Es waren nicht alle Reichsteile gleichermaßen betroffen (Peter Sandner, Die Landesheilanstalt Hadamar 1933–1945 als Einrichtung des Bezirksverbands Nassau (Wiesbaden), in: Uta George u. a. (Hrsg.), Hadamar. Heilstätte  – Tötungsanstalt  – Therapiezentrum. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 12.) Marburg 2006, 136–155, hier 147). In einigen Anstalten soll es schon vor August 1941 dezentrale Morde gegeben haben (Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm. 1), 125). So stellt Ley fest, dass die Sterberate in Stadtroda bereits 1940 über der Grenze von 20 Prozent lag (Astrid Ley, Ausgegrenzt – vernachlässigt – ermordet. TB-Kranke im Nationalsozialismus, in: Robert Loddenkemper u. a. (Hrsg.), Die Lungenheilkunde im Nationalsozialismus. Berlin 2018, 152–179, hier 158).

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Menschen, die nach August 1941 ermordet wurden, gehörten zum Beispiel auch „Fürsorgezöglinge, verwirrte alte Menschen sowie psychisch oder körperlich erkrankte Zwangsarbeiter […].“33 In den Anstalten des Bezirksverbands Nassau wurden im Rahmen der NS-„Euthanasie“-Verbrechen rund 20  000 Menschen ermordet.34 In der Mordanstalt Hadamar brachte das Personal 1941 über 10 200 Menschen um.35 Zwischen 1942 und 1945 ermordete das (neue) Personal weitere ca. 4 500 Menschen durch Unterernährung, überdosierte Medikamente und das Vorenthalten von Pflege.36 Die „Sterberate“ lag in dieser Zeit bei rund 91 Prozent.37 In der Mordanstalt Eichberg töteten einzelne Akteur*innen, zwar weniger systematisch, jedoch mit ähnlichen Mitteln, rund 2 300 Personen.38 III. Biographie von Lieselotte Hartmann Lieselotte Hartmann wurde am 09. Juni 1920 unehelich in Biebrich am Rhein geboren. Ihre Mutter war Deutsche,39 ihr Vater wohl ein französischer Besatzungssoldat.40 Etwa ab ihrem dritten Lebensjahr lebte Lieselotte Hartmann im Kinderheim des Diakonissenheims Wiesbaden-Biebrich.41 Die Mutter Erna soll Lieselotte noch einige Jahre lang im Kinderheim besucht haben. Später war ihr Aufenthaltsort unbekannt.42 Lieselotte besuchte die Volksschule in Wiesbaden und soll dabei zwei Mal eine Klasse wiederholt

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Hohendorf, Patientenmorde (wie Anm. 17), 101. Sandner, Landesheilanstalt (wie Anm. 32), 152. Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm. 1), 123. George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 234. Lilienthal, Gaskammer (wie Anm. 11), 169 f.; Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm. 1), 127. Daran, dass die Morde direkt am Tag der Befreiung durch US-amerikanische Truppen der Mordanstalt Hadamar am 26. März 1945 endeten, zweifeln George und Schneider (George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 247; Christoph Schneider, Hadamar März 1945 bis März 1947 – eine Ermittlung, in: ders. (Hrsg.), Hadamar von innen. Überlebenszeugnisse und Angehörigenberichte. Berlin 2020, 197–242, hier 204 f.). Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 196, 203. Geburtsurkunde der Lieselotte Hartmann, 23.10.1940, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Z. B. Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938, 1, in: ebd. Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg, 11.10.1940. Vorgeschichte, in: ebd. An anderer Stelle wird angegeben, dass sie erst mit vier Jahren dorthin kam (Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 1). Zumindest 1929 und 1931 wurde überlegt, ob man das Heim aufgrund eines Mangels an Kindern schließen müsse ( Jahresbericht des Evang. Diakonissenheims zu Wiesbaden-Biebrich für 1929; Protokoll der 2. Vorstandssitzung am 01.05.1931, 1 f., beide in: Archiv EVIM). Im Juni 1936 entdeckte man, dass die Kinder und das Heim sehr ungepflegt aussahen (Schreiben von unbekannt an Landesbischof i. R. K., 15.06.1936, 2 f., in: ebd.). Daraufhin wurde Ende des Jahres eine neue Leiterin eingesetzt (Schreiben des Diakonissenhauses Friedrichswarte Bad Ems an EVIM, 07.10.1936, in: ebd.). Akten der Amtsvormundschaft 4300, o. D., in: LWV-Archiv, K 12 4449.

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haben.43 Danach ging sie in eine Berufsschule.44 Bis Sommer 1939 blieb sie im Kinderheim,45 obgleich dieses bereits seit Mai 1937 versuchte, Lieselotte anderswo unterbringen zulassen, da man mit ihrem Verhalten nicht einverstanden war.46 Am 20. Mai 1937 teilte das Heim dem Städtischen Jugendamt mit, dass ein Arzt zu dem Ergebnis gekommen war, dass Hartmann „unter das Erbgesundheitsgesetz fallen würde“47. Ein Schreiben des III. Polizeireviers in Halle deutet daraufhin, dass das Staatliche Gesundheitsamt bereits im Juli 1937 in ihrem Fall ermittelte.48 Das Erbgesundheitsgericht (EG) Wiesbaden lehnte am 8. März 1938 die Diagnose eines „angeborenen Schwachsinns“ und damit den Antrag auf Unfruchtbarmachung für die damals 17-jährige Lieselotte Hartmann ab.49 Es schrieb ihr jedoch „psychopathische[] Züge“50 zu. Zwischen Sommer 1939 und dem 1. Oktober 1940 war Lieselotte Hartmann nacheinander als Hausmädchen in einem Krankenhaus in Erbenheim und im Krankenhaus des Roten Kreuzes,51 sowie ab Februar 1940 in der Metzgerei G. angestellt.52 Als Gründe dafür, dass sie die Stellen verlor, wurden (vorherige) Diebstähle, ihre nachlassenden Leistungen, dass sie sich mit Soldaten eingelassen habe und/oder dass sie nachts betrunken nach Hause gekommen sei, benannt, wobei die einzelnen Stellen jeweils Unterschiedliches bemängelten.53 Bereits Anfang 1940 hatte Schwester Elisabeth Müller vom Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, die im Dezember 1942 zu Lieselottes Pflegerin bestellt wurde,54 über sie geschrieben: „Ihr ganzes Verhalten ist so merkwürdig, dass man an ihrem Verstand zweifeln kann.“55 Auf Müllers Veranlassung hin, wurde 43 44 45 46 47 48 49 50 51

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Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 1 f. Schreiben des Diakonissenheims in Wiesbaden-Biebrich an das Städtische Jugendamt, Gefährdeten-Fürsorge, Wiesbaden, 20.05.1937, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Schreiben des Frauen- und Mädchenschutzes Wiesbaden an das Staatliche Gesundheitsamt Wiesbaden, 08.04.1940, in: ebd. U. a. Schreiben des Diakonissenheims in Wiesbaden-Biebrich an die Kreisamtsleitung der N. S. Volkswohlfahrt (NSV) in Wiesbaden, 03.12.1938, in: ebd. Diakonissenheim Wiesbaden-Biebrich, 20.05.1937 (wie Anm. 44). Schreibens des Pol[izei]präs[idiums] Halle an das Staatliche Gesundheitsamt Wiesbaden, 08.07.1937, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 1 f. Ebd., 2. Schreiben des Frauen- und Mädchenschutzes Wiesbaden an die Kreisamtsleitung [der NSV Wiesbaden], 05.01.1940, in: LWV-Archiv, K 12 4449. In einem weiteren Schreiben wurde davon gesprochen, dass sie in einem Diakonissenheim in Erbenheim gearbeitet habe. In diesem Schreiben werden jedoch Patient*innen erwähnt (Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 08.04.1940 (wie Anm. 45)). Schreiben des Frauen- und Mädchenschutzes Wiesbaden an die Kreisamtsleitung der NSV Wiesbaden, 13.02.1940, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Schreiben des Frauen- und Mädchenschutzes Wiesbaden an das Staatliche Gesundheitsamt Wiesbaden, 02.10.1940, in: ebd.; Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 05.01.1940 (wie Anm.  51); Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 13.02.1940 (wie Anm. 52). Schreiben des Amtsgerichts Wiesbaden an [die Mordanstalt Eichberg], 04.12.1942, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 05.01.1940 (wie Anm. 51).

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am 9. Oktober 1940 die (angebliche) Gemeingefährlichkeit Hartmanns und die Notwendigkeit einer Anstaltsbehandlung festgestellt.56 Am 11. Oktober 1940, mit 20 Jahren, wurde Lieselotte Hartmann in die „LHA“ Eichberg aufgenommen.57 Erneut wurde ein Antrag auf Zwangssterilisation – diesmal mit unbekanntem Ausgang – gestellt.58 Ein Fluchtversuch Hartmanns im September 1942 misslang,59 ebenso der Versuch einer befreundeten Familie, eine Entlassung zu erwirken.60 Zwischen 14. Januar 1944 und 14. April 1944 erkrankte Lieselotte Hartmann schwer.61 Es bestand Verdacht auf Tbc.62 Spätestens ab August 1944 arbeitete sie wieder ganztägig im Hausbetrieb.63 Zwischen dem 6. und 9. September 1944 wurde sie in Familienpflege gegeben,64 wo sie jedoch schlecht behandelt wurde.65 Ab Dezember 1944 war Hartmann schließlich wieder wegen einer Eiterung des Fußes bettlägerig.66 Die Verantwortlichen der Mordanstalt Eichberg ließen Hartmann am 15. Februar 1945 in die Mordanstalt Hadamar verlegen.67 Angesichts der vielen Morde in der Mordanstalt Hadamar nahmen sie damit ihren Tod in Kauf. Sie überlebte. Im Februar 1946 kamen Ärzt*innen zu dem Schluss, dass es sich bei ihren Symptomen zumindest teilweise um Tbc handelte.68 Weil sich die Anstalt

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Fragebogen zur ärztlichen Untersuchung des Gemütszustandes, 09.10.1940, 1–8, in: LWV-Archiv, K 12 4449; Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 02.10.1940 (wie Anm. 53). Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg, 11.10.1940 (wie Anm. 41), 1. Ebd., Vorgeschichte. Auch zu diesem Verfahren gibt es im HHStAW keine Unterlagen. Da im Krankenblatt der Patient*innenakte keine Zwangssterilisation erwähnt wird, ist zunächst einmal davon auszugehen, dass diese nicht durchgeführt wurde (LWV-Archiv, K 12 4449). Auch ein Eintrag im Krankenblatt deutet darauf hin, dass Hartmann zumindest im Juli 1941 noch nicht zwangssterilisiert worden war (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann, 12.07.1941, in: LWV-Archiv, K 12 4449). Meldungen der Mordanstalt Eichberg, 16. und 18.09.1942, in: ebd. Schreiben der Eheleute B. an die Mordanstalt Eichberg, 22.01.1942; Schreiben des Fürsorge- und Jugendamts Wiesbaden an die Mordanstalt Eichberg, 06.02.1942, beide in: ebd. Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.01.–14.04.1944. Ebd., April 1944. Ebd., 08.08.1944. III. Ausfertigung für die Anstalt, 12.09.1944, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Brief von Lieselotte Hartmann an Ilse, 11.10.1944, 1–4, in: ebd. Die Datierung des Briefes ist insofern irritierend, als dass Hartmann laut der Meldung der Mordanstalt Eichberg bereits am 9. September 1944 aus Tiefenthal zurückgekommen war (III. Ausfertigung für die Anstalt, 12.09.1944 (wie Anm. 64)). Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.–31.12.1944. Ebd., 15.02.1945. Hartmann selbst gibt den 13. Februar 1945 als Verlegungsdatum an (Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 125). Befundschein des Staatlichen Medizinal-Untersuchungsamts beim Hygienischen Institut der Universität Marburg, 02.02.1946; Schreiben des Hilfskrankenhauses Limburg/Lahn an Dr.  K., 01.02.1946, 1; Schreiben des Hospitals Hadamar an [die LHA Hadamar], 27.02.1946, alle in: ebd. Laut Schneider sei die Tuberkulose bereits im Sommer 1945 diagnostiziert worden (Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 127, Anm. 50).

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nicht in der Lage sah, eine ordentliche Behandlung durchzuführen,69 wurde Lieselotte Hartmann am 09. April 1946 in das Städtische Krankenhaus Wiesbaden verlegt.70 Am 28. Mai 1946 kam sie in das nahegelegene Johannisstift.71 Ihre Aufnahme im Hospital zum Heiligen Geist in Köppern erfolgte am 10. Januar 1947,72 nachdem eine Verlegung in eine spezielle Tbc-Heilstätte in Marburg aus Platzgründen gescheitert war.73 Noch im März 1947 hoffte Lieselotte Hartmann auf Besserung und die Möglichkeit, wieder arbeiten zu können.74 Am 20. Mai 1948 verstarb sie im Alter von 27 Jahren in Köppern,75 vermutlich an Tbc. IV. Die Rolle von Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann 1. Diskriminierung in Bezug auf Hartmanns Herkunft Lieselotte Hartmann gehörte zu einer Gruppe von Menschen, die bereits in der Weimarer Republik abwertend als „Rheinlandbastarde“ bezeichnet wurden.76 Ihre Existenz ging auf sexuelle Kontakte zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen zurück.77 Ihre Väter waren US-amerikanische, belgische, britische und französische Soldaten, die an der Rheinlandbesatzung nach dem Ersten Weltkrieg beteiligt waren.78 69 70 71 72 73 74 75

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Schreiben von [Direktor Altvater] an den Landeshauptmann in Wiesbaden, 16.03.1946, in: LWVArchiv, K 12 4449. Meldung der LHA Hadamar, 09.04.1946, in: ebd. Brief von Lieselotte Hartmann an Direktor [Altvater], 24.07.1946, 1 und 3 f., in: ebd. Postkarte von Lieselotte Hartmann an Direktor Altvater, 14.02.1947, 1 f., in: ebd. Schreiben von [Direktor Altvater] an Lieselotte Hartmann, 10.12.1946, in: ebd. Brief von Lieselotte Hartmann an Direktor Altvater, 04.03.1947, 2, in: ebd. Schreiben des Fürsorge- und Jugendamts Wiesbaden an die LHA Hadamar, 29.07.1948, in: ebd. Schneider gibt Tuberkulose als Hartmanns Todesursache an. Er geht davon aus, dass sie sich diese „[u]nter den widrigen Bedingungen des Lebens in der Anstalt Eichberg, in der sie über vier Jahre arbeiten musste, [zu]zog […].“ (Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 127, Anm. 50). Roos, Kontinuitäten (wie Anm. 16), 159. Marius Munz, „Wiesbaden est boche, et le restera.“ Die alliierte Besetzung Wiesbadens nach dem Ersten Weltkrieg. 1918–1930. 2. Aufl. [o. O.] 2018, https://epflicht-hessen.hebis.de/urn/urn: nbn:de:hebis:43:epflicht-6718, Aufruf zuletzt am 03.01.2021, 112; zugl. Diss. phil. Frankfurt a. M. 2011. Es ist schwer, anhand der Quellen nachzuvollziehen, in welche Kategorien diese „Kontakte“ fielen, da u. a. Rassismus, Stigmatisierungen und Propaganda sowohl den Kontakt als auch das, was darüber festgehalten wurde, beeinflussen konnten (Dick van Galen Last / Ralf Futselaar, Black Shame. African Soldiers in Europe, 1914–1922. London u. a. 2015, 153–157; zugl. Diss. Amsterdam 2010, u. d. T. De zwarte schande. Afrikaanse soldaten in Europa, 1914–1922). Fest steht, dass es freiwillige Beziehungen gab (El-Tayeb, Schwarze Deutsche (wie Anm. 16), 168 f.; Roos, Racist Hysteria to Pragmatic Rapprochement? The German Debate about Rhenish ‚Occupation Children‘, 1920–1930, in: Contemporary European History 22, 2013, 155–180, hier 158). Zwischen dem Waffenstillstand 1918 und dem 30. Juni 1930 wurden die linksrheinischen und einige rechtsrheinische Gebiete besetzt, wobei sich die Aufteilung der Gebiete und der Besatzungsmäch-

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Teilweise stammten sie auch aus den französischen Kolonien.79 Weblers Angabe, dass nach Ende der Besatzungszeit im Rheinland 4 532 und in den ehemaligen hessischen Besatzungsgebieten 439 uneheliche Kinder von Besatzungssoldaten gelebt haben sollen, ist als Näherungswert zu verstehen.80 Für Wiesbaden stellt Munz fest, dass man die Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und deutschen Frauen als „eine Beleidigung und Bedrohung der nationalen Ehre […] [ansah], die rassisch und völkisch verstanden wurde“81. Daneben wurden die Kinder auch deshalb abgelehnt, weil deutsche Beamte meinten, dass sie die öffentlichen Kassen belasten würden.82 Allgemein standen sich in Bezug auf die Stellung unehelicher Kinder in der Weimarer Republik konservative Vorstellungen von Familie und Ehe, die auch die Verfassung prägten und Ideen über die Gleichstellung unehelicher Kinder gegenüber.83 Im Frühjahr/Sommer 1937 wurden viele deutsche Kinder von Besatzungssoldaten of Color illegal zwangssterilisiert.84 Auch außerhalb dieser Aktion gab es Diskrimi-

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te auf diese im Laufe der Zeit veränderte (Pommerin, Sterilisierung (wie Anm. 16), 7 f.; Roos, Racist Hysteria (wie Anm. 77), 173). Julia Roos, The Race to Forget? Bi-racial Descendants of the First Rhineland Occupation in 1950s West German Debates about the Children of African American GIs, in: German History 37, 2019, 517–539, hier 519. „The majority [of the colonial soldiers] were North Africans from Algeria, Morocco and Tunisia; smaller contingents of Indochinese, Malagasy and Senegalese soldiers also served in Germany.“ (ebd.) [Heinrich] Webler, Besatzungskinder, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt 22, 1930/31, 126–128, hier 126 f. Munz, Besatzung Wiesbadens (wie Anm. 77), 113. Auch von französischer Seite aus stellte man sich gegen diese Beziehungen. Der französische Generalstab in Wiesbaden genehmigte eine Heirat nur in Ausnahmefällen. (ebd., 112.) Roos, Racist Hysteria (wie Anm.  77), 163. Roos stellt für die Weimarer Republik fest, dass „[a] considerable percentage of occupation children were dependent on public social welfare and had a professional guardian appointed by the youth welfare office ( Jugendamt).“ (ebd., 176.) In Bezug auf St. Goar fand sie heraus, dass die Ursache für die oft schlechten Lebensbedingungen u. a. die niedrige soziale Herkunft der Mütter war (ebd., 164). Lange hatten die Frauen zudem keine Rechtsmöglichkeiten, um Unterstützung von den Vätern einzufordern (dazu s. ebd., 167–176). Von staatlicher Seite habe es ebenfalls nicht ausreichend Unterstützung gegeben: „[N]ationalist and racist hysteria obstructed more rational approaches to social welfare for Besatzungskinder during the early 1920s [Hervorhebung im Original].“ (ebd., 166.) Buske, Fräulein Mutter (wie Anm. 14), 99 f. Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm. 1), 50 f. Hohnholz spricht von 385 zwangssterilisierten Kinder, Roos von 600–800 (ebd., 51; Roos, Descendants (wie Anm. 79), 519). Die Anzahl der Kinder von Besatzungssoldaten of Color, die unter dem GzVeN zwangssterilisiert wurden, hält Pommerin für sehr klein (Pommerin, Sterilisierung (wie Anm. 16), 52 f.). Für mehr Informationen zu dieser Aktion und ihren Hintergründen s. ebd., 41–87. Zum Thema Wiedergutmachung s. Roos, Descendants (wie Anm. 79), 517–539. Für Wiesbaden stellt Hohnholz fest, dass nur drei Kinder zwangssterilisiert worden waren (Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm. 1), 51–54). Hohnholz scheint dabei nicht in den verbliebenen Einzelfallakten dieser illegalen Aktion recherchiert zu haben (BArch, R 1501 1271). Es ist möglich, dass sich dort noch mehr Fälle finden. Eine kritisch zu bewertende Aussage von 1963 über die Wiesbadener Geisberg-Heime lässt ein größeres Ausmaß illegaler Zwangssterilisationen für Wiesbaden vermuten (Paul Kinkel, Erfahrun-

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nierung, zum Beispiel durch einen Ausschluss afrodeutscher Kinder aus öffentlichen Schulen im Jahr 1939.85 In der bisherigen Forschungsliteratur wird keine weitere systematische Aktion gegen die Gruppe „Kinder von Besatzungssoldaten“ erwähnt.86 Das Merkblatt zu den Meldebögen der „Aktion T4“ verweist jedoch darauf, dass die Kinder von Besatzungssoldaten of Color meldepflichtig waren, sofern sie sich bereits in einer Heil- und Pflegeanstalt befanden.87 Hartmanns Mutter Erna war zum Zeitpunkt von Lieselottes Geburt 23 Jahre alt.88 Sie war damals wohl auf Unterstützungsleistungen angewiesen.89 Im Juli 1937 gaben Ernas Eltern an, seit 1920 nichts mehr von ihr gehört zu haben.90 Es hieß, dass „ernstere Krankheiten i. d. ganzen Familie nicht zu verzeichnen“ gewesen seien, „Trunksuchts-[ ] od. [ ] Geisteskrankheitsfälle liegen ebenfalls nicht vor.“ Zu Erna selbst hieß es: „Erna soll i. d. [ ] Jugend, trotzdem sie im allgemeinen ordentlich war, sehr eigensinnig u. schwer zu erziehen gewesen sein.“91 In der Geburtsurkunde wurde Lieselottes Vater nicht erwähnt.92 In anderen Dokumenten wurde von einem französischen Besatzungssoldaten gesprochen, der namenlos blieb.93 Im Beschluss des EG Wiesbaden von 1938 wurde Lieselottes Herkunft wie folgt angegeben: „Die L. Hartmann ist unehelich geboren. Der Vater soll ein französischer Besatzungssoldat gewesen sein. Die Mutter kümmerte sich nicht viel um das Kind. Ihr

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gen eines Heimleiters in der Erziehungsarbeit in 30 Jahren, 10.10.1963, 7, in: Archiv EVIM). Trifft diese Aussage zu, stellt sich die Frage, weshalb Willi W., der 1937 auf dem Geisberg untergebracht war und vom EG Wiesbaden als Sohn eines Marokkaners gesehen wurde, 1938 ein Zwangssterilisationsverfahren unter dem GzVeN durchlief (Beschluss des EG Wiesbaden, 10.05.1938, 1 f., in: LWV-Archiv, K 81 6853). El-Tayeb, Schwarze Deutsche (wie Anm.  16), 199. Für weitere Informationen zum Umgang mit und der Verfolgung von Afrodeutschen (z. B. durch die Internierung in Konzentrationslagern) in der NS-Zeit s. ebd., 190–200. Margarete S. gab 1958 in einem Restitutionsantrag an, als deutsche Tochter eines marokkanischen Soldaten in der NS-Zeit eine Lehrstelle nicht erhalten zu haben (Roos, Descendants (wie Anm. 79), 527 f.). Dies bedeutet nicht, dass keine Verfolgung stattfand: Laut Schwester Elisabeth Müller kam eine Frau, die Kind eines Besatzungssoldaten war, in das Konzentrationslager Ravensbrück. Einige Kinder seien in Folge der Zwangssterilisationen sittlich verwahrlost (Roos, Descendants (wie Anm. 79), 525). Dies könnte sie aber in Gefahr gebracht haben, auch in das NS-„Anstaltensystem“ und damit in das System der NS-„Euthanasie“-Verbrechen hineinzugeraten. Klee, „Vernichtung“ (wie Anm. 1), 92. Antrag auf Unterbringung eines Hilfsbedürftigen in einer Anstalt, 11.10.1940, 2, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Geburtsurkunde der Lieselotte Hartmann, 23.10.1940 (wie Anm. 39). Pol[izei]präs[idium] Halle, 08.07.1937 (wie Anm. 48). Die 0 ist auf dem Papier mit Bleistift durchgestrichen und mit einem Fragezeichen versehen worden (ebd.). Ein Hinweis auf einen Kontakt zwischen den Großeltern und Lieselotte Hartmann findet sich nicht (LWV-Archiv, K 12 4449). Im Krankenblatt ist für den 13. Oktober 1940 ein Besuch eingetragen, es ließ sich jedoch nicht entziffern, von wem (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 13.10.1940). Pol[izei]präs[idium] Halle, 08.07.1937 (wie Anm. 48). Geburtsurkunde der Lieselotte Hartmann, 23.10.1940 (wie Anm. 39). Akten der Amtsvormundschaft 4300 (wie Anm. 42), o. D.

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Aufenthalt ist unbekannt.“94 Das EG gab nicht an, wie es diese Informationen wertete. Im Kontext der Zeit ist jedoch davon auszugehen, dass Hartmann bereits die uneheliche Geburt negativ ausgelegt wurde.95 Die Ablehnung des Antrags auf Zwangssterilisation weist auf einen Ausgleich dieses Faktors durch andere Aspekte hin. Dass EG schloss eine „Besserung“ von Lieselottes Verhalten nicht aus.96 Es ging demnach nicht davon aus, dass ihre Herkunft (allein) ihr Verhalten determinierte. Hartmanns familiärer Hintergrund wurde erst wieder im Rahmen einer Untersuchung am 9. Oktober 1940 erwähnt. Es wurde angegeben, dass ihre uneheliche Geburt, der unbekannte Vater, sowie ihre Zeit im Kinderheim sich nachteilig auf sie auswirken würden.97 Im Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg gab man unter dem Unterpunkt „Erblichkeit“ ihre uneheliche Geburt und den Status ihres Vaters als Besatzungssoldat an.98 In Dr. H.s halbseitiger Einschätzung Lieselotte Hartmanns vom 11. Oktober 1940 wurde ihre Herkunft direkt nach seiner Diagnose genannt. Die uneheliche Geburt und die Angabe, dass Lieselottes Vater ein Besatzungssoldat gewesen war, ordnete er in ein Narrativ ein, nach dem ihre Herkunft den Ausgangspunkt für ihr problematisches, gar „asoziales“ Verhalten darstellte.99 Es ist anzunehmen, dass alle bisher genannten Personen, die Lieselotte Hartmann beurteilten, dies unter der Annahme eines weißen Vaters taten. Denn wegen des seit der Weimarer Republik bestehenden rassistischen Blicks auf Kinder von Besatzungssoldaten auf Color,100 hätten sie es vermutlich stärker betont, wenn sie Hartmann für eine Afrodeutsche gehalten hätten. Nur in einem Schreiben des Eichberger Oberarztes und (stellvertretenden) Leiters Dr. Schmidt101 von 1943 wird Hartmanns Vater explizit als marokkanischer Soldat benannt.102 Dass Dr. Schmidt auf Lieselottes Herkunft einging, ist bemerkenswert, da diese, abgesehen von dieser Ausnahme, seit Oktober 1940

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Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 1 f. Frauen konnte die Geburt unehelicher Kinder als „Schwachsinn“ ausgelegt werden, wodurch sie zu einer Zielgruppe für das GzVeN wurden. Auch den Kindern wurde die uneheliche Geburt z. T. während eines Verfahrens vor einem EG negativ angerechnet, wie ein bei Buske beschriebener Fall zeigt (Buske, Fräulein Mutter (wie Anm. 14), 182–184). 96 Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 1 f. 97 Fragebogen, 09.10.1940 (wie Anm. 56), Frage 12. Es ist nicht eindeutig, auf welche Unterfrage sich diese Angaben beziehen (ebd.). Zugleich wurde bei Fragen, die die Eltern und andere Verwandte sowie Hartmanns Entwicklung und die Unehelichkeit ihrer Geburt betrafen, angegeben, dass die Antwort unbekannt sei (ebd., Fragen 1–8). 98 Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg, 11.10.1941 (wie Anm. 41), Vorgeschichte. 99 Schreiben des Dr. H., 11.10.1940, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Dr. H. scheint für das Staatliche Gesundheitsamt in Wiesbaden tätig gewesen zu sein (ebd.). 100 Hierzu s. u. a. Roos, Racist Hysteria (wie Anm. 77), 155–180; El-Tayeb, Schwarze Deutsche (wie Anm. 16), 167–178. 101 Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 195 f. Dr. Walter Schmidt war 1930 der NSDAP und 1932 der SS beigetreten. Zwischen August 1939 und März 1941 war er bei der Waffen-SS (ebd., 196). 102 Schreiben des Dr. Schmidt an Frau R. […], 22.11.1943, in: LWV-Archiv, K 12 4449.

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nicht mehr thematisiert worden war.103 Mit der Angabe ihrer (angeblichen) Herkunft begründete Dr. Schmidt, warum Hartmann nicht bei einer Frau außerhalb der Anstalt arbeiten könne: „Es ist ein Marokkaner-Mischling, die [sic] stiehlt und lügt und in einem Haushalt noch keine 2 Tage tragbar sein würde.“104 Mittels der Akte lässt sich nicht klären, woher Dr. Schmidt diese neue „Information“ hatte oder ob ihr Vater tatsächlich aus Marokko stammte.105 Die bisher analysierten Dokumente sowie weitere Recherchen106 geben keinen Hinweis darauf, dass Hartmann als Tochter eines Besatzungssoldaten of Color verfolgt wurde. Falls sie einen marokkanischen Vater hatte, war möglicherweise das, was die Behörden zu wissen meinten, wichtiger als die „Realität“. Wie sich Schmidts Einschätzung ihrer Herkunft konkret auswirkte, lässt sich anhand der Akte nicht angeben. Für die Verlegung in die Mordanstalt Hadamar wurden keine Motive angegeben.107 Sie erfolgte jedoch über ein Jahr nach dem Schreiben, sodass Dr. Schmidt, der in der Mordanstalt Eichberg auch eigenhändig Patient*innen tötete,108 ihre Herkunft wohl nicht direkt als Todesurteil betrachtete. 2. Diskriminierung in Bezug auf Hartmanns Verhalten Wer in der NS-Zeit ein Verhalten oder eine Lebensweise aufwies, die nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen entsprach, fiel schnell in die gleichbedeutenden Kategorien „psychopathisch“109, „asozial“ oder „gemeinschaftsfremd“. Dies betraf zum Beispiel Menschen, die dauerhaft arbeitslos und/oder „kleinkrimininell“ und/oder suchtabhängig waren. Auch Frauen, die uneheliche Kinder hatten, fielen zum Teil in die Kategorien. Denn das Sexualverhalten galt ebenfalls als Kriterium. Mit den Begrif103 104 105 106

LWV-Archiv, K 12 4449. Dr. Schmidt, 22.11.1943 (wie Anm. 102). LWV-Archiv, K 12 4449. Eine Anfrage im Stadtarchiv Wiesbaden ergab, dass die im Best. WI/2, Nr. 4521 vorhandenen Listen mit den dem Jugendamt in den 1930ern bekannten Kindern von Besatzungssoldaten of Color Lieselotte Hartmann nicht (namentlich) enthalten. Ein Abgleich mit den von Dr. Abel angegebenen Geburtsdaten der von ihm in Wiesbaden untersuchten Kinder von Besatzungssoldaten of Color hat ergeben, dass Hartmann (und Willi W.) nicht von ihm untersucht wurde(n) (Wolfgang Abel, Über Europäer-Marokkaner- und Europäer-Annamiten-Kreuzungen, in: Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 36, 1937, 311–329, hier 322–324). Es wurde nicht geprüft, ob ein illegales Zwangssterilisationsverfahren für Hartmann lief, allerdings erscheint es unwahrscheinlich, dass dies parallel zum offiziellen Verfahren vor dem EG bzw. kurz zuvor stattfand. 107 Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 15.02.1945. 108 Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 196. 109 Laut des Psychiaters Kurt Schneider, dessen Definition von 1923 lange prägend war, sei es ein entscheidendes Merkmal für Psychopathie, dass sich die Betroffenen selbst und/oder der Gesellschaft wegen ihrer Persönlichkeit schaden (Henning Tümmers, Fern der Berliner Zentrale. Tübinger Ärzte und ihre Handlungsspielräume im Umgang mit „Psychopathen“, in: Babette Quinkert u. a. (Hrsg.), Krieg und Psychiatrie 1914–1950. (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 26.) Göttingen 2010, 104–128, hier 108).

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fen wurden insbesondere Personen bezeichnet, die den sozialen Unterschichten entstammten, da die angelegten „moralischen“ Maßstäbe schichtspezifisch waren.110 Ab etwa 1936 sei der vorherige „Asozialen“-Begriff dabei so umgedeutet worden, dass dieser „im rassenhygienischen Sinne auf die charakterliche Konstitutionen und die vermeintliche ‚Erbbelastung‘ der auf diese Weise diskriminierten Menschen abstellte.“111 Als „asozial“/„psychopathisch“ kategorisierte Menschen wurden neben Psychiatrien auch in Arbeitshäusern oder Konzentrationslagern untergebracht und somit potenziell von unterschiedlichen NS-Verbrechen betroffen.112 Bereits 1937 beschrieb das Kinderheim das Verhalten der damals 16-jährigen Lieselotte sehr negativ: „Lieselotte ist geistig sehr beschränkt und auch in sittlicher Beziehung gefährdet. Im vergangenen Jahre hat sie die Berufsschule öfters versäumt, und sich mit anderen Mädchen während der Schulzeit herumgetrieben. Sie hat abends heimlich das Haus verlassen und sich (nach eigenem Geständnis) mit Männern eingelassen.“ Mit diesem Schreiben wollte das Heim eine Unterbringung Hartmanns an einem anderen Ort erreichen.113 Dass das Heim mit zeitlicher Verzögerung meldete, dass Lieselotte „unter das Erbgesundheitsgesetz fallen würde“, lag wohl weniger an einer Ablehnung des GzVeN, sondern unterblieb „insbesondere deshalb, weil Lieselotte Besserung versprach“, die dann jedoch nicht eingetreten sei.114 Wie flexibel das Kriterium „Verhalten“ war, zeigt sich auch darin, dass das Kinderheim während des Verfahrens vor dem EG Wiesbaden wohl ein gutes Wort für sie einlegte, weil sich doch eine Besserung gezeigt habe.115 Auch unter Berücksichtigung von Hartmanns „zufriedenstellend[en]“ Leistungen kam das Gericht insgesamt zu dem Ergebnis, „daß es sich bei der L. Hartmann um ein Mädchen mit psychopathischen Zügen handelt, daß sie aber nicht als schwachsinnig im Sinne des Gesetzes anzusehen ist.“116 Diese Schlussfolgerung war nicht selbstverständlich. Denn um die Fortpflanzung von „psychopathischen“ Menschen zu verhindern, schrieben Gutachter*innen und die EGs ihnen oft „Erbkrankheiten“ zu, die eine 110 111 112 113

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George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 251; Buske, Fräulein Mutter (wie Anm. 14), 179, 182 f. Wehner, Tuberkulosekranke (wie Anm. 15), 29. George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 251 f. Diakonissenheim Wiesbaden-Biebrich, 20.05.1937 (wie Anm. 44). Laut des Schreibens waren die Ursachen für die Kontaktierung des Jugendamts nur Lieselottes sich wandelndes Verhalten und die Einschätzung ihres Verstands (ebd.). Es ist jedoch möglich, dass es daneben einen Zusammenhang zu den Änderungen im Heim in den Jahren 1936/37 gab: Neben der bereits oben erwähnten neuen Leiterin, die womöglich eine neue Haltung mitbrachte, gab es zudem einen Anstieg der Zahl der Kinder im Heim, wobei für 1937 eine hohe Fluktuation zu beobachten ist: 89 Kinder kamen hinzu, 69 gingen ab (88.  Jahresbericht des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau. Berichtsjahr 1937/1938, 27 f., in: Archiv EVIM). Dass nun die Existenz des Heims nicht länger bedroht war, bedeutete ggf., dass man nun eher bereit war, Kinder fortzugeben, da diese nicht mehr über den Fortbestand des Heims entschieden. Diakonissenheim Wiesbaden-Biebrich, 20.05.1937 (wie Anm. 44). Beschluss des EG Wiesbaden, 08.03.1938 (wie Anm. 40), 2. Ebd.

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Zwangssterilisation erlaubten.117 Zudem ergab Hohnholz’ Untersuchung, dass in Wiesbaden nur etwa ein Viertel aller ihr bekannten Anträge vor dem EG bzw. EOG abgelehnt wurden. Die Beispiele für die Ablehnung deuten jedoch darauf hin, dass das EG die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ hinterfragte und Differenzierungen vornahm.118 Die Ablehnung und -wertung von Hartmanns Verhalten setzte sich fort. Bereits am 5. Mai 1938 sprach die Jugendhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) von Lieselottes Diebstählen als „Krankhafte[r] Veranlagung“; die Ablehnung des Sterilisationsantrags wurde als vorläufig betrachtet.119 Das Diakonissenheim meinte, dass Hartmann nur an einem Ort ohne freien Ausgang untergebracht werden könne. Ihre Diebstähle verstand das Personal des Diakonissenheims als Sucht; aus seiner Perspektive war Lieselotte weiterhin „sittlich sehr stark gefährdet“120. Nach dem Verlassen des Kinderheims beobachtete Schwester Elisabeth Müller121 von der 1934 gegründeten Abteilung „Frauen- und Mädchenschutz“ von EVIM Hartmann weiter.122 Diese hatte im Herbst 1940 das Gefühl, dass Lieselotte sich nicht ändern könne, was sie mit einer „geistigen Stumpfheit“ in Verbindung brachte.123 Bei der, von Müller veranlassten,124 Feststellung der Gemeingefährlichkeit – und damit der Notwendigkeit eines Anstaltsaufenthalts –125, spielte Hartmanns Sexualverhalten eine große Rolle. Denn ihre Auf-

George, 1942–1945 (wie Anm. 13), 251. Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm. 1), 24 f. Nichtsdestotrotz stellten die Menschen mit der Diagnose „angeborener Schwachsinn“ 58 Prozent unter den in Wiesbaden Zwangssterilisierten (ebd., 26). 119 Bericht der Kreisamtsleitung der NSV [Wiesbaden], 05.05.1938, in: LWV-Archiv, K 12 4449. 120 Diakonissenheim Wiesbaden-Biebrich, 03.12.1938 (wie Anm. 46). 121 Sie ist sehr wahrscheinlich identisch mit der bereits in einigen Fußnoten erwähnten Schwester Elisabeth Müller. Laut Hohnholz habe Müller (*1884) die nationalsozialistischen Maßnahmen gegen „Erbkranke“ und die Erfassung von Personen zum Zweck der Zwangssterilisation bewusst unterstützt. (Hohnholz, Zwangssterilisationen Wiesbaden (wie Anm.  1), 157 f.) Ferner „[…] gehörte [Müller] zwar nicht der NSDAP, dafür jedoch seit 1935 der ‚Deutschen Arbeitsfront‘ (DAF) und ab 1937 sowohl der ‚Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) als auch dem ‚Deutschen Frauenwerk‘ (DFW) an.“ (ebd., 158.) 1946 trat sie als Zeugin im Eichberg-Prozess auf. (Peter Sandner, Verwaltung des Krankenmordes: Der Bezirksverband Nassau im Nationalsozialismus. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Hochschulschriften, Bd. 2.) Gießen 2003, 452, Anm.  85; zugl. Diss. phil. Frankfurt a. M. 2002.) Müller war Anfang 1946 noch beim Frauen- und Mädchenschutz in Nassau beschäftigt (Schreiben des Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden an Direktor [Altvater], 25.01.1946, in: LWV-Archiv, K 12 4449). 122 Z. B. Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 05.01.1940 (wie Anm.  51); 89. Jahresbericht des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau. Berichtsjahr 1938/39, 23, in: Archiv EVIM. 123 Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 02.10.1940 (wie Anm. 53). 124 Ebd. Müller gab im Rahmen des Eichbergprozesses 1946 an, dass Mennecke dem Wiesbadener Gesundheitsamt 1940 die Ermordungen im Rahmen der NS-„Euthanasie“-Verbrechen angekündigt habe (Sandner, Verwaltung (wie Anm. 121), 497, inkl. Anm. 394). Abhängig davon, wann diese Verkündung stattfand und welche Details genau enthüllt wurden, war sich Müller möglicherweise bereits bewusst, in welche Gefahr sie Hartmann brachte. 125 Fragebogen, 09.10.1940 (wie Anm. 56), Unterpunkt III. 117 118

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nahme basierte auf der Annahme, dass sie womöglich Geschlechtskrankheiten weitergeben könne.126 Bei der Unterbringung ging es demnach nicht darum, Hartmann zu unterstützen, sondern die Gefahr, die sie angeblich darstellte, zu bannen. Mit den Aufnahmediagnosen „Debilität, Psychopathie“127 wurde die „Diagnose“ „angeborener Schwachsinn“ trotz vorheriger Ablehnung durch eine NS-Institution wieder ins Spiel gebracht. Auch in der „LHA“/Mordanstalt Eichberg wurde Hartmanns Verhalten in den folgenden Jahren kontinuierlich abgelehnt. Gleich am 11. Oktober 1940 hieß es im Krankenblatt: „Pat. ist sehr anmaßend und ungezogen.“128 Dass sie nicht immer mit der Anstaltsbehandlung einverstanden war, brachte sie in Konflikt mit den Verantwortlichen.129 Anfang 1942 kam der Direktor der Mordanstalt Eichberg zu dem Schluss, dass es sich bei ihr um „eine triebhafte, sexuell haltlose Psychopathin [handelt]. Zudem besteht angeborener Schwachsinn. Es fehlt ihr die normale Urteilskraft und Kritik, besonders in Bezug auf ihre eigenen Handlungen in der Öffentlichkeit würde sie verkommen und gemeingefährlich werden, auch durch die Weiterverbreitung von Geschlechtskrankheiten und ihr asoziales Verhalten.“130 Im September 1942 sprach sich ein*e Angestellte*r der Mordanstalt Eichberg gegen eine dauerhafte Anstaltsunterbringung aus, gab aber weder einen Entlassungstermin noch -bedingungen an.131 1943 wurde nur wenig zu Hartmanns Verhalten festgehalten. Sie sei aber immer noch „frech“ und „aufsässig“ gewesen.132 1944 scheint die Beurteilung ihres Verhaltens zunächst hinter ihrer Tbc-Erkrankung zurückgetreten zu sein. Im August untersagten die Angestellten der Mordanstalt Eichberg ihr jedoch nach einem verbotenen Kontakt mit Männern, in den Park zu gehen.133 Ein Konflikt im Oktober stand im Zusammenhang mit Hartmanns Erkrankung: Lieselotte wollte verbunden werden, kam aber zu spät, weshalb die Schwester dafür keine Zeit mehr hatte.134 Eine erneute Überschneidung zwischen der Tbc-Erkrankung und der Beurteilung ihres Verhaltens gab es am 1. Januar 1945, wo sie mit jemandem vom Anstaltspersonal über Essen stritt.135 Am sel-

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Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg, 11.10.1940 (wie Anm. 41), Vorgeschichte. Ebd., 1. Es ist unklar, ob dieser Eintrag tatsächlich vom 11. Oktober 1940 stammt, da diese Worte gedruckt und nicht mit Tinte eingetragen wurden (ebd.). Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 11.10.1940 (kürzerer Eintrag). So vermerkte man für Januar 1941: „Pat. oft recht trotzig und eigensinnig. […] Fühlt sich schlecht behandelt, d. h. zu streng u. ohne jedes Vertrauen. Ein Mensch der so vegetieren (müßte) u. so beengt u. gezwungen leben müßte könnte niemals einen Beweis geben, daß er noch tauglich für’s Leben sei.“ (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), Januar 1941). Schreiben der [Mordanstalt] Eichberg an den Frauen- und Mädchenschutz Wiesbaden, 09.02.1942, in: LWV-Archiv, K 12 4449. Schreiben des Jugendamts Wiesbaden an die Mordanstalt Eichberg, 01.09.1942 in: LWV-Archiv, K 12 4449. Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 1943. Ebd., 14.08.1944. Ebd., 10.10.1944. Ebd., 01.01.1945, 2.

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ben Tag schrieb ein*e Angestellte*r der Mordanstalt Eichberg: „Pat. immer anspruchsvoll, glaubt überall den Vorzug haben zu müssen, weil sie ohne dies nichts von ihrem ‚jungen Leben habe als Krankheit.‘“136 3. Diskriminierung in Bezug auf Hartmanns Tuberkuloseerkrankung In Bezug auf Tbc-Kranke gab es während des NS-Regimes verschiedene Vorgehensweisen, abhängig davon, unter welchen Umständen die Erkrankung erfolgte. So legten zum Beispiel neue Richtlinien für die Zwangsabsonderung von „Offentuberkulösen“137 im Jahr 1941 unter anderem die Einrichtung von gesonderten Abteilungen in einigen Heil- und Pflegeanstalten für Tbc-Kranke (von außerhalb) fest.138 In diesen Sondereinrichtungen wurden „[Tbc-]Kranke gegen ihren Willen eingesperrt, gefoltert und durch Hungerkost und Injektionen ermordet […].“139 In Konzentrationslagern infizierten sich sehr viele Menschen aufgrund der dortigen Umstände mit Tbc. Zum Teil erhielten die Erkrankten „zunächst eine – wenn auch minimale – medizinische Behandlung im Häftlingskrankenbau.“140 Wer als nicht heilbar angesehen wurde oder nicht mehr die erwartete Arbeitsleistung erbrachte, wurde zielgerichtet vernachlässigt, weiterverlegt oder ermordet. Ab 1941 gab es systematische Selektionen.141

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Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 01.01.1945, 1. Dabei handelte es sich um Personen, deren Tbc ansteckend war. Sie wurden z. T. als „asozial“ angesehen. Wiederum seien hier vor allem soziale Randgruppen betroffen gewesen. Ihre Zwangsasylierung legitimierte man mit der Unterstellung, dass sie andere absichtlich anstecken würden. (Wehner, Tuberkulosekranke (wie Anm. 15), 22). 138 Götz Aly, Tuberkulose und „Euthanasie“, in: Jürgen Peiffer (Hrsg.), Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich. Tübingen 1992, 131–146, hier 138–140. 139 Wehner, Tuberkulosekranke (wie Anm. 15), 11. Laut Aly soll es in der Mordanstalt Eichberg seit 1942 eine Tbc-Sonderabteilung gegeben haben, in der auch gemordet wurde (Aly, Die Belasteten (wie Anm. 14), 234–237). Laut der Schülerarbeit, mit der er dies (ohne Seitenangabe) belegt, existierte erst seit Ende 1944 in der Abteilung „Männer 3“ eine Tbc-Station, in der Dr. Schmidt auch eigenhändig tötete (Armin Kreis u a , Der Eichberg – Opfer und Täter. „Lebensunwertes“ Leben in einer hessischen psychiatrischen Anstalt 1935–1945. Unveröffentlicht. Geisenheim 1983, http://www.uvm.edu/~lkaelber/children/eichberg/material/1983-1010-1a.pdf, Aufruf zuletzt am 18.01.2021, 49 f.). Weitere, widersprüchliche Hinweise auf eine Tbc-Abteilung auf dem Eichberg sowie unterschiedliche Beurteilungen derselben finden sich bei Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 200, 219, Anm. 214; Horst Dickel, „Die sind ja doch alle unheilbar.“ Zwangssterilisationen und Tötung der „Minderwertigen“ im Rheingau, 1934–1945. (Materialien zum Unterricht, Sek. I, H. 77 / Projekt „Hessen im Nationalsozialismus“.) Wiesbaden 1988, 27, 57, Anm. 160. Hartmann scheint nicht auf eine solche Station verlegt worden zu sein. Zu Beginn ihrer Erkrankung kam sie auf die Station „Frauenbeobachtung“ (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.01.1944). 140 Ley, Ausgegrenzt (wie Anm. 32), 160. 141 Ebd., 163. Zu den drei verschiedenen Phasen dieser Morde – darunter die „Aktion 14f13“ in Kooperation mit einigen „T4“-Tötungsanstalten – s. ebd., 163–170.

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Die ersten Symptome ihrer Erkrankung zeigte Lieselotte Hartmann Anfang 1944,142 wobei sie die Diagnose „Tbc“ erst Anfang 1946 erhielt.143 Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen schlechten Lebensbedingungen und dem Ausbruch von Tbc.144 In der Mordanstalt Eichberg wurden schlechte Lebensbedingungen zwischen 1942 und 1945 unter anderem durch eine Überbelegung gezielt herbeigeführt.145 Dies lässt vermuten, dass das Personal Hartmanns Ansteckung mutwillig in Kauf nahm, dass sie womöglich sogar im Sinne der Initiierenden lag. Anhand der betrachteten Literatur ließ sich nicht herausfinden, wie im Nationalsozialismus gemeinhin mit Personen verfahren wurde, die sich in Heil- und Pflegeanstalten mit Tbc infizierten. Tbc „konnte – vor der Entdeckung des Penizillins – nur schwer, mit Hilfe monatelanger, extrem teurer, oftmals nicht erfolgreicher Liege- und Freiluftkuren in Sanatorien geheilt oder wenigstens eingedämmt werden.“146 Unbehandelt führt die Erkrankung (spätestens) im Laufe einiger Jahre zum Tod.147 Aus der Patient*innenakte ist ersichtlich, dass Hartmann während der NS-Zeit nicht in eine solche Anstalt verlegt wurde.148 Im Krankenblatt wurden nur sporadisch Symptome wie zum Beispiel Schmerzen und Erbrechen eingetragen.149 Anhand des Krankenblatts lassen sich zwei zentrale Krankheitsphasen ausmachen.150 Die erste Phase dauerte vom 14. Januar 1944 bis zum 14.  April 1944.151 Im Zeitraum vom 17.  Januar 1944 bis 3./4.  Februar 1944 wur-

142 Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.01.–01.02.1944. Im Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg vom 11. Oktober 1940 findet sich zwar unter dem Punkt „Körperliche Krankheiten“ die Angabe „Weichteiltuberkulose am Unterschenkel; Retrophargyngealabzeß“. Das Schriftbild und auch die Tinte weichen jedoch von den anderen Einträgen ab. (Aufnahmebogen der „LHA“ Eichberg, 11.10.1940 (wie Anm.  41), 1.) Dies deutet darauf hin, dass dieser Eintrag, vermutlich nach dem Stellen der Diagnose 1946, nachträglich vorgenommen wurde. Dass Hartmann bereits 1940 erkrankt sein und schon zu diesem Zeitpunkt eine Diagnose gehabt haben soll, würde das spätere Diagnoseverfahren widersinnig erscheinen lassen. 143 Befundschein des Staatlichen Medizinal-Untersuchungsamts Marburg, 02.02.1946 (wie Anm. 68). 144 Aly, Die Belasteten (wie Anm. 14), 232. Diese zeichnen sich insbesondere durch Unterernährung, schlechte Wohnverhältnisse, mangelnde Hygiene und mangelnde medizinische Versorgung aus (Alfred Fleßner, Die Volkskrankheit. Tuberkulosebekämpfung in der NS- und in der Besatzungszeit im Bezirk Oldenburg-Bremen. (Histoire, Bd. 123.) Bielefeld 2017, 9). 145 Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 196 f. 146 Aly, Die Belasteten (wie Anm. 14), 232. In den 1940er Jahren war das Penizillin bereits entdeckt. Eine medikamentöse Therapie von Tbc gab es jedoch erst nach 1945. Laut Wehner „[dominierten] zuvor konservative und chirurgische Behandlungsmethoden […], die jedoch keine durchschlagenden Heilungserfolge erzielten.“ (Wehner, Tuberkulosekranke (wie Anm. 15), 18). 147 Fleßner, Volkskrankheit (wie Anm. 144), 8. 148 LWV-Archiv, K 12 4449. 149 Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.01.1944–14.04.1944. 150 Als solche wurden die Zeiträume interpretiert, in denen man bei Hartmann, anders als sonst, einbis zweimal täglich Temperatur und Puls maß und in denen von Zeit zu Zeit eine Krankheit erwähnt wurde. 151 Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 14.01.1944–14.04.1944.

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den ihr verschiedene Medikamente verabreicht.152 Dies ließ in der nachfolgenden Zeit stark nach.153 Im Eintrag für April 1944 gab das Personal der Mordanstalt Eichberg an: „Macht […] eine fieberhafte Erkrankung durch, die ungeklärt bleibt, trotz eingehender klinischer Untersuchungen. Es kommt so was Tbc [sic] in Frage […]“.154 Was als „eingehende Untersuchungen“ zu verstehen ist und wie die Ergebnisse ausfielen, geht aus der Akte jedoch nicht hervor.155 Nach dem 14. April 1944 hatte Lieselotte zum Teil noch immer Schmerzen, stand aber wieder auf.156 Die zweite Krankheitsphase begann am 14. Dezember 1944. Während dieser erhielt sie nur am 14. und 15. Dezember 1944 Medikamente. Für den 25. Januar 1945 wurde eine Behandlung ihres Nackens mit einer Solluxlampe vermerkt.157 Am 5. Februar 1945 hielt ein*e Angestellte*r fest: „Pat. erhielt Blutsenkung und wurde Durchleuchtet [sic].“ Was das Röntgen ergab, wurde nicht festgehalten.158 Bei ihrer Verlegung in die Mordanstalt Hadamar scheint sie noch krank gewesen zu sein.159 Über den Umgang der Mordanstalt Hadamar mit ihrer Erkrankung direkt nach ihrer Verlegung ist nichts ersichtlich,160 was darauf hindeutet, dass es keine Behandlung gab.161 Ein Blick auf den Umgang mit ihrer Erkrankung nach Ende der NS-Zeit zeigt, welche Handlungsoptionen es schon früher gegeben hätte, wenn die für Hartmann Ver152

Dies waren – soweit entzifferbar – zu verschiedenen Zeitpunkten „Elendron“, „Sympatol“, „Novalgin“, „Octin“, „Pyramidon“ und „Istizin“ (ebd., 14.01.1944–03./04.02.1944). Dabei handelte es sich nicht um Morphium, Luminal, Veronal oder Trional, die in der Mordanstalt Eichberg neben anderen Schlaf- und Betäubungsmittel zur Ermordung von Patient*innen genutzt wurden (Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 196). Allerdings hätte man deren Verabreichung wohl kaum im Krankenblatt festgehalten. 153 Für diesen Zeitraum sind fünf Behandlungen eingetragen: Am 8./9. Februar 1944, an dem sie sich über nicht aushaltbare Schmerzen beklagte, sowie am 10. und 21./22. Februar 1944 gab man ihr jeweils Novalgin. Am 16. März 1944 wurde sie mit Holzessig eingerieben, am 21. März 1944 erhielt sie Sympatoltropfen. (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 04.02.1944–14.04.1944). 154 Ebd., April 1944. 155 LWV-Archiv, K 12 4449. 156 Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 15.04.1944–19.11.1944. Es ist möglich, dass Hartmann auch in der Zeit zwischen dem 21. Juni und 25. Juli 1944 zu Bett lag, da dies für den 20.  Juni 1944 vermerkt ist und für den 25.  Juli 1944 angegeben wurde, dass sie nun seit einigen Tagen wieder aufstehe. In diesem Fall scheint man in diesem Zeitraum, sofern entsprechende Aufzeichnungen nicht verloren gegangen sind, nichts zur Behandlung unternommen zu haben. (Ebd., 20.06. und 25.07(?).1944). 157 Ebd., 14.12.1944–13.02.1945. Die 12-stündige Packung, die sie am 5./6. Januar 1945 bekam, ist vermutlich als Reaktion auf ihre Suizidversuche kurz zuvor zu verstehen (ebd., 05./06.01.1945). 158 Ebd., 05.02.1945. 159 Ebd., 14.12.1944–13.02.1944. Im Protokoll vom August 1945 erwähnt Hartmann allerdings nichts dergleichen. Dort heißt es nur, dass sie aufgrund von Psychopathie in die „LHA“ Eichberg verlegt worden war. (Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 125). 160 LWV-Archiv, K 12 4449. 161 In einem Schreiben vom 19.  November 1945 hieß es: „Sie [Lieselotte Hartmann] stand bis zur Auflösung des hiesigen Lazaretts in kostenloser Behandlung eines dort beschäftigten Chirurgen.“ Es wird nicht klar, auf welchen Zeitraum sich diese Behandlung bezieht. (Schreiben von Direktor [Altvater] an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden, 19.11.1945, in: ebd.).

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antwortlichen dies gewollt hätte.162 Zum einen ließ die LHA Hadamar ab November 1945 verschiedene Untersuchungen bei Hartmann vornehmen,163 zum anderen wurde sie schließlich für eine adäquatere Behandlung verlegt. Die Verlegung begründete Direktor Altvater einerseits damit, dass Hartmanns Leben ohne richtige Behandlung in Gefahr sei. Andererseits habe Hartmann aufgrund der Fisteln aber auch ein Infektionsrisiko für die anderen Patient*innen dargestellt.164 Ähnliche Gedanken vonseiten des Personals der Mordanstalt Eichberg finden sich nicht in der Akte.165 Seit Ankunft in der „LHA“/Mordanstalt Eichberg war Hartmann mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt gewesen.166 Dabei war das Personal nicht immer mit ihrer Leistung einverstanden gewesen.167 Sie wollte auch nicht immer arbeiten.168 Doch erst durch ihre Erkrankung war Hartmann in ihrer Arbeitsfähigkeit stark eingeschränkt. Es ist davon auszugehen, dass sie zwischen Mitte Januar und Mitte April 1944 gar nicht arbeitete. Für die Zeit zwischen Mai 1944 und November 1944 sind verschiedentlich Arbeiten eingetragen, doch wird ersichtlich, dass sie dabei zum Teil recht eingeschränkt war.169 Ab Dezember 1944 arbeitete sie dann vermutlich auf unbestimmte Zeit wieder nicht.170 Für das Personal der Mordanstalt Eichberg könnte Hartmanns sich immer deutlicher abzeichnende Arbeitsunfähigkeit ein Grund gewesen sein, sie in die Mordanstalt Hadamar zu verlegen. Denn die Arbeitsfähigkeit ihrer Patient*innen, die sich ab 1943 zum Teil auch an der Kriegsproduktion beteiligen mussten, war dem Personal wichtig.171 Es gibt zumindest Indizien dafür, dass Hartmann auch in ihrer Zeit

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Dabei ist allerdings zu bedenken, dass dies 1946 auch erst nach einer eindeutigen Diagnose vorgenommen wurde und dass die Krankheit 1946 schon weiter fortgeschritten war. Z. B. Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 23.11.1945; Hilfskrankenhaus Limburg/ Lahn an Dr. K., 01.02.1946 (wie Anm. 68), 1 f. Laut Schneider sei die Tuberkulose bereits im Sommer 1945 diagnostiziert worden (Hartmann, Protokoll (wie Anm.  6), 127, Anm.  50). Allerdings schrieb Direktor Altvater noch am 19. November 1945 von einer „– wahrscheinlich auf tuberkulöser grundlage [sic], bestehenden – Erkrankung des linken Fusses und Unterschenkels“ (Direktor [Altvater], 19.11.1945 (wie Anm. 161)). [Direktor Altvater], 16.03.1946 (wie Anm. 69). Altvater kam schließlich zu dem Schluss, dass „[d]ie Pat. […] trotz ihren psychopathischen Verstimmungszuständen auf einer offenen Abteilung gehalten werden [kann].“ (Ebd.) LWV-Archiv, K 12 4449. Darunter fielen z. B. Haus-, Hand- und Küchenarbeiten, sowie eine Arbeit außerhalb der Anstalt (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), 11.10.1940 (längerer Eintrag); 18.12.1940, 11. und 12.06.1941; 12.07.1941; Schreiben von Frau R. […]. an Dr. Schmidt, 11.11.1943, in: LWV-Archiv, K 12 4449). So hieß es für Januar 1941: „Kann[,] wenn sie will[,] schön arbeiten[,] macht aber denn noch [sic] nichts richtig. Ist mit allem gleich fertig u. wenn man kontrolliert[,] ist die Arbeit nicht richtig ausgeführt.“ (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), Januar 1941, 1 f.). Ebd., 15. und 17.09.1941. 21.05.1944; 20.06.1944; 25.07.1944, 05. und 08.08.1944; 13.09.1944; 23.10. und 19(?).11.1944, alle in: ebd.; III. Ausfertigung für die Anstalt, 12.09.1944 (wie Anm. 64). LWV-Archiv, K 12 4449. Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 194, 202.

Nationalsozialistische Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann

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in der Mordanstalt Hadamar nicht arbeitsfähig war.172 Über die Mordanstalt Hadamar schreibt Schulte, dass „[a]ls arbeitsunfähig oder störend klassifizierte Patienten […] besonders gefährdet [waren, ermordet zu werden].“173 Dass Hartmann den aktiven Morden entkam, ist womöglich darauf zurückzuführen, dass sie erst einige Wochen vor der Befreiung in die Mordanstalt Hadamar kam. Zum Teil vergingen mehrere Monate zwischen der Aufnahme und der Ermordung.174 Aus dem Vernehmungsprotokoll vom 27. August 1945 geht hervor, dass Lieselotte bereits auf dem Eichberg von den Morden in der Mordanstalt Hadamar – in der Mordanstalt Eichberg „Schlummerstation“ genannt – wusste. Sie selbst scheint Zeugin der Ermordung verschiedener Patient*innen geworden zu sein und ihr war klar, dass es Lebensgefahr bedeuten konnte, auf Beschwerden hinzuweisen oder gar nicht mehr arbeitsfähig zu sein. Über ihren eigenen Umgang mit diesem Wissen gab sie nichts an,175 doch lässt es sich vermuten, dass sie alles in ihrer Macht stehende tat, um ihre Ermordung zu vermeiden. V. Fazit Im Rahmen dieser Arbeit wurde untersucht, wie Lieselotte Hartmanns Herkunft, ihr Verhalten und ihre Tuberkuloseerkrankung in der NS-Zeit verstanden wurden und welche Auswirkungen diese Interpretationen und die daraus resultierenden Diskriminierungen auf ihren Lebensweg hatten. Hartmanns Herkunft stand in ihrer Akte selten im Fokus, wurde aber dennoch bis zu ihrer Einweisung in die „LHA“ Eichberg immer wieder erwähnt. Verschiedene Akteur*innen beurteilten ihre Herkunft – sowohl mütterlicherseits als auch väterlicherseits – unterschiedlich und ordneten diese zum Teil in ein größeres Narrativ über sie ein. Die Frage nach der Herkunft ihres Vaters, die dazu beitragen würde, Hartmanns

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Im Juni 1945 war Hartmanns Fuß noch eingegipst (Krankenblatt der Lieselotte Hartmann (wie Anm. 58), Juni 1945). Im August 1945 hieß es dann, dass sie „jetzt soweit körperlich wiederhergestellt ist, daß sie das Bett verläßt und umhergehen kann.“ (Schreiben von Direktor Altvater an den Bürgermeister in Hadamar, 25.08.1945, in: LWV-Archiv, K 12 4449). Schulte, Tötungsanstalt (wie Anm. 1), 127. Lilienthal, Gaskammer (wie Anm. 11), 173. Hartmann war eine von über 700 Eichberger Patient*innen, die zwischen 1942 und 1945 in die Mordanstalt Hadamar verlegt wurden. „[Ü]ber 95 Prozent der […] vom Eichberg Verlegten starben [sic] dort bis Kriegsende.“ (Sandner, Eichberg (wie Anm. 1), 198). Hartmann, Protokoll (wie Anm.  6), 125–127. Hartmann beschrieb bei der Vernehmung im August 1945 „ein[en] Raum, in welchem sich nur diejenigen Patienten aufhalten, die absolut keine körperlichen Tätigkeiten verrichten können.“ Ob sie sich selbst in diesem Raum befunden hatte, gab sie nicht explizit an. Sie scheint sich aber nicht zu diesen Patient*innen dazugezählt zu haben, was womöglich dafür spricht, dass sie doch zu einem gewissen Grad arbeitsfähig war. (Hartmann, Protokoll (wie Anm. 6), 126).

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Katherina Handschuh

Geschichte eindeutiger einordnen zu können, kann mittels des vorhandenen Materials nicht abschließend geklärt werden. Dass es sich bei Hartmanns Verhalten, anders als bei ihrer Herkunft, um keine Konstante handelte, war insbesondere in den Jahren 1937 bis 1940 von Bedeutung, als von Seiten der Behörden und des Kinderheims noch überlegt wurde, wie Hartmann zu beurteilen sei und wie ihre Zukunft aussehen sollte. Schließlich wurde sie, hauptsächlich aufgrund der Beurteilung ihres Verhaltens, in die „LHA“ Eichberg eingewiesen. Dort wurden ihr „angeborener Schwachsinn“ und „Psychopathie“ diagnostiziert. In der „LHA“/Mordanstalt Eichberg fokussierte sich das Personal in den ersten Jahren vor allem auf ihr Verhalten. Die konstant negative Beurteilung desselben stand einer Entlassung im Weg. Hartmanns Tbc-Erkrankung kann wohl als ein Ergebnis ihrer Unterbringung in der Mordanstalt Eichberg verstanden werden. Während ihrer Zeit dort wurde Hartmanns Erkrankung kaum behandelt. Dies ist auch dem generellen Umgang mit und der negativen Einstellung im NS-Staat gegenüber Tbc-Erkrankten zuzuschreiben, die sich zum Beispiel auch in Konzentrationslagern zeigte. Die Tbc-Erkrankung war, mehr noch als die Interpretation ihres Verhaltens und ihrer Herkunft, auch für Hartmanns Lebensweg über das Ende des NS-Regimes hinaus prägend. Mit dem Einzelfall Hartmann stellen sich Fragen in Bezug auf das Schicksal von Menschen, die sich unter den widrigen Umständen in den „Heil- und Pflegeanstalten“ mit Tuberkulose infizierten. Hartmanns Tod im Jahr 1948 wirft zudem Fragen nach den Spätfolgen der Anstaltsaufenthalte in der NS-Zeit und dem Nachkriegsumgang mit den Patient*innen der (Mord-)Anstalten auf. Die Dokumente zu Hartmann verweisen nicht auf eine gezielte Einweisung der Kinder von Besatzungssoldaten in Anstalten und damit nicht auf einen systematischen Zusammenhang zu den NS-„Euthanasie“-Verbrechen. Ein Zufallsfund deutet dennoch darauf hin, dass es sich bei Lieselotte Hartmanns Lebensweg nicht um eine Ausnahme handelte: Auch Willi W. (1924–?) wurde als Kind eines französischen Mannes und einer deutschen Frau in Wiesbaden geboren.176 Mehr noch als bei Lieselotte Hartmann gibt es Hinweise darauf, dass sein Vater Marokkaner war bzw. als solcher angesehen wurde.177 Aufgrund von Schwierigkeiten beim Lesen, Rechnen und Schreiben wurde ihm „Schwachsinn“ unterstellt.178 Auch von einer „asozialen Veranlagung“179 war die Rede. Seine Zwangssterilisation unter dem GzVeN erfolgte am 20. Juli 1938 durch die Anstalt Herborn.180 Im September 1936 wurde er in das Aufnahmeheim Idstein auf176 177 178 179 180

Personalbogen des Aufnahmeheims Idstein, 13.11.1936, in: LWV-Archiv, K 81 6853. Z. B. Beschluß des EG Wiesbaden, 10.05.1938 (wie Anm. 84), 1. Ebd., 2. Ärztliches Attest, 23.09.[19]41, in: LWV-Archiv, K 81 6853. Erbbogen, in: ebd. Laut einem ärztlichen Gutachten vom 14. Juli 1941 hatte die Zwangssterilisation am 22. Juli 1938 stattgefunden (Ärztliches Gutachten an die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Wiesbaden, 14.07.1941, in: ebd.).

Nationalsozialistische Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann

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genommen. Von dort wurde er am 5. November 1936 in die Erziehungsheime auf dem Geisberg in Wiesbaden verlegt.181 Zwischen dem 24. April 1937 und dem 18. April 1940 und dann wieder ab dem 9.  Juni 1941 befand er sich in der „Heilerziehungsanstalt“ Kalmenhof.182 Der Ausgang seiner Geschichte wird aus der Akte nicht ersichtlich.183 Die Analyse der Geschichte Willi W.s und der Vergleich mit der Geschichte Lieselotte Hartmann könnte helfen, die Bedeutung und Wirkungsweisen von Mehrfachdiskriminierung (insbesondere in Bezug auf den Herkunftsaspekt) in den Leben der beiden und darüber hinaus weiter zu beleuchten. Dies verweist zugleich auf die Wichtigkeit einer systematischen Untersuchung der diversen Biographien von Kindern von Besatzungssoldaten (nach 1937) und auf die Fragen, welche Möglichkeiten ihnen in der NSZeit und darüber hinaus gegeben/genommen wurden und welche anderen Faktoren außer ihrer Herkunft dabei eine Rolle spielen konnten. Katherina Handschuh, B. A., schloss im Wintersemester 2020/21 ihren B. A. in Geschichte und Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit einer Bachelorarbeit zur Rolle von nationalsozialistischer Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann ab. Seit dem Sommersemester 2021 studiert sie Geschichte im M. A. an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zwischen 2020 und 2021 hat sie neben dem Studium für die Gedenkstätte Hadamar und den Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau zur NS-Zeit sowie deren Nachwirkungen und Aufarbeitung recherchiert.

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Personalbogen des Aufnahmeheims Idstein, 13.11.1936 (wie Anm. 176), 1, 3 f. Krankengeschichte des Willi W., 1, in: LWV-Archiv, K 81 6853. Die Dokumente in der Akte gehen nicht über den September 1941 hinaus, lassen aber nicht auf eine Entlassung schließen. Zur in der Krankengeschichte vermerkten dritten Aufnahme vom 13. März 1942 finden sich ebenfalls keine weiteren Dokumente (ebd.). Ein Abgleich mit den Listen der „in Idstein ermordeten Menschen“ und der „vom Kalmenhof deportierten Menschen“ der Webseite „kalmenhof-gedenken“ hat ergeben, dass Willi W. nicht zu den (bisher) bekannten Opfern des Kalmenhofs gehört (Website kalmenhof-gedenken, Die vom Kalmenhof deportierten Menschen, https://www.kalmenhof-gedenken.de/die-vom-kalmenhof-deportierten-menschen.html, Aufruf zuletzt am 16.08.2021; Website kalmenhof-gedenken, Die in Idstein ermordeten Menschen, https://www.kalmenhof-gedenken.de/die-in-idstein-ermordeten-menschen.html, Aufruf zuletzt am 16.08.2021).

Sie schaufelten ihr eigenes Grab Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien1 Nadine Mena Michollek Der Aufsatz untersucht die Frage, wie das faschistisch besetzte Kosovo und Mazedonien Romakindheiten und -jugend prägte Dafür wurden mit der Grounded Theory 27 Zeitzeug*innen-Interviews  – selbst geführte und bereits vorhandene  – ausgewertet Die Auswertung verdichtet die zentrale These, dass Romakinder und -jugendliche im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien massiven, wiederkehrenden Bedrohungen ausgesetzt waren Dies wird durch drei Faktoren deutlich: 1 Den Terror des Besatzungsregimes, der sich in Raub, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit sowie durch Kriegshandlungen zeigte 2 Anhand von Tod und Trennungen, denn Angehörige oder die Zeitzeug*innen selbst kämpften bei den Partisan*innen Hinzu kamen willkürliche Morde und Vergeltungsaktionen der Nationalsozialist*innen 3 Die NS-Vernichtungspolitik I. Einleitung „Da war ja ein Massengrab, das wir gegraben haben. Kinder, Erwachsene, hin und her. Alle, die sich noch bewegen konnten, da haben wir dort gearbeitet. […] Wir wussten es nicht. Wir haben nur gearbeitet. Angeblich brauchten sie den Platz für Munition, hin und her. Mit solchen Sachen haben sie uns reingezogen. Wir wussten nicht, dass es ein Grab ist.“2

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Dieser Aufsatz basiert auf einer Masterarbeit mit gleichnamigem Titel, die im Oktober 2020 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn eingereicht wurde. Stefan Jankosovski, Interview geführt von Nadine Mena Michollek, 2015, 4 f.

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Stefan Jankosovski3 war neun Jahre alt, als er sein eigenes Grab schaufelte. Es war 1944 in Skopje, Mazedonien.4 Zu jener Zeit besetzten die deutschen Nationalsozialist*innen und bulgarische Faschist*innen das Gebiet. Zum Ende des Kriegs sollten, so meinte S. Jankosovski, alle Rom*nja5 in Skopje ermordet werden. S. Jankosovski kam noch einmal mit seinem Leben davon. Denn die Partisan*innen befanden sich bereits auf dem Vormarsch: Sie verhinderten den geplanten Massenmord.6 S. Jankosovski ist nur einer von vielen Romakindern und -jugendlichen im faschistisch besetzten Mazedonien und Kosovo. Doch nur wenige ihrer Geschichten sind bekannt. Was die faschistische Besatzung für die Lebensrealitäten von Romakindern und -jugendlichen bedeutete, wurde bisher nicht erforscht. Dabei befinden sich vor allem Kinder und Jugendliche in einer vulnerablen Position, die zum Verständnis von Gesellschaften im Ausnahmezustand einer besonderen Betrachtung bedarf. Der vorliegende Aufsatz geht daher genau diesem Erkenntnisinteresse nach und fragt auf der Basis von Zeitzeug*innen-Befragungen7, wie das faschistisch besetzte Kosovo und Mazedonien Romakindheiten und -jugend prägten. Die Aufarbeitung der Lebensrealitäten von Sinti*zze und Rom*nja ist deswegen so wichtig, weil die Forschungslücken weitreichende Folgen für die Sinti- und RomaCommunity hatten und haben. Bestimmte Wortführer*innen nutzten und nutzen die Forschungsleerstellen aus: Sie können sowohl wissenschaftlich nicht belegte Aussagen und sogar rassistische Inhalte häufig unhinterfragt in den Raum stellen als auch mit we-

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Die Namen der Zeitzeug*innen von Stefan Jankosovski, Mirsa Jankosovski, Sikra Idrisovski, Gianni Idrisovski, Djemila Selimovic und Ariv Ademovski sind pseudonymisiert, um sie und ihre Angehörigen zu schützen. Nach wie vor sind Sinti*zze und Rom*nja Rassismus ausgesetzt und müssen daher zum Teil ihre Zugehörigkeit zur Minderheit verdeckt halten. S. hierzu auch die Dissertation Stigma Ethnizität der Soziologin Elizabeta Jonuz, die das Phänomen des Versteckens von Zugehörigkeiten darlegt (Elizabeta Jonuz, Stigma Ethnizität. Wie zugewanderte Romafamilien der Ethnisierungsfalle begegnen. Opladen 2009). Wird über den zwischen 1941 bis 1944 bulgarisch besetzten Teil des heutigen Nordmazedoniens gesprochen, wird die Bezeichnung Mazedonien verwendet. Im folgenden Aufsatz wird die gendergerechte Bezeichnung „Sinti*zze“ und „Rom*nja“ verwendet. Diese umfasst alle Geschlechter zwischen männlich und weiblich. Für die weiblichen Formen sind es folgende Bezeichnungen: Sinteza (Singular) und Sintizze (Plural) sowie Romni (Singular) und Romnja (Plural). Die männlichen Formen sind Rom (Singular) und Roma (Plural) sowie Sinto (Singular) und Sinti (Plural). Hierbei beziehe ich mich auf die Schreibweise der Selbstorganisationen Romani Phen e V , abrufbar unter: Romani Phen e V , Website, http://www.romnjapower.de/, Aufruf zuletzt am 04.09.2021; Nadine Michollek, Die mediale Debatte über Sexarbeiterinnen aus Rumänien und Bulgarien. Sexistischer Antiziganismus in Geschichte und Gegenwart, in: Daniela Gress (Hrsg.), Minderheiten und Arbeit im 19. und 20.  Jahrhundert. Aspekte einer vielschichtigen Beziehungsgeschichte. Heidelberg 2019, 229–248, hier 229. S Jankosovski, Interview 2015 (wie Anm. 2), 4 f. Der Begriff „Zeitzeug*innen“ wird in der vorliegenden Arbeit für die Interviewten verwendet, die die faschistische Besetzung in Mazedonien und dem Kosovo miterlebt haben. Die Befragten, die NS-Verfolgungs- und Vernichtungsmaßnahmen überlebt haben, werden – wenn es um diese Themenbereiche geht – als Überlebende bezeichnet.

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nig Widerspruch den NS-Genozid8 an den Sinti*zze und Rom*nja leugnen oder verharmlosen.9 Darüber hinaus hatten und haben die fehlenden Forschungserkenntnisse Einfluss auf die Entschädigung der NS-Verfolgten. Für viele Überlebende war und ist es aufgrund der Forschungslücken in Südosteuropa oft nicht möglich, ihre Verfolgung zu beweisen.10 Zudem wird bei Debatten zu geflüchteten Rom*nja aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens oft ausgeblendet, dass unter den Betroffenen auch NS-Opfer und Nachfahren von NS-Opfern waren und sind.11 II. Forschungsstand Insgesamt gibt es kaum englisch- und deutschsprachige Forschungsliteratur zu Lebenssituation und Verfolgung der Rom*nja im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien. Die wenige Literatur, die existiert, behandelt das Thema oft oberflächlich, ist älteren Datums (15–20 Jahre alt) und/oder entspricht nicht wissenschaftlichen Kriterien. Die wesentlichen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die es zur Verfolgungssituation der Rom*nja in Mazedonien und im Kosovo gibt, stammen vom Linguisten Donald Kenrick und Aktivisten Grattan Puxon12. Sie veröffentlichten ihre

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Im vorliegenden Aufsatz wird der Begriff „Genozid“ verwendet, da die Vereinten Nationen den englischen Begriff „genocide“ benutzen und in der vorliegenden Arbeit die Genozid-Definition der Vereinten Nationen angewandt wird. Aus dem Romanes hergeleitete Begriffe für den NS-Genozid an den Rom*nja und Sinti*zze sind „Porajmos“ und „Samudaripen“. Vgl. zu dargelegten Kritiken und alternativen Begriffen: Karola Fings, Völkermord, Holocaust, Porajmos, Samudaripen, in: RomArchive, https://www.romarchive.eu/de/voices-of-the-victims/genocide-holocaust-poraj mos-samudaripen/, Aufruf zuletzt am 04.09.2021. Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, gefördert durch das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, [2021], https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/themen/ heimat-integration/bericht-unabhaengige-kommission-antiziganismus.pdf;jsessionid=3A23 B72BD311CDF6C6E23DBA66669B22.1_cid295?__blob=publicationFile&v=5, Aufruf zuletzt am 30.08.2021, 87 f. Ebd., 110 f. Vgl. hierzu beispielsweise auch ein Urteil jüngeren Datums, bei dem eine Ghetto-Rente u. a. aufgrund von fehlenden historischen Belegen zur Situation in Serbien und Nordmazedonien abgewiesen wurde (Urteil des SG Berlin 11. Kammer, Aktenzeichen S 11 R 198/17, 15.05.2019, https://gesetze.berlin.de/perma?d=JURE190006656, 1–11, Aufruf zuletzt am 13.08.2021). Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (wie Anm. 9), 417. In den 1990er Jahren sollten geflüchtete Rom*nja aus dem ehemaligen Jugoslawien abgeschoben werden, obwohl sich darunter auch NS-Überlebende befanden (Karola Fings / Cordula Lissner / Frank Sparing, „… einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst.“ Die Verfolgung der Roma im faschistisch besetzten Jugoslawien 1941–1945. Köln 1992). Grattan Puxon gehört zu den Begründern der internationalen Roma-Bewegung und setzt sich seit Jahrzehnten für Rechte der Rom*nja ein (Richard Adrian Marsh, The Politics of Romani Mobilization, in: RomArchive, [2017], https://www.romarchive.eu/de/collection/politics-of-romanimobilization/, Aufruf zuletzt am 13.08.2021).

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Ergebnisse 1972 in ihrer Publikation The Destiny of Europe’s Gypsies.13 Bei Kenrick und Puxon fehlen zum Teil Quellenangaben, wie auch die Historikerin Barbara Rieger bemerkt.14 Seit Kenricks und Puxons Veröffentlichung werden in der Forschung größtenteils immer wieder deren Ergebnisse wiederholt. Eine Ausnahme bildet die Studie von Fings, Lissners und Sparing. Durch ihre Überlebenden-Interviews und Archivrecherchen konnten sie einige neue Einblicke zur Verfolgungsgeschichte der Rom*nja in Mazedonien und dem Kosovo geben.15 Ansonsten haben vor allem die Ethnologen Elena Marushiakova und Vesselin Popov Publikationen zur Geschichte der Rom*nja im Kosovo und Mazedonien veröffentlicht. Allerdings belegen beide lückenhaft oder gar nicht, woher ihre Erkenntnisse stammen. Ihrem Beispiel folgen auch weitere Publizierende und liefern in ihren Veröffentlichungen keine oder kaum Literatur- oder Quellennachweise.16 Es ist mehr als problematisch, dass sich immer wieder Forschende auf diese nicht ausreichend belegten Kenntnisse stützen und sie immer weiter reproduzieren.17 13

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Donald Kenrick / Grattan Puxon, The Destiny of Europe’s Gypsies. New York 1972; dies , Sinti und Roma. Die Vernichtung eines Volkes im NS-Staat. Übers. v. Astrid Stegelmann. Göttingen/Wien 1981 (Original erschienen 1972: The Destiny of Europe’s Gypsies). Mitte der 1990er Jahre veröffentlichten beide eine weitere Publikation zur nationalsozialistischen Verfolgung von Rom*nja, bei der allerdings die Ergebnisse nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind (dies , Gypsies under the Swastika. (Interface Collection.) Hatfield 1995). Barbara Rieger, Verfolgung von Roma in Jugoslawien 1941 bis 1945, in: Mozes F. Heinschink / Ursula Hemetek (Hrsg.), Roma. Das unbekannte Volk. Schicksal und Kultur. Wien/Köln/Weimar 1994, 97–107, hier 97. Fings/Lissner/Sparing, Jugoslawien (wie Anm. 11). So können folgende Publikationen eher als einführende oder populärwissenschaftliche Literatur verstanden werden, da die Erkenntnisse nicht oder nur lückenhaft belegt werden: Elena Marushiakova / Vesselin Popov, Gypsies in the Ottoman Empire. A contribution to the history of the Balkans. Hatfield 2001; dies , Historical and ethnographic background: Gypsies, Roma, Sinti, in: Will Guy (Hrsg.), Between past and future. The Roma of Central and Eastern Europe. Hatfield 2001, 33–53; dies., Gypsies (Roma) in Bulgaria. (Studien zur Tsiganologie und Folkloristik.) Frankfurt a. M. 1997; Trajko Petrovski, Roma in Macedonia, in: Social Sciences Eastern Europe, 2009/2, 41–43; Elena Marushiakova / Vesselin Popov, The Bulgarian Gypsies during World War II, in: John K. Roth / Elisabeth Maxwell (Hrsg.), Remembering for the Future. The Holocaust in an Age of Genocide. (History, Bd.  1.) Basingstoke 2001, 456–465; dies , Die bulgarische Roma während des Zweiten Weltkriegs, in: Donald Kenrick (Hrsg.), Sinti und Roma unter dem Nazi-Regime. Die Verfolgung im besetzten Europa. (Interface Reihe, Bd. 2.) Berlin 2000, 93–98; dies , The Bulgarian Romanies during the Second World War, in: Donald Kenrick (Hrsg.), In the shadow of the Swastika. The Gypsies during the Second World War. Hatfield 1999, 89–93. Ebenfalls eher spärlich mit Belegen versehen: Dennis Reinhartz, Unmarked graves: the destruction of the Yugoslav Roma in the Balkan Holocaust, 1941–1945, in: J. Genocide Res. 1, 1999, 81–89. Der Historiker David Crowe verweist in seiner Publikation zu Rom*nja in Osteuropa und Russland mehrmals auf Puxons Veröffentlichung zu Roma in Macedonia, der in dieser jedoch seine Erkenntnisse nicht ausreichend belegt (David M Crowe, A History of Gypsies of Eastern Europe and Russia. London 1995, 286–288; Grattan Puxon, Roma in Macedonia, in: J. Gypsy Lore Soc. Society 1, 1976, 128–132). Darüber hinaus verweist der Literaturwissenschaftler Gérald Kurth bei seiner Darstellung der Geschichte der Rom*nja im osmanischen Raum immer wieder auf Marushiakovas und Popovs Gypsies in the Ottoman Empire, obwohl dort, wie weiter oben dargelegt, die Erkennt-

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Hinzu kommen diskriminierende und stigmatisierende Veröffentlichungen.18 Oft werden diskriminierende Fremdbezeichnungen („Zi******“19 oder „Gy***“) verwendet, ohne dass sich von diesen beispielsweise mittels Anführungszeichen distanziert

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nisse nicht ausreichend wissenschaftlich belegt sind (Gérald Kurth, Identitäten zwischen Ethnos und Kosmos. Studien zur Literatur der Roma in Makedonien. (Forschungen zu Südosteuropa. Sprache – Kultur – Literatur, Bd. 2.) Wiesbaden 2008, 26–34). Ebenso stützen sich folgende Autoren auf Marushiakovas und Popovs Gypsies in the Ottoman Empire: Eyal Ginio, Neither Muslims nor Zimmis: The Gypsies (Roma) in the Ottoman State, in: Romani Studies 5, 2004, 117–144, hier 128 f., 135, 138; Dennis Reinhartz, The genocide of the Yugoslav Gypsies, in: Donald Kenrick (Hrsg.), The Final Chapter. (The Gypsies during the second World War, Bd. 3.) Hatfield 2006, 87–95, 87. Reinhartz verweist ebenfalls auf Kenricks und Puxons Gypsies under the Swastika, die auch im genannten Band ihre Erkenntnisse nicht ausreichend belegen (ebd., 89). Des Weiteren belegt auch Reinhartz seine Inhalte zum Teil nicht ausreichend. Abgesehen davon gibt es eine ältere Diplomarbeit zur Situation der Rom*nja im Zweiten Weltkrieg im ehemaligen Jugoslawien, die sich auf Informationen stützt, die auf einen journalistischen Hörfunkbeitrag zurückgehen, wodurch die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit ebenfalls nicht gegeben ist (Nikola Ivančević, Die Zigeuner in Jugoslawien. Diplomarbeit. Berlin 1986, 98–104). Der Historiker Michael Zimmermann hat einen überaus großen und bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Verfolgungsgeschichte der Sinti*zze und Rom*nja erbracht (Anton Weiss-Wendt (Hrsg.), The Nazi Genocide of the Roma. Reassessment and Commemoration. New York/Oxford 2015, IX f.). Dennoch verweist Zimmermann in einem Artikel zur Verfolgung der Rom*nja in Ost- und Südosteuropa in seinem kurzen Abschnitt zur Rolle Bulgariens innerhalb der NS-Verfolgung ebenfalls auf Marushiakovas und Popovs Publikation Die bulgarischen Roma, die ihre Forschungsergebnisse jedoch lückenhaft belegen (Michael Zimmermann, Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Ost- und Südosteuropa – ein Überblick, in: Felicitas Fischer von Weikersthal u. a. (Hrsg.), Der nationalsozialistische Genozid an den Roma Osteuropas. Geschichte und künstlerische Verarbeitung. Köln/ Weimar/Wien 2008, 3–28, hier 18). So führt Jonuz folgende diskriminierende Darstellungen über Rom*nja in der Wissenschaft auf: Jochen Blaschke, Flucht und Entwicklung in Osteuropa, in: ders./Andreas Germershausen (Hrsg.), Sozialwissenschaftliche Studien über das Weltflüchtlingssystem. Berlin 1992, 101–168; Gerhard Seewann, Migration aus Südosteuropa, in: Steffen Angenedt (Hrsg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft. Bonn 1997, 60–70; Erhard Stölting, Festung Europa. Grenzziehungen in der Ost-West-Migration, in: Zeitschrift für politische Ökonomie und sozialistische Politik 83, 1991, 249–263 (Jonuz, Stigma (wie Anm. 18), 10). Darüber hinaus ist bei meiner eigenen Literaturrecherche folgende diskriminierende Publikation hinzugekommen: Tobias Marx, Zigeunerkulturen im Wandel. Über Roma-/Zigeunereliten in Bulgarien und Mazedonien. Bielefeld 2014. Im vorliegenden Aufsatz werden die rassistischen Fremdbezeichnungen nicht ausgeschrieben, um eine diskriminierungskritische Sprache zu verwenden. Die Fremdbezeichnungen lassen sich nicht von rassistischen und stereotypisierenden Bedeutungen trennen und sollen daher vermieden werden. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Rassismus und der Analyse von Quellen ist es jedoch nicht immer möglich, die rassistischen Fremdbezeichnungen zu vermeiden. Dennoch soll auch hier versucht werden, die Begriffe durch sparsames Zitieren so wenig wie möglich zu verwenden. Der Begriff ist eine Fremdbezeichnung der Täter*innen und nicht das Selbstverständnis von Sinti*zze und Rom*nja selbst. Vgl. Isidora Randjelović, Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze, in: IDA [2019], https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKE wiv_8bz3PLzAhVa57sIHSauBIsQFnoECAMQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.romnja-power. de%2Fwp-content%2Fuploads%2F2019%2F07%2Fexpertise_randjelovic_rassismus_gegen_ rom_nja_vielfalt_mediathek_1.pdf&usg=AOvVaw2MjjU3Tjk_9qzH8Lm64kmm, Aufruf zuletzt am 04.09.2021.

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wird.20 Die Vernachlässigung wissenschaftlicher Standards sowie rassistische Inhalte in der Literatur sind dabei kein Spezifikum für die Forschung zur Lebenssituation von Rom*nja im faschistisch besetzten Mazedonien und Kosovo, sondern zeigen sich insgesamt häufig in der Forschungsliteratur zur Geschichte und Lebenssituation von Sinti*zze und Rom*nja.21 III. Sample und Methode Da die Dominanzgesellschaft oft rassistische und stereotypisierende Darstellungen über Sinti*zze und Rom*nja veröffentlicht, ist es umso wichtiger, dass diese ihre eigenen Perspektiven zeigen können. Daher wurden einige der letzten Zeitzeug*innen des faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien gesucht. Die Zeitzeug*innen sollten während der faschistischen Besetzung als Kinder oder Jugendliche22 in Mazedonien und dem Kosovo gelebt haben und sich zur Bevölkerungsgruppe der Rom*nja zählen. Auch wenn die Suche schwierig war, da die meisten Zeitzeug*innen bereits verstorben sind, gelang es, insgesamt sechs Zeitzeug*innen zu finden. Die Interviews fanden anhand eines halbstandardisierten Leitfadens statt, welcher der jeweiligen Lebensbiographie angepasst wurde. Zusätzlich wurden 21 weitere Transkripte gefunden und ausgewertet, die andere Personen mit Zeitzeug*innen geführt hatten. Dabei handelt es 20

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Huttenbach, Marinov, Mojzes und Polansky verwenden den diskriminierenden Begriff „Gy***“, ohne den Gebrauch in Frage zu stellen (Henry R Huttenbach, The Romani Pořajmos. The Nazi Genocide of Gypsies in Germany and Eastern Europe, in: David Crowe / John Kolsti (Hrsg.), The Gypsies of Eastern Europe. London 1991; Aleksandar G Marinov, Images of Roma through the Language of Bulgarian State Archives, in: Social Inclusion 8, 2020, 296–304; Paul Mojzes, Balkan Genocides: Holocaust and Ethnic Cleansing in the Twentieth Century. Lanham u. a. 2011, 99; Paul Polansky, One Blood, One Flame: The Oral histories of the Yugoslav gypsies before, during, and after WWII. (3 Bde.) Kosovo 2008). S. ebenfalls die Anm. 16 und 17 zu Publikationen, die wissenschaftliche Standards vernachlässigen. Auch hier findet sich oft die Begriffe „Gy***“ und „Zi*****“. Vgl. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (wie Anm. 9), 490 f. Vgl. hierzu auch: Karola Fings / Sebastian Lotto-Kusche, Tsiganologie, in: Michael Fahlbusch u. a. (Hrsg.), Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke und Forschungsprogramme. 2.  Aufl. Berlin 2017, 1148–1158; Jan Selling, Assessing the Historical Irresponsibility of the Gypsy Lore Society in Light of Romani Subaltern Challenges, in: Critical Romani Studies 1, 2018, 44–61. Im vorliegenden Aufsatz wird Kindheit und Jugend als soziales Konstrukt verstanden. Das Verständnis von Kindheit und Jugend unterscheidet sich je nach kulturellem und historischem Kontext. Daher ist eine klare Definition der Begriffe nicht möglich. Besonders für den Kosovo und Mazedonien müssten die gesellschaftlichen Gegebenheiten intensiv untersucht werden, um sich einer Definition annähern zu können. Daher richtet sich die vorliegende Definition nach dem deutschen Recht und begreift Menschen bis zum 14. Lebensjahr als Kinder und bis zum 18. Lebensjahr als Jugendliche. Bei der Auswertung wurde dennoch berücksichtigt, dass gesellschaftlichen Grenzen unscharf und variabel sind. (Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung. Göttingen 2017, 10 f., 14 f.) Vgl. hierzu auch: Kathrin Kiefer u a (Hrsg.), Kinder im Krieg. Rheinland-pfälzische Perspektiven vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. (Geschichtswissenschaft, Bd. 29.) Berlin 2018, 7.

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sich mehrheitlich um Transkripte, die Paul Polansky in seiner Publikation One blood, one flame veröffentlichte.23 Darüber hinaus wurde ein Interview mit einem Zeitzeugen aus Mazedonien aus dem Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 ausgewertet. In diesem Online-Archiv befanden sich zwar noch elf weitere Ton-Interviews mit Rom*nja aus dem faschistisch besetzten Gebieten des ehemaligen Königreichs Jugoslawien. Diese waren jedoch nicht transkribiert und ins Deutsche oder Englische übersetzt und konnten daher nicht verwendet werden.24 Fings, Lissner und Sparing führten in den 1990er Jahren ebenfalls 25 Interviews mit Überlebenden aus den faschistisch besetzten Gebieten des ehemaligen Königreichs Jugoslawien durch.25 Das damals erhobene Datenmaterial ist allerdings nicht mehr auffindbar.26 Für die Analyse der insgesamt 27 Zeitzeug*innenInterviews wurde die qualitativ-sozialwissenschaftliche Methode der Grounded Theory verwendet 27 Die Wahl fiel auf die Grounded Theory, da diese sich durch ihr abduktives Verfahren vor allem für Themenbereiche eignet, zu denen noch nicht geforscht wurde. Abduktiv bedeutet, dass die Hypothesen und Forschungsfragen am empirischen Material selbst erst entwickelt, getestet, bestätigt, aufgegeben oder weiter ausgebaut werden.28 Besonders bei großen Datenmengen erlaubt das Verfahren der Grounded Theory, das Datenmaterial schrittweise zu interpretieren, zu spezifizieren und zu strukturieren. Das geschieht beim Kodieren: Hier werden abstrakte und theoretische Konzepte erst durch detailliertes Betrachten und Interpretieren sowie durch ein selbstreflexives Vorgehen mit regelgeleiteten Techniken und Prozeduren gewonnen.29 Für den Kodierprozess wurde das Softwareprogramm MAXQDA verwendet.30

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Paul Polansky hat insgesamt 154 Interviews mit Rom*nja, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs gelebt haben, dem United States Holocaust Memorial Museum zur Verfügung gestellt. So führte er Interviews in Serbien/Vojvodina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Bosnien/Herzegovina, Slovenien, Albanien, Bulgarien und Istanbul. Die Interviews sammelte Polansky für die Publikation One blood, one flame. (Oral history interviews of the Paul Polansky collection, 2005–2009, in: United States Holocaust Memorial Museum, https://collections.ushmm.org/search/catalog/ irn595011, Aufruf zuletzt am 04.09.2021). Auf meine Anfrage an das Zwangsarbeiterarchiv, ob es die Möglichkeit gäbe, Transkriptionen und Übersetzungen zu erstellen, teilten sie mir am 6. Februar 2020 mit, dass dies im bisherigen Budget nicht eingeplant war. Sie würden jedoch versuchen, mein Anliegen bei der nächsten Budgetplanung zu berücksichtigen. Die Transkripte sind aktuell noch nicht transkribiert (Stand: 18. August 2021). (Interviews, in: Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerung und Geschichte, https://archiv. zwangsarbeit-archiv.de/de/searches/archive, Aufruf zuletzt am 04.09.2021). Fings/Lissner/Sparing, Jugoslawien (wie Anm. 11). Aufnahmen und Transkripte müssten im Archiv und Dokumentationszentrum des Rom e. V Köln liegen, dort sind sie allerdings nicht mehr auffindbar. Die vorliegende Arbeit benutzt als Grundlage für die Methodologie der Grounded Theory folgendes Methodenlehrbuch: Franz Breuer / Petra Muckel / Barbara Dieris, Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis. 4. Aufl. Wiesbaden 2019. Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung. 5.  Aufl. Basel/München/ Weinheim 2015, 26. Breuer/Muckel/Dieris, Grounded Theory (wie Anm. 27), 248 f. MAXQDA, https://www.maxqda.de/#, Aufruf zuletzt am 04.09.2021.

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IV. Nationalsozialismus und das faschistisch besetzte Jugoslawien Mit dem Machtantritt Adolf Hitlers im Jahr 1933 gerieten Sinti*zze und Rom*nja in den Fokus der rassistischen Verfolgungspolitik. Sie waren gleichermaßen wie Juden*Jüdinnen vom NS-Genozid betroffen und galten als „Fremdrasse“. Sinti*zze und Rom*nja sollten im gesamten Reich erfasst werden. Es folgten Berufs- und Schulverbote, räumliche Isolierung und gesellschaftliche Ausgrenzung. Schließlich wurden Sinti*zze und Rom*nja zwangssterilisiert, in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert und ermordet.31 Die Nationalsozialist*innen verfolgten und vernichteten jedoch nicht nur Sinti*zze und Rom*nja aus dem Deutschen Reich. Sie sind auch für Gewalt- und Tötungsverbrechen an Sinti*zze und Rom*nja in den vom Deutschen Reich besetzten Ländern und dessen Vasallenstaaten verantwortlich, so auch in Mazedonien und dem Kosovo.32 Nach der jugoslawischen Kapitulation am 17. April 1941 teilten die Besatzungsmächte das ehemalige Königreich Jugoslawien in verschiedene Gebiete auf. Das östliche Mazedonien fiel an Bulgarien. Hier gewährten die Bulgaren der deutschen Wehrmacht Zutrittsrecht. Italien besetzte das Küstengebiet Montenegro sowie das westliche Mazedonien. Das heutige Kosovo war ebenfalls unter italienischer Kontrolle. Nach Italiens Kapitulation im Herbst 1943 übernahm das Deutsche Reich die direkte Kontrolle in den vormals italienisch besetzten Gebieten. In allen Regionen fanden sich Verbündete, die mit den Achsenmächten kollaborierten – nicht zuletzt, um auch ihr eigenes Ziel einer „homogenen“ Nation voranzubringen. Dementsprechend verfolgten die verschiedenen Besatzungsmächte Rom*nja in allen Gebieten des ehemaligen Königreichs Jugoslawien: darunter die deutschen Nationalsozialist*innen, kroatische Ustascha, italienische, serbische, albanische und bulgarische Faschist*innen.33 Mindestens 200 000 Sinti*zze und Rom*nja wurden während des Nationalsozialismus in Europa ermordet. Es wird davon ausgegangen, dass weitere Forschungen zu einem Anstieg der Opferstatistik führen werden.34

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32 33 34

Karola Fings, Der Völkermord an den Sinti und Roma im Nationalsozialismus, in: Oliver von Mengersen (Hrsg.), Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation. (Schriftenreihe BPB, Bd. 1573.) Bonn/München 2015, 101–124; Jonuz, Stigma (wie Anm. 18), 36 f. Fings, Völkermord (wie Anm. 31), 117. Marie-Janine Calic, History of Yugoslavia. West Lafayette 2019, 125 f.; Fings/Lissner/Sparing, Jugoslawien (wie Anm. 11), 7 f., 28, 43 f.; Mojzes, Balkan (wie Anm. 20), 103. Seit 1963 kursiert die Schätzung, dass 500 000 Menschen der nationalsozialistischen „Zigeunerverfolgung“ zum Opfer fielen. Diese Anzahl wird immer wieder reproduziert. Eine Angabe, die auf intensiver Forschung in den Archiven des ehemals deutsch besetzten oder mit dem Deutschen Reich verbündeten Ländern in Europa beruht, fehlt bis heute. (Fings, Völkermord (wie Anm. 31), 117; Karola Fings / Ulrich Friedrich Opfermann, Glossar, in: dies. (Hrsg.), Zigeunerverfolgung im Rheinland und Westfalen 1933–1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung. Paderborn 2012, 337–359, 343 f.; Karola Fings, Die Anzahl der Opfer, in: Voices of the victims, https://www.romar

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V. Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien – Bedroht und ausgeliefert Das Vordringen der Besatzungsmächte bedeutete für die interviewten Zeitzeug*innen, sich als Kinder und Jugendliche im ehemaligen Kosovo und Mazedonien selbst in den eigenen vier Wänden nicht mehr sicher fühlen zu können. Immer wieder vollzogen Besatzer Kontrollen und Durchsuchungen in Siedlungen und Häusern. Oftmals herrschten Ausgangssperren: Ab sechs Uhr durften mancherorts die Menschen nicht mehr ihre Wohnungen verlassen.35 Die Interviewten erzählen, dass Nationalsozialisten und Faschisten ihren Eltern, Geschwistern und ihnen selbst Gewalt antaten oder sie gefangen nahmen, häufig ohne, dass die Betroffenen den Grund dafür kannten.36 Um sich vor Übergriffen zu schützen, blieben die Betroffenen und ihre Familien oft in ihren Häusern. Mütter versuchten die Fenster zu schwärzen, damit niemand sah, dass sie zuhause waren. Da sie oftmals keine Gardinen besaßen, hingen sie Decken oder sogar Kleidung vor die Fenster.37 Andere Interviewte flüchteten in Wälder und hielten sich dort zum Teil Monate lang versteckt.38 Ebenfalls fürchteten einige Familien, dass ihre jüngeren Söhne von den Besatzungsmächten oder den Partisan*innen eingezogen werden könnten und versuchten daher, die jungen Männer zu verstecken.39 Auch wenn sich das Aufkommen und der Grad der Gewalttätigkeit der Besatzer je nach Gebiet unterschied, waren folglich alle Interviewten von wiederkehrenden Bedrohungen durch die faschistische Besatzung betroffen. Diese zeigten sich durch 1. Terror, 2. Trennungen und Tod sowie 3. die Bedrohung durch die NS-Vernichtungspolitik. Obwohl beide Regionen zum Teil von anderen Mächten besetzt waren, sind die Erlebnisse der damaligen Romakinder und -jugendlichen bis auf wenige Ausnahmen sehr ähnlich. Daher wird im Folgenden nur dann zwischen Romakindheiten und -jugend im Kosovo und Mazedonien unterschieden, wenn es prägnante Unterschiede zur Lebenssituation zwischen den Gebieten gab.

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chive.eu/de/voices-of-the-victims/the-number-of-victims/, Aufruf zuletzt am 04.09.2021; WeissWendt, Nazi Genocide (wie Anm. 17), 1). Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 263, (Demiri) 254, (Gasnjani) 270, (B. Jashari) 205, ( J. Jashari) 325 f., ( Jeminovich) 176, (Maskutovich) 299, (Mehmeti) 239, (Saiti) 168, (Selimov) 337, (Shalja) 284. Ebd., (Alija) 259 f., (Demiri) 253 f., (Ramadani) 188, (Zufa) 287; Sejfula Reschat, Interview geführt von Tereza Taleska, 2005, in: Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerung und Geschichte, https://archiv. zwangsarbeit-archiv.de/de/interviews/za156, Aufruf zuletzt am 30.10.2021, Z. 29–36, 43 f., 319–332. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, (Demiri) 251, 255, (Emini) 226, (B. Jashari) 206, ( J. Jashari) 325, ( Jasharova) 352, (Kurezi) 218–220, (Mehmeti) 239, (Mustafa) 245, (Ramadani) 190 f., (Saiti) 166, (Selimov) 337, (Shalija) 286–288; Gianni Idrisovski / Sikra Idrisovski, Interview geführt von Nadine Mena Michollek, 2018, Z. 342–346. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 120), (Demiri) 251, (Djemilija) 257, (Kurezi) 218. Ebd., (Alija) 260, (Gasnjani) 273; Stefan Jankosovski, Interview geführt von Nadine Mena Michollek, 2017, Z. 133; Ariv Ademovski, Interview geführt von Nadine Mena Michollek, 2018, Z. 229, 278– 288.

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1. Terror der Besatzungsmächte a) Raub Der Großteil der Familien der Interviewten hatte bereits vor der Besatzung Schwierigkeiten, genügend Geld für das Lebensnotwendige zu erwirtschaften.40 Diese Lage verschärfte sich während der faschistischen Besatzung. Väter, Großväter und Brüder – die normalerweise zum Haushalt beitrugen – waren nicht mehr da; manche wurden deportiert, von den Besatzern ermordet, befanden sich im Krieg oder waren dort bereits zu Tode gekommen.41 Die zurückgebliebenen Mütter sowie Romakinder und -jugendlichen wurden zu Verwalter*innen des Mangels.42 Sie versuchten durch Arbeit, Betteln oder Sammeln von Gemüse, Kräutern und Obst im Wald und auf den Feldern Lebensmittel zu erhalten und etwas Geld zu erwirtschaften.43 Bei manchen Zeitzeug*innen war die Lage sogar so prekär, dass Müttern und Kindern nichts anderes übrig blieb, als Brennnesseln und Gras zu essen.44 Der Mangel war zwar nicht zu allen Zeiten und überall gleich stark, doch die Mehrheit – 18 der 27 Interviewten – berichten, dass sie unter großem Hunger litten.45 Diese ohnehin prekäre Situation wurde durch Raub ver40

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Die detaillierte Auswertung der Interview-Transkripte in Bezug auf die wirtschaftliche Lage kann den Tabellen im Anhang der Masterarbeit entnommen werden (Nadine Mena Michollek, Sie schaufelten ihr eigenes Grab. Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien. Masterarbeit. Bonn 2020). Vgl. hierzu das nachfolgende Kapitel „Trennung und Tod“. Dass Kriegszeiten Mütterzeiten sind, ist ein Phänomen, das sich nicht nur für Kosovo und Mazedonien feststellen lässt. So sprechen auch die Historiker*innen Markus Raasch und Kathrin Kiefer in Bezug auf deutsche Kriegskindheiten von Müttern als „Managerinnen des Mangels“ und betonen die Mehrverantwortung, die Kinder übernehmen mussten (Kathrin Kiefer / Markus Raasch, Die Familie in der Krise? Ein Beitrag zur Erfahrungsgeschichte beider Weltkriege, in: Kathrin Kiefer u. a. (Hrsg.), Kinder im Krieg. Rheinland-pfälzische Perspektiven vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. (Geschichtswissenschaft, Bd. 29.) Berlin 2018, 107–134, hier 109–111). Vgl. hierzu auch: Julia Brandts u a , Von Kontinuität und Wandel. Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen, in: Alexander Denzler u. a. (Hrsg.), Kinder und Krieg. Von der Antike bis in die Gegenwart. (HZ, Bd. 68.) Berlin/Boston 2016, 245–269, hier 249; Fabian Benkowitsch u a , Die Soldatenfamilie aus Kindersicht. Ein Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der beiden Weltkriege in akteurszentrierter Perspektive, in: VSWG 103, 2016, 287–315, hier 291 f. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 251 f., (Emini) 223, (B. Jashari) 204 f., ( J. Jashari) 324–326., ( Jeminovich) 176 f., (Ibrahimovska) 305, (Kurezi) 220, (Mustafa) 242, (Maskutovich) 299, (Saiti) 166, 168, (Shalija) 285 f., (Selimov) 339; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 155–161, 164, 166–172; Idrisovski, Interview (wie Anm. 36), Z. 580; S  Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 147, 159, 169, 259. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Emini) 223, (B. Jashari) 204 f., (Kurezi) 220. Ebd., (Alija) 257, 263, (Demiri) 253, (Emini) 223, 225, (Ibrahimovska) 305, (B. Jashari) 204 f., 206, ( J. Jashari) 324–326, 328, ( Jasharova) 351, (Kurezi) 218, 220; (Maskutovich) 299, (Mehmeti) 238, (Mustafa) 245, (Ramadani) 190, (Saiti) 166, (Selimov) 337 f., (Shalja) 285–287; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 155–161, 164–172, 235–238; Idrisovski, Interview (wie Anm. 37), Z. 89, 342– 346, 407; Mirsa Jankosovski, Interview geführt von Nadine Mena Michollek. 2017, Z. 22, 329–336; S  Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 147, 159, 169.

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schärft. Elf der Befragten erzählen, wie die Besatzer in ihre Häuser eindrangen und Lebensmittel, Vieh, Kleidung und Kupfer stahlen sowie Waffen konfiszierten.46 Die wenigsten wagten es, Widerstand zu leisten. Zu groß war die Angst vor ihnen. Zepa Jasharova aus Konjare in Mazedonien war ungefähr zwölf Jahre alt47, als Faschist*innen und Nationalsozialist*innen Mazedonien besetzten: „We were dying for fear from them when they came into our house. The Bulgarians took the bread from the copper pan. Nobody dared to ask them why they were taking our bread. Although we were hungry, we didn’t say a word, ever.“48 Jasharovas Angst schien berechtigt. So erzählen drei Zeitzeugen, dass bei Verweigerung Gewalt und Festnahmen drohten.49 Nur wenigen Zeitzeug*innen gelang es, rechtzeitig Lebensmittel und Wertsachen zu verstecken oder mit den Besatzern zu verhandeln, um wenigstens einen Teil behalten zu können.50 b) Vergewaltigungen Für viele Zeitzeuginnen war die Bedrohung, durch die Besatzer vergewaltigt zu werden, allgegenwärtig. Die Besatzer fingen Mädchen und Frauen außerhalb ihrer Häuser ab oder drangen in die Viertel und sogar in die Häuser ein, um sich an ihnen zu vergehen.51 Zwölf der 27 Befragten berichten, wie sie selbst, die eigene Mutter, andere nahe Verwandte wie Schwägerinnen (meist lebten die Ehefrauen der Brüder mit im Haushalt der Eltern), Cousinen oder auch direkte Nachbarinnen einer versuchten Vergewaltigung oder einer Vergewaltigung zum Opfer fielen.52 Sechs weitere Zeitzeug*innen hörten aus dem Umfeld oder der Nachbarschaft, dass Frauen und Mädchen von Be46

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52

Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 251, 253 f., (Djemilja) 260, 264, (Emini) 226, (Gasnjani) 271 f., (Gradina) 198, ( Jasharova) 350, (Ramadani) 187–189, (Saiti) 166, 168, (Shalja), 284; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 175–181; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 122–130. Für die Zeitzeug*innen war es zum Teil schwierig, sich zu erinnern, in welchem Jahr genau das Ereignis geschah. Daher wurde in vorliegender Arbeit immer das ungefähre Alter zu Beginn der Besatzung (1941) angegeben. So gibt es einen Anhaltspunkt, wie alt die Zeitzeug*innen beim Ereignis etwa waren. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), ( Jasharova) 350. S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 181; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 124; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 254. M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 124; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 263, (Ramadani) 189 f. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, 262 f., 264, (Demiri) 252, (Ibrahimovska) 305, (B. Jashari) 203 f., ( J. Jashari), 325, ( Jeminovich) 350, (Kurezi) 218 f., 220, (Maskutovich) 300 f., (Mehmeti) 238, (Mustafa) 242, 244 f., (Saiti) 166, 168; S Jankosovski, Interview (wie Anm.  39), Z. 171; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 57–59, 545. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, 262–264, (Demiri) 252, (Ibrahimovska) 305, (B. Jashari) 203, (Kurezi) 218, (Maskutovich) 300 f., (Mehmeti) 238, (Mustafa) 242, 244 f., (Saiti) 166, 168, (Shalija), 286; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 171; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 57–59, 545.

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satzern vergewaltigt wurden.53 Das heißt, 18 der 27 Interviewten waren entweder direkt oder aber indirekt mit Vergewaltigungen konfrontiert. Bayram Demiri aus Komoran im Kosovo war zu Beginn der Besatzung 13 Jahre alt und musste mit ansehen, wie seine Nachbarin vergewaltigt wurde. „The Italians were raping women, and we were very much afraid they’d touch our women too. I once saw Italian soldiers’ rape one gadj54 with my own eyes. I feel ashamed because I am telling you this. Nine men raped one woman. She was my neighbour. Her name was Milojka. She couldn’t endure that rape and collapsed because of the pain. After the Italian soldiers went away, I took Milojka and carried her home. She became pregnant from those Italians and gave birth to a son. Milojka is still alive. I think she is living somewhere in Serbia. The Italians caught her in the village school. She was a beautiful girl.“55

So wie Demiri wagten es auch andere nicht, gegen die Besatzer vorzugehen.56 Ältere Familienangehörige der Zeitzeug*innen versuchten, die Kinder und Jugendlichen, darunter vor allem Mädchen, zu schützen. Sie schwärzten die Gesichter, damit sie hässlich erschienen und/oder hüllten sie in große Laken.57 Zudem gibt es einige wenige Fälle, in denen es Familienangehörigen gelang, sich gegen Vergewaltigungsversuche zu wehren. Sie konnten fliehen oder überwältigten die Besatzer.58 c) Zwangsarbeit Darüber hinaus drangen Angehörige der Besatzungsmächte in Siedlungen und Häuser der Zeitzeug*innen ein, um sie und ihre Angehörigen als Arbeitskräfte mitzunehmen.59 In manchen Regionen versuchten die Betroffenen deshalb, so wenig wie möglich hinauszugehen, weil die Besatzer teilweise Menschen auf der Straße aufgriffen und sie zwangen, kleinere Gelegenheitsarbeiten zu erledigen oder sich einer Arbeitskolonne anzuschließen.60 Etwa die Hälfte der Zeitzeug*innen erzählen, dass sie selbst

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Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Emini) 226, (Gasnjani) 273, ( J. Jashari) 325, ( Jeminovich) 350, (Selimov) 337, (Shalja) 286. Auf Romanes die Bezeichnung für Nicht-Rom*nja. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 252. Ebd., (Demiri) 252, (Kurezi) 218, (Mehmeti) 238, (Mehreme) 244, (Saiti) 168. Ebd., (Alija) 260, (Gasnjani) 273, ( Jeminovich) 350, (Maskutovich) 300 f.; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 130–133; Idrisovski, Interview (wie Anm. 37), Z. 599. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, (Ibrahimovska) 305, (B. Jashari) 203 f. Ebd., (Demiri) 254, (Gasjnani) 270–273, ( Jeminovich) 178, (Kurezi) 218, (Mehmeti) 237, (Mustafa) 243 f., (Ramadani) 190, (Saiti) 165–168, (Shalija) 285–287; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 57–59, 545. Polansky, One blood, Bd.  3 (wie Anm.  20), (Saiti) 168, (Shalja) 286; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 107–109.

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oder Familienangehörige und Bekannte ohne Bezahlung bzw. für einen sehr geringen Lohn – manchmal auch nur gegen Naturalien – zur Arbeit gezwungen wurden. Die Betroffenen mussten auf Feldern arbeiten, Schienen verlegen, Steine brechen, das Aufladen und Abladen von Gütern vornehmen oder Gräber ausheben. Romafrauen und -mädchen hatten unter anderem Reinigungsarbeiten durchzuführen, zu kochen oder auch Verwundete zu versorgen.61 Eine Verweigerung war kaum möglich. Denn die Besatzer gingen gewaltvoll vor, sodass die Romakinder und -jugendlichen Angst hatten, getötet zu werden.62 Zufa Shalja aus Pec, Kosovo, war zu Beginn der Besatzung etwa neun Jahre alt und erzählt, wie die Besatzer Romafrauen und -mädchen mit vorgehaltener Waffe zwangen, mit ihnen zu kommen: „They [the girls] were just rounded up and taken by gunpoint to bandage the causalities. Those older women (from thirty to forty years) were taken to cook and to work for the occupiers. Nobody dared to offer resistance against that. We were all frightened; we all had to be quiet. The parents of those children didn’t know where their children were being taken because they didn’t dare to go out.“63

Neben den Romakindern und -jugendlichen, die an ihren Wohnorten als Arbeitskräfte ausgenutzt wurden, fanden auch Deportationen in Arbeitslager statt. Insgesamt erzählen 16 der 27 Interviewten wie sie selbst, nahe Verwandte oder auch Nachbar*innen deportiert wurden. Die Besatzer verschleppten sie in deutsche und bulgarische Arbeitslager, oder sie mussten an anderen Orten Hilfsarbeiten leisten.64 Die eigene Verschleppung oder die der Angehörigen ist einigen schmerzhaft in Erinnerung geblieben. Die Zeitzeug*innen liefen als Kinder schreiend und weinend ihren Vätern hinterher oder weinten verzweifelt bei der eigenen Verschleppung.65 Sejfula Reschat aus Skopje, Mazedonien, erinnert sich:

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Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Bajrush) 278, (Demiri) 254, (Gasnjani) 270–273, ( Jasharova) 352, ( Jeminovich) 178, (Kurezi) 218, (Mehmeti) 237, (Mustafa) 243 f., (Ramadani) 190, (Saiti) 165–168, (Shalja) 285; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 278–288; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 15–17, 57–59, 106–110, 159, 310–314. Polansky, One blood, Bd.  3 (wie Anm.  20), (Bajrush) 278, (Demiri) 254, (Gasnjani) 270–273, (Mustafa) 243 f., (Saiti) 165, (Shalja) 285. Ebd., (Shalja) 286. Ebd., (Alija) 260–262, (Demiri) 254 f., (Ibrahimovska) 306, (B. Jashari) 204, 206, ( J. Jashari) 324, (Kurezi) 218, (Maskutovich) 299 f., (Mehmeti) 237, (Redjepov) 314–317, (Selimov) 334, 336 f., (Shalja) 285–288; Ademovski, Interview (wie Anm.  39), Z.  330–340, 461 f.; Idrisovski, Interview (wie Anm. 37), Z. 438–458, 476–479, 505; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 137, 139, 220– 224, 233–239, 242–245, 252–254, 323 f., 241; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 18–26, 160–171, 202–205, 283–297, 300–303, 547–557, 637–649; Djemila Selimovic, Interview geführt von Nadine Mena Michollek, 2018, Z. 37–41, 125–134. S Jankosovski, Interview 2015 (wie Anm. 2), 4; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 262, (Shalija) 185.

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Nadine Mena Michollek

„Einmal ’42 haben meine Freunde und ich Fußball am französischen Friedhof gespielt. Das war kein Fußball, sondern ein Lumpenball. Wir hatten den Ball aus Socken gemacht und mit ihm gespielt. Da haben wir auf einmal einen Lastwagen mit Plane gesehen, und wir wurden zusammengetrieben. Die haben uns in den Lastwagen gesteckt, und wir wussten nicht, wohin wir gebracht werden. Wir haben angefangen zu weinen, zu schreien, zu brüllen.“66

Im Arbeitslager – der damals 17-jährige Reschat kam nach Simitlija in Bulgarien – litten die Zeitzeug*innen unter elenden Zuständen. Sie erzählen von Hunger und Kälte, es hätte nur „beans full of worms“67 zu Essen gegeben.68 Überdies wurden die Zeitzeug*innen und ihre Angehörigen in den bulgarischen und anderen Arbeitslagern, aber auch bei der Verrichtung der Arbeit in den Heimatorten, misshandelt. Wer nach Ansicht der Besatzer zu langsam arbeitete, wurde geschlagen. Zum Teil traf die Gewalt die Betroffenen völlig willkürlich.69 Der Romajugendliche Eljmaz Redjepov aus Skopje, der nach Deutschland deportiert wurde, erlebte sogar, wie die deutschen Soldaten einen Mitgefangenen töteten, da er sich ein Kohlblatt vom Feld nahm. „The Germans put us to work in the garden for the German staff. I remember one day when I was working in a garden that Gypsy passed by. I knew him because he was from our settlement. He asked me how I was, and when I had arrived. He bent over to take a leaf of cabbage. He took a little bit of cabbage and started to eat it. When a German [soldier] saw him eating that cabbage leaf, he pulled out his gun and shot him in the head. That Gypsy’s name was Resko. He died at once.“70

d) Bombardierungen und Gefechte Die Bombardierungen und Gefechte sind dem Großteil der Befragten bis heute am stärksten im Gedächtnis geblieben. 22 der 27 Zeitzeug*innen erzählen davon. Angst, Panik, Flucht, Zerstörung und wie Menschen vor ihren Augen verletzt wurden und starben, prägen ihre Erinnerungen. Die Menschen schrien um sie herum, während die Bomben einschlugen und Schüsse fielen. Manche Kinder nässten sich vor Angst ein. Die meisten Interviewten versuchten sich vor den Bombardierungen und Gefechten im Wald oder selbst gebauten Bunkern in Sicherheit zu bringen. Manche verließen die

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Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 18 f. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Selimov) 335. Ebd., (Selimov) 335; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 166, 194, 627. Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 57–59, 216, 221, 545; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 254, (Gasnjani) 270–273, (Mehmeti) 237, (Mustafa) 243 f., (Saiti) 165–168, (Redjepov) 315. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Redjepov) 315.

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Städte und flohen aufs Land zu Verwandten, da diese zum Teil weniger stark von direkten Kriegshandlungen betroffen waren. Nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern auch ihre Eltern stießen auf Belastungsgrenzen.71 In der Panik vor Gefechten und Bombardierungen zu fliehen, vergaßen manche Eltern sogar ihre Kinder. So erzählt Sikra Idrisovski beispielsweise, wie sie selbst als Säugling in der Schmiedewerkstatt ihrer Eltern zurückgelassen wurde.72 Andere gerieten an ihre physischen Grenzen. So berichtet die Zeitzeugin Djemilja Alija, sie war zu Beginn der Besatzung etwa 14 Jahre alt, wie ihre Mutter ihren Bruder auf der Flucht zurücklassen musste. Ihr Bruder konnte aufgrund einer Behinderung nicht laufen und ihre Mutter versuchte, ihn auf dem Rücken zu tragen. Doch nach einer Weile hatte sie keine Kraft mehr und setzte ihn an einer Stelle im Wald ab.73 Ihr Sohn sagte daraufhin: „Don’t worry mom, if I die, I’ll die here where you left me, but you have to run away. I’ll come home. Don’t be afraid for me.“74 Trotz der enormen Belastungen, denen die Zeitzeug*innen und ihre Familien ausgesetzt waren, versuchten Eltern, Geschwister und anderen Angehörige, die jüngeren Mitglieder der Familie zu schützen, zu beruhigen und zu trösten.75 Die älteren Angehörigen halfen den jüngeren bei der Flucht und trugen sie auf dem Rücken, wenn sie zu erschöpft oder zu langsam waren.76 Eltern versuchten immer wieder, trotz der Gefahren den Schutz ihrer Kinder sicherzustellen. Väter schaufelten Gruben für selbstgebaute Bunker,77 Mütter setzten ihr eigenes Leben aufs Spiel, um ihre Kinder zu retten und rannten etwa während Bombardierungen hinaus, um auch das letzte Kind noch in den Bunker zu holen.78 Die Gefechte und Bombardierungen hinterließen Spuren. Shalja erinnert sich: „When the war was over, people were still afraid. They were still

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Ebd., (Alija) 264, (Demiri) 253, (Emini) 227 f., (Ibrahimovska) 305, (B. Jashari) 203, ( J. Jashari) 323, 327, ( Jasharova) 350 f., ( Jeminovich) 178 f., (Kurezi) 219 f., (Maskutovich) 197, 297, 299, (Mehmeti) 236, (Mustafa) 242, 244, (Ramadani) 187, (Saiti) 168, 167 f., (Selimov) 333, (Shalja) 287 f.; Ademovski, Interview (wie Anm.  39), Z. 223, 247–277, 293, 295–297; Idrisovski, Interview (wie Anm.  37), Z. 21, 26–91, 103–126, 143–154, 162–173, 176–180, 290–293, 302–337, 342–346, 410–416, 582–598; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 188–219, 329–341; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 142–147, 166 f., 184–188, 270–273, 328–337, 359–367, 422–458; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 8–14, 148–152, 633; Selimovic, Interview (wie Anm. 64), Z. 167, 175–179. Ähnlich erging es auch ihrem Ehemann, G. Idrisovski als Kind (Idrisovski; Interview (wie Anm. 37), Z. 26–91, 143–154, 162–173, 176–180, 302–337, 359–367, 582–598). Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 264. Ebd. S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 166 f., 184–188; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 274–277. S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 166 f.; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 219– 321. S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 160–165; Selimovic, Interview (wie Anm. 64), Z. 422– 458; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Mustafa) 242, (Selimov) 333. Selimovic, Interview (wie Anm. 64), Z. 175–179; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 215– 219.

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looking up at the sky, waiting for the airplanes to come and bomb us again. That’s how much they were frightened.“79 2. Trennung und Tod Waren die Zeitzeug*innen erst einmal durch Flucht, Deportationen oder dem Kampf im Krieg von ihren Angehörigen getrennt, gab es meistens keinen Kontakt mehr. Teilweise gab es nicht einmal ein Lebenszeichen, bis die Betroffenen wieder zurückkehrten oder die Nachricht über ihren Tod eintraf.80 So erging es auch Daut Selimov: „I didn’t inform my family at all while I was in the Partisans. They didn’t know if I was dead or alive. When I came back home, my mother went blind from crying after she saw me alive.“81 a) Bei den Partisan*innen Mehr als die Hälfte der 27 Interviewten hatten Familienmitglieder oder gingen selbst fort, um bei den Partisan*innen oder in seltenen Fällen bei anderen Gruppierungen zu kämpfen. Viele konnten das Unrecht der Besatzungsmacht nicht mehr ertragen und sahen keinen anderen Ausweg.82 Die Gesamtzahl der beteiligten Rom*nja ist bisher nicht ermittelt. Fings, Lissner und Sparing führen jedoch einige Hinweise auf, die auf eine größere Beteiligung der Romabevölkerung bei den Partisan*innen schließen lassen könnte.83 Besonders oft waren es die älteren Brüder, die fortgingen, um sich den Partisan*innen anzuschließen.84 Für einige eine traurige Erinnerung. Obwohl M. Jan-

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Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Shalija) 288. Ebd., (Gasnjani) 272, (Ibrahimovska) 306, 309, (B. Jashari) 205, ( J. Jashari) 325, (Maskutovich) 300, (Saiti) 168, (Selimov) 336, 339, (Shalija) 285 f.; Idrisovski, Interview (wie Anm. 37), Z. 465– 475; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 219; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 20, 169–171, 296–301, 323–327; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 42–57, 159, 231, 233; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 26, 163, 172, 298. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Selimov) 339. Ebd., (Alija) 261, (Bajrush) 279, (Demiri) 252, (Gasnjani) 272, (Ibrahimovska) 309, (B. Jashari) 205, ( J. Jashari) 327, (Maskutovich) 297, 299 f., (Redjepov) 317, (Saiti) 168, (Selimov) 338, (Shalija) 287; Ademovski, Interview (wie Anm.  39), Z. 41–48, 100 f., 123 f., 132, 184, 212–214, 128, 130; M  Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 20, 169–171, 296–301, 323–327; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 50 f., 77, 337–362, 333 f., 378–392. Fings/Lissner/Sparing, Jugoslawien (wie Anm. 11), 48 f. Polansky, One blood, Bd.  3 (wie Anm.  20), (Bajrush) 279, (Demiri) 252, (Ibrahimovska) 309, ( J. Jashari) 327, (Maskutovich) 297, 299 f.; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 41–48, 100 f., 123 f., 132, 184, 212–214, 128, 130; M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 20, 169–171, 296–301, 323–327.

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kosovski zu Beginn der Besatzung erst etwa drei Jahre alt war, hat sie die Situation noch vor Augen. „[…] ich erinnere mich, als die Partisanen kamen, um meinen Bruder abzuholen. Wir haben immer die Spielkarten meines Bruders geklaut. Ich und mein kleiner Bruder, haben wir gespielt und wieder haben wir seine Karten in seine Tasche getan. Aber als die Partisanen gekommen sind, mein Bruder hat sich vorbereitet, um mit den Partisanen zu gehen, und hat er uns die Karten zwischen mir und meinem Bruder gelassen. Er hat uns geküsst und ist weggegangen und wir haben ihn nie wiedergesehen. Wir haben ihn nur gesehen, als er tot war. […] Immer geweint, jeden Tag.“85

Die Partisan*innen, die zurückkehrten, hatte der Krieg schwer mitgenommen. Die Zeitzeug*innen erzählen, dass sie physisch und psychisch krank waren.86 Alija pflegte die Schwester ihres Schwiegervaters, als diese aus dem Krieg zurückkehrte. Sie erinnert sich noch gut an die Verletzungen der Partisanin: „[…] Nada, was with the Partisans when she was eighteen years old. The Germans caught her. She got ill after that. She was in the Partisans for almost four years. She was a real Romani woman. When she came to our home, I bathed her. She was full of lice. Her head was black and eaten. Her head had wounds from the bullets. She was fighting in the war. And even when she was fainting, she said, ‚Hurrah, don’t give up my brothers!‘ She was fainting and I was crying. […] But when she was losing her balance she came to us and I helped her. […] she became ill; her nerves weren’t ok. She became insane because of the war. Nada fought against the Germans.“87

Dass (Roma)frauen bei den Partisan*innen kämpften, war dabei wohl keine Ausnahme.88 b) Ermordungen Nicht nur durch kriegerische Handlungen verloren Romakinder und -jugendliche ihre Verwandten, Freund*innen und Nachbar*innen. Wer sich nicht den Besatzern fügte, musste bereits bei kleinen Regelverstößen mit dem Tod rechnen. Teilweise traf die Ge-

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M Jankosovski, Interview (wie Anm. 45), Z. 169, 171. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 261, (Demiri) 252, (Maskutovich) 297, 299 f.; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 212–214. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 261. Vgl. hierzu: Barbara N Wiesinger, Partisaninnen. Widerstand in Jugoslawien 1941–1945. (Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Bd. 17.) Wien/Köln/Weimar 2008. Auch Fings, Lissner und Sparing berichten von einer Zeitzeugin, die erzählt, wie ihre Freundin – die auch Romni war – bei den Partisan*innen kämpfte (Fings/Lissner/Sparing, Jugoslawien (wie Anm. 11), 49).

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walt Menschen willkürlich. Einige wurden zufällig auf der Straße ermordet.89 Zwei der Interviewten berichten sogar, dass die Besatzer auch Kinder töteten90 – so beispielsweise Adem Kurezi aus Disibojcawie im Kosovo: Er sah mit an, wie die deutschen Besatzer vor seinen Augen einen sechsjährigen Jungen aus seinem Dorf ermordeten. Kurezi selbst war zu Beginn der Besatzung erst sieben Jahre alt.91 „We were frightened a lot by the Germans, because Germans would kill us if they saw us. The Germans killed one boy from the village in front of me. That boy was accidently on the road and when a German saw him, he pulled out his gun and shot him on that road.“92

Darüber hinaus trafen auch Vergeltungsaktionen Rom*nja besonders hart. Um Widerstand in der Bevölkerung schnellstmöglich zu brechen, sollten für jeden verwundeten deutschen Soldaten 50 und für jeden getöteten 100 Menschen erschossen werden. Hierfür wählten die Nationalsozialist*innen oft Juden*Jüdinnen, Rom*nja und Kommunist*innen.93 Zwei der Zeitzeug*innen sprechen von Massenexekutionen, die nicht nur Rom*nja, sondern auch andere Bevölkerungsgruppen trafen.94 Zu beiden Fällen fehlen jedoch weitere Forschungserkenntnisse. Einer dieser Vergeltungsaktionen wäre beinahe der Vater des Zeitzeugen Mehreme Mustafa zum Opfer gefallen. Mustafa war zu Beginn der Besatzung etwa 16 Jahre alt. Er erzählt, dass eines Tages die deutschen Besatzer zusammen mit „Gadje“ kamen und Rom*nja sowie Serb*innen aus ihren Häusern zwangen. Die Besatzer verbanden den Betroffenen die Augen und nahmen sie mit. „The Germans wanted to take away my dad too. They led my father out of the house and blindfolded him. My mom was a very strong women. She pushed the Germans and asked where they were taking her husband. They told my Mum they were taking him to clean something. They lied to my mother. My mom said he wasn’t a cleaner, but she would go with them to clean what they wanted. That’s how they left my dad. My mom saved my father. Otherwise, they would have taken my father away to be executed in that field along with the other Roma too.“95

Laut Mustafa ermordeten die Besatzer die anderen Männer auf einem nahegelegenen Feld in Prizren, Kosovo.

89 90 91 92 93 94 95

Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 278; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, ( J. Jashari), 321, 325 f., (Kurezi) 219 f.; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 45 f., 48. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 260, (Kurezi) 219 f. Ebd., (Kurezi) 219 f. Ebd. Calic, Yugoslavia (wie Anm. 33), 130; Marie-Janine Calic, Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert. München 2010, 142 f. Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Alija) 262, (Mustafa) 245. Ebd., (Mustafa) 245.

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Insgesamt erzählen 16 der 27 Interviewten, wie sie selbst, Verwandte oder Bekannte dem Mord oder versuchtem Mord zum Opfer fielen.96 Bei den Morden handelte es sich jedoch nicht nur um (willkürliche) Morde und Vergeltungsaktionen. Einige (geplante) Vernichtungsaktionen, von denen die Überlebenden berichten, könnten auch dem Tatbestand des Genozids entsprechen. 3. Genozid an den Rom*nja im faschistisch besetzten Mazedonien und Kosovo? Die Vereinten Nationen definieren Genozid folgendermaßen: „In the present Convention, genocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group, as such: a) Killing members of the group; b) Causing serious bodily or mental harm to members of the group; c) Deliberately inflicting on the group conditions of life calculated to bring about its physical destruction in whole or in part; d) Imposing measures intended to prevent births within the group; e) Forcibly transferring children of the group to another group.“97

Die Zwangsarbeit in den bulgarischen Arbeitslagern kann Punkt b) und c) zugeordnet werden. Es entspricht Punkt b), weil der Gruppe der Rom*nja durch die gewaltsamen Behandlungen psychischer und physischer Schaden zugefügt wurde. Die Zwangsarbeit könnte ebenfalls zu Punkt c) gezählt werden, da die Zwangsarbeiter*innen, laut der Erzählungen der Überlebenden, sowohl unter der unzureichenden Nahrungsmittelversorgung als auch an der mangelnden Hygiene – und dadurch verursachten Krankheiten – litten und wohl auch teilweise starben. Dies kann also als eine vorsätzlich auferlegte Lebensbedingung für die Gruppe der Rom*nja verstanden werden, die körperliche Zerstörung zumindest teilweise herbeiführte. Vier von fünf Zeitzeug*innen berichten, dass nur Romamänner von Skopje nach Bulgarien deportiert wurden.98 Nur ein Überlebender erzählt, es seien auch Männer mit türkischem Migrationshin-

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Ebd., (Alija) 260, 262 f., (Bajrush) 279, (Demiri) 251 f., (Emini) 226, (Ibrahimovska) 306 f., ( J. Jashari) 321, 323, 325 f., (Kurezi) 219–221, (Maskutovich) 300, (Mustafa) 244 f., (Redjepov) 305 f., 315, (Saiti) 166–169, (Selimov) 334, (Shalija) 288; Ademovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 16–30, 278–288; S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 182–196; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 317–332, 335; Selimovic, Interview (wie Anm. 64), Z. 189–240. United Nations Office on Genocide Prevention and the Responsibility to Protect: Definitions, in: United Nations Website, https://www.un.org/en/genocideprevention/genocide.shtml, Aufruf zuletzt am 04.09.2021. Kenrick/Puxon, Sinti und Roma (wie Anm. 13), 92; Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), ( J. Jashari) 324 f.; (Selimov) 334, 336 f.; Reschat, Interview (wie Anm. 36), Z. 202–205.

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tergrund dabei gewesen.99 Wenn es hauptsächlich Rom*nja waren, hätten sich die Handlungen der bulgarischen Faschist*innen speziell gegen eine spezifische Bevölkerungsgruppe gerichtet und damit in diesem Punkt der Genozid-Definition der Vereinten Nationen entsprochen. Da weitere Belege zu diesem Themenkomplex fehlen, kann an dieser Stelle jedoch keine gesicherte Aussage getroffen werden. Was ebenfalls nicht abschließend geklärt werden kann, ist die Intention der bulgarischen Regierung. Der Politikwissenschaftler Hans-Joachim Hoppe konstatiert: „Maßnahmen gegen die Juden waren bei den Bulgaren unpopulär. Seit Jahrhunderten gewohnt, mit anderen Nationalitäten wie Türken, Griechen, Zigeunern, Armeniern und Juden zusammenzuleben, fehlte der bulgarischen Bevölkerung das Verständnis für Antisemitismus.“100 Dies könnte darauf schließen lassen, dass zumindest die bulgarische Bevölkerung nicht feindselig gegenüber Rom*nja eingestellt war. Allerdings belegt Hoppe nicht, wie er zu dieser Annahme gelangt. Da der Wortlaut eine frappierende Ähnlichkeit aufweist, fußt seine Behauptung wahrscheinlich auf dem Bericht des deutschen Gesandten Adolf Beckerle über ein Gespräch mit dem bulgarischen Innenminister im Jahr 1943.101 Aus dessen Einschätzung auf das Verhältnis der bulgarischen Dominanzgesellschaft zu Rom*nja zu schließen, erscheint jedoch fraglich. Laut Kenricks und Puxons Behauptung waren Rom*nja im Kernland Bulgariens tatsächlich nicht von Vernichtungsmaßnahmen betroffen. Allerdings belegen beide Autoren diese Aussage nicht.102 Juden*Jüdinnen sollen ebenfalls nicht aus dem Kernland Bulgariens in Vernichtungslager deportiert worden sein. Aus diesem Grund hielt sich lange Zeit ein „Rettungsmythos“ aufrecht, der propagierte, der bulgarische Staatsapparat hätte sich der nationalsozialistischen Verfolgung widersetzt. Doch jüngere Forschungsarbeiten zur jüdischen Verfolgung stellen diesen Mythos in Frage. Denn in den faschistisch besetzten Gebieten des ehemaligen Königreichs Jugoslawien und Nordgriechenlands deportierten die bulgarischen Besatzer durchaus Juden*Jüdinnen in Vernichtungslager. Darüber hinaus diskriminierten der Staatsapparat und die bulgarische Dominanzgesellschaft Juden*Jüdinnen im Kernland. Neueren Arbeiten zufolge waren eine Reihe von Faktoren für das Überleben der Juden*Jüdinnen ursächlich. Dazu gehörten unter anderem strategische und wirtschaftliche Gründe, so sollten

99 S Jankosovski, Interview (wie Anm. 39), Z. 127. 100 Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimensionen des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 33.) München 1991, 275–310, hier 308. 101 Der deutsche Gesandte Beckerle berichtet am 22. Januar 1943 von einem Gespräch mit dem bulgarischen Innenminister und äußert sich dabei kritisch über die Haltung der bulgarischen Öffentlichkeit zur „Judenfrage“, in: Susanne Heim u a (Hrsg.), Slowakei, Rumänien und Bulgarien. (Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 13.) Berlin/Boston 2018, Nr. 307, 643–645. 102 Kenrick/Puxon, Sinti und Roma (wie Anm. 13), 81.

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Juden*Jüdinnen beispielsweise als Arbeitskräfte genutzt werden.103 Zum Überleben von Rom*nja gibt es kaum Forschungserkenntnisse. Die Ethnologen Marushiakova und Popov gehen davon aus, dass das bulgarische Regime in Erwägung zog, Rom*nja (auch) in nationalsozialistische Konzentrationslager zu deportieren. Diese Einschätzung gründen sie darauf, dass die Bulgar*innen zuvor Deportationen in Arbeitslager durchführten und zum Beispiel Nahrungsrationen für Rom*nja stark reduzierten. Allerdings belegen beide Autor*innen ihre Aussagen nur lückenhaft.104 Wie weiter oben beschrieben, ist die bewusste Absicht zur Auslöschung einer Bevölkerungsgruppe der essentielle Faktor der Genozid-Definition der Vereinten Nationen. In Bezug auf den bulgarischen Staatsapparat und die Dominanzgesellschaft in Bulgarien ist diese Intention zur Verfolgung der Rom*nja in der Wissenschaft noch nicht abschließend geklärt. Ob man somit von einem Genozid an der Roma-Bevölkerung durch den bulgarischen Staat sprechen kann und muss, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Bei den Nationalsozialist*innen hingegen ist die Absicht zur Auslöschung der Bevölkerungsgruppe der Sinti*zze und Rom*nja gesichert. Demnach könnten die Vergeltungsaktionen nach Abschnitt a) der Konvention der Vereinten Nationen als Teil des Genozids verstanden werden, da mit der Intention bestimmte Gruppen zu vernichten, Mitglieder dieser Gruppen ermordet wurden. Auch wenn das vorrangige Ziel die Vergeltung war, wurden oft Juden*Jüdinnen und Rom*nja getötet, da die Nationalsozialist*innen das Ziel verfolgten, diese Gruppen auszulöschen. Allerdings fehlen auch hier zu den verschiedenen Vergeltungsaktionen, die die Zeitzeug*innen erlebten, weitere Belege und es kann keine gesicherte Aussage getroffen werden. Insgesamt erzählen sechs Überlebende von (geplanten) Vernichtungsaktionen, bei der die Romabevölkerung ermordet werden sollte. Vier der (geplanten) Vernichtungsaktionen sollten in Skopje, Mazedonien stattfinden. Drei weitere im Kosovo: In Koroman, in der Nähe von Pristina und in Pec. Bei allen Vernichtungsaktionen waren, laut Aussage der Zeitzeug*innen, deutsche Besatzer beteiligt.105 Außer zu einer der Vernichtungsaktionen gibt es zu keiner anderen weitere Forschungserkenntnisse oder Zeitzeug*innen-Aussagen. Bei den Überlebenden der hier dargelegten (geplanten) Vernichtungsaktionen handelt es sich um jene, die fliehen konnten oder durch die Hilfe der übrigen lokalen Bevölkerung (Rom*nja und Nicht-Rom*nja) verschont wurden. S. Jankosovski gehört zu jenen, die überlebten. Er erzählt, dass kurz vor Kriegsende alle Rom*nja in Skopje ermordet werden sollten. Von dieser geplanten Vernich-

Souzana Hazan, Zwischen Rettungsmythos und Bekenntnis zur Mitschuld: Bulgariens schwieriger Weg zu einer Holocaustdebatte, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 11, 2014, 39–45; Daniel Siemens, Sturmabteilung: Die Geschichte der SA. München 2019, 393 f. 104 Marushiakova/Popov, (Roma) (wie Anm. 16), 31–33. 105 Polansky, One blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), (Demiri) 251, ( J. Jashari) 323, (Saiti) 166, 168 f., (Selimov) 334, (Shalja) 288; S Jankosovski, Interview 2015 (wie Anm. 2), 8 f.

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tungsaktion berichten auch Kenrick und Puxon. Allerdings belegen sie diese Aktion nur mit einer Zeitzeugenaussage.106 Die Überlebenden berichten noch von weiteren Tötungsaktionen in Skopje vor 1944. So erzählt Jashar Jashari, wie die deutschen Besatzer ihn und andere Rom*nja auf einem Feld nahe des Stadtviertels Shutka in Skopje zusammentrieben, um sie zu ermorden. Zwei Soldaten, die zuvor für die Armee im Königreich Jugoslawien gekämpft hatten und während des Krieges für die deutschen Besatzer tätig waren, sollen jedoch die Ermordung verhindert haben.107 Neben J. Jashari bezeugt auch Selimov, dass die bulgarischen Besatzer sie in Trucks zwangen, da sie ermordet werden sollten. Von dem Plan habe man abgelassen, da ein Mann kam und sagte, die Rom*nja seien Arbeiter. Laut Selimov hat man sie danach nach Bulgarien als Zwangsarbeiter deportiert.108 Auch wenn es zu den dargelegten (geplanten) Vernichtungsaktionen keine weiteren Belege gibt, lassen sich dennoch Parallelen zu aktuellen Forschungserkenntnissen ziehen: Dies betrifft das zunächst zögerliche Verhalten der bulgarischen Obrigkeit, die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Rom*nja durchzuführen. Denn wie oben dargelegt, hielten sich die bulgarischen Faschist*innen aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen zunächst zurück, da zum Beispiel Juden*Jüdinnen als Arbeitskräfte genutzt werden sollten. Einige der überlebenden Rom*nja berichten ebenfalls, dass sie zunächst als Arbeitskräfte eingesetzt werden sollten. Abgesehen davon lässt sich ein Verfolgungsdruck gegen die Bevölkerungsgruppe der Rom*nja feststellen, da die Besatzer Rom*nja kenntlich machten. So erzählen Überlebende über den Kosovo, dass sie selbst und andere Rom*nja Armbänder tragen mussten, die sie als Rom*nja kennzeichneten.109 Davon berichten auch Puxon und Kenrick, sie beziehen sich allerdings hier nur auf eine Aussage eines Überlebenden.110 Im Ganzen ist die Literatur- und Quellenlage jedoch zu schwach, um gesicherte Aussagen über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Mazedonien und im Kosovo treffen zu können. Die Überlebendenberichte sind allerdings Hinweise darauf, welches Ausmaß und welche katastrophalen Auswirkungen diese gehabt haben muss. VI. Fazit und Ausblick Der vorliegende Aufsatz ist der Frage nachgegangen, wie das faschistisch besetzte Kosovo und Mazedonien Romakindheiten und -jugend prägte. Die Auswertung der

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Kenrick/Puxon, Sinti und Roma (wie Anm. 13), 92. Polansky, One Blood, Bd. 3 (wie Anm. 20), ( J. Jashari) 323. Ebd., (Selimov) 334. Ebd., (Alija) 262, (Demiri) 255, (Mustafa) 243, (Mehmeti) 238, (Saiti) 186, (Shalja) 286, 288. Kenrick/Puxon, Sinti und Roma (wie Anm. 13), 92.

Sie schaufelten ihr eigenes Grab

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Zeitzeug*innen-Interviews verdichtete die zentrale These, dass Romakinder und -jugendliche im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien wiederkehrenden Bedrohungen ausgesetzt waren. Dies wird durch drei Faktoren deutlich: 1. Den Terror des Besatzungsregimes, der sich in Raub, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit sowie durch Kriegshandlungen zeigte. 2. Anhand von Trennungen und Tod. Denn Angehörige oder die Zeitzeug*innen selbst kämpften bei den Partisan*innen. Hinzu kamen willkürliche Morde und Vergeltungsaktionen der Nationalsozialisten, durch die das Leben der Zeitzeug*innen und ihrer Angehörigen bedroht war. 3. Durch die Bedrohung der NS-Vernichtungspolitik. Es kann der Einwand geäußert werden, dass Romakindheiten und -jugend sich nicht unbedingt von den Kriegs- und/oder Besatzungskindheiten anderer Bevölkerungsgruppen unterscheiden. Durchaus ist es zutreffend, dass Malträtierungen durch Besatzer*innen, Hunger und Mangel sowie der Verlust und die Abwesenheit von Angehörigen auch andere Bevölkerungsgruppen trafen.111 Dennoch unterlagen Romakinder und -jugendliche im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien einem besonderen Verfolgungsdruck. Die zahlreichen Überlebenden-Berichte über Deportationen und (geplante) Vernichtungsaktionen, die gezielt Rom*nja trafen, geben – auch wenn hier oft weitere Belege fehlen – Hinweise auf das Ausmaß der NS-Verfolgung und -Vernichtung gegen Rom*nja in Mazedonien und im Kosovo. So sollten meine Forschungsergebnisse vor allem als Startpunkt für weitere Untersuchungen verstanden werden. Erst dann wird sich zeigen, ob sich die entwickelte These bestätigt. Da die bisher veröffentlichte Literatur zu Rom*nja im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien meist nicht wissenschaftlichen Standards entspricht, müssen Quellenbestände neu aufgearbeitet, bisher unerforschte Archivbestände untersucht und weitere Zeitzeug*innen-Interviews geführt und ausgewertet werden. Der im Juni 2021 erschienene Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus fordert daher, die Forschung über den NS-Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen dauerhaft zu etablieren und Studien zu fördern, die die europäische Dimension des NS-Genozids untersuchen. Hierbei sollten auch Sinti*zze und Rom*nja selbst empowert werden zu forschen: So können ihre Perspektiven Eingang finden, diskriminierende Darstellungen überwunden werden und bestehende Machtstrukturen einen Wandel erfahren.112 Bei 111 112

Vgl. hierzu beispielsweise: Benkowitsch u a , Soldatenfamilie (wie Anm. 42); Brandts u a , Kontinuität (wie Anm. 42); Kiefer/Raasch, Familie (wie Anm. 42). Die Bundesregierung hat 2019 eine Unabhängige Kommission Antiziganismus eingesetzt, um Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja zu untersuchen (Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (wie Anm. 9), 123 f., 514–517). Vgl. hierzu auch: Isidora Randjelović u a , Studie zu Rassismuserfahrungen von Sinti:ze und Rom:nja in Deutschland Expertise für die Unabhängige Kommission Antiziganismus. Unveröffentlichte Fassung, 2020.

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der wissenschaftlichen Aufarbeitung geht es auch um „nachholende Gerechtigkeit“.113 Denn bis heute haben viele Sinti*zze und Rom*nja keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten. Die Antiziganismus-Kommission fordert aus diesem Grund unter anderem eine niedrigschwellige, einmalige Anerkennungsleistung für Sinti*zze und Rom*nja, die in einem Land geboren wurden, dass zu jener Zeit von der NS-Besatzung oder von mit dem NS-Regime kollaborierenden Regierungen betroffen war.114 Auch mehr als 75 Jahre nach dem Nationalsozialismus sind Rom*nja in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens massivem Rassismus ausgesetzt. Dennoch werden Fluchtursachen von Rom*nja aus diesen Gebieten meist nicht anerkannt.115 Zum Teil mit fatalen Folgen: So wurde beispielsweise der Rom Gani Rama nach seiner Abschiebung in den Kosovo von einem kosovo-albanischen Nationalisten getötet.116 Deutschland sollte hier der historischen Verantwortung gerecht werden und Bleibeperspektiven für Rom*nja schaffen. Dabei braucht es umfangreiche Forschung, um vergangenen und bestehenden Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja sichtbar zu machen und bewältigen zu können. Nadine Mena Michollek, M. A., studierte im 2-Fach-Bachelor Medienkulturwissenschaften und Geschichte an der Universität zu Köln. Ihre Bachelorarbeit untersuchte rassistische und sexistische Darstellungen von Sintizze* und Romnja* in den Medien. Anschließend absolvierte sie ein Masterstudium der Geschichte sowie den Bachelorstudiengang Gesellschaft und Politik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihren Master schloss sie 2020, ihren Bachelor 2021 ab. Ihre Masterarbeit untersuchte, wie das faschistisch besetzte Kosovo und Mazedonien Romakindheiten und -jugend prägte. Während ihres gesamten Studiums war sie Studienstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Heute arbeitet sie als freie Journalistin.

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Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (wie Anm. 9), 1. Ebd., 125. Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (wie Anm. 9), 263 f. Ebd., 430–433.

Josef Bürckel und die Aktivitäten Jacques Doriots in Deutschland nach dessen Flucht aus Paris im August 1944 bis zu seinem Tod im Februar 19451 Benjamin Pfannes In der Endphase des Zweiten Weltkrieges bestimmte das NS-Regime das Schloss Hohenzollern zum Sitz der mit ihm kollaborierenden Vichy-Regierung Sobald die Kollaborateure sich in Sigmaringen niederließen, begannen sie unverzüglich mit Planungen für die Bildung einer neuen französischen Regierung Eine große Bedeutung spielte in diesem Zusammenhang der Faschist Jacques Doriot, der insbesondere über den in Neustadt an der Weinstraße residierenden Gauleiter der „Westmark“ Josef Bürckel sehr gute Kontakte zur Spitze der NSDAP besaß Die Anhänger Doriots ließen sich nach einem Aufenthalt in Neustadt auf der Insel Mainau nieder Dies entsprach jedoch nicht den ursprünglichen Plänen des Anführers der „Parti populaire français“ Er beabsichtigte in der Pfalz – mit Hilfe seines Freundes und Förderers Bürckel – seine Radiopropaganda in Frankreich voranzutreiben Dass Hitler weiterhin an den Kollaborateuren festhielt, hatte weniger mit Solidarität als vielmehr mit dem Kalkül zu tun, auf die Bevölkerung in den noch von Deutschland kontrollierten Gebieten Frankreichs und auf Reichsgebiet einwirken zu können I. Einleitung Jacques Doriot (1898–1945) wurde am 26. September 1898 in der französischen Stadt Bresles geboren. In jungen Jahren zog Doriot nach Saint-Denis bei Paris und schlug sich als Metallarbeiter durch. Am 18. April 1917 wurde er in die Armee eingezogen und geriet ein Jahr später in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nach dem Ende seiner Gefangenschaft ging Doriot in sein Heimatland zurück und trat 1920 dem „Parti communiste 1

Dieser Aufsatz basiert auf den Ergebnissen meiner Masterarbeit, die im Rahmen eines CotutelleVerfahrens an der Johannes Gutenberg-Universität und an der Université de Bourgogne entstand. Neben Herrn Prof. Dr. Fritz Taubert, der als Erstbetreuer dieser Masterarbeit fungierte, gilt mein besonderer Dank dem Zweitbetreuer, Prof. Dr. Michael Kißener, für ihre fachliche Unterstützung.

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français“ (PCF) bei. Innerhalb weniger Jahre stieg der Franzose in der Partei zu einem führenden Mitglied auf. 1922 wurde Doriot in das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) und ein Jahr später zum Generalsekretär der Jugendorganisation des PCF gewählt.2 Im Jahr 1931 folgte die Wahl zum Bürgermeister von Saint-Denis. In den nächsten Jahren brach er mit dem PCF und gründete 1936 den „Parti populaire français“ (PPF), eine Partei, die dem rechten Parteienspektrum zuzuordnen war.3 Nach der Kapitulation Frankreichs und dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion entschieden sich Doriot und seine Anhänger für den Weg der bedingungslosen Kollaboration mit dem Deutschen Reich. Der einfache Metallarbeiter, der auch als „erster Faschist Frankreichs“ bezeichnet wird,4 genoss entsprechend bei ranghohen Nationalsozialisten wie zum Beispiel SS-Chef Heinrich Himmler (1900– 1945) oder Außenminister Joachim von Ribbentrop (1893–1946) hohes Ansehen. Adolf Hitler (1889–1945) beabsichtigte, ihn in den letzten Kriegsmonaten zum zukünftigen Regierungschef seiner neuen Frankreichregierung in Sigmaringen zu ernennen.5 Die Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 leitete nicht nur das Ende der deutschen Besatzung Frankreichs, sondern auch des Vichy-Regimes6 ein. Am 17. August 1944 erhielten die Mitglieder der Vichy-Regierung die Anweisung, sich in Belfort in Ostfrankreich niederzulassen und dort vorerst ihren provisorischen Sitz einzurichten.7 Pierre Laval, zu diesem Zeitpunkt Ministerpräsident und Philippe Pétain (1856–1951), Staatschef des „État français“ in Vichy, sahen sich nicht mehr im Stande, ihrer Regierungstätigkeit nachzukommen und stellten jegliche politische Arbeit ein. Sie demissionierten freilich nicht von ihren Ämtern, um das Einsetzen einer neuen Re-

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Zu Doriot und dem PPF vgl. Dieter Wolf, Die Doriot-Bewegung. Ein Beitrag zur Geschichte des französischen Faschismus. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 15.) Stuttgart 1967. Die Monographie erschien auch in französischer Sprache (Dieter Wolf, Doriot, du communisme à la collaboration. Paris 1969). Vgl. auch Jean-Paul Brunet, Jacques Doriot. Du communisme au fascisme. Paris 1986; Philippe Burrin, La dérive fasciste. Doriot, Déat, Bergery 1933–1945. Paris 2003; Jean-Claude Valla, Qui suis-je? Doriot. Grez-sur-Loing 2008; Laurent Kestel, La conversion politique. Doriot, le PPF et la question du fascisme français. Paris 2012. Doriot stellt ein prominentes Beispiel politischer Renegaten in Frankreich dar, d. h. Politiker, die ihre bisherige politische Überzeugung wechseln. Weitere politische Abweichler sind Alexandre Millerand (1859–1943), Aristide Briand (1862–1932), Pierre Laval (1883–1945), Marcel Déat (1894–1955) und Paul Marion (1899–1954) (Gilbert D Allardyce, The Political Transition of Jacques Doriot, in: Journal of Contemporary History 1, 1966, 56–74; Ernst Nolte, Marx und Nietzsche im Sozialismus des jungen Mussolini, in: Historische Zeitschrift 191, 1960, 249–335). Werner Rings, Leben mit dem Feind. Anpassung und Widerstand in Hitlers Europa 1939–1945. München 1979, 153. Wolf, Die Doriot-Bewegung (wie Anm. 2), 289, 308. Der Name Vichy-Regime bezieht sich auf die politische Staatsform unter Philippe Pétain, der Frankreich im Zweiten Weltkrieg, vom 10. Juli 1940 bis zum 20. August 1944 mit Sitz in Vichy, während der Besetzung des Landes durch das Dritte Reich regierte. Dazu gehörten auch die „Ultra“-Kollaborateure aus Paris, wie z. B. Marcel Déat, Jacques Doriot und Joseph Darnand (1897–1945), die sich für eine enge Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich einsetzten.

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gierung zu verhindern.8 Deshalb wandte sich das Deutsche Reich den Pariser „Ultra“Kollaborateuren9 zu, was die Gespräche zwischen Außenminister von Ribbentrop und den Hauptvertretern der Kollaborationsparteien im Schloss Steinort am Mauersee Ende August 1944 verdeutlichen. Dort debattierten die Beteiligten über die Bildung einer Ersatzregierung. Das Ergebnis bestand in einer provisorischen Regierungskommission mit dem Vorsitzenden Fernand de Brinon10 (1885–1947), dem die Aufgabe zugeteilt wurde, eine Regierung Doriot zu installieren. Der Entschluss, Pétain, Laval und die übrigen Minister auf deutsches Gebiet überzusiedeln, fiel im Führerhauptquartier. Neben der hohenzollerischen Stadt Sigmaringen galten Baden-Baden und Freudenstadt als weitere Zufluchtsorte. Den Ausschlag für die kleine Stadt an der Donau gab die geographische Lage, ihr dünnbesiedeltes Umland, das leicht zu überwachen war, sowie die prunkvolle Residenz der Familie Hohenzollern, die für die letzten Kriegsmonate zu einem Schauplatz der deutsch-französischen Kollaboration bzw. der „großen“ Politik wurde. Dort residierten die Franzosen bis zur Befreiung der Stadt durch die Alliierten. Doriot verschlug es zunächst nicht nach Sigmaringen. Er verbrachte mit seinen Parteianhängern einige Tage bei seinem Freund, dem Gauleiter der „Westmark“11 Josef Bürckel12 (1895–1944), in Neustadt an der Weinstraße. Nach der Befreiung von Paris im August 1944 gewährte Bürckel Doriot und seinen Mitstreitern Zuflucht in seinem Gau. Danach zogen die Franzosen weiter auf die Insel Mainau. Dort setzte Doriot seine propagandistischen Aktivitäten fort. Der vorliegende Beitrag möchte zum einen untersuchen, ob und inwieweit Doriot von dem freundschaftlichen Verhältnis zu Bürckel profitierte, zum anderen analysiert der Text die politischen Aktivitäten Doriots nach seiner Flucht aus der französischen Hauptstadt im August 1944 bis zu seinem Tod im Februar 1945 in Deutschland. Hier-

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Schreiben vom 17.08.1944, in: Archives nationales (AN), F/7/15509; Fred Kupfermann, Laval. Paris 2015, 529, 532 f. Kollaborateur ist ein weitgefasster Begriff und bezeichnet einzelne Denunzianten bis hin zu kollaborierenden Parteien. Im Folgenden umfasst der Ausdruck den Kreis der Mitglieder der „Ultra“Kollaborateure in Paris. Zu deren bekanntesten Vertretern gehörten Déat, Doriot und Darnand. Im Jahr 1942 wurde de Brinon von Pétain zum Staatssekretär ernannt. Er gilt als einer der Architekten der Kollaboration mit dem Deutschen Reich während des Zweiten Weltkrieges. Am 7. Dezember 1940 erfolgte auf Weisung Hitlers die Umbenennung des Gaus Saarpfalz in Gau „Westmark“. Dieser umfasste neben dem zu Bayern gehörenden Regierungsbezirk Pfalz und dem Saargebiet auch das seit 1940 unter deutscher Verwaltung stehende Lothringen. Bis 1940 war Neustadt an der Weinstraße Sitz der Gauleitung. Anschließend wurde sie bis 1945 nach Saarbrücken verlegt: Markus Raasch, Art. Gauhauptstädte, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadt-und-natio nalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/gauhauptst%C3%A4dte, Aufruf zuletzt am 07.08.2021. Bürckel war ein einflussreicher Politiker im „Dritten Reich“ und bekleidete hohe politische Ämter. Eine Übersicht ist abgedruckt in Pia Nordblom / Walter Rummel / Barbara Schuttpelz (Hrsg.), Josef Bürckel. Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz. (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 30.) 2. Aufl. Kaiserslautern 2020, 14 f.

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für wird zunächst die politische Rolle Bürckels in Frankreich skizziert, um die Motive besser zu verstehen, die den pfälzischen Gauleiter dazu bewegt hatten, sich in diesem Ausmaß für den Franzosen bei deutschen Dienststellen einzusetzen. Dabei ist es nicht das Ziel, eine chronologische Abhandlung der Politik Bürckels aufzuzeigen, sondern einen Eindruck des politischen Menschen zu vermitteln. Anschließend rückt der Prozess, der zur Ausrufung des Befreiungskomitees von Doriot führte, einer Art Sammlungsbewegung aller französischen Kollaborationsgruppen, in das Zentrum der Betrachtungen. Grundlage der Ausführungen über den Aufenthalt Doriots und seiner Anhänger in Neustadt an der Weinstraße sind die Ortschroniken sowie die nur äußerst bruchstückhaft überlieferten Akten aus dem „Service historique de la Défense“ in Vincennes. Über die dortigen Tätigkeiten der französischen Kollaborateure ist folglich nur sehr wenig bekannt. Der Führer des PPF verdankte seinem guten Verhältnis zu Gauleiter Bürckel die Möglichkeit, sich mit seinem Gefolge in Neustadt niederlassen zu können. Für die Schilderungen bezüglich der Aufstellung des Befreiungskomitees dienen die Bestände des Politischen Archives des Auswärtigen Amtes sowie der „Archives nationales“. II. Einflussnahme Bürckels auf die Frankreichpolitik Einen Tag vor dem Beginn des Westfeldzuges am 9. Mai 1940 wurde Bürckel als „Chef der Zivilverwaltung“ für die Region Lothringen ernannt. Durch die weitreichenden Befugnisse Hitlers war er in der Lage, in seinem Besatzungsgebiet den Polizeikräften ohne die Zustimmung der Reichsministerien oder des Chefs der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, Befehle zu erteilen.13 In einem Tagebucheintrag des Landrates von Saarbrücken werden die ersten Anweisungen Bürckels, die er auf einer Besprechung am 5. August 1940 ankündigte, folgendermaßen beschrieben: „Gauleiter spricht über die Ausweisung politisch unzuverlässiger Lothringer, die von der Gestapo durchgeführt und bis zum 7.9. beendet sein soll; strengstens Stillschweigen wird befohlen“.14 Diese Maßnahmen zielten nicht nur auf die Beseitigung potentielle Gegner des Regimes ab, sondern auch auf die „Eindeutschung“ der eroberten Gebiete. Auf einer Großveranstaltung am 30. November 1940 erläuterte Bürckel seine Pläne für die Region Lothringen. Er beabsichtigte vier „Bollwerke“ des besiegten Frankreichs dort niederzureißen: 1. Die führende Oberschicht der „Notabeln“, 2. den fran-

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Eberhard Jäckel, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 14.) Stuttgart 1966, 76–84; Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß. (Studien zur Zeitgeschichte.) Stuttgart 1973, 51–67. Uwe Mai, Ländlicher Wiederaufbau in der „Westmark“ im Zweiten Weltkrieg. (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 6.) Kaiserslautern 1993, 47.

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zösischen Antiklerikalismus, 3. den Grundbesitz der bereits vertriebenen Juden und „Innerfranzosen“ und 4. das Französische.15 Bürckel verschwieg, dass er ein eigenes „Bollwerk“ Frankreich entgegensetzen wollte. Hierbei handelte es sich um die Ansiedlung von „Arbeiterbauern“ aus der Saarpfalz in Westlothringen. Gleichzeitig verfolgte der aus der Pfalz stammende Gauleiter das Ziel, den saarpfälzischen Siedlungsraum nach Westen zu erweitern. Ihm schwebte eine „großgermanische Lösung“ in Anlehnung an das ostfränkische Reich nach den Teilungsverträgen von Meerssen (870) und Ribemont (880) vor.16 Auf einer Besprechung am 28. Oktober 1940 legte Bürckel fest, dass in den Dörfern Westlothringens nur noch ein Viertel der ansässigen Bevölkerung verbleiben und der Rest aus saarpfälzischen Siedlern bestehen sollte.17 Im Verlauf des Jahres 1942 griff Bürckel zu weiteren drastischen Maßnahmen, die in seine Anordnung, Ende August allen Bürgern Lothringens die deutsche Staatsbürgerschaft zu verleihen, mündeten. Dies führte zu einer Abwanderungswelle von Franzosen in das unbesetzte Frankreich. Als Reaktion verfügte Bürckel, dass es den Dienststellen von nun an untersagt war, Abwanderungsanträge zu bearbeiten. Stattdessen sollten Antragsteller „als kommunistische Elemente sofort in Konzentrationslager überführt“ und ihre Familienangehörigen „nach dem Osten“ umgesiedelt werden, „soweit sie rassisch und sozial wertvoll“ waren.18 Lediglich Frauen, die nicht mehr im gebärfähigen Alter bzw. Männer, die nicht mehr diensttauglich waren, durften nach Frankreich reisen, falls sie dort Verwandte hatten. Ein anonymer Brief vom 20. Januar 1943 an Reichsinnenminister Wilhelm Frick19 (1877–1946) vermittelt einen Eindruck vom radikalen Vorgehen Bürckels in Lothringen. Darin steht, dass die letzte Umsiedlungsaktion „an Härte und Brutalität alles bisher Dagewesene“ übertreffe und „auch von den Bolschewiken kaum überboten werden“ dürfte.20 Anton Dunckern21 (1905–1985), Polizeichef in Lothringen, versuchte diesen Vorwurf zu entkräften, indem er entgegnete, dass Bürckel selbst die von ihm „vollständige Lösung als zu radikal“ abgewiesen hatte und dieser „eher Langmut als

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Lothar Wettstein, Josef Bürckel. Gauleiter Reichsstatthalter Krisenmanager Adolf Hitlers. 2. Aufl. Norderstedt 2010, 485–489. Ebd., 473–516; Mai, Wiederaufbau (wie Anm. 14), 30–36, 137–141; Kettenacker, Volkstumspolitik (wie Anm. 13), 56. Astrid Gehrig, Im Dienste der nationalsozialistischen Volkstumspolitik in Lothringen. Auf den Spuren meines Großvaters. Münster 2014, 105–123. Dieter Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen 1940–1945. Diss. phil. Saarbrücken 1977, 168 f. Frick hatte von 1933–1943 das Amt des Reichsinnenministers inne und war maßgeblich am Aufbau des nationalsozialistischen Herrschaftssystems beteiligt. Dieter Wolfanger, Anton Dunckern. Der erste Gestapochef des Saarlandes und spätere Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Lothringen-Saarpfalz, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 18, 1992, 303–324, hier 313. Dunckern war SS-Brigadeführer und Befehlshaber der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes (SD) in Lothringen-Saarpfalz.

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Härte in der Behandlung der lothringischen Bevölkerung“ zeige. Hieraus könnte eine Abkehr Bürckels von seiner ursprünglichen radikalen Germanisierungspolitik erkennbar werden. Dies unterstreicht auch ein Vermerk in den Akten der Reichskanzlei vom 12. Februar 1943: Bürckel „beginne zu erkennen, dass die von ihm befolgte Politik nicht die richtige gewesen sei […]“.22 Im Jahr 1942 hielt der eigensinnige und machtbewusste Bürckel noch an seinem Vorgehen in Lothringen fest, auch, weil er sich der Unterstützung Hitlers sicher sein konnte. Dieser erneuerte im Mai 1942 seine positive Grundhaltung gegenüber der Politik des Gauleiters. Er erneuerte seine Forderung, dass „jeder, der sich nicht von sich aus zum Deutschtum bekenne“, „aus diesem Gebiet heraus“ müsse. Der „Führer“ lobte Bürckel für dessen bisherige Aktivität, da dieser „in dieser Einsicht ja schon mit einschneidenden Maßnahmen vorangegangen“ sei.23 Nach außen versuchte Bürckel zu diesem Zeitpunkt, keinen Zweifel an seinen radikalen Plänen aufkommen zu lassen. So ließ er durch seinen Gaupropagandaleiter Horst Slesina24 (1911–1999) verkünden, dass er „ab sofort keine Nachsicht mehr für ‚Dienstverweigerer und Verratshelfer‘ habe. […] Wehrpflichtentziehung ist Fahnenflucht und eine volksfeindliche landesverräterische Haltung“. Aus diesem Grund werde das Vermögen der Familie beschlagnahmt und ein Familienmitglied in ein Arbeitslager außerhalb von Lothringen deportiert.25 Hinsichtlich dieser Ankündigung Bürckels wird nochmals der menschenverachtende Herrschaftsanspruch deutlich, der für das gesamte NS-Regime charakteristisch war. Von einer „großgermanischen“ Besatzungspolitik, deren wesentlicher Bestandteil im Jahr 1942 noch die Deportation von Franzosen in Konzentrationslager war, wandte sich Bürckel jedoch inzwischen ab. So kritisierte er am 21. April 1943 in einer „pfälzig-légère, offenherzig“ geführten Unterhaltung die in seinen Augen harte Politik seines badischen Kollegen Robert Wagner26 (1895–1946) im Elsass mit den Worten „mit Hinrichtungen und Konzentrationslagern regieren zu müssen, […] sei geradezu eine politische Bankrotterklärung“.27 Im Hinblick auf die Zivilverwaltung in Lothringen erklärte Bürckel in demselben Gespräch, dass er keine Todesurteile gebrauchen könne, weil die politischen Delikte im Elsass und in Lothringen anders beurteilt werden

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Dieter Wolfanger, Populist und Machtpolitiker – Josef Bürckel. Vom Gauleiter der Pfalz zum „Chef der Zivilverwaltung“ in Lothringen, in: Gerhard Nestler / Hannes Ziegler (Hrsg.), Die Pfalz unterm Hakenkreuz. 2. Aufl. Landau 1997, 63–86, hier 77. Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Stuttgart 1976, 285 f. Von 1939–1942 nahm er als Berichterstatter am Krieg teil und berichtete von den Frontereignissen. Slesina war ab dem 1. Februar 1943 Gaupropagandaleiter und Landeskulturverwalter des Gaus Westmark. Wettstein, Josef Bürckel (wie Anm. 15), 543. Im Jahr 1925 vertraute Hitler ihm die Position des Gauleiters in Baden an. Nach dem Westfeldzug wurde Wagner „Chef der Zivilverwaltung“ im besetzten Elsass. Kettenacker, Volkstumspolitik (wie Anm. 13), 244; Wolfanger, Anton Dunckern (wie Anm. 20), 313.

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müssten als im übrigen Reich.28 Demgegenüber äußerte Bürckel in einer Besprechung am 21. Mai 1943, dass „sein Standpunkt sei, erst das Land zu säubern und in Ordnung zu bringen und dann mit der Erziehung anzufangen“.29 Fakt ist, dass die angeordneten Massenausweisungen der Jahre 1940–1943 eindeutig unter der Prämisse standen, Lothringen von Franzosen befreien zu wollen, die sich einer „Germanisierung“ widersetzten. Bürckels veränderte Haltung kommt auch in seinem freundschaftlichen Verhältnis zu Jacques Doriot zum Ausdruck, dem er gemeinsam mit seinen Anhängern Zuflucht in Neustadt gewährte. III. Doriot zu Gast bei der NS-Führung Wie es zu den ersten Kontakten zwischen Bürckel und dem ehemaligen Bürgermeister von Saint-Denis kam, kann heute nicht mehr mit Gewissheit ermittelt werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit lernten sich beide im August 1943 kennen. Ein früherer Zeitpunkt scheint ausgeschlossen, da sich Doriot bis etwa April 1943 als Offizier der „Légion des volontaires français contre le bolchévisme“ (LVF) an der Ostfront befand und nach seinem Dienst zunächst einige Zeit in Paris verweilte.30 Die erste Begegnung sowie alle weiteren Gespräche wurden von Karl Iwanowitsch Albrecht31 (1897–1969), einem kommissarischen Leiter einer französischen Firma in Metz, gefördert. Er brachte Doriot illegal von Paris auf das Hofgut Ketzig, dem bevorzugten Treffpunkt der beiden.32 Dieses befand sich südwestlich von Sarrebourg, in derselben Gegend, wo Bürckel seiner Jagdleidenschaft nachging, die Doriot zusammen mit der Vorliebe für gutes Essen und Trinken teilte.33 Als Dolmetscher fungierte Anton Dunckern. Zu weiteren Treffen zwischen Bürckel und Doriot kam es in diesem Jahr nicht. Ein Fronturlaubsgesuch Doriots wurde aus nicht mehr feststellbaren Gründen abgelehnt. Vermutlich spielten aber die Aussagen des Franzosen über die „verräterische Politik“ der VichyRegierung eine Rolle.34 Hitler hoffte zu diesem Augenblick immer noch, Marschall Pétain von einer Kriegserklärung an die Alliierten überzeugen zu können. Im Februar 28 29 30 31

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Kettenacker, Volkstumspolitik (wie Anm. 13), 245, 361. Ebd., 301. Wettstein, Josef Bürckel (wie Anm. 15), 529. Albrecht ging 1924 als überzeugter Kommunist in die Sowjetunion. Genau wie Doriot wandte er sich von der kommunistischen Ideologie ab und wurde ein überzeugter Anhänger des NS-Regimes. Im Zuge seiner Tätigkeit als kommissarischer Leiter einer französischen Firma in Metz kam er mit Bürckel in Kontakt. (Wolfanger, Anton Dunckern (wie Anm. 20), 316.) Das Hofgut besaß noch eine weitere Funktion. Es war ein geheimer Treffpunkt von französischen und deutschen Politikern, die über die Zukunft beider Länder berieten, ohne das Wissen der deutschen Regierung. (Wolfanger, Anton Dunckern (wie Anm. 20), 316; Karl I Albrecht, Sie aber werden die Welt zerstören … 2. Aufl. München 1954, 169–171.) Wolfanger, Anton Dunckern (wie Anm. 20), 316 f. Wettstein, Josef Bürckel (wie Anm. 15), 529.

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1944 kehrte Doriot nach Paris zurück. In der Folgezeit wurden die Treffen mit Bürckel immer häufiger. Dabei unterstrich der Franzose immer wieder seine politischen Ansichten. Seiner Meinung nach sei die Vichy-Regierung nur eine Brutstätte des Verrats und für den Verlust des französischen Kolonialreiches verantwortlich. Weiter führte er aus, dass sie der Nährboden aller Intrigen sei, die sich unter dem Deckmantel einer nationalen Revolution verstecke. Ihre Politik charakterisierte Doriot als attentistisch und reaktionär und sprach ihr den Willen einer europäischen Erneuerung ab. Seine Ziele seien dagegen der Anschluss Frankreichs an das neue Europa sowie ein bedingungsloser Kampf gegen den Bolschewismus.35 Bürckel war beeindruckt und setzte sich mehrfach für Doriot in Berlin ein. In seinen Augen war der Franzose, „der aber von uns in keiner Weise gestützt oder gefördert wird“, die einzige geeignete politische Kraft in Frankreich.36 Als Ansprechpartner diente Joseph Goebbels37 (1897–1945), den er immer auf dem aktuellen Stand seiner Unterredungen mit Doriot hielt. Am 22. August 1944 fand zwischen Doriot und Bürckel ein längeres Gespräch statt, über dessen Inhalt nichts Näheres bekannt ist.38 Der Gauleiter organisierte außerdem Gesprächstermine mit ranghohen Persönlichkeiten deutscher Dienststellen, um die sich Doriot vergeblich bemüht hatte. Im Tagebucheintrag vom 24. August 1944 berichtet Goebbels von den vielen Anrufen Bürckels, die darauf abzielten, Hitler Doriot als neuen Ministerpräsidenten zu präsentieren. Dieser beabsichtigte wegen der Misserfolge der Kollaborationspolitik Lavals eine neue französische Regierung zu bilden, die seiner Meinung nach viel radikaler sein musste. Hitler beauftragte den Propagandaminister „die Sache vorwärts zu treiben“, d. h. ihn und Doriot in Berlin zu empfangen, um sich einen persönlichen Eindruck des französischen Kollaborateurs zu verschaffen.39 Am 25. oder 26. August 1944 kam es zu einem Treffen zwischen Hitler, Goebbels, Bürckel und Doriot. Letzterer fasste seine politischen Absichten in einer Denkschrift zusammen und übergab diese an den Propagandaminister.40 In dessen Tagebucheintrag finden sich keinerlei Hinweise, dass Bürckel oder Doriot über ihr geplantes Treffen am 28. August 1944 mit Joachim von Ribbentrop sprachen. Der Gauleiter wusste von der Antipathie Goebbels gegenüber von Ribbentrop und dachte möglicherweise, dass eine Erwähnung seine 35 36 37 38 39 40

Bericht über Doriot, in: NSZ-Westmark, 10.06.1943. Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 31.12.1943, in: Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 10: Oktober–Dezember 1943. München u. a. 1994, 574. Goebbels war einer der einflussreichsten Politiker während der Zeit des Nationalsozialismus. Von 1933 bis 1945 besaß er als Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und als Präsident der Reichskulturkammer entscheidenden Einfluss auf Presse, Rundfunk und Film. Wettstein, Josef Bürckel (wie Anm. 15), 530. Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 24.08.1944, in: Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II: Diktate 1941–1945, Bd. 13: Juli–September 1944. München u. a. 1995, 310 f. Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 26.08.1944, in: Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 39), 326–328.

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Pläne mit Doriot hätten gefährden können.41 Der Anführer des PPF imponierte Goebbels: „Doriot macht auf mich einen ausgezeichneten Eindruck […] Jedenfalls steht fest, daß […] ich nicht mit den Cocktailparty-Männern der Vichy-Regierung, sondern mit Männern vom Schlage Doriot gemeinsame Sache gemacht hätte“.42 Nachdem die Zusammenkunft am 28. August keine Einigung brachte, lud von Ribbentrop Doriot und Bürckel bereits einen Tag später wieder zu sich ein.43 Während dieses Gespräches konnte Bürckel den Außenminister davon überzeugen, dass Doriot der geeignetste Kandidat für den Vorsitz einer neuen französischen Regierung sei. In der Folgezeit fanden noch weitere Unterhaltungen zwischen Doriot, Himmler und Mitgliedern des SD statt. Zu einer baldigen Entscheidung führten diese jedoch nicht. Diesbezüglich schreibt Goebbels in seinem Tagebuch: „Es wäre das beste, man ginge auf Bürckels Vorschlag ein, Doriot mit der Regierungsgewalt zu betrauen und ihm die Bereinigung der Verhältnisse in dem noch von uns besetzten Raum Frankreichs anzuvertrauen. Aber bei uns kommen ja solche Entscheidungen entweder gar nicht oder viel zu spät […]“.44

Dass dies eine längst utopische Annahme war – aufgrund der militärischen Lage in Frankreich – realisierte Goebbels zu diesem Zeitpunkt nicht. Der Rückzug der deutschen Soldaten dauerte an; am 31. August 1944 wurde die Stadt Verdun von deutschen Truppen verlassen. Ab diesem Moment sah sich Bürckel gezwungen, sich den Aufgaben zur Verteidigung seiner „Westmark“ zu widmen. Diese Beobachtung findet man auch in den Niederschriften von Goebbels: „Auch Bürckel hat sich jetzt etwas auf seine Pflicht besonnen. Er hatte zu viel Frankreichpolitik gemacht und zu wenig Schanzarbeiten geleistet“.45 Doriot verfolgte seine eigenen Ziele und ging zunächst nach Neustadt, wo Bürckel immer noch seinen Dienst- und Wohnsitz hatte, und hielt sich damit bewusst von de Brinon und den anderen Kollaborateuren fern. Der Anführer des PPF sorgte sich um

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Goebbels schrieb, dass von Ribbentrop wegen seiner missglückten Außenpolitik an Ansehen beim Führer verloren habe. „Allerdings ist es noch nicht soweit, daß Ribbentrops Stellung unsicher geworden wäre. Wir müssen hier also noch eine erkleckliche Zeit arbeiten und weiter bohren.“ (Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 24.08.1944, in: Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 39), 311.) Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 26.08.1944, in: Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 39), 329. Aufzeichnungen Schmidt über die Unterredung zwischen Ribbentrop, Bürckel und Doriot am 29.08.1944, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), RZ 248, R 27853. Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 31.08.1944, in: Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 39), 366. Die einhellige Meinung von Hitler, von Ribbentrop und Goebbels war, dass Laval durch Doriot ersetzt werden musste (Barbara Lambauer, Otto Abetz et les Français ou l’envers de la Collaboration. Paris 2001, 641). Tagebucheintrag Joseph Goebbels, 23.09.1944, in: Fröhlich, Tagebücher von Joseph Goebbels (wie Anm. 39), 546.

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sein Heimatland. Er war der Auffassung, dass eine Machtübernahme durch die Kommunisten zu einem Bürgerkrieg führen könnte. Der Franzose bemühte sich, die antikommunistischen Kräfte gegen den Bolschewismus zu bündeln und selbst dabei eine bedeutende politische Rolle zu übernehmen. Auf lange Sicht hatte für ihn die Führung der französischen Exilregierung oberste Priorität. IV. Aufenthalt der „Doriot-Franzosen“ in Neustadt an der Weinstraße46 Bis in das Jahr 1944 übte Bürckel  – trotz seiner Aktivitäten in Lothringen  – keinen aktiven Einfluss auf die Gestaltung der deutschen Frankreich-Politik aus.47 Erst in den letzten Kriegsmonaten – mit der Ankunft Doriots und seinen Anhängern – wurde sein Dienst- und Wohnsitz Neustadt zu einem wichtigen Schauplatz der nationalsozialistischen Frankreichpolitik.48 Räume des örtlichen Gymnasiums und der Schulturnhalle dienten den Franzosen als Unterkunft, die Bürckel persönlich für die Neuankömmlinge bereitstellte.49 Nicht alle Säle waren mit Betten ausgestattet, was zur Folge hatte, 46

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Eine genaue Angabe über die Aufenthaltsdauer der geflüchteten Franzosen sucht man in den Darstellungen vergebens. Einzelne Quellen geben als Ankunftsdatum den 1. September 1944 an (Otto Müller, Geschichte des Humanistischen Gymnasiums Neustadt an der Weinstraße. Neustadt a. d. W. 1952, 7; Theo Hunderlach / Karlheinz Leist / Sr Ancilla (Marianne) Ringel, Erinnerungen an eine schwere Zeit, in: Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium (Hrsg.), 100 Jahre Gymnasialgebäude Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium Neustadt an der Weinstraße 1886–1986. Neustadt a. d. W. 1986, 68). Andere datieren das Eintreffen in Neustadt auf Anfang September (Gerhard Berzel, Neustadter Gymnasium. Ein Beitrag zur Geschichte. Neustadt a. d. W. 2008, 69). Spätestens zum 1. Dezember 1944 zogen die Franzosen weiter, da ab diesem Zeitpunkt die Eisenbahndirektion Saarbrücken in das Gebäude des Gymnasiums einzog (Klaus Frédéric Johannes, Mobilitas. Festschrift zum 70. Geburtstag Werner Schreiners. (Schriftenreihe der Bezirksgruppe Neustadt an der Weinstraße im Historischen Verein der Pfalz, Neue Folge, Bd. 1.) Neustadt a. d. W. 2017, 301; Müller, Geschichte des Humanistischen Gymnasiums Neustadt an der Weinstraße, 7; Hunderlach/Leist/Ringel, Erinnerungen, 68). Matthias Gemählich, Von der „Rheinpfalz“ zur „Westmark“. Neustadt und die Expansion des Parteigaus nach Westen, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020, 614. Ebd. Gerhard Berzel, Neustadt an der Weinstraße im 20. Jahrhundert. Neustadt a. d. W. 1999, 107; Müller, Geschichte des Humanistischen Gymnasiums (wie Anm. 46), 7; Berzel, Neustadter Gymnasium (wie Anm. 46), 69. Vgl. Schreiben Déclaration de Cocar. Annexe I.: Organisation du P. P. F. à Neustadt, in: Service historique de la Défense (SHD), GR 28 P 13 180; sowie Schreiben Requisitoire contre le Parti Populaire Français et ses dirigeants, in: SHD, GR 28 P 13 180, 2. Doriot bezifferte die Anzahl seiner Anhänger, die in Neustadt untergebracht waren auf 5 000 (Schreiben Doriots, 09.09.1944, in: PA AA, RZ 214, R 101054). Beamte des Auswärtigen Amts (AA) vermerkten in Bezug auf Doriots o. g. Schreiben, dass seine Zahlenangaben nicht überprüft wurden. Frauen und Kinder, die ebenfalls nach Neustadt geflohen waren, wurden mit einberechnet (Schreiben der Dienststelle Neustadt/Weinstraße, 09.09.1944, in: PA AA, RZ 214, R 101057). Sicard schreibt in seiner 1964 erschienenen Darstellung, dass knapp 6 000 Anhänger des PPF in Neustadt Zuflucht

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dass einige Doriot-Anhänger auf blankem Stroh nächtigen mussten.50 Jeden Morgen wurden die Bewohner mit einem Trompetensignal mit anschließendem militärischen Zeremoniell, bei dem die französische Flagge gehisst wurde, geweckt.51 In Neustadt widmete sich Doriot seinem PPF. Dazu gehörten unter anderem das Abhalten von Parteikongressen und der Ausbau des Parteiapparats.52 Außerdem errichtete er ein Exil-Hauptquartier bei der Gauleitung und berief für den 12. September 1944 den Nationalrat des PPF ein.53 Über die Gefühlslage der Neustadter Bevölkerung gegenüber den Franzosen existieren widersprüchliche Aussagen. Der ehemalige PPFAktivist Maurice-Yvan Sicard54 (1910–2000), alias Saint-Paulien, schreibt in seinen nach dem Krieg verfassten Aufzeichnungen, dass die Bürger Neustadts den französischen Kollaborateuren einen „wahrhaft brüderlichen Empfang“ bereiteten.55 Demgegenüber erinnert sich Jean-Hérold Paquis56 (1912–1945), ebenfalls ein Anhänger Doriots, dass die Bevölkerung von der „unerwarteten Invasion“ überrascht war, den Franzosen aber letztlich keine übermäßige Beachtung schenkte.57 Des Weiteren plante der Franzose, in Neustadt einen Sender aufzubauen, um mit den in Frankreich zurückgebliebenen Geheimsendern seiner Partei in Kontakt treten zu können.58 Aus diesem Grund sollten die Deutschen 80 seiner Anhänger für Funkdienst und Terroraktionen ausbilden. Unterdessen lief die Frist ab für de Brinon, den Marschall von einer Regierung unter der Führung von Doriot zu überzeugen. Nach nur wenigen Wochen wurde die PPFKolonie in Neustadt wieder aufgelöst. Am 28. September 1944 starb Bürckel in seiner Villa in Neustadt. Doriot verlor damit seinen wichtigsten Verbündeten und zog kurz darauf mit seinen Anhängern weiter.

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fanden (Saint-Paulien, Histoire de la collaboration. Paris 1964, 487 f.). Inwieweit die Zahlen der Realität entsprachen, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium (Hrsg.), Gymnasialgebäude (wie Anm. 46), 68. Berzel, Neustadt an der Weinstraße im 20. Jahrhundert (wie Anm. 49), 107; Gerhard Berzel, Aus den Jugendjahren eines Neustadters. Neustadt a. d. W. 2009, 43. Vgl. Schreiben Requisitoire contre le Parti Populaire Français et ses dirigeants, in: SHD, GR 28 P 13 180, 4. Henry Rousso, Un château en Allemagne. Sigmaringen 1944–1945. Paris 2012, 363–378. Sicard war ehemaliger Chefredakteur der Parteizeitung des PPF. Gemählich, Von der „Rheinpfalz“ zur „Westmark“ (wie Anm. 47), 614 f. Französische Originalformulierung ist abgedruckt in Saint-Paulien, Histoire (wie Anm. 49), 488. Paquis war ein französischer Radiojournalist und bekannt für seine prodeutschen Kolumnen im Radio-Paris während des Vichy-Regimes. Gemählich, Von der „Rheinpfalz“ zur „Westmark“ (wie Anm. 47), 615. Französische Originalformulierung ist abgedruckt in Jean-Hérold Paquis, Des illusions … Désillusions! 15 août 1944–15 août 1945. Paris 1948, 61. Im September 1944 verfügte Doriot über 15 Geheimsender in Frankreich. Ziel war es, militärische und politische Nachrichten in sein Heimatland zu übermitteln. (Schreiben vom 11./16.09.1944, in: AN, 3W/350.)

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V. Die Pläne der deutschen Regierung zur Konstituierung einer Regierung Doriot De Brinon versuchte vergeblich, Pétain davon zu überzeugen, seine politischen Pflichten wieder wahrzunehmen und einer Regierung Doriot zuzustimmen. Bis Mitte September konnte er diesbezüglich keine nennenswerten Fortschritte erzielen. Von Ribbentrop war der festen Überzeugung, dass Doriot neuer Regierungschef werde – notfalls auch ohne die Zustimmung Pétains.59 Dies würde de Brinon nicht akzeptieren. Für ihn kam lediglich eine Mitgliedschaft des PPF-Anführers ohne die Legitimation des Marschalls in Frage.60 De Brinon war der Auffassung, dass Doriot seinen Aufstieg nur Gauleiter Bürckel zu verdanken habe und somit eine Regierung unter seiner Führung als „deutsches Produkt“ anzusehen sei.61 Am 18. September traf sich Doriot mit Himmler in Berlin. Beide debattierten unter anderem über den Einsatz der DoriotAnhänger in Frankreich, weitere Sabotageakte und den Aufbau zusätzlicher illegaler Sender.62 Zwei Tage später empfing von Ribbentrop Doriot im Schloss Steinort. Der Außenminister kritisierte die Kontakte des Franzosen zu SD und SS. Doriot entgegnete, dass das Auswärtige Amt eine Verzögerungstaktik bezüglich seiner zukünftigen Öffentlichkeitsarbeit über Zeitungen und Rundfunk verfolge. Von Ribbentrop stellte fest, dass die Leitung der Frankreichpolitik die Aufgabe des Außenministers und ein weiteres Verbleiben der Franzosen in Neustadt ausgeschlossen sei. Schloss Wilflingen der Familie Stauffenberg in Sigmaringen galt als neue Unterkunft. Außerdem sollte Doriot dort Zugang zu einer Kabelverbindung zu den Rundfunkstationen nach Stuttgart und Saarbrücken erhalten. Der Plan der Verantwortlichen sah vor, dass der Franzose in Stuttgart die Leitung der bereits in Deutschland erschienenen „Echo de Nancy“ übernehmen und die bekannte Pariser Zeitschrift „Je suis partout“ neu auflegen soll.63 In einem Punkt waren sich alle Beteiligten einig: eine „nationale“ Widerstandsbewegung würde keinen Erfolg gegen Charles de Gaulle64 (1890–1970) haben. Dafür wurde vor allem die englische sowie amerikanische Unterstützung für de Gaulle verantwortlich gemacht.65 Deshalb beabsichtigte man vor Ort, sich auf Sabotageakte 59 60 61 62 63 64 65

Aufzeichnungen Renthe-Fink über die Unterredung mit de Brinon, 17.09.1944, in: PA AA, NL Renthe-Fink, Bd. 9. Aufzeichnungen Renthe-Fink über die Unterredung mit de Brinon, 16./17.09.1944, in: PA AA, NL Renthe-Fink, Bd. 9. Aufzeichnungen Renthe-Fink, 16.09.1944, in: PA AA, NL Renthe-Fink, Bd. 9. Über die Ergebnisse der Unterhaltung erfährt man lediglich in dem Gespräch von Doriot und von Ribbentrop, 20.09.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 14. Gespräch von Doriot und von Ribbentrop, 20.09.1944 (wie Anm. 62), 17–19. Nach der Niederlage gegen das Deutsche Reich im Jahr 1940 gründete de Gaulle im Londoner Exil das Komitee „Freies Frankreich“ und wurde zur Integrationsfigur der Résistance gegen die deutsche Besatzung. Aufzeichnungen Schmidt über die Unterredung zwischen von Ribbentrop und Doriot, 04.11.1944 in Berlin, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 31.

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zu beschränken und hoffte auf zukünftige Konflikte zwischen kommunistischer und gaullistischer Résistance.66 VI. Insel Mainau – Rückzugsort des PPF Doriot spürte kein Verlangen, nach Sigmaringen umzuziehen. Dies wird in einem Brief an Botschafter Otto Abetz (1903–1958) deutlich. Der Franzose beabsichtigte lediglich, in der süddeutschen Stadt eine kleine Parteizentrale einzurichten. Laut Abetz war Gauleiter Bürckel für diese Haltung Doriots verantwortlich. Er schrieb in einem Brief an Außenminister von Ribbentrop: „Die im Briefe Doriots sichtbar werdende Neigung, mit einem Teil seiner Dienste in die Nähe von Sigmaringen zu übersiedeln, im übrigen jedoch im Gau Westmark zu bleiben, deckt sich mit den Informationen, die einem Botschaftsmitglied bei einer gestrigen Besprechung mit Vertretern des Reichssicherheitshauptamtes in Stuttgart über Gauleiter Bürckel gegeben wurden. Demnach habe Gauleiter Bürckel wieder die Absicht geäußert, Doriot im Gau Westmark festzuhalten, um durch ihn den entscheidenden Einfluß in der Frankreich-Politik zu erlangen“.67

Doriot beugte sich schließlich dem Druck von Ribbentrops und stimmte zu, mit seinen Anhängern auf die Insel Mainau überzusiedeln. Ursprünglich wollte er sich mit rund 300 Personen auf der Mainau niederlassen, was jedoch aus Platzgründen unmöglich war. Deshalb bewohnte zunächst nur die Führungsgruppe die Insel. Die übrigen PPFMitglieder wurden auf umliegende Lager sowie Fabriken aufgeteilt.68 Von der Mainau aus steuerte Doriot verschiedene Geheimdienstschulen in Süddeutschland. Darin wurden Untergrundkämpfer ausgebildet, welche die Aufgabe hatten, Sabotageakte durchzuführen und die Rückeroberung Frankreichs voranzutreiben. Diese Ausbildungsstätten wurden nach Blumen benannt und waren auf besondere Bereiche spezialisiert.69

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Aufzeichnungen des Gespräches zwischen Doriot und von Ribbentrop, 20.09.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 26 Schreiben Abetz an von Ribbentrop, 28.09.1944, in: PA AA, RZ 242, R 27784. Gespräch zwischen Doriot und von Ribbentrop, 04.11.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 31; Aufzeichnung des Gespräches zwischen Doriot und SS-Standartenführer Spaarmann, 06.11.1944, in: PA AA, RZ 214, R 101058; Arnulf Moser, Das französische Befreiungskomitee auf der Insel Mainau und das Ende der deutsch-französischen Collaboration 1944/45. (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. 25.) Sigmaringen 1980, 19. Aus den Akten lassen sich die genauen Standorte der anderen Parteimitglieder nicht mehr ermitteln. In der Schule mit dem Namen „Pâquerette“ wurden den Auszubildenden politische und militärische Kenntnisse vermittelt; „Pensée“ war nachrichtendienstlich orientiert; in „Rose“ wurde Sabotagetechnik gelehrt; in „Violette“ widmete man sich der Spionageabwehr. In einem weiteren Schulungszentrum übten sich Kandidaten in der Nutzung des Radios oder verbesserten ihre Fähigkeiten, im Verborgenen zu arbeiten. (Philippe Bourdrel, La grande débâcle de la collaboration

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Wegen ihrer geringen Effektivität stellten die Spezialschulen nach nur vier Monaten ihre Aktivitäten ein.70 VII. Ausruf des Befreiungskomitees Mitte Oktober 1944 traf sich Doriot zu weiteren Gesprächen mit de Brinon. Der Führer des PPF unterstrich seine Absicht, auch ohne die Erlaubnis Pétains eine Regierung aufzustellen. De Brinon wies die Ansprüche Doriots zurück. Dieser wollte die Ablehnung nicht akzeptieren. Aus der Sicht des ehemaligen Bürgermeisters von SaintDenis war nun der richtige Zeitpunkt, die Initiative zu ergreifen, weil de Brinon und die noch immer nicht legitimierte Regierungskommission durch die Protestschreiben Pétains ziemlich geschwächt erschienen.71 Doriot versuchte zum einen, die Gunst des Marschalls für sich zu gewinnen72 und suchte zum anderen wieder das Gespräch mit von Ribbentrop.73 Laut Doriot besaß die Regierungskommission de Brinons keinerlei Legalität, da Pétain sie immer noch nicht anerkannte. Weiter sei das Verhalten de Brinons, Pétain zu bedrängen, kontraproduktiv, so Doriot. Er dagegen sei in der Lage, den Marschall zu überzeugen.74

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1944–1948. Paris 2007, 139 f.; Arnulf Moser, Die andere Mainau 1945. Paradies für befreite KZ-Häftlinge. Konstanz 1995, 24 f.) Der Leiter des Generalkommandos aller Schulen war Albert Beugras (1903–1963), ehemaliger Generalsekretär des PPF. Die Kandidatensammelstelle befand sich in Reutlingen (Schreiben Ecoles crees en Allemagne en vue de l’action clandestine du P. P. F., in: AN, 457AP/134). Jean-Paul Cointet, Sigmaringen. Une France en Allemagne septembre 1944 – avril 1945. Paris 2003, 335; Brunet, Jacques Doriot (wie Anm. 2), 479 f. In seiner Antrittsrede betonte de Brinon, dass es Aufgabe der Regierung sei, weiterhin die politische Linie Pétains, des einzig legitimen Präsidenten des französischen Staates, zu verfolgen. Die vollständige Ansprache ist in der Zeitung „La France“ vom 26. Oktober 1944 abgedruckt. Vgl. auch Louis Noguères, La dernière étape Sigmaringen. Paris 1956, 101 f. Die darauffolgende heftige Reaktion Pétains kam für ihn völlig überraschend. Dieser distanzierte sich ausdrücklich in mehreren Protestschreiben von der neuen Regierung. Des Weiteren machte er unmissverständlich deutlich, dass er weder de Brinon zur Gründung der „Commission gouvernemental“ ermächtigt habe, noch dürfe er sich als Präsident der Regierungskommission auf die 1940 erhaltene Vollmacht eines Generaldelegierten stützen. (Schreiben Pétain an de Brinon, 02./07.10.1944, in: AN, 3W/112; Noguères, Sigmaringen (wie Anm. 71), 113 f., 126 f.) Schreiben Doriot an Pétain, 16.10.1944, in: PA AA, NL Renthe-Fink, Bd. 9. In seinem Bericht setzte er den Veteranen des Ersten Weltkrieges von seinen bisherigen Tätigkeiten in Kenntnis, informierte ihn über zukünftige Operationen des PPF und gab ihm das Versprechen, ihn persönlich als legalen Staatschef nach Paris zurückzuführen. Pétain bestätigte den Erhalt des Briefes, was Doriot als Erfolg für sich verbuchte. (Aufzeichnungen Schmidts über die Unterredung von Ribbentrops mit Doriot, 04.11.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 26.) Schreiben Doriot an von Ribbentrop, 18.10.1944, in: PA AA, NL Renthe-Fink, Bd. 9. Aufzeichnungen Schmidt über die Unterredung von Ribbentrops mit Doriot, 04.11.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 25 f.

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Anfang November – noch immer war keine Entscheidung hinsichtlich einer neuen französischen Regierung gefallen – fand das dritte und letzte Gespräch zwischen Doriot und von Ribbentrop statt. Noch immer schreckte der deutsche Außenminister vor einer eigenmächtigen Proklamation Doriots zum neuen Regierungschef ohne die Zustimmung Pétains zurück. Noch im September sprach von Ribbentrop davon, dass es unabdingbar sei, dass Doriot neuer Regierungschef werden müsse. Dies hörte sich nun anders an. Inzwischen sprach er von einer legalen, etappenweisen Übernahme der Regierung durch Doriot. Dafür müsse der Franzose einen sogenannten Befreiungsausschuss bilden. Dieser erhielt die Aufgabe, Propaganda in Frankreich sowie unter den im Reich lebenden Franzosen zu betreiben.75 Ein weiterer Unterredungspunkt waren die neuen Propagandamöglichkeiten, die Doriot erhalten sollte. Dazu gehörte ein neuer Sender, um die Franzosen in Frankreich besser erreichen zu können. Dieser bekam den Namen „Radio Patrie“, mit Sitz in Bad Mergentheim, dort, wo sich auch die technischen Anlagen der deutschen Auslandsrundfunksendungen befanden. Damit sollte er mit Hilfe der Parteibüros in allen größeren deutschen Städten neben seinen Landsleuten auch die ca. eine Million französischen Kriegsgefangenen sowie die halbe Million Zivilarbeiter erreichen.76 Daneben bekam Doriot den Auftrag, die materiellen Schwierigkeiten, die Konflikte innerhalb der provisorischen Regierung sowie die Kriegsmüdigkeit der Franzosen anzuprangern. Das Ziel bestand darin, stabile Verhältnisse in Frankreich zu verhindern, was kein leichtes Unterfangen werden würde, da de Gaulle in Paris verweilte und die Unterstützung der Amerikaner und Briten für sich beanspruchen konnte.77 Es dauerte noch rund zwei Monate bis zur Ausrufung des Befreiungskomitees. Über die genauen Umstände kann nur noch spekuliert werden. Sicherlich spielten die Widerstände aus Sigmaringen, das Warten auf eine günstigere Kriegslage, technische Vorbereitungen, wie Agentenschulungen sowie die Edition einer Zeitung eine wichtige Rolle. Doriot installierte einige Vertraute des PPF in verschiedenen Bereichen des Radio-, Zeitungs- und Informationswesens in Sigmaringen und trieb damit seine Nachrichtenpropaganda weiter voran. Zwei Tage nach der eigentlichen Konstituierung, am 8. Januar 1945, titelten die beiden Zeitungen „La France“ und „Le Petit Parisien“, dass Doriot ein Befreiungskomitee gegründet habe.78 Das Deutsche Reich hatte zu diesem Zeitpunkt den Krieg längst verloren. Dennoch rief Doriot zur Fortsetzung des Kampfes an der Seite Hitlers gegen 75 76 77 78

Aufzeichnungen Schmidt über die Unterredung von Ribbentrops mit Doriot, 04.11.1944, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 26 f. Moser, Das französische Befreiungskomitee (wie Anm. 68), 21. Aufzeichnungen Schmidt über die Unterredung zwischen von Ribbentrop und Doriot, 04.11.1944 in Berlin, in: PA AA, RZ 248, R 27853, 18. Folgende Worte richtete Doriot an die Hörer des Senders „Radio Patrie“: „Nous luttons pour libérer le territoire des bolchevistes et de l’occupation anglo-américaine. Pour reconquérir l’indépendance de notre pays […], pour une Europe unie […], pour un socialisme national […], pour la

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den US-Imperialismus sowie den Kommunismus auf. Doriot reiste nach Weimar, um über die Rolle Frankreichs im Nachkriegseuropa zu sprechen. Am 26. Januar richtete sich der Franzose mit einem Appell über Rundfunk und Presse an die französischen Truppen im Elsass. Die Zeitung „Le Petit Parisien“ titelte am 22. Februar: „L’unité révolutionnaire se réalise“ und berichtete über die verschiedenen Organisationen, die sich Doriots Befreiungskomitee angeschlossen hatten.79 Am selben Tag beabsichtigte Doriot, zusammen mit de Brinon einen Galaabend zugunsten der ehemaligen Frontkämpfer der LVF zu besuchen.80 Der Franzose sollte jedoch keine Gelegenheit mehr erhalten, daran teilzunehmen. Zwei Tiefflieger beschossen seinen Wagen auf der Fahrt nach Mengen. Doriot starb sofort an den Folgen des Angriffes. Die offizielle Version lautete, dass zwei anglo-amerikanische Flugzeuge den Anschlag verübt hatten.81 Mit dem Tod Doriots verschwand auch die Hoffnung unter den Kollaborateuren in Sigmaringen, dass der Krieg noch einen positiven Ausgang für das Deutsche Reich nehmen würde. VIII. Fazit Die „verschleierte“ Annexion Lothringens bedeutete den Beginn eines neuen Abschnitts in der Territorialpolitik Bürckels. Dieser verfolgte das Ziel, sich mit einer saarpfälzisch-lothringischen „Westmark“ sein eigenes Gebiet in Form eines Reichsgaus zu schaffen. Der Gauleiter strebte eine „Germanisierung“ Lothringens an. Dies bedeutete, dass die Bewohner zunächst ihrer französischen Identität beraubt und später ins Reich „heimgeholt“ werden sollten. Bürckel galt als eine eigenwillige und ehrgeizige Persönlichkeit und bekleidete zahlreiche hohe Staatsämter. Seine Ausweisungspolitik war in Regierungskreisen aufgrund ihrer außenpolitischen Wirkung höchst umstritten. Ihm wurde vorgeworfen, dass er eine Belastung für das deutsch-französische Verhältnis darstelle und das Zusammenspiel mit den französischen Behörden erschwere. Bürckel reagierte auf seine eigene Art und Weise. Zum einen ließ ihn die Kritik völlig unbeeindruckt und zum

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défense commune de l’Europe et de l’Afrique […].“ („Le Petit Parisien“, 08.01.1945; Henry Rousso, Pétain et la fin de la Collaboration. Sigmaringen 1944–1945. Brüssel 1984, 279.) Darunter befanden sich de Brinon von der Sigmaringer „Regierung“, Gaston Bruneton für die Organisation der Zivilarbeiter, Masson für die Kriegsgefangenen, General Edgar Puaud (1889–1945) für die französische Waffen-SS, Olivier Mordrel (1901–1985) für die separatistischen NS-Bretonen sowie zahlreiche weitere Organisationen, die sich in den ersten sechs Wochen seines Bestehens dem Komitee anschlossen (Pierre Gascar, Histoire de la captivité des Français en Allemagne 1939– 1945. Paris 1967, 281). Moser, Das französische Befreiungskomitee (wie Anm. 68), 30. Wolf, Die Doriot-Bewegung (wie Anm.  2), 299 f. Vgl. Nachruf in der „Bodensee-Rundschau“, 24.02.1945 und Bericht vom Tod Doriots im „Thurgauer Volksfreund“, 24.02.1945.

Josef Bürckel und die Aktivitäten Jacques Doriots in Deutschland

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anderen stempelte er sie als „akademische Annahme“ ab.82 Es muss jedoch festgehalten werden, dass Bürckel sich trotz seiner Kritiker – auch dank der Hilfe Hitlers – gegen seine Feinde durchsetzte. Ob sich Bürckel letztlich nur aufgrund von freundschaftlichen Beweggründen für Doriot bei der deutschen Führungsriege einsetzte, muss bezweifelt werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass er sich persönliche Vorteile davon erhoffte. Denn neben einer Freundschaft, die Bürckel mit Doriot verband, sah der Gauleiter in dem Franzosen einen verlässlichen Partner für eine zukünftige Zusammenarbeit. In diesem Kontext lohnt sich ein Blick auf die damalige militärische Situation. Das Deutsche Reich befand sich in einem Zwei-Fronten-Krieg. Von Westen näherten sich unaufhaltsam alliierte Truppen. Im Osten stießen sowjetische Soldaten über die Reichsgrenze. Deutschland besaß keine Möglichkeit mehr, den Krieg noch zu gewinnen. Möglicherweise blendete Bürckel diese Umstände aus und glaubte tatsächlich noch an den „Endsieg“, um im Anschluss mit Hilfe des von ihm geförderten Doriot seine eigene Machtstellung im Gau Westmark zu sichern oder sogar entscheidend auszubauen. Fest steht, dass Doriot maßgeblich von der Verbindung zu Bürckel profitierte, da der Gauleiter dem Franzosen Kontakt zu NS-Größen wie Hitler, Himmler und Goebbels ermöglichte, die für den Anführer des PPF sonst niemals zugänglich gewesen wären. Doriot gelang es, mit seiner Bewegung auf deutschem Boden in den Jahren 1944/45 noch eine beachtliche Resonanz zu erzielen. Er gewann unter den französischen Arbeitern und Kriegsgefangenen neue Mitglieder und es entstanden viele PPF-Zentren in zahlreichen deutschen Städten. Ab Oktober 1944 war Doriot in der Lage, von Bad Mergentheim aus täglich Rundfunksendungen für seine Landsleute auszustrahlen. Zusätzlich erhielt der PPF Ende 1944 mit dem „Petit Parisien“ eine eigene Tageszeitung. Sein politisches Handeln während des Aufenthaltes in Deutschland in den letzten Kriegsmonaten wurde von der Angst bestimmt, dass der französische Kommunismus die Oberhand in Frankreich gewinnen und das Land in einen Bürgerkrieg stürzen würde. Sein Tod bedeutete auch das Ende der Bemühungen, die verschiedenen Kollaborationsbewegungen zu vereinen. Nun realisierten auch die letzten Beteiligten, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Benjamin Pfannes, M. A., studierte Geschichte und Französisch bzw. Neuere und Neueste Geschichte in Mainz und Dijon. Während seines Studiums arbeitete er als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Zeitgeschichte sowie am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte Mainz. Zurzeit verfasst er eine Dissertation an der Universität Potsdam, in der er die Rolle der Deutsch-Französischen Brigade in der binationalen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich untersucht.

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Wettstein, Josef Bürckel (wie Anm. 15), 481.

Forum

Neustadt A. D. Weinstraße im Nationalsozialismus Ein Erfahrungsbericht Nina Fellbrich / Deniz Hacisalihoglu / Jens Hatzfeld /Philip Kitschke / Michael A. Klein / Dominik Matysiak / Johanna F. Meier / Naemi-Lea Walter Nach Abschluss des von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz verantworteten Großprojektes „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ im Jahre 2020 reflektieren acht beteiligte Geschichtsstudierende ihre subjektiven Erfahrungen mit einem speziellen Videoprojekt Der Beitrag beschäftigt sich mit der erlebten Gedenk- und Erinnerungskultur, die Kontroversen und Gegensätze aufzeigt Interviews mit ausgewählten Personengruppen veranschaulichen die vielen Bilder Neustadts: Neustadt als Tourismusort, „Wiege der deutschen Demokratie“, Zentrum der „Deutschen Weinstraße“, (Gau-)Hauptstadt des ersten „judenfreien“ Gaues Dabei scheint es, dass Erzählung(en) und Realität nicht immer kongruieren Wir fanden: defizitäres Wissen oder Gleichgültigkeit in der breiten Bevölkerung, Zufriedenheit der politisch Verantwortlichen und im Gegensatz dazu engagierte Personen, die eine Veränderung der Situation anstreben I. Einführung Am 23. August 2004 verfasste eine unbekannte Person in einer der wohl populärsten Enzyklopädien unserer Zeit einen kurzen Artikel zu Neustadt an der Weinstraße, das zu dieser Zeit 53 890 Einwohner*innen zählte.1 Er enthielt auch eine kurze Abhandlung zur Geschichte. Vergleicht man diesen Artikel mit der aktuellen Version (zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen im Frühjahr 2021), stellt man fest, dass er sich nicht nennenswert verändert hat. Ein Eintrag zum „Pfälzer Erbfolgekrieg“ ging verloren, die 1

Art. Neustadt an der Weinstraße, Version 23.08.2004, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/ w/index.php?title=Neustadt_an_der_Weinstra%C3%9Fe&oldid=2263196, Aufruf zuletzt am 26.04.2021.

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Gründung der Bahnstrecke nach Ludwigshafen wird erwähnt, die Eingemeindung von Vororten findet nunmehr ebenfalls einen Platz.2 So endet die dargestellte Geschichte nicht mehr mit dem Hambacher Fest. Die hierbei wohl auffälligste Gemeinsamkeit der beiden Fassungen liegt darin, dass laut der aufgeführten „Zeittafel“ zwischen 1890 und 1970 augenscheinlich nichts Wesentliches passiert sei. Wo der ältere Artikel zumindest unter ehemaligen Ehrenbürger*innen Adolf Hitler und Josef Bürckel aufführte,3 verzichtet der neuere auf die Erwähnung des ehemaligen Gauleiters und handelt die nationalsozialistische Zeit in vier Zeilen ab. Natürlich speist sich Geschichtsbewusstsein nicht nur aus einem Artikel auf einer Open-Source-Plattform. Als wir, acht Lehramtsstudierende im Fach Geschichte, uns im Frühjahr 2020 dem Forschungsprojekt des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz zum Thema „Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus“ anschlossen, war uns die aus erinnerungskultureller Perspektive höchst spannende Eigenheit des genannten Lexikon-Artikels nur teilweise bewusst. Einiges, was wir im Rahmen der vorangegangenen geschichtsdidaktischen Übung „Planung und Reflexion von Geschichtsunterricht“ bei Dr. Caroline Klausing mit dem thematischen Schwerpunkt auf Neustadt im Nationalsozialismus im Wintersemester 2019/2020 erfahren hatten, ließ derartiges aber bereits vermuten und weckte unser Interesse. Nach längerer Planungsphase und einigen durch die Corona-Pandemie bedingten Hindernissen begannen wir im Sommer 2020 mit einer Reihe von Interviews mit ausgewählten Gruppen von Neustadter*innen. Diese liefen immer nach folgendem Schema ab: Zuerst sammelten wir durch einen Fragebogen Vorinformationen. Sie beinhalteten biografische Daten, die Gewichtung verschiedener historischer Ereignisse durch die Interviewpartner*innen und deren persönliche Verbindung zu Neustadt. Danach wurde ein Fragenpool erstellt, mit dessen Hilfe wir Interviews durchführten, die mit einer Kamera aufgezeichnet wurden. Die Befragungen dauerten zwischen 20 und 90 Minuten. Auf die Antworten aus den zuvor erstellten Fragebögen griffen wir in unseren Gesprächen zurück, um einen tieferen Einblick in die Sichtweise der*des Befragten zu erhalten und teils auch, um eine Diskussion zu beginnen. An einigen Stellen, an denen sich Interviewpartner*innen gegenseitig widersprachen, versuchten wir anzuknüpfen, um solche Themen möglichst von allen Seiten erfassen zu können. Ziel war es, einen kleinen Einblick in das Erinnern vor Ort zu gewinnen. Neustadt hat in 2 3

Art. Neustadt an der Weinstraße, Version 16.04.2021, in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/ w/index.php?title=Neustadt_an_der_Weinstra%C3%9Fe&oldid=210993889, Aufruf zuletzt am 27.04.2021. Die Version vom 16.04.2021 (wie Anm.  2) verweist auf einen eigenen Artikel zu den „Persönlichkeiten“ Neustadts, in dem auch die Ehrenbürger*innen erwähnt werden (Art. Liste von Persönlichkeiten der Stadt Neustadt an der Weinstraße, Version 24.04.2021, in: Wikipedia, https:// de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Pers%C3%B6nlichkeiten_der_Stadt_Neustadt_an_der_ Weinstra%C3%9Fe, Aufruf zuletzt am 26.04.2021).

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Anbetracht seiner unterschiedlichen Bedeutungen diesbezüglich viel zu bieten – als Urlaubsort, als Stätte des Hambacher Festes und „Wiege der deutschen Demokratie“, als Gauhauptstadt der NSDAP, Hauptstadt der „Deutschen Weinstraße“ und Hauptstadt des ersten „judenfreien“ Gaues, als wichtiger Verwaltungssitz nach 1945. Im Folgenden wollen wir von unseren Erfahrungen berichten, die wir beim Versuch gemacht haben, die Erinnerungskultur Neustadts zu durchdringen. Wir erheben dabei keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr wollen wir eine Gedankensammlung liefern: Wir alle waren zum ersten Mal an „historischer Feldforschung“ beteiligt und wollen an dieser Stelle vor allem unsere persönlichen Eindrücke schildern. II. Interviews mit Schüler*innen und Lehrer*innen Die ersten Interviews führten wir mit ausgewählten Schüler*innen. Nachdem wir bei einigen Neustadter Schulen (darunter das Leibniz-Gymnasium, das Käthe-KollwitzGymnasium, das Kurfürst-Ruprecht-Gymnasium, aber auch die Berufsbildende Schule Neustadt) diesbezüglich angefragt hatten, konnten wir Kontakt mit interessierten Lehrer*innen aufnehmen. Diese unterrichteten in verschiedenen Klassenstufen Geschichte; für die BBS allerdings war unser Ansprechpartner ein Religionslehrer. Die Lehrkräfte wiederum vermittelten den Kontakt zu ihren Schüler*innen. Die „Stichprobe“ von Neustadter Schüler*innen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren, mit denen wir die Interviews führen konnten, ist keinesfalls als repräsentativ zu betrachten. Mutmaßlich waren unsere Gesprächspartner*innen überdurchschnittlich an der Thematik interessiert. Auch die notwendige Bereitschaft, sich filmen zu lassen, wirkte vermutlich selektierend. Sichtlich interessiert zeigten sich dann sowohl die Lehrkräfte als auch ihre Schüler*innen während der Interviews. Gerade die Schüler*innen hinterließen bei uns den Eindruck, dass hier geschichtsbewusste Demokrat*innen heranwachsen. Das tatsächliche Wissen über die nationalsozialistische Geschichte Neustadts hingegen war bei den befragten Jugendlichen deutlich weniger ausgebildet als das Interesse. Auffällig war dabei, dass das vorhandene Wissen nach Einschätzung der allermeisten Schüler*innen weder aus den eigenen Familien noch aus dem eigentlichen Schulunterricht herrührte. Ohne ihr außerschulisches Engagement, beispielsweise politisches Wirken im Rahmen der Fridays For Future-Bewegung, die Ausbildung zum Junior Memory Guide4 oder auch einzelne Projekte seitens ihrer Lehrkräfte, so vermuteten die Schüler*innen uns gegenüber, wären ihre Kenntnisse noch geringer. Zu beachten ist hierbei, dass ein Teil der Jugendlichen noch zu jung war, um den Nationalsozialismus im Geschichts4

Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Programm der Stadt Neustadt, das Schüler*innen zu Stadtführer*innen ausbildet, sodass diese Gleichaltrigen die Geschichte der Stadt näherbringen können.

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unterricht fundiert behandelt zu haben. Ebenso ist in Rechnung zu stellen, dass Lokalgeschichte im Lehrplan des Landes Rheinland-Pfalz eher als Kür denn als Pflicht behandelt wird. Auch das Fehlen von entsprechendem Unterrichtsmaterial wurde kritisch angemerkt – ein Problem, das durch die Ausstellung „Neustadt im NS“ und das dazugehörige Schulgeschichtsbuch, die beide frei im Internet zugänglich sind,5 gerade erst angegangen wurde. III. Interviews mit Mitgliedern des Stadtrates Einige von uns führten Interviews mit Lokalpolitiker*innen von CDU, FDP, FWG und mit einem Parteilosen. Verschiedene Stadtratsmitglieder fanden Platz vor unserer Kamera. Dort äußerten sie sich einigermaßen uniform: Es werde ausreichend getan, die vorhandene Arbeit sei vorbildhaft, und deswegen sei Weiteres nicht notwendig. Dies zeigte sich mehrfach beim Ansprechen der Debatte um den Grabstein des ehemaligen Gauleiters Josef Bürckel.6 Hier wurde uns nachdrücklich mitgeteilt, die Diskussion darüber sei abgeschlossen. Es schien, als hätten wir damit einen Nerv getroffen. Die Stimmung war nicht grundsätzlich, aber manchmal angespannt und die Interviewpartner*innen nicht immer dazu bereit, ihr Wissen und ihre Gedanken in Gänze darzulegen. Die Aussagen der Politiker*innen wirkten sehr vorbereitet. Entsprechend kamen kritische Nachfragen unserem Gefühl nach bisweilen einem persönlichen Angriff gleich; ab diesem Zeitpunkt veränderte sich die Atmosphäre in den Gesprächen. Wo die vorbereiteten Antworten nicht ausreichten, wurde die Situation schwieriger und das Bedürfnis, weiter darüber zu reden, sank. Unsicherheit unsererseits spielte hierbei eine Rolle. Diese gründete auf zwei Faktoren: Zum einen war unser Wissen um die erinnerungskulturellen Debatten Neustadts unzureichend. Zum anderen schlich sich ein anderer Aspekt ein: der der Machtposition. Die Interviews wurden teilweise von einer Studentin geführt, die sich in verschiedener Weise nicht ernstgenommen fühlte. Vor allem in Zusammenhang mit Kommentaren wie „Geschichte ist ein Hobby und kein Beruf “ kamen Zweifel am Selbst und am erarbeiteten Wissen auf. An dieser Stelle sei allerdings explizit herausgestellt, dass nicht jedes Interview diese Atmosphäre auf-

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Die Ausstellung findet sich unter: Ausstellung. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt, https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/ausstellung/startseite, Aufruf zuletzt am 17.08.2021. Das Geschichtsbuch unter: Geschichtsbuch. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt?, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt, https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/publikation/einf %C3%BChrung-in-das-geschichtsbuch, Aufruf zuletzt am 17.08.2021. S. hierzu Tobias Hirschmüller, Art. Bürckel-Grabmal, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadt-undnationalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/b%C3%BCrckel-grabmal, Aufruf zuletzt am 17.08.2021.

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wies. Einige gestalteten sich sehr angenehm und brachten zugleich einigen Erkenntnisfortschritt mit sich. IV. Interviews auf dem Weincampus Die Idee, junge Nachwuchswinzer*innen zu ihrem Wissen zu Bürckel, immerhin Weinstraßenbegründer7, zu befragen, führte uns zum Weincampus, einem gemeinsamen Campus mehrerer Hochschulen von Rheinland-Pfalz mit Angeboten zum dualen Studium von Weinbau und Önologie. Nach einiger Planung wandten wir uns deshalb an einen Professor, der uns seine Studierenden vermittelte. Wir hatten dabei allerdings nach den ersten E-Mails das Gefühl, dass uns und unserer Arbeit skeptisch begegnet wurde. In jedem Fall war der Start dieser Interviewreihe schwierig. Als wir jedoch vor Ort waren und die Interviews führten, zerstreuten sich viele unserer Bedenken. Die Kenntnisse einiger Studierender über Bürckel waren durchaus tiefgehend, auch wenn die vorherige Selbstattestierung Gegenteiliges behauptet hatte. Interessante Einschätzungen und Bewertungen brachten uns so im Anschluss zum Nachdenken. Folgender Satz könnte die Einstellung der Studierenden zusammenfassen: „Ich weiß, dass das Weinlesefest, Weinstraße und Co. auf Bürckel und die Nazis zurückgehen, aber für mich sind sie heutzutage ein Ausdruck der Diversität und Begegnung.“ Trotz allem beschlich uns das Gefühl, dass wir in den Interviews etwas falsch gemacht haben. Wegen des Umschwungs von einem schweren Start zu einer fast entspannten Atmosphäre während der Interviews hatten wir vergessen, an den richtigen Stellen nachzuhaken. Dies hatte zur Folge, dass wir Meinungen mehr Bühne geboten haben, statt diese differenziert und kriteriengeleitet zu erfragen. Im Gegensatz zu den Studierenden betonte ihr Professor stärker die „negativen“ Seiten des Erinnerns. Dieses sei an Angebot und Nachfrage gekoppelt und eine potentielle Belastung für das Kulturgut Tourismus. Das erscheint uns in hohem Maße fragwürdig: Leidet in anderen deutschen Städten der Tourismus an lokalen NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorten? Sollte die „Wiege der deutschen Demokratie“ nicht auch für ein angemessenes Erinnern und Gedenken an jene Zeiten einstehen, in denen die Demokratie zerschlagen wurde? Warum nur kleine Plaketten und anekdotenhafte Erinnerungen in das Stadtbild passen und wie dies mit dem Neustadter Image von der „vorbildhaften“ Erinnerungskultur vereinbar ist – diese Fragen hätten zur nuancierten Darstellung gehört und wir haben es versäumt, sie zu stellen.

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S. hierzu auch Christof Krieger, Die Taufe des „Rassereinen“ Rebensaftes und die verlorene Unschuld der „Deutschen Weinkönigin“. Das Neustadter Weinlesefest als Kristallisationsort nationalsozialistischer Volksgemeinschaft, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020, 449–471.

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Schon bei der Ankunft auf dem Weincampus waren wir über einen augenscheinlich alten Gedenkstein am Haupteingang der jungen Hochschule gestolpert. Das Monument erinnert an die „Gefallenen u. Vermissten von 1939/1945, deren […] Opfer […] uns unvergessen sein“ soll und die „in fremder Erde“ ihren Frieden fanden. Diese Tendenz zur Widersprüchlichkeit wurde uns erst im Nachgang bewusst, obwohl sie allgegenwärtig war. V. Interviews mit Engagierten in der lokalen Erinnerungskultur Mit dem Ziel, mehr über die Erinnerungskultur Neustadts zu erfahren, wandten wir uns an jene Menschen, die an der geschichtskulturellen Aufarbeitung beteiligt waren bzw. sind. Wir erfuhren von unzureichender Aufklärung, fehlendem Interesse, aber auch von dem Nicht-Zeigen-Wollen von Ereignissen durch bestimmte Personen. Sämtliche unserer Interviewpartner*innen beschrieben den Aufarbeitungsprozess als mühsam und unzureichend. Die Stadt wirbt mit der „Deutschen Weinstraße“, mit einem pfälzischen Lebensgefühl in Form von „Wein, Weib und Gesang“, einer repräsentativen Altstadt und selbstverständlich dem schon erwähnten Hambacher Fest. Die Erinnerung an die NS-Zeit scheint diese Marketing-Strategie nur zu stören. Unsere Gesprächspartner*innen stellten heraus, dass ihnen Erinnerungstafeln und allgemeine Hinweise auf diese Zeit immer noch fehlen bzw. die schon existierenden einfach nicht genügen. Anzuführen sind hierbei der unkommentierte Grabstein Bürckels, der einerseits als Mahnmal dienen soll, andererseits aber mit keinerlei Hinweistafel versehen ist,8 oder das Fehlen von erläuternden Informationen im Stadionbad, das immer wieder als Bühne für Partei- und Propagandaveranstaltungen der NSDAP diente.9 Gebäude aus dieser Zeit stehen laut Aussagen der Befragten heute meist kommentarlos und würden zum Kauf angeboten: Beispielhaft sei hier die Hexelvilla zu nennen, bei der der Makler nicht darüber Bescheid gewusst habe, dass diese einst Bürckel gehörte. Auch mit der Geschichte der Gestapo-Häftlingszellen im Keller des heutigen Neustadter Finanzamts seien nur die wenigsten vertraut.10 Selbst die im ehemaligen 8

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Für einen Überblick über diese Debatte s. Hirschmüller, Bürckel-Grabmal (wie Anm. 6). „Die fortwährende Existenz eines für einen hohen NS-Funktionär geschaffenen Denkmals, das bis heute nicht als Mahnmal gekennzeichnet ist, sorgt in Neustadt […] für Protest in der Tagespresse, es kam auch zu Farbattacken […]. Der Landesbeirat für Denkmalpflege Rheinland-Pfalz ist um den Erhalt und eine öffentliche Debatte bemüht.“ (Ebd.) Katharina Kaiser, Art. Stadion im Schöntal, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadt-und-natio nalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/stadion-im-sch%C3%B6ntal, Aufruf zuletzt am 17.08.2021. Zur Bedeutung des Gestapo-Hauptquartiers für die Pfalz und den dortigen ehemaligen Häftlingszellen: Dominic Potts / Markus Raasch, Art. Gestapo, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadtund-nationalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/gestapo, Aufruf zuletzt am 17.08.2021; Gedenkstät-

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KZ in Neustadt befindliche Gedenkstätte11, aber auch andere Orte der Erinnerung wie das Straßenschild nach Gurs, dem Ort in Südfrankreich, an den die jüdischen Pfälzer*innen zunächst deportiert wurden, würden von einem Großteil gar nicht besucht oder wahrgenommen. Ein Teil von uns versuchte, die Stadt aus eigenem Antrieb zu erkunden und konnte kaum Hinweise an diese Zeit erkennen. Währenddessen hatten andere von uns die Möglichkeit, im Rahmen des Junior Memory Guides auf ebendiese Gedenkorte hingewiesen zu werden. Es entstand der Eindruck, dass man unter Anleitung durch die Stadt gehen müsse. Insgesamt scheint der Diskurs um die Erinnerungskultur in Sachen Nationalsozialismus vor allem in bestimmten Kreisen von Historiker*innen, Politiker*innen und stark interessierten Personen stattzufinden. Unsere Interviewpartner*innen zeichneten das Bild, dass die breite Öffentlichkeit von den Geschehnissen wenig bis gar nichts wisse. Vielleicht zeigt sich dieses Nichtwissen auch im Umgang der Neustadter mit der Karl-Peters- und der Karl-Helfferich-Straße. Beide Straßen wurden 1933 nach Menschen benannt, die den lokalen Nationalsozialist*innen als Vorgänger ihrer Ideen galten. Die eine wurde dem Kolonialverbrecher, Mitbegründer und Ehrenmitglied des „Alldeutschen Verbandes“ Carl Peters gewidmet, der aufgrund seines schon damals als barbarisch wahrgenommen Handelns in Deutsch-Ostafrika 1897 sein Amt als Reichskommissar verlor und im „Dritten Reich“ große Anerkennung genoss12 . Die andere trägt den Namen des gebürtigen Neustadters Karl Helfferich, der unter anderem bekennender Antisemit war und die „Dolchstoßlegende“ verbreitete. Die erstgenannte wurde dem Rechtswissenschaftler Karl Peters (mit K!) umgewidmet, zweitere trägt ihren Namen bis heute.13 Dass die erinnerungs-

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te für NS-Opfer in Neustadt, Gestapo, http://www.gedenkstaette-neustadt.de/neustadt-1933-1945/ amter-behorden-partei/gestapo/, Aufruf zuletzt am 17.08.2021; Walter Rummel, Das Zentrum des Schreckens. Zur Tätigkeit der Geheimen Staatspolizeistelle Neustadt in der Pfalz 1937–1945, in: Pia Nordblom / Walter Rummel / Barbara Schuttpelz (Hrsg.), Josef Bürckel. Nationalsozialistische Herrschaft und Gefolgschaft in der Pfalz. (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 30.) Kaiserslautern 2019, 85–112, hier 90. Der Internet-Auftritt der Gedenkstätte ist zu finden unter: http://www.gedenkstaette-neustadt. de/. Für weitere Information zum frühen Konzentrationslager in Neustadt s. Miriam Breß, Art. Das (frühe) Konzentrationslager Neustadt, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Lexikon, https://neustadt-und-natio nalsozialismus.uni-mainz.de/lexikon/konzentrationslager-neustadt, Aufruf zuletzt am 17.08.2021. Vgl. Karin Bruns, Art. Peters, Karl, in: NDB 20 (2001), 239–240, https://www.deutsche-biogra phie.de/gnd118790536.html#ndbcontent, Aufruf zuletzt am 17.08.2021. Wie wir der „Rheinpfalz“ vom 25. September 2019 entnehmen konnten, beschloss am 24. September der Neustadter Stadtrat im Zusammenhang mit einer, durch einen gemeinsamen Antrag der Linken und der SPD wieder entfachten Debatte um die Helfferich-Straße, anstelle einer sofortigen Umbenennung, alle Straßennamen in Neustadt einer Überprüfung zu unterziehen. Auch sollte eine auswärtige Expertin hinzugezogen werden. (Wolfgang Kreilinger, Disput um Karl-Helfferich-Straße, in: Die Rheinpfalz [Online-Ausgabe], 25.09.2019, https://www.rheinpfalz.de/lokal/ neustadt_artikel,-neustadt-disput-um-karl-helfferich-stra%C3%9Fe-_arid,1520263.html?reduced =true, Aufruf zuletzt am 24.08.2021.) Der „Rheinpfalz“ vom 21. März 2021 zufolge hat diese Expertin ihre Arbeit mittlerweile aufgenommen (Ali Reza Houshami, Straßennamen werden wissenschaftlich

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politische Auseinandersetzung um Bürckel und die NS-Zeit sich nicht nur auf seinen Grabstein und das (frühe) Konzentrationslager erstreckt, sondern beispielsweise auch diese beiden Straßennamen umfasst, ist uns erst durch die Experten*innen-Interviews bewusst geworden. Auch wenn wir dies aufgrund von Zeitungsberichten über vergleichbare Städte und Dörfer ahnen konnten, waren wir erstaunt und auch ein wenig überfordert. Plötzlich gab es so viele neue Stellen, an denen sich Recherche und weiteres Nachfragen gelohnt hätte, wofür die enge Taktung der Interviews fast keine Zeit ließ. Aber nicht nur neue, interessante Fragen und Baustellen der Erinnerungskultur wurden durch diese Gespräche aufgezeigt. Auch über Bürckel selbst, seine Rolle einerseits für die Pfalz, andererseits für die gesamte NSDAP erfuhren wir viel, das weitergehende Recherchen verlangt hätte. VI. Fazit Insgesamt glich das Projekt einer Berg- und Talfahrt. Einerseits war es für uns eine Bereicherung in vielerlei Hinsicht: das Vorbereiten und Führen von Interviews, die Auseinandersetzung mit einer uns bisher fast unbekannten Thematik, aber auch die Zusammenarbeit untereinander. Andererseits traten aufgrund der Coronapandemie immer wieder Probleme auf und nicht jede gemachte Erfahrung war schön. Insbesondere, dass das von etlichen Interviewpartner*innen entworfene Bild Neustadts nicht wirklich mit der Realität kongruierte, hinterließ einen tiefen Eindruck bei uns. Unsere Erfahrungen in Neustadt basieren auf einer engen und speziellen Auswahl von Menschen und sind in keinem Fall repräsentativ. Dennoch möchten wir den Rat geben, dass jede*r, welche*r sich auf eine ähnliche Reise begibt, sich nicht von Wein und Stimmung ablenken lässt. Neustadt hat viele Facetten. Einiges, was wir erlebten und hörten, ging uns nah und sorgte unter uns immer wieder für Gesprächsstoff. Selbstverständlich hatten wir erhellende Momente, natürlich haben wir das Gefühl, einige gegenwartsgebundene Gedanken von interessanten Menschen eingefangen und aufbereitet zu haben. Unser Eindruck war, dass sich ein bestimmter Personenkreis für ein weitgehendes Ignorieren der Neustadter NS-Geschichte einsetzt und stattdessen die Geschichte Neustadts an der Haardt, Stadt des Hambacher Schlosses, der „Wiege der deutschen Demokratie“ und der guten Laune, großschreiben möchte. Dabei wird allerdings die Zeit der totalitären Diktatur in Neustadt vernachlässigt. Trotzdem oder gerade deswegen würden wir interessierten Personen ein ähnliches Projekt jederzeit ans Herz legen. Die Erfahrungen, die wir über historisches Arbeiten und Interviewführung gesammelt haben, hätte keine Vorlesung so präzise vermitteln untersucht, in: Die Rheinpfalz [Online-Ausgabe], 21.03.2021, https://www.rheinpfalz.de/lokal/ neustadt_artikel,-stra%C3%9Fennamen-werden-wissenschaftlich-untersucht-_arid,5182582. html?reduced=true, Aufruf zuletzt am 24.08.2021).

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können. Hautnah zu erleben, welche Emotionen und Gedanken dieses Thema auslöst, hat uns die Bedeutung unserer Arbeit und unseres Studiums eindrücklich verdeutlicht. Das große Problem unseres Projektes war, dass uns lokales und tiefgreifendes Wissen zur Thematik zu Beginn fehlte, und wir dies erst erwarben, als sich die Interviewreihe dem Ende näherte. Viele Hinweise halfen uns daher, beobachtete Phänomene besser und überhaupt einordnen zu können. Zudem hatten wir das Gefühl, einige durch ein „einfaches“ Gespräch auf die besondere Relevanz des Themas „Neustadt im Nationalsozialismus“ gestoßen zu haben. Wenn auch nur die eine oder andere Person sich Kenntnisse, Fragen, Anregungen oder Gesprächsstoff aus unseren Interviews mitnehmen kann, wenn jemand die Defizite des Wikipedia-Artikels über Neustadt erkennt, haben sich unsere Mühen mehr als gelohnt. Denn je mehr darüber geredet und diskutiert wird, desto größer der Beitrag zur Stärkung unserer freiheitlichen Gesellschaft. Dass unsere Arbeit nicht „sinnlos“ war, wurde uns auch durch die Verwendung einiger Zitate aus unseren Videos in der zugehörigen Digital-Ausstellung und dem ebenfalls digitalen Schulbuch augenscheinlich.14 Eine Ergänzung der Aufarbeitung mit Hilfe von digitalen Medien wurde von allen Seiten begrüßt, allerdings wurde auch intensiv diskutiert, inwiefern dies die menschliche Begegnung mit Zeitzeug*innen, Pädagog*innen und Historiker*innen an Gedenkorten und Museen ersetzen kann. Stolpersteine mit QR-Codes zum Scannen, die Präsentation der Gedenkstätten oder einzelner Schicksale könnten dazu beitragen, die gesamte Thematik für die breite Masse der Gesellschaft interessanter zu machen. Es sind mithin persönliche Geschichten, die helfen, Menschen zu „öffnen“ und zugänglich für Geschichte zu machen. Daher war es Wunsch aller, die Lokalgeschichte verstärkt in der Schule zu behandeln und mehr in der Öffentlichkeit das Gespräch zu suchen. Denn letztlich sind es Geduld, Mühe und Gespräche, die zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erforderlich sind. Nina Fellbrich, B. Ed., nahm zum Wintersemester 2019/2020 ein trinationales Geschichts- und Französischstudium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf. Sie studierte ein Jahr in Mainz, wechselte dann für ein Jahr an die Université de Bourgogne in Dijon und ist zurzeit an der Université de Sherbrooke eingeschrieben. Sie verfasst eine Bachelorarbeit zur Erinnerungskultur in Kanada. Deniz Hacisalihoglu nahm zum Wintersemester 2017/18 ein B. Ed.-Studium in den Fächern Geschichte und Mathematik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf. 2018/19 wechselte er zu der Kombination Geschichte/Deutsch, die 2021 durch die Zusatzqualifikation Informatik erweitert wurde.

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Diese Zitate sind einsehbar unter: Ausstellung. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Raum 5 Und heute?, in: mPublish Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt, https://neustadt-und-nationalsozialismus.uni-mainz.de/ausstellung/ raum-3, Aufruf zuletzt am 17.08.2021.

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Jens Hatzfeld studiert seit dem Wintersemester 2018/2019 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Geschichte und Englisch im B. Ed.-Studiengang. Im Wintersemester 2020/2021 nahm er zusätzlich ein Erweiterungsstudium im Fach Latein auf. Philip Kitschke studiert seit dem Wintersemester 2017/18 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Deutsch und Geschichte im B. Ed.-Studiengang. Michael Klein, B. Ed., nahm zum Sommersemester 2021 ein Masterstudium der Sozialkunde und Geschichte mit Chemie im Zertifikatsstudiengang an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf. Das B. Ed.-Studium begann er im Wintersemester 2015/2016 mit Geschichte und Chemie an selbiger Universität und wechselte auf die oben genannte Studienkombination im Wintersemester 2019/20. Das Bachelorstudium schloss er mit einer Bachelorarbeit im Fach Soziologie zum Thema „Reproduktion sozialer Ungleichheit im deutschen Bildungssystem unter besonderer Berücksichtigung des zweiten Bildungsweges“ ab. Neben seinem Studium arbeitet er u. a. in der Museumspädagogik. Dominik Matysiak, B. Ed., nahm zum Wintersemester 2017/18 ein Studium der Chemie und Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz auf. Im zweiten Universitätssemester wechselte er zum B. Ed.-Studium der Geschichte und der Ev. Theologie, das er voraussichtlich zum Ende des Wintersemesters 2021/2022 abschließen wird. Während seines Bachelorstudiums absolvierte er die „Zusatzqualifikation inklusive Schule“ im Rahmen des Programms der Rhein-Main Universitäten. Seit dem Sommersemester 2021 ist er zusätzlich im M. Ed.-Studium der Geschichte und Ev. Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität eingeschrieben. Derzeit verfasst er eine Bachelorarbeit in der Ev. Theologie zum Vergleich der Abendmahlstheorien Ulrich Zwinglis und Martin Luthers bis zum Marburger Religionsgespräch 1529. Johanna Florentine Meier, B. Ed., nahm zum Wintersemester 2016/17 ein Studium der Germanistik und katholischen Theologie an der Johannes Gutenberg-Universität auf. Im dritten Universitätssemester wechselte sie zum B. Ed.-Studium der Germanistik und der Geschichte. Im Sommersemester 2020 schloss sie ihr Bachelorstudium mit einer Arbeit im Fach Bildungswissenschaften über den Einsatz von Lernvideos im Schulunterricht ab. Seit dem Wintersemester 2020/2021 ist sie im Masterstudium eingeschrieben. Naemi-Lea Walter, studierte vom Sommersemester 2018 bis zum Wintersemester 2020/21 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Philosophie und Geschichte im B. Ed.-Studiengang. Im Sommersemester 2021 wechselte sie zu Philosophie und Geschichte im B. A.-Studiengang.

Demokratie und Nationalstaat Das Hambacher Problem Eckart Conze Die Geschichte von Nation und Nationalstaat in Deutschland bestimmen von Anfang an – das Hambacher Fest macht dies deutlich – markante Ambivalenzen Der nationale Gedanke war einerseits untrennbar mit dem Ruf nach Freiheit, Selbstbestimmung und Abschaffung illegitimer Herrschaft verbunden Andererseits beförderte er auch Autoritarismus und ein Denken in Feindbildern – nach außen wie nach innen Das Verhältnis von Nation und Demokratie war – und ist – spannungsreich und widersprüchlich So schritt etwa im Kaiserreich einerseits eine gesellschaftliche Demokratisierung voran, während diese zugleich andererseits durch einen politisch-institutionellen Autoritarismus und Illiberalismus konterkariert wurde Ohne das Verständnis dieser Janusköpfigkeit der Geschichte von Nation und Nationalstaat lässt sich weder der Aufstieg des Nationalsozialismus verstehen noch die Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus und Neonationalismus in der Gegenwart führen I. Einführung In Deutschland wird über Geschichte gestritten wie schon lange nicht mehr.1 Kontroverse Debatten beschäftigen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Historiker, aber nicht nur sie, streiten über das Kaiserreich; sie streiten über den Beginn des Ersten Weltkriegs und die deutsche Verantwortung für den Kriegsbeginn 1914; sie streiten über den Anteil der Hohenzollern am Aufstieg, an der Machtübernahme und der Machtstabilisierung des Nationalsozialismus; und sie streiten über die Frage, ob in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Weg in den Nationalsozialismus und damit in den Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust bereits angelegt war; sie streiten über das Verhältnis von Kolonialismus und Nationalsozialismus. Zuletzt 1

Dieser Beitrag greift Überlegungen und Argumente auf, die ich in meinem Buch „Schatten des Kaiserreiches. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“. München 2020, ausführlicher entfaltet habe.

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wurde in den 1980er Jahren in dieser Intensität über die nationale Geschichte debattiert. Von einer Rückkehr zur Geschichte war damals die Rede und von der Suche nach nationaler Identität. Geschichtspolitische Großprojekte, insbesondere das Deutsche Historische Museum, befeuerten die Auseinandersetzung, die 1986 im Historikerstreit kulminierte. Im Kern ging es damals um den Ort von Nationalsozialismus und Holocaust in der deutschen Geschichte. Mehr als eine Generation später stellen sich diese Fragen erneut. Sie stellen sich in einem Deutschland, das seit 1990 wieder ein Nationalstaat ist. Sie stellen sich in einer Zeit, die – nicht nur hierzulande – gekennzeichnet ist durch starke Dynamiken einer Renationalisierung, durch einen Neonationalismus, der sich in Deutschland im Aufstieg der Af D und ihres Rechtspopulismus mit seinen fließenden Übergängen zum Rechtsradikalismus artikuliert. Zu dieser Renationalisierung gehören immer häufiger auch affirmative Bekenntnisse zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und zu einer nationalen, ja nationalstaatlichen Kontinuität – als sei mit der deutschen Vereinigung, die politisch, rechtlich und historisch alles andere war als eine Wieder-Vereinigung, das 1945 untergegangene Deutsche Reich, der Nationalstaat von 1871, wieder erstanden. Als einen „Vogelschiss“ in tausend Jahren deutscher Geschichte bezeichnete der damalige Sprecher der Af D Alexander Gauland 2018 die Zeit des Nationalsozialismus. Die Vorstellung einer „ruhmreichen Geschichte“ (Gauland), die das neonationalistische Geschichtsbild beherrscht, spiegelt sich auch in denjenigen Stimmen, die dafür plädieren, mit einem „weniger miesepetrigen Blick“ auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zurückzuschauen. Eine „erinnerungspolitische Kehrtwende“ fordert schließlich der rechtsextreme Af D-Politiker Björn Höcke, und zur Rede vom deutschen „Schuldkult“ ist es von dort nicht mehr weit. Rechtspopulismus und Neonationalismus speisen sich aus jenen Krisenwahrnehmungen und Verunsicherungen, die seit einigen Jahren Politik und Gesellschaft in Deutschland beherrschen. Wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen tragen ebenso dazu bei wie die revolutionären Veränderungen von Medien und Kommunikation, die Dynamiken der Migration, der Klimawandel und zuletzt auch die Pandemie. Zuletzt kam noch der Krieg in Osteuropa hinzu. Der Optimismus der Jahre nach 1990 ist verflogen. Aus Unübersichtlichkeit und einer unsicheren Zukunft erwächst die Suche nach Halt, Orientierung und Identität. Ob sie der Nationalstaat und die nationale Geschichte bieten können, darüber wird kontrovers diskutiert. Nicht zuletzt daraus entstand auch die neue Debatte über das Kaiserreich. Das Reich von 1871 wird deshalb auch nicht als eine historisch abgeschlossene Epoche diskutiert, sondern mehr als ein Jahrhundert nach seinem Ende als Vorgeschichte der Gegenwart, als eine Geschichte, die noch immer – oder wieder neu – in die Gegenwart hineinragt. Es geht um den langen Schatten des Kaiserreichs. Zur neuen Gegenwart der Geschichte gehören aber nicht nur die Bestrebungen, die deutsche Vergangenheit zu verklären und ihre problematischen Aspekte bis hin zum Zivilisationsbruch des Holocaust zu relativieren. Zur Vergegenwärtigung der Ge-

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schichte gehören vielmehr gerade in einer Zeit der Verunsicherung und angesichts von Angriffen auf die freiheitliche Demokratie der Bundesrepublik, auf Parlamentarismus und Pluralismus, auch jene Bestrebungen, positive Traditionslinien zu identifizieren, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart führen. Vor diesem Hintergrund hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seit seinem Amtsantritt 2017 eine ganze Reihe von Reden dem Thema Demokratiegeschichte gewidmet und auf demokratische Traditionen seit dem 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht. An das Hambacher Fest 1832 hat er dabei ebenso erinnert wie an die Revolution von 1848. Aus der Frankfurter Paulskirche, wo 1848/49 die erste deutsche Nationalversammlung tagte, das erste nationale Parlament, sollte, so Steinmeier, eine Erinnerungsstätte des deutschen Parlamentarismus werden. Im Schloss Bellevue, dem Berliner Amtssitz des Staatsoberhaupts, erinnert seit 2020 ein Saal an den Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum, der für seine demokratischen Überzeugungen mit dem Leben bezahlen musste. Im November 2018 sprach der Präsident im Bundestag, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, wo der SPD-Politiker Philipp Scheidemann 1918 die Republik ausgerufen hatte, über die Revolution von 1918 und den Beginn der Weimarer Demokratie. Diese dürfe man nicht nur von ihrem Ende, nicht nur von 1933 her beurteilen. Und jüngst hat Steinmeier unter dem Titel „Wegbereiter der Demokratie“ ein Buch herausgegeben, in dem 30 Männer und Frauen, die sich in Deutschland zwischen 1789 und 1918 für Freiheit und Demokratie einsetzten, gewürdigt werden. Zwar bilde, so Steinmeier, nach Vernichtungskrieg und Holocaust das „Nie wieder“ den Kern der deutschen Erinnerungskultur. Aber die Entwicklung einer stabilen freiheitlichen Demokratie in Deutschland nach 1945 erkläre sich nicht nur ex negativo. Deutschland habe nach dem Zivilisationsbruch zur Demokratie zurückgefunden, es habe an demokratiegeschichtliche Traditionen angeschlossen, die aber im deutschen Demokratiegedächtnis kaum verankert seien. II. Nationalgeschichte als Demokratiegeschichte Die deutsche Nationalgeschichte seit dem 19.  Jahrhundert ist auch Demokratiegeschichte. Sie ist die Geschichte der mühsamen, schwierigen, immer wieder von Rückschlägen und Misserfolgen gekennzeichneten Durchsetzung der Demokratie nicht nur als politisches System und institutionelle Ordnung, sondern auch als gesellschaftliche und kulturelle Leitvorstellung. Vorstellungen wiederum von Demokratie verändern sich im Laufe der Zeit, ja sie sind permanentem Wandel unterworfen. Demokraten des 19. Jahrhunderts erstrebten nicht die Demokratie der Gegenwart, vielmehr entwickelten sich ihre demokratischen Überzeugungen in ihrer Zeit und für ihre Zeit. Das sollte uns heute davon abhalten, frühere Demokraten, ihre Zielsetzungen und Überzeugungen an den Maßstäben unserer Gegenwart zu messen. Messen müssen wir sie an den Maßstäben und Möglichkeiten ihrer Zeit. Alles andere wäre ahistorisch. Verbunden

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freilich bleiben heutige und frühere Vorstellungen von Demokratie durch bestimmte Grundprinzipien: die Idee der Volkssouveränität, vor allem aber die Überzeugung von der Würde des Menschen, aus der sich letztlich all jene Menschen- und Bürgerrechte ableiten, die für freiheitliche Demokratien bis heute konstitutiv sind. In der europäischen Geschichte entwickelte sich die Demokratie seit dem späten 18. Jahrhundert in enger Verbindung mit der Idee der Nation. Das Verhältnis von Demokratie und Nation war – und ist – spannungsreich und widersprüchlich. Die Idee der Nation trieb einerseits die Demokratisierung voran, diente jedoch andererseits der Rechtfertigung von Autoritarismus und Illiberalität, von Krieg und Gewalt. Wer sich gerade auch mit Blick auf die deutsche Geschichte mit dem Verhältnis von Demokratie und Nation beschäftigt, kommt an diesen Widersprüchen, Spannungen und Ambivalenzen nicht vorbei. So wirkte die Idee der Nation im 19. Jahrhundert demokratisierend und egalisierend. Als primärer politischer, sozialer und kultureller Zugehörigkeitsraum ersetzte die Nation zunehmend ältere Zugehörigkeitsvorstellungen, nicht zuletzt ständischer Natur, die auf dem Prinzip der Ungleichheit basierten. Aber zu diesem demokratischen und egalitären Nationsverständnis traten von Anfang an Dynamiken der Ausgrenzung, der Exklusion derjenigen, die nicht zur Nation gehören sollten, sowie der Imperativ der politischen, kulturellen und nicht zuletzt ethnischen Homogenisierung. Das war eng verbunden mit der nationalisierenden Wirkung von Feindbildern im internationalen Kontext, jenseits der nationalen Gesellschaft. Exemplarisch dafür ist die deutsch-französische Feindschaft, die auf beiden Seiten des Rheins seit dem 19. Jahrhundert und weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht nur zum nationalen Selbstverständnis gehörte, sondern in Deutschland und Frankreich auf Nationalisierung und Nationalismus einwirkte. Vom „Vaterland der Feinde“ hat der Historiker Michael Jeismann gesprochen. Für die Entstehung und die frühe Entwicklung der deutschen Nationalbewegung war der Gegensatz zu Frankreich konstitutiv. Die Idee der Nation politisierte sich in Deutschland – anders als im revolutionären Frankreich – nicht als Vorstellung einer Gemeinschaft freier und gleicher Individuen, sondern in der Auseinandersetzung mit Frankreich, durch die Erfahrung der napoleonischen Kriege und der französischen Herrschaft. Zwar wurde neben der Idee der Nation und Begriffen wie „Volk“, „Vaterland“ oder „Einheit“ auch „Freiheit“ zu einer häufig gebrauchten politischen Vokabel. Doch in Deutschland meinte „Freiheit“ in den Jahren seit 1800 insbesondere die Befreiung von Fremdherrschaft und Unterdrückung, nicht innenpolitische Liberalisierung durch Verfassungen und politische Mitsprache. Erst nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft und der Neuordnung Deutschlands und Europas auf dem Wiener Kongress und unter den Bedingungen des repressiven „Systems Metternich“ gewannen liberale Forderungen in der deutschen Nationalbewegung an Gewicht. Freiheit als Nation und Freiheit in der Nation, das gehörte nun immer stärker zusammen. Dieser doppelte Imperativ bestimmte auch das Hambacher Fest von 1832, das mit seinen Forderungen nach Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit, mit seinen Rufen nach

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Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung einen wichtigen Platz in der deutschen Demokratiegeschichte einnimmt. Die schwarz-rot-goldenen Fahnen von Hambach standen für Freiheit und Demokratie in einem nationalen Staat. Aber die Ambivalenz der nationalen Idee trat auch in Hambach zutage. Manche Redner artikulierten nationale Macht- und Superioritätsansprüche, andere forderten die Abgrenzung von allem „Undeutschen“, so wie schon 1817 die Burschen und Turner auf der Wartburg aus ihrem Hass auf Frankreich kein Hehl gemacht und auch der jüdischen Bevölkerung das Recht abgesprochen hatten, Teil der nationalen deutschen Gemeinschaft zu sein. Bis weit ins 20.  Jahrhundert hinein hat die Geschichtsschreibung das Bild eines zunächst friedliebenden, von Gleichberechtigung, Völkerverständigung und transnationaler Solidarität geprägten deutschen Nationalismus gezeichnet, der erst später, nach der Gründung des Kaiserreichs, machtstaatlich und aggressiv geworden sei. Das entsprang, gerade nach 1945, auch dem Versuch, die deutsche Nationalbewegung und das nationale Denken des frühen 19. Jahrhunderts mit ihren liberalen und demokratischen Zügen zu trennen von den späteren Entwicklungen des Nationalismus und seiner Rolle für die Entfesselung von Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert. Aber das ist nicht richtig. Denn von Anfang an wohnten dem nationalen Gedanken – nicht nur in Deutschland – auch illiberale und undemokratische Potentiale inne, Vorstellungen von Überlegenheit, von Abgrenzung und Ausgrenzung. Zutreffender ist es daher von einer Janusköpfigkeit des Nationalismus auszugehen. Und das gilt nicht nur im Hinblick auf die internationale Ordnung. Es gilt auch für die Idee der Nation als politische Gemeinschaft und soziale Ordnung, der zwar einerseits ein auf den Einzelnen bezogenes Freiheits- und Gleichheitsversprechen innewohnte und damit ein enormes demokratisches Potential, für die aber andererseits auch Vorstellungen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Andersartigkeit und Ungleichheit konstitutiv waren, ganz gleich ob nun kulturell, sprachlich, historisch, religiös oder ethnisch begründet. III. Die Revolution von 1848 In der historischen Rückversicherung der Bundesrepublik und ihrer Demokratie nahm schon früh die Revolution von 1848 einen herausragenden Platz ein. Dass sie sich 1948, als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz zu beraten begann, zum 100. Male jährte, bot Anlass für ein Gedenken, das nach dem Untergang des Nationalstaats von 1871 auf den demokratischen Neubeginn der Gegenwart zielte. Ein Jahr später zum ersten Bundespräsidenten gewählt, setzte vor allem der Liberale Theodor Heuss mit seinem Buch „1848 – Werk und Erbe“ einen wichtigen Akzent. Nicht nur holte er die Revolution von 1848, die Nationalversammlung in der Paulskirche und ihre Verfassung in das kollektive Demokratiegedächtnis der Deutschen zurück, sondern er verwies mit seinem Buch auch auf eine deutsche Demokratietradition, an die sich nun wieder anknüpfen ließ. Das war umso wichtiger angesichts derjenigen Stimmen, die die freiheit-

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liche Demokratie, wie sie nach 1945 Gestalt anzunehmen begann, als einen westlichen, vor allem amerikanischen Import diskreditierten und damit als „undeutsch“. Für die historische Selbstvergewisserung deutscher Demokraten und der entstehenden westdeutschen Demokratie (mit ihrem gesamtdeutschen Anspruch) war die Erinnerung an 1848 von zentraler Bedeutung. So entstand – allmählich – eine Demokratietradition, die weiter zurückreichte als in die Weimarer Republik. Zwar ist die Erfahrung der Weimarer Republik für die Entstehung und Entwicklung der westdeutschen Demokratie nach 1945 kaum hoch genug einzuschätzen, aber die Weimarer Demokratie blieb über lange Zeit, letztlich bis ins beginnende 21. Jahrhundert, ein negativer Bezugshorizont. „Bonn ist nicht Weimar“ war in den 1950er Jahren nicht nur ein viel zitierter Buchtitel des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann, sondern in der Formulierung kam die demokratiegeschichtlich negative Orientierungsfunktion der Weimarer Demokratie zum Ausdruck: die Krisen der Demokratie, ihre Schwäche, ihr Niedergang, ihre Zerstörung. Wegen ihres Scheiterns konnte die Weimarer Republik nur schwer und erst sehr spät in eine anknüpfungsfähige Demokratietradition gestellt werden. Stärker als auf das Ende der Republik bezog sich diese auf ihren Beginn in den Jahren nach 1918, auf die erfolgreiche Revolution, die Überwindung des kaiserzeitlichen Autoritarismus, den demokratischen Aufbruch, die parlamentarische Verfassung. Die schweren Belastungen der jungen Demokratie vom Erbe des Kaiserreichs bis hin zu den Folgen des Weltkriegs wurden zwar nicht ignoriert, aber sie führten nicht mehr unausweichlich auf 1933 zu. Der Blick richtete sich auch auf die Chancen, die Hoffnungen und Möglichkeiten der frühen Republik, auf demokratische Errungenschaften wie das Frauenwahlrecht oder den Parlamentarismus. Darüber hinaus allerdings steht die Weimarer Republik in jüngster Zeit für die Bedrohungen und Gefährdungen von Demokratie, wenn auch in anderer Weise als in den Nachkriegsjahrzehnten, als der Blick auf die Weimarer Demokratie von 1933 her bestimmt und die Republik gleichsam von Anfang an dem Untergang geweiht war. Eine solche Perspektive ist nicht nur deterministisch und deshalb ahistorisch, sie verstellt auch den Blick auf die Bedeutung demokratischen Handelns insbesondere zur Verteidigung der Demokratie und zur Auseinandersetzung mit ihren Gegnern: eine Demokratie, deren Wehrhaftigkeit nicht nur vom Staat und seinen Institutionen, sondern auch von ihren Bürgern her gedacht wird. Das ist eine Perspektive, die in der Gegenwart angesichts der Herausforderung von Rechtspopulismus und Rechtsextremismus an Bedeutung gewonnen hat. Zum 150. Jahrestag der Revolution von 1848 wurde Theodor Heuss‘ Buch neu aufgelegt, nunmehr unter dem Titel „Die gescheiterte Revolution“. Weniger pathetisch als die Formulierung „Werk und Erbe“ von 1948 unterstrich der neue Titel knapp zehn Jahre nach der deutschen Einheit, dass die Demokratie der Bundesrepublik in den fünf Jahrzehnten ihres Bestehens ein eigenes Gewicht und eine eigene Tradition entwickelt hatte, dass es der unmittelbaren Anknüpfung an 1848 im Sinne historischer

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Selbstvergewisserung nicht mehr bedurfte. Dabei griff freilich die Rede von der „gescheiterten Revolution“ viel zu kurz, sie reduzierte die Revolution und ihre Ziele auf die Errichtung eines nationalen Staates. Damit sind die Revolutionäre von 1848 in der Tat gescheitert. Aber man greift gerade in demokratiegeschichtlicher Perspektive zu kurz, wenn man Erfolg und Wirkung von 1848 allein am Maßstab nationaler Staatlichkeit misst. Die revolutionären Entwicklungen von 1848, beginnend schon im Vormärz, dann die Ereignisse 1848/49 selbst und schließlich das Ende der Revolution, ihre Unterdrückung, bewirkten einen irreversiblen Nationalisierungsschub, der nach 1849 und in der Ära der Reaktion nicht rückgängig zu machen war. Stärker als je zuvor gab es nun auch ohne einen nationalen Staat eine nationale Öffentlichkeit als kommunikativen Zusammenhang. Ein modernes Parteiensystem, ebenfalls national ausgerichtet, begann sich auszuformen, in Vereinen und Assoziationen intensivierte sich eine politische Selbstmobilisierung, die man durchaus als gesellschaftliche Demokratisierung, auch im Sinne einer Pluralisierung, verstehen kann. Aber der nationale Staat blieb den Deutschen versagt. Gerade deshalb konnte die 1848 nicht erreichte nationale Einheit in den kommenden Jahren als politisches Ziel ein Eigengewicht entwickeln, das sich schließlich in den 1860er Jahren von liberalen und demokratischen Zielsetzungen löste. Nationale Einheit und der nationale Staat wurden nicht mehr zwingend freiheitlich oder demokratisch gedacht. Diese Entwicklung war sowohl eine Voraussetzung der auf einen preußisch-deutschen Nationalstaat gerichteten preußischen Machtpolitik Bismarcks, eine Bedingung ihres Erfolges, als auch eine Folge dieser Politik, die 1866 mit der Verdrängung Österreichs aus Deutschland ihren Höhepunkt erreichte und sich im Krieg mit Frankreich und in der Reichsgründung 1870/71 konsequent fortsetzte. Darüber hinaus trug die preußische Politik der Nations- und Nationalstaatsbildung zur Diskreditierung des Versuchs von 1848 bei, einen demokratischen Nationalstaat auf demokratischem Wege zu schaffen: nicht von oben, sondern von unten, aus der Gesellschaft heraus, durch eine demokratisch, durch Wahlen legitimierte Nationalversammlung. Die Reichsgründung von 1871 knüpfte außer in ihrer äußeren, kleindeutschen Form und dem preußisch-deutschen Kaisertum gerade nicht an die Nationalstaatsidee von 1848 an, sondern war ihr Gegenmodell. Und schon bald trug die kleindeutsch-preußische Geschichtsschreibung ihren Teil dazu bei, die demokratische Geschichte deutscher Nationalstaatlichkeit – und mit ihr die Möglichkeit eines demokratischen Nationalstaats – als historische Sackgasse erscheinen zu lassen. IV. Demokratie im Kaiserreich Über die demokratischen Potentiale des Kaiserreichs ist in jüngster Zeit wieder intensiv gestritten worden. Zu dieser Auseinandersetzung beigetragen haben Versuche, den Nationalstaat von 1871 anschlussfähig zu machen für den Nationalstaat Bundesrepu-

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blik, den Nationalstaat von 1990 in die Tradition des Nationalstaats von 1871 zu stellen. Dabei war die kritische Distanz zum Kaiserreich ein wichtiger Indikator von Liberalisierung und Demokratisierung in Westdeutschland nach 1945. Fraglos hat es nach 1871 demokratische Potentiale und Entwicklungen gegeben, aber die staatlich-institutionelle Ordnung blieb doch bis zum Ende des Kaiserreichs von Interessen bestimmt, die den Durchbruch, ja die Durchsetzung insbesondere der parlamentarischen Demokratie verhinderten. Was immer möglich gewesen sein mag, es ist nicht geschehen. Das demokratische Wahlrecht der Männer wurde durch die Schwäche des Reichstags konterkariert, eine vitale Zivilgesellschaft und ein reiches, vielgestaltiges kulturelles Leben blieben autokratisch gedeckelt. Das Kaiserreich war ein funktionierender Rechtsstaat, es verfügte über eine effiziente Verwaltung. Sein Sozialversicherungssystem war fortschrittlich und begründete ein bis in die Gegenwart wirksames Modell von Sozialstaatlichkeit. Doch Sozialstaat und Sozialistengesetze gehörten zusammen, waren zwei Seiten einer Politik der Bedrohungsabwehr. Und die Bedrohung hieß nicht nur Revolution, sie hieß auch Demokratie. Das Kaiserreich war, in den Worten des Historikers Thomas Nipperdey, ein „Machtstaat vor der Demokratie“. Ein großer Teil der Konflikte und Spannungen, die das Kaiserreich prägten, resultierten aus dem Zusammenprall einer hoch dynamischen Gesellschaft in Bewegung und in rasanter Veränderung mit einem auf Beharrung ausgerichteten politischen System. Dort, wo dieses System, wo nicht zuletzt die Reichsverfassung demokratische Entwicklungen zuließ, waren diese kaum zu verhindern. Das gilt für das allgemeine Wahlrecht (der Männer), jenen „Tropfen demokratischen Öls“ in der autoritären Ordnung des preußisch-deutschen Nationalstaats. Dessen Einführung war auch von der Erwartung geleitet, die Masse insbesondere der ländlichen Bevölkerung würde aus Fürstentreue und Veränderungsangst konservativ und Status-quo-orientiert wählen. Aber das entfaltete nur begrenzte Wirkung. Jenseits dessen trugen das Wahlrecht und stärker noch die auf ihm beruhenden Reichstagswahlen zur inneren Nationsbildung, zum nation-building bei. Und schließlich hatten die Wahlen auch demokratisierende Effekte, wenn man politische Mobilisierung als Demokratisierung versteht. Die Wahlbeteiligung wuchs kontinuierlich von knapp über 50 Prozent 1871 auf über 80 Prozent 1912. Wahlen wurden, so der Historiker Andreas Biefang, zum demokratischen Zeremoniell; als Medienereignisse, die sie immer stärker wurden, trugen sie zur performativen Erzeugung jener Volkssouveränität bei, die der Bismarcksche Obrigkeitsstaat eigentlich hatte verhindern wollen. Zugleich freilich ließ der institutionelle Autoritarismus diese Demokratisierung im Sinne gesellschaftlicher Politisierung ins Leere laufen. Der Reichstag gewann zwar Bedeutung als Bühne nationaler politischer Auseinandersetzung, Gesetze waren an seine Zustimmung gebunden, aber zum Durchbruch des Parlamentarismus kam es nicht. Die Reichsleitung, insbesondere der Reichskanzler, war nicht dem Parlament, sondern dem Kaiser verantwortlich und nicht von einer parlamentarischen Mehrheit abhängig. So liefen gesellschaftliche Demokratisierung und Fundamentalpolitisierung

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institutionell ins Leere. In einem undemokratischen Staat hatten Demokratie und Demokratisierung Grenzen. Stattdessen suchte eine zunehmend politisierte Gesellschaft jenseits von Parlament und Parteien Einfluss- und Wirkungsmöglichkeiten und fand diese gerade in der wilhelminischen Ära immer stärker in Verbänden und Massenorganisationen, die zu den wichtigsten Vertretern und Verbreitern eines aggressiven Nationalismus wurden, der nach außen so konfrontativ war wie nach innen ausgrenzend und diskriminierend, antisemitisch und völkisch-rassistisch aufgeladen. Der Aufstieg der nationalistischen Massenverbände war in demokratiegeschichtlicher Perspektive die Folge der Diskrepanz von gesellschaftlicher Demokratisierung (als Fundamentalpolitisierung) und mangelnder institutioneller Demokratisierung. V. Rechtspopulismus – Renationalisierung – Neonationalismus Für den Übergang zur parlamentarischen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg waren das keine guten Voraussetzungen. Unversöhnlich standen sich nach dem Krieg und erst recht nach der Novemberrevolution die politischen Lager gegenüber. Nicht zuletzt ihr Verständnis von Nation trennte sie voneinander. Die Vorstellung einer demokratischen, liberalen und pluralistischen Nation, für die Sozialdemokraten, Zentrum und Liberale sich einsetzten, wurde von Angehörigen der alten und neuen Rechten als nationale Schwäche, Zersplitterung und Ohnmacht interpretiert und bekämpft. Ein demokratischer Nationalismus konnte sich unter solchen Bedingungen nicht entwickeln, ein demokratisches Verständnis von Nation sich nicht durchsetzen. Im Gegenteil: Die Krisen der Weimarer Republik und die Krisenwahrnehmung der Menschen waren Wasser auf die Mühlen der politischen Rechten; sie halfen, Republik und Demokratie zu diskreditieren. Statt Demokratie und Pluralität propagierte die Rechte nationale Gemeinschafts- und Geschlossenheitsvorstellungen als Mittel zur Krisenüberwindung. Das war der Kern des rechten Populismus der Zwischenkriegszeit. Die Parallele zum Rechtspopulismus der Gegenwart liegt in der Ablehnung der politischen, sozialen und kulturellen Vielgestaltigkeit der Gesellschaft. Pluralität und Diversität werden jedoch nicht nur kritisiert, sondern ihnen werden, darauf hat der Historiker Andreas Wirsching hingewiesen, ein angeblich geschlossenes „Volk“ und ein angeblich klar erkennbarer „Volkswille“ entgegengestellt. Das „Volk“ dieses Populismus ist nicht demokratisch vom Einzelnen und von der Idee der Bürgernation her gedacht, nicht pluralistisch von unterschiedlichen Meinungen und Interessen her, sondern völkisch von einer ethnisch bestimmten nationalen Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit her, deren primäres Ziel in der Abgrenzung und Ausgrenzung von „Anderen“ besteht, denen nationale Zugehörigkeit prinzipiell verweigert wird. Wenn diese Nationalisten „Wir sind das Volk“ skandieren, dann ist ihr völkisch-populistischer Bezug auf das Volk weit entfernt von dem auf Freiheit und Demokratie zielenden „Wir sind das Volk“ der

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demokratischen Revolution in Ostdeutschland 1989, in deren Tradition man sich gerade in den ostdeutschen Bundesländern zu stellen versucht. Nation war nach 1945 in West- und Ostdeutschland ein vielschichtiger und bedeutungsbeladener Begriff. Nation wies auf die gemeinsame Geschichte, nicht zuletzt die gemeinsame nationalsozialistische Vergangenheit, die angesichts der Teilung eine nicht abstreifbare Zusammengehörigkeit bedeutete und aus der sich die Legitimität des Wunsches nach Wiedervereinigung speiste. Dennoch wurden die Bundesrepublik und auf andere Weise auch die DDR im Laufe der Zeit immer stärker zu postnationalen Staaten. In Westdeutschland spiegelte sich das beispielsweise im Aufstieg des Konzepts des Verfassungspatriotismus, das einen demokratischen Nationalismus ohne Nationalstaat zu begründen versuchte. Ebenso war gerade in der Bundesrepublik das Verständnis von Europäisierung geprägt von der Tatsache, dass es – bis 1990 – keinen deutschen Nationalstaat gab, was Entnationalisierung und nationalen Souveränitätsverzicht erleichterte. Es entsprang in gewissem Sinne einem postnationalen Nationalismus, dass in den 1980er Jahren nicht wenige Westdeutsche meinten, die postnationale Staatlichkeit der Bundesrepublik könne ein Modell bilden für das restliche Europa. Die Überwindung des Kalten Krieges und  – in ihrem Zentrum  – der deutschen Teilung sorgte vor diesem Hintergrund für Verunsicherung. Seit 1990 leben die Deutschen wieder in einem Nationalstaat, auch wenn sie sich beeilten ihn als postklassisch zu charakterisieren. Das bedeutete eine neue Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Nation und Europa. Nicht alle Europäer teilten die Vorstellung der postnationalen Nation, und gerade im östlichen Europa verband sich die Idee der Nation, selbstbestimmter Nationalstaatlichkeit und wiedergewonnener nationaler Souveränität nach Jahrzehnten imperialer Unterdrückung – in manchen Fällen erst deutscher, dann sowjetischer – mit dem Versprechen von Freiheit und Demokratie. Für die europäische Integration bedeutete das eine gewaltige Herausforderung, und das Projekt Europa stürzte darüber nach 1990 in eine tiefe, eine fundamentale Krise, die bis heute nicht überwunden ist. Zu den Ursachen dieser Krise gehören auch das unbestreitbare Demokratiedefizit der europäischen Institutionen, der Primat der Exekutive und die Schwäche des Parlaments sowie ihre begrenzte Fähigkeit, emotionale Bindungen zu erzeugen. In einer Welt, die zunehmend als unübersichtlich und unsicher wahrgenommen wird, profitiert davon der Nationalstaat. Auch daraus speisen sich die gegenwärtigen Tendenzen der Renationalisierung: in Deutschland, in Europa und weit darüber hinaus. Ein neuer Nationalismus, der so neu nicht ist, gibt sich vordergründig demokratisch, indem er sich auf einen vermeintlichen Volkswillen beruft. In Wahrheit aber setzt er auf die Ängste und Verunsicherungen der Menschen. Auf Unsicherheits- und Bedrohungswahrnehmungen, an deren Erzeugung er selbst mitwirkt, antwortet er mit Versprechungen von Schutz und Sicherheit in einer nach außen abgeschotteten und im Innern homogenen nationalen Gemeinschaft. Ein demokratisches und freiheitliches Konzept individueller Zugehörigkeit und Partizipation ist Nation dann nicht mehr.

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Der zum Teil völkische Nationalismus der Gegenwart reklamiert aber nicht nur im Rekurs auf das „Volk“ für sich demokratische Legitimität, sondern er stellt sich auch in nationalgeschichtliche Traditionslinien. Allerdings bezieht er sich nicht auf die Alldeutschen des Kaiserreichs oder die völkisch-nationalistischen Parteien und Organisationen der Weimarer Republik, was historisch konsequent und ehrlich wäre, sondern vielmehr auf Traditionen eines demokratischen Nationalismus, die mit dem Hambacher Fest ebenso verbunden sind wie mit der Revolution von 1848 und die auch im Kaiserreich nicht völlig verschwunden waren. Auch der – gescheiterte – Versuch, den DVP-Politiker Gustav Stresemann zum Namensgeber einer Af D-nahen politischen Stiftung und damit zur historischen Galionsfigur zu machen, zielt in diese Richtung. Das komplexe, widersprüchliche und spannungsreiche Verhältnis von Nation und Demokratie, gerade in der deutschen Geschichte, erleichtert solche Aneignungsversuche. Demokraten müssen sich solchen Aneignungsversuchen widersetzen. Geschichtswissenschaft ist vor diesem Hintergrund auch Demokratiewissenschaft. Angesichts der Bestrebungen, sich nationale Geschichte affirmativ und unkritisch anzueignen, bleibt es daher eine Aufgabe und Herausforderung, die Spannung von Nation und Demokratie – man könnte vom „Hambacher Problem“ sprechen – in historischer sowie in aktueller Perspektive immer wieder neu zu thematisieren. Nur wenige historische Orte bieten sich dafür so an wie das Hambacher Schloss. Prof. Dr. Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. An den Universitäten Cambridge, Toronto, Bologna, Utrecht und Jerusalem hatte er Gastprofessuren inne. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der deutschen und internationalen Geschichte vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Er war Sprecher der Unabhängigen Historikerkommission zur Geschichte des Auswärtigen Amts im Nationalsozialismus und Mitverfasser des Buchs „Das Amt und die Vergangenheit“ (2010). 2009 erschien seine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unter dem Titel „Die Suche nach Sicherheit“. Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen zählen „Geschichte der Sicherheit. Themen, Entwicklungen, Perspektiven“ (2017), „Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt“ (2018) sowie zuletzt „Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“ (2020).

Moderne Antimoderne Demokratiegeschichte und der Sonderweg des deutschen Radikalnationalismus Bernhard Dietz Wie modern war das Kaiserreich? Lässt sich die Zeit zwischen 1871 und 1918 als Teil einer demokratischen Modernisierungsgeschichte interpretieren? Der vorliegende Beitrag zu dieser Debatte nimmt den Radikalnationalismus des Kaiserreichs in den Fokus Diese um einzelne Vereine und Massenorganisationen organisierte Bewegung wird als Teil einer „modernen Antimoderne“ interpretiert Zentrales Argument ist, dass „moderne“ biologischen Kategorien wie „Volkskörper“, „Hygiene“ und „Rasse“ für das nationale Projekt in Deutschland besonders erfolgreich waren, weil sie über den als defizitär wahrgenommenen Nationalstaat hinauswiesen Die anvisierte ethnisch homogene „Volksgemeinschaft“ war somit ein deutscher ideologischer Modernisierungsimpuls aus der Zeit um 1900, hatte aber dramatischen Folgen für das ganze 20  Jahrhundert Der Kern dieses deutschen Nationalismus war die Ungleichheit der Menschen – der These eines unaufhaltsamen Siegeszugs der Demokratie steht er diametral entgegen I. Der historische Ort des deutschen Kaiserreichs im 21. Jahrhundert Das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich lässt sich im Hinblick auf die deutsche Demokratiegeschichte nicht leicht auf einen Nenner bringen. In populärwissenschaftlichen Rückschauen wird daher immer wieder gerne auf Metaphern wie „Licht und Schatten“, „Fortschritt und Größenwahn“ oder „Zwischen Pickelhaube und Aufbruch“1 zurückgegriffen, um die politischen und gesellschaftlichen Ambivalenzen des deutschen Kaiserreichs auszudrücken. Jüngst hat der 150. Jahrestag der Gründung

1

Leben im Kaiserreich. Zwischen Pickelhaube und Aufbruch. Deutschland unter den Hohenzollern. Spiegel Geschichte 6/2020; Das deutsche Kaiserreich. Fortschritt und Größenwahn der Kaiserzeit 1871–1918. Zeit Geschichte 4/2010.

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des Deutschen Reichs die Diskussion um den historischen Ort des ersten deutschen Nationalstaats erneut angefacht. Obwohl die Kontroverse von Historikerinnen und Historikern wie Hedwig Richter und Eckard Conze geführt wird, sind die Positionen dem populären Deutungsschema „Licht und Schatten“ durchaus ähnlich. Während Conze die „Schatten des Kaiserreichs“ zum Titel seines jüngsten Buchs machte und damit vor allem die „Persistenz autoritärer Strukturen“ meinte2, ist das Bild bei Richter diametral gedreht: Hier leuchtet das deutsche Kaiserreich hell und ist Teil einer „optimistischen“ Demokratiegeschichte3. Der erinnerungspolitische Bezug zur Gegenwart fällt entsprechend höchst unterschiedlich aus. Während Conze vor einer Aufwertung des Kaiserreichs im Zuge einer revisionistischen Renationalisierung warnt und allein der Weimarer Republik „einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik“ gewähren möchte, ist bei Richter das Kaiserreich zentrale Etappe einer „Modernisierungserzählung“ von der Aufklärung bis zur Gegenwart.4 Wie problematisch Richters Interpretation ist, gerade weil ihr Demokratiebegriff ziemlich unscharf bleibt und alles Mögliche umfasst (von konservativer Sozialreform über jede Form von Wahlen bis hin gar zum Aufstieg des Nationalsozialismus), wurde in der Geschichtswissenschaft ausgiebig thematisiert.5 Gleichzeitig liegt Richters Interpretation durchaus im schon länger anhaltenden Trend, die „Modernität“ des deutschen Kaiserreichs zu betonen. Gerade auch um Ähnlichkeiten mit unserer Gegenwart aufzuzeigen, werden Phänomene wie Beschleunigung, Globalisierung oder Dynamisierung der Geschlechterbeziehungen betont. In dieser Perspektive rücken die globale und nervöse Moderne um 1900 und unsere Gegenwart im wiedervereinigten Deutschland immer weiter zusammen, während das „kurze“ 20. Jahrhundert der Weltkriege in Proportion zur nationalen Gesamtgeschichte immer „kürzer“ zu werden scheint. Damit verbunden ist der Effekt, dass der alte Fluchtpunkt der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, also die nationalsozialistische „Machtergreifung“ von 1933, für die Gesamtinterpretation der deutschen Geschichte zunehmend verblasst. Das ist zum Teil bewusst so gewollt, insbesondere dann, wenn mit der „Modernität“ des Kaiserreichs die Fehlerhaftigkeit der Theorie des deutschen Sonderwegs bewiesen werden soll. Gemeint ist damit jene dezidiert kritische Interpretation der deutschen Geschichte, wie sie vor allem von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaften in

2 3 4 5

Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe. München 2020, 20. Hedwig Richter, Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2020, 18. Conze, Schatten des Kaiserreichs (wie Anm. 2), 18; Richter, Eine deutsche Affäre (wie Anm. 3), 18. Andreas Wirsching, Rezension von: Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18.  Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr.  3 [15.03.2021], URL: http://www.sehepunkte.de/2021/03/34995.html, Aufruf zuletzt am 01.12.2021; Christian Jansen, Rezension zu: Hedwig Richter, Demokratie. Eine deutsche Affäre. München 2020, in: H-Soz-Kult, 09.02.2021, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49883, Aufruf zuletzt am 01.12.2021.

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den 1960er und 1970er Jahren geprägt wurde. Der Kern dieser These: Verglichen mit anderen westlichen Gesellschaften sei der Weg Deutschlands in die Moderne zutiefst defizitär verlaufen. Vormoderne Beharrungskräfte hätten einer erfolgreichen Entwicklung Deutschlands zu einer stabilen parlamentarischen Demokratie nach westlichem Vorbild bis 1945 im Weg gestanden – so die Grundannahme von Historikern wie Hans Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Wolfgang Mommsen und Heinrich August Winkler. Zentral für die Sonderwegsthese war (und ist bis heute) die Beurteilung des deutschen Kaiserreichs. Hier, vor allem in der Zeit zwischen 1871 und 1914 suchten die Sonderwegshistoriker jene strukturellen Belastungen, die Deutschland zunächst in den Ersten Weltkrieg und schließlich in den Nationalsozialismus getrieben hätten. Und so ist es auch kein Wunder, dass auch die Demontage des Sonderwegsparadigmas auf dem Gebiet der Kaiserreichsforschung vorangetrieben wurde. Seit den 1980er Jahren wurde vor allem die Vorstellung vom Kaiserreich als einem von vormodernen Eliten kontrollierten Obrigkeitsstaat angegriffen. Verschiedene Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse wurden stärker akzentuiert. Kulturgeschichtlich orientierte Ansätze betonten die pluralistischen und demokratischen Elemente des Kaiserreichs, wie sie in öffentlichen Skandalen, in der Frauen- und Arbeiterbewegung oder im modernen Wahlrecht zum Ausdruck kamen. In der deutschen Geschichtsschreibung wurde das Bild des Kaiserreichs also immer vielfältiger und insgesamt heller. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, verkörpert durch Pickelhaube tragende Offiziere und selbstherrlich herrschende preußische Junker, verschwand samt Sonderwegsthese immer tiefer im Keller der Historiographiegeschichte. Diese Entwicklung ging so weit, dass der Historiker Tim Müller auf dem Hamburger Historikertag 2016 eine dem Sonderweg gewidmete Sektion mit den Worten einleitete: „Welchen Sinn hat es, einen toten Hund zu erschlagen, dessen Herrchen vergreist ist?“6 Ganz so tot scheint der Hund offenbar nicht zu sein, wie die Kontroverse um die Bücher von Eckart Conze und Hedwig Richter zeigt. „Totgesagte leben länger“, so eröffnete entsprechend Heinrich August Winkler vor Kurzem einen Debattenbeitrag im Merkur.7 In derselben Zeitschrift betont Michael Kittner, dass die Geschichte der Gewerkschaften im Kaiserreich von Sonderwegskritikern wie Richter fälschlicherweise als Erfolgsgeschichte dargestellt und die Persistenz autoritärer Strukturen in den deutschen Unternehmen übersehen wurde.8 Es gibt zum Kaiserreich offenbar nicht nur in der Geschichtswissenschaft weiterhin Klärungsbedarf, sondern auch in der Öffentlichkeit: Die Debatten um das Berliner Stadtschloss, den Umgang mit dem Völkermord 6 7 8

Tagungsbericht: HT 2016: Volkslauf auf dem Sonderweg? Deutsche Demokratiegeschichte von 1800 bis 1933, 20.09.2016–23.09.2016 Hamburg, in: H-Soz-Kult, 03.12.2016, www.hsozkult.de/con ferencereport/id/tagungsberichte-6860, Aufruf zuletzt 01.12.2021. Heinrich August Winkler, Gab es ihn doch, den deutschen Sonderweg?, in: Merkur, Nr. 865, Juni 2021, 17–28. Michael Kittner, Was heißt hier modern? Das Kaiserreich und die Arbeiterbewegung, in: Merkur, Nr. 871, Dezember 2021, 92–98.

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an den Herero und Nama sowie die Entschädigungsforderungen der Hohenzollern bringen die Frage des historischen Orts des Kaiserreichs mit neuer Dringlichkeit in das politische und moralische Selbstverständnis der Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts. Aber wie lässt sich über die Bedeutung des Kaiserreichs für die Folgegeschichte und über historische Kontinuitäten jenseits des Sonderwegsparadigmas und jenseits der Dichotomien Modern-Antimodern nachdenken? Gibt es deutsche Entwicklungsspezifika, die auch dann noch prüfenswert sind, wenn wir im Einklang mit der jüngsten Forschung anerkennen, dass das Kaiserreich in seinen transnationalen Verflechtungen und globalen Bezügen zu verstehen ist? Meines Erachtens ist ein solches Element der im Kaiserreich entstandene Radikalnationalismus. Gemeint ist jener um eine ganze Reihe von Verbänden organisierte, aggressive Nationalismus, der auf eine tiefgreifende Umgestaltung der bestehenden Ordnung drängte. Dass dieser Radikalnationalismus auch im Hinblick auf Kontinuitäten und ideologiegeschichtliche Traditionen in Bezug zum Nationalsozialismus gesehen werden sollte, liegt auf der Hand. Entscheidend ist dabei aber, dass wir den Radikalnationalismus nicht als Ausdruck einer reaktionären Gegenbewegung zu einer aufklärerischen Moderne interpretieren, sondern in Anlehnung an Detlev J. K. Peukert als genuinen Teil der Moderne selbst. Nicht als Integrations- oder Manipulationsinstrument alter Eliten gilt es ihn zu verstehen, sondern als Ausdruck einer eigenständigen Bewegung, die die alten Ideen des 19. Jahrhunderts unter den Bedingungen von Migrationsprozessen radikal fortentwickelte und sich gleichzeitig auch auf dem neuen politischen Massenmarkt zu bewegen wusste. Antimodern war diese Bewegung dadurch, dass sie die politische Moderne in Form der liberalen Demokratie ablehnte. Sie war im Kern anti-egalitär, aber nicht generell fortschrittsfeindlich. Kapitalismus, Technik und Wissenschaft ließen sich durchaus in den Dienst des nationalen Projekts stellen. In diesem Sinne war der Radikalnationalismus des Kaiserreichs Teil einer „modernen Antimoderne“ und damit Teil der „janusköpfigen Grundstruktur“ der Moderne. Erst in dieser Perspektive wird der Radikalnationalismus im Hinblick auf seine Bedeutung für das 20. Jahrhundert besser verständlich. II. Der Radikalnationalismus im Kaiserreich: drei Deutungsmuster und eine Zielutopie Antisemitismus, Rassismus und völkischer Nationalismus wurden für das deutsche Kaiserreich anhand einer Vielzahl von Untersuchungsgegenständen analysiert: von der radikalen Kulturkritik einzelner Schriftsteller und Philosophen über den lautstarken Antisemitismus der Studentenschaft bis hin zu Organisationen wie dem Bund der Landwirte. Von einer besonderen Bedeutung für den neuen Radikalnationalismus war das Medium des Vereins. In dem breiten Spektrum von antisemitischen und völkischen Organisationen war es besonders das nationale Vereinswesen, das radikale Vorstellungen von Nation entwickelte und verbreitete. Dem Alldeutschen Verband,

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dem Ostmarkenverein, dem Flotten- und dem Wehrverein kam aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verflechtung und ihrer Mitgliederzahl eine besondere Rolle bei der Konstruktion von radikalnationalistischer Ideologie zu. Im Zentrum dieses radikalen Milieus wirkte der Alldeutsche Verband, der im und außerhalb des Reichstags agierte und mit einer Vielzahl an politischen Forderungen versuchte die Regierungspolitik vor sich herzutreiben.9 Typisch für das radikale nationalistische Milieu und Organisationswesen waren dabei drei Deutungsmuster, mit denen die Radikalnationalisten ihre als defizitär wahrgenommene Gegenwart zu verstehen suchten. Diese Deutungsmuster entstanden in den zwei Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, ihre politische und später auch genozidale Kraft prägte das 20. Jahrhundert. Das erste Deutungsmuster lässt sich überschreiben mit „Nationaler Torso“ und sein Kern lautete: Der Nationalstaat ist unvollendet, die nationale Bewegung steht erst am Anfang! Die Reichsgründung von 1871 schuf für den deutschen Nationalismus erstmals eine staatliche Bezugsgröße. Für eine Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung war jetzt der „nationale Traum“ Wirklichkeit geworden. Gleichzeitig aber schuf der neue Nationalstaat im Hinblick auf die „gedachte Ordnung“ der Nation genauso viele Probleme wie er löste. Denn das Reich entsprach ja keineswegs dem Idealtypus des Nationalstaats, in dem Staat und Nation mehr oder weniger deckungsgleich waren: Zum einen schloss er – vor allem aufgrund der kleindeutschen Staatsgründung – etwa vierundzwanzig Millionen Angehörige deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen aus. Zum anderen lebten innerhalb der Reichsgrenzen ethnisch-kulturelle Minderheiten, die als „Fremde“ angesehen wurden: also in erster Linie die Bewohner des 1871 annektierten Elsaß-Lothringens, die dänischsprachige Bevölkerung Nordschleswigs sowie die in den preußischen Ostprovinzen lebenden Polen. Da sich diese Gruppen – insbesondere die polnische Bevölkerung Preußens – gegen rigide staatliche Maßnahmen zur „Germanisierung“ wehrten, entstanden zentrifugale Kräfte, die im Gegensatz zu einem ethnisch-kulturellen Verständnis von deutscher Nation standen. Dabei öffnete sich ein neuer Zeithorizont, in dem die nationale Bewegung nicht am Ende, sondern erst am Anfang stand. Vor allem der Alldeutsche Verband und der Ostmarkenverein verbreiteten in ihrer antislawischen und antisemitischen Propaganda zunehmend biologistisch grundierte Logiken der Ein- und Ausgrenzung. Dabei ging der „koloniale Blick gen Osten“ auch über die deutschen Reichsgrenzen hinaus und Osteuropa wurde mit ganz ähnlichen kolonialen Mustern erfasst, wie sie für die Herrschaftslegitimationen „klassischer“ Kolonialstaaten typisch waren.10 Die neuere Forschung zur deutschen Polenpolitik betont im Hinblick auf Rassismus und koloniale Haltung gegenüber Osteuropa daher 9 10

Peter Walkenhorst, Nation  – Volk  – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914. Göttingen 2007. Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des deutschen Kaiserreichs von 1871. Paderborn 2018.

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eindeutige Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus.11 In jedem Fall war der gewollte und geschürte Konflikt mit den nationalen Minderheiten auch für das zweite Deutungsmuster der Radikalnationalisten von zentraler Bedeutung, das sich mit „Fremdkörper“ überschreiben lässt. Demnach war das deutsche Volk rassisch nicht geschlossen und eine effiziente Bevölkerungspolitik unabdingbar. Für die radikalnationalistische Konstruktion der deutschen Nation war „Rasse“ das zentrale Konzept. Die biologische Kategorie der „Rasse“ ersetzte sukzessive politisch-soziale Kategorien wie „Staat“ und „Klasse“. Da aber eine deutsche oder germanische Rasse schwer zu greifen war, diente „Rasse“ vor allem als Differenzkonzept. Rasse beschrieb also vornehmlich die abwertende Differenz zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“. Zur Beschreibung des „Eigenen“ blieb der Begriff des Volks weiterhin zentral – wobei auch dieser Begriff immer stärker biologisch-deterministisch verstanden wurde, wie es in Komposita wie „Volkskörper“ zum Ausdruck kam. Entscheidend für die Bestimmung des Eigenen waren die „Gegen-Rassen“, also vor allem Juden und Slawen, deren Einwanderung aus dem Osten unbedingt verhindert werden musste. Für die innerhalb des Reichsgebiets lebenden „volksfremden Staatsbestandteile“ wurden Forderungen nach staatsrechtlicher Diskriminierung und Entrechtung laut12. Gerechtfertigt werden konnten solche radikalen Schritte damit, dass das „Staatsinteresse und die Volksgemeinschaft“ eindeutig über die „individuelle Gleichberechtigung“, über die lediglich „formelle Gerechtigkeit“, ja sogar über die Verfassung zu setzen seien, so der Industrielle und Medienunternehmer Alfred Hugenberg in den Alldeutschen Blättern.13 Eng mit den beiden ersten war das dritte Deutungsmuster verbunden, das sich mit „Überlebenskampf “ überschreiben ließe. Gemeint ist die Vorstellung, dass alle Völker im Kampf um „Raum“ stehen und jene Völker, die nicht expandieren, letztlich zugrunde gehen würden. Der Sozialdarwinismus war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine der wichtigsten gesellschaftlichen Hintergrundüberzeugungen nicht nur im Deutschen Reich, sondern in der ganzen westlichen Welt. Die Übertragung von biologischen Gesetzmäßigkeiten auf menschliche Gesellschaften hatte vor allem zwei Folgen, eine nach Innen, eine nach Außen. Nach Innen führte sie zu einer Biologisierung von sozialen Problemen. Nach Außen konnten sozialdarwinistische Erklärungen einerseits koloniale Herrschaft rechtfertigen, andererseits aber auch den Wettstreit der westlichen Nationen um Weltgeltung erklären. Gerade diese Sichtweise – also die nationaldarwinistische Deutung der Weltpolitik – veränderte den Erwartungsraum des deutschen Nationalismus dramatisch. Denn da das Deutsche Reich ja auch auf der Ebene des Kolonialismus eine „verspätete Nation“ war, wurde hier der imperialistische Wettstreit

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Hans-Erich Volkmann, Die Polenpolitik des Kaiserreichs. Prolog zum Zeitalter der Weltkriege. Paderborn 2016. Alldeutscher Verband (Hrsg.), Zwanzig Jahre alldeutscher Arbeit und Kämpfe. Leipzig 1910, S. 61. Alfred Hugenberg, Nochmals der preußische Staat als Polonisator, in: Alldeutsche Blätter, Jg. 4 (1894), Nr. 34, 138.

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nicht einfach als eine normale Konkurrenz gedeutet, sondern als Überlebenskampf mit absoluter Dringlichkeit. Gerade der Alldeutsche Verband artikulierte in diesem Zusammenhang auch die Notwendigkeit einer expansionistischen Wirtschaftspolitik, die den biopolitischen Imperativen des „deutschen Volkskörpers“ gerecht werden sollte.14 Diese drei zentralen Deutungsmuster – nationaler Torso, Fremdkörper und Überlebenskampf – kontrastierten die Radikalnationalisten mit einer Zielutopie: der ethnisch-kulturell homogenen „Volksgemeinschaft“. Die Utopie der „Volksgemeinschaft“ gab der defizitär wahrgenommenen Gegenwart einen Sinn, eine handlungsleitende Perspektive. Sie wurde zum zentralen Fluchtpunkt der Konstruktion von Nation. Volk wurde dabei nicht mehr wie früher als „plebs“ verstanden, aber auch nicht vornehmlich im Sinne von „demos“ (Staatsvolk), sondern hauptsächlich als „ethnos“, also als ethnische Abstammungsgemeinschaft. Aber auch der zweite Teil des Begriffs – Gemeinschaft – ist in einer ganz spezifischen Bedeutung zu verstehen, nämlich vor allem in seiner semantischen Opposition zu „Gesellschaft“. Seit Ferdinand Tönnies in seiner klassischen Untersuchung von 1887 idealtypisch diesen Gegensatz herausgearbeitet hatte, galt Gemeinschaft als die authentischere, natürlichere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, während Gesellschaft anonym, artifiziell oder später auch als „undeutsch“ verstanden wurde. Zusammen ergaben Volk und Gemeinschaft einen kraftvollen Begriff, der für gesellschaftliche Homogenität, Konformität und Effizienz stehen sollte. Und: „Volksgemeinschaft“ stand dabei sogar noch über dem Staat, denn auch der Staat war nur Diener des „Volkswohls“. III. Inklusion und Exklusion: Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 Die von den Radikalnationalisten entwickelte Vorstellung von der deutschen Nation blieb nicht auf die engen Zirkel der nationalistischen Vereine begrenzt. Dass es ihnen damit sogar gelang, Einfluss auf die Regierungspolitik und die Gesetzgebung auszuüben, konnte von der Forschung anhand der Staatsangehörigkeitsgesetzgebung im Kaiserreich gezeigt werden.15 Für die Radikalnationalisten war die Frage „wer ist Deutscher und wer kann Deutscher werden?“ von herausragender Bedeutung. Ihr Ziel

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Dennis Sweeney, The Racial Economy of Weltpolitik. Imperialist Expansion, Domestic Reform, and War in Pan-German Ideology, 1894–1918, in: Geoff Eley / Jennifer L. Jenkins / Tracie Matysik (Hrsg.), German modernities from Wilhelm to Weimar. A contest of futures. London 2016, 139–162. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse (wie Anm. 9), 149–165; Dieter Gosewinkel, Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit im Deutschen Kaiserreich, in: Sven Oliver Müller / Cornelius Torp (Hrsg.), Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen 2009, 392–405.

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war es, das bestehende Recht im Sinne ihrer Zielutopie von der deutschen „Volksgemeinschaft“ umzudeuten. Konkreter Hintergrund und Anlass der Kritik war, dass im alten Staatsbürgerschaftsrecht von 1870 festgelegt war, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nach einem zehnjährigen Auslandsaufenthalt erlosch. Dies war in Zeiten der Weltpolitik vielen ein Dorn im Auge. Doch für die Alldeutschen ging es nicht nur um praktische Fragen, sondern um das Prinzip des Deutschseins schlechthin. Daher versuchten sie ab Mitte der 1890er Jahre politische Unterstützung für eine generelle Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zu gewinnen. Der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes und Abgeordnete der Nationalliberalen Partei, Ernst Hasse, erklärte im Reichstag am 6. März 1895: „Innerhalb des Deutschen Reichs leben etwa 9 Prozent Personen, die nach ihrer Sprache und nach anderen Merkmalen erkennen laßen, daß sie einer fremden Rasse angehören. […] Man kann nun verschiedener Meinung sein über die sich hieraus ergebenden Gefahren oder Nachtheile; aber so viel steht doch fest, daß die Anwesenheit dieser vielen Sprachen- und Rassenfremden im Deutschen Reich kein Vortheil für das Reich und seine homogene nationale Entwicklung ist.“16 Die Initiative der Alldeutschen führte zu einem interfraktionellen Gruppenantrag, der die Reichsregierung aufforderte, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Das neue Gesetz sollte einerseits die Einbürgerung von Fremden erschweren und andererseits verhindern, dass ausgewanderte Reichsbürger ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren konnten. Das liberale Berliner Tageblatt kritisierte den Vorstoß: Das geplante Gesetz habe den Charakter einer „Anti-Einwanderungsbill, natürlich im antisemitisch-reaktionären Sinne“.17 Tatsächlich war die alldeutsche Gesetzesinitiative auch eine Reaktion darauf, dass Deutschland zum Ende des 19. Jahrhunderts durch die Arbeitsmigration von einem Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland geworden war. Daher sollte ein neues Gesetz es den Arbeitsmigranten erschweren, Deutsche zu werden, und andererseits sollten die Auslandsdeutschen im Interesse der Weltpolitik weiterhin an das Reich gebunden werden. Gerade dieser Punkt war auch der „Deutschen Kolonialgesellschaft“ wichtig, die unter dem Titel „Einmal Deutsch, immer Deutsch“ eine Artikelserie zur Staatsbürgerschaftsfrage veröffentlichte und sich den verschiedenen nationalistischen Verbänden anschloss, um den Druck auf die Reichsregierung zu erhöhen. Zu diesem Zweck wurden Unterschriften unter Auslandsdeutschen gesammelt, juristische Gutachten eingeholt und immer wieder auch auf lokaler Ebene für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts Stimmung gemacht. Solle das „größere Deutschland“ überhaupt eine Rolle spielen – so der Tenor – sei es „unumgänglich notwendig“ den Auslandsdeutschen ihre Nationalität „unter allen Umständen“ zu erhalten.18

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RT-Protokolle, 9. Leg., 53. Sitzung, 6.3.1895, 1278. Berliner Tageblatt, 21.12.1898. Deutsche Kolonialzeitung, Jg. 11. (1898), Nr. 12, 106.

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Die Reichsregierung stellte wiederholt die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes in Aussicht. Dennoch dauerte es bis zum Februar 1912, dass der Regierungsentwurf vor den Reichstag gebracht wurde. Die Radikalnationalisten konnten zufrieden sein. Ihre wichtigsten Forderungen wurden übernommen: Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit für Auslandsdeutsche wurde ebenso erschwert wie die Einbürgerung von Ausländern. Während der erste Punkt im Reichstag weitgehend unstrittig war, kam es über den zweiten Punkt zu einer heftigen Kontroverse. Die Reichsregierung warb im Einklang mit den Nationalliberalen und Konservativen für eine restriktive Einbürgerungspraxis. Zentrales Argument war die vermeintliche Gefahr einer Masseneinwanderung aus Osteuropa. Angesichts der „hoch entwickelten Sozialpolitik“ entstehe „bei manchen osteuropäischen Bevölkerungselementen“ ein „außerordentlich starker“ Drang ins Deutsche Reich einzuwandern. Es gelte diesen „Strom der Ausländer, der vom Osten in unser Land hineinkommen will“ aus Gründen des nationalen Interesses „zurückzuhalten“, so der Vertreter des Innenministeriums.19 Aber nicht in allen Punkten war man den Forderungen der Alldeutschen gefolgt. Tatsächlich enthielt das Gesetz von 1913 die grundsätzliche Möglichkeit einer Aufnahme in die Staatsbürgerschaft in klar begrenzten Einzelfällen. Auch galt die Unverlierbarkeit der deutschen Staatsbürgerschaft nicht unbedingt, sondern war an die Ableistung des Wehrdiensts geknüpft. Ein ausschließlich blutsbezogenes Rasseprinzip fand hier also noch nicht Anwendung – sehr zum Missfallen der Radikalnationalisten. Insgesamt zeigten diese aber doch große Genugtuung. Ihre Ordnungsvorstellung der „Volksgemeinschaft“ war Maßstab des politischen Handelns geworden. Das zeigen etwa die zusammenfassenden Äußerungen des deutsch-konservativen Abgeordneten Ernst Giese: „Wir freuen uns, daß in dem Gesetz der Grundsatz des jus sanguinis rein durchgeführt worden ist, daß also in der Hauptsache die Abstammung, das Blut das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ist. Diese Bestimmung dient hervorragend dazu, den völkischen Charakter und die deutsche Eigenart zu erhalten und zu bewahren.“20 IV. Fazit: Die Dynamik der modernen Antimoderne als deutscher Sonderfall? Das Beispiel des Staatsbürgerschaftsgesetzes zeigt, dass es den Radikalnationalisten gelungen war, in einer für sie bedeutsamen Frage Einfluss auf Regierung und Gesetzgebung auszuüben. Ihr Konzept einer Ethnisierung der Nation hatte sich durchgesetzt. Aber weil die Idee der homogenen „Volksgemeinschaft“ weit über ein etatistisches Nationsverständnis hinaus ging, blieb sie weiterhin Utopie. Sie stand noch immer im

19 20

RT-Protokolle, 13. Leg, 154. Sitzung, 29.5.1913, 5303 f. RT-Protokolle, 13. Leg, 153. Sitzung, 28.5.1913, 5282.

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Widerspruch zur kleindeutschen Realität: Millionen von Polen waren als Preußen Staatsbürger des Reiches genauso wie Hunderttausende deutsche Juden; Millionen von Deutschen im Habsburger Reich waren es hingegen nicht. Die radikalnationalistischen Deutungsmuster wurden zwar bestätigt, aber die Dissonanz zwischen Realität und Zielutopie blieb erhalten und dies bildete das Potential für eine weitere Radikalisierung des Radikalnationalismus im Ersten Weltkrieg und – dann unter neuen Bedingungen – in der Zeit der Weimarer Republik, in der politische Ordnungsmodelle, die über den Nationalstaat hinauswiesen, eine neue Konjunktur erlebten. Das erfolgreichste dieser Modelle war: die Idee eines „dritten Reichs“. Telelogische Erklärungen, die den Nationalsozialismus als Resultat einer historischen Pfadabhängigkeit von spezifisch deutschen Modernitätsverweigerungen begreifen, sind weder methodisch noch empirisch haltbar. Gleichzeitig schwächt die Kritik am Sonderweg das Gespür für Kontinuitäten in der deutschen Geschichte. Das Beispiel des Radikalnationalismus zeigt aber meines Erachtens, wie wichtig eine Perspektive der long durée ist. Die Kraft des nationalsozialistischen Konzepts der „Volksgemeinschaft“ ist eben nicht nur mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 oder den Folgen des Versailler Vertrags zu erklären, sondern erst auch unter Berücksichtigung der Spezifika des deutschen Nationalismus, wie er sich in der Hochmoderne entwickelt hat. Gleichzeitig zeigt das Beispiel, wie ungemein vorsichtig wir mit einer Demokratiegeschichte umgehen müssen, die nicht mehr zwischen „ethnos“ und „demos“ unterscheidet und die nicht mehr den demokratischen Gleichheitsgrundsatz zum zentralen historischen Beurteilungskriterium erhebt. Zu den Spezifika des deutschen Nationalismus gehört, dass die Biologisierung politischer Kategorien in Deutschland besonders erfolgreich war, weil der bestehende Nationalstaat um 1900 als unvollendet angesehen wurde. Das nationale Projekt ließ sich jetzt mit biologischen Kategorien wie „Volkskörper“, „Hygiene“, „Blutszugehörigkeit“ und natürlich „Rasse“ fortsetzen, modernisieren und verwissenschaftlichen. Oder anders ausgedrückt: nation building ließ sich unter den Prämissen des social engineering denken. Die späte Verstaatlichung und noch spätere „innere Reichsgründung“ in einer Zeit der rapiden Verwissenschaftlichung und in einer sich globalisierenden Welt machten Ideen der Planbarkeit, Steuerung und Ordnung des „Volkskörpers“ besonders attraktiv. Auch in anderen Ländern gab es in dieser Zeit Befürworter von Rassenhygiene, Eugenik, Antisemitismus und Sozialdarwinismus, – aber in Deutschland verbanden sich diese Ideen mit einem ethnisch-nationalen Projekt zur Utopie der „Volksgemeinschaft“, die immer schon über den Staatsbürger-Nationalstaat hinauswies. Ein weiteres deutsches Spezifikum ist das Tempo und die Dynamik der Entwicklung. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen erwies sich auch im Bereich der Ideologien das Ausschlagen der Modernisierungsimpulse im Vergleich als besonders heftig. Deutschland hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts „die Rolle des Laborato-

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riums der Moderne“21 übernommen, wie Ulrich Herbert treffend formulierte. Diesem Laboratorium entsprang auch die „moderne Antimoderne“ in Form des deutschen Radikalnationalismus. Ihn gilt es im Hinblick auf seine Kontinuitäten, aber auch im europäischen Vergleich und in seinen globalen Bezügen noch besser zu verstehen. PD Dr. Bernhard Dietz ist Akademischer Rat am Arbeitsbereich Neueste Geschichte der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach dem Studium in Mainz, Berlin und Brighton ging er 2005 für einen vierjährigen Forschungs- und Lehraufenthalt nach London und wurde 2010 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum britischen Konservativismus der Zwischenkriegszeit promoviert. 2012 war er Visiting Lecturer an der University of Glasgow, 2016/17 Research Fellow an der Georgetown University Washington und dem Deutschen Historischen Institut in Washington. 2019 habilitierte er sich mit einer Arbeit zum Wertewandel in den Führungsetagen der bundesrepublikanischen Wirtschaft.

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Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2017, 66.

Andreas Braune / Michael Dreyer / Torsten Oppelland (Hg.)

Demokratie und Demokratieverständnis: 1919 – 1949 – 1989 WEImaRER scHRIftEn zuR REpublIk – banD 18 2022. XVI, 180 Seiten mit 1 Farb- und 2 s/w-Abbildungen sowie 3 Tabellen € 42,– 978-3-515-13151-3 kaRtonIERt 978-3-515-13155-1 E-book

Im Jahr 2019 feierte das Grundgesetz seinen 70. Jahrestag. Dies bot Anlass, auf die demokratiegeschichtlichen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts zurückzublicken: 1919 mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung und der ersten erfolgreichen Demokratiegründung, 1949 mit der deutsch-deutschen Staatsgründung, also der Wiedererrichtung einer parlamentarischen Demokratie im Westen und einer Volksdemokratie im Osten, und schließlich 1989 mit der Friedlichen Revolution und dem Aufbruch in ein geeintes demokratisches Deutschland. Doch wie sah das Demokratieverständnis aus, das diesen verschiedenen Wendepunkten jeweils zugrunde lag? Wie prägten vorherige Erfolge und Rückschläge spätere Aufbrüche in die Demokratie? Die Beiträge des Bandes zeichnen die langen und verwobenen Wurzeln unserer heutigen Demokratie nach und

zeigen die dynamische Entwicklung des Konzeptes ‚Demokratie‘ im Laufe der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf. DIE HERausgEbER Andreas Braune ist stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Torsten Oppelland ist Professor für Vergleichende Regierungslehre am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

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Bildung und Demokratie in der Weimarer Republik WEImaRER scHRIftEn zuR REpublIk – banD 19 2022. XVIII, 306 Seiten mit 15 s/w-Abbildungen € 58,– 978-3-515-13272-5 kaRtonIERt 978-3-515-13277-0 E-book

Als 1919 die Weimarer Verfassung verabschiedet wurde, wurde auch in Bildungsfragen eine ganze Reihe von Kompromissen geschlossen und Weichen für die Zukunft der Republik gestellt. Das betraf nicht nur die Bildung von Kindern und Jugendlichen im Schulsystem, sondern auch die Erwachsenenbildung, für die neue Grundlagen geschaffen wurden. Kern dieses ganzheitlichen Ansatzes war das Bewusstsein, dass sich die Republik aktiv um die Bildung der Menschen bemühen musste, um aus den Untertanen der Monarchie Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Republik zu machen. Zugleich blieb vor allem die schulische Bildung Ländersache und die Frage nach der ‚richtigen‘ Bildung eine weltanschauliche Frage. Das trug zur weiteren Politisierung der Bildungsfragen bei und verhinderte, dass aus den Kompromissen der Anfangsjahre ein Bildungskonsens werden konnte. Die Autorinnen und Autoren zeigen diese Kontroversen, aber auch wichtige Errungenschaften im Bereich der schuli-

schen und politischen Bildung auf. Neben der starken Politisierung der Bildungsfragen und Bildungspolitik wird daran auch deutlich, dass die Republik auch in diesem Bereich keinesfalls eine ‚Republik ohne Republikaner‘ war, und dass viele der Errungenschaften der ersten deutschen Demokratie nach 1945 wieder aufgegriffen wurden. DIE HERausgEbER Andreas Braune ist stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sebastian Elsbach ist Postdoktorand an der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ronny Noak ist pädagogischer Mitarbeiter des Thüringer Volkshochschulverbandes und promoviert an der Forschungsstelle Weimarer Republik zur Bildungsarbeit der politischen Parteien.

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Aufsätze Nicolas Junglas Politischer Karneval im Vormärz am Beispiel der Mainzer Fastnacht Felix Paul Maskow „The Miserable and Hellish Yankee Nation“: Politische Erziehung, Propaganda und Nationalismus während des Amerikanischen Bürgerkrieges im Spiegel von Schulbüchern aus den Konföderierten Staaten von Amerika (1861–1865)

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Karlheinz Lipp Alexander Moritz Frey – ein Regimentskamerad Adolf Hitlers im Ersten Weltkrieg und Autor pazifistischer Belletristik Christian Müller Pfade der Pogrome: Rollkommandos in Rheinhessen während der Novemberpogrome 1938 Sebastian Senger „Von Erbkranken und asozialen Familien“: Sozialrassismus zwischen Devianz und Delinquenz in Neustadt an der Weinstraße 1938–1945 Katherina Handschuh Die Rolle nationalsozialistischer Mehrfachdiskriminierung im Leben von Lieselotte Hartmann (1920–1948) Nadine Michollek Sie schaufelten ihr eigenes Grab: Romakindheiten und -jugend im faschistisch besetzten Kosovo und Mazedonien Benjamin Pfannes Josef Bürckel und die Aktivitäten Jacques Doriots in Deutschland nach dessen Flucht aus Paris im August 1944 bis zu seinem Tod im Februar 1945

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