Geschichte der abendländischen Philosophie: Mittelalter. 2 [2] 3534740807, 9783534740802

Diese Philosophiegeschichte setzt neue Maßstäbe! Anthony Kenny ist in seinem vierbändigen Werk etwas gelungen, wonach ma

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German Pages 334 [333] Year 2015

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Karte: Die Welt der mittelalterlichen Philosophie
Einführung
1 Philosophie und Glaube: Von Augustinus bis Maimonides
Augustinus über Geschichte
Die zwei Staaten des Augustinus
Die Tröstungen des Boethius
Die griechische Philosophie der Spätantike
Philosophie im karolingischen Reich
Muslimische und jüdische Philosophen
Avicenna und seine Nachfolger
Anselm von Canterbury
Abelard
Averroes
Maimonides
2 Die Scholastiker: Vom zwölften Jahrhundert bis zur Renaissance
Robert Grosseteste und Albertus Magnus
Der heilige Bonaventura
Thomas von Aquin
Die Nachwirkung Thomas von Aquins
Siger von Brabant und Roger Bacon
Duns Scotus
Wilhelm von Ockham
Die Rezeption von Ockhams Schriften
Die Oxforder Calculatoren
John Wyclif
Außerhalb der Grenzen von Paris und Oxford
Platonismus in der Renaissance
Aristotelismus in der Renaissance
3 Logik und Sprache
Augustinus über die Sprache
Die Logik von Boethius
Abelard als Logiker
Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert
Aussagen und Syllogismen
Thomas von Aquin über Denken und Sprache
Analogie und Univozität
Modistische Logik
Ockhams Sprache des Geistes
Wahrheit und logisches Schließen bei Ockham
Walter Burley und John Wyclif
Die dreiwertige Logik von Löwen
4 Erkenntnistheorie
Augustinus über Skeptizismus, Glaube und Wissen
Augustinus über göttliche Erleuchtung
Bonaventura über Erleuchtung
Thomas von Aquin über die Begriffsbildung
Thomas über Glauben, Erkenntnis und Wissenschaft
Die Erkenntnistheorie von Duns Scotus
Intuitive und abstraktive Erkenntnis bei Ockham
5 Physik
Augustinus über die Zeit
Philoponos, ein Kritiker des Aristoteles
Naturphilosophie im 13. Jahrhundert
Aktuale und mögliche Unendlichkeit
6 Metaphysik
Avicenna über Sein, Wesen und Existenz
Thomas von Aquin über Wirklichkeit und Möglichkeit
Die Metaphysik von Duns Scotus
Ockhams reduktionistisches Programm
Wyclif und der Determinismus
7 Geist und Seele
Augustinus über das innere Leben
Augustinus über den Willen
Der aktive Intellekt im islamischen Denken
Avicenna über Intellekt und Einbildungskraft
Die Psychologie von Averroes
Thomas von Aquin über die Sinne und den Intellekt
Thomas von Aquin über den Willen
Scotus gegen Thomas
Ockham gegen Scotus
Pomponazzi über die Seele
8 Ethik
Augustinus über das glückliche Leben
Augustinus über Lügen, Mord und Sex
Abelards Ethik der Intention
Die Ethik Thomas von Aquins
Thomas von Aquin als Moralist
Scotus über göttliches Recht
Die Ethik Ockhams
9 Gott
Augustinus' Gott
Boethius über göttliche Voraussicht
Die negative Theologie von Eriugena
Islamische Argumente für die Existenz Gottes
Anselms Gottesbeweis
Allmacht bei Damiani und Abelard
Grosseteste über Allwissenheit
Thomas von Aquin über Gottes ewiges Wissen und seine Macht
Thomas von Aquins Beweise für die Existenz Gottes
Duns Scotus' metaphysischer Beweis eines unendlichen Wesens
Scotus, Ockham und Valla über göttliche Voraussicht
Die belehrte Unwissenheit Nikolaus' von Kues
Zeittafel
Siglen und Abkürzungen
Bibliografie
Liste der Abbildungen
Register
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Geschichte der abendländischen Philosophie: Mittelalter. 2 [2]
 3534740807, 9783534740802

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Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie

Band I Band II Band III Band IV

– – – –

Antike Mittelalter Neuzeit Moderne

Anthony Kenny

Geschichte der abendländischen Philosophie Band II

Mittelalter Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke

Studienausgabe

Originalausgabe: A New History of Western Philosophy. Volume 2: Medieval Philosophy Oxford University Press © Sir Anthony Kenny 2005

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Studienausgabe 2016 3., unveränderte Auflage © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Tina Koch Satz: SatzWeise GmbH, Trier Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26787-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74079-6 eBook (epub): 978-3-534-74080-2

Inhalt Karte: Die Welt der mittelalterlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Philosophie und Glaube: Von Augustinus bis Maimonides Augustinus über Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zwei Staaten des Augustinus . . . . . . . . . . . . . . . Die Tröstungen des Boethius . . . . . . . . . . . . . . . . . Die griechische Philosophie der Spätantike . . . . . . . . . Philosophie im karolingischen Reich . . . . . . . . . . . . . Muslimische und jüdische Philosophen . . . . . . . . . . . Avicenna und seine Nachfolger . . . . . . . . . . . . . . . . Anselm von Canterbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abelard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Averroes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maimonides . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Scholastiker: Vom zwölften Jahrhundert bis zur Renaissance Robert Grosseteste und Albertus Magnus . . . . . . . . . . . . . . Der heilige Bonaventura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nachwirkung Thomas von Aquins . . . . . . . . . . . . . . . . Siger von Brabant und Roger Bacon . . . . . . . . . . . . . . . . . Duns Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wilhelm von Ockham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rezeption von Ockhams Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . Die Oxforder Calculatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . John Wyclif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Außerhalb der Grenzen von Paris und Oxford . . . . . . . . . . . . Platonismus in der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristotelismus in der Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Logik und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus über die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Logik von Boethius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Abelard als Logiker . . . . . . . . . . . . . . Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert Aussagen und Syllogismen . . . . . . . . . . Thomas von Aquin über Denken und Sprache Analogie und Univozität . . . . . . . . . . . Modistische Logik . . . . . . . . . . . . . . Ockhams Sprache des Geistes . . . . . . . . . Wahrheit und logisches Schließen bei Ockham Walter Burley und John Wyclif . . . . . . . . Die dreiwertige Logik von Löwen . . . . . .

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4

Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus über Skeptizismus, Glaube und Wissen . Augustinus über göttliche Erleuchtung . . . . . . . . Bonaventura über Erleuchtung . . . . . . . . . . . . Thomas von Aquin über die Begriffsbildung . . . . . Thomas über Glauben, Erkenntnis und Wissenschaft Die Erkenntnistheorie von Duns Scotus . . . . . . . Intuitive und abstraktive Erkenntnis bei Ockham . .

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Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus über die Zeit . . . . . . . Philoponos, ein Kritiker des Aristoteles Naturphilosophie im 13. Jahrhundert Aktuale und mögliche Unendlichkeit .

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Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Avicenna über Sein, Wesen und Existenz . . . . . . . . Thomas von Aquin über Wirklichkeit und Möglichkeit Die Metaphysik von Duns Scotus . . . . . . . . . . . . Ockhams reduktionistisches Programm . . . . . . . . Wyclif und der Determinismus . . . . . . . . . . . . .

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Geist und Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus über das innere Leben . . . . . . . . . Augustinus über den Willen . . . . . . . . . . . . Der aktive Intellekt im islamischen Denken . . . . Avicenna über Intellekt und Einbildungskraft . . . Die Psychologie von Averroes . . . . . . . . . . . . Thomas von Aquin über die Sinne und den Intellekt Thomas von Aquin über den Willen . . . . . . . . Scotus gegen Thomas . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Ockham gegen Scotus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pomponazzi über die Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus über das glückliche Leben Augustinus über Lügen, Mord und Sex Abelards Ethik der Intention . . . . . Die Ethik Thomas von Aquins . . . . Thomas von Aquin als Moralist . . . Scotus über göttliches Recht . . . . . Die Ethik Ockhams . . . . . . . . . .

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Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus’ Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Boethius über göttliche Voraussicht . . . . . . . . . . . . . . . Die negative Theologie von Eriugena . . . . . . . . . . . . . . . Islamische Argumente für die Existenz Gottes . . . . . . . . . . Anselms Gottesbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allmacht bei Damiani und Abelard . . . . . . . . . . . . . . . . Grosseteste über Allwissenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas von Aquin über Gottes ewiges Wissen und seine Macht Thomas von Aquins Beweise für die Existenz Gottes . . . . . . . Duns Scotus’ metaphysischer Beweis eines unendlichen Wesens . Scotus, Ockham und Valla über göttliche Voraussicht . . . . . . Die belehrte Unwissenheit Nikolaus’ von Kues . . . . . . . . . .

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280 280 285 287 289 292 296 298 300 303 305 308 311

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen und Abkürzungen

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liste der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Duns

Oxford London Canterbury

Deventer Köln Aachen Soisson

Leuven Bec

Sens Poitiers

Basel

München Konstanz

Lyon Avignon

Padua Mailand Ravenna Florenz Rom Fossanova

Córdoba

Neapel

Hippo Karthago

Marrakesch

Konstantinopel

Chalkedon

Alexandria 0

400

800 km

Urfa

Ephesus

Jerusalem

Die Welt der mittelalterlichen Philosophie

Paris

Einführung In unserem Zeitalter der Spezialisierung sind die meisten Geschichten der Philosophie das Gemeinschaftswerk vieler Autoren, die jeweils auf unterschiedliche Gebiete und Epochen spezialisiert sind. Indem Oxford University Press mir anbot, als Alleinautor eine Geschichte der Philosophie von Thales bis Derrida zu schreiben, brachte der Verlag damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Schilderung der Entwicklung der Philosophie aus einem einzigen Gesichtspunkt, der die antike, mittelalterliche, neuzeitliche und gegenwärtige Philosophie in einer an zusammenhängenden Themen orientierten, durchgehenden Darstellung verbindet, ein lohnendes Projekt sei. Dies ist der zweite von vier Bänden. Der erste Band behandelte die frühen Jahrhunderte der Philosophie im klassischen Griechenland und in Rom. In diesem Band wird die Darstellung von der Bekehrung des heiligen Augustinus bis zur humanistischen Renaissance fortgeführt. Es gibt zwei verschiedene Gründe, warum Leser die Geschichte der Philosophie studieren möchten: Sie können entweder hauptsächlich an Philosophie oder hauptsächlich an Geschichte interessiert sein. Wir können die großen Philosophen der Vergangenheit studieren, um die Fragestellungen der gegenwärtigen philosophischen Forschung in ihren historischen Kontext zu stellen. Oder wir wollen vielleicht die Menschen und Gesellschaften vergangener Epochen verstehen und ihre philosophischen Werke lesen, um das intellektuelle Klima zu erfassen, in dem sie gedacht und gehandelt haben. Wir können die Philosophen früherer Jahrhunderte lesen, um bei ihnen Hilfen zur Lösung von philosophischen Problemen zu finden, die nach wie vor aktuell sind, oder um tiefer in die Gedankenwelt einer vergangenen Epoche einzudringen. Ich bin von Beruf Philosoph, nicht Historiker, doch glaube ich, dass die Geschichte der Philosophie für das Studium der Philosophie selbst von großer Bedeutung ist. Es ist eine Illusion, wenn man annimmt, dass der gegenwärtige Stand der Philosophie den höchsten Punkt darstellt, den die philosophischen Bemühungen bislang erreicht haben. Mein Hauptanliegen beim Verfassen dieses Buches besteht im Gegenteil darin zu zeigen, dass die Philosophie der großen Denker der Vergangenheit in vieler Hinsicht nach wie vor aktuell ist und dass das sorgfältige Studium der großen Werke auch für Menschen der Gegenwart noch philosophisch erhellend sein kann. Es ist ein großes Privileg, sie geerbt zu haben. Ich versuche in diesen Bänden sowohl ein philosophischer Historiker als auch ein historischer Philosoph zu sein. Philosophiegeschichten aus der Feder mehrerer Autoren sind manchmal chronologisch und manchmal thematisch aufgebaut. Ich werde versuchen, beide Vorgehensweisen zu kombinieren, indem ich in jedem Band zu-

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Einführung

nächst eine chronologische Übersicht biete und dieser dann eine thematische Behandlung bestimmter philosophischer Fragen von bleibender Bedeutung folgen lasse. Leser mit vorwiegend historischem Interesse werden sich stärker auf die chronologische Übersicht konzentrieren und bei Bedarf die thematischen Abschnitte zur Ergänzung zurate ziehen. Diejenigen Leser, die stärker an den philosophischen Problemen interessiert sind, werden hauptsächlich die thematischen Abschnitte der Bände lesen und die chronologischen Übersichten konsultieren, um ein bestimmtes Problem in seinen historischen Kontext stellen zu können. Bei den Lesern, die ich vor Augen habe, handelt es sich um Studenten auf dem Niveau des zweiten und dritten Studienjahres. Da mir jedoch klar ist, dass viele Studenten, die sich für die Geschichte der Philosophie interessieren, für andere Fächer eingeschrieben sind, in denen die Philosophie nur eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich, soweit es geht, nicht voraussetzen, dass meine Leser mit den philosophischen Methoden und der philosophischen Terminologie der Gegenwart vertraut sind. Ich habe mir außerdem zum Ziel gesetzt, so klar und unterhaltsam zu schreiben, dass die Lektüre dieser Geschichte der Philosophie auch denjenigen Vergnügen bereitet, die sie nicht lesen, weil es ihr Lehrplan nahelegt, sondern die dies zur eigenen Bildung und Unterhaltung tun. Es ist noch nicht sehr lange her, dass man an den Universitäten in Kursen zur Geschichte der Philosophie von Aristoteles direkt zu Descartes weiterging und die Spätantike sowie das Mittelalter übersprang. In akademischen Kreisen war die Überzeugung, dass die Philosophie des Mittelalters das Studium nicht lohne, weit verbreitet. Diese Überzeugung basierte normalerweise nicht auf einer engen Vertrautheit mit den relevanten Texten: Es war wahrscheinlicher, dass es sich hierbei um ein ungeprüftes Erbe eines religiösen oder humanistischen Vorurteils handelte. Es gab allerdings viele echte Hindernisse, die die mittelalterliche Philosophie schwerer zugänglich machte als die Philosophie jeder anderen Epoche. Man kann vier bedeutsame Hindernisse anführen, die überwunden werden müssen, wenn man mit dem Denken der Philosophen des Mittelalters vertraut werden will. Es handelt sich hierbei um sprachliche, professionelle, konfessionelle und um solche Gründe, die mit der Zugehörigkeit vieler Philosophen des Mittelalters zu bestimmten Orden zu tun haben. Die meisten philosophischen Texte des Hochmittelalters sind in einem Latein geschrieben, das selbst für mit klassischem Latein vertraute Leser schwer verständlich ist. Auch Thomas von Aquin setzt einem Leser, der sein Latein durch die Lektüre von Livius und Cicero geschult hat, anfänglich einiges an Lesewiderstand entgegen, und dabei schreibt Thomas im Vergleich zu den meisten seiner Kollegen und Nachfolger ein einfaches und klares Latein. 1 Erst in den letzten Jahren sind englische Übersetzungen von mittelalterlichen Autoren allgemein verfügbar geworden, und die Auf1

Anm. d. Übers.: Eine vollständige Ausgabe der Werke Thomas von Aquins im lateinischen Original finden interessierte Leser unter www.corpusthomisticum.org.

Einführung

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gabe der Übersetzung ist alles andere als trivial. Das scholastische Latein ist voll von technischen Neologismen, die ohne umständliche Umschreibungen nur schwer in andere Sprachen zu übertragen sind. Es trifft zwar zu, dass viele dieser Neologismen in transliterierter Form in modernen Sprachen fortleben, häufig auch im alltäglichen Sprachgebrauch (wie zum Beispiel „Intelligenz“, „Evidenz“ und „voluntaristisch“). Doch hat die moderne Verwendung dieser Wörter niemals ein genaues Gegenstück in ihrem scholastischen Gebrauch, und oft weicht er sogar stark davon ab. „Subjektiv“ und „objektiv“ sind beispielsweise zwei Begriffe, die seit dem Mittelalter ihre Bedeutungen praktisch umgekehrt haben. Das erste, sprachliche Problem ist mit dem zweiten des Professionalismus eng verbunden. Das Studium der Philosophie war im Mittelalter professionalisierter als zu irgendeiner anderen Zeit vor der Gegenwart – daher auch der Begriff „Scholastik“. Philosophie fand größtenteils in engen universitären Gemeinschaften statt, die einen gemeinsamen Lehrplan, ein gemeinsames Erbgut an Texten sowie einen gemeinsamen Vorrat technischer Begriffe hatten. Die meisten der uns überlieferten Werke sind in irgendeiner Weise aus Vorlesungen, Übungen und Diskussionen an Universitäten hervorgegangen, und die Autoren dieser Werke konnten davon ausgehen, dass ihre Hörer oder Leser mit einem komplizierten Jargon vertraut waren und außerdem gelehrte Anspielungen verstanden. Für allgemeine Leser wurde fast gar keine Philosophie geschrieben. Die Autoren und Leser der Philosophie waren fast alle zölibatäre Kleriker. In einem Anhang zur Cambridge History of Later Medieval Philosophy sind Kurzbiografien der 66 bedeutendsten Philosophen des Mittelalters enthalten. Darunter findet sich nicht eine Frau und nur zwei von ihnen waren keine Kleriker, sondern Laien. Das dritte Problem steht seinerseits mit dem zweiten in Beziehung. Da die bekanntesten Philosophen des Mittelalters der katholischen Kirche angehörten, wurde ihre Philosophie oft als Teil der Theologie oder Apologetik angesehen. Dies ist nicht fair: Sie alle waren sich des Unterschieds zwischen philosophischen Argumenten und dogmatischer Evangelisation bewusst. Allerdings trifft es zu, dass ein großer Teil ihrer besten philosophischen Arbeiten, da die meisten von ihnen ihre akademische Laufbahn in der theologischen Fakultät beendeten, in ihren theologischen Werken enthalten sind, und es bedarf einiger Erfahrung, um sie ausfindig zu machen. Hinzu kommt, dass die meisten der wichtigen Denker religiösen Orden angehörten, die mit ihrem philosophischen Erbe häufig nicht gerade großzügig umgingen. Es gab lange Zeiten, in denen es so schien, dass alle und nur Dominikaner den heiligen Thomas studierten und alle und nur Franziskaner Bonaventura und Scotus. (Manche Scholastiker wurden fast gar nicht studiert, weil sie keinem Orden angehörten. So bestanden beispielsweise die geistlichen Erben von John Wyclif lediglich aus der kleinen Gruppe keinem Orden angehörender Kleriker, die mit der Kirche in Konflikt geraten waren.) Nachdem Papst Leo XIII. Thomas von Aquin als katholischem Theologen einen besonderen Status gegeben hatte, wurden seine Werke von vielen studiert, die keine Verbindung zum dominikanischen Orden hatten. Doch die Erhebung

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Einführung

in diesen Status bestärkte lediglich die Ansicht säkularer Philosophen, er sei im Wesentlichen ein Sprachrohr der Kirche. Darüber hinaus nährte sie im Bereich der katholischen Forschung und Lehre die Auffassung, allein Thomas von Aquin sei es wert, als Philosoph ernst genommen zu werden. Dass man im späteren Mittelalter allmählich einige seiner Lehrmeinungen aufgab, wurde als zentrale Ursache für den Niedergang der Kirche gesehen, der zur Reformation führte. Ein philosophisches Streitgespräch zwischen Scotus und Ockham war – betrachtet man es aus dieser Perspektive – wie ein Ringkampf zwischen zwei Männern, die am Rande einer Klippe standen, von der sie beide in ihren Untergang stürzen sollten. Der Professionalismus und Konfessionalismus der scholastischen Philosophie hatte unter anderem zur Folge, dass mittelalterliche Philosophen – verglichen mit früheren und späteren Autoren – als eher anonyme Figuren erscheinen. Nicht nur haben wir in manchen Fällen nur sehr wenige zusätzliche Informationen über ihr Leben: Ihre eigenen Schriften geben ihre Persönlichkeiten im Vergleich zu denen anderer Philosophen kaum zu erkennen. Sie verfassen nur wenige eigenständige Bücher. Der Hauptteil ihrer Arbeit besteht darin, die Arbeit ihrer Vorgänger in ihren Orden oder in der Kirche zu kommentieren und fortzusetzen. Das gesamte Gebäude der Scholastik gleicht einer mittelalterlichen Kathedrale: Sie ist die Leistung vieler verschiedener Handwerker, die – wie begabt Einzelne unter ihnen auch gewesen sein mögen – sich kaum darum gekümmert haben, erkennbar zu machen, welche Teile der Gesamtstruktur ihre eigene Arbeit war, die sie ohne Unterstützung anderer bewerkstelligt haben. Häufig ist es lediglich in den spontanen, als „Quodlibets“ bezeichneten Disputationen so, dass wir den Eindruck gewinnen, wir hätten es mit den Äußerungen einer lebendigen Einzelperson zu tun. Natürlich gilt diese Verallgemeinerung lediglich für das Hochmittelalter unter dem Einfluss der Scholastik. In der vorscholastischen Periode begegnen wir Philosophen, die höchst beeindruckende Persönlichkeiten und durch keine vorgegebene Schablone geformt waren. Augustinus, Abelard und selbst Anselm kommen dem romantischen Bild des Philosophen als eines einsamen Genies näher als irgendeinem Ideal eines Handwerkers, der seinen Stein einer gemeinsam errichteten Pyramide hinzufügt. Eine Geschichte der abendländischen Philosophie des Mittelalters muss Philosophen behandeln, die nicht als abendländisch in einem modernen Sinn angesehen werden, da die intellektuellen Grenzen des mittelalterlichen, lateinischen Europa, glücklicherweise, für die Einflüsse der muslimischen Welt und der in ihr lebenden Minderheiten durchlässig waren. Lateinische Versionen der philosophischen Schriften von Avicenna und Averroes hatten nicht weniger Einfluss auf die großen Scholastiker als die Werke ihrer christlichen Vorgänger. Daher enthält dieser Band eine Darstellung der muslimischen und jüdischen Philosophie, jedoch nur insoweit, als diese Philosophien in den Hauptstrom des abendländischen Denkens eingeflossen sind, nicht gemäß ihres philosophischen Eigenwerts. Meine eigene philosophische Schulung begann an der Gregorianischen Univer-

Einführung

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sität in Rom, die es sich in den 1950er Jahren, entsprechend den Anweisungen der Päpste der jüngsten Vergangenheit, noch immer zum Ziel setzte, Philosophie im Geiste des heiligen Thomas zu unterrichten. Ich war meinen dortigen akademischen Lehrern, den Priestern Bernard Lonergan und Frederick Copleston, dafür dankbar, dass sie mir zeigten, dass die Schriften des heiligen Thomas wesentlich lesenswerter waren als populäre thomistische Lehrbücher und dass Thomas von Aquin nicht der einzige mittelalterliche Denker war, der ein aufmerksames Studium verdiente. Nach meiner Zeit an der Gregoriana ging ich für weitere philosophische Studien nach Oxford, wo damals die Sprachphilosophie (ordinary language philosophy) ihre Blütezeit hatte. Sie war mir wesentlich geistesverwandter als die römische Scholastik, doch hatte ich das Glück, Professor Peter Geach und dem Priester Herbert McCabe OP zu begegnen, bei denen ich lernte, dass viele der Probleme, die damals Philosophen der analytischen Tradition beschäftigten, Problemen sehr ähnlich waren, die bereits von mittelalterlichen Philosophen und Logikern, häufig auf ebenso hohem Niveau, studiert worden waren. Tatsächlich brachte das große Interesse an der logischen Analyse der gewöhnlichen Sprache, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für Oxford so charakteristisch war, diese Bemühungen mittelalterlichen Methoden und Fragen näher als irgendeine andere Epoche der Philosophie seit der Renaissance. Doch dies wurde damals noch kaum gewürdigt. So hat zum Beispiel William Kneale, ein Oxforder Professor der Logik, der eine auf gründlicher Forschung basierende, wohlgesinnte Übersicht über die mittelalterliche Logik schrieb, über die Entwicklung der mittelalterlichen Philosophie zwischen 1200 und 1400 Folgendes zu sagen: „Wir werden an dieser Stelle nicht zu entscheiden versuchen, ob das Ergebnis die große intellektuelle Anstrengung, die es hervorgebracht hat, wert gewesen ist. Vielleicht verdienen die Systeme von Thomas von Aquin und von Duns Scotus nur die widerwillige Bewunderung, die wir den ägyptischen Pyramiden und dem Schloss von Versailles entgegenbringen. Und möglicherweise wäre es für die vielen tausend jungen Männer, die sich an mittelalterlichen Universitäten mit subtilen Abstraktionen abmühten, besser gewesen, sie hätten literarische Studien betrieben, die man damals nur für einfache Schulen geeignet hielt.“ 2

Auf dem Gebiet der Logik erkannte man zuerst, dass das Studium der mittelalterlichen Texte Vieles zu bieten hatte. Mittelalterliche Logiker hatten sich mit Fragen beschäftigt, die nach der Renaissance in Vergessenheit geraten waren, und viele ihrer Einsichten mussten während der Wiedergeburt der Logik im 20. Jahrhundert wiederentdeckt werden. Die Cambridge History of Later Medieval Philosophy brachte dies einem breiteren Publikum zur Kenntnis und leitete eine neue Phase der Rezeption 2

W. Kneale and M. Kneale, The Development of Logic (Oxford: Oxford University Press, 1962), 226.

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Einführung

der mittelalterlichen Philosophie in der allgemeinen, säkularen akademischen Welt ein. Wie kraftvoll diese Wiederbelebung gewesen ist, lässt sich daran ablesen, wie viele hervorragende Artikel zur Philosophie des Mittelalters in der kürzlich erschienenen Routledge Encyclopedia of Philosophy zu finden sind. Die Zunahme des Interesses der Englisch sprechenden Welt an der mittelalterlichen Philosophie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist niemandem mehr zu verdanken als Norman Kretzmann, dem Hauptherausgeber der Cambridge History. Zusammen mit seinem Mitherausgeber Jan Pinborg hat er die Arbeiten zusammengetragen, die in mehreren Ländern auf dem europäischen Festland entstanden sind, und sie einem breiteren akademischen Publikum in den USA und in Großbritannien vorgestellt. Seine eigene Lehrtätigkeit an der Sage School der Cornell University führte zur Entstehung einer Gruppe brillanter junger Forscher, die in den letzten Jahren über zahlreiche Themen der mittelalterlichen Philosophie bedeutsame Aufsätze veröffentlich haben. Paradoxerweise war eine Folge des neuen Interesses am Mittelalter eine Herabstufung von Thomas von Aquin. So ist sein Indexeintrag in der Cambridge History beispielsweise kürzer als der Eintrag für Sophismen. Kretzmann erkannte diesen Schwachpunkt und beseitigte ihn: Er verbrachte die letzten Jahre seines Lebens damit, zwei meisterhafte Bücher über die Summe gegen die Heiden des heiligen Thomas zu schreiben. Ich selbst bin der Auffassung, dass es Thomas von Aquin auch weiterhin verdient, als bedeutendster Philosoph des Mittelalters bezeichnet zu werden. Allerdings ist er nur ein Höhepunkt in einer Kette, die auch mehrere andere glänzende Gipfel enthält. Die Philosophie des Mittelalters ist vor allem ein Kontinuum. Und wenn man einen einzelnen Philosophen studiert, sei es Abelard, Thomas von Aquin oder Ockham, so gewinnt man einen Eindruck von einem Stadium eines fortlaufenden gedanklichen Prozesses, und man lernt schnell, dass es zwischen zwei größeren Gipfeln kleinere gibt, die nicht zu vernachlässigen sind: So steht zum Beispiel zwischen Thomas von Aquin und Scotus Heinrich von Gent und zwischen Scotus und Ockham Heinrich von Harclay. Ein Philosophiehistoriker der antiken Welt kann, ohne allzu große Mühe, sämtliche auf uns gekommenen philosophischen Schriften der Antike zur Kenntnis nehmen. Eine vergleichbare Leistung würde jedoch die Kräfte selbst des gewissenhaftesten Historikers der mittelalterlichen Philosophie weit übersteigen. Augustinus, Abelard und die großen Scholastiker haben so viel geschrieben, dass es Jahrzehnte dauert, sämtliche Werke auch nur eines Einzelnen von ihnen zu studieren. Daher muss sich jeder, der einen Band wie den vorliegenden verfassen will, stark auf Sekundärliteratur stützen, und sei es auch nur zu dem Zweck, Anleitungen dafür zu geben, wie man beim Studium der Primärtexte am besten vorgeht. An dieser Stelle möchte ich bekennen, wie tief ich in der Schuld der in der Bibliografie angeführten Autoren stehe, angefangen von meinem Lehrer, dem Priester Frederik Copleston (dessen Geschichte der Philosophie den Vergleich mit vielen seither verfassten Werken nicht scheuen muss) bis zu den neuesten Monografien meiner Kollegen und der Schüler

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von Norman Kretzmann. Besonders viel verdanke ich anderen auf dem Gebiet der islamischen Philosophie, da ich des Arabischen nicht mächtig bin. Während der Arbeit an den entsprechenden Abschnitten dieses Buches hatte ich Grund zutiefst zu bedauern, dass ich die Werke Avicennas, dessen Genie und Einfluss mir immer deutlicher geworden sind, nur in Latein lesen kann. Mein besonderer Dank gilt Dr. John Marenbon und Professor Robert Pasnau, die viele hilfreiche Vorschläge zur Verbesserung einer früheren Version dieses Bandes gemacht und mich vor zahlreichen Fehlern bewahrt haben. Anmerkung des Übersetzers: Bei der Übersetzung der Zitate wurde nach Möglichkeit eine deutsche Standardübersetzung verwendet oder der Originaltext zurate gezogen.

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Philosophie und Glaube: Von Augustinus bis Maimonides Im ersten Band dieser Geschichte der Philosophie haben wir ihre Entwicklung in der Antike bis zur Bekehrung des heiligen Augustinus am Ende des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung verfolgt. Das Leben des Augustinus markiert eine Epochenwende in der Ideengeschichte. In seinen frühen Jahren nahm er aus mehreren Quellen philosophische Ideen verschiedener Traditionen auf, besonders jedoch aus der platonischen Tradition, sei es der skeptischen Version der neuen Akademie oder der metaphysischen Version des Neuplatonismus. Nach seiner Bekehrung zum Christentum entwickelte er in einer Reihe äußerst umfangreicher Abhandlungen eine Synthese jüdischer, griechischer und christlicher Ideen, die zum Hintergrund für das nächste Jahrtausend des abendländischen philosophischen Denkens werden sollte. Aus philosophischer Sicht war der fruchtbarste Lebensabschnitt von Augustinus die Zeit unmittelbar vor und nach seiner Taufe zu Ostern des Jahres 387. Zwischen seiner Bekehrung und seiner Taufe verbrachte er eine mehrere Monate lange Vorbereitungszeit mit Freunden und Mitgliedern seiner Familie in Cassiciacum, einem Landhaus in der Nähe von Mailand. In diesem Zeitabschnitt entstand eine Reihe von Werken, die wortwörtlichen Abschriften lebendiger Diskussionen gleichen, insbesondere die Schrift Contra Academicos, die versucht, die wahren von den falschen Elementen des Skeptizismus zu trennen. Außerdem erfand Augustinus eine neue Darstellungsform, der er den Namen „Selbstgespräche“ gab. Er schrieb einen Dialog mit sich selbst, in dem die beiden Charaktere die Namen Augustinus und Vernunft tragen. Die Vernunft fragt Augustinus, was er wissen will. „Ich will Gott und die Seele erkennen“, antwortet Augustinus. „Sonst nichts?“ „Überhaupt nichts.“ (S 1. 2. 7) Die Vernunft verspricht, seinem Geist Gott so deutlich erscheinen zu lassen, wie die Sonne den Augen erscheint. Hierzu müssen die Augen der Seele von sämtlichen Wünschen nach vergänglichen Dingen gereinigt werden. In diesem Dialog schwört Augustinus dem Streben nach Besitz, Ehre und sexueller Lust ab (wobei dieser letzte Verzicht lebhaft beschrieben wird). Die Vernunft löst ihr Versprechen, Gott darzustellen, noch nicht ein, doch sie bietet Augustinus einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele: Er möge den Begriff der Wahrheit bedenken. Wahre Dinge können vergehen, doch die Wahrheit selbst besteht ewig. Selbst wenn die Welt aufhört zu existieren, wäre es dennoch wahr, dass die Welt aufgehört hat zu existieren. Die Heimat der Wahrheit ist die Seele, sodass die Seele, wie die Wahrheit, unsterblich sein muss (S 1. 15. 28, 2. 15. 28).

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Das früheste Porträt des heiligen Augustinus.

Nach seiner Taufe blieb Augustinus anderthalb Jahre in Italien. In dieser Zeit schrieb er einen weiteren kurzen Traktat über die Unsterblichkeit der Seele sowie ein umfangreicheres Werk, Über die Freiheit des Willens, dem wir bereits im ersten Band dieser Philosophiegeschichte begegnet sind. Im Jahre 388 kehrte er nach Afrika zurück und führte die nächsten fünf Jahre das Leben eines Privatgelehrten in seiner Heimatstadt Tagaste. Im Jahre 391 fand er seine endgültige Berufung und wurde

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zum Priester geweiht. Wenig später wurde er Bischof von Hippo in Algerien, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 430 lebte. Die überwiegende Mehrzahl seiner Werke entstand in diesem letzten Abschnitt seines Lebens. Er war ein äußerst produktiver Autor, und seine gesammelten Werke erreichen einen Umfang von fünf Millionen Wörtern. Ein großer Teil von ihnen besteht aus Predigten, Bibelkommentaren und kontroversen Traktaten über Theologie oder Kirchenzucht. Er schrieb keine philosophischen Abhandlungen mehr, die mit denen der Jahre seiner Bekehrung vergleichbar wären. Doch eine Reihe seiner Hauptwerke enthält Texte von großem philosophischem Interesse. Im Jahre 397 schrieb Augustinus ein Werk mit dem Titel Bekenntnisse, einen im Stil eines Gebets verfassten Dialog mit Gott, in dem er sein Leben von der Kindheit bis zu seiner Bekehrung nachzeichnet. Es ist keine normale Autobiografie, obwohl sich behaupten lässt, dass sie das erste Beispiel dieses Genres ist. Sie ist die Hauptquelle unseres Wissens über Augustinus’ Leben vor seiner Zeit als Bischof, enthält zahlreiche philosophische Gelegenheitsreflexionen und endet mit einer umfassenden Untersuchung des Wesens der Zeit. 1 Ihr bezaubernder Stil machte sie von Anfang an zum beliebtesten seiner Werke. Zwischen 400 und 417 schrieb Augustinus an einem weiteren Meisterwerk: an 15 Büchern mit dem Titel Über die Trinität. In den Büchern zu Beginn dieser Abhandlung geht es hauptsächlich um die Analyse biblischer und kirchlicher Texte, die sich mit dem Mysterium der drei Personen in dem einen Gott befassen. Von wesentlich größerem Interesse für Philosophen ist die subtile Darstellung der Psychologie des Menschen in den späteren Büchern, die im Zusammenhang mit der Suche nach einer Analogie der himmlischen Trinität in den Herzen und Köpfen von Männern und Frauen steht. 2

Augustinus über Geschichte Das umfangreichste und arbeitsintensivste Werk des Augustinus war sein Gottesstaat, an dem er von 413 bis 426 arbeitete. Geschrieben zu einer Zeit, in der das römische Weltreich durch wiederholte Invasionen von Barbaren bedroht war, stellt es die erste große Synthese des klassischen und christlichen Denkens dar. Dies ist schon dem Titel des Werkes zu entnehmen. Die christlichen Evangelien machen viele Aussagen über das Reich Gottes, doch für Griechenland und Rom war das Paradigma einer politischen Institution nicht das Königreich, sondern die Stadt. Selbst Kaiser sahen sich vorzugsweise als erste Bürger einer Stadt, und der philosophische Kaiser Marcus Aurelius glaubte, dass die Stadt, die wir vor allen anderen lieben sollten, die Stadt

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Siehe Kapitel 5. Siehe Kapitel 7.

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des Zeus sei. Der Gottesstaat stellt Jesus, den gekreuzigten König der Juden, an die Spitze des idealisierten Stadtstaates der heidnischen Philosophie. Wie Aristoteles in seiner Metaphysik gibt Augustinus einen Überblick über die Geschichte der Philosophie seit den längst vergangenen Tagen von Thales und zeigt, wie frühere Philosophen sich der Wahrheit, in deren Besitz er nun ist, zwar genähert, sie jedoch verfehlt hatten. Während Aristoteles hauptsächlich an den physikalischen Theorien seiner Vorgänger interessiert war, ging es Augustinus vor allem um deren philosophische Theologie – ihre „natürliche“ Theologie, wie er sie nannte und womit er einen Begriff in Umlauf brachte, der noch eine lange Geschichte haben sollte (DCD VIII. 1–9). Im Verlauf des gesamten Werkes stellt Augustinus christliche Lehren der besten antiken Philosophie gegenüber, und insbesondere den Schriften seiner Lieblingsphilosophen, der Neuplatoniker, von denen er meinte, sie stünden den Christen am nächsten (DCD VIII. 8 f.). Ein schönes Beispiel hierfür ist der folgende Text: „Der Platoniker Plotin wenigstens, der von der Vorsehung handelt, beweist, daß sie sich erstrecke vom höchsten Gott angefangen, dem die nur dem geistigen Schauen erkennbare und unaussprechliche Schönheit eigen ist, bis herab zu den irdischen und ganz geringfügigen Dingen, und er beweist es an der Schönheit der Blüten und Blätter; er versichert, daß all diese sozusagen verächtlichen und in kürzester Frist vergehenden Dinge eine so herrliche Harmonie ihrer Formen nicht haben könnten, wenn sie ihre Form nicht von daher hätten, wo die übersinnliche [intelligible] und unwandelbare Form verharrt, die alles zumal in sich schließt. Darauf weist der Herr Jesus hin in den Worten: ‚Betrachtet die Lilien auf dem Felde, sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Und doch sage ich euch, daß selbst Salomon in all seiner Herrlichkeit nicht so bekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Felde, das heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird, also kleidet, wieviel mehr euch, ihr Kleingläubigen!‘“ (DCD X. 14; vgl. Plotin, Enneaden 3. 2. 13; Matt. 6: 28 f.)3

Doch während Augustinus bereit ist, Platonismus in die Bergpredigt zu lesen, zeigt er kein Verständnis für Versuche, der traditionellen römischen Religion eine philosophische oder allegorische Interpretation zu geben. Der äußere Anlass für die Abfassung des Gottesstaates – an dem Augustinus 13 Jahre lang arbeitete – war die Plünderung Roms durch gotische Invasoren. Heiden sahen die Ursache dieser Katastrophe darin, dass die Christen die Anbetung der Götter der Stadt abgeschafft hatten, die sie daher in der Stunde der Not fallen gelassen hatten. Augustinus widmete die ersten Bücher seiner Abhandlung dem Beweis, dass die Götter des klassischen Rom bösartig und machtlos gewesen und ihre Verehrung abstoßend und verderblich gewesen seien. 3

Sämliche Zitate aus De civitate dei stammen aus oder sind angelehnt an: A. Schröder, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften 1–3, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Band 1 (München: N. N., 1911–16).

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Die Römer hatten ihre obersten Götter – Jupiter, Juno, Venus und die anderen – mit den Charakteren des homerischen Pantheon identifiziert, d. h. mit Zeus, Hera und Aphrodite. Augustinus folgt Platon und Cicero darin, dass er die Mythen, die diesen Gottheiten ein willkürliches, grausames und anstößiges Verhalten zuschreiben, als Gotteslästerungen verwirft. Außerdem macht er sich über die Vielzahl geringerer Götter im Aberglauben des römischen Volkes lustig. So fragt er beispielsweise: Ist der Himmel so bürokratisiert, dass – während ein menschlicher Wächter für ein Haus ausreicht – nicht weniger als drei Götter benötigt werden: Forculus zur Bewachung der Türen, Cardea für die Angeln und Limentinus für die Schwelle? (DCD IV. 18) Die Beschreibung und Individuation dieser nachgeordneten Gottheiten wirft eine Reihe philosophischer Probleme auf, die von Augustinus veranschaulicht werden. Häufiger setzt er gegen das späte römische Heidentum jedoch die Waffe des gelehrten Sarkasmus ein, die Gibbon, 13 Jahrhunderte später, auf solch stichelnde Weise gegen das historische Christentum wenden sollte. Eine kurze, eloquente Übersicht über die Geschichte der römischen Republik genügt, um zu zeigen, dass die Verehrung der alten Götter keinen Schutz vor Katastrophen garantierte. Dass das römische Weltreich schließlich zu so beispielloser Größe aufstieg, war Augustinus zufolge der Lohn des einen wahren Gottes für die Tugenden der besten seiner Bürger: „So haben auch sie ihre privaten Interessen zugunsten der gemeinsamen, das ist des Staates und seiner Machtmittel hintangesetzt, sie haben der Habgier widerstanden, haben das Beste des Vaterlandes mit unbefangenem Rate besorgt, nicht behindert durch Sünde vom Standpunkt ihrer Gesetze aus, noch durch Leidenschaft; mit all diesen Künsten als mit den rechten Mitteln strebten sie nach Ehren, Herrschaft und Ruhm.“ (DCD V. 15) Der Lohn, den sie erstrebten, wurde ihnen zuteil: Es gelang ihnen, ihre Gesetze vielen Nationen aufzuerlegen, und in den Annalen zahlreicher Völker stehen sie in Ehre und Achtung. An der himmlischen Stadt haben sie jedoch nicht teil, denn sie haben den einen wahren Gott nicht verehrt. Ihr Ziel war lediglich die Selbstverherrlichung. Ein Großteil von Augustinus’ Kritik der römischen Religion konzentriert sich auf die erniedrigende Natur der öffentlichen Spektakel, die zu Ehren der Götter abgehalten wurden. Viele moderne liberale Menschen wären von dem, was sich in römischen Theatern und Arenen zutrug, zweifellos nicht weniger abgestoßen worden als Augustinus. Wahrscheinlich wären sie jedoch stärker von der Grausamkeit der römischen Unterhaltung als ihrer Schamlosigkeit schockiert, während es bei Augustinus umgekehrt gewesen zu sein scheint. Augustinus hält die Götter der heidnischen Mythen nicht für rein fiktive Wesen. Er sieht in ihnen im Gegenteil böse Geister, die den menschlichen Aberglauben ausnutzen, um die Verehrung, die dem einen wahren Gott geschuldet wird, auf sich selbst umzulenken (DCD VII. 33). Mehrere Platoniker hatten von einer dreiteiligen Klassifikation rationaler Wesen gesprochen und Götter, Menschen und Dämonen unterschieden. Gott wohnte im Himmel, die Menschen auf der Erde und die Dämonen in der Luft zwischen ihnen. Dämonen waren gottähnlich, insofern sie unsterblich

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waren, glichen jedoch den Menschen, da sie von Leidenschaften bewegt wurden. Viele Dämonen sind böse, doch einige sind gut, wie zum Beispiel derjenige, von dem Sokrates als seinem Helfer sprach. 4 Gute Dämonen konnten nach Meinung dieser Platoniker als Vermittler zwischen den Menschen und Göttern dienen (DCD VIII. 14, IX. 8, X. 9). Augustinus verwirft nicht die Vorstellung, dass die Luft voller Dämonen ist, er akzeptiert jedoch nicht, dass irgendwelche von ihnen gut sind, und noch weniger, dass sie zwischen Gott und den Menschen vermitteln können. In vieler Hinsicht stehen sie unterhalb des Menschen. Es sind Geister „brennend vor Begierde zu schaden, aller Gerechtigkeit bar, von Hochmut aufgeblasen, blaß vor Neid, in Ränken geübt, in der Luft […] hausend, weil sie wegen einer nicht mehr gut zu machenden Übertretung aus der Herrlichkeit des oberen Himmels herabgestürzt […] sind“ (DCD VIII. 22). Mit anderen Worten: Augustinus setzt die platonischen Dämonen den gefallenen Engeln gleich, denen die meisten englischsprachigen Leser zum ersten Mal in Miltons Paradise Lost begegnen. Tatsächlich war es Augustinus, der in die Vorstellungswelt des Christentums die Geschichte einbrachte, dass Gott – bevor er menschliche Wesen aus Fleisch und Blut erschuf – Ordnungen rein geistiger Wesen ins Leben rief, von denen sich einige vor der Schöpfung des Kosmos an einem Aufstand beteiligten, der zu ihrer ewigen Verdammnis führte. Augustinus gibt zu, dass die Bibel über die Frühgeschichte der Engel weitestgehend schweigt. Im Buch Genesis werden sie in den sieben Tagen der Schöpfung nicht erwähnt, und wir müssen uns den Psalmen oder dem Buch Hiob zuwenden, um zu erfahren, dass Engel zu den Geschöpfen Gottes gehören. Wenn wir sie in der Schöpfungsgeschichte unterbringen wollen, sollten wir zu dem Schluss gelangen, dass sie am ersten Tag geschaffen wurden: An diesem Tag schuf Gott das Licht und die Engel, die als Erste an der göttlichen Erleuchtung teilnahmen (DCD XI. 9). Die Bibel teilt uns mit, dass Gott am selben Tag das Licht von der Finsternis schied, und hier sieht Augustinus göttliche Voraussicht am Werk: „da er allein schon vor dem Fall vorauszuwissen vermochte, daß sie [die unreinen Engel] fallen und des Lichtes der Wahrheit verlustig, in der Finsternis des Hochmutes verharren würden“ (DCD XI. 19). Es gibt zwei „unter sich verschiedene und einander entgegengesetzte Genossenschaften der Engel: die eine sowohl von Natur aus gut als auch ihrer Willensrichtung nach in Ordnung, die andere dagegen zwar auch von Natur aus gut, aber ihrer Willensrichtung nach verkehrt. Sie werden im Buch Genesis mit den Ausdrücken ‚Licht‘ und ‚Finsternis‘ angedeutet“ (DCD XI. 33). Diese beiden Kohorten von Engeln sind der Ursprung der zwei Bürgerschaften, die das vorgebliche Thema des gesamten Werkes sind, obwohl die Einzelheiten ihrer Geschichte erst ab dem 12. Buch behandelt werden. Es gibt gute und böse Engel und gute und böse Menschen, doch wir müssen nicht denken, dass es vier Städte gibt: Menschen und Engel können in den gleichen Gemeinschaften zusammenkommen. 4

Vgl. Band I, Seite 60.

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Zwischen der Erschaffung der Engel und der Schöpfung der Menschen geschah Augustinus zufolge die Schöpfung der Tiere. Alle Tiere, seien es einsam lebende Wölfe oder Herdentiere wie Hirsche, wurden von Gott gleichzeitig in größerer Zahl erschaffen. Die Menschheit wurde jedoch in einem einzelnen Individuum erschaffen: in Adam, von dem Eva genommen wurde. Von diesem ersten Paar stammen alle Menschen ab. Diese einzigartige Erschaffung bedeutet nicht, dass der Mensch ein ungeselliges Tier ist. Im Gegenteil: „Es sollte ihm durch die Art der Erschaffung um so eindringlicher die genossenschaftliche Einheit ans Herz gelegt werden und das Band der Eintracht, wenn die Menschen nicht nur durch die gleiche Natur, sondern auch durch verwandtschaftliche Zuneigung miteinander verbunden wären“ (DCD XII. 22). Nach Augustinus ist die Menschheit geselliger als irgendeine der Tierarten. Doch ist sie auch – so fügt er hinzu – aus bösem Willen streitsüchtiger als jede andere (DCD XII. 28). Menschen stehen in der Mitte zwischen den Engeln und den geistlosen Tieren: Sie haben einen Intellekt wie die Engel, doch sie haben einen Körper wie die Tiere. Dem ursprünglichen göttlichen Plan zufolge hätten sie den Engeln näher gestanden, denn sie seien unsterblich gewesen. Nach einem Leben des Gehorsams gegenüber Gott seien sie in die Gemeinschaft mit den Engeln übergegangen, ohne dass der Tod dazwischen getreten sei. Sterblich wurden die Menschen, weil Adam im Paradies gesündigt hatte, und sie teilten von da an den Tod des Körpers mit den Tieren, der für diese schon immer natürlich gewesen war. Nach dem Sündenfall wurde der Tod zum Schicksal aller Menschen, doch würden einige durch die Gnade Gottes nach dem Tode dadurch belohnt, dass sie in die Gemeinschaft der guten Engel aufgenommen werden, während andere, zusammen mit den bösen Engeln, durch Verdammung gestraft wurden – was einem zweiten Tod entsprach, der noch schlimmer war als der erste (DCD XIII. 12, XIV. 1). Als Platon im Timaios den Ursprung des Kosmos beschrieb, schrieb er die Erschaffung der Menschen nicht dem höchsten Wesen zu, das die Welt geschaffen hatte, sondern geringeren Göttern, selbst Geschöpfe des höchsten Wesens und seine Gehilfen (Tim. 41c). Augustinus bestreitet die Existenz solch erhabener göttlicher Diener nicht, sondern er betrachtet Platons Wort „Götter“ einfach als eine unzutreffende Bezeichnung für die Engel. Doch er wendet sich resolut gegen die Vorstellung, dass solche höhere Beauftragte Schöpfer genannt zu werden verdienen. Dinge aus dem Nichts ins Dasein zu rufen, ist das Vorrecht des einen wahren Gottes, und welchen Dienst ein Engel Gott bei der Entwicklung niedrigerer Kreaturen auch immer leisten mag: Er ist ebenso wenig ein Schöpfer, wie ein Gärtner oder Bauer es ist, der Früchte oder Getreide wachsen lässt (DCD XII. 26). Der Gegensatz zwischen der biblischen und platonischen Auffassung des menschlichen Geschöpfes wird besonders deutlich, wenn wir die Frage stellen: Ist der Tod – die Trennung von Körper und Seele – etwas Gutes oder etwas Schlechtes? Für die Schöpfungsgeschichte der Bibel ist der Tod ein Übel: Er ist eine Strafe für die Sünde. In einer Welt ohne Sünde blieben Körper und Seele ewig vereint (DCD

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XIII. 6). Für viele Platoniker und in einigen seiner Schriften für Platon selbst ist die Seele nur glücklich, wenn sie den Körper abgestreift hat und nackt vor Gott steht (DCD XIII. 16 und 19; vgl. Phaidon 108c; Phaidros 248c). Gleichfalls ist es ein beliebtes Thema Platons, dass die Seele nach dem Tod als Strafe für Sünden in ihrem vorigen Leben gezwungen werden kann, in einen Körper zurückzukehren (vielleicht einen anderen menschlichen Körper oder sogar in den Körper eines Tieres). Nach den Propheten des Alten und Neuen Testaments werden die Seelen der tugendhaften Menschen am Ende in ihre eigenen Leiber zurückkehren, und diese Wiedervereinigung von Körper und Seele wird die Quelle ewiger Glückseligkeit sein (DCD XIII. 17 und 22, XXII. 19). Augustinus bestreitet nicht, sondern betont im Gegenteil, dass körperliches Begehren und Leidenschaften die spirituelle Entwicklung behindern können. Er zitiert das Buch der Weisheit: „Der verderbliche Körper zieht die Seele nach unten.“ Doch dies trifft nur auf den Körper gefallener Menschen in ihrem sterblichen Leben zu. Im Paradies hatte der Körper des Menschen keine aufwühlenden Emotionen und wilde Begierden. Adam und Eva lebten ohne Schmerzen oder Angst, denn sie erfreuten sich vollkommener Gesundheit und waren nie körperlichen Gefahren ausgesetzt. Ihre Körper waren unverletzlich, und ohne den Sündenfall wäre der Geburtsvorgang schmerzfrei gewesen. Sie aßen nur, was zur Erhaltung ihres Körpers notwendig war, und ihre Geschlechtsorgane unterlagen vollständig der Kontrolle der kühlen Vernunft. Sie dienten allein der Fortpflanzung (DCD XIII. 23, XIV. 26). Doch obwohl sie frei von Leidenschaften lebten, waren sie nicht ohne Liebe. „Liebe herrschte, unerschütterte Liebe zu Gott und zwischen den Gatten, die in treuer und aufrichtiger Gemeinschaft lebten, und aus dieser Liebe floß gewaltige Freude, da der Gegenstand der Liebe zugleich unaufhörlich Gegenstand des Genusses war.“ (DCD XIV. 10)

Die zwei Staaten des Augustinus Augustinus verfolgt die Geschichte der Menschheit von ihrem Ursprung bei Adam und Eva und passt sie in das Schema seiner Rahmenerzählung der zwei Staaten ein. „Daher kommt es, daß es trotz der großen Zahl der Völker auf Erden und ihrer Vielgestaltigkeit in Sprache, Kriegswesen, Tracht doch nur zwei Arten menschlicher Gemeinschaft gibt, die wir nach unseren Schriften recht wohl als zwei Staaten bezeichnen können.“ (DCD XIV. 1) Ein Staat lebt nach dem Fleisch, ein anderer nach dem Geist. Einer wird durch Selbstliebe geschaffen, der andere durch die Liebe zu Gott. Der eine rühmt sich selbst, der andere empfängt seine Herrlichkeit von Gott (DCD XIV. 28). Der eine ist dazu bestimmt, sich mit dem Teufel ewiger Strafe zu unterwerfen, wodurch er sich als Staat zerstört, der andere dazu, zusammen mit Gott in alle Ewigkeit zu herrschen (DCD XV. 1 und 4). Die Trennung zwischen den beiden Staaten nimmt mit den Kindern des ersten

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Paares ihren Anfang. „Zuerst also wurde von jenen beiden Stammeltern des Menschengeschlechtes Kain geboren, der zum Staat der Menschen gehört, nachher Abel, der zum Gottesstaat gehört.“ (DCD XV. 1) Die Feindschaft zwischen den beiden Staaten kommt zuerst in Kains Brudermord zum Ausdruck, und auf Kains Beispiel folgte Romulus, der Gründer Roms, der seinen Bruder Remus erschlug (DCD XV. 5). Im 15. und 16. Buch des Gottesstaates zeichnet Augustinus die frühe Geschichte des Gottesstaates nach, indem er der Erzählung der Genesis folgt und den Staat in den jüdischen Patriarchen durch Noah, Abraham, Isaak, Jakob, Joseph und Moses verkörpert sieht. Das 17. Buch versucht das Verständnis des Gottesstaates aus den Schriften der Propheten und Psalmisten zu vertiefen. Die Prophezeiungen, die das Königtum Davids und die jüdische Priesterschaft verherrlichen und ihnen ewige Dauer versprechen, müssen ihre Erfüllung anderswo finden, da die Institutionen Israels nicht mehr existieren (DCD XVII. 7). Mit dem 18. Buch kehren wir zur profanen Geschichte zurück. Es erzählt den Aufstieg und Fall einer Reihe von heidnischen Reichen: Assyrien, Ägypten, Argos und Rom. Augustinus ist darum bemüht, biblische und säkulare Chronologien in Einklang zu bringen. Den von Moses geleiteten Exodus verlegt er in die Zeit des mythischen Königs Kekrops von Athen und den Untergang Trojas in die Richterzeit Israels. Die Gründung Roms, den Beginn der Philosophie in Ionien und die Vertreibung der Juden aus Israel betrachtet er als gleichzeitige Ereignisse. Er teilt uns mit, dass sich die Zerstörung des Tempels in Jerusalem zur Zeit der Regierung von Tarquinius Priscus in Rom ereignete. Die Babylonische Gefangenschaft der Juden endete um dieselbe Zeit wie die Vertreibung der Könige und die Gründung der römischen Republik. Eine der Absichten dieser ziemlich schwindelerregenden Chronologie besteht darin, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Lehren der jüdischen Propheten älter sind als die Untersuchungen der heidnischen griechischen Philosophen (DCD XVIII. 37). In Augustinus’ Darstellung wird Jerusalem zum Symbol des Gottesstaates und Babylon zu dem des Weltstaates. Babylon war die Stadt der Verwirrung, in der Gott die ursprüngliche Einheit der Menschensprache zerbrochen hatte, um den Bau des Turmes zu Babel zu verhindern (Gen. 11: 1–9). In der weltlichen Stadt reden die Philosophen in ebenso vielen verschiedenen Sprachen wie die Bauarbeiter in Babylon. Einige behaupten, es gebe nur eine Welt; andere dagegen, es gebe mehrere. Einige sagen, die Welt sei ewig, während andere behaupten, dass sie zugrunde gehen werde. Einige behaupten, sie werde durch einen göttlichen Geist gelenkt, andere hingegen, sie sei der Spielball des Zufalls. Manche sagen, die Seele sei unsterblich, während andere behaupten, dass sie mit dem Körper ihr Ende finde. Einige verlegen das höchste Gut in die Seele, andere in den Körper, wieder andere in äußere Güter. Einige lehren, dass wir den Sinnen vertrauen können, während andere sagen, ihr Zeugnis sei zu verschmähen. In der weltlichen Stadt gibt es keine Autorität, die zwischen diesen widersprüchlichen Ansichten eine Entscheidung treffen könnte: Babylon umfasst unterschieds- und wahllos alle Meinungen, ohne zwischen wahr und falsch zu trennen

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(DCD XVIII. 42). Wie anders verhält es sich in der Stadt Gottes, in der alle die Autorität der kanonischen Schrift anerkennen! Die wichtigsten Streitgespräche zwischen den Philosophen betreffen das höchste Gut und das größte Übel. Das höchste Gut ist dasjenige, um dessentwillen andere Dinge wünschbar sind, während es selbst um seiner selbst willen ersehnt wird. Philosophen haben versucht, das höchste Gut in diesem Leben auszumachen: Einige meinen, man könne es Lust und Vergnügen gleichsetzen, andere, es sei mit der Tugend identisch, andere, es bestehe in der Geistesruhe, wieder andere, es bestehe im Vergnügen an den grundlegenden Gütern, deren Genuss die Natur uns ermöglicht habe. Viele Sekten setzen das höchste Gut einem oder einer Kombination dieser Güter gleich. Doch der Gottesstaat weiß, dass das ewige Leben das höchste Gut und der ewige Tod das größte Übel ist und dass nur durch Glaube und Gnade das höchste Gut erreicht und das größte Übel vermieden werden kann (DCD XIX. 1–4). Aus Augustinus’ Beschreibung der beiden Staaten wird deutlich, dass man nicht einfach Babylon mit dem heidnischen und Jerusalem mit dem christlichen Reich gleichsetzen kann. Der Gottesstaat war bereits lange vor der Geburt Christi eine Gemeinschaft, und lange vor der Bekehrung Konstantins. Das christliche Reich enthält sowohl Sünder als auch Heilige. Augustinus veranschaulicht dies anhand des Kaisers Theodosius, den der heilige Ambrosius zwang, für die Brutalität, mit der er im Jahre 391 einen Aufstand in Thessaloniki niedergeschlagen hatte, Buße zu tun (DCD V. 26). Ebenso wenig kann der Gottesstaat mit der Kirche auf Erden gleichgesetzt werden, obwohl man in späteren Jahrhunderten Augustinus’ Buch manchmal als Leitfaden für die Beziehungen zwischen Kirche und Staat las. Das Wesen der zwei Staaten lässt sich erst dann vollständig begreifen, wenn wir ihren Endzustand betrachten, wie Augustinus dies im letzten der drei Bücher des Gottesstaates tut. Augustinus sucht in den Sprüchen der Propheten, in den Predigten Jesu, den Briefen der Apostel und dem Buch der Offenbarung nach Informationen über die Zukunft der Welt. Zwischen der Auferstehung Jesu und dem Ende der Geschichte liegt ein Zeitraum von 1000 Jahren, wie in der Offenbarung beschrieben ist (DCD XX. 1–6). In dieser Zeit herrschen die Heiligen mit Christus. Ihre tausendjährige Herrschaft entfaltet sich in zwei Stadien: Während ihres Lebens auf der Erde sind Heilige die leitenden Mitglieder einer Kirche, zu der auch Sünder gehören, und auch nach ihrem Tod gehören sie noch auf mysteriöse Weise in die Gemeinschaft mit der Kirche, die das Reich Gottes ist (DCD XX. 9). Mit Verachtung behandelt Augustinus sämtliche Interpretationen der Offenbarung, die sich auf ein tausendjähriges Trinkgelage der Heiligen nach dem Ende der Geschichte freuen. Wie immer wir Johannes’ Jahrtausend auch verstehen, sei es wörtlich oder indem wir die Zahl 1000 als Symbol für Perfektion deuten: Wir befinden uns schon jetzt in der Mitte der Herrschaft der Heiligen (DCD XX. 7). Augustinus lässt uns wissen, dass sich das Drama am Ende der Geschichte, nachdem eine Reihe von Jahren verstrichen ist, in sieben Akten vollziehen wird. Zuerst wird der Prophet Elias erscheinen und das jüdische Volk zu Christus bekehren.

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Die Massa Damnata. Dieses Manuskript des Gottesstaates zeigt Adam und Eva, die nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies dem Tod begegnen, und die Menschheit auf ihrem Weg in die Hölle, während nur die Auserwählten durch göttliche Gnade gerettet werden.

Anschließend wird der Satan freigelassen und für dreieinhalb Jahre wird der Antichrist die Gläubigen verfolgen, wobei er als seine Gehilfen die Völker Gog and Magog einsetzt. Die Heiligen werden ihre Leiden ertragen, bis sich die Angriffe von Gog and Magog erschöpft haben (DCD XX. 11 f. 19). Drittens wird Jesus zur Erde zurückkehren, um die Lebenden und die Toten zu richten. Viertens werden die Seelen der Toten, um gerichtet zu werden, von ihrem Ruheplatz zurückkehren und wieder mit ihren Körpern vereinigt werden. Fünftens wird das Gericht die Tugendhaften von den Bösen trennen, wobei die Heiligen in die ewige Glückseligkeit gelangen, die Bösen in die ewige Verdammnis (DCD XX. 22. 27). Sechstens wird die gegenwärtige Welt in einer kosmischen Feuersbrunst zugrunde gehen, und es werden ein neuer Himmel

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und eine neue Erde geschaffen werden (DCD XX. 16–18). Siebtens werden die Seligen und Verdammten in ihre ewige Bleibe gelangen, die ihnen im Himmel und der Hölle bestimmt ist (DCD XX. 30). Das himmlische Jerusalem in der Höhe und das unauslöschliche Feuer in der Tiefe sind die Endzustände der zwei Staaten von Augustinus’ Erzählung. Augustinus erkennt, dass diese Vorhersagen nicht leicht zu akzeptieren sind, und er nennt als besonders schwer anzuerkennende Vorstellung, dass die Bösen eine ewige körperliche Strafe erleiden werden. Doch werden Körper nicht vom Feuer verzehrt, wird man dagegen einwenden, und muss nicht, was Schmerzen erleiden kann, früher oder später auch den Tod erleiden? Augustinus antwortet hierauf, dass Salamander im Feuer gedeihen und dass der Ätna seit Ewigkeiten glüht. Seelen können ebenso gut wie Körper Schmerzen erleiden, Philosophen sind sich aber darin einig, dass Seelen unsterblich sind. Es gibt zahllose Wunder in der Natur – Augustinus führt eine lange Liste an, einschließlich der Eigenschaften von Zitronen, Diamanten, Magneten und Früchten des Toten Meeres 5 –, die es völlig glaubwürdig machen, dass ein allmächtiger Schöpfer einen menschlichen Körper in entsetzlichen Schmerzen ewig am Leben erhalten kann (DCD XXI. 3–7). Für die meisten Menschen stellt nicht so sehr der physische Mechanismus, als vielmehr die moralische Rechtfertigung einer ewigen Verdammnis ein Problem dar. Wie kann irgendeine, in einem kurzen Leben begangene Untat eine Strafe verdienen, die ewig dauert? Augustinus antwortete hierauf, dass selbst in der menschlichen Rechtsprechung kein notwendiges zeitliches Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe bestehe. Ein Mann kann als Strafe für einen ehebrecherischen Kuss stundenlang geprügelt werden, ein Sklave kann für die Beleidigung seines Herrn, die er in wenigen Momenten aussprach, Jahre im Gefängnis verbringen müssen (DCD XXI. 11). Es ist falsche Sentimentalität aus Mitleid zu glauben, dass die Schmerzen der Hölle jemals ein Ende nehmen werden. Wenn man versucht ist, dies zu glauben, könne man schließlich auch mit dem Häretiker Origines glauben, eines Tages werde selbst der Teufel bekehrt werden (DCD XXI. 17)! Schritt für Schritt versucht Augustinus nicht nur zu beweisen, dass eine ewige Strafe möglich und gerechtfertigt ist, sondern dass es äußerst schwierig ist, ihr zu entgehen. Ein tugendhaftes Leben reicht hierfür nicht aus, denn die Tugenden der Heiden sind ohne den wahren Glauben nichts als gleißende Laster. Getauft zu sein ist nicht genug, denn die Getauften können vom wahren Glauben abfallen. Ein rechter Glaube ist ebenfalls nicht genug, denn selbst der standhafteste Katholik kann in Sünde fallen. Die Hingebung an die Sakramente reicht nicht aus: Niemand weiß, ob er sie in einem Geist empfängt, in dem er Anspruch auf die Erfüllung von Jesu Versprechen des ewigen Lebens hat (DCD XXI. 19–25). Menschenliebe reicht nicht aus: Augusti5

Anm. d. Übers.: Früchte eines mythischen Baumes, der am Ufer des Toten Meeres wachsen sollte, die schmackhaft aussahen, aber zu Asche zerfallen sollten, wenn man sie zu essen versuchte.

Die zwei Staaten des Augustinus

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nus verwendet mehrere Seiten darauf, die Passage des Matthäusevangeliums wegzuerklären, in der der Menschensohn die Schafe von den Böcken danach scheidet, ob sie in ihrem Leben Nächstenliebe gezeigt haben oder nicht (Matt. 25: 31–46; DCD XXI. 27). Und so gelangen wir, im 22. Buch des Gottesstaates, schließlich zur ewigen Freude der Heiligen im neuen Jerusalem. Denjenigen, die nicht glauben können, dass irdische Leiber ewig im Himmel leben können, gibt Augustinus die folgende, höchst platonische Antwort: „Wären wir nun aber nur Seelen, d. i. reine Geister ohne Leib, und wüßten wir, im Himmel wohnend, nichts um irdische Leibeswesen, und sagte man uns, wir würden dereinst durch ein wunderbares Band mit irdischen Leibern zu deren Beseelung verbunden werden, würden wir da nicht mit viel größerem Nachdruck uns dagegen wenden, den Glauben daran verweigernd, und uns darauf berufen, die Natur dulde es nicht, daß etwas Unkörperliches durch ein körperliches Band gefesselt werde? Und doch ist die Erde voll von Seelen, die solch irdische Glieder beleben, welche mit ihnen auf wunderbare Weise verbunden und verflochten sind. Warum sollte also, wenn der nämliche Gott, der solche Leibeswesen erschaffen hat, es will, nicht ein irdischer Leib zu einem himmlischen Leib erhoben werden können, da doch der Geist, der vorzüglicher ist als jeder Leib, also selbst als ein himmlischer, an einen irdischen Leib gebunden werden konnte?“ (DCD XXII. 4)

Kein Christ kann sich weigern, an die Möglichkeit eines himmlischen Menschenkörpers zu glauben, da alle akzeptieren, dass Jesus von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist. Es ist nicht schwerer, an das den Seligen versprochene ewige Leben zu glauben, als an die Auferstehung Jesu. „Unglaublich ist es, daß Christus im Fleische auferstanden und mit dem Fleische gen Himmel gefahren ist; unglaublich, daß die Welt zum Glauben an etwas so Unglaubliches übergegangen ist; unglaublich, daß unbekannte Männer von niedrigster Herkunft, ganz gering an Zahl, ohne Bildung, etwas so Unglaubliches so wirksam der Welt und in ihr auch den Gelehrten beizubringen vermochten. Von diesen drei Unglaublichkeiten wollen unsere Gegner die erste nicht glauben; die zweite müssen sie mit eigenen Augen schauen; und wenn sie die dritte nicht glauben, werden sie nie inne, wie es dazu kam.“ (DCD XXII. 5)

Um zu beweisen, dass all diese unglaublichen Dinge tatsächlich glaubwürdig sind, beruft sich Augustinus auf göttliche Allmacht, die sich in einer Reihe von Wundern manifestiert hat, die entweder von ihm selbst beobachtet wurden oder deren Augenzeugen zu seinen Freunden zählen. Doch er erkennt an, dass er auf Probleme eingehen muss, die philosophische Gegner gegen den Begriff der körperlichen Auferstehung überhaupt vorgebracht haben.

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Wie sollen menschliche Körper, die aus schweren Elementen bestehen, in der ätherischen Erhabenheit des Himmels existieren können? Dies ist Augustinus zufolge nicht problematischer, als wenn Vögel in der Luft fliegen oder auf Erden Feuer ausbricht. Werden die auferstandenen Körper alle männlich sein? Nein: Die Frauen werden ihr Geschlecht behalten, obwohl ihre Organe nicht länger dem Beischlaf und der Geburt dienen werden, da es im Himmel keine Ehe mehr geben wird. Werden die auferstandenen Leiber alle dieselbe Größe und Form haben? Nein: Jedem wird die Gestalt verliehen, die er zur Zeit der Reife hatte (wenn er im Alter starb) oder gehabt haben würde (wenn er jung starb). Und wie ist es mit denen, die im Kindesalter starben? Sie werden ihre Reife bei der Auferstehung augenblicklich erlangen. Alle Auferstehungsleiber werden vollkommen und schön sein: Zur Auferstehung gehören Schönheitsoperationen in kosmischem Umfang. Missbildungen und Verunstaltungen werden entfernt, den Amputierten ihre Glieder zurückgegeben. Abgeschnittene Haare und Fingernägel werden wieder Teile ihrer ursprünglichen Körper werden, allerdings nicht in Form von Haaren und Nägeln. „Und so braucht man um die Mageren und die Dicken nicht besorgt zu sein, sie möchten im Jenseits auch diese Leibesbeschaffenheit aufweisen, auf die sie schon hienieden gern verzichteten, wenn es auf sie ankäme.“ (DCD XXII. 19) Augustinus wirft auch ein Problem auf, dass Gläubigen in allen Jahrhunderten, in denen der Glaube an eine Auferstehung am Ende der Zeiten ernst genommen wurde, weiterhin Schwierigkeiten bereitet hat. Angenommen ein hungriger Mann schafft seinem Hunger durch Kannibalismus Abhilfe: Zu welchem Körper wird das verdaute Menschenfleisch bei der Auferstehung gehören? Augustinus gibt hierauf eine sorgfältig durchdachte Antwort. Bevor A so hungrig wird, dass er den Körper von B verzehrt, muss A sehr viel Gewicht verloren haben – Teile seines Körpers müssen in die Luft ausgeatmet worden sein. Bei der Auferstehung wird dieses Material wieder in Fleisch verwandelt, um A die passende Üppigkeit zu verleihen, und das verdaute Fleisch wird B zurückgegeben. Man solle sich den gesamten Vorgang analog zum Ausleihen einer bestimmten Geldmenge vorstellen, die zur festgesetzten Zeit zurückzugeben sein wird (DCD XXII. 30). Doch was werden die Seligen mit diesen wunderbaren Auferstehungsleibern tun? Augustinus gesteht: „Denn was sonst dort geschehen sollte, wo man weder aus Trägheit untätig ist noch aus Not arbeitet, kann ich mir nicht denken.“ Die Bibel sagt uns, dass sie Gott schauen werden, und dies stellt Augustinus vor ein weiteres Problem. Wenn die Seligen ihre Augen nicht auf Wunsch öffnen und schließen können, geht es ihnen schlechter als uns. Doch wie könnte jemand, der Gott schaut, seine Augen schließen? Seine Antwort ist subtil. In diesem seligen Zustand wird Gott tatsächlich für die Augen des Körpers und nicht nur für die des Geistes sichtbar sein, doch wird er kein zusätzlich gesehener Gegenstand sein. Es wird eher so sein, dass wir Gott sehen, indem wir seine Herrschaft über die Körper sehen, aus denen die uns umgebende materielle Welt besteht, wie wir ja auch das Leben unserer Mitmenschen anhand ihres Verhaltens beobachten. Das Leben ist kein zusätzlich gesehener Körper,

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und dennoch glauben wir nicht nur, dass sie leben, wenn wir die Bewegungen von Lebewesen beobachten, sondern wir sehen es. In der Stadt Gottes werden wir sein Wirken an der Harmonie und Schönheit erkennen, die er allem anderen verleiht (DCD XXII. 30). Obwohl er zwar auf jeder Seite von der Bibel abhängt, verdient der Gottesstaat einen bedeutsamen Platz in der Geschichte der Philosophie, und zwar aus zwei Gründen. Erstens bemüht sich Augustinus ständig darum, seine religiöse Weltsicht in die philosophische Tradition Griechenlands und Roms einzupassen: Wo dies möglich ist, versucht er die Bibel mit Platon und Cicero in Einklang zu bringen. Wo dies nicht gelingt, fühlt er sich verpflichtet, antichristliche philosophische Argumente anzuführen und zu widerlegen. Zweitens gab die von Augustinus aus biblischen und klassischen Elementen konstruierte Darstellung den Rahmen für philosophische Diskussionen in der lateinischen Welt vor, und zwar bis zur Renaissance und Reformation und darüber hinaus. Augustinus war einer der interessantesten Menschen, die jemals philosophische Texte verfasst haben. Er hatte einen scharfen, lebendigen analytischen Verstand und seine beste Prosa ist anschaulich, geistreich und bewegend. Im Gegensatz zu den Philosophen des Hochmittelalters ist er ständig darum bemüht, seine philosophischen Einsichten durch konkrete Bilder zu veranschaulichen, und die von ihm angeführten Beispiele sind niemals schal oder leblos, wie dies bei den Texten der großen Scholastiker allzu häufig der Fall ist. Er kann Anekdoten, Epigramme und Paradoxa in den Dienst der Philosophie stellen und unter der glatten Oberfläche der Sprache tiefe philosophische Probleme erkennen. Zu den höchstrangigen Philosophen zählt er jedoch nicht, da er zu sehr Rhetoriker blieb: Bis zum Ende seines Lebens konnte er zwischen echter logischer Analyse und bloßen sprachlichen Pirouetten nicht wirklich unterscheiden. Doch nachdem er Bischof geworden war, waren seine Ziele niemals rein philosophisch. Rhetorik und Logik waren lediglich Mittel zur Verbreitung des Evangeliums von Christus.

Die Tröstungen des Boethius Im fünften Jahrhundert drangen in mehreren Invasionen fremde Völker in das römische Weltreich ein (vor allem im Westen), und es kam (vor allem im Osten) zu theologischen Auseinandersetzungen. Der äußere Anlass, der Augustinus zur Niederschrift seines Gottesstaats bewegte, war die Plünderung Roms durch die Goten im Jahre 410. Als er im Jahre 430 in Hippo starb, standen die Vandalen vor den Toren der Stadt. Der Tod hinderte Augustinus daran, eine Einladung zur Teilnahme an einem Kirchenkonzil in Ephesos anzunehmen. Das Konzil war durch den Kaiser Theodosius II. einberufen worden, weil die Patriarchen von Konstantinopel und Alexandria heftig darüber stritten, wie man die Lehre von der Gottessohnschaft des Menschen Jesus Christus formulieren sollte.

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Im Laufe des Jahrhunderts folgte auf die Goten und Vandalen eine noch größere Furcht einflößende Gruppe von Eindringlingen: die Hunnen unter ihrem König Attila. Er eroberte riesige Gebiete von China bis zum Rhein, bevor seine Siegeszüge im Jahre 451 durch einen römischen General und einen gotischen König in Gallien zum Stillstand gebracht wurden. Im Jahre darauf drang er in Italien ein, und Rom entging der Besetzung durch die Hunnen nur dank der Bemühungen von Papst Leo dem Großen, dem es mit einer Mischung aus Eloquenz und Bestechung gelang, dies zu verhindern. Das Konzil von Ephesos verwarf im Jahre 431 die Lehre von Nestorius, des Bischofs von Konstantinopel, der meinte, dass Maria, die Mutter Jesu, nicht die Mutter Gottes sei. Wie konnte er diese Ansicht vertreten, fragte der alexandrinische Bischof Kyrill, wenn er wirklich glaubte, dass Jesus Gott war? Die korrekte Art, die Lehre von der Inkarnation zu formulieren, bestand nach dem Beschluss des Konzils darin, dass man sagte, Christus, ein einzelner Mensch, habe zwei getrennte Naturen: eine göttliche und eine menschliche. Für einige Vertreter aus Alexandria ging das Konzil jedoch nicht weit genug. Sie glaubten, der fleischgewordene Sohn Gottes besitze nur eine einzige Natur. Diese Extremisten organisierten ein zweites Konzil in Ephesos, das die Lehre von der einzigen Natur Jesu („Monophysitismus“) verkündete. Papst Leo, der schriftliche Belege zugunsten der Doppelnatur eingereicht hatte, verurteilte das Konzil als Räuberbande. Bestärkt durch die Unterstützung aus Rom, wendete sich Konstantinopel gegen Alexandria, und im Jahre 451 wurde die Lehre von den zwei Naturen Jesu auf dem Konzil von Chalcedon bestätigt. Christus war vollkommener Gott und vollkommener Mensch, mit einem menschlichen Körper und einer menschlichen Seele. Er teilte die Göttlichkeit mit seinem Vater und die Menschheit mit uns. Die Entscheidungen von Chalcedon und des ersten Konzils von Ephesos waren von nun an für die große Mehrheit der Christen der Test der Rechtgläubigkeit, obwohl es im östlichen Teil des Reiches weiterhin zahlreiche monophysitische Christen und große nestorianische Gemeinschaften gab, von denen einige bis in die Gegenwart überlebt haben. Die Bedeutung dieser Konzilien des fünften Jahrhunderts für die Geschichte des Denkens besteht darin, dass auf ihnen die genauen Bedeutungen von Begriffen wie „Natur“ und „Person“ auf eine Weise erläutert wurden, die die Philosophie jahrhundertelang beeinflusst hat. Nachdem der Angriff Attilas zurückgeschlagen worden war, überlebte das Römische Reich noch ein weiteres Vierteljahrhundert, obwohl die Macht in Italien nun hauptsächlich in den Händen von Heerführern unzivilisierter Völker lag. Einer von ihnen, Odoaker, entschied im Jahre 476, er wolle nicht nur tatsächlich herrschen, sondern auch den Titel des Herrschers tragen. Er schickte den letzten, völlig untätigen Kaiser, Romulus Augustus, nach Neapel ins Exil. In den nächsten 50 Jahren wurde Italien zu einer gotischen Provinz. Seine Könige schenkten den aktuellen christologischen Debatten, obwohl sie Christen waren, nur wenig Aufmerksamkeit. Sie schlossen sich dem Arianismus an, einer Form des Christentums, die schon zur Zeit Konstan-

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tins I. verurteilt worden war. Der Arianismus hatte verschiedene Ausprägungen, von denen alle bestritten, dass Jesus, der Sohn Gottes, dasselbe Wesen und dieselbe Substanz habe wie Gott der Vater. Der mächtigste gotische König, Theoderich (der von 493–526 regierte), errichtete eine tolerante Herrschaft, unter der Arianer, Juden und orthodoxe Katholiken in Ruhe und Frieden zusammenlebten und unter der Kunst und Kultur eine Blüte erlebten. Einer von Theoderichs Ministern war Manlius Severinus Boethius, der zu einer mächtigen römischen Familie gehörte, aus der Senatoren hervorgegangen waren. Er wurde kurz nach dem Ende des Weströmischen Reiches geboren, und er verlor seinen Vater in der Kindheit. Die Familie des Konsuls Symmachos adoptierte ihn, und er heiratete später dessen Tochter. Er selbst wurde im Jahre 510 zum Konsul ernannt, und seine beiden Söhne wurden im Jahre 522 ebenfalls Konsul. In dem Jahr, in dem Boethius von Rom nach Ravenna, der Hauptstadt Theoderichs, umzog, wurde er „Hofmeister“, und er bekleidete dieses hohe Verwaltungsamt mit Integrität und Würde. Als junger Mann hatte Boethius, gestützt auf griechische Quellen, Handbücher über Musik und Mathematik geschrieben, und er hatte die Absicht, sämtliche Werke Platons und Aristoteles’ ins Lateinische zu übersetzen, diesen Plan aber niemals verwirklicht. Er schrieb Kommentare zu einigen von Aristoteles’ Schriften zur Logik, wobei er unter Beweis stellte, dass er mit der stoischen Logik ein Stück weit vertraut war. Er schrieb vier theologische Abhandlungen, die sich mit den Lehren von der Trinität und Inkarnation beschäftigten. Sie zeigen sowohl den Einfluss von Augustinus als auch der christologischen Dispute des fünften Jahrhunderts. Seine Laufbahn schien wie ein Vorbild für ein Leben, in dem sich Kontemplation und weltzugewandte Aktivität verbinden. Gibbon, der mit seinem Lob für Philosophen äußerst sparsam war, schrieb über ihn: „Reich an Ruhm und Wohlstand, an öffentlichen Ehrungen und privaten Allianzen, in der Kultivierung der Wissenschaft und im Bewusstsein der Tugend, hätte man von Boethius sagen können, er sei glücklich; wenn dieses prekäre Beiwort sicher vergeben werden könnte, bevor ein Mensch seine letzten Jahre durchlebt hat“ (Decline and Fall, Kapitel 19). 6 Boethius bekleidete sein ehrenvolles Amt jedoch nur für kurze Zeit, denn als Katholik geriet er in den Verdacht, an einer verräterischen Korrespondenz mit dem Kaiser Justin in Konstantinopel beteiligt gewesen zu sein, in der dieser gedrängt wurde, in Italien einzufallen und die arianische Herrschaft zu beenden. Er wurde in einem Turm in Pavia gefangen gehalten und vom Senat in Rom zum Tode verurteilt. Während er im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartete, schrieb er das bekannteste seiner Werke: Über den Trost der Philosophie. Dieses Werk wurde für seine literarische Schönheit ebenso bewundert wie für seinen philosophischen Scharfsinn. Es wurde in 6

Anm. d. Übers.: Der englische Historiker E. Gibbon veröffentlichte zwischen 1776 und 1789 eine sechsbändige Geschichte über den Verfall und Untergang des Römischen Reiches (The History of the Decline and Fall of the Roman Empire).

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Boethius mit seinem Schwiegervater Symmachos.

viele verschiede Sprachen übersetzt. Zu den bemerkenswerteren Übersetzungen ins Englische gehören diejenigen von König Alfred und Chaucer. Es enthält eine subtile Erörterung der Probleme des Verhältnisses zwischen der Freiheit des Menschen und der göttlichen Voraussicht der Zukunft. Allerdings ist es kein Buch von der Art, die man von einem frommen Katholiken hätte erwarten können, der einem möglichen Martyrium entgegensieht. Es handelt von dem Trost, den die heidnische Philosophie

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gewährt. Die Tröstungen, die der christliche Glaube bereithält, werden darin mit keiner Silbe erwähnt. Zu Beginn des Werkes beschreibt Boethius, wie er im Gefängnis von einer großen Frau besucht wird, die zwar schon älter ist, aber deren Gesicht noch eine frische Farbe hat. Sie trägt ein wunderschön gewebtes Kleid, das jedoch leider zerfetzt ist: Es war die Dame Philosophie. In ihr Kleid ist eine Leiter gewebt, an deren unterem Ende der Buchstabe P und an deren oberem Ende der griechische Buchstabe Theta steht. Die Buchstaben bezeichnen den praktischen und theoretischen Teil der Philosophie und die Leiter die Schritte zwischen ihnen. Als Erstes verwirft die Dame die Musen der Dichtung, dargestellt durch die Bücher auf Boethius’ Nachttisch, doch ist sie bereit, den betrübten Gefangenen durch eigene Verse zu trösten. In den fünf Büchern dieser Trostschrift wechseln Passagen in Prosa- und Gedichtform einander ab. Die Qualität der Gedichte ist höchst unterschiedlich. Sie reicht von Zeilen erhabener Schönheit bis zu Knittelversen. Häufig bedarf es größerer Anstrengung, ihre Relevanz für die Entwicklung der Prosadarstellung zu erkennen. Im ersten Buch weist Boethius die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zurück. Sein Unglück ereilte ihn, weil er – indem er Platons Ermahnung gehorchte, die Philosophen sollten sich in politische Angelegenheiten einmischen – ein öffentliches Amt übernommen hatte. Die Dame Philosophie erinnert ihn daran, dass er nicht der erste Philosoph ist, der leiden muss: Sokrates traf ein ähnliches Leid in Athen und Seneca in Rom. Sie selbst hat Gewalttaten über sich ergehen lassen müssen: Ihr Gewand sei zerfetzt, weil die Epikureer und Stoiker sie zu entführen versucht, ihr Kleid zerrissen und sich mit seinen abgerissenen Stücken davongemacht hätten. Sie ermahnt Boethius eindringlich, zu bedenken, dass die Welt – wenn auch die Bösen erfolgreich sind – dennoch kein Spielball des Zufalls ist, sondern von der göttlichen Vernunft regiert wird. Das Buch endet mit einem Gedicht, das einen Eindruck wie ein von einem Stoiker abgerissener Fetzen macht, da es zur Abkehr von den Leidenschaften ermahnt. „Scheuche die Freuden, jage die Ängste, wehre der Hoffnung, Schmerz sei verbannet!“ 7

Auch das zweite Buch entwickelt ein stoisches Thema: Die Dinge, die in der Verfügungsgewalt des Schicksals liegen, sind unbedeutend im Vergleich zu den Werten, die im eigenen Selbst liegen. Die Vorzüge des Schicksals, die wir genießen, gehören nicht wirklich uns: Reichtümer können verloren gehen und sie sind am wertvollsten, wenn wir sie verschenken. Eine prachtvolle Haushaltung ist nur dann ein Segen für 7

Sämtliche Zitate aus Boethius’ Trostschrift stammen aus: Boethius, Trost der Philosophie, übersetzt und herausgegeben von K. Büchner (Reclam: Stuttgart, 1974).

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mich, wenn meine Diener ehrlich sind und wenn ihre Tugenden ihnen und nicht mir gehören. Politische Macht kann in Mord oder Sklaverei enden und sie ist auch zum Zeitpunkt ihres Besitzes trivial. Die bewohnte Welt macht nur ein Viertel des Erdballs aus. Die Erde ist, verglichen mit dem Himmelszelt, nur winzig klein, und ein Mann, der sich auf seine Macht etwas einbildet, gleicht einer Maus, die anderen Mäusen etwas vorjubelt. Der größte Ruhm dauert nur ein paar Jahre, die im Vergleich mit der Ewigkeit verschwindend kurz sind. In Wohlstand, Macht oder Ruhm kann man kein Glück finden, sondern nur in seinem kostbarsten Besitz, dem eigenen Selbst. Boethius hat keinen wirklichen Grund, sich über das Schicksal zu beklagen: Es hat ihm viele gute Dinge beschert, und er muss nun auch das Böse annehmen, das es ihm schickt. Tatsächlich ist ein böses Geschick besser für den Menschen als ein gutes. Glücksfälle sind täuschend, das einzig Verlässliche an ihnen ist ihre Unzuverlässigkeit, während ein schweres Schicksal Menschen Selbsterkenntnis bringt und sie erkennen lässt, wer ihre wahren Freunde sind, die den größten aller möglichen Reichtümer darstellen. Die Aussage, dass wahres Glück nicht in äußeren Gütern zu finden ist, wird im dritten Buch bekräftigt, das Gedanken von Platon und Aristoteles entwickelt: Glück „[…] ist aber das Gute, nach dessen Erreichung niemand etwas Weiteres zu ersehnen vermag. Es enthält das höchste aller Güter und alle Güter in sich. Wenn ihm nämlich etwas fehlt, könnte es nicht das Höchste sein, da ja noch etwas draußen gelassen wäre, was man wünschen könnte. Es ist also klar, daß das Glück ein Zustand ist, der durch die Vereinigung aller Güter vollkommen ist.“ (DCP 3. 2)

Reichtum, Ehre, Macht und Ruhm erfüllen diese Bedingungen nicht, ebenso wenig wie die körperlichen Genüsse. Einige Körper sind sehr schön, doch wenn wir in sie hineinsehen könnten, fänden wir sie abstoßend. Die Ehe und ihre Freuden mögen eine gute Sache sein, doch Kinder sind kleine Quälgeister. Wir müssen aufhören, das Glück in den Dingen dieser Welt zu suchen. Gott, so erklärt die Dame Philosophie, ist das beste und vollkommenste aller guten Dinge. Doch das vollkommenste Gut ist wahres Glück: Daher ist wahres Glück nur in Gott zu finden. Sämtliche Werte, die von Menschen bei ihrem Streben nach den verfehlten Formen des Glücks getrennt verfolgt werden – Selbstgenügsamkeit, Macht, Respekt und Vergnügen sind in der einfachen Gutheit Gottes vereinigt. Gottes Vollkommenheit wird im neunten Gedicht des dritten Buches O qui perpetua gepriesen. Dieser Hymnus wird oft von Christen bewundert, obwohl fast alle seine Gedanken Platons Timaios und einem neuplatonischen Kommentar dieses Dialogs entnommen sind. 8 Da alle Gutheit in Gott wohnt, können Menschen nur glücklich werden, wenn sie, auf irgendeine Weise, zu Göttern 8

Die Anfangszeilen des Gedichts lauten: „Der du die Welt regierest nach ewigen, weisen Gesetzen, Der du die Erde, den Himmel erschufst, und aus dem ewigen Urquell, Führest die Zeiten, des Alls unwandelbarer Beweger!“

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werden. „Jeder Glückliche ist also Gott. Von Natur ist es nämlich einer. Es hindert aber nichts, daß es durch Teilhabe so viele wie möglich sind.“ (DCP 3. 10) Im vierten Buch bittet Boethius die Dame Philosophie die Frage zu beantworten: „Warum sind die Bösen erfolgreich?“ Das Universum, darin stimmt er ihr zu, wird von einem idealen Herrscher gelenkt: von Gott. Doch es sieht aus wie ein Haus, in dem man sich um die wertlosen Gefäße ausgiebig sorgt, während man die wertvollen schmutzig werden lässt. Die Philosophie zeigt mit Argumenten aus Platons Gorgias, dass der Erfolg der Bösen nur scheinbar ist. Der Wille, Böses zu tun, ist selbst ein Unglück, und wenn er Erfolg hat, ist dies ein noch größeres Verhängnis. Noch schlimmer ist es, wenn man der Strafe für seine Missetaten entgeht. Während ein guter Mensch Göttlichkeit anstreben kann, wird ein böser Mensch zu einem Tier: Habgier verwandelt ihn in einen Wolf, Streitsucht in einen Hund, Betrug in einen Fuchs, Zorn in einen Löwen, Angst in ein Reh, Faulheit in einen Esel und Wollust in ein Schwein. Alle Dinge unterliegen der göttlichen Vorsehung: Bedeutet dies, dass alles schicksalsmäßig vorherbestimmt ist? Die Dame Philosophie trifft eine Unterscheidung: Die Vorsehung ist die göttliche Vernunft, die alle Dinge zusammenhält, während das Schicksal die Bewegungen der in Raum und Zeit zerstreuten Dinge koordiniert. Die komplizierten Verwicklungen des Schicksals entspringen der Einfachheit der Vorsehung. Wir sehen nur die scheinbare Unordnung der Wirksamkeit des Schicksals. Könnten wir den von der Vorsehung entworfenen Gesamtplan überschauen, würden wir erkennen, dass alles, was geschieht, gerechterweise geschieht, und dass alles, was ist, gut ist. In jedem der ersten vier Bücher hat die Dame Philosophie manches über die Dame Glück zu sagen gehabt. Das fünfte Buch geht auf die Frage ein: „Kann es in einer von der göttlichen Vorsehung regierten Welt so etwas wie Glück oder Zufall geben?“ Wenn man der Philosophie glauben kann, dann kann es so etwas wie völlig blinden Zufall nicht geben. Doch die menschliche Freiheit zu wählen, ist etwas anderes als Zufall. Die Freiheit des Willens ist jedoch, auch wenn es sich dabei um keinen blinden Zufall handelt, schwer mit der Existenz eines Gottes zu vereinbaren, der die gesamte Zukunft vorhersieht. „Wenn aber bei diesem sichersten Quell aller Dinge keine Unsicherheit bestehen kann, dann muß doch auch alles genauso eintreffen, wie Gott es bestimmt vorher gewußt hat.“ Die für dieses Problem angebotene Lösung ist, dass Gott sich außerhalb der Zeit befindet und es daher ein Fehler ist, von der Vorsehung so zu reden, als habe sie etwas mit Voraussicht zu tun. Diese subtile, aber mysteriöse Antwort sollte in späteren Jahrhunderten noch ausgiebig studiert und weiterentwickelt werden. 9 Es ist sehr zu hoffen, dass Boethius in seinen philosophischen Schriften Trost gefunden hat, denn er wurde brutal gefoltert. Man legte ihm ein Seil um den Kopf und spannte es, bis seine Augen aus ihren Höhlen traten. Hingerichtet wurde er schließlich dadurch, dass man ihn mit Knüppeln zu Tode schlug. Viele Christen sehen 9

Boethius’ Argument wird in Kapitel 9 ausführlich erörtert.

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ihn als Märtyrer an, und einige Kirchen verehren ihn als den heiligen Severinus. Der Humanist Lorenzo Valla nannte ihn „den letzten der Römer, den ersten der Scholastiker“, und Gibbon sagt von ihm, er sei der letzte der Römer gewesen, „den Cato oder Cicero als einen ihrer Landsmänner hätten anerkennen können“. Boethius war nicht nur der letzte Philosoph der alten lateinischen Tradition der Philosophie: Seine Trostschrift kann als Anthologie all dessen gelesen werden, was ihm in der klassischen griechischen Philosophie wertvoll schien. Es ist vielleicht ein Kompliment an die heidnischen Denker, bei denen er in die Schule gegangen war, dass er aus seinem philosophischen Testament sämtliche christlichen Elemente entfernt hat. Selbst seine Erörterung des Verhältnisses zwischen göttlicher Voraussicht und menschlicher Freiheit, die während der christlichen Jahrhunderte so einflussreich war, wird im Rahmen der stoischen Diskussion des Verhältnisses zwischen Vorsehung und Schicksal geführt.

Die griechische Philosophie der Spätantike Die heidnische griechische Philosophie war jedoch zu der Zeit, als Boethius den Tod fand, noch nicht zu Ende gegangen: In den Schulen von Athen und Alexandria wurde noch studiert und gelehrt. Der Leiter der Schule Athens war im vorausgehenden Jahrhundert der geschäftige und gelehrte Proklos gewesen, von dem man sagte, er könne an jedem Arbeitstag fünf Vorlesungen und 700 Zeilen philosophischer Prosa schreiben. Proklos verfasste Kommentare zu mehreren platonischen Dialogen und ein enzyklopädisches Werk über Plotins Enneaden. Seine Elemente der Theologie dienten, selbst in der Neuzeit, als praktisches Kompendium des Neuplatonismus. Proklos’ System basiert zwar auf Plotins Trinität des Einen, des Geistes und der Seele, aber er entwickelt Plotins Ideen durch eine Vervielfältigung von Triaden und eine Theorie ihrer Funktion weiter (ET 25–39). Innerhalb jeder Triade findet ein Entwicklungsprozess statt. Aus dem Ursprungselement der Triade entspringt ein neues Element, das von derselben Natur ist, aber dennoch von ihr verschieden. Dieses neue Element bleibt an seinem Ursprung, geht darüber hinaus und kehrt wieder zu ihm zurück. Dieses Entwicklungsgesetz steuert eine ungeheure Proliferation von Triaden. Aus dem anfänglichen Einen geht eine Reihe göttlicher Einheiten hervor (Henaden) (ET 113–65). Gemeinsam bringen die Henaden die Welt des Geistes hervor, die in die Sphären des Seins, des Lebens und des Denkens unterteilt ist. In der nächsten, niedrigeren Welt, derjenigen der Seele, stellt Proklos einen Wohnort für die traditionellen Götter des heidnischen Pantheons bereit. Die sichtbare Welt, in der wir leben, ist das Werk dieser göttlichen Seelen, die sie durch ihre Vorsehung leiten. Nach Proklos haben menschliche Wesen an den drei Welten von Seele, Geist und dem Einen teil (ET 190–7). In ihrer Verbindung mit unserem tierischen Körper drückte die menschliche Seele sich im Eros aus und ist auf irdische Schönheit konzentriert. Sie verfügt jedoch auch über einen unvergänglichen, ätherischen Körper

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aus Licht. Auf diese Weise überschreitet sie die Liebe der Schönheit in der Suche nach Wahrheit, durch die sie mit den idealen Wirklichkeiten der Welt des Geistes in Kontakt kommt. Doch sie verfügt über eine noch höhere Fähigkeit als das Denken, und diese bringt sie, durch mystische Ekstase, in die Einheit mit dem Einen. Die Theorie der Triaden weist zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit der christlichen Lehre von der Trinität auf, tatsächlich war Proklos jedoch, obwohl er zahlreichen Aberglauben anhing, ein erbitterter Gegner des Christentums. Man behauptete von ihm, er habe nicht weniger als 18 verschiedene Widerlegungen der christlichen Schöpfungslehre verfasst. Dennoch fanden zahlreiche seiner Ideen auf Umwegen Eingang in die Grundvorstellungen des christlichen Denkens. Boethius stützte sich häufig, wenn auch unausdrücklich, auf dessen Werk. Ein zeitgenössischer christlicher Neuplatoniker schrieb eine Reihe von durch Proklos inspirierte Abhandlungen und gab sie als das Werk des Dionysios von Areopagita aus, der in Athen ein Gefährte des Paulus war (Apostelgeschichte 17). Ein weiterer Weg, auf dem Proklos’ Ideen in die Philosophie des Mittelalters einflossen, war ein als Liber de Causis bekanntes Buch, das unter dem Namen des Aristoteles zirkulierte. Selbst Thomas von Aquin, der wusste, dass das Buch nicht von Aristoteles selbst stammte, behandelte es mit großem Respekt. In Alexandria, wo es im fünften Jahrhundert einen mächtigen christlichen Patriarchen gab, waren die Bedingungen für eine Blüte der heidnischen Philosophie weniger günstig als in Athen. Hypatia, eine neuplatonische Mathematikerin und Astronomin, ragt aus der männlichen Welt der Philosophie ebenso heraus wie Sappho aus der männlichen Welt der Dichtung. Während Augustinus seinen Gottesstaat schrieb, wurde Hypatia von einer Meute fanatischer Christen in Stücke gerissen (AD 415). 10 Der wichtigste Philosoph der Schule von Alexandria war in ihrer Endphase Ammonius, ein älterer Zeitgenosse von Boethius. Seine Wirksamkeit als Lehrer war größer als die als Autor, und er verdankt seine Berühmtheit dem Rang seiner zwei bekanntesten Schüler: Simplicius und Philoponos. Diese beiden Philosophen lebten zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Justinian, der im Jahre 527, zwei oder drei Jahre nach der Hinrichtung von Boethius, den römischen Thron bestieg. Justinian war von den byzantinischen Kaisern der am meisten gefeierte, der sowohl als Eroberer als auch als Gesetzgeber Berühmtheit erlangte. Seine Generäle eroberten große Teile des früheren westlichen Reiches und vereinigten sie eine Zeit lang unter der Herrschaft von Konstantinopel. Seine Rechtsgelehrten sammelten sämtliche noch erhaltenen Edikte und Statuten der Kaiserzeit, fassten sie zu einem einzigen Gesetzbuch zusammen und versahen es mit einem Anhang, der aus einer Auswahl juristischer Kommentare bestand. Das bürgerliche Gesetzbuch, das während seiner Regierungszeit entstand, hat auf die meisten europäischen Staaten bis in die Neuzeit einen Einfluss ausgeübt. Justinians Herrschaft war allerdings für die Philosophie nicht ebenso förderlich 10 Leider ist unser Wissen über Hypatia sehr begrenzt. Charles Kingsley hat aus dem Wenigen, das wir haben, in seinem Roman Hypatia das meiste gemacht.

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In diesem viktorianischen Gemälde von C. W. Mitchell sucht die heidnische Philosophin Hypatia, bedrängt von einer christlichen Meute, Zuflucht an einem Altar.

wie für die Jurisprudenz. Die Schule von Athen setzte die antichristliche neuplatonische Tradition von Proklos fort, wodurch sie beim Kaiser in Ungnade fiel. Simplicius gehörte zur letzten Gruppe von Gelehrten, die der Schule Glanz verliehen. Mit großer Mühe und Gelehrsamkeit verfasste er Kommentare zu Aristoteles, dessen Lehren er mit dem Denken Platons, wie es in der Spätantike verstanden wurde, in Einklang bringen wollte. Gelehrte späterer Generationen sind ihm zu Dank verpflichtet, da er bei der Durchführung dieser Absicht seine Vorgänger ausgiebig zitierte, sogar bis hin zu den Vorsokratikern. Für viele der von ihnen überlieferten Fragmente ist er unsere Quelle. Simplicius arbeitete noch dort, als Justinian die Schule wegen ihrer antichristlichen Tendenz schließen ließ. Sein Edikt ordnete, in den Worten von Gibbon, „den Schulen von Athen ewiges Schweigen an und erregte den Kummer und die

Die griechische Philosophie der Spätantike

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Dieses Mosaik aus San Vitale in Ravenna zeigt Kaiser Justinian und seinen Hofstaat.

Entrüstung der wenigen verbleibenden Verehrer der griechischen Wissenschaft und des griechischen Aberglaubens“ (Verfall und Untergang, Kap. 40). Auch Philoponos hatte unter Justinian zu leiden, jedoch aus anderen Gründen. Während Simplicius ein heidnischer Philosoph in Athen war, war Philoponos ein christlicher Philosoph in Alexandria. Während Simplicius Aristoteles’ glühendster Verehrer in der Antike war, war Philoponos sein strengster Kritiker. Frühere Philosophen hatten Aristoteles entweder ignoriert (wie die Epikureer und Stoiker) oder ihn auf vermittelnde Weise interpretiert (wie die Neuplatoniker). Philoponos verfügte über eine umfassende Kenntnis seiner Schriften und griff ihn direkt an. Als Christ verwarf Philoponos die Lehre von der Ewigkeit der Welt und ließ Aristoteles’ und Proklos’ Argumente für die These, die Welt habe keinen Anfang gehabt, nicht gelten. Er führte seinen Angriff durch die gesamte Physik des Aristoteles. Er verwarf die Theorien der natürlichen Bewegung und des natürlichen Ortes und bestritt, dass die Himmelskörper von physikalischen Prinzipien gelenkt würden, die von denen auf der Erde gültigen verschieden waren.11 Es entsprach seiner christlichen Frömmigkeit, die Vorstellung zu beseitigen, dass die Welt der Sonne, des Mondes und der Sterne etwas Übernatürliches sei, das zu Gott in einer anderen Beziehung stehe als die Erde, auf der seine menschlichen Geschöpfe leben. 11 Die Einzelheiten von Philoponos’ Physik werden in Kapitel 5 erörtert.

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Philoponos schrieb Abhandlungen über die christliche Lehre und Kommentare über Aristoteles. Sie wurden von den orthodoxen Aristotelikern jedoch nicht angenommen, da sie glaubten, seine Behandlung der Trinität setze ihn dem Vorwurf aus, er glaube an drei Götter. Erstaunlicherweise akzeptierte er den platonischen Glauben an die Existenz der menschlichen Seele vor der Empfängnis. Noch erstaunlicher ist, dass dieser Glaube seine christlichen Brüder anscheinend nicht beunruhigt hat. Doch wie viele frühere alexandrinische Christen war er Monophysit. Er glaubte, dass der inkarnierte Christus nur eine einzige Natur besaß und nicht, wie es vom Konzil von Chalcedon festgelegt worden war, zwei Naturen: eine menschliche und eine göttliche. Er wurde zur Verteidigung seiner Auffassungen über die Inkarnation vom Kaiser nach Konstantinopel zitiert, doch er kam dieser Aufforderung nicht nach. Philoponos überlebte Justinian um einige Jahre, wurde aber nach dessen Tod für seine häretischen Lehren über die Trinität verurteilt. Er war der letzte bedeutende Philosoph der Antike, und nach seinem Tod fiel die Philosophie für zwei Jahrhunderte in einen Winterschlaf. Zwischen 600 und 800 schrumpfte das frühere Römische Reich so sehr, dass es schließlich nur noch aus kaum mehr als Griechenland, dem Balkan und einem Teil Kleinasiens bestand. Intellektuelle Fähigkeiten wurden weitestgehend auf theologische Dispute verwandt. Die monophysitische Kirche, der Johannes Philoponos angehört hatte, wurde von den Orthodoxen, die glaubten, Christus habe nicht nur eine, sondern zwei Naturen, eine menschliche und eine göttliche, aus der Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen. Während des siebten Jahrhunderts versuchten Kaiser und Patriarchen die christlichen Gemeinschaften wieder zu vereinigen, indem sie sich darauf einigten, dass Christus – selbst wenn er zwei Naturen hatte – dennoch nur einen Willen hatte; oder dass – selbst wenn er zwei Willen hatte, einen menschlichen und einen göttlichen – diese beiden in einer einzelnen Aktivität des Wollens, einer einzigen Wirklichkeit oder energeia zusammengefasst waren. Ein pensionierter kaiserlicher Beamter namens Maximus widersetzte sich jeglichem Zugeständnis dieser Art auf nachhaltigste Weise. Wortreich schrieb er gegen den „Monothelitismus“, die Lehre vom einzigen Willen. Maximus, der den Beinamen „der Bekenner“ bekam, konnte erreichen, dass die Lehren vom einzigen Willen und von der einzigen Wirklichkeit auf einem Konzil in Rom im Jahre 649 verworfen wurden. In Konstantinopel wurde diese Entscheidung im Jahre 681 bestätigt. Der menschliche Wille Christi und der göttliche Wille befanden sich immer in vollkommener Übereinstimmung, doch waren es zwei getrennte Entitäten. Um die Hüter des rechten Glaubens von dieser Lehre zu überzeugen, musste Maximus die Begriffe des Willens und der Wirklichkeit einer genauen Analyse unterziehen. Das deutsche Wort „Wille“ und seine Entsprechungen und die verwandten Wörter im Griechischen (thelesis/thelema) und Lateinischen (voluntas) können eine Eigenschaft bezeichnen (wie in dem Satz „Menschen haben einen freien Willen, Tiere nicht“), eine Disposition des Willens (zum Beispiel eine Bereitschaft zum Martyrium), einen Akt (zum Beispiel das Ja-Wort [engl. „I will“] in einer Eheschließungszeremonie) oder etwas Gewolltes (wie in dem Satz „Dein Wille geschehe“). Maximus

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unterzog diese Begriffe einer sorgfältigen und zum Teil originellen Analyse: Seine Untersuchungen waren jedoch nicht so originell, dass er – wie einige glauben – es verdiente, als Erfinder des generellen Willensbegriffs zu gelten (PG 90). 12

Philosophie im karolingischen Reich Außerhalb des Römischen Reiches änderte sich die Welt so grundlegend, dass sie nicht wiederzuerkennen war. Der Prophet Mohammed starb im Jahre 632, und innerhalb von zehn Jahren verbreitete sich die Religion des Islam durch Eroberungen von seinem Ursprungsland Arabien durch das angrenzende Persische Reich und die römischen Provinzen Syrien, Palästina und Ägypten. Im Jahre 698 nahmen die Muslime Karthago ein und zehn Jahre später beherrschten sie ganz Nordafrika. 711 überquerten sie die Straße von Gibraltar, besiegten mühelos die gotischen Christen und strömten nach Spanien ein. Erst im Jahre 732 konnte ihr Vordringen nach Nordeuropa gestoppt werden, als sie bei Poitiers von dem fränkischen Herrscher Karl Martell besiegt wurden. Der Enkel Karl Martells, Karl der Große, der 768 König der Franken wurde, drängte die Muslime zu den Pyrenäen zurück, versuchte aber nicht, ihnen ihre spanischen Herrschaftsbereiche streitig zu machen. Im Osten eroberte er jedoch die Lombardei, Bayern und Sachsen, und er ließ seinen Sohn zum König von Italien ausrufen. Als Papst Leo III. durch eine Revolution aus Rom vertrieben wurde, sorgte Karl der Große dafür, dass er seinen Heiligen Stuhl wiedergewann. Aus Dankbarkeit krönte ihn der Papst am Weihnachtstag des Jahres 800 zum Römischen Kaiser, an einem Datum, das zwar nicht das denkwürdigste der Geschichte, dafür aber dasjenige ist, welches man sich am einfachsten merken kann. So begann das Heilige Römische Reich, in dem im Jahre 814, dem Todesjahr Karls des Großen, fast die gesamte christliche Bevölkerung des westeuropäischen Kontinents lebte. Karl der Große bemühte sich darum, in den von ihm beherrschten Gebieten das Bildungswesen und die Kultur zu fördern. In seine Haupt-Stadt Aachen holte er Gelehrte aus verschiedenen Teilen Europas, um eine „Hofschule“ zu gründen. Einer der bedeutendsten unter ihnen war Alkuin aus York, der an Aristoteles’ Kategorien ein besonderes Interesse hatte. In dem von ihm in Dialogform verfassten Logiklehrbuch, Dialectica, stellt der Schüler Karl die Fragen und der Lehrer Alkuin gibt die Antworten. In seinen letzten Lebensjahren zog sich Alkuin in das Kloster St. Martin in Tours zurück, dessen Abt er später wurde, um dort eine kleine Schule zu leiten. Er sagte dem Kaiser, er verbringe seine Zeit damit, seinen Schülern den Honig der Heiligen Schrift, 12 Der große theologische Disput des folgenden Jahrhunderts betraf die Verehrung von Bildern oder Ikonen. Man hätte erwarten können, dass die ikonoklastische Kontroverse interessante Beiträge zur Semiotik, der philosophischen Theorie der Zeichen, hervorbringen würde. Allein diese Hoffung scheint, verschafft man sich einen kurzen Überblick über die Literatur, vergeblich gewesen zu sein.

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den Wein der klassischen Literatur und die Äpfel der Grammatik auszuteilen. Einen kleinen Kreis Privilegierter führte er in die Reichtümer der Astronomie ein, des Lieblingsfachs Karls des Großen. Als die Philosophie zwischen dem neunten und elften Jahrhundert zu neuem Leben erwachte, geschah dies nicht innerhalb des alten Römischen Reiches von Byzanz, sondern im Fränkischen Reich der Nachfolger von Karl dem Großen und am abbasidischen Hof im muslimischen Bagdad. Die führenden Philosophen dieser Wiederbelebung waren im Westen Johannes Scotus und im Osten Ibn Sina (Avicenna). Johannes wurde im ersten Jahrzehnt des neunten Jahrhunderts in Irland geboren. Er darf mit dem bekannteren Johannes Duns Scotus, der im 14. Jahrhundert Berühmtheit erlangte, nicht verwechselt werden. Es ist zweifellos verwirrend, dass es zwei mittelalterliche Philosophen mit dem Namen Johannes Scotus gibt. Was die Sache gleich doppelt verwirrend macht, ist die Tatsache, dass einer von ihnen Ire war und der andere, für den Zweck dieser Darstellung, Engländer. Der Philosoph des neunten Jahrhunderts gab sich, um Verwechselungen auszuschließen, den Nachnamen Eriugena, was „Sohn Irlands“ bedeutet. Im Jahre 851 war Eriugena von Irland an den Hof Karls des Kahlen gegangen, des Enkels von Karl dem Großen. Dieser befand sich wahrscheinlich bei Compiègne, das Karl in Analogie zu Konstantinopel in Karlopolis umbenennen wollte. Karl der Kahle liebte alles Griechische, und der erstaunlich gelehrte Eriugena, der (man weiß nicht wo) Griechisch gelernt hatte, gewann dessen Gunst und schrieb ihm schmeichelhafte Gedichte in dieser Sprache. Er unterrichtete am Hof eine Zeit lang die Freien Künste, doch begann er, sich zunehmend für Philosophie zu interessieren. Als er einmal einen Text aus dem Grenzgebiet zwischen Grammatik und Logik kommentierte, schrieb er: „Niemand gelangt in den Himmel, es sei denn durch Philosophie.“ 13 Eriugena beschäftigte sich erstmals mit Philosophie, als er im Jahre 851 von Hinkmar, dem Erzbischof von Reims, eingeladen wurde, eine Widerlegung der Ideen eines gelehrten, pessimistischen Mönchs namens Gottschalk zu verfassen. Gottschalk hatte das Problem der Prädestination an dem Punkt wieder aufgenommen, an dem Augustinus es liegen gelassen hatte. Er soll aus den Texten des Augustinus etwas abgeleitet haben, was in ihnen im Allgemeinen unausgesprochen gelassen war, nämlich dass die Prädestination für Sünder ebenso galt wie für Heilige. Er lehrte, dass nicht nur das Schicksal der Seligen im Himmel vorherbestimmt sei, sondern dass auch die Verdammten für die Hölle prädestiniert waren, schon bevor sie empfangen wurden. Diese Lehre von der doppelten Prädestination schien Erzbischof Hinkmar häretisch. Zum wenigsten hielt er die Lehre, wie die Mönche zur Zeit des Augustinus, für ein Hindernis einer guten, monastischen Disziplin: Sünder könnten den Schluss ziehen, dass es – da ihr Schicksal schon lange feststeht – zwecklos sei, das Sündigen aufzugeben. Dies war der Grund für seine Einladung an Eriugena, die Lehre Gottschalks zu widerlegen (PL 125. 84 f.). 13 Vgl. J. J. O’Meara, Eriugena (Oxford: Clarendon Press, 1988), Kapitel 1 und 2.

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Gottschalks Ansichten mögen korrekt wiedergegeben worden sein oder nicht: Eriugenas Widerlegung seiner angeblichen Häresie war aus der Sicht Hinkmars noch schlimmer als die Krankheit, die sie hatte heilen sollen. Eriugenas Argumente waren schwach, und indem er die Prädestination der Verdammten angriff, untergrub er die Prädestination der Seligen. Es konnte ihm zufolge keine doppelte Prädestination geben, da Gott einfach und ungeteilt war, und es konnte so etwas wie Prädestination nicht geben, weil Gott ewig war. Das erste Argument ist nicht überzeugend: Wenn durch eine doppelte Prädestination die Einfachheit Gottes infrage gestellt wird, so geschieht dies auch durch die Unterscheidung zwischen Prädestination und Voraussicht, welches die von den Gegnern Gottschalks bevorzugte Lösung war. Das zweite Argument bietet den Sündern nicht den gewünschten Anreiz zur Buße, denn welche zeitliche Qualifikation wir der göttlichen Bestimmung unseres Schicksals auch immer geben mögen: Augustinus’ Sicht zufolge hängt es gewiss von keiner unserer Entscheidungen ab (CCCM 50. 12). Das fränkische Königreich wurde von Lehrstreitigkeiten zerrissen, und sowohl Gottschalk als auch Eriugena wurden schließlich von Konzilien der Kirche verurteilt. Die Synode von Quierzy im Jahre 853 – das dritte einer Reihe von Treffen – legte gegen Gottschalk fest, dass Gott – obwohl er die Seligen für den Himmel vorherbestimmt – andere nicht zur Sünde vorherbestimmt: Er beließ sie einfach in der großen Zahl der ins Verderben gehenden Menschen und bestimmte nur ihre Strafe, nicht ihre Schuld vorher. Die Verurteilung Eriugenas im Jahre 855 in Valence bekräftigte, dass es in der Tat eine Vorherbestimmung der Gottlosen zum Tod, ebenso wie eine Vorherbestimmung der Erwählten zum Leben gebe. Der Unterschied sei folgender: Bei der Erwählung der Geretteten gehe die Gnade Gottes allem Verdienst voraus, während im Fall der Verdammnis derjenigen, die ins Verderben gehen würden, das Böse seinen Lohn vor dem gerechten Urteil empfange. Die Kirchenväter waren über gewöhnliche Schmähungen nicht erhaben und meinten, Eriugena habe die Reinheit des Glaubens mit widerlichem irischem Brei besudelt. Trotz seiner Verurteilung fiel Eriugena bei Karl dem Kahlen nicht in Ungnade, und dieser beauftragte ihn im Jahre 858, drei Abhandlungen von Dionysios Areopagita ins Lateinische zu übersetzen: die Göttlichen Namen, die Himmlische Hierarchie und die Kirchliche Hierarchie. Er fand die neuplatonischen Ideen von Dionysios seinem Geist verwandt und entwickelte später ein eigenes, ähnliches System. Dieses fünfbändige Werk trug den Titel Über die Natur oder – um ihm seinen griechischen Titel zu geben – Periphyseon. Eriugena zufolge ist die Natur in vier große Bereiche unterteilt: die schaffende und ungeschaffene Natur, die geschaffene und schaffende Natur, die geschaffene und nicht schaffende Natur sowie die nicht schaffende und ungeschaffene Natur (Periph. 1. 1). Die erste dieser Naturen ist Gott, die zweite ist die intellektuelle Welt der platonischen Ideen, die die dritte Natur schuf, die Welt der materiellen Gegenstände. Die vierte ist wiederum Gott, verstanden nicht als Schöpfer, sondern als das Ziel, zu dem die Dinge zurückkehren.

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Nach Eriugena ist die wichtigste Unterscheidung in der Natur diejenige zwischen den Dingen, die es gibt, und denjenigen, die es nicht gibt. Es ist befremdlich, gesagt zu bekommen, Gott gehöre zu den Dingen, die es nicht gibt. Eriugena will damit jedoch nicht sagen, dass es keinen Gott gibt, sondern dass Gott in keine der zehn von Aristoteles angegebenen Seinskategorien passt (Periph. 2. 15). Gott steht oberhalb des Seins, und was er tut, ist etwas Besseres, als zu existieren. Ein Name, den wir dem unaussprechlichen und unfasslichen Glanz der göttlichen Güte geben können, ist „Nichts“. 14 Eriugenas dritter Naturbereich, die materielle Welt, ist am leichtesten zu verstehen (Periph. 3. 3). Wie Philoponos glaubt auch er, dass der Himmel und die Erde aus denselben Elementen bestehen: Es gibt keine spezielle Quintessenz für die Himmelskörper. Der Kosmos, sagt er uns, besteht aus drei Sphären: der Erde im Zentrum, als Nächstes aus der Sphäre der Sonne (die ungefähr 70 000 Kilometer entfernt ist) und aus der äußersten Sphäre des Mondes und der Sterne (in ungefähr 140 000 Kilometern Entfernung). Während Eriugena annimmt, dass sich die Sonne um die Erde dreht, nimmt er einige Schritte in Richtung auf ein heliozentrisches System: Er glaubte, Jupiter, Mars, Venus und Merkur seien Planeten der Sonne und dass sie sich um die Sonne bewegten. Doch wo passen die Menschen in Eriugenas vierfältiges Schema hinein? Ihr Leben scheint zwischen dem zweiten und dritten Naturbereich ausgespannt. Als Tiere gehören wir zum dritten Bereich, und dennoch sind wir den anderen Tieren überlegen. Man kann mit gleichem Recht behaupten, dass der Mensch ein Tier ist, wie dass er kein Tier ist. Vernunft, Geist und einen inneren Sinn teilt er mit den himmlischen Wesen, doch sein Fleisch, sein äußeres Selbst, teilt er mit den anderen Tieren. Der Mensch wurde zweimal erschaffen: einmal aus der Erde, mit den Tieren, doch noch ein zweites Mal mit den geistigen Wesen des zweiten Naturbereichs. Bedeutet dies, dass wir zwei Seelen haben? Nein, jeder von uns hat eine einzige, ungeteilte Seele: ganz Leben, ganz Geist, ganz Vernunft, ganz Gedächtnis. Diese Seele erschafft, als Gehilfe Gottes, den Körper, da Gott selbst nichts Sterbliches schafft. Selbst wenn die Seele und der Körper im Tod voneinander getrennt werden, regiert die Seele auch weiterhin den unter die Elemente verstreuten Körper (Periph. 4. 8). Als Schöpfer des Körpers gehört die Seele zu demjenigen Bereich der Natur, der sowohl geschaffen als auch schaffend ist. Dieser zweite Bereich besteht aus demjenigen, was Eriugena als „die ursprünglichen Ursachen der Dinge“ bezeichnet, die er platonischen Ideen gleichsetzt (Periph. 2. 2). Sie wurden von Gott dem Vater in seiner ewigen Welt vor aller Zeit geformt. Die Idee des Menschen ist diejenige, in Übereinstimmung mit der Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. In den gefallenen Menschen ist dieses Bild jedoch entstellt. Hätte Gott den Sündenfall Adams nicht vorhergesehen, wären die Menschen nicht in Mann und Frau unterteilt worden, sondern sie würden sich wie Engel fortgepflanzt haben. Sie hätten einen 14 Ausführlicher erörtert wird die Theologie Eriugenas in Kapitel 9.

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himmlischen Körper gehabt, der keinem Stoffwechsel unterliegt. Nach der Auferstehung werden unsere Körper wieder ihre geschlechtslose und himmlische Form annehmen. Wenn die Welt schließlich zu Ende gehen wird, werden Raum und Zeit verschwinden, und alle Geschöpfe werden in der ungeschaffenen und nicht schaffenden Natur Erlösung und Seligkeit finden. Eriugena war einer der originellsten und ideenreichsten Denker des Mittelalters. Er baute die Ideen seiner griechischen Quellen in ein System ein, dass er allein erdacht hatte. Er ist nicht leicht zu lesen, doch sein Text kann den Leser fasziniert in seinen Bann ziehen. Er hat eine fanatische Liebe für Paradoxa: Wann immer er einen Satz schreibt, kann er es kaum abwarten, im nächsten Satz sein Gegenteil zu behaupten. Mit großem Scharfsinn und Einfallsreichtum gelingt es ihm oft zu zeigen, dass die beiden scheinbaren Gegensätze so verstanden werden können, dass sie vereinbar sind. Doch manchmal bringt ihn sein eigensinniger Verstand dazu, reinen Unsinn zu behaupten, wie in folgendem Satz: „In der Einheit sind alle Zahlen gleichzeitig beieinander, und keine Zahl geht einer anderen voran oder folgt ihr, da alle eins sind.“ (Periph. 3. 66) Obwohl Eriugena ständig die Bibel zitiert, steht sein System dem heidnischen Neuplatonismus näher als dem traditionellen christlichen Denken, und es ist nicht verwunderlich, dass sein Buch Über die Natur schließlich von der kirchlichen Lehrautorität verworfen wurde. Im Jahre 1225 befahl Papst Honorius III., alle noch vorhandenen Kopien des Werkes nach Rom zu schicken und dort zu verbrennen. Die Legendenbildung verfuhr jedoch freundlicher mit ihm. Man erzählte oft die Geschichte, dass Karl der Kahle ihn während des Abendessens gefragt haben soll: „Was trennt einen Schotten (scot) von einem Säufer (sot)?“, worauf er die Antwort erhalten haben soll: „Nur dieser Tisch.“ Außerdem gab es eine Zeit, in der die Universität Oxford ihn (obwohl es wenig plausibel war) als ihren Gründer verehrte.15

Muslimische und jüdische Philosophen Der christliche Eriugena war ein wesentlich weniger wichtiger Vorläufer der abendländischen Philosophie des Mittelalters als eine Reihe von muslimischen Denkern in den Ländern des heutigen Iran und Irak. Diese Muslime stellten, obwohl sie auch selbst bedeutsame Denker waren, den Umweg dar, auf dem ein großer Teil griechischer Gelehrsamkeit schließlich in das lateinische Abendland gelangte. Im vierten Jahrhundert gab es in Edessa 16 in Mesopotamien eine Schule syrischer Christen, die sich ernsthaft dem Studium der griechischen Philosophie und Medizin widmete. Sie akzeptierte die Verwerfung von Nestorius auf dem Konzil von Ephesos im Jahre 431 nicht, und das Konzil von Chalcedon im Jahre 451 brachte für sie keine 15 Vgl. O’Meara, Eriugena, 214–16. 16 Anm. d. Übers.: Dem heutigen Urfa.

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Aussöhnung, weshalb ihre Schule von Kaiser Zeno im Jahre 489 geschlossen wurde. Die Gelehrten zogen nach Persien, wo sie die in Edessa begonnene Arbeit an der Übersetzung der Werke des Aristoteles vom Griechischen ins Syrische fortsetzten.

Der Schutzpatron der lateinischen Philosophie war die heilige Katharina von Alexandria, die der Legende nach in einem Streitgespräch vor dem Kaiser Maxentius fünfzig heidnische Philosophen widerlegt haben soll. In diesem Fresko zeigt Pintoricchio, dass sie obendrein auch noch gegen zwei islamische Philosophen Recht behält.

Nach der muslimischen Eroberung von Persien und Syrien wurden Gelehrte dieser Schule in der Zeit der aufgeklärten Kalifen, die in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erwähnt werden, an den Hof von Bagdad eingeladen. In der Zeit von 750 bis 900 übersetzten diese Syrer einen Großteil der Werke des Aristoteles sowie Platons Politeia und Nomoi ins Arabische. Außerdem machten sie der muslimischen Welt die wissenschaftlichen und medizinischen Werke von Euklid, Archimedes, Hippokrates und Galen zugänglich. Zur selben Zeit wurden mathematische und astronomische Werke aus indischen Quellen übersetzt. Die von uns heute verwendeten „arabischen“ Zahlen, mit denen sich arithmetische Aufgaben wesentlich leichter bearbeiten lassen als mit den römischen oder byzantinischen Zahlsymbolen, die sie abgelöst haben, wurden im selben Zeitraum aus Indien eingeführt. Die Einführung von griechischer und insbesondere aristotelischer Philosophie hatte einen beträchtlichen Einfluss auf das muslimische Denken. Die islamische Theologie (kalam) hatte bereits eine rudimentäre philosophische Terminologie entwickelt und stand diesem System fremder Ideen (falsafa) anfänglich – und auch später noch – feindlich gegenüber. Die als Mutakallimun bezeichneten Denker des kalam

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verwendeten eine Reihe von Beweisen, um zu zeigen, dass die Welt einen zeitlichen Anfang hatte. Die neuen Philosophen führten aristotelische Argumente an, um zu beweisen, dass es sie schon immer gegeben hatte. 17 Während für abendländische Denker wie Augustinus das vulgäre Latein der Bibelübersetzung anfänglich Grund für seine Abneigung gegen das Christentum gewesen war, stand für die kalam-Gelehrten des Koran das gebrochene Arabisch der Übersetzungen der aristotelischen Schriften ihrer Annahme der Philosophie im Wege. Eine Zeit lang widersetzten sie sich der Vorstellung, dass die Logik universal gültig ist, und behandelten sie stattdessen als einen obskuren Teil der griechischen Grammatik. Der Denker, den man traditionellerweise als Vater der muslimischen Philosophie ansieht, ist al-Kindi (ca. 801–66). Er war ein Zeitgenosse von Eriugena und bewegte sich zwischen kalam und falsafa. Er verfasste eine Abhandlung mit dem Titel Die Kunst Sorgen zu vertreiben, die Ähnlichkeiten mit Boethius’ Trost der Philosophie aufwies. Wichtiger ist seine Abhandlung über die Erste Philosophie, die auf höchst formale Weise das kalam-Argument für die zeitliche Endlichkeit der Welt entwickelt. 18 Man erinnert sich auch wegen seiner Schriften über den menschlichen Verstand an ihn. In einer von ihnen behauptet er, dass unser Intellekt durch eine einzige kosmische Intelligenz in Aktion versetzt wird, die man vielleicht dem Geist gleichsetzen kann, der die zweite Stelle in der neuplatonischen Trinität aus dem Einem, Geist und Seele einnimmt. Diese Idee wurde von dem späteren Philosophen al-Farabi aufgegriffen, der zur Schule von Bagdad gehörte und im Jahre 950 starb. Er erklärte mit ihr die rätselhafte Passage in Aristoteles’ De Anima, in der er von zwei Formen des Geistes spricht: einem Geist, der Dinge hervorbringt, und einem, der zu den Dingen wird. 19 Al-Farabi traf eine klare Unterscheidung zwischen Grammatik und Logik, die er als Propädeutik für die Philosophie ansah. Die eigentliche Philosophie bestand für ihn aus drei Teilen: aus Physik, Metaphysik und Ethik. Die Psychologie war Teil der Physik und die Theologie war eine recht eigenständige Disziplin, die die Eigenschaften Gottes als Belohnenden und Strafenden studierte. Allerdings war es möglich, die Existenz Gottes als ersten Beweger und notwendiges Wesen mit philosophischen Argumenten zu beweisen. Al-Farabi gehörte der mystischen Sekte der Sufis an und betonte, dass es die Aufgabe der Menschen sei, Erleuchtung von Gott zu suchen und zu ihm zurückzukehren, aus dem wir ursprünglich hervorgegangen seien. Ein Zeitgenosse von al-Farabi war Saadiah Gaon (882–942), der erste jüdische Philosoph des Mittelalters. Er wurde in Ägypten geboren und ging nach Babylon, wo er Leiter der Schule für biblische Studien wurde. Er übersetzte die Bibel ins Arabische und schrieb zahlreiche Texte über jüdische Liturgie und Tradition. Er bemühte sich darum, die biblische Lehre mit rationaler Philosophie zu vereinbaren, denn er sah 17 Vgl. W. L. Craig, The Kalam Cosmological Argument (London: Macmillan, 1979). 18 Ausführlicher darauf eingehen werden wir in Kapitel 5. 19 Vgl. Band I, Seite 257.

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beide als zwei Zweige am selben Ast. Hierzu stützte er sich auf neuplatonische Quellen und auf Material, das er dem kalam entlehnte. Sein einflussreichstes Buch hatte den Titel Das Buch der Lehren und Überzeugungen. Menschliche Gewissheiten hatten nach Saadiah drei Quellen: die Sinne, Vernunft und Tradition. Die Vernunft hat zwei Formen: rationale Anschauung, die die Wahrheiten der Logik und das Wissen über gut und böse liefert, und rationale Schlussfolgerung, die Wahrheiten durch Argumente aus den Prämissen ableitet, die durch die Sinne und die Anschauung bereitgestellt werden. Durch rationale Schlussfolgerung wissen wir, dass der Mensch eine Seele und das Universum eine Ursache hat. Die Tradition des jüdischen Volkes, deren wichtigstes Element die Bibel ist, ist eine weitere Quelle des Wissens, dessen Gültigkeit durch die Wundertätigkeit der Propheten bestätigt wird. Dies ist zwar eine unabhängige Wissensquelle, doch muss sie vorsichtig im Lichte des den anderen Quellen verdankten Wissens interpretiert werden. Nach Saadiah können uns die Sinne nicht sagen, ob die Welt einen Anfang hatte oder ob es sie schon immer gegeben hat. Wir müssen uns daher der Vernunft zuwenden. Er bietet vier Beweise dafür an, dass die Welt in der Zeit geschaffen worden sei. (1) Alles im Universum hat eine endliche Größe, sodass die Kraft, die es zusammenhält, endlich sein muss und nicht seit Ewigkeiten existiert haben kann. (2) Die Elemente des Kosmos sind komplex, doch passen sie bewundernswert zusammen und müssen daher das Werk eines kunstvollen Schöpfers sein. (3) Alle Substanzen in der natürlichen Welt sind kontingent und benötigen daher einen notwendigen Schöpfer. (4) Eine unendliche Reihe kann nicht erfasst oder durchlaufen werden, weshalb die Zeit endlich sein muss. Einige dieser Argumente gehen bis auf Philoponos zurück, und andere sollten noch eine lange Zukunft vor sich haben (PMA 344 ff.).

Avicenna und seine Nachfolger Der größte aller muslimischen Philosophen war Ibn Sina, im Abendland bekannt als Avicenna (980–1037). Er war Perser und wurde in der Nähe von Bokhara im heutigen Usbekistan geboren. Er erhielt seine Ausbildung in arabischer Sprache, in der er die meisten seiner Werke schrieb. Man sagte von ihm, er habe bereits als Teenager die Fächer Logik, Mathematik, Physik und Medizin beherrscht. Im Alter von 16 Jahren begann er, als Arzt zu praktizieren. In seiner Autobiografie, die von seinem Schüler Juzjani herausgegeben wurde, beschreibt er, wie er sich dann der Philosophie zuwandte: „Für anderthalb Jahre widmete ich mich dem Studium. Ich setzte das Studium der Logik und aller Teile der Philosophie fort. Während dieser Zeit schlief ich nie durch die ganze Nacht und widmete mich den ganzen Tag über ausschließlich dem Lernen. Immer, wenn ich einem Problem begegnete […], ging ich in die Moschee, betete und bat den Schöpfer aller Dinge, mir dasjenige zu enthüllen, was mir verborgen war, und das Schwere für

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mich leicht zu machen. Des Nachts kam ich dann nach Hause, stellte eine Lampe vor mich hin und begann zu lesen und zu schreiben.“ 20

Auf diese Weise, teilt er uns mit, beherrschte er im Alter von 18 Jahren alle Wissenschaften. Mit 20 Jahren gab er eine Enzyklopädie heraus – die erste der fünf, die er im Laufe seines Lebens schreiben sollte, wovon er vier auf Arabisch und eine auf Persisch verfasste. Avicennas Geschick als Arzt war sehr gefragt. Man rief ihn herbei, um den Sultan von Bokhara zu behandeln, und er machte ausgiebigen Gebrauch von dessen stattlicher Bibliothek. Von 1015 bis 1022 war er Leibarzt und Wesir des Herrschers von Hamadan. Später bekleidete er eine ähnliche Position am Hof von Isfahan. Er hinterließ mehr als 200 Werke, von denen über 100 überlebt haben. Sein Kanon der Medizin fasst ein umfangreiches, klassisches klinisches Material zusammen und fügt eigene Beobachtungen hinzu. Er wurde von praktizierenden europäischen Ärzten bis ins 17. Jahrhundert verwendet. Die wichtigste philosophische Enzyklopädie Avicennas wurde auf Arabisch Kitab-al-Shifa, „Buch der Heilung“, genannt. Sie hat vier Teile, von denen die ersten drei die Logik, Physik und Mathematik behandeln. Der zweite Teil umfasst eine Darstellung von Aristoteles’ De Anima. Der vierte Teil, dessen arabischer Titel die Bedeutung „Von göttlichen Dingen“ hat, war im abendländischen Mittelalter als seine Metaphysik bekannt. Nachdem sie 1150 in Toledo ins Lateinische übersetzt worden war, übte sie einen enormen Einfluss auf die lateinische Philosophie des Mittelalters aus. Avicenna sagte, er habe die Metaphysik des Aristoteles 40 Mal gelesen und auswendig gelernt, ohne sie verstanden zu haben. Was mit der Theorie des Seienden als Seienden gemeint ist, habe er erst verstanden, nachdem er auf einen Kommentar von al-Farabi gestoßen sei. 21 Seine eigene Metaphysik ist wesentlich mehr als ein Kommentar zu Aristoteles: Sie ist ein gründlich durchdachtes, eigenständiges System. Das Buch umfasst zehn Abhandlungen und zerfällt in zwei Teile: Die ersten fünf Bücher behandeln die Ontologie, die Wissenschaft vom Sein im Allgemeinen, während die restlichen Bücher hauptsächlich der natürlichen Theologie gewidmet sind. In den frühen Büchern behandelt Avicenna die Begriffe Substanz, Materie und Form, Möglichkeit und Wirklichkeit sowie das Universalienproblem. In den späteren Büchern analysiert er das Wesen der ersten Ursache und den Begriff eines notwendigen Wesens sowie die Art und Weise, auf die Kreaturen, und insbesondere der Mensch, ihr Wesen von der Natur Gottes erlangen. Als ein Beispiel dafür, wie Avicenna die aristotelischen Begriffe modifiziert, wollen wir uns seine Lehre von Stoff und Form genauer ansehen. Er behauptet, dass jede 20 Zitiert in J. L. Esposito, Islam: The Straight Path (New York: Oxford University Press, 1991), 57. 21 Avicenna, The Life of Ibn Sina, übersetzt von W. E. Gohlman (Albany: State University of New York Press, 1974).

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körperliche Entität aus Materie und einer substanziellen Form besteht, einer Form der Körperlichkeit, die sie zu einem Körper macht. Alle körperlichen Geschöpfe gehören zu einer bestimmten Art, doch jede solche Kreatur, wie zum Beispiel ein Hund, verfügt nicht nur über eine, sondern über viele substanzielle Formen: Zusätzlich zur Körperlichkeit verfügt er über die Formen der Tierheit und „Hundheit“. Da Seelen für einen Aristoteliker Formen sind, haben Menschen nach dieser Theorie drei Seelen: eine vegetative Seele (verantwortlich für Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung), eine tierische Seele (verantwortlich für Bewegung und Wahrnehmung) und eine rationale Seele (verantwortlich für vernünftiges Denken). Keine dieser Seelen hat eine Präexistenz, doch während die beiden unteren Seelen sterblich sind, ist die höchste unsterblich und überlebt den Körper im Zustand der Seligkeit oder Verdrossenheit, je nachdem, was sie durch ihren Lebenswandel verdient hat. Avicenna schloss sich al-Farabis Deutung von Aristoteles’ Geistlehre an und nahm, zusätzlich zum rezeptiven Geist des Menschen, der die über die Sinne zu ihm gelangenden Informationen verarbeitet, einen einzigen übermenschlichen aktiven Intellekt an, der Menschen die Fähigkeit verleiht, allgemeine Begriffe und Prinzipien zu erfassen.22 Bei der Beschreibung der einzigartigen Natur Gottes führte Avicenna eine neuartige Idee ein, die in der gesamten Metaphysik nach ihm eine zentrale Rolle einnahm: den Unterschied zwischen Wesen und Existenz. 23 Bei allen Kreaturen sind Wesen und Existenz verschieden: Selbst die vollständigste Untersuchung der Frage, um was für ein Ding es sich bei einer bestimmten Art handelt, beweist nicht, dass irgendwelche Exemplare dieser Art existieren. Bei Gott verhält es sich anders: In seinem Fall, und nur in seinem, beinhaltet das Wesen die Existenz. Gott ist das einzige notwendige Wesen und alle anderen sind kontingent. Da Gottes Existenz nur von seinem Wesen abhängt, ist sie ewig, und Avicenna schlussfolgert, dass die aus ihm hervorgehende Welt ebenfalls ewig ist. 24 Obwohl er die islamischen Vorschriften nicht immer einhielt, war Avicenna ein überzeugter Muslim und darum bemüht, sein philosophisches Schema mit den Lehren und Geboten des Propheten in Einklang zu bringen. Seine systematische Behandlung der Religion im zweiten Teil seiner Metaphysik beruft sich jedoch keineswegs in besonderer Weise auf die Autorität des Koran. Sie liefert zwar rationalistische Rechtfertigungen für islamische Rituale und soziale Praktiken (einschließlich der Polygamie und der Unterordnung der Frau), basiert jedoch auf religiösen Prinzipien allgemeiner und philosophischer Art. Dies war der Grund dafür, dass seine Schriften Einfluss auf die katholischen Philosophen des lateinischen Abendlandes ausüben konnten. Allerdings war sein Werk konservativen Muslimen aus demselben Grund suspekt. Da er die Gunst von Fürsten genoss, entging er jedoch konkreter Verfolgung. 22 Al-Farabis und Avicennas Philosophie des Geistes werden in Kapitel 7 ausführlich erläutert. 23 Einige Autoren haben behauptet, diese Unterscheidung gehe auf Aristoteles zurück, doch dies ist zweifelhaft (vgl. Band I, Seite 236). 24 Einzelheiten von Avicennas Metaphysik werden in Kapitel 6 erörtert.

Avicenna und seine Nachfolger

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Er starb im Jahre 1037 in Hamadan, während unter der Führung des Herrschers von Isfahan gegen diese Stadt ein Krieg geführt wurde. Er nahm ein Gift ein, das fälschlicherweise als Medikament für eine Erkrankung verschrieben worden war, an der er aufgrund seines ausschweifenden Lebens litt. Solomon Ibn Gabirol (ca. 1021–1058), ein jüngerer Zeitgenosse Avicennas, bereicherte die Metaphysik um einen eigenständigen Beitrag. Obwohl er ein frommer Jude und liturgischer Dichter war, verfasste er eine philosophische Schrift, Die Quelle des Lebens, die mit keiner Spur ihren jüdischen Ursprung zu erkennen gibt. Daher nahm man, als sie in der Mitte des elften Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde, an, sie sei das Werk eines Muslims, dem man im Abendland den Namen Avicebron gab. Die Grundzüge von Ibn Gabirols System sind neuplatonisch, doch es enthält ein neuaristotelisches Element. Er behauptete, alle geschaffenen Substanzen, seien sie körperlich oder geistig, irdisch oder himmlisch, seien aus Materie und Form zusammengesetzt. Es gebe sowohl eine geistige als auch eine körperliche Materie: Das Universum ist eine Pyramide mit einer immateriellen Gottheit an der Spitze und formloser Materie am unteren Ende. Da man in seinem System „materiell“ nicht länger mit „körperlich“ gleichsetzen kann, muss Ibn Gabirol, wie Avicenna, eine Form der Körperlichkeit einführen, um Körper zu Körpern machen zu können. Ibn Gabirols universaler Hylomorphismus sollte auf den lateinischen Aristotelismus des 13. Jahrhunderts einen beträchtlichen Einfluss ausüben (PMA 359–367). In der Zwischenzeit kam es im elften Jahrhundert im Christentum und im Islam aufseiten konservativer Theologen zu einer Reaktion gegen die Philosophie. Der heilige Peter Damiani (1007–1072), der über philosophische Kritik an katholischen Glaubensüberzeugungen bezüglich der Eucharistie verärgert war, trompetete in die Welt hinaus, dass es Gott nicht gefallen habe, sein Volk durch Dialektik zu erlösen. Allerdings machte er bei der Erörterung der göttlichen Attribute selbst von philosophischen Schlussfolgerungen Gebrauch, was ihn zu einigen merkwürdigen Ergebnisse führte. Gerieten diese mit dem Prinzip vom verbotenen Widerspruch im Konflikt, dann möge es so sein: Die Logik sei nicht die Herrin, sondern die Dienerin der Theologie. 25 Gegen Ende des Jahrhunderts schrieb der persische Philosoph und Mystiker alGhazali (1058–1111) ein Werk, Tahafut al-falasifa („Die Inkohärenz der Philosophen“), in dem er nicht nur zu zeigen versuchte, dass muslimische Philosophen, insbesondere Avicenna, Häretiker des Islam waren, sondern dass sie auch, gemessen an ihren eigenen philosophischen Einsichten, fehlbar und inkohärent waren. Seine Kritik von Avicennas Argumenten für die Existenz Gottes und für die Unsterblichkeit der Seele war häufig stichhaltig. Doch er ist heute am besten dafür bekannt, dass seine Inkohärenz die Antwort eines bedeutenderen Philosophen des zwölften Jahrhunderts herausforderte: Averroes.

25 Damianis seltsame Ansichten über die Allmacht werden in Kapitel 9 erörtert.

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Anselm von Canterbury Trotz dieser Konflikte zwischen Dialektikern und Konservativen brachte das elfte Jahrhundert einen Denker hervor, der sowohl ein eigenständiger Philosoph als auch ein so rechtgläubiger Theologe war, dass er heiliggesprochen werden konnte: Anselm von Canterbury (1033–1109). Er wurde in Aosta geboren und trat im Alter von 27 Jahren als Mönch in die Abtei von Bec ein. Dort studierte er unter seinem Abt Lanfranc, der selbst ein höchst kompetenter Gelehrter war und später, nach der normannischen Eroberung Englands, der erste Erzbischof von Canterbury wurde, die Werke des Augustinus. Als Mönch, Prior und schließlich Abt von Bec verfasste Anselm eine Reihe kurzer philosophischer und meditativer Abhandlungen. Das Lanfranc gewidmete Monologion war dazu bestimmt, Studenten in der rechten Meditation über das Wesen Gottes zu unterweisen. Sein Hauptteil (die Abschnitte 29–80) ist der christlichen Trinitätslehre gewidmet, doch die frühen Abschnitte legen Argumente für die Existenz Gottes vor. Sie basieren auf Überlegungen zu den Graden der Vollkommenheit der Geschöpfe und über abhängiges im Gegensatz zu unabhängigem Sein. Sein berühmtes Argument für die Existenz Gottes als desjenigen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, findet sich im Proslogion, einer etwas später verfassten Schrift. Seine Berühmtheit als Philosoph basiert in der Hauptsache auf diesem Argument, das traditionell als das ontologische Argument für die Existenz Gottes bezeichnet wird. 26 Das Proslogion, eine kurze Anrede Gottes im Stil von Augustinus’ Bekenntnissen, zeichnet sich wie dieses Buch durch einen sympathischen literarischen Charme aus, dem es verdankt, dass es zu einem der Klassiker der Philosophie geworden ist. Wie bereits erwähnt, war Anselm nicht nur ein hervorragender Philosoph, sondern auch ein bedeutender Theologe, und in seinen Schriften unterscheidet er nicht deutlich zwischen beiden Disziplinen. Wenn er das Thema Gott behandelt, macht er, wie es spätere Scholastiker tun sollten, noch keinen systematischen Unterschied zwischen natürlicher Theologie (demjenigen, was über Gott mit der Vernunft allein erkannt werden kann) und dogmatischer Theologie (demjenigen, was allein durch Offenbarung erkennbar ist). Er fasst seine eigene Haltung in einer Passage zu Beginn des Proslogion (c. 1) zusammen: „Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich; aber mich verlangt, Deine Wahrheit einigermaßen einzusehen, die mein Herz glaubt und liebt. Ich suche ja auch nicht einzusehen, um zu glauben, sondern ich glaube, um einzusehen. Denn auch das glaube ich: ‚wenn ich nicht glaube, werde ich nicht einsehen‘ (Jes 7:9).“ 27

26 Genauer analysiert wird Anselms Argument in Kapitel 9. 27 Zitiert nach: Anselm von Canterbury, Proslogion, herausgegeben von P. F. S. Schmitt O.S.B. (Stuttgart-Bad Cannstatt, frommann-holzboog, 1995).

Anselm von Canterbury

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Er behandelt also die Existenz Gottes und das Mysterium der Trinität auf gleiche Weise, als Wahrheiten, die er bereits glaubt, jedoch umfassender verstehen möchte. Wenn er bei der Durchführung dieses Projekts auf philosophische Argumente stößt, die dazu verwendet werden können, den Ungläubigen zu beeinflussen, so ist dies eher ein zusätzlicher Gewinn als der Zweck seiner Untersuchung. Mehrere seiner Abhandlungen übergreifen daher die Philosophie und Theologie. Über die Wahrheit analysiert die verschiedenen Verwendungen des Wortes „wahr“ – zur Beschreibung von Sätzen, Gedanken, sinnlichen Wahrnehmungen, Handlungen und Gegenständen. Die Schrift gelangt zu dem Ergebnis, dass es in allen Dingen nur eine einzige Wahrheit gibt, die mit Gerechtigkeit identisch ist. Die Schrift Über den freien Willen untersucht die Frage, bis zu welchem Grade der Mensch in der Lage ist, Sünden zu vermeiden. Über den Fall des Teufels behandelt eine der schwierigsten Versionen des Theodizeeproblems: Wie war es möglich, dass anfänglich gute Engel von überragender Intelligenz und ohne fleischliche Versuchungen sich von Gott, der wahren Quelle der Glückseligkeit, abwenden konnten? Während seiner Zeit in Bec schrieb er ein rein philosophisches Werk. Die Schrift Über den Grammatiker ist eine Reflexion im Grenzgebiet zwischen Grammatik und Logik über das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Vor dem Hintergrund von Aristoteles’ Kategorien analysiert Anselm darin den Gegensatz zwischen Nomen und Adjektiven, konkreten und abstrakten Ausdrücken, Substanzen und Eigenschaften und setzt diese Gegensätze zueinander in Beziehung. Im Jahre 1093 trat Anselm die Nachfolge von Lanfranc als Erzbischof von Canterbury an, und er bekleidete dieses Amt bis zu seinem Tod. In seinen letzten Lebensjahren war er sehr mit Streitigkeiten über die Zuständigkeitsbereiche des Königs (Wilhelm II.) und des Papstes (Urban II.) beschäftigt, aber er fand trotzdem die Zeit, unter dem Titel Warum wurde Gott Mensch? eine neuartige Rechtfertigung für die christliche Lehre von der Inkarnation zu verfassen. Er erklärt darin, die Gerechtigkeit verlange es, dass es für ein Vergehen eine Wiedergutmachung gebe: Der Schuldige müsse eine Entschädigung leisten, die dem Vergehen angemessen und entgegengesetzt ist. In feudalem Stil argumentiert er, die Größe der Schuld hänge von der Bedeutung der Person ab, die dadurch verletzt worden sei, während der Umfang der Wiedergutmachung sich nach der Bedeutung der Person bemesse, die sie leistet. Die menschliche Sünde sei ein unendliches Vergehen, da sie eine Beleidigung Gottes darstelle. Die menschliche Wiedergutmachung sei nur begrenzt, da sie von einer Kreatur geleistet werde. Ohne Hilfe eines anderen sei die Menschheit daher nicht in der Lage, die Sünden Adams und seiner Nachkommen wiedergutzumachen. Die Genugtuung könne nur angemessen sein, wenn sie von jemandem geleistet werde, der ein Mensch (und daher ein Nachkomme Adams) und zugleich göttlich sei (und dadurch in der Lage, eine unendliche Wiedergutmachung zu leisten). Hieraus ergab sich die Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes. Für die Geschichte der Philosophie ist diese Abhandlung Anselms wegen ihres Begriffs der Wiedergutmachung von Bedeutung, der – ebenso wie Abschreckung und Vergeltung – seit Langem in politischen und

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Anselms Turm neben der Kathedrale von Canterbury. Sein Grab befindet sich unter einer einfachen Steinplatte im Fundament des Turms.

theologischen Kontexten bei der philosophischen Rechtfertigung von Strafe eine Rolle spielte. Kurz bevor man ihn zum Erzbischof ernannte, wurde Anselm in einen Streit mit einem kämpferischen Theologen, Roscelin von Compiègne (ca. 1050–1120), verwickelt. Roscelin ist für seine Position in einem Streit berühmt, der noch eine lange Geschichte vor sich hatte: der Streit über das Wesen der Universalbegriffe. Wofür

Abelard

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steht in einem Satz wie „Peter ist ein Mensch“ der Allgemeinbegriff „Mensch“? Über die Jahrhunderte hinweg wurden die Philosophen dem Lager der Realisten, die annahmen, dass solch ein Prädikat für eine außerhalb des Geistes existierende Wirklichkeit steht, oder dem Lager der Nominalisten zugeordnet, die glaubten, dass einem solchen Wort keine Entität auf die Weise entspreche, auf die der Mann Peter dem Namen „Peter“ korrespondiert. Roscelin wird in der Geschichte der Philosophie oft als Begründer des „Nominalismus“ angesehen, obwohl seine Ansichten tatsächlich noch radikaler sind als die der meisten Nominalisten. Er behauptete nicht nur, dass allgemeine Prädikate bloße Namen sind, sondern lediglich ein Hauch der Stimme. Wird diese Theorie auf die Lehre von der Trinität angewendet, ergibt sich ein Problem. Vater und Sohn und Heiliger Geist sind jeder für sich Gott. Doch wenn das Prädikat „Gott“ ein bloßes Wort ist, haben die drei Personen der Trinität nichts gemeinsam. Auf einem Konzil im Jahre 1092 ließ Anselm Roscelin verurteilen, weil man ihm Tritheismus vorwarf, die Lehre, dass es drei getrennte Gottheiten gebe.

Abelard Es ist uns keine logische Schrift überliefert, die man mit Sicherheit Roscelin zuschreiben könnte. Das Einzige, von dem wir sicher sein können, dass es aus seiner Feder stammt, ist ein Brief, den er an seinen berühmtesten Schüler, Abelard, geschrieben hat. Abelard wurde 1079 in der Bretagne in eine Familie von Rittern geboren und kam, kurz nachdem Roscelin verurteilt worden war, zu ihm, um unter ihm zu studieren. Etwa um das Jahr 1100 ging er nach Paris und trat in die der Kathedrale von Notre-Dame angeschlossene Schule ein. Sein dortiger Lehrer war William von Champeaux, der eine realistische Theorie der Universalien vertrat, die ebenso extrem war wie Roscelins Nominalismus. Er behauptete, das universale Wesen des Menschen sei gleichzeitig in jedem Individuum vollständig gegenwärtig. Abelard fand Williams Auffassung ebenso wenig nach seinem Geschmack wie diejenige seines vorherigen Lehrers, und er verließ Paris, um in Melun eine Schule zu gründen. Dort schrieb er die frühesten der von ihm erhaltenen Werke: Kommentare zu den logischen Schriften von Aristoteles, Porphyrios und Boethius, die ihnen Wort für Wort folgen. Später kehrte er nach Paris zurück und gründete eine mit William konkurrierende Schule. Im Jahre 1113 trat er dessen Nachfolge als Leiter der Schule von NotreDame an. Während er dort unterrichtete, wohnte er bei Fulbert, einem der Domherren, und wurde der Privatlehrer seiner 16 Jahre alten Nichte Héloïse. Er wurde ihr Geliebter, wahrscheinlich im Jahre 1116, und als sie schwanger wurde, heiratete er sie heimlich. Héloïse hatte nur widerwillig geheiratet, da sie seine Karriere nicht behindern wollte, und kurz nach der Hochzeit und der Geburt ihres Sohnes zog sie sich in ein Kloster zurück. Sein empörter Onkel Fulbert schickte des Nachts zwei Schläger in sein Zimmer, die ihn kastrierten. Abelard wurde Mönch im Kloster St.-Denis, während Héloïse in das Nonnenkloster von Argenteuil eintrat.

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Abelard unterstützte Héloïse aus seinen Einkünften als Privatlehrer, und die beiden nahmen ihre Beziehung in Form einer erbaulichen Korrespondenz wieder auf. Einer von Abelards längsten Briefen, den er einige Jahre später schrieb, hat den Titel Historia Calamitatum („Leidensgeschichte“). Er ist die Hauptquelle unserer Informationen über sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt und die lebhafteste Autobiografie zwischen Augustinus’ Bekenntnissen und dem Tagebuch von Samuel Pepys. 28 Während er in St.-Denis lebte, setzte Abelard seine Unterrichtstätigkeit fort und begann theologische Abhandlungen zu schreiben. Die erste von ihnen, die Theologie des höchsten Gutes, geht auf das Problem ein, über das Anselm und Roscelin nicht einig werden konnten: das Wesen der Unterscheidung zwischen den drei göttlichen Personen der Trinität, die innergöttliche Beziehung zwischen den Triaden „Macht, Weisheit und Güte“ und „Vater, Sohn und Geist“. Abelard bekam dadurch, wie Roscelin, Schwierigkeiten mit der Kirche. Auf einer Synode in Soissons wurde die Abhandlung im Jahre 1121 als schlecht fundiert verworfen. Er musste sie eigenhändig verbrennen und wurde für kurze Zeit in einem Strafkloster gefangen gehalten. Kurz nach seiner Rückkehr nach St.-Denis geriet Abelard schon bald in erneute Schwierigkeiten, weil er bestritt, dass der Patron des Klosters jemals Bischof von Athen gewesen war. Er musste St.-Denis verlassen und gründete in einer Kapelle, die er auf dem Lande in Champagne erbaute und dem Parakleten (dem Heiligen Geist) widmete, eine neue Schule. Von 1125 bis etwa um 1132 war er Abt von St.-Gildas, einem heruntergekommenen Kloster ohne Disziplin in der Bretagne, wo man seine Bemühungen um Reformen mit Todesdrohungen beantwortete. Héloïse war zwischenzeitlich zur Äbtissin von Argenteuil ernannt worden. Als sie und ihre Nonnen im Jahre 1129 heimatlos wurden, ließ Abelard sie in seiner dem Parakleten gewidmeten Kapelle wohnen. Irgendwann zu Beginn der 1130er Jahre kehrte Abelard nach Paris zurück und unterrichtete erneut auf dem Mont-Ste.-Geneviève. Dort verbrachte er den größten Teil seiner restlichen Lebenszeit, gab Unterricht in Logik und Theologie und schrieb unermüdlich. Er verfasste einen Kommentar zum Römerbrief sowie eine ethische Abhandlung mit dem sokratischen Titel Erkenne dich selbst. Ferner sammelte er maßgebliche Texte zu wichtigen theologischen Themen und fasste sie unter dem Titel Sic et Non („Ja und Nein“) zu Gegensatzpaaren zusammen. Er entwickelte die Ideen seiner Theologie des höchsten Gutes in mehreren aufeinanderfolgenden Versionen, deren definitive Fassung den Titel Die Theologie der Gelehrten hatte. Er beendete sie um die Mitte der 1130er Jahre. Durch dieses Buch geriet er in Konflikt mit dem heiligen Bernhard, dem Abt von Clairvaux und zweiten Gründer des Zisterzienserordens, der später zum zweiten Kreuzzug aufrief. Bernhard entnahm dem Buch (manchmal zu Recht und manchmal 28 Anm. d. Übers.: Samuel Pepys (1633–1703) war Staatssekretär und Abgeordneter des englischen Parlaments. Sein postum veröffentlichtes, viel zitiertes Tagebuch gewährt einen freimütigen Einblick in das Londoner Alltagsleben des 17. Jahrhunderts.

Abelard

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Héloïse und Abelard, im Tod vereint, auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris.

zu Unrecht) 19 verschiedene Häresien und ließ sie 1140 auf einem Konzil von Sens verwerfen. Zu den verworfenen Aussagen gehörten einige, die ziemlich explosiv waren, wie zum Beispiel: „Gott sollte und kann Böses nicht verhindern“ und „Die Gewalt zu binden und zu trennen wurde nur den Aposteln und nicht ihren Nachfolgern gegeben“ (DB 375, 379). Abelard legte gegen die Verurteilung in Rom Einspruch ein, mit dem Ergebnis, dass ihm der Papst ewiges Schweigen auferlegte. Mittlerweile hatte er sich in das Kloster von Cluny zurückgezogen, wo er zwei Jahre später starb. Der Abt, Petrus Venerabilis, beschrieb seinen friedlichen Tod in einem Brief an Héloïse. Abelard ist zweifellos einer der berühmtesten mittelalterlichen Philosophen, der Allgemeinheit ist er jedoch nicht als origineller Denker, sondern wegen seiner tragischen Liebe zu Héloïse bekannt. Dennoch nimmt er in der Geschichte der Philosophie einen wichtigen Platz ein, und dies besonders aus zwei Gründen: wegen seiner Beiträge zur Logik und seines Einflusses auf die scholastische Methode. Drei seiner logischen Abhandlungen sind uns erhalten geblieben. Die ersten beiden tragen den Titel „Logik“ und werden anhand der ersten Wörter ihres lateinischen Textes voneinander unterschieden: Die eine ist die Logica Ingredientibus und die andere die Logica Nostrorum Petitioni. Die dritte trägt den Titel Dialectica. In der Forschung wurde lange angenommen, die dritte Abhandlung sei die maßgebliche Version, da sie aus Abelards letzten Lebensjahren stammt. Einige neuere Forscher haben dagegen die These vorgeschlagen, dass sie aus einer wesentlich früheren Periode

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stammt, zum Teil aus dem wenig überzeugenden Grund, dass es unwahrscheinlich ist, dass Beispiele wie „Möge meine Freundin mich küssen“ und „Peter liebt sein Mädchen“ nach der Affäre mit Héloïse in ein Lehrbuch aufgenommen worden seien. 29 Als Abelard seine Texte schrieb, standen nur sehr wenige der logischen Werke von Aristoteles in lateinischen Übersetzungen zur Verfügung, und insofern befand er sich, verglichen mit den Autoren folgender Jahrhunderte, im Nachteil. Es ist daher ein umso größeres Verdienst seiner eigenen Einsicht und Originalität, dass er seine Beiträge zur Logik auf eine Weise leistete, die ihn als einen der größten der mittelalterlichen Logiker zu erkennen gibt. Eines der Werke Abelards, das in der Folgezeit den größten Einfluss hatte, war seine Schrift Sic et Non, in der zum selben Thema Texte jeweils verschiedener Autoritäten der Bibel oder der Kirchenväter einander gegenübergestellt wurden. Diese Sammlung wurde nicht in skeptischer Absicht zusammengestellt, um etwa Zweifel an der Autorität der heiligen und kirchlichen Autoren zu wecken, sondern die paarweise systematisch angeordneten Texte sollten dazu dienen, seine eigenen und die Gedanken anderer zu den behandelten Fragen anzuregen. Später, in der Blütezeit der mittelalterlichen Universitäten, war die bevorzugte Unterrichtsmethode die akademische Disputation. Hierbei wählte ein Lehrer einen seiner Schüler, einen fortgeschritteneren Studenten, und ein oder zwei jüngere Studenten zur Erörterung einer bestimmten Frage aus. Der fortgeschrittenere Student hatte die Aufgabe, eine bestimmte These zu verteidigen, wie zum Beispiel dass die Welt in der Zeit erschaffen worden war, beziehungsweise ihr Gegenteil. Von den anderen Schülern wurde diese These dann angegriffen und die gegenteilige Behauptung vorgestellt. Der Lehrer schlichtete dann den Streit, indem er zu bestimmen versuchte, was an den angeführten Argumenten des einen der Wahrheit entsprach und welche der von den anderen vorgebrachten Kritikpunkte stichhaltig waren. Viele der berühmtesten Meisterwerke der mittelalterlichen Philosophie – wie beispielsweise die Mehrzahl der Schriften Thomas von Aquins – behalten in der Schriftform das Schema dieser mündlichen Disputationen bei. Abelards Sic et Non ist der Vorläufer dieser mittelalterlichen Disputationen. Das wichtigste Lehrbuch der mittelalterlichen Theologie, die Sentenzen Peter Lombards, sind ähnlich strukturiert wie dieses Werk Abelards, und es förderte diese Standardform der Diskussion in den Schulen. Es lässt sich daher behaupten, dass letztlich Abelard dafür verantwortlich ist, dass die Struktur philosophischer Diskussionen eine Form annahm, die mehr auf Konfrontation als auf gemeinsame Nachforschung angelegt war, wobei die Schüler die Rolle von Anwälten spielten und der Lehrer sich in derjenigen eines Richters befand. Obwohl er selbst nie mehr als Leiter einer Schule war, gab Abelard den akademischen Professoren auf diese Weise bis zur Renaissance einen bestimmten Denkstil vor. 29 Zur Datierung der Werke Abelards vgl. J. Marenbon, The Philosophy of Peter Abelard (Cambridge: Cambridge University Press, 1997), 36–53.

Averroes

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Averroes Von Abelards christlichen Zeitgenossen traten mehrere mit eigenen Beiträgen zur Philosophie hervor. Die meisten von ihnen gehörten den Schulen in und um Paris an. In Chartres förderte eine Gruppe von Gelehrten eine Wiederbelebung des Interesses an Platon: William von Conches kommentierte den Timaios und Gilbert von Poitiers befürwortete eine gemäßigte Version des Realismus. Das Kloster St. Viktor brachte zwei bemerkenswerte Denker hervor: einen Deutschen, Hugo, und einen Schotten, Richard. Beide verbanden eine Vorliebe für Mystik mit energischen Versuchen, einen rationalen Beweis für die Existenz Gottes zu finden. In der Hauptstadt schrieb Peter Lombard, der Bischof von Paris, ein Werk, das an Abelards Sic et Non angelehnt war, die sogenannten Sentenzen. Hierbei handelte es sich um eine Sammlung maßgeblicher Textpassagen des Alten und Neuen Testaments, der kirchlichen Konzilien und der Kirchenväter, die, nach Themen geordnet, für und gegen bestimmte theologische Thesen sprachen. Sie wurde zu einem Standardwerk des universitären Unterrichts. Die einzigen Philosophen des zwölften Jahrhunderts, deren philosophisches Talent demjenigen Abelards nahe kam, gehörten nicht zur Christenheit. Beide wurden im selben Jahrzehnt in Córdoba geboren: der Muslim Averroes (der in Wirklichkeit Ibn Rushd hieß) und der Jude Maimonides (dessen wahrer Name Moses ben Maimon war). Córdoba war das wichtigste künstlerische und literarische Zentrum ganz Europas, und unter der muslimischen Herrschaft war Spanien, bis es von den fanatischen Almohaden überrannt wurde, ein tolerantes Land, in dem Christen und Juden friedlich mit Arabern zusammenlebten. Averroes (1126–1198) war Richter und der Sohn und Enkel von Richtern. Er besaß auch medizinisches Wissen und schrieb ein Kompendium für Ärzte mit dem Titel Kulliyat („Allgemeine Prinzipien“). Er gelangte an den Hof des Sultans von Marrakesch. Während er dort lebte, beobachtete er einen Stern, der in Spanien nicht zu sehen war, und dies überzeugte ihn von Aristoteles’ Behauptung, die Erde sei rund. Nach Spanien zurückgekehrt, wurde er 1168 vom Kalifen Abu Yakub beauftragt, eine Zusammenfassung von Aristoteles’ Werken zu verfassen. Im Jahre 1182 wurde er zusätzlich zu seinem Richteramt zum Hofarzt ernannt, und er verband diese Ämter mit seinen Arbeiten über Aristoteles, bis er 1195 bei dem Kalifen al-Mansur in Ungnade fiel. Man stellte ihn kurze Zeit unter Hausarrest und verbrannte seine Bücher. Er kehrte nach Marokko zurück und starb im Jahre 1198. Während seines gesamten Lebens musste Averroes die Philosophie gegen die Angriffe konservativer Muslime verteidigen. Als Antwort auf al-Ghazalis Inkohärenz der Philosophen schrieb er ein Buch mit dem Titel Inkohärenz der Inkohärenz, in dem er das Recht der menschlichen Vernunft verteidigte, theologische Fragen zu untersuchen. Darüber hinaus verfasste er eine Abhandlung mit dem Titel Die Harmonie von Philosophie und Religion. Ist das Studium der Philosophie, so fragt er darin, durch das islamische Gesetz erlaubt oder verboten? Seine Antwort lautet, dass es für die

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einfältigen Gläubigen verboten ist, doch für diejenigen, die über die entsprechenden Geisteskräfte verfügen, ist es sogar eine Pflicht, vorausgesetzt sie behalten es für sich und teilen es niemand anderem mit (HPR 65). Averroes’ Ansichten in der Inkohärenz wurden von einigen seiner Anhänger und Kritiker als Lehre von einer doppelten Wahrheit missverstanden: als die Lehre, dass etwas in der Philosophie wahr sein kann, das in der Religion nicht wahr ist, und umgekehrt. Doch er hatte lediglich zwischen verschiedenen Zugangsebenen zu einer einzigen Wahrheit unterscheiden wollen, Ebenen, die für verschiedene Grade der Begabung und Ausbildung angemessen waren. Al-Ghazalis Schmähschrift war besonders gegen die Philosophie von Avicenna gerichtet. In seiner Antwort auf al-Ghazali ist Averroes kein unkritischer Verteidiger von Avicenna. Seine eigene Position liegt häufig irgendwo in der Mitte zwischen derjenigen der beiden Gegner. Wie Avicenna glaubt auch er an die Ewigkeit der Welt: Er behauptet, dass dieser Glaube mit einem Glauben an die Schöpfung vereinbar ist, und er versucht die von Philoponos entlehnten Argumente, die dem Beweis dienen, dass eine ewige Bewegung unmöglich ist, zu widerlegen. Andererseits gab Averroes Avicennas Schema, dem zufolge aus Gott eine Reihe himmlischer Geister hervorgegangen ist, nach und nach auf, und er verwarf die Zweiteilung von Wesen und Existenz, die Avicenna als wichtigste Unterscheidung zwischen den Geschöpfen und dem Schöpfer vorgenommen hatte. Er bestritt schließlich auch Avicennas Behauptung, dass der aktive Intellekt die natürlichen Formen der sichtbaren Welt hervorbringt. Gegen al-Ghazali bestand Averroes darauf, dass es im geschaffenen Kosmos wirkliche Kausalität gibt: Natürliche Ursachen bringen ihre eigenen Wirkungen hervor und sind nicht nur „Auslöser“ für die Wirksamkeit der göttlichen Allmacht. Doch im Fall der menschlichen Intelligenz reduzierte er die Rolle der natürlichen Kausalität noch weiter, als Avicenna dies getan hatte: Er behauptete, dass der passive Intellekt, ebenso wie der aktive, eine einzelne, übermenschliche und unkörperliche Substanz sei (PMA 324–34). 30 Averroes’ wichtigster Beitrag zur Entwicklung der Philosophie bestand in einer Reihe von Kommentaren – insgesamt 38 –, die er zu Aristoteles’ Werken verfasste. Sie haben drei unterschiedliche Längen: kurz, mittellang und lang. Für einige von Aristoteles’ Werken (zum Beispiel für De Anima und die Metaphysik) sind alle drei Kommentare überliefert, für einige zwei und für andere nur jeweils ein Kommentar. Einige der Kommentare sind in der ursprünglichen arabischen Version auf uns gekommen, andere nur in hebräischen oder lateinischen Übersetzungen. Die kurzen Kommentare oder Auszüge sind im Wesentlichen Zusammen- oder Kurzfassungen der Argumente von Aristoteles und seiner Nachfolger. Die langen Kommentare sind inhaltsschwere Werke, die Aristoteles vollständig zitieren und Satz für Satz auslegen. Die Kommen-

30 Eine detaillierte Beschreibung von Averroes’ Lehre über den Intellekt findet sich in Kapitel 7.

Maimonides

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tare mittlerer Länge könnten als populärere Versionen dieser hochwissenschaftlichen Texte gedacht gewesen sein. Averroes kannte die Werke Platons, bewunderte sie aber nicht so wie die Werke des Aristoteles, dessen Genie er als den höchsten Ausdruck des menschlichen Intellekts ansah. Er verfasste eine Paraphrase von Platons Politeia – vielleicht als Ersatz für Aristoteles’ Politik, die damals in Spanien nicht verfügbar war. Einige der wichtigsten Passagen über die Ideen ließ er aus, und er nahm geringfügige Änderungen vor, um das Buch der Nikomachischen Ethik anzugleichen. Generell sah er es als seine Aufgabe als Kommentator, Aristoteles von neuplatonischen Überlagerungen zu befreien, obwohl er tatsächlich mehr platonische Elemente bewahrte, als ihm selbst klar war. Averroes hatte auf seine muslimischen Glaubensbrüder, unter denen diese Art von Philosophie schnell in Ungnade fiel, kaum einen Einfluss. Doch sein enzyklopädisches Werk erwies sich als das Vehikel, durch das die Interpretation des Aristoteles in das lateinische Mittelalter gelangte, und er gab einigen der wichtigsten Denker des 13. Jahrhunderts ihre Probleme vor. Dante gab ihm einen Ehrenplatz in der Vorhölle und setzte seinen christlichen Anhänger Siger von Brabant dem heiligen Thomas von Aquin im Himmel an die Seite. Für Thomas selbst und für Generationen von Aristoteles-Forschern war Averroes der Kommentator.

Maimonides Viele Elemente im Leben von Averroes wiederholten sich im Leben von Maimonides (1138–1204). Beide wurden als Söhne religiöser Richter in Córdoba geboren, beide hatten Jurisprudenz und Medizin studiert und beide führten ein Wanderleben, in dem sie von der Gunst von Fürsten und der Unbeständigkeit toleranter Zustände abhingen. Im Alter von 13 Jahren wurde Maimonides von den fundamentalistischen Almohaden aus Córdoba vertrieben und zog mit seinen Eltern zunächst nach Fez, dann nach Acre und lebte schließlich in Kairo. Dort war er fünf Jahre lang Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, und ab 1185 war er der Hofarzt des Wesirs von Saladin. Zu Lebzeiten beruhte seine Berühmtheit hauptsächlich auf seinen rabbinischen Studien: Er schrieb eine Kurzfassung der Thora und stellte eine definitive Liste der göttlichen Gebote zusammen (die nicht 10, sondern 613 Anweisungen umfasste). Seinen nachhaltigen weltweiten Einfluss verdankt er jedoch einem Buch, das er erst zu einer späteren Zeit seines Lebens in arabischer Sprache schrieb: dem Führer der Unschlüssigen. Es hatte sich zum Ziel gesetzt, die scheinbaren Widersprüche zwischen Philosophie und Religion auszugleichen, die gebildeten Gläubigen Sorgen bereiteten. Er behauptete, dass die Lehre der Bibel und philosophisches Studium einander ergänzen: Ein umfassendes Verständnis der Bibel ist nur möglich, wenn man eine wirkliche Kenntnis der Philosophie besitzt. Wo die beiden sich zu widersprechen scheinen, können diese Schwierigkeiten durch eine allegorische Interpretation des heiligen Textes behoben werden.

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1 Philosophie und Glaube: Von Augustinus bis Maimonides

Maimonides gab freimütig zu, welche Einsichten er muslimischen und heidnischen Philosophen verdankte. Sein Interesse an der Philosophie erwachte schon früh, und im Alter von 16 Jahren stellte er unter dem Einfluss von al-Farabi ein logisches Vokabular zusammen. Er las auch Avicenna, fand ihn jedoch weniger beeindruckend. Am meisten verdankte er Aristoteles, dessen Genie er als den höchsten Punkt rein menschlicher Intelligenz ansah. Er schrieb jedoch, es sei unmöglich, Aristoteles ohne die Hilfe der Reihe von Kommentaren zu verstehen, deren beste diejenigen von Averroes seien. Maimonides’ Projekt der Versöhnung von Philosophie und Religion hängt von seiner äußerst agnostischen Sicht des Wesens der Theologie ab. Wir können über Gott positiv nichts aussagen, da er mit Menschen wie uns nichts gemeinsam hat: Er verfügt über keine Materie und ist reine Aktualität, er unterliegt keinen Veränderungen und hat keine Eigenschaften. Gott ist von den Geschöpfen unendlich weit entfernt. Er ist eine einfache Einheit und hat keine bestimmten Attribute wie Gerechtigkeit und Weisheit. Wenn wir dem göttlichen Namen Attribute hinzufügen, indem wir zum Beispiel sagen „Gott ist weise“, sagen wir in Wirklichkeit, was Gott nicht ist: Wir meinen, dass Gott nicht töricht ist. Der Versuch, Gott zu preisen, indem wir ihm lobende Beinamen geben, gleicht dem Versuch, einen König, dessen Schatz aus lauter Gold besteht, für seine Silbersammlung zu preisen. „Die Bedeutung von ‚Wissen‘, ‚Ziel‘ und ‚Voraussicht‘ ist eine andere, wenn wir sie statt auf uns selbst auf Ihn anwenden. Wenn wir annehmen, die beiden Voraussichten oder Wissen oder Ziele haben dieselbe Bedeutung, kommt es zu Schwierigkeiten und Zweifeln. Wenn hingegen bekannt ist, dass alles, was wir uns zuschreiben, verschieden ist von allem, was Ihm zugeschrieben wird, wird die Wahrheit deutlich.“ (Führer der Unschlüssigen, 3. 20) 31

Maimonides vertrat die Auffassung, dass wir Gott auf keine andere Art als durch Negationen beschreiben können. Wenn wir nicht einem Götzenglauben verfallen wollen, müssen wir sämtliche anthropomorphen Texte der Bibel als Metaphern oder Allegorien erklären. Wenn die Religion mit dem Aristotelismus in Einklang gebracht werden soll, müssen auf beiden Seiten Zugeständnisse gemacht werden. Um uns zu veranschaulichen, wie Maimonides bei diesem Versöhnungsprojekt vorgeht, wollen wir uns zwei Beispielen zuwenden: den Lehren von der Schöpfung und von der Vorsehung. Im Falle der Schöpfungslehre muss Aristoteles’ Kosmologie nachgeben; im Fall der Vorsehung muss der traditionellen Frömmigkeit Nüchternheit beigebracht werden. Da er an die jüdische Lehre von der Erschaffung der Welt in der Zeit glaubt, verwirft Maimonides Aristoteles’ Auffassung von der Ewigkeit des Universums und 31 Nach der englischen Übersetzung von S. Pines, 2 Bände (Chicago: Chicago University Press, 1963).

Maimonides

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kritisiert philosophische Argumente, die beweisen sollen, dass die Zeit keinen Anfang gehabt haben kann. Er glaubte jedoch nicht, dass die menschliche Vernunft für sich allein und ohne Hilfe die Wahrheit der Schöpfungslehre ermitteln könne. Menschen können den Ursprung der Welt ebenso wenig aus der Welt ableiten, wie sie jetzt ist, wie ein Mann, der niemals eine Frau getroffen hat, sich ausdenken könnte, wie Menschen auf die Welt kommen. Maimonides verwarf Aristoteles’ Ansicht, dass die Welt aus unveränderlichen und notwendigen Arten besteht. Es sei skandalös zu behaupten, Gott sei nicht in der Lage, die Flügellänge einer Fliege zu ändern. Andererseits sollten wir auch nicht annehmen, dass Gottes Regierung des Universums sich auf jedes einzelne Ereignis erstreckt: Gottes Vorsehung umfasst jeden einzelnen Menschen, die anderen Kreaturen jedoch nur im Allgemeinen. „Die göttliche Vorsehung wacht nur über die zur Menschheit gehörenden Individuen, und nur bei dieser Art stehen sämtliche Lebensumstände der Einzelnen und das Gute und Böse, das ihnen zustößt, im Verhältnis zu demjenigen, was sie verdient haben. Bezüglich aller anderen Tiere, und umso mehr der Pflanzen und anderen Dinge, bin ich der Ansicht von Aristoteles. Denn ich glaube weder, dass dieses bestimmte Blatt zu Boden fiel, weil die Vorsehung darüber wacht, noch dass diese Spinne diese Fliege verschlungen hat, weil Gott etwas bezüglich dieser Individuen bestimmt und gewollt hat. […] Denn all dies ist nach meiner Meinung Ergebnis eines reinen Zufalls, genau wie Aristoteles annimmt.“ (Führer der Unschlüssigen, 3. 17) 32

Dennoch war Maimonides’ Absicht die eines orthodoxen, ja frommen Juden. Das Ziel des Lebens besteht ihm zufolge darin, Gott zu erkennen, zu lieben und nachzuahmen. Das Wenige, was wir über Gott wissen können, kann der Prophet schneller als der Philosoph lernen. Wissen sollte zu Liebe führen: einer Liebe, die sich in der nüchternen Nachahmung des göttlichen Wirkens ausdrückt, die wir in den Lebensläufen der biblischen Propheten und Gesetzgeber finden. Diejenigen Menschen, die weder Propheten noch Philosophen sind, müssen mit Geschichten, die nicht vollkommen wahr sind (wie zum Beispiel dass Gott Gebete erhört und durch Sünden erzürnt wird), zu einem guten Lebenswandel überredet werden. Genau wie Averroes geriet auch Maimonides mit konservativen Gläubigen in Konflikt, die seine Interpretation heiliger Texte für gotteslästerlich hielten. Im Gegensatz zu Averroes zeigten die Religionsgenossen von Maimonides jedoch nach seinem Tod weiterhin Interesse an seinen Werken und bewahrten ihm – ebenso wie die lateinischen Christen – ein ehrendes Andenken.

32 Nach der englischen Übersetzung von S. Pines, 2 Bände (Chicago: Chicago University Press, 1963).

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Die Scholastiker: Vom zwölften Jahrhundert bis zur Renaissance Im zwölften Jahrhundert leistete eine Reihe sich ihrer Arbeit hingebungsvoll widmender Übersetzer einen Beitrag zur Philosophie, der nicht weniger bedeutsam war als derjenige der originellen Denker dieses Jahrhunderts. Zu Beginn des Jahrhunderts waren die einzigen auf Latein bekannten Werke des Aristoteles die Kategorien und De Interpretatione in den Übersetzungen von Boethius. Etwa 20 Jahre später wurden Boethius’ Übersetzungen anderer Werke von Aristoteles nahezu aus der Versenkung gerettet und Jakob von Venedig übersetzte die Zweite Analytik, um die lateinische Version des Organons zu vervollständigen. Um 1150 hatte Jakob auch die Physik, De Anima und die ersten Bücher der Metaphysik übersetzt. Die restlichen Bücher, mit Ausnahme von Buch 11, übersetzte ein anonymer Gelehrter. Von der Nikomachischen Ethik wurde im 12. Jahrhundert nur ein Teil übersetzt: die Bücher 2 und 3 (die „alte Ethik“). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurden wichtige philosophische Texte aus dem Arabischen übersetzt: Werke von al-Kindi, al-Farabi, al-Ghazali und Ibn Gabirol, sowie größere Teile von Avicennas großartiger Kitab-al-Shifa. Eine Reihe von Übersetzungen anderer Abhandlungen, häufig neuplatonische Werke, kursierte ebenfalls unter dem Namen von Aristoteles. Am wichtigsten für die künftige Geschichte des lateinischen Aristotelismus war die Übersetzung der bedeutenden Kommentare von Averroes ins Lateinische. Hierbei handelte es sich um eine gigantische Aufgabe, an der Michael Scott ab 1220 arbeitete. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts stand den Philosophen daher ein beträchtliches Corpus von Aristoteles’ Texten und mehrere Kommentare zu diesen Schriften zur Verfügung. Viele dieser frühen Übersetzungen wurden durch die Arbeit späterer Übersetzer überholt, insbesondere durch die Übersetzungen von William von Moerbeke, der in den Jahren zwischen 1260 und 1280 tätig war und dessen Versionen dadurch kanonischen Status erlangten, dass sie von Thomas von Aquin und anderen bedeutenden Scholastikern verwendet wurden. Doch bereits ab den frühen Jahrzehnten des Jahrhunderts war der Einfluss von Aristoteles der dominierende Impuls für die Entwicklung der Philosophie. Das 13. Jahrhundert war eine Zeit ungewöhnlicher intellektueller Energie und Begeisterung. Der Kontext für diese Gärung von Ideen wurde durch zwei Neuerungen geschaffen, die sich zu Beginn des Jahrhunderts ereigneten: die Gründung der neuen Universitäten und der neuen religiösen Orden. Bologna und Salerno konnten den Anspruch erheben, die ältesten Universitäten

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Europas zu sein. Bologna feierte 1988 sein 900-jähriges Bestehen und Salerno war bereits um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine blühende Institution. Doch Bologna hatte bis 1565 keine dauerhaften Universitätsgebäude und der akademische Ruhm von Salerno verblasste schnell. Außerdem waren beides spezialisierte Schulen, die sich auf Jurisprudenz beziehungsweise Medizin konzentrierten. Die Institution der Universität im eigentlichen Sinne entstand in Paris und Oxford, wobei Paris seine Gründungsurkunde im Jahre 1215 erhielt und der Status von Oxford durch einen päpstlichen Legat ein Jahr früher bestätigt wurde. Die Universität ist im Wesentlichen eine Neuerung des 13. Jahrhunderts, wenn wir unter „Universität“ einen Zusammenschluss von Menschen verstehen, die von Berufs wegen und ausschließlich mit der Lehre und Erweiterung des Wissensbestandes verschiedener Fächer beschäftigt sind, die dieses Wissen an ihre Studenten weitergeben und dabei vereinbarte Lehrpläne verwenden, akzeptierte Lehrmethoden berücksichtigen und genehmigte professionelle Standards einhalten. Universitäten und Parlamente tauchten etwa zur gleichen Zeit auf und haben sich als die langlebigsten aller mittelalterlichen Neuerungen erwiesen. Eine typische mittelalterliche Universität bestand aus vier Fakultäten: der Artistenfakultät für ein allgemeines Grundstudium und den drei höheren, mit bestimmten Berufen verbundenen Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Die Studenten in den verschiedenen Fakultäten lernten auf zweierlei Weise: indem sie die Vorlesungen der fortgeschritteneren Studenten besuchten und indem sie, nachdem sie selbst in ihrem Studium vorangekommen waren, Vorlesungen für Studienanfänger hielten. Ein Lehrer, der eine Lehrerlaubnis an einer Universität hatte, war berechtigt, an jeder Universität zu unterrichten, und die Absolventen wechselten problemlos zwischen den verschiedenen Hochschulen, da alle Akademiker der damaligen Zeit als gemeinsame Sprache Latein verwendeten. Das Lehrprogramm der Fakultäten basierte auf vorgeschriebenen Texten. Es dauerte einige Zeit, bis sich der Kanon in der Artistenfakultät konsolidierte: Im Jahre 1210 verbot ein Edikt an der Universität von Paris jegliche Vorlesungen über Aristoteles’ Naturphilosophie und ordnete die Verbrennung dieser Schriften an. Doch obwohl sie durch eine päpstliche Bulle bestätigt wurde, scheint diese Ächtung schon bald ignoriert worden zu sein, denn um 1255 waren nicht nur die Physik des Aristoteles, sondern auch seine Metaphysik und Ethik, ja sogar sämtliche seiner bekannten Schriften obligatorische Teile des Lehrplans. Die Vorlesungen in Theologie basierten, zusätzlich zur Bibel, auf den Sentenzen von Petrus Lombardus. Der wichtigste Text für die Juristen war Justinians Kodifizierung des römischen Rechts oder Gratians Decretum. An den medizinischen Fakultäten waren die vorgeschriebenen Texte je nach Universität verschieden. Die Grenzen zwischen den Fakultäten verliefen allerdings nicht notwendigerweise so, wie man es im Vergleich mit modernen Universitäten erwarten würde. Material, das wir heute als philosophisch einstufen würden, findet man häufig in den Schriften mittelalterlicher Theologen ebenso wie in den Vorlesungen, die aus der Artistenfakultät erhalten geblieben sind.

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Papst Innozenz III. genehmigt die Regel des Franziskanerordens.

Für das intellektuelle Leben der damaligen Zeit war die Gründung religiöser Bettelorden, der Franziskaner und Dominikaner, nicht weniger bedeutsam als die Gründung der Universitäten. Der heilige Franz von Assisi erhielt 1210 die päpstliche Genehmigung der von ihm für seine kleine Gemeinschaft armer Wanderprediger festgelegte Ordensregel. Der heilige Dominik, ein unermüdlicher Kämpfer für die Rechtgläubigkeit, gründete Klöster, in denen Nonnen gegen Häresie beteten, und Mönchsorden, in denen Brüder dagegen predigten. Sein Orden wurde 1216 vom Papst bestätigt. Wie die Franziskaner (die „Minderen Brüder“, engl. „Grey Friars“) lebten auch die Dominikaner (die „Predigenden Brüder“, engl. „Black Friars“) von Almosen, doch war ihr Ethos anfänglich weniger romantisch und akademischer als das der Franziskaner. Doch nach der ersten Generation völlig weltabgewandter Brüder wurden die Franziskaner akademisch ebenso erfolgreich wie die Dominikaner. Im Jahre 1219 waren beide Orden an der Universität Paris fest etabliert. Die Dominikaner kamen 1221 nach Oxford, die Franziskaner 1224. Im Jahre 1230 hatten beide Orden dort eine Schule gegründet. Geht man die Namen der großen Philosophen des Hochmittelalters durch, so stammen sie größtenteils aus diesen beiden Orden. Fünf der hervorragendsten Denker sind Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Die ersten beiden waren Dominikaner und die letzten drei Franziskaner. Erst im 14. Jahrhundert begegnen wir in John Wyclif einem vergleichbar begabten Philosophen, der ein in einer Gemeinde arbeitender Geistlicher

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und kein Ordensbruder war. Als Wyclif schließlich vom rechten Glauben abfiel, wurde er dadurch in den Augen kirchlicher Philosophiehistoriker zur fragwürdigen Ausnahme von der Regel, dass die bedeutendsten Denker religiösen Orden angehörten.

Robert Grosseteste und Albertus Magnus Die drei Neuerungsimpulse im 13. Jahrhundert – die Aristoteles-Rezeption, die Entwicklung der Universitäten und der Einfluss der Bettelorden – sind allesamt im Werk und Leben des bemerkenswerten Engländers Robert Grosseteste (1170?–1253) sichtbar, der 1235 Bischof von Lincoln wurde. Er studierte in Oxford und war einer der ersten Kanzler dieser Universität. Von 1225 bis 1230 unterrichtete er an den Schulen Oxfords. Im Jahre 1230 zog er in das neugegründete Haus der Franziskaner und hielt dort bis zu seiner Ernennung zum Bischof fünf Jahre lang Vorlesungen. Er schrieb eine Reihe eigenständiger philosophischer und wissenschaftlicher Werke und verfasste den ersten Kommentar zur lateinischen Version von Aristoteles’ Zweiter Analytik. Außerdem lernte er relativ spät noch Griechisch und fertigte eine eigene Übersetzung der Nikomachischen Ethik an. Grosseteste gehörte zur Generation vor den großen Scholastikern des 13. Jahrhunderts, und nach der Meinung zahlreicher Forscher nimmt er in der Geschichte der Wissenschaft einen bedeutenderen Platz ein als in der Geschichte der Philosophie. Während er an der Analytik arbeitete, fielen ihm Probleme in Aristoteles’ Begriff einer Wissenschaft als Corpus bewiesener, notwendiger Wahrheiten auf. Eines der Lieblingsthemen von Aristoteles sind Mondfinsternisse. Wie kann es darüber notwendige Wahrheiten geben, da es doch relativ seltene Ereignisse sind? Grossetestes Antwort hierauf lautet, dass die notwendigen Wahrheiten eine konditionale Form haben: Wenn sich die Sonne um die Erde in einer so-und-so bestimmten Position befinden, dann wird eine Mondfinsternis stattfinden. Noch wichtiger war, dass er behauptete, einige dieser bedingten Wahrheiten würden durch Experimente und nicht durch logische Ableitungen ermittelt. Wir beobachten, dass auf den Verzehr der Wurzel eines bestimmten Windengewächses die Ausscheidung roter Galle folgt. Um Gewissheit darüber zu erlagen, ob diese Pflanze tatsächlich eine reinigende Wirkung hat, muss man sie Patienten wiederholt verabreichen und sicherstellen, dass nicht gleichzeitig andere Mittel mit derselben Wirkung genommen werden (CPA 214 f., 252–71). Aufgrund dieser und ähnlicher Textpassagen hat man Grosseteste als den Vater der experimentellen Forschung in Westeuropa gefeiert. Zweifellos hatte er eine große wissenschaftliche Neugier, die sich darin zeigt, dass er Phänomene erörtert, die in Aristoteles’ Text nur als Beispiele vorkommen, wie zum Beispiel des Fallens der Blätter im Herbst, das Funkeln der Sterne, die Ursache des Donners und der Überschwemmung des Nils. Außerdem schrieb er eigenständige Abhandlungen über Astronomie und Meteorologie (De sphaera, De cometis) und in seinem theologischen

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Kommentar zur Genesis (dem Hexaemeron) stellt er häufig seine naturgeschichtlichen Kenntnisse unter Beweis. In mittelalterlichen Legenden sagte man ihm sogar magische Kräfte nach, wie zum Beispiel, dass er einen Roboter hergestellt habe, der schwere Fragen beantworten konnte, oder dass er in einer einzigen Nacht nach Rom geritten sei. Sowohl das mittelalterliche Gerede als auch der moderne Lobpreis sind Übertreibungen. In seiner Gesamtauffassung des Wesens wissenschaftlicher Bemühungen, das er in seinem Kommentar zur Analytik darlegt, steht Grosseteste Augustinus näher als Paracelsus oder Francis Bacon. Es gibt nach seiner Auffassung fünf Arten von Universalien, mit denen es das menschliche Wissen zu tun hat. Die erste Art sind ewige Gründe im Geist Gottes. (Platon hatte sie „Ideen“ genannt, doch die Vorstellung, dass es sich dabei um eigenständige Substanzen handelt, ist ein abstoßender Irrtum.) Zweitens gibt es Ideen, die Gott dem Geist von Engeln einprägt. Sie dienen, wie platonische Ideen, als Muster oder Beispiele kreatürlicher Aktivität. Drittens verfügen Gegenstände auf der Erde über rationes causales in den himmlischen Sphären: Ideen der Sterne und Planeten haben kausale Wirkungen auf sublunare Ereignisse. Viertens gibt es Ideen irdischer Substanzen, die ihren Arten und Gattungen entsprechen, und fünftens gibt es noch zufällige Ideen von Objekten, die Informationen über die Substanzen enthalten, denen sie inhärent sind (CPA 224, 142–8). Wie eng Naturwissenschaft und Metaphysik bei ihm verwoben sind, zeigt sich deutlich in einem von Grossetestes originellsten Beiträgen, seiner Theorie des Lichts, die er im Hexaemeron sowie in einer separaten Abhandlung (De luce) darlegt. Ihm zufolge war Licht die als erste erschaffene körperliche Form: Sie verband sich mit der ersten Materie, um eine einfache, ausdehnungslose Substanz zu bilden. Im ersten Moment der Zeit dehnte sich diese einfache Substanz augenblicklich bis an die entferntesten Grenzen des Universums aus und erschuf auf diese Weise die Dreidimensionalität. Von der äußersten Sphäre, dem Firmament, kehrte sie wieder zurück und erschuf nacheinander die neun Himmelssphären, deren neunte die Sphäre des Mondes ist. Von dieser Sphäre wanderte das Licht zur Erde und erschuf die vier irdischen Sphären von Feuer, Luft, Wasser und Erde, während es sich auf unsere Welt zubewegte, in der es die vier uns vertrauten Elemente schuf. Bis hierher haben wir es mit einer physikalischen Theorie zu tun, doch Grosseteste geht sogleich zur Theologie über. Das Licht ist dasjenige natürliche Wesen, welches das göttliche Wesen am meisten nachahmt. Wie Gott kann es ohne andere Hilfe rein aus sich selbst schöpferisch sein. Wie Gott kann es das Universum von einem einzigen Punkt aus erfüllen (Hex. 8. 4. 7). Von allen geschaffenen Dingen kommt es der reinen Form und reinen Aktualität am nächsten (Hex. 11. 2. 4), ja Gott selbst ist ewiges Licht und die Engel sind unkörperliche Lichter. Gott ist eine universale Form von allem, nicht, indem er sich nicht mit Materie verbindet, sondern als Vorbild aller Formen. Der menschliche Intellekt kann nur durch das Licht Gottes, der höchsten Wahrheit, zu Wahrheiten irgendwelcher Art gelangen. Auch im Werk von Albertus Magnus, dem ersten deutschen Philosophen, sind

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Metaphysik und Naturwissenschaft miteinander vermischt. Bei ihm stellt die Naturwissenschaft jedoch den größeren Anteil dar. Albert wurde in den ersten Jahren des 13. Jahrhunderts in Schwaben geboren, er studierte die Freien Künste in Padua und wurde 1223 Dominikaner. Von 1245–1248 unterrichtete er in Paris Theologie, wo zu seinen Schülern auch der junge Thomas von Aquin gehörte, den er 1248 nach Köln mitnahm, um dort ein neues Studienhaus zu gründen. Köln wurde zu seinem Hauptwohnsitz, bis er im Jahre 1280 dort starb, obwohl er als Provinzial der deutschen Dominikaner (1254–1257), als Bischof von Regensburg (1260–1262) und Kreuzzugprediger des heiligen Ludwig IX. auch weit umherreiste. Albertus Magnus war der erste Scholastiker, der die neu übersetzten Werke des Aristoteles vorbehaltlos begrüßte. Nachdem er als Theologe Petrus Lombardus’ Sentenzen kommentiert hatte, schrieb er Kommentare zu Aristoteles’ Ethik, De Anima und zu seiner Metaphysik. Hierbei handelte es sich um längere Paraphrasen im Stil von Avicenna statt um eine zeilenweise Auslegung von der Art, wie Averroes sie verfasst hatte. Er ist der Autor des ersten lateinischen Kommentars zu Aristoteles’ Politik. Albertus Magnus war ein produktiver Autor und die kritische Ausgabe seiner Werke ist noch nicht abgeschlossen. Die vorherige vollständige Ausgabe umfasste 38 Bände. Er las zahlreiche griechische, arabische und jüdische Autoren und erwarb sich ein enzyklopädisches Wissen der vorhandenen gelehrten Schriften. Sein Geist war eher umfassend als präzise, und er akzeptierte – trotz der Warnung seines Schülers Thomas von Aquin – einige pseudoaristotelischen Werke, wie zum Beispiel das Liber de causis, als echt, was zur Folge hatte, dass sein Aristotelismus neuplatonisch eingefärbt war. Im Gegensatz zu den späteren mittelalterlichen Aristotelikern teilte Albertus Magnus Aristoteles’ Interesse an der empirischen und experimentellen Untersuchung der Natur. Er schrieb Abhandlungen über Gemüse, Pflanzen und Tiere sowie einen geografischen Text mit dem Titel Über das Wesen der Orte im Raum. Seine Begeisterung für naturwissenschaftliche Untersuchungen, die unter seinesgleichen unüblich war, führte dazu, dass er nach seinem Tode – wie Grosseteste – den Ruf erwarb, ein Alchimist und Zauberer gewesen zu sein. Außerdem schreibt man ihm eine Reihe unechter und seltsamer Werke zu, wie zum Beispiel Die Geheimnisse der Frauen und Die Geheimnisse der Ägypter.

Der heilige Bonaventura Ebenso wie der Orden der Franziskaner anfänglich eher mystisch und weniger akademisch ausgerichtet war als der Dominikanerorden, war auch der erste bedeutende Philosoph der Franziskaner mehr von Augustinus als Aristoteles beeinflusst als der Dominikaner Albertus Magnus. Giovanni di Fidanza, der Sohn eines italienischen Arztes, wurde 1221 in der Nähe von Viterbo geboren. Während seiner Kindheit erkrankte er und nach seiner Genesung schrieb seine Familie seine Heilung dem heili-

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gen Franziskus zu. Sein Name wurde zu Bonaventura geändert, und im Jahre 1240 schloss er sich den Franziskanern an. 1243 ging Bonaventura nach Paris und studierte dort unter Alexander von Hales, einem englischen Priester, der sich den Franziskanern angeschlossen hatte, während er bereits Professor war. Alexander wurde der erste Leiter der Franziskanerschule, und er war es, der die Sentenzen von Petrus Lombardus als theologisches Standardlehrbuch einführte. Er selbst stellte mithilfe seiner Schüler eine enorm umfangreiche Summa Halesiana zusammen, eine Synthese theologischen Wissens, aus der deutlich wird, dass ihre Autoren sämtliche Schriften des Aristoteles kannten. Nach seinem Tod im Jahre 1245 wurde sie von späteren Franziskanern häufig als Lehrbuch verwendet. Bonaventura erhielt seine Lehrerlaubnis im Jahre 1248 und er schrieb seinen eigenen Kommentar zu den Sentenzen. 1253 wurde er Leiter der Franziskaner in Paris, obwohl es ihm Schwierigkeiten an der Universität schwer machten, sein Amt auszuüben. Während dieser Zeit schrieb er ein Theologielehrbuch mit dem Titel Breviloquium. Vier Jahre später wurde er zum Generalminister des Ordens ernannt und fand sich mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, zwischen den verschiedenen Fraktionen zu vermitteln, die seit dem Tod des heiligen Franziskus entstanden waren und jeweils behaupteten, die wahren Erben des Geistes ihres Gründers zu sein. Er stellte die Einheit des Ordens wieder her und erneuerte seine Organisation. Einen der beiden von ihm verfassten Lebensberichte über den heiligen Franziskus setzte er als alleinige offizielle Biografie durch, und er befahl, alle anderen zu vernichten. Natürlich wurden seine Reformen nicht von allen Franziskanern begrüßt. „Paris, du zerstörst Assisi“, erwiderte einer der Gegner. Doch es wäre verfehlt, in Bonaventura in erster Linie einen Akademiker und Organisator zu sehen. Inmitten seiner Schwierigkeiten als Generalminister des Ordens schrieb er eine inbrünstige mystische Abhandlung, das Pilgerbuch der Seele zu Gott (Itinerarium mentis in Deum), ein Buch, für das er heute am besten bekannt ist. Es stellt sich selbst als Interpretation der Vision des heiligen Franziskus auf dem Monte Alvernia dar, wo er die Stigmata empfing, die Wundmale Christi. Bonaventuras administrative Fähigkeiten wurden weithin bewundert, und im Jahre 1265 wollte ihm der Papst das Amt des Erzbischofs von York übertragen. Er bat jedoch darum, diese Aufgabe nicht übernehmen zu müssen. So bekam dieser Bischofssitz nicht die Chance, in der Geschichte der Philosophie mit Anselms Canterbury konkurrieren zu können. Eine Ernennung zum Kardinalbischof von Albano im Jahre 1273 konnte er jedoch nicht ablehnen. In diesem Jahr schrieb er sein letztes Buch, Collationes in Hexaemeron, das sich mit dem biblischen Schöpfungsbericht beschäftigt. Er starb ein Jahr später auf dem Konzil von Lyon, nachdem er dort die Predigt gehalten hatte, die die (kurzlebige) Wiedervereinigung der Ost- und Westkirche markierte. In seinen Schriften gibt sich Bonaventura, was für das lateinische Mittelalter ungewöhnlich ist, explizit als Platoniker zu erkennen. Aristoteles’ Kritik an Platons Ideenlehre lässt sich seiner Meinung nach leicht widerlegen. Aus dem anfänglichen Irrtum der Verwerfung der Ideen folgen alle anderen falschen Thesen des Aristotelis-

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mus: dass es keine Vorsehung gibt, die Welt ewig ist, es nur einen einzigen Intellekt und keine Unsterblichkeit der Person und demzufolge auch keinen Himmel und keine Hölle gibt (CH, Vision III. 7). Bonaventura glaubte allerdings nicht, dass die Ideen außerhalb des göttlichen Geistes existierten. Vielmehr waren es „ewige Gründe“, Muster, nach denen sich die geschöpfliche Wirklichkeit richtete. Diese Ideen, und nicht die materiellen Gegenstände der natürlichen Welt, waren die primären Gegenstände des menschlichen Wissens. Der Begriff des Lichts spielt in den Schriften Bonaventuras, wie in denjenigen Grossetestes, eine zentrale Rolle. Vier verschiedene Lichter erhellen die Seele. Das erste, untere Licht besteht in mechanischen Fähigkeiten. Hierbei scheint es sich nur im übertragenen Sinne um ein „Licht“ zu handeln. Das nächste ist das Licht der sinnlichen Wahrnehmung: Hier gehen wir über eine bloße Metapher hinaus. Jeder Sinn nimmt Licht in einem unterschiedlichen Intensitätsgrad auf: Der Gesichtssinn nimmt es in reiner, das Gehör in mit Luft und der Geschmacksinn in mit Flüssigkeit gemischter Form auf usw. Das dritte Licht leitet uns bei der Suche nach intellektueller Wahrheit: Dieses Licht erleuchtet die drei Gebiete der Philosophie: Logik, Physik und Ethik. Das höchste Licht ermöglicht dem Geist schließlich das Verständnis der erlösenden Wahrheit: Dies ist das Licht der Heiligen Schrift. Wie Augustinus hat Bonaventura eine Vorliebe für Symbolik und er weist darauf hin, dass sich – zählt man die verschiedenen Zweige der Philosophie als getrennte Lichter – sechs Lichter ergeben, die den sechs Tagen der Schöpfung entsprechen. „In diesem Leben gibt es sechs Erleuchtungen, und jede hat ihre Dämmerung, denn alles Wissen wird vergehen: Aus diesem Grund folgt auch ein siebter Tag der Ruhe, ein Tag, der keinen Abend haben wird, die Erleuchtung der Herrlichkeit.“ (PMA 461–7) Erst in einem anderen Leben, wenn die Seligen Gott von Angesicht zu Angesicht schauen werden, wird der menschliche Geist die ewigen Gründe, die Ideen im Geist Gottes, direkt erkennen. Doch im gegenwärtigen Leben erlangen wir Wissen über notwendige und ewige Wahrheiten nur durch die Reflexion ihres Lichts, genauso wie unsere Augen alles durch das Licht der Sonne sehen, jedoch die Sonne selbst nicht anschauen können. Durch die Sinne und die Erfahrung gewinnen wir zwar eine Art von Wissen, doch das geschaffene Licht des menschlichen Intellekts reicht nicht aus, über irgendwelche Dinge Gewissheit zu erlangen. Um die wirkliche Wahrheit über irgendetwas zu erlangen, benötigen wir darüber hinaus eine besondere göttliche Erleuchtung (II Sent. 30. 1; Sermo IV. 10. V). Wissen und Glaube können in derselben Person nebeneinander bestehen.1 Bonaventura ist mit Aristoteles’ Werken vertraut, aber er geht hauptsächlich auf ihn ein, um dessen Fehler zu widerlegen. Er hielt es für unmöglich, beides anzunehmen: dass die Welt erschaffen worden sei und dass sie seit Ewigkeiten existiert habe. Daher schlägt er eine Reihe von Argumenten vor, die denen von Philoponos und der 1

Eine detailliertere Darstellung von Bonaventuras Lehre über das Verhältnis von Glaube und Vernunft findet der Leser in Kapitel 4.

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kalam-Theologen ähnlich sind, um zu beweisen, dass die Welt einen Anfang in der Zeit hatte (II Sent. 1. 1. 1. 2. 1–3). Bonaventura akzeptierte Aristoteles’ Unterscheidung zwischen dem aktiven und passiven Intellekt, behauptete jedoch, es handele sich dabei um geistige Fähigkeiten des einzelnen Menschen. Die Aufgaben, die Aristoteles’ arabische Kommentatoren dem singulären, getrennt existierenden aktiven Intellekt zugewiesen hatten, werden in Bonaventuras System durch Gottes direkte Erleuchtung übernommen. Da jede menschliche Person über eine individuelle intellektuelle Fähigkeit verfügt, ist jeder von uns unsterblich und wird nach dem Tode für seine Taten in diesem Leben zur Verantwortung gezogen. Bonaventura akzeptierte auch Aristoteles’ Hylomorphismus und dass die menschliche Seele die Form des menschlichen Körpers ist. Er verwendet diese Lehre als Argument gegen den arabischen Monopsychismus: „Da die menschlichen Leiber verschieden sind, müssen die rationalen Seelen, die die Formen dieser Leiber sind, ebenfalls verschieden sein“ (Brev. 2. 9). Im Gegensatz zu Aristoteles wendet er die Struktur des Hylomorphismus jedoch, wie Ibn Gabirol, auf die Seele selbst an. Er behauptete, dass – mit Ausnahme von Gott – alles aus Materie und Form besteht. Selbst die Geister von Engeln, die keinen Leib haben, enthalten „geistige Materie“. Da Bonaventura akzeptierte, dass die Seele Materie enthält, konnte er das Überleben der körperlosen Einzelseelen mit der allgemein angenommenen These in Einklang bringen, dass die Materie das Prinzip der Individuation ist. Er vermied auf diese Weise eine Schwierigkeit, die sich für diejenigen, zum Beispiel für Thomas von Aquin, ergab, die behaupteten, eine körperlose Seele sei völlig immateriell. Andererseits ist allerdings auch klar, dass der Begriff einer „geistigen Materie“ einer äußerst sorgfältigen Erklärung bedarf, wenn es nicht ein offensichtlicher Selbstwiderspruch sein soll.

Thomas von Aquin Thomas von Aquin wurde in eine feudale Adelsfamilie im italienischen Roccasecca geboren, wahrscheinlich im Jahre 1225. Als Fünfjähriger wurde er von seinem Vater zur Erziehung durch die Benediktinermönche in das große Kloster von Monte Cassino geschickt. Die Abtei befand sich an der Grenze zwischen dem Staat des Papstes und dem neapolitanischen Königreich des Kaisers Friedrich II. und Thomas’ anfänglicher Unterricht ging zu Ende, als das Gebäude 1239 während eines Streits zwischen dem Papst und dem Kaiser von Truppen besetzt wurde. Nachdem er einige Zeit bei seiner Familie verbracht hatte, studierte er die Freien Künste an der neugegründeten Universität von Neapel. Er studierte dort unter einem Lehrer namens Peter von Irland und wurde in die aristotelische Logik und Physik eingeführt. 2 2

Meine Darstellung von Thomas’ Leben stützt sich weitgehen auf J. Weisheipl, Friar Thomas d’Aquino (Oxford: Blackwell, 1974) sowie auf J. P. Torrell, Saint Thomas Aquinas (Washington: Catholic University of America Press, 1996).

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Thomas von Aquin der Dominikaner. In diesem Fresko von Filippo Lippi präsentiert er der Jungfrau Maria einen dominikanischen Kardinal.

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Im Jahre 1244 trat Thomas von Aquin in den Dominikanerorden ein, sehr zur Verärgerung seiner Familie, die gehofft hatte, er würde sich zum Benediktinermönch berufen fühlen, was sozial akzeptabler gewesen wäre. Er versuchte, dem Druck der Familie zu entkommen, indem er nach Paris ging, doch wurde er auf dem Weg dorthin gewaltsam entführt und auf einem der Schlösser der Familie mehr als ein Jahr lang unter Hausarrest festgehalten. Er nutzte seine Zeit im Gefängnis dazu, zwei kurze logische Abhandlungen zu schreiben: ein Handbuch über Fehlschlüsse sowie ein Fragment über Modalaussagen. Es gelang der Familie nicht, seinen Wunsch, Mönch zu werden, ins Wanken zu bringen. Ein Versuch, ihn zu verführen, indem man eine Prostituierte in seine Zelle brachte, verstärkte lediglich seinen Entschluss, ein Leben der Keuschheit zu führen: Sein Biograf erzählt, dass er von da an Frauen gemieden habe, wie andere Schlangen aus dem Wege gehen. Schließlich wurde er freigelassen, und er setzte seine Reise nach Paris fort. Dort wurde er Student von Albertus Magnus. Seine Familie unternahm noch einen weiteren Versuch, ihn in eine Karriere umzulenken, die ihren Vorstellungen entsprach: Sie beschafften ihm ein Angebot des Papstes, Abt von Monte Cassino zu werden und dabei Dominikaner bleiben zu dürfen. Thomas lehnte ab und folgte Albertus Magnus nach Köln, wo er seine Vorlesungen über Aristoteles hörte. Seine Schweigsamkeit und Körperfülle trugen dem Studenten den Spitznamen „der stumme Ochse“ ein. Albertus erkannte schon bald seine staunenswerte Begabung und sagte voraus, der stumme Ochse werde die ganze Welt mit seinem Brüllen erfüllen. 1252 ging Thomas nach Paris und begann ein Magisterstudium in der Theologie. Als Bakkalaureus hielt er Vorlesungen über die Bibel und über die Sentenzen von Petrus Lombardus. Sein Sentenzenkommentar ist das erste größere der von ihm erhalten gebliebenen Werke und zeigt bereits sein originelles Genie. Im selben Zeitraum verfasste er eine kurze Schrift über die aristotelische Metaphysik, die stark von Avicenna beeinflusst war und den Titel De Ente et Essentia („Über das Sein und das Wesen“) trug. Diese Schrift sollte einen Einfluss ausüben, der in keinem Verhältnis zu ihrer Länge stand. Den Magistergrad in der Theologie erwarb er im Jahre 1256. Der Dominikanerorden konnte zwei der zwölf Theologielehrstühle in Paris besetzen. Die Mönche waren beim traditionellen Klerus nicht beliebt, und die Universität hatte 1252 versucht, einen der beiden Lehrstühle aufzuheben. Im anschließenden Streit weigerten sich viele Professoren, ihre Lehrveranstaltungen abzuhalten, und mit seinen ersten Vorlesungen als Bakkalaureus brach Thomas diesen Streik. Doch der Lehrstuhl konnte gerettet werden, und Thomas wurde kurz nach seinem erfolgreich bestandenen Magisterexamen darauf berufen. Zur Zeit seiner Antrittsvorlesung waren die anti-dominikanischen Gefühle so stark, dass das Kloster von königlichen Truppen ständig bewacht werden musste. Der heilige Bonaventura und seine Franziskaner hatten im gleichen Zeitraum Ähnliches zu erdulden. Thomas blieb drei Jahre lang in Paris, wo er über das Buch Jesaja und das Matthäusevangelium Vorlesungen hielt. Als Professor gehörte es zu seinen Aufgaben, die formalen Disputationen der Studenten nach dem Bakkalaureat zu beaufsichtigen,

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und wir besitzen den Text der Disputationen, die er leitete und die, nach dem Thema der ersten von ihnen, den Titel Quaestiones Disputatae de Veritate („Disputierte Fragen über die Wahrheit“) tragen. Die Disputationen umfassen eine große Themenbreite. Sie behandeln die Wahrheit und das Erkennen der Wahrheit in Gott, Engeln und Menschen, Vorsehung und Prädestination, Gnade und Rechtfertigung, Vernunft, Gewissen und freien Willen, Gefühle, Trancezustände, Prophetie, Erziehung und viele andere Themen. Die Sammlung besteht aus 253 einzelnen Disputationen, die in den Ausgaben als „Artikel“ bezeichnet werden und nach Themen zu Gruppen von je 29 „Fragen“ zusammengefasst sind. Der Gesamttext dieser Artikelserien hat mehr als eine halbe Million Wörter. Zusätzlich zu diesen strukturierten Disputationen hatten Magister nach dem mittelalterlichen Lehrplan die Pflicht, eine Reihe von „Quodlibet“-Disputationen abzuhalten. Hierbei handelte es sich um improvisierte Diskussionen, bei denen jeder Zuhörer eine Frage zu einem beliebigen Thema stellen konnte. Sie wurden in der Advents- und Fastenzeit abgehalten: Zweifellos handelt es sich hierbei um einen Bußgang für den Magister. Von den erhalten gebliebenen Quodlibets aus Thomas’ Zeit in Paris behandeln einige relevante Fragen zur Kontroverse über die Bettelorden, wie zum Beispiel: „Sind Mönche verpflichtet, manuelle Arbeit zu leisten?“ Andere haben es mit weniger brennenden Fragen zu tun, wie etwa: „Gibt es in der Hölle echte Würmer?“ Eine letzte Hinterlassenschaft der Pariser Jahre ist ein unvollendeter Kommentar zu Boethius’ Schrift De Trinitate, der das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft, Mathematik und Metaphysik erörtert und diese Disziplinen in einer Hierarchie zunehmender Abstraktionen von der Materie anordnet. 1259 gab Thomas seine Professur in Paris auf und verbrachte einige Zeit in Italien. Als Urban IV. im Jahre 1261 Papst wurde, zog der päpstliche Hof nach Orvieto um, und auch Thomas begab sich dorthin. In den frühen 1260er Jahren unterrichtete er in Orvieto, Rom und Viterbo, wo er mit den Gelehrten, Diplomaten und Missionaren bekannt wurde, die im Dienst des Papstes standen. Am Hof von Urban IV. begegnete er Wilhelm von Moerbeke, dem exaktesten Übersetzer von Aristoteles, und begann eine fruchtbare Zusammenarbeit mit ihm, die zu einer Reihe großartiger Kommentare zu den Hauptwerken des Philosophen führen sollte. Außerdem beschäftigte Papst Urban den Heiligen auch mit dem Schreiben von Gebeten und Hymnen, besonders für die Liturgie des neuen Fronleichnamsfestes. Dieses Fest wurde im Jahre 1264 zu Ehren des Sakraments der Eucharistie eingeführt, bei der dem katholischen Glauben zufolge Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden. Die Hymnen, die der heilige Thomas für dieses Amt schrieb, sind unter Katholiken bis heute beliebt und der Ablauf der Messe, Lauda Sion, bringt die Lehre von der Transsubstantiation in erstaunlich lebendige und singbare Verse. Die wichtigste Leistung dieser mittleren Schaffensperiode von Thomas war die Summa contra Gentiles, die er – kurz bevor er Paris verließ – begann und im Jahre 1265 in Orvieto fertigstellte. Ihr Titel bedeutet, wörtlich übersetzt: „Zusammenfassung, oder Synopse, gegen die Ungläubigen“. Sie ist im Deutschen als Summa gegen

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die Heiden oder nach ihrem Untertitel Über die Wahrheit des katholischen Glaubens bekannt. Nach einer Tradition des 14. Jahrhunderts, die von Forschern heute häufig ignoriert wird, soll es sich dabei um ein Missionshandbuch gehandelt haben, das Thomas auf Wunsch des spanischen Dominikaners Raymund von Pen˜aforte, der in Spanien und Nordafrika mit der Evangelisation von Nichtchristen beschäftigt war, geschrieben haben soll. Wie immer es um die Wahrheit dieser Geschichte stehen mag: Das Buch unterscheidet sich von Thomas’ anderen größeren Abhandlungen dadurch, dass sein Ausgangsstandpunkt (in den ersten drei seiner vier Bücher) nicht die christliche Lehre ist, sondern aus einer Reihe philosophischer Prämissen besteht, die ein jüdischer oder muslimischer Denker, der sich in der aristotelischen Philosophie auskannte, akzeptiert haben könnte. Thomas erklärt dieses Vorgehen auf folgende Weise: „weil […] die Mohammedaner und die Heiden nicht mit uns die Autorität wenigstens eines Teils der Heiligen Schrift anerkennen, durch die sie überzeugt werden könnten, wie wir gegen die Juden auf Grund des Alten Testaments disputieren können, gegen die Häretiker auf Grund des Neuen. Sie aber nehmen ja keins von beiden an. Deshalb ist es notwendig, auf die natürliche Vernunft zurückzugreifen, der alle beizustimmen gezwungen sind.“ (ScG 1. 2) 3

Der Text ist daher kein Werk der Offenbarungstheologie, sondern der natürlichen Theologie, die ein Teil der Philosophie ist. Die Summa contra Gentiles ist eine Abhandlung, nicht die Aufzeichnung von Disputationen. Sie besteht aus vier Büchern, von denen jedes etwa hundert Kapitel hat und die insgesamt 300 000 Wörter umfassen. Das erste Buch behandelt das Wesen Gottes, soweit dies durch die Vernunft ohne Hilfe der Offenbarung erkennbar ist. Das zweite handelt von der geschaffenen Welt und ihrer Hervorbringung durch Gott. Das dritte Buch erläutert den Weg, auf dem vernünftige Wesen ihr Glück in Gott finden sollten, und behandelt eine große Auswahl verschiedenster ethischer Themen. Das vierte Buch ist speziell der christlichen Lehre gewidmet, wie zum Beispiel der Trinität, der Inkarnation, den Sakramenten und der endzeitlichen Auferstehung der Heiligen durch die Macht Christi. In den ersten drei Büchern ist Thomas strikt darum bemüht, biblische oder kirchliche Texte nur als Beispiele und niemals als Prämissen zu verwenden, von denen ein Argument seinen Ausgang nimmt. Nach der Fertigstellung der Summa contra Gentiles ging Thomas nach Rom, um dort ein der Kirche Sta. Sabina auf dem Aventin angeschlossenes dominikanisches Institut zu gründen. Als Leiter dieser Schule gehörte es erneut zu seinen Pflichten, Disputationen zu leiten. Sie sind uns in drei Gruppen erhalten geblieben: Zehn haben 3

Zitiert nach: Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von K. Albert, K. Allgaier, L. Dümpelmann, P. Engelhard, L. Gerken und M. H. Wörner (Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, 32009).

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den Titel Über die Macht Gottes (1265 f.), eine kürzere Reihe handelt Über das Böse (1266 f.) und die dritte Über geistige Kreaturen. Der Inhalt dieser Quaestiones ist im Allgemeinen weniger tiefgründig als die früheren mit dem Titel Über die Wahrheit. Wahrscheinlich ist dies ein Anzeichen dafür, dass die Studenten eines kleinen Instituts in Rom weniger scharfsinnig waren als an der Universität von Paris. Die dritte der Quaestiones über die göttliche Macht, die aus 19 Artikeln über das Thema Schöpfung besteht, enthält Material von höchstem Interesse. Im gleichen Zeitraum begann Thomas ein nie beendetes Kompendium der Theologie, das nach den Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gegliedert war. In Rom begann Thomas auch die Arbeit an seiner Reihe meisterhafter Kommentare zu Aristoteles’ Werken. Den ersten schrieb er zu De Anima. Nach vielen weiteren Jahrhunderten der Aristotelesforschung gilt er bei vielen Fachleuten auch heute noch als aufschlussreich und lesenswert. Als Nächstes verfasst er, in unbekanntem zeitlichem Abstand, einen Kommentar zur Physik. Die wichtigste Entwicklung der in Rom verbrachten Jahre war jedoch, dass Thomas, wahrscheinlich parallel zu seiner Lehrtätigkeit, die Arbeit an seinem Meisterwerk, der Summa Theologiae aufnahm. Die Summa Theologiae ist ein ungeheuer umfangreiches Werk, das über zwei Millionen Wörter umfasst und aus drei Teilen besteht. Der Großteil des ersten Teils wurde wahrscheinlich in Sta. Sabina geschrieben. Seinem Stil nach steht er zwischen der Summa contra Gentiles und den Quaestiones disputatae. Es handelt sich zwar nicht um die Aufzeichnung lebendiger scholastischer Streitgespräche, aber der Text ist, wie eine Disputation, statt in Kapitel in Fragen und Artikel gegliedert. Die zahlreichen Argumente für und gegen eine bestimmte These, die eine Disputation normalerweise einleiten, sind durch einen einleitenden Satz von Problemen (normalerweise werden drei genannt) derjenigen Position ersetzt, für die Thomas im Hauptteil des Artikels argumentieren möchte. Dieser Eingangsteil ist das Videtur quod non („Es scheint, dass … nicht“). An diese Einwände schließt sich eine einfache Erwähnung der Gegenposition an – normalerweise das Zitat eines maßgeblichen Textes –, die mit den Worten beginnt: „Sed contra …“ („Doch andererseits …“). Im Hauptteil des Artikels erläutert Thomas dann seine Position mit den Argumenten, die sie stützen. Jeder Artikel endet schließlich mit der Lösung der durch die eingangs erwähnten Gegenargumente dargelegten Schwierigkeiten. Diese Vorgehensweise, die für einen modernen Leser anfangs verwirrend sein kann, sorgt für eine strenge intellektuelle Disziplin, die verhindert, dass ein Philosoph bestimmte Dinge als selbstverständlich voraussetzt. Indem er sie befolgte, stellte der heilige Thomas sich die Frage: „Wen muss ich von was überzeugen, und welches sind die stärksten Argumente, die sich auf beiden Seiten vorbringen lassen?“ Um den Aufbau der Summa zu veranschaulichen, zitiere ich einen ihrer kürzesten Artikel, den zehnten Artikel von Frage 19 ihres ersten Teils, der die Frage stellt: „Hat Gott einen freien Willen?“

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„Es scheint, dass Gott keinen freien Willen hat. 1. Der heilige Jerome sagt, in seiner Predigt über den verlorenen Sohn, Gott ist der einzige, der mit Sünde nichts zu tun hat und haben kann; alle anderen Dinge, da sie einen freien Willen haben, können sich der Sünde zu- oder von ihr abwenden.‘ 2. Außerdem entspricht dem freien Willen die Fähigkeit zu überlegen und zu wollen, wodurch das Gute oder Böse gewählt werden kann. Doch Gott will, wie bereits gesagt wurde, niemals das Böse. Daher gibt es in Gott keinen freien Willen. Andererseits sagt jedoch der heilige Ambrosius in seinem Buch über den Glauben das Folgende: ‚Der Heilige Geist schenkt seine Gaben den Einzelnen, wie er es will, entsprechend der Wahl seines freien Willens, und nicht im Gehorsam irgendeiner Notwendigkeit.‘ Ich antworte, dass hierzu zu sagen ist: Wir haben einen freien Willen bezüglich der Dinge, die wir nicht aus Notwendigkeit oder natürlichem Instinkt wollen. Unser Wunsch, glücklich zu sein, ist beispielsweise keine Sache des freien Willens, sondern des natürlichen Instinkts. Aus diesem Grund sagt man von anderen Tieren, die vom natürlichen Instinkt in bestimmte Richtungen getrieben werden, nicht, dass sie vom freien Willen gelenkt werden. Nun will Gott, wie oben gezeigt worden ist, seine eigene Güte mit Notwendigkeit, andere Dinge jedoch nicht mit Notwendigkeit. Daher hat er bezüglich der Dinge, die er nicht mit Notwendigkeit will, einen freien Willen. Auf den ersten Einwand ist zu antworten, dass der heilige Jerome von Gott nicht jeglichen freien Willen ausschließen will, sondern nur, sofern die Freiheit zu sündigen hiervon betroffen ist. Auf den zweiten Einwand ist Folgendes zu antworten: Da, wie gezeigt wurde, das moralische Übel als Abneigung vom göttlichen Guten, durch das Gott alles will, definiert ist, ist klar, dass es für ihn unmöglich ist, moralisch Böses zu wollen. Dennoch hat er die Wahl zwischen Gegensätzen, insofern er wollen kann, dass etwas ist oder nicht ist, ebenso wie wir, ohne zu sündigen, entscheiden können, uns hinzusetzen oder uns nicht hinzusetzen.“ (ST 1. 19. 10)

Auf die ihr eigene Weise ist die Summa Theologiae ein philosophisches Meisterwerk. Hat man sich einmal an die Syntax des mittelalterlichen Lateins und die Formen des scholastischen Jargons gewöhnt, findet man den Stil flüssig, klar, leserfreundlich und besonnen. Man begegnet in diesem Werk so gut wie keiner Rhetorik, und Thomas lässt es niemals zu, dass sich seine eigene Person in den Vordergrund drängt. Der erste Teil der Summa Theologiae behandelt in etwa dieselben Themen wie die ersten beiden Bücher der Summa contra Gentiles. In den ersten 43 Quaestiones geht es um die Existenz und das Wesen Gottes. Da Thomas für katholische Theologiestudenten und nicht für möglicherweise ungläubige philosophische Zuhörer schreibt, kann er die Trinitätslehre sofort nach der Auflistung der göttlichen Attribute darstellen, ohne sie in einem besonderen Buch über die Mysterien des Glaubens getrennt darstellen zu müssen. Doch er ist bemüht, auch weiterhin den Unterschied zwischen Wahrheiten, die allein durch die Vernunft gefunden werden können, und solchen,

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die ohne Offenbarung nicht erreichbar sind, deutlich zu machen. Es folgen fünf inhaltsschwere Fragen, die es mit der Metaphysik der Schöpfung zu tun haben, und anschließend 15 Fragen über das Wesen der Engel. Der Abschnitt über das Wesen des Menschen (Quaest. 75–102) ist der für moderne Leser lohnendste Teil des Buches. 4 Er ist vollständiger und systematischer als der entsprechende Abschnitt im zweiten Buch des früheren Werkes und nicht so stark mit Kritik an der arabischen Interpretation von Aristoteles’ Psychologie befrachtet. Während er den ersten Teil der Summa schrieb, begann Thomas mit der Arbeit an einer politischen Abhandlung, Über die Herrschaft der Fürsten, in der er die Prinzipien der Leitung weltlicher Regierungen auf eine Weise darlegte, die keinen Zweifel daran lässt, dass Könige Priestern unterstellt waren und der Papst weltliche ebenso wie geistliche Obergewalt hatte. Als Thomas starb, war das Werk noch unvollendet. Es wurde später von dem Historiker Tolomeo von Lucca fertiggestellt. Im Jahre 1268, nachdem er das Angebot, Erzbischof von Neapel zu werden, abgelehnt hatte, wurde Thomas nach Paris zurückgerufen, wo die Bettelorden erneut ein Gegenstand von Streitigkeiten waren. Noch wichtiger war, dass aristotelische Ideen durch eine Gruppe von Professoren der Artistenfakultät, die lateinischen Averroisten, in Verruf gebracht wurden. Sie gelangten mit arabischen Kommentatoren zu Schlussfolgerungen, die mit dem wahren katholischen Glauben unvereinbar waren. Thomas schrieb zwei polemische Pamphlete: Über die Einheit des Intellekts gegen die Averroisten und Über die Ewigkeit der Welt – Gegen die Nörgler. Er stellte die von ihm seit Langem vertretenen Positionen, dass der aktive und passive Intellekt Fähigkeiten der einzelnen Person sind und dass der Anfang der Welt in der Zeit mit philosophischen Argumenten weder bewiesen noch widerlegt werden kann, erneut dar. In dieser letzten Abhandlung kämpfte er gegen zwei Fronten: sowohl gegen die Averroisten, die behaupteten, die Lehre von der Erschaffung der Welt in der Zeit könne widerlegt werden, als auch gegen franziskanische Theologen, die glaubten, sie lasse sich beweisen. Diese Kontroversen überzeugten Thomas davon, dass das beste Mittel gegen falsche Aristoteles-Interpretationen eine genaue Kenntnis von Aristoteles’ Gesamtsystem sei, weshalb er sich daranmachte, weitere Kommentare zu schreiben. Vermutlich um diese Zeit schrieb er zeilenweise vorgehende Auslegungen von zwei logischen Abhandlungen des Aristoteles, der gesamten Nikomachischen Ethik und von zwölf Büchern der Metaphysik. Obwohl sie auf einer unvollkommenen Übersetzung beschädigter Manuskripte basieren, finden moderne Aristoteles-Forscher diese Kommentare auch heute noch wertvoll. Das wichtigste von Thomas’ Werken aus der Zeit des zweiten Aufenthalts in Paris war der zweite Teil der Summa Theologiae. Er ist der bei Weitem längste der drei Teile und wird in den Werkausgaben stets weiter unterteilt: in den ersten Teil des zweiten 4

Auf Einzelheiten von Thomas’ Theorie des menschlichen Geistes wird in Kapitel 6 eingegangen.

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Teils (Prima Secundae, zitiert als 1a 2ae) und den zweiten Teil des zweiten Teils (Secunda Secundae, zitiert als 2a 2ae). Thematisch entspricht er zwar dem dritten Buch der Summa contra Gentiles, doch er ist wesentlich inhaltsreicher und verdankt Aristoteles’ Nikomachischer Ethik, zu der Thomas gleichzeitig einen Kommentar schrieb, mehr als das erste Werk. 5 Der erste Teil des zweiten Teils (Prima Secundae) beginnt, genau wie Aristoteles’ Werk, mit der Erörterung des höchsten oder letzten Ziels des menschlichen Lebens. Wie Aristoteles setzt Thomas das höchste Ziel der Glückseligkeit gleich, und er ist mit ihm der Meinung, dass Glückseligkeit nicht mit Vergnügen, Reichtümern, Ehre oder irgendeinem körperlichen Gut gleichgesetzt werden kann. Vielmehr muss sie in der Aktivität in Übereinstimmung mit der Tugend, insbesondere der intellektuellen Tugend, bestehen. Die intellektuelle Aktivität, die die aristotelischen Bedingungen für Glückseligkeit erfüllt, findet sich in ihrer vollkommensten Form nur in der Kontemplation des Wesens Gottes. Das Glück unter den Bedingungen des gegenwärtigen Lebens muss dagegen unvollkommen bleiben. Wahre Glückseligkeit kann daher, auch im Sinne des Aristoteles, allein von den Seligen im Himmel gefunden werden. Die Heiligen werden darüber hinaus zu gegebener Zeit ein zusätzliches Glück empfangen: die Auferstehung des Leibes in Herrlichkeit. Tugend war für Aristoteles eine psychische Disposition, die ihren Ausdruck in Handlungen und Gefühlen findet. Thomas stellt dementsprechend seiner Darstellung der Tugend eine Abhandlung über das Handeln (Quaest. 6–21) und über die Emotionen des Menschen (Quaest. 22–48) voran. Außerdem legt er eine allgemeine Untersuchung über den Begriff der Disposition (habitus) vor: Hierbei handelt es sich um eine originelle philosophische Untersuchung über einen Gegenstand, dessen Bedeutung man aus den Augen verlor, als die Philosophie in der Renaissance thematisch verarmte. Die Darstellung des Wesens der Tugend selbst, der Unterscheidung zwischen moralischen und intellektuellen Tugenden und der Beziehung zwischen der Tugend und den Gefühlen ist eng an Aristoteles angelehnt. Aristoteles’ Liste der Tugenden fügte Thomas einige christliche Tugenden hinzu: die „theologischen“ Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe, die in einer berühmten Passage von Paulus’ erstem Brief an die Korinther gemeinsam genannt werden. Er bringt die aristotelischen Tugenden mit den von den Christen hoch geschätzten charakterlichen Stärken und die aristotelischen Laster mit dem biblischen Begriff der Sünde in Verbindung. Die beiden letzten Abschnitte der Prima Secundae behandeln die Themen Gesetz und Gnade. Die Quaestiones 90–108 sind eine Abhandlung über grundlegende Fragen der Jurisprudenz: über das Wesen der Gesetze, den Unterschied zwischen natürlichem und positivem Recht, den Ursprung und Umfang der Macht menschlicher Gesetzgeber sowie über den Unterschied zwischen den Gesetzen des Alten und Neuen Testaments. In den Quaestiones 109–14 erörtert Thomas das Verhältnis zwischen Natur und Gnade und die Rechtfertigung und Erlösung der Sünder: Themen, die 5

Einzelheiten von Thomas’ ethischen Lehren werden in Kapitel 8 erörtert.

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zur Zeit der Reformation im Zentrum intensiver theologischer Auseinandersetzungen standen. Die von ihm in dieser Frage eingenommene Position liegt irgendwo in der Mitte zwischen den später von Katholiken und Protestanten verteidigten Lehren. Die Prima Secundae ist der allgemeine Teil von Thomas’ Ethik, während die Secunda Secundae seine detaillierten Ansichten zu ethischen Einzelthemen enthält. Die einzelnen Tugenden werden der Reihe nach analysiert, die zu ihnen in Widerspruch stehenden Sünden aufgelistet. Zuerst werden die theologischen Tugenden behandelt. Der Glaube wird den Sünden des Unglaubens, der Häresie und der Abtrünnigkeit vom Glauben gegenübergestellt. In diesem Abschnitt legt Thomas auch seine Ansichten über die Verfolgung der Häretiker dar. Die Tugend der Liebe wird mit den Sünden Hass, Neid, Zwietracht und Aufhetzung kontrastiert. Bei der Erläuterung dieser Sünden legte Thomas auch die Bedingungen dar, unter denen es seiner Meinung nach gerechtfertigt sei, Krieg zu führen. Die anderen Tugenden werden innerhalb des umfassenden Gesamtrahmens der vier „Kardinaltugenden“ Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung behandelt. Dieses Viergespann lässt sich bis zu den frühen Dialogen Platons zurückverfolgen. Die Abhandlung über Gerechtigkeit umfasst Themen, die man heute in einem Strafgesetzlehrbuch finden würde, doch einer der speziellen Aspekte der Gerechtigkeit ist die Frömmigkeit, die Tugend Gott zu geben, was ihm geschuldet wird. In diesem Teil der Summa geht Thomas auf eine Vielzahl von Themen ein, die von der Erhebung des Kirchenzehnten bis zur Geisterbeschwörung reicht. Die Diskussion der Tapferkeit gibt ihm Gelegenheit, auf Märtyrertum, Edelmut und Großzügigkeit einzugehen. Die letzte der Kardinaltugenden ist Mäßigung, unter der Thomas moralische Fragen behandelt, die Essen, Trinken und das Sexualverhalten betreffen. Thomas’ Liste der Tugenden sind mit derjenigen von Aristoteles nicht völlig zur Deckung zu bringen, obwohl er sich sehr bemüht, einige der in seiner Ethik vorkommenden heidnischen Charaktere christlich in Anspruch zu nehmen. Aristoteles’ idealer Mann hat eine große Seele, d. h., er ist ein deutlich ranghöheres Wesen, das sich seiner Überlegenheit im Vergleich zu anderen höchst bewusst ist. Wie lässt sich dies mit der christlichen Tugend der Demut vereinbaren, nach der jeder andere höher schätzen sollte als sich selbst? Durch einen erstaunlichen intellektuellen Kunstgriff gelingt es Thomas nicht nur, Hochgemutheit mit Demut zu vereinbaren, sondern sogar sie zu Aspekten ein und derselben Tugend zu machen. Es gibt ihm zufolge eine Tugend, die der Mäßigung des Ehrgeizes entspricht und auf einer objektiven Einschätzung der eigenen Begabungen und Schwächen beruht. Demut ist derjenige Aspekt, der sicherstellt, dass die eigenen Ambitionen auf einer objektiven Einschätzung der eigenen Schwächen, Hochgemutheit hingegen derjenige Aspekt, der sicherstellt, dass sie auf einer objektiven Einschätzung der eigenen Stärken und Begabungen basiert. Die Secunda Secundae endet, wie die Nikomachische Ethik, mit einem Vergleich des aktiven und kontemplativen Lebens und der Beschreibung der Vorteile des letzteren. Das Ganze ist jedoch in eine christliche Tonart übertragen, und bei der Erörte-

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rung der religiösen Orden gibt Thomas dem aristotelischen Thema eine besondere, dominikanische Wendung. Während ein rein kontemplatives Leben einem rein aktiven vorzuziehen ist, ist das beste Leben eines Mönches ein Leben der Kontemplation, in dem auch Unterrichten und Predigen ihren Platz haben. „Wie es besser ist, andere zu erleuchten, als alleine zu scheinen, ist es auch besser die Früchte der eigenen Kontemplation mit anderen zu teilen, als in Einsamkeit zu kontemplieren.“ Thomas von Aquins zweiter Aufenthalt in Paris war eine Zeit außerordentlicher Produktivität. Der zweite Teil der Summa Theologiae und sein Kommentar zur Metaphysik umfassen jeweils fast eine Million Wörter. Schaut man sich den ungeheuren Umfang von Thomas’ Schriften aus dem Zeitraum zwischen 1269 und 1272 an, so kann man glauben, was sein erster Sekretär von ihm berichtet. Er habe die Angewohnheit gehabt, wie ein Großmeister bei einem Simultanturnier, drei oder vier Sekretären gleichzeitig etwas zu diktieren. Die akademische Welt kann dankbar sein, dass die Last seiner Aufgaben ihn dazu zwang, seine Texte zu diktieren, denn seine eigene Handschrift konnte nur von ganz wenigen, eigens geschulten Spezialisten gelesen werden. 1272 verließ Thomas Paris zum letzten Mal. Der Dominikanerorden übertrug ihm die Aufgabe, in Italien ein neues Studienhaus zu gründen. Er entschied sich dafür, es dem Kloster San Domenico in Neapel anzuschließen. Seine dortigen Vorlesungen wurden vom König von Neapel, Karl von Anjou, unterstützt, dessen Bruder Ludwig IX. seine geniale Begabung in Paris kennengelernt hatte. Er setzte die Arbeit an seinen Aristoteles-Kommentaren fort und begann den dritten Teil der Summa, der ausschließlich theologischen Themen gewidmet ist: der Inkarnation, der Jungfrau Maria, dem Leben Christi und den Sakramenten der Taufe, der Konfirmation, der Eucharistie und der Buße. Das Nachdenken über diese Themen gab Thomas jedoch Anlass zur Erörterung zahlreicher philosophischer Fragen, zum Beispiel zur Identität und Selbstwerdung einer Person und zur Logik der Prädikation. Besonders die Abhandlung über die Eucharistie verlangte nach einer Diskussion der Lehre von der Transsubstantiation und damit nach einer abschließenden Darstellung von Thomas’ Auffassung über das Wesen der materiellen Substanz und der Veränderung von Substanzen. Die Summa wurde niemals fertiggestellt. Obwohl er noch keine 50 Jahre alt war, erlitt Thomas immer schwerere Anfälle von Geistesabwesenheit, und im Dezember 1273 machte er, während er die Messe las, eine geheimnisvolle Erfahrung – vielleicht im Zusammenhang mit einem Nervenzusammenbruch oder, wie er selbst glaubte, einer übernatürlichen Vision –, nach der er seine akademische Arbeit aufgab. Er konnte nicht mehr weiterschreiben oder -diktieren, und als ihn sein Sekretär Reginald von Piperno drängte, die Arbeit an der Summa fortzusetzen, antwortete er: „Ich kann es nicht, denn alles was ich geschrieben habe, erscheint mir jetzt wie Stroh.“ Reginald und seine Kollegen ergänzten die Summa nach Thomas’ Tod mit einem Anhang, der aus früheren Schriften zusammengestellt war und die noch nicht abgehandelten Themen darstellte: die übrigen Sakramente und die „vier Letzten Dinge“: Tod, Gericht, Himmel und Hölle.

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1274 berief Papst Gregor X. ein Konzil nach Lyon ein, in der Hoffnung, die griechische und die lateinische Kirche wiederzuvereinigen. Thomas wurde zur Teilnahme eingeladen und trotz seiner schlechten Gesundheit machte er sich auf die Reise nach Norden. Sein Zustand verschlechterte sich jedoch weiter, und er wurde gezwungen, seine Reise auf der Burg seiner Nichte in der Nähe von Fossanova zu unterbrechen. Nach einigen Wochen brachte man ihn in das nahegelegene Zisterzienserkloster, wo er am 7. März 1274 starb.

Die Nachwirkung Thomas von Aquins Der Ruf Thomas von Aquins unterlag nach seinem Tod größten Schwankungen. Wenige Jahre nach seinem Tod wurden mehrere seiner Auffassungen durch die Universitäten von Paris und Oxford verdammt. Ein englischer Mönch, der nach Rom reiste, um gegen dieses Urteil Berufung einzulegen, wurde zu lebenslangem Schweigen verurteilt. Es dauerte noch weitere 50 Jahre, bis die Schriften des Aquinaten als theologisch akzeptabel galten. Allerdings setzte Papst Johannes XXII. im Jahre 1316 den Prozess der Heiligsprechung in Gang. Es stellte sich als schwierig heraus, geeignete Wunderberichte zu finden. Der beste, den man finden konnte, handelt von einer Szene an seinem Sterbebett. In Fossanova wünschte sich der kranke Mann, der lange Zeit nichts zu sich nehmen konnte, Heringe zu essen. Diese konnten im Mittelmeer nicht gefangen werden, doch erstaunlicherweise fand man in der nächsten Lieferung von Sardinen einige Fische, die Thomas als köstliche Heringe gelten ließ. Die Richter des Papstes hielten dieses Wunder für zu wenig beeindruckend. Doch die Heiligsprechung nahm ihren Lauf. „Es gibt so viele Wunder wie es Artikel in der Summa gibt“, so soll der Papst gesagt haben, und er sprach Thomas 1323 heilig. Die Universität von Paris widerrief 1325, mit einiger Verspätung, die Verdammung seiner Werke. In Oxford nahm man von der Heiligsprechung keine akademische Notiz und im gesamten Mittelalter erfreute sich Thomas von Aquin außerhalb seines eigenen Ordens und der katholischen Theologie nicht des besonderen Prestiges, dass er im 20. Jahrhundert haben sollte. Es ist zwar wahr, dass die Summa während der Beratungen auf dem Konzil von Trient neben der Bibel einen Ehrenplatz erhielt. Doch zum offiziellen Theologen der gesamten römisch-katholischen Kirche wurde er erst 1879 durch die Enzyklika Aeterni Patris von Papst Leo XIII. ernannt. Alle Studenten der Werke Thomas von Aquins sind Papst Leo für den Anstoß zu Dank verpflichtet, die seine Enzyklika der Erstellung kritischer Ausgaben der Summa und anderer seiner Schriften gab, doch hatte die Ernennung des Heiligen zum offiziellen Philosophen der Kirche auch negative Auswirkungen. Sie verhinderte das philosophische Studium von Thomas’ Werken durch nichtkatholische Philosophen, die von einem Denker abgestoßen wurden, den sie einfach als Sprachrohr eines bestimmten kirchlichen Glaubenssystems ansahen. Das Problem verschärfte sich noch, als

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Karl von Anjou, dessen Protegé Thomas von Aquin auf seiner letzten akademischen Stelle an der Universität von Neapel war. Nach einer Legende, der Dante Glauben schenkte, hielt er den Heiligen für politisch unzuverlässig und ließ ihn vergiften.

Pius X. im Jahre 1914 24 Thesen der thomistischen Philosophie eigens für den Unterricht an katholischen Institutionen auswählte. Die säkulare Reaktion auf die Kanonisierung von Thomas’ Philosophie wurde von Bertrand Russell in seiner Geschichte der Philosophie des Abendlandes folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Vom echten Geist der Philosophie finden wir bei Thomas von Aquin kaum etwas. Anders als der platonische Sokrates konnte er einem Argument nicht ohne Rücksicht darauf folgen, wohin es ihn führen mochte, da er bereits im Besitz der Wahrheit war: Sie war im katholischen Glauben offenbart. Die

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Suche nach Argumenten für eine bereits vorgegebene Schlussfolgerung ist jedoch nicht Philosophie, sondern man kann sie bestenfalls als Plädoyer für eine bestimmte Sache bezeichnen.“ Es ist kein schwerer Vorwurf gegen einen Philosophen, wenn man sagt, er suche nach guten Gründen für etwas, das er bereits glaubt. Als Descartes in seinem Morgenmantel neben seinem Kamin saß, suchte er nach Gründen, die ihn zu dem Urteil berechtigten, dass er genau dies tat, und es dauerte sehr lange, bis er sie fand. Russell selbst investierte sehr viel Energie in die Suche nach Beweisen für etwas, wovon er bereits überzeugt war. In den Principia Mathematica erstreckt sich der Beweis, dass 1 + 1 = 2, über mehrere hundert Seiten. Wir beurteilen einen Philosophen danach, ob seine Argumente stichhaltig sind oder nicht, und nicht danach, wie er anfänglich zu seinen Prämissen oder dem Glauben an die Richtigkeit seiner Schlussfolgerungen kam. Eine Feindseligkeit gegen Thomas von Aquin aufseiten säkularer Philosophen wegen seiner offiziellen Position innerhalb des Katholizismus ist daher unberechtigt, wenn auch verständlich. Doch die Enzyklika von Leo XIII. und die Empfehlung einzelner seiner Lehren durch Pius X. schadeten dem philosophischen Ruf von Thomas unter Nichtkatholiken noch auf andere, schwerwiegendere Weise. Der offizielle Respekt, den die Kirche Thomas von Aquin zuteilwerden ließ, hatte zur Folge, dass seine Einsichten und Argumente von Bewunderern, die seine philosophische Raffinesse nicht zu würdigen wussten, häufig nur auf primitive Weise wiedergegeben wurden. Selbst in Seminaren und Universitäten bestand der von Leo XIII. eingeführte Thomismus oft lediglich darin, dass man, statt die von dem Heiligen selbst verfassten Texte zu studieren, dem Unterricht lediglich Lehrbücher und Kurzdarstellungen „im Geist von Thomas“ zugrunde legte. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil scheint der heilige Thomas die außerordentliche Vorliebe, die man ihm in kirchlichen Kreisen entgegenbrachte, verloren zu haben und in der Pflichtlektüre der Priesterkandidaten durch weniger bekannte Autoren aus neuerer Zeit ersetzt worden zu sein. In Fides et Ratio, der letzten Thomas von Aquin gewidmeten Enzyklika, wird dieser Zustand von Papst Johannes Paul II. bedauert. Andererseits ging diese Abwertung von Thomas von Aquin innerhalb des Katholizismus mit einer Neubewertung des Heiligen an säkularen Universitäten in verschiedenen Teilen der Welt einher. Man übertreibt nicht, wenn man behauptet, dass es in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts zu einer Renaissance des Thomismus gekommen ist – nicht eines an eine bestimmte Konfession gebundenen Thomismus, sondern des Studiums von Thomas’ Werken, und zwar nicht nur über die Grenzen der katholischen Kirche, sondern über die der Christenheit hinaus. Das neue Interesse an Thomas ist sowohl vielfältiger als auch kritischer als die frühere konfessionelle Rezeption seiner Werke. Die Möglichkeit stark voneinander abweichender Interpretationen liegt in der Natur der uns vom heiligen Thomas hinterlassenen Schriften. Sie sind von solch riesigem Umfang – mehr als acht Millionen Wörter –, dass jedes moderne Studium seiner Werke sich notgedrungen nur auf einen kleinen Teil seiner überlieferten Schriften konzentrieren kann. Selbst wenn

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man sein Studium – wie es die Forscher für gewöhnlich tun – auf die eine oder andere der großen Summae begrenzt, wird die Interpretation eines beliebigen Teils dieser Werke teilweise davon abhängen, welche zahlreichen Parallelstellen in anderen Werken man dazu heranzieht, den studierten Text zu erhellen. Besonders heute, wo es möglich ist, das gesamte Corpus mit dem Computer zu durchsuchen, besteht hier eine große Auswahlmöglichkeit. Zweitens ist die Übersetzung von Thomas’ Latein, das an sich von wunderbarer Klarheit ist, ins Deutsche keine triviale oder unumstrittene Angelegenheit. Für die lateinischen Ausdrücke von Thomas gibt es im Deutschen Entsprechungen, die in der Gegenwartsphilosophie gebräuchlich sind, doch ist die Bedeutung der lateinischen Ausdrücke von derjenigen der deutschen Äquivalente häufig sehr verschieden. 6 Die deutschen Wörter sind nicht nur nach einer jahrhundertelangen eigenständigen Entwicklung auf uns gekommen, sondern sie sind zu einer Zeit aus dem Lateinischen in unsere Sprache übernommen worden, als ihre philosophische Verwendung von Theorien beeinflusst worden war, die Thomas’ eigenen Auffassungen entgegengesetzt ist. Wir müssen uns beispielsweise davor hüten zu meinen, „actus“ bedeute „Akt“ oder „objectum“ „Objekt“. Drittens ist es bei einem Autor wie Platon oder Aristoteles häufig möglich, Unklarheiten dadurch zu beseitigen, dass man sich auf konkrete Beispiele konzentriert, die zur Verdeutlichung einer philosophischen Aussage verwendet werden. Thomas verwendet jedoch – wie andere bedeutende Scholastiker des Mittelalters – nur äußerst selten erläuternde Beispiel, und wenn er doch einmal von ihnen Gebrauch macht, sind sie häufig nicht originell oder abgegriffen. Ein Kommentator muss daher, wenn er dem Leser den Text verständlich machen will, eigene Beispiele finden, und die Wahl solcher Beispiele beinhaltet ein hohes Maß an Interpretation. Und schließlich möchte jeder, der das Genie des Aquinaten bewundert, sein Werk modernen Lesern in einem möglichst optimalen Licht darstellen. Doch was dies für einen Ausleger von Thomas’ Werken bedeutet, hängt davon ab, was er selbst in der Philosophie für besonders wertvoll hält. In Thomas’ Denken gibt es nämlich eine grundsätzliche Doppeldeutigkeit, die der Ursprung der philosophischen Meinungsverschiedenheiten unter seinen Kommentatoren ist. Thomas ist am besten als derjenige Philosoph bekannt, der das Christentum mit dem Aristotelismus in Einklang gebracht hat. Wie wir jedoch in späteren Kapiteln noch sehen werden, finden sich in seinen Schriften zahlreiche Elemente des Platonismus. Viele moderne Kommentatoren nehmen Thomas von Aquins Aristotelismus ernst und ignorieren die platonischen Reste, doch es gibt auch solche, die mit dem platonischen gegen den aristotelischen Thomas Partei ergreifen. Das Motiv hierfür kann ein theologisches sein: Ein solches Vorgehen macht es leichter, die Lehre zu akzeptieren, dass die Seele den Tod

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Besonders deutlich hervorgehoben wird dies von E. Stump in ihrer Studie Aquinas (London: Routledge, 2003), 35.

Siger von Brabant und Roger Bacon

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des Körpers überlebt, dass ein Engel reine Form und Gott reine Aktualität ist. Tatsächlich war Thomas selbst Aristoteliker auf Erden, im Himmel aber Platoniker. Für diejenigen, die mehr an Philosophie als Geschichte interessiert sind, ist die Vielfalt der Thomas-Interpretationen etwas, das zu begrüßen ist. Im Umgang mit den Schriften seiner Vorgänger war er selbst im Allgemeinen darum bemüht, den größtmöglichen Ausgleich mit ihnen zu finden: Statt eine Position, die dem ersten Anschein nach schlichtweg falsch war, anzugreifen, versuchte er – durch eine „wohlwollende Interpretation“, die oft die Grenzen des historisch Wahrscheinlichen überschritt – eine wahre These oder eine korrekte Sichtweise aus ihr herauszuholen. Die große Offenheit, mit der er ein buntes Gemisch griechischer, jüdischer und muslimischer Texte willkommen hieß, öffnet seinen Nachfolgern die Möglichkeit stark voneinander abweichender Interpretationen seines Werks, und sie ermutigt sie dazu, seinem Beispiel zu folgen und die unterschiedliche Traditionen übergreifende Suche nach der philosophischen Wahrheit höher zu stellen als die bedingungslose Treue zu kritischer Plausibilität.

Siger von Brabant und Roger Bacon In den Jahrzehnten unmittelbar nach seinem Tod hatte Thomas von Aquin nur wenige treue Anhänger. Gegen Ende seines Lebens hatte er sehr viel Energie darauf verwendet, eine radikale Form des Aristotelismus an der Artistenfakultät der Pariser Universität zu bekämpfen. Diese Philosophen behaupteten, dass es die Welt schon immer gegeben habe und dass in allen Menschen nur ein einziger Intellekt existiere. Die erste Annahme war zweifellos ein fundamentaler Bestandteil von Aristoteles’ Kosmologie, während die zweite diejenige Interpretation seiner Psychologie war, die vom maßgeblichsten seiner Kommentatoren, von Averroes, bevorzugt wurde. Aus diesem Grund wurde die Schule häufig als „lateinischer Averroismus“ bezeichnet: Sein wichtigster Wortführer war Siger von Brabant (1235–1282). Die charakteristischen Lehren dieser Pariser Scholastiker waren mit den christlichen Lehren von einer Schöpfung zu einem bestimmten Zeitpunkt und dem zukünftigen Leben von individuellen Einzelseelen schwer zu vereinbaren. Einige behaupteten, die Lehren von Aristoteles lediglich kommentarlos wiederzugeben. Siger selbst scheint jedoch zu einer bestimmten Zeit gelehrt zu haben, dass einige Aussagen von Aristoteles und Averroes in der Philosophie wahrscheinlich sind, obwohl der Glaube das Gegenteil lehrt. Im Jahre 1270 verurteilte der Erzbischof von Paris eine Liste von 13 Aussagen, die mit der Behauptung begann, dass „der Intellekt aller Menschen ein einziger und numerisch derselbe ist“ und dass „es niemals einen ersten Menschen gegeben hat“. Diese Verdammung war zum Teil möglicherweise auf die beiden Monografien zurückzuführen, die Thomas von Aquin gegen diese für Siger typischen Lehren geschrieben hatte. Doch trotz dieses Streitpunkts zwischen ihnen wurden die beiden Denker, im Bewusstsein ihrer jüngeren Zeitgenossen, häufig als zusammengehörig

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betrachtet. Einerseits waren in Paris und Oxford im Jahre 1277 Reihen von Aussagen verdammt worden, unter denen sich sowohl Thesen von Siger als auch von Thomas von Aquin befanden. Andererseits hatte Dante die beiden im Paradies nebeneinandergestellt und er ließ den heiligen Thomas Siger dafür preisen, dass er durch die Tiefe seines Denkens ein ewiges Licht angezündet habe. Dieses Kompliment hat Kommentatoren verwirrt, doch vielleicht sah Dante in Siger einen Vertreter der heidnischen und muslimischen Denker, die zur thomistischen Synthese einen Beitrag geliefert hatten, einen christlichen Denker, der die ungläubigen Philosophen vertrat, die zum Paradies keinen Zutritt hatten. Dante selbst kannte sich, obwohl er in dem Fach keine formale Ausbildung hatte, in der Philosophie gut aus, und seine Divina Commedia gibt scholastische Lehren häufig in vollendeter Versform wieder. So ist zum Beispiel die Darstellung der allmählichen Entwicklung der menschlichen Seele in Purgatorio 25 äußerst eng an die von Thomas in der Summa Theologiae gegebene Beschreibung angelehnt. Dantes eigener wichtigster Beitrag zur Philosophie ist sein Buch De Monarchia. Er behauptet darin, dass die intellektuelle Entwicklung des Menschen nur unter Bedingungen des Friedens stattfinden könne, die in einer Welt nationaler Rivalitäten nur von einer übernationalen Autorität sichergestellt werden könne. Dies sollte nach seiner Meinung nicht der Papst, sondern der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches sein. Roger Bacon, der Siger um zehn Jahre überlebte, war ein älterer Zeitgenosse von Dante. Er wurde etwa um das Jahr 1210 in Ilchester geboren und studierte und lehrte bis etwa 1247 an der Artistenfakultät in Oxford. Daraufhin ging er nach Paris und trat im nächsten Jahrzehnt in den Franziskanerorden ein. Paris gefiel ihm nicht, und die Pariser Doktoren Alexander von Hales und Albertus Magnus kamen im Vergleich mit seinem Oxforder Lehrer Robert Grosseteste schlecht weg. Der einzige Pariser Doktor, den er bewunderte, war Peter von Maricourt, der ihm die Bedeutung von Experimenten für die naturwissenschaftliche Forschung klarmachte und ihn davon überzeugte, dass die Mathematik „die Tür und der Schlüssel“ zu Gewissheit in der Philosophie sei. Aus uns unbekannten Gründen erhielt er 1257 von seinen franziskanischen Vorgesetzten ein Lehrverbot, doch es war ihm erlaubt auch weiterhin zu schreiben, und im Jahre 1266 bat ihn niemand Geringerer als der Papst, ihm seine Schriften zuzuschicken. Bedauerlicherweise lebte dieser Papst, Clemens IV., nicht lange genug, um die Texte lesen zu können, und Bacon wurde 1278 für häretische Ansichten über die Astrologie verurteilt. Den Rest seines Lebens verbrachte er im Gefängnis, wo er 1292 starb. Roger Bacon wird häufig als Vorläufer von Francis Bacon, seinem Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert, angesehen, da er wie dieser die Bedeutung des Experiments in der Philosophie hervorhob. In seinem Hauptwerk, dem Opus Maius, greift Roger, wie Francis, die Quellen des Irrtums an: Ehrerbietung gegenüber Autoritäten, blinde Gewohnheit, weit verbreitete Vorurteile und ein bloß eingebildeter Anspruch auf höhere Weisheit. Es gibt seiner Meinung nach zwei grundsätzliche Voraussetzungen für wissenschaftliche Forschung. Die eine ist ein gründliches Studium der alten Spra-

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Die Mechanik des Sehens in der Darstellung von Roger Bacon.

chen – die gegenwärtig verwendeten lateinischen Übersetzungen von Aristoteles’ Werken und der Bibel sind höchst unzulänglich. Die andere Voraussetzung sind fundierte Kenntnisse in Mathematik, ohne die sich in Wissenschaften wie der Astronomie keine Fortschritte erzielen lassen. Bacons eigener Beitrag zur Naturwissenschaft konzentriere sich auf die Optik, wo er einige Einsichten von Grosseteste vertiefte. Eine Zeit lang glaubte man sogar, er sei der erste Erfinder des Teleskops gewesen.

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Bacon beschreibt die scientia experimentalis als Wissenschaft eigener Art. Ein apriorischer Vernunftgebrauch könne uns zwar zu einer richtigen Schlussfolgerung führen, doch allein die Erfahrung gebe uns Gewissheit. Die aristotelische Physik mag lehren, dass Feuer brennt, doch das Feuer fürchtet ein Kind, das sich verbrannt hat. Außerdem kann das Experiment weiter reichen als die demonstrierten Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Fächer. Um dies zu erkennen, müssen wir lediglich die pharmakologische Erfahrung betrachten, wie sie durch praktizierende Ärzte in Arzneibüchern zusammengetragen wurde. Die Konstruktion eines Planetenmodells, wie eines Astrolabiums, kann uns mehr Dinge lehren als eine deduktive Wissenschaft. Obwohl Bacon glaubte, dass es möglich sei, weniger wertvolle Metalle durch alchemistische Umwandlungen zu Gold zu machen, und obwohl er die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusagen und Wunder zu wirken, als Lohn der wissenschaftlichen Forschung ansah, zog er eine scharfe Trennungslinie zwischen Wissenschaft und Zauberei. Er glaubte sogar, ein Grund für die Beschäftigung mit der Wissenschaft bestehe darin, die falschen Behauptungen von Zauberkünstlern widerlegen zu können. Doch bevor man ihn als Vorkämpfer im Krieg zwischen Wissenschaft und Mystik feiert, ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass er zu der Erfahrung, der er in der Philosophie eine so große Bedeutung beimaß, auch religiöse Visionen und Zustände mystischer Verzückung zählte. Roger Bacon war einer von drei bemerkenswerten franziskanischen Denkern, die das akademische Leben im Oxford des 13. und 14. Jahrhunderts schmückten. Die anderen beiden waren Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham. Die drei sind, wie wir sehen werden, voneinander sehr verschieden, sodass es falsch wäre, sich Oxford als die Heimat einer bestimmten franziskanischen Denkrichtung vorzustellen. Alle drei hatten jedoch einen Einfluss, der weiter über Oxford und England hinausgehen sollte.

Duns Scotus Unter allen bedeutenden Philosophen ist Johannes Duns Scotus derjenige, über dessen Leben am wenigsten bekannt ist und dessen Biografie fast ausschließlich auf Mutmaßungen beruht. Jede Darstellung seines Lebensweges muss sich an vier festen Daten orientieren, die durch Dokumente belegt sind: Am 17. März 1291 wurde er in Northampton zum Priester geweiht. Am 26. Juli 1300 befand er sich als franziskanischer Mönch, der sich vergeblich um die Erlaubnis zum Abnehmen der Beichte bemühte, in Oxford. Am 18. November 1304 wurde er vom Generalminister der Franziskaner für eine wichtige Position in Paris vorgeschlagen, und am 30. Februar 1308 war er Lektor der Theologie in Köln. Selbst sein Sterbedatum ist ungewiss. Die Tradition legt es auf den 8. November 1308. Aus diesen bezeugten Fragmenten haben verschiedene Forscher den Umriss verschiedener Biografien aufgebaut: Die folgende ist nur eine von mehreren möglichen

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Rekonstruktionen. 7 Es wird berichtet, dass Johannes in Duns, einer Stadt an der schottischen Grenze einige Kilometer landeinwärts von Berwick upon Tweed geboren wurde. Wenn wir uns am Datum seiner Ordination orientieren, können wir ein Geburtsdatum zu Beginn des Jahres 1266 vermuten. Irgendwann als Teenager scheint er Novize im Franziskanerhaus von Dumfries geworden zu sein, und zwar unter seinem Onkel Elias Duns, dem Leiter der Schottischen Brüder. Dieser hatte erst vor Kurzem erreicht, dass der englische Zweig des Ordens dem Haus ein gewisses Maß an Eigenständigkeit zugestand. In den 1280er Jahren wurde er nach Oxford geschickt, wo er in Greyfriars, dem Haus der Franziskaner, Philosophie studierte. Es war bereits so groß, dass es etwa 70 Studenten aufnehmen konnte. Mit dem Universitätsstudium der Theologie begann Scotus im Jahre 1288: Es dauerte 13 Jahre und endete mit einer dreijährigen obligatorischen Lehrtätigkeit. Er musste zwei Jahre über die Sentenzen von Petrus Lombardus und ein Jahr über die Bibel Vorlesungen halten. Im Jahre 1300/1301 erhielt er den Bachelorgrad in Theologie und damit einen Status, der in etwa dem eines wissenschaftlichen Assistenten entspricht. Aus Gründen, über die man nur Vermutungen anstellen kann, entschied die Leitung des Franziskanerordens, dass Scotus, statt den Doktorgrad in Oxford zu erwerben, als Bachelor nach Paris gehen sollte. Möglicherweise war er ein so brillanter Dozent, dass man meinte, er solle die Chance bekommen, seine herausragenden Fähigkeiten an der ersten Universität des Zeitalters (den Abstand zu Paris hatte Oxford soeben erst begonnen aufzuholen) zur Schau zu stellen. Das Franziskanerkloster in Paris, an dem sich Alexander von Hales und Bonaventura befanden, erwies sich nicht als friedliche Umgebung. Nachdem er ein Jahr Vorlesungen über die Sentenzen gehalten hatte, wurde Scotus, zusammen mit 80 anderen Ordensbrüdern, aus Frankreich vertrieben, weil er im Streit zwischen Philipp dem Schönen und Bonifatius VIII. die Seite des Papstes unterstützt hatte. 8 Er verließ Paris im Juni 1303 und kehrte nach England zurück. Er verbrachte einige Zeit in Cambridge, wo sich ein Franziskanerhaus für fortgeschrittenere Studenten befand. Nach dem Tod von Papst Bonifatius gegen Ende des Jahres 1303 verbesserten sich die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und dem französischen Königreich, und die Verbannung der Franziskaner wurde aufgehoben. Scotus kehrte nach Paris zurück, beendete seine Vorlesungsreihe über die Sentenzen, erwarb den Doktortitel und war in den Jahren 1306–1307 Leiter der Franziskaner. Er war erneut gezwungen, Paris aufgrund politischer Unruhen zu verlassen, und er verbrachte das letzte Jahr seines Lebens – das 42. – in Köln. Dort starb er und wurde in der Franziskanerkirche beerdigt. Auf seinem Grab steht folgende Inschrift: „Schottland schenkte mir das

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Meine Darstellung von Scotus’ Leben ist einer detaillierten, leider noch unveröffentlichten Studie von A. Vos sehr zu Dank verpflichtet. Am bekanntesten wurde dieser Streit wahrscheinlich durch Dantes Darstellung der französischen Misshandlung Bonifatius’ in Anagni (Purgatorio 20).

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Leben, England lehrte mich, Frankreich nahm mich auf, und Köln behält mich nun.“ Im Jahre 1993 wurde er von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Von Scotus’ Schriften sind zahlreiche Handschriften erhalten geblieben, doch sind ihre Identität und Reihenfolge ebenso rätselhaft wie die Einzelheiten seiner Biografie. Die meisten von ihnen befanden sich zum Zeitpunkt seines Todes in einem fragmentarischen und unvollendeten Zustand. Sie wurden durch die hingebungsvolle Mühe mehrerer Generationen von Schülern zusammengetragen und gepflegt. Der auf diese Weise entstandene Kanon wurde im Jahre 1639 von Luke Wadding in zwölf Bänden herausgegeben. Diese Ausgabe wurde von 1891–1895 vom Verlag Vives in Paris neu aufgelegt. Das Herzstück dieser Ausgabe waren zwei Kommentare über die Sentenzen mit dem Titel Opus Oxoniense bzw. Reportata Parisiensia. Die Sammlung enthielt außerdem eine Reihe von Kommentaren zu Aristoteles, eine Sammlung von Quodlibet-Fragen sowie einige Monografien, unter denen De Rerum Principio, De Primo Principio und Grammatica Speculativa besondere Beachtung verdienen. Die Forschung war bis Ende des 20. Jahrhunderts auf die Vives-Wadding-Ausgabe angewiesen, und sie stellt bis heute für eine Reihe von Scotus’ Werken den einzig verfügbaren Text bereit. Die Arbeit der Forscher des 20. Jahrhunderts hat den Kanon seiner Schriften jedoch völlig neu geordnet. Die meisten der Kommentare zu Aristoteles erwiesen sich als Werke anderer, späterer Autoren. Als echte Kommentare gelten heute allein diejenigen über die Kategorien, De Interpretatione und die Sophistici Elenchi sowie ein Kommentar über Porphyrios. Diese logischen Werke stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Zeit von Scotus’ erstem Aufenthalt in Oxford in den frühen 1290er Jahren.9 Aus dieser Zeit stammt auch eine Reihe von Quaestiones zu Aristoteles’ De Anima und wahrscheinlich auch ein Kommentar zur Metaphysik, obwohl es scheint, dass er von Scotus zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens überarbeitet wurde. Zwei der am meisten studierten Monografien der Vives-Wadding-Ausgabe, die Schriften De Rerum Principio und Grammatica Speculativa, stellten sich bei kritischer Untersuchung als unecht heraus. In der Mitte der 1920er Jahre entdeckte man Handschriften eines Textes, die nach einigem Hin und Her nun als Scotus’ eigene Notizen für seine Oxforder Vorlesungen in den Jahren 1298–1300 über die ersten beiden Bücher der Sentenzen akzeptiert werden. Im Jahre 1938 gründete der Franziskanerorden in Rom eine Kommission, um eine kritische Edition von Scotus’ Werken zu erstellen, und zwischen 1950 und 1993 wurde dieser wichtige Text vom Verlag des Vatikans unter dem Titel Lectura I–II herausgegeben. Bei der 2003 herausgegebenen Lectura III handelt es sich höchstwahrscheinlich um den Kurs, den Scotus in seiner Zeit in Oxford, nach der Ausweisung aus Paris im Jahre 1303, unterrichtet hat. Von dem früher als Opus Oxoniense be9

Die philosophischen Werke von Scotus werden seit 1999 von einem Team in einer kritischen Edition herausgegeben. Das Team arbeitete zunächst in St Bonaventure in New York und später an der Catholic University of America in Washington DC.

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zeichneten Text nimmt man heute an, dass er aus Elementen einer Revision dieses Kurses besteht, die während der gesamten Pariser Jahre fortgesetzt wurde. Die Reportata Parisiensia enthält deutliche Anzeichen des späten Stadiums einer Revision durch die Studenten, die die Vorlesungen besucht haben. Eine mittelalterliche Vorlesung erhielt ihre endgültige Form, nachdem ein Dozent seine eigenen Entwürfe mit den Aufzeichnungen der Studenten verglichen und das Material in einen als Ordinatio bezeichneten einzelnen, genehmigten Text aufgenommen hatte. Die Veröffentlichung der Ordinatio – an der Scotus keine Endredaktion mehr vorgenommen hatte – war die Hauptaufgabe der Scotus-Kommission. Zwischen 1950 und 2001 erschienen sieben Bände dieser kritischen Ausgabe, wodurch auch der Kommentar zu den Sentenzen I–II vervollständigt wurde. Für Ordinatio III und IV sind die Forscher nach wie vor auf die letzten beiden Bände des Opus Oxoniense in der von Wadding gedruckten Form angewiesen. Die Vatikan-Ausgaben der Lectura und Ordinatio sind der wichtigste Bezugspunkt für das Scotus-Studium gegenwärtiger Philosophen und Theologen. Es gibt jedoch zwei Werke, die einen Einblick in Scotus’ reifes Denken gewähren, deren Authentizität außer Frage steht. Die Quodlibet-Fragen stammen zweifellos aus der kurzen Zeit, in der Scotus, im Jahre 1306 oder 1307, Leiter des Ordens in Paris war. Die kurze Monografie De Primo Principio, die seit 1941 in mehreren Ausgaben erschienen ist, gehört in seine letzte Lebensphase, und einige Forscher nehmen an, dass sie in Köln im Jahre seines Todes geschrieben wurde. Die Echtheit eines Werkes mit dem Titel Theoremata ist immer noch Gegenstand einer gelehrten Kontroverse. Die Mehrheit der Forscher scheint mittlerweile die Echtheit des Textes anzunehmen. Wenn diese Annahme zutrifft, ist sie das Zeugnis einer bemerkenswerten Kehrtwendung von Scotus bezüglich eines wichtigen Themas, nämlich der Frage, ob die Existenz Gottes mit der natürlichen Vernunft allein bewiesen werden kann. Scotus ist kein leicht zu lesender Autor. Seine Sprache ist kompliziert, technisch und kommt dem Leser nicht entgegen. Die Struktur seiner Argumente ist häufig nur schwer zu erkennen. Er war jedoch einer der scharfsinnigsten Denker, die sich jemals der Philosophie gewidmet haben, und er hat seinen Beinamen, doctor subtilis, in hohem Maße verdient. In seiner kurzen akademischen Laufbahn änderte er die Richtung des philosophischen Denkens in vielen Bereichen und lenkte es in neue Bahnen, in denen es sich über Jahrhunderte weiterbewegte. In vielen Fragen vertrat Scotus eine Thomas von Aquin entgegengesetzte Position. Für ihn selbst, wenn auch nicht im Urteil der Geschichte, waren seine Meinungsverschiedenheiten mit Heinrich von Gent, einem anderen seiner Vorgänger, ebenso wichtig. Heinrich unterrichtete von 1276 bis 1292 in Paris und verteidigte viele Ideen des augustinischen Neuplatonismus gegen den radikalen Aristotelismus einiger Dozenten der Artistenfakultät. Scotus bestimmte seine eigenen Positionen häufig im Verhältnis zu der von Heinrich vertretenen Auffassung und er sah viele seiner Vorgänger durch dessen Augen. Scotus brach mit der aristotelischen Tradition, indem er behauptete, die Begriffe

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des Seins und die anderen universal anwendbaren Prädikate wie „gut“ seien nicht analog, sondern univok und könnten von Gott im selben Sinne gebraucht werden wie von geschaffenen Dingen. 10 Metaphysik war die Wissenschaft, die den univoken Begriff des Seins und seine fundamentalen Eigenschaften studiert. Aristoteles hatte die Metaphysik als die Wissenschaft definiert, die das Seiende als Seiendes studiert. Scotus versteht diese Definition sinnvoll zu nutzen, doch deutet er sie auf höchstpersönliche Weise. Er erweitert ihren Anwendungsbereich ins Unermessliche, indem er in das Sein den unendlichen Gott des Christentums aufnimmt. Was immer einer von Aristoteles’ Kategorien angehört – Substanz oder Akzidens – ist Teil des Seins. Doch das Sein ist viel umfassender als dies, denn alles, was unter die Kategorien fällt, ist endlich, und das Sein umfasst das Unendliche. Die wichtigste Unterscheidung im Bereich des Seins ist diejenige zwischen dem endlichen und unendlichen Sein. 11 Die Existenz eines unendlichen Wesens kann nach Scotus philosophisch bewiesen werden. Hierin stimmt er mit Thomas von Aquin und der großen Mehrheit der mittelalterlichen Denker überein. Doch er lehnt die von Thomas für die Existenz Gottes angeführten Beweise ab, da sie zu stark von der aristotelischen Physik abhängen, und er legt einen eigenen detailliert ausgearbeiteten, metaphysischen Beweis für die Existenz Gottes vor, nach dem Gott die erste Wirkursache, die letzte Endursache und das vollkommenste aller Wesen ist. Im Gegensatz zu Thomas ist er der Überzeugung, dass göttliche Attribute wie Allwissenheit und Allmacht nur durch die Offenbarung erkennbar sind und durch die natürliche Vernunft allein nicht eingesehen werden können. 12 Scotus macht zwar vom Begriffsapparat des aristotelischen Hylomorphismus Gebrauch und verwendet vertraute Begriffe wie „Materie“, „Form“, „Substanz“ und „Akzidens“, doch er versteht viele dieser Begriffe auf neue, radikale Weise. Besonders die aristotelischen Begriffe der Aktualität und Potenzialität werden von ihm neu gefasst: Er behandelt potenzielle Wesen als wären es Entitäten, die die vollständige Individualität wirklicher Wesen besitzen. Dies zeigt sich beispielsweise an seiner Behandlung von Ort und Zeit. Er nimmt im Gegensatz zu Aristoteles an, dass es leeren Raum und bewegungslose Zeit geben kann. Während es für Aristoteles der Gegenwart eines Körpers bedarf, um einen Raum zu schaffen, reicht für Scotus die bloße Möglichkeit eines Körpers aus, um die Wände eines Vakuums getrennt zu halten. Während es für Aristoteles Bewegung geben muss, wenn es Zeit geben soll, da die Zeit das Maß der Bewegung ist, kann es für Scotus Zeit ohne Bewegung geben, eine Zeit, die das Maß der bloßen Möglichkeit von Bewegung ist. 13 Indem er Möglichkeiten wie schattenhafte, aber eindeutig bestimmte Einzeldinge behandelt, verrät Scotus den Einfluss von Avicenna, doch wegen der Gründlichkeit, mit der er dieses The10 11 12 13

Scotus’ Theorie der Univozität wird in Kapitel 3 erörtert. Weitere Einzelheiten von Scotus’ Metaphysik werden in Kapitel 5 erörtert. Scotus’ natürliche Theologie wird in Kapitel 9 erörtert. Vgl. hierzu N. Lewis, „Space and Time“, in CCDS.

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ma untersucht, verdient er es, als Erfinder der Philosophie der möglichen Welten bezeichnet zu werden. In der aristotelischen Tradition galt die Materie als Prinzip der Individuation: Zwei Menschen, Peter und Paul, waren nicht aufgrund ihrer Form, sondern aufgrund ihrer Materie voneinander verschieden. Scotus verwarf diese Auffassung: Was den Unterschied zwischen Peter und Paul ausmachte, war nicht die Materie, sondern ein individuelles Erkennungsmerkmal, das jeder für sich besaß, eine haecceitas oder Diesheit. Für ein Individuum wie Sokrates gab es daher eine allgemeine menschliche Natur und ein Individuationsprinzip. Er behauptete, die allgemeine Natur und der individuelle Unterschied seien in Wirklichkeit identisch, doch durch einen Unterschied besonderer Art, den „formalen Unterschied“, voneinander verschieden. Auf diese Weise hoffte Scotus die Gültigkeit von Allgemeinbegriffen zu erhalten, ohne in einen Platonismus zu verfallen. Die allgemeine Natur war real genug, nicht nur ein Produkt des menschlichen Geistes, doch konnte sie in der Wirklichkeit nur zusammen mit einem individuierenden Element auftreten. Verglichen mit Thomas von Aquin erweiterte Scotus den Umfang des menschlichen Intellekts in zwei Richtungen. Thomas hatte die Auffassung vertreten, dass es kein rein intellektuelles Wissen von Individuen geben könne, denn eine immaterielle Fähigkeit könne die Materie nicht erfassen, die für ihn das Prinzip der Individuation war. Für Scotus enthält jedes Ding ein intelligibles Individualitätsprinzip, weshalb der Intellekt ein Individuum in seiner Singularität erfassen kann. Thomas hatte behauptet, der angemessene Gegenstand des Intellekts sei, in diesem Leben, das Wissen über das Wesen der materiellen Dinge. Scotus hingegen meinte, bezögen wir das künftige und das gegenwärtige Leben in unsere Betrachtung mit ein, müssten wir sagen, der angemessene Gegenstand des Intellekts sei so umfassend wie das Sein selbst. Definierte man den Gegenstand des Intellekts wie Thomas es getan hatte, war dies nach seiner Meinung so, als definierte man den Gegenstand des Sehvermögens als dasjenige, was bei Kerzenlicht sichtbar ist. Scotus erteilte der These – die der augustinischen Tradition wichtig war und von Heinrich von Gent wiederbelebt wurde –, dass eine besondere göttliche Erleuchtung erforderlich sei, damit der menschliche Intellekt Universalien erfassen könne, eine definitive Absage. Gott ist jedoch aus seiner Erkenntnistheorie nicht völlig verbannt. Gottes Macht ist absolut: Er kann alles tun, was keinen Widerspruch beinhaltet. Daher könnte Gott im Geist eines Menschen die Überzeugung vom Vorhandensein eines Gegenstandes auch dann erzeugen, wenn der Gegenstand nicht vorhanden ist. Glücklicherweise handelt Gott jedoch, obwohl er absolute Macht hat, nur in Übereinstimmung mit seiner ordnungsgemäßen, von Weisheit gelenkten Macht. Daher würde er seine absolute Macht nicht auf die angedeutete Weise missbrauchen. Scotus kann an dieser Stelle, wie Descartes Jahrhunderte später, einen radikalen Skeptizismus nur ausschließen, indem er sich auf die Lehre beruft, dass Gott nicht täuscht. In die Philosophie des Geistes führte Scotus eine neue Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Intellekt und dem Willen ein. Während der Wille für Thomas

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von Aquin im Wesentlichen ein vernünftiges Begehren war, das seine Freiheit der flexiblen Natur des praktischen Vernunftgebrauchs verdankte, sah Scotus im Willen eine eigenständige Kraft, deren Aktivität ausschließlich durch ihre Selbstbestimmung verursacht werden konnte. Der Wille war sehr wohl eine rationale Kraft, eine Kraft, die auf mehr als eine Weise ausgeübt werden konnte, doch dies bedeutete nicht, dass seine Tätigkeit unter der Leitung der Vernunft stand. Der Intellekt war im Gegensatz dazu eine natürliche Kraft, die – sofern die entsprechenden natürlichen Bedingungen seiner Ausübung gegeben waren – nur auf eine Weise tätig sein konnte. Während für die meisten aristotelischen Scholastiker das höchste Gut menschlicher Wesen in einer Ausübung des Intellekts bestand, der selig machenden Schau Gottes, besteht für Scotus die himmlische Einheit der Seligen mit Gott im Wesentlichen in einem freien Willensakt. 14 Scotus wies dem menschlichen und göttlichen Willen ein wesentlich größeres Betätigungsfeld zu als irgendeiner seiner Vorgänger. Der menschliche Wille ist ein Vermögen, Gegensätzliches zu wollen, und zwar nicht nur in dem Sinne, dass er zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge wollen kann, sondern auch insofern er zu dem Zeitpunkt, zu dem er etwas Bestimmtes will, die Macht behält, gleichzeitig sein Gegenteil zu wollen. Ein geschaffener Wille, der nur für einen einzigen Moment existierte, könnte sich dennoch zwischen zwei Gegensätzen frei entscheiden. Ferner hat der göttliche Wille für Scotus eine Freiheit, die weit über diejenige hinausreicht, die ihm frühere Theologen zugesprochen haben. So hatte Gott beispielsweise die Freiheit, viele der moralischen Vorschriften, von denen man im Allgemeinen annahm, sie gehörten zum Naturrecht, zu ignorieren oder aufzuheben. Duns Scotus ist für die Philosophiegeschichte nicht deshalb ein wichtiger Denker, weil er eine Schule gegründet hat – obwohl er bis hinauf zur Gegenwart in jeder Generation treue Anhänger hatte –, sondern weil zahlreiche seiner philosophischen Neuerungen von den Denkern späterer Generationen als unhinterfragte Prinzipien akzeptiert wurden, obwohl sie keine Zeile seiner Werke gelesen hatten. Die Streitgespräche der Reformation zwischen Luther und Calvin und ihren katholischen Gegenspielern fanden vor einem Hintergrund statt, der im Wesentlichen aus scotistischen Annahmen bestand. Der Rahmen, innerhalb dessen Descartes die Grundlagen der modernen Philosophie legte, wurde in allen wesentlichen Aspekten seiner Konstruktion um das Jahr 1300 in Oxford errichtet. Das Vierteljahrhundert, welches Thomas von Aquins Summa Theologiae von Scotus’ Lectura trennt, war eine der bedeutsamsten und folgenschwersten Zeiten in der Geschichte der Philosophie. Außerhalb fachphilosophischer Kreise wird Scotus kaum gelesen: Er ist ein Philosoph der Philosophen. Doch einer von denen, die eine denkbar lebhafte Vorstellung von seinem Genie hatten, war der viktorianische Dichter Gerard Manley Hopkins. In seinem Gedicht „Duns Scotus’ Oxford“ hebt ihn Hopkins über Thomas von Aquin, Platon und Aristoteles und feiert ihn mit folgenden Zeilen: 14 Scotus’ Philosophie des Geistes wird in Kapitel 7 beschrieben.

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„Ein Rätsellöser der Wirklichkeit von seltenster Art; von unerreichter Einsicht, sei der Rivale Italien oder Griechenland.“ 15

Was Hopkins am meisten beeindruckte, war der Begriff der haecceitas, den er für eine Antizipation seines eigenen Begriffs „inscape“ 16 hielt, des einzigartigen Charakteristikums jedes Individuums, das er in vielen seiner Gedichte feierte, insbesondere dem Gedicht „As king-fishers catch fire“ 17. „Jedes sterbliche Wesen macht eines und dasselbe: Verteilt das Sein, das in jedem lebt, nach außen; Selbstet – gehet selbst; spricht und buchstabiert ich selbst, Rufend Was ich tue bin ich: dafür bin ich gekommen.“ 18

In den Jahrzehnten unmittelbar nach seinem Tod erhielt Scotus in Oxford kein solches Lob, und selbst unter seinen franziskanischen Ordensbrüdern gab es großen Widerstand gegen seine Ansichten.

Wilhelm von Ockham Als Wilhelm von Ockham nach Oxford kam, hatte Scotus die Stadt kurz vorher zum letzten Mal verlassen. Sein Nachname gibt seinen Geburtsort an, das Dorf Ockham in Surrey. Er wurde gegen Ende der 1280er Jahre geboren und trat um 1302 in den Franziskanerorden ein. Seine philosophische Ausbildung erhielt er wahrscheinlich in Greyfriars, dem Haus der Franziskaner in London. Am Ende des Jahrzehnts ging er nach Oxford, um dort Theologie zu studieren. In den Jahren von 1317–1319, der Zeit, als er seine Vorlesungen über die Sentenzen hielt, bildete sich in Oxford eine Schule von Scotisten, und Ockham definierte seine eigene Position teilweise im Gegensatz zu ihr. Er wurde schon bald von seinen franziskanischen Ordensbrüdern kritisiert und auch der Kanzler der Universität, der Thomist Thomas Lutterell, war ihm gegenüber misstrauisch. Er verließ Oxford, ohne dort promoviert zu haben, und lebte in den frühen 1320er Jahren in London, wahrscheinlich in Greyfriars. 19 Er 15 Of realty the rarest-veined unraveller; a not rivalled insight, be rival Italy or Greece. 16 Anm. d. Übers.: Hierbei handelt es sich um eine Wortschöpfung in Anlehnung an „escape“ („Flucht“). Gemeint ist die innere Gestalt, das unverwechselbare Wesen einer Sache. 17 Wie Eisvögel Feuer fangen. 18 Each mortal thing does one thing and the same: Deals out that being indoors each one dwells; Selves – goes itself; myself it speaks and spells, Crying What I do is me: for that I came. 19 Dass Ockham Oxford vor der Doktorprüfung verlassen hat, mag der Grund dafür sein, dass er im Mittelalter den Beinamen venerabilis inceptor („der ehrwürdige Anfänger“)

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wurde Dozent für Philosophie und hielt eine Reihe von Quodlibet-Disputationen ab. Außerdem brachte er seine Oxforder Vorlesungen in Buchform, schrieb ein systematisches Logiklehrbuch, eine Reihe von Kommentaren über Aristoteles’ logische und physikalische Werke sowie eine einflussreiche Abhandlung über die Prädestination und kontingente Sachverhalte in der Zukunft. Am bekanntesten ist er für eine Aussage, die nicht von ihm stammt: „Entitäten sollen nicht unnötig vervielfacht werden“, bekannt als „Ockhams Rasiermesser“. In seinen Werken zur Logik und Metaphysik nahm Ockham eine Reihe von Positionen ein, die sich aus solchen von Scotus entwickelten oder dazu in Gegensatz standen. Sein Denken ist weniger kompliziert als das von Scotus und seine Sprache glücklicherweise deutlich klarer. Wie Scotus behandelte er „Sein“ als univoken Begriff, der auf Gott und die Geschöpfe in gleicher Weise anwendbar ist. Allerdings verringert er die Zahl der geschaffenen Dinge drastisch: Er reduziert Aristoteles’ zehn Kategorien auf zwei: Substanzen und Qualitäten. Ockhams wichtigster Meinungsstreit mit Scotus betrifft das Wesen von Universalien. Die Vorstellung, dass es in den zahlreichen Individuen, die wir mit demselben Wort bezeichnen, eine gemeinsame Natur gibt, bestritt er ganz und gar. Außerhalb des Geistes existierte für ihn nichts Allgemeines, es gibt in der Welt nur besondere Einzeldinge. Allgemeinbegriffe sind keine Entitäten, sondern Zeichen: einfache Zeichen, die für viele Dinge stehen. Nach Ockham gibt es zwei Arten von Zeichen: natürliche und konventionelle Zeichen. Natürliche Zeichen sind die Gedanken in unserem Geist, konventionelle Zeichen sind die Wörter, die wir erfinden, um diese Gedanken auszudrücken. Die Begriffe unseres Geistes bilden ein Sprachsystem, eine Sprache, die allen Menschen gemeinsam ist und den verschiedenen gesprochenen Sprachen, wie Englisch und Latein, vorausliegt. Ockhams Bestreitung der realen Existenz von Universalien wird häufig als „Nominalismus“ bezeichnet: Doch die Bezeichnungen, die ihm zufolge die einzigen wirklichen Universalien sind, entsprechen nicht nur den gesprochenen und geschriebenen Zeichen, sondern den inneren Zeichen der Sprache unseres Geistes. Wenn wir daher Ockhams Lehren dem Realismus seiner Opponenten gegenüberstellen, wäre es passender, ihn statt als Nominalisten als Konzeptualisten zu bezeichnen.20 Wie sich die Zeichen der geistigen Sprache auf die Gegenstände der Welt beziehen, hat Ockham zu verschiedenen Zeiten seines Lebens unterschiedlich dargestellt. Nach seiner früheren Theorie erfindet der Geist mentale Bilder oder „Fiktionen“, die wirklichen Dingen gleichen und die die Begriffe der vom Geist erzeugten Aussagen darstellen: Diese Begriffe sind die Stellvertreter der entsprechenden wirklichen Dinge. Fiktionen waren Universalien in dem Sinne, dass sie eine Ähnlichkeit mit vielen anhatte. Dies scheint wahrscheinlicher als die alternative Erklärung, dass man ihn für einen bewundernswerten Neuerer hielt. Auf jeden Fall haben wir es bei diesem Titel mit einem komplizierten Wortspiel zu tun, da „incept“ im mittelalterlichen Jargon das Wort für das Ablegen des Doktorexamens war, was Ockham nie getan hat. Sein anderer Beiname, „der unbesiegbare Doktor“, ist weniger erklärungsbedürftig. 20 Genauer erörtert wird Ockhams Nominalismus in Kapitel 3.

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deren Dingen in der Welt aufweisen. Später gab Ockham, zum Teil als Reaktion auf die Kritik seines franziskanischen Kollegen Walter Chatton, die Annahme von Fiktionen auf. Er gelangte schließlich zu der Überzeugung, die Begriffe der Sprache des Geistes seien lediglich Denkakte, Elemente in der geistigen Geschichte einer einzelnen Person. Ockham akzeptierte Scotus’ Unterscheidung zwischen intuitivem und abstraktem Wissen. Ob ein kontingentes Faktum besteht oder nicht, können wir nur auf dem Weg intuitiven Wissens, d. h. durch konkrete Anschauung, in Erfahrung bringen. Ockham macht jedoch eine Implikation dieser Theorie deutlich, die bei Scotus unausgesprochen bleibt. Ockham behauptet, dass Gott dank seiner Allmacht alles, was er gegenwärtig tut, auch durch sekundäre Ursachen tun könnte. Im Normalfall lässt mich Gott wissen, dass eine bestimmte Wand weiß ist, indem er die weiße Wand und mein Auge aufeinandertreffen lässt. Doch wenn er im Fall der normalen Sinneswahrnehmung so verfährt, kann er dieselbe Überzeugung von der Weiße der Wand in mir entstehen lassen, ohne dass es eine weiße Wand vor meinen Augen gibt. Diese These macht die von Scotus in der Erkenntnistheorie geöffnete Lücke offensichtlich noch breiter und bereitet dem Skeptizismus den Weg. 21 Diese und andere Ansichten von Ockham führten sehr bald zu Bedenken unter seinen Ordensbrüdern, und im Jahre 1323 wurde er aufgefordert, einer regionalen Versammlung des Ordens seine Lehre bezüglich der aristotelischen Kategorien zu erläutern. Ein Jahr später musste sich Ockham, da man ihn in Oxford denunziert hatte, am päpstlichen Hof in Avignon vor einer Kommission verantworten, die man zusammengestellt hatte, um seine Sentenzen auf Häresie zu überprüfen. Dieser Kommission, die hauptsächlich aus Thomisten bestand und der auch Lutterell, der ehemalige Kanzler der Universität Oxford, angehörte, gelang es auch nach mehreren Monaten Arbeit nicht, eine überzeugende Anklage gegen ihn zu formulieren. Durch seinen Aufenthalt in Avignon nahm Ockhams philosophischer Lebenslauf jedoch eine völlig neue Wende. Der damalige Papst, Johannes XXII., befand sich mit dem Franziskanerorden bezüglich zwei Fragen, bei denen es um Armut ging, in einem Konflikt. Die eine war die historische Frage, ob Christus und seine Apostel in völliger Armut gelebt hatten, die andere die praktische Frage, ob der Franziskanerorden legitimerweise irgendwelches Eigentum besitzen dürfe. Der heilige Franziskus hatte ein Ideal äußerster Armut verteidigt: Die Ordensbrüder durften über keinerlei Besitz verfügen, niemals Geld anrühren und sollten für Nahrung, Kleidung und Obdach von Almosen abhängen. Der heilige Bonaventura, der reformierende Ordensgeneral, unterschied zwischen Besitz (Eigentum oder Verfügungsgewalt) und Gebrauch (Nutzung). Franziskaner durften Eigentum verwenden, aber nicht besitzen, sei es als Einzelne oder gemeinsam als religiöser Orden. Im Jahre 1279 enthob Papst Nikolaus III. den Franziskanerorden des Besitzes sämtlichen von den Mönchen genutzten Eigentums und nahm es in päpstliche Güterverwaltung. 21 Genauer erörtert wird Ockhams Erkenntnistheorie in Kapitel 4.

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Der Papstpalast in Avignon, wo Ockham vor ein Gericht gestellt wurde und von wo er zum Kaiser floh.

Am Ende des Jahres 1322 verwarf Johannes XXII. diesen Kompromiss und verurteilte die Unterscheidung zwischen Besitz und Nutzung – zumindest für den Fall von Gebrauchsgütern – als scheinheilige Augenwischerei. Ein Jahr später verwarf er auch die franziskanische Lehre, dass Jesus und die Apostel zu ihren Lebzeiten auf jegliches Eigentum verzichtet hätten. Ockham wurde von Michael von Cesena, dem Leiter des Franziskanerordens, der sich ebenfalls in Avignon befand, aufgefordert, die päpstlichen Dekrete mit diesen Verurteilungen zu studieren. Er gelangte zu der Schlussfolgerung, sie seien unmoralisch, absurd und häretisch und er prangerte sie als solche öffentlich an. 1328 floh er zusammen mit Michael aus Avignon, kurz bevor eine päpstliche Bulle herausgegeben wurde, die ihre Lehren als ketzerisch verdammte. Die beiden flohen nach München, wo sie den Schutz Ludwigs des Bayern genossen. Dieser war ein Feind von Johannes XXII., der sich seiner Wahl zum Kaiser entgegengestellt hatte. Ludwig, der im Jahre 1324 exkommuniziert wurde, hatte bei einem allgemeinen Konzil Berufung dagegen eingelegt. Er verwendete den Streit mit den Franziskanern als Grund, um den Papst als Häretiker zu denunzieren. 1328 ging er nach Rom, ließ sich zum Kaiser krönen, verbrannte eine bildliche Darstellung von Johannes und setzte einen Gegenpapst ein. In Rom schloss sich ihm ein philosophischer Verbündeter an, Marsilius von Padua, der frühere Rektor der Universität von Paris. Marsilius

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war wie Ockham gezwungen gewesen, bei Ludwig Zuflucht zu suchen, da er ein Buch geschrieben hatte, das nicht nur einen längeren Angriff auf Johannes XXII., sondern auch auf das Papsttum als Institution enthielt. Das Werk, Defensor Pacis („Der Verteidiger des Friedens“, 1324), wurde zu einem klassischen Text der politischen Philosophie. Es beginnt mit einer Verurteilung der päpstlichen Einmischung in die Angelegenheiten säkularer Staatsorganisationen. Marsilius behauptet, dass Unordnung, Korruption und Krieg, die in Italien vorherrschten, das Ergebnis päpstlicher Arroganz und päpstlichen Ehrgeizes seien. Im weiteren Verlauf des Werkes geht er von regionalen Fragen zu allgemeinen Prinzipien über. Der Staat ist eine „vollkommene“ Gemeinschaft, was bedeuten soll, dass er innerhalb seiner eigenen Sphäre die absolute Herrschaft besitzt und eigenständig ist. Es gibt zwei Arten von Regierung: eine mit der Zustimmung der Untertanen und eine gegen ihren Willen. Nur die erste ist rechtmäßig. Die zweite ist eine Form der Tyrannei. Die Gesetze des Staates leiten ihre Legitimität weder vom Willen des Herrschers noch direkt von Gott ab: Ihre Autorität erhalten sie von den Bürgern selbst. Die konkrete Aufgabe der Gesetzgebung kann an bestimmte Gremien und Institutionen delegiert werden, die sich von Staat zu Staat in vernünftigem Maße unterscheiden können. Der Fürst ist das exekutive Staatsoberhaupt: Das Einverständnis der Bürger mit seiner Herrschaft kommt am besten dadurch zum Ausdruck, wenn er durch eine Wahl bestimmt wird. Es gibt jedoch auch andere Systeme, durch die die Zustimmung der Regierten legitimerweise zum Ausdruck kommt. Ein gegen die Regeln des Staates verstoßender oder unfähiger Fürst sollte durch die gesetzgebende Versammlung seines Amtes enthoben werden. Marsilius’ Buch war äußerst einflussreich. Kein Autor auf der Seite des Papstes konnte ihm etwas von vergleichbar hohem philosophischem Niveau entgegensetzen. Es beeinflusste bis zur lutherischen Reformation sowohl orthodoxe Katholiken als auch Häretiker. Ockham gehörte zu den ersten Philosophen, die seinen Einfluss zu erkennen gaben, und zwar in einer Reihe politischer Abhandlungen, die er in den 1330er Jahren schrieb. Diese Schriften sind weniger systematisch und weniger radikal als die Schrift Defensor Pacis. Die erste von ihnen war das Werk von neunzig Tagen, eine längere Abhandlung, die er 1332 in großer Eile schrieb. Ihr folgte ein Brief an die Franziskaner sowie eine Reihe von Dialogen über die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Obwohl sie in polemischer Absicht verfasst wurden, sind diese Arbeiten „rezitativ“, d. h., sie stellen von päpstlichen Gegnern verwendete Argumente auf („zitieren“ sie), und zwar auf solche Weise, dass Ockham sich dadurch nicht notwendigerweise auf dieselben Schlussfolgerungen festlegt. Wenn wir sie jedoch mit anderen in der ersten Person geschriebenen („behauptenden“) Werken vergleichen, können wir Ockhams eigene Auffassungen daraus zusammensetzen. Der philosophische Kern von Ockhams Position zur Armut der Franziskaner ist eine Theorie natürlicher Rechte. Er unterscheidet zwischen zwei Klassen von Rechten:

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solche, die legitimerweise aufgehoben werden können (wie etwa das Recht auf Privateigentum), und solchen, die nicht entzogen werden können (wie das Recht auf das eigene Leben). Im Garten Eden gab es keinen Besitz. Nach dem Sündenfall wurden Eigentumsrechte durch menschliche Gesetze eingeführt. Privateigentum ist an sich nichts Schlechtes, es muss jedoch – gegen die Auffassung von Papst Johannes – von bloßer Nutzung unterschieden werden. Ein Gastgeber gestattet seinen Gästen, die Lebensmittel und Getränke an seinem Tisch zu nutzen, doch er überträgt sie ihnen nicht als ihren Besitz. Die Franziskaner haben ein Recht auf das zum Leben Notwendige, doch dies bedeutet nicht, dass sie dadurch irgendwelchen Besitz erlangen, da es sich dadurch nur um ein moralisches Recht handelt, nicht um ein solches, das man vor einem Gericht einklagen könnte (OND 6. 260 ff.). Während Marsilius’ Vorstellungen von staatlicher Regierung durch die Bedingungen in den damaligen italienischen Stadtstaaten geprägt waren, sind Ockhams Auffassungen mehr durch die Struktur des Heiligen Römischen Reiches beeinflusst. Die Macht des Kaisers leitet sich seiner Meinung nach nicht vom Papst ab, sondern – über die Versammlung der Kurfürsten – vom Volk. Das Recht, seinen Regenten zu wählen, ist eines der natürlichen Rechte des Menschen. Diese Rechte können durch die Errichtung einer erblichen Monarchie ausgeübt werden, doch der Machtanspruch eines erblichen Monarchen hängt von seiner guten Amtsführung ab, und wenn er seine Macht missbraucht, hat das Volk das Recht, ihn abzusetzen. Trotz seines Streits mit Papst Johannes XXII. stand Ockham der Institution des Papsttums wesentlich weniger feindselig gegenüber als Marsilius. Wie tyrannisch sie sich in der Praxis auch verhalten mochten: Die Päpste hatten nach seiner Meinung eine Obergewalt, die auf göttlichem Recht beruhte. Sie sollten allerdings dennoch als konstitutionelle und nicht als absolute Monarchen angesehen werden. Sie waren allgemeinen Konzilien verantwortlich, die ihrerseits aus regional gewählten Kirchenvertretern bestehen sollten. Ockham konnte zu Lebzeiten seinen Streit mit dem Papst nicht beilegen. Im Jahre 1331 begann Johannes XXII., in seinen hohen 80ern, eine Lehre zu predigen, die man einhellig als häretisch ansah: dass die Seelen derjenigen, die dieses Leben unbescholten verlassen, der selig machenden Gottesschau erst teilhaftig werden, wenn sie nach dem Jüngsten Gericht wieder mit ihrem Leib vereint werden. Damit gab er natürlich seinen franziskanischen Gegnern eine neue Waffe in die Hand, und der Papst wurde 1334 auf seinem Sterbebett gezwungen, diese Lehre zu widerrufen. Der neue Papst, Benedikt XII., erklärte, dass die Seelen der Gerechten direkt nach ihrem Tod bzw. nach einer Zeit im Fegefeuer Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Doch die Verurteilung der andersdenkenden Franziskaner hob Benedikt nicht auf, und Ockham starb 1349, immer noch unter dem Bann der Kirche, während der Pest in München.

Die Rezeption von Ockhams Schriften

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Die Rezeption von Ockhams Schriften Die beiden großen Universitäten des Hochmittelalters waren Paris und Oxford. Während Paris im 13. Jahrhundert zweifellos die bedeutendere der beiden war, kehrte sich die Situation im 14. Jahrhundert um. Die Gelehrten streiten sich darüber, wie groß der Einfluss von Ockham an beiden Universitäten gewesen ist. Mit Sicherheit wäre es übertrieben, wollte man behaupten, es habe jemals eine ockhamistische Schule gegeben. Selbst in Oxford war dies nie der Fall. Andererseits gab es in Paris eine Reihe von Denkern, die bestimmte Themen aus seinen Schriften weiter verfolgten und entwickelten. Gregorius von Rimini, ein augustinischer Mönch, der in den 1340er Jahren in Paris lehrte, akzeptierte Ockhams Naturphilosophie, jedoch nicht seine Logikauffassung. Jean Buridan, ein Mitglied der Artistenfakultät und Rektor der Sorbonne in den Jahren 1328 und 1340, war wie Ockham Nominalist, jedoch im Gegensatz zu ihm wesentlich zuversichtlicher, was die Möglichkeit von Fortschritten bei der wissenschaftlichen Erforschung der Welt betrifft. Er erweckte Philoponos’ Theorie des Impetus zu neuem Leben und war der Lehrer einer Generation hervorragender Physiker. Zu ihnen gehörte auch Nicole Oresme, der die Hypothese, die Erde drehe sich täglich um ihre eigene Achse, untersuchte, ohne sie als wahr zu behaupten. Wie Ockham ist Buridan am besten für eine Aussage bekannt, die nicht von ihm stammt. Bei der Erörterung der Freiheit des Willens, sich zwischen zwei Alternativen zu entscheiden, soll er gesagt haben, dass ein Esel, der zwischen zwei gleichermaßen verlockenden Heuhaufen stünde, unfähig sei, von einem der beiden zu fressen, weshalb „Buridans Esel“ im Zusammenhang mit Unentschlossenheit ständig genannt wird. Zwei weitere französische Denker, die von Ockhams Erkenntnistheorie stark beeinflusst wurden, waren der Zisterzienser Johannes von Mirecourt und der keinem Orden angehörende Domherr Nicolaus von Autrecourt. Beide lehrten in den 1340er Jahren in Paris, und beide waren aufgrund ihrer radikalen Meinungen akademischer und kirchlicher Kritik ausgesetzt. 1347 wurden 41 Aussagen aus Johannes’ Schriften vom Kanzler der Sorbonne verurteilt, und mehr als 50 Thesen von Nicolaus wurden von päpstlichen Gesandten verurteilt. Johannes verteidigte sich in einer Rechtfertigungsschrift, während Nicolaus seine Thesen widerrief und im Amt blieb. Die Erkenntnistheorie von Johannes von Mirecourt basierte auf einer Weiterentwicklung von Ockhams Theorie der Zustimmung. Die Zustimmung zu einer Aussage kann entweder evident sein oder mit Angst vor einem Irrtum erfolgen. Zentrale Wahrheiten der Logik verfügen über ein überaus hohes Maß von Evidenz, doch es gibt auch natürliche Evidenz, die auf der Erfahrung der Welt beruht. Natürliche Evidenz führt nicht auf absolute Gewissheit, außer im Falle der eigenen Existenz, die sich ohne Selbstwiderspruch nicht leugnen lässt. Eine ähnliche Gewissheit lässt sich über die Existenz keiner anderen Entität gewinnen. Selbst die Existenz Gottes lässt sich

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nicht mit Gewissheit beweisen, da die Argumente für seine Existenz auf Tatsachen in der Welt beruhen, die nur mit natürlicher Evidenz ausgestattet sind. Außerdem könnte Gott, selbst wenn außer mir nichts sonst existierte, es durch ein Wunder so erscheinen lassen, dass es eine reale Außenwelt gibt. Wie wir noch sehen werden, nahm Johannes damit fast diejenige Position vorweg, die Descartes zu Beginn seiner zweiten Meditation erreicht. Nicolaus von Autrecourt übernahm eine noch radikalere Form des Skeptizismus. Wenn wir die anschauliche Wahrnehmung als etwas definieren, woran ein „Urteil, dass ein Ding existiert, ob es existiert oder nicht“ beteiligt ist, so können wir niemals sicher sein, dass dasjenige, was den Sinnen erscheint, der Wahrheit entspricht. Wir können uns der Existenz der Objekte der fünf Sinne nicht sicher sein. Eine der verurteilten Behauptungen, die er widerrufen musste, lautete: „Durch natürliche Erscheinungen lässt sich über die Dinge so gut wie keine Gewissheit erreichen.“ Nicolaus schränkte diese skeptische Behauptung jedoch mit dem Hinweis ein, dass sich ein geringes Maß an Gewissheit in kurzer Zeit erreichen ließe, wenn die Menschen ihre Aufmerksamkeit den Dingen selbst zuwenden würden, und nicht der Lektüre von Aristoteles und seinen Kommentatoren (DB 553 ff.). Im Gegensatz zu Johannes sah Nicolaus den Satz „Ich denke, also bin ich“ nicht als Ausweg aus der skeptischen Sackgasse. Mit Sicherheit bewies er nicht die Existenz irgendeines substanziellen Ichs. Selbst den Schluss „Hier ist ein Gedanke eines Intellekts, daher existiert ein Intellekt“ hielt er für alles andere als evident. Keine Form eines kausalen Arguments konnte Gewissheit über die Existenz von irgendetwas irgendwelcher Art liefern. Nicolaus gelangte daher zu der Auffassung, dass nur das Prinzip vom verbotenen Widerspruch eine solide Grundlage für das Wissen lieferte: Und mit solch einer Grundlage kommt man in der Philosophie nicht sehr weit. „Die Existenz eines Dinges“, so lautete eine seiner verurteilten Aussagen, „kann aus der Existenz irgendeines anderen Dinges mit dem angemessenen Grad von Evidenz niemals erschlossen oder bewiesen werden, ebenso wenig die Nichtexistenz eines Dinges aus der Nichtexistenz eines anderen.“ Hier kommt einem mit der modernen Philosophie vertrauten Leser nicht Descartes, sondern Hume in den Sinn. Der Skeptizismus von Nicolaus von Autrecourt wurde in späteren Zeiten, zu Recht oder Unrecht, häufig als Beispiel für die schlimmen Auswüchse genannt, zu denen die Lehren von Ockham führen konnten. Mit ähnlich zweifelhafter Berechtigung wurde er vom logischen Positivismus des 20. Jahrhunderts manchmal als bedeutender Vorgänger gelobt. Nach seinem Tod war die Aufnahme von Ockham in England nicht eindeutig positiv. Selbst seine engen Mitarbeiter, wie etwa Adam Wodeham und Walter Chatton, nahmen Änderungen an seinen Lehren vor, um sie den Hauptströmungen der Scholastik anzunähern. Walter Burley, dessen Karriere sich mit derjenigen von Ockham überschnitt, war einer der wichtigsten englischen Denker der damaligen Zeit. Er bestand 1301 in Oxford das Magisterexamen und legte seine Doktorprüfung in Theologie in den 1320er

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Jahren an der Sorbonne ab. Er war ein Fellow 22 am Merton College und Diplomat im Dienste von Eduard III. Am bekanntesten ist er für seine Abhandlung The Pure Art of Logic (1328), einen der besten logischen Texte, die uns aus dem Mittelalter überliefert sind. In diesem Werk verteidigte er die traditionelle Auffassung der Signifikation und Supposition gegen die Kritik von Ockham. 23

Die Oxforder Calculatoren Im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entwickelte sich unter den Philosophen in Oxford eine Schule, die einen bemerkenswerten Einfluss auf die Geschichte der Physik haben sollte. Zu den bedeutendsten Denkern dieser Schule gehörte Thomas Bradwardine (1295–1349), der zunächst Fellow am Balliol College, dann am Merton College und später der Beichtvater von Eduard III. war. Schließlich wurde er Erzbischof von Canterbury. Andere Mitglieder der Schule, wie William Heytesbury und Richard Swineshead, waren – wie Bradwardine – Fellows am Merton College. Gemeinsam war ihnen eine Vorliebe für die Lösung philosophischer und theologischer Probleme mithilfe mathematischer Methoden, weshalb man sie auch als die Oxforder Calculatoren bezeichnet, nach der Abhandlung Liber Calculationum (1350) von Swineshead. Im Jahre 1328 veröffentlichte Bradwardine ein Werk mit dem Titel De Proportionibus Velocitatum in Motibus („Über die Verhältnisse der Geschwindigkeit in Bewegungen“), in dem er eine Theorie der Verhältniszahlen entwickelte, die er dazu verwendete, eine Theorie darüber aufzustellen, wie Kräfte, Widerstände und Geschwindigkeiten in Bewegungen miteinander korreliert sind. Aristoteles’ Bewegungsgesetze wurden durch diese Theorie schnell verdrängt, und sie war nicht nur in Oxford, sondern auch in Paris einflussreich, wo sie von Oresme übernommen wurde. Auch andere Calculatoren verfassten für die Naturphilosophie wichtige Werke, doch sie widmeten ihre mathematischen Begabungen statt der physikalischen Forschung der Lösung logischer und theologischer Probleme. Mit Minimal- und Maximalwerten zusammenhängende Fragen standen am Anfang von Entwicklungen der Differenzialrechnung, doch sie wurden im Kontext der Frage aufgeworfen, wie viel Zeit man im Gebet zubringen müsse, um das Gebot zu erfüllen, Tag und Nacht zu beten. Die Frage, wie man nicht-quantitative Qualitäten, etwa heiß und kalt, messen kann, wurde zunächst im Zusammenhang der Frage analysiert, wie die Gnade in den Seelen der Gläubigen zunimmt und die Fähigkeit zur Glückseligkeit der Seelen im Himmel gemessen werden kann.

22 Anm. d. Übers.: Als Fellow bezeichnet man im angelsächsischen Sprachraum einen Akademiker, der ein gewähltes, gleichberechtigtes Mitglied der Körperschaft einer Universität ist. An Colleges in Oxford und Cambridge und am Trinity College in Dublin ist die Versammlung der Fellows das oberste Entscheidungsgremium. 23 Siehe Kapitel 3.

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Viele Entwicklungen in der Physik nahmen ihren Ausgang von der Lösung logischer Rätsel oder Trugschlüsse. Hierbei handelte es sich um Aussagen, deren Inhalt doppeldeutig oder paradox war und die Logikstudenten als zu lösende Probleme aufgegeben oder von Magistern der Artistenfakultät gelöst oder eindeutig bestimmt wurden. Eine der scharfsinnigsten Sammlungen dieser Trugschlüsse wurde um 1328 von Richard Kilvington zusammengestellt. Er befand sich zwar nicht selbst am Merton College, war aber mit den anderen Calculatoren als Teil einer Forschungsgruppe, die Richard von Bury, der Bischof von Durham und Justizminister, organisiert hatte, eng verbunden. Kilvington zwar war kein Mathematiker, doch Heytesbury gab seinen Trugschlüssen in seiner Schrift Regulae Solvendi Sophismata (1335), in der er die Theorie der gleichförmigen Beschleunigung entwickelte, schon bald eine mathematische Form. In der Renaissance gerieten Trugschlüsse oder Sophismen in Verruf, doch im 20. Jahrhundert kamen sie wieder in Mode. Zu einer Zeit, als Frankreich eine Republik war, untersuchte Bertrand Russell die Frage, welcher Wahrheitswert dem Satz „Der König von Frankreich hat eine Glatze“ zukommt. Seine Untersuchung führte zu einer sehr einflussreichen logischen Analyse definiter Kennzeichnungen. Auf ähnliche Weise beschreibt Kilvington in seinen Sophismata folgendes Szenario: dass Sokrates so weiß ist, dass er nicht weißer sein könnte, und dass Platon, der bislang nicht weiß ist, zum jetzigen Zeitpunkt beginnt, weiß zu werden. Er untersucht dann den Wahrheitswert des Satzes „Sokrates ist weißer als Platon weiß zu werden beginnt“. Eine natürliche Reaktion könnte darin bestehen, dass man sagt, dieser Satz sei, weit davon entfernt wahr oder falsch zu sein, noch nicht einmal korrekt formuliert. Doch Kilvington erläutert geduldig, was man damit meinen könnte, und im Laufe seiner Darlegung dieser und ähnlicher Rätselfragen unterbreitet er eine Analyse der Begriffe Grad, Verhältnis und Proportion. Thomas Bradwardine, der Altmeister der Calculatoren, war auch ein gewichtiger Theologe. Er war ein führender Vertreter einer anderen Bewegung im Oxford des 14. Jahrhunderts, der Wiederbelebung des Interesses an Augustinus. Selbstverständlich war Augustinus während des gesamten Mittelalters eine Autorität, mit der man ehrfurchtsvoll umging, und man zitierte ihn nicht weniger häufig als Aristoteles. Doch diese neuen Augustinus-Anhänger wie Bradwardine und sein irischer Zeitgenosse Richard Fitzralph (der 1333 Kanzler der Universität Oxford und später Erzbischof von Armagh war) begannen, dem historischen Kontext von Augustinus’ Werk mehr Aufmerksamkeit zu widmen, und sie zeigten ein größeres Interesse an seinen späten Schriften gegen die Pelagianer. In seinem äußerst umfangreichen Werk De Causa Dei bietet Bradwardine eine augustinische Behandlung der Fragen, die mit göttlicher Voraussicht, kontingenten Aussagen über die Zukunft und der Freiheit des menschlichen Willens zusammenhängen.

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John Wyclif Die herausragendste Gestalt dieser augustinischen Renaissance war John Wyclif (1330?–1384), der zugleich die realistische Reaktion gegen den Nominalismus der Anhänger von Ockham anführte. Um die Mitte des Jahrhunderts war er die bekannteste Persönlichkeit der Universität. Sein Leben folgte einem Muster, das sich in der Geschichte von Oxford wiederholt findet und für das John Wesley und John Henry Newman zwei weitere Beispiele liefern. In der Mitte des 14., im 18. und im 19. Jahrhundert war das bedeutendste Ereignis in der religiösen Geschichte der Universität der Abfall eines ihrer beliebtesten Söhne vom geistlichen Establishment. 24 Wie Wesley und Newman war Wyclif ein prächtiges Beispiel für die Qualität der Oxforder Schulen. Er war ein Mann, der unter seinen Zeitgenossen durch seine Gelehrsamkeit und die nüchterne Strenge seines Lebenswandels hervorstach. Wie sie sammelte er eine Gruppe von Schülern um sich, und es sah so aus, als werde er durch seinen persönlichen Einfluss und seinen Ruf die Denkrichtung an der Universität und ihre Gepflogenheiten beeinflussen. Wie sie fand er zu einer Lehrmeinung, die seine engsten theologischen Verbündeten entfremdete und den Verdacht seiner Kritiker bestätigte. Nachdem er wie sie aus Oxford ausgewiesen wurde, setzte er seine geistliche Mission andernorts fort und warf nur noch selten einen wehmütigen Blick auf die fernen Türme seiner Heimatuniversität zurück, wo er als junger Mann seine Laufbahn so vielversprechend begonnen hatte. Wyclif ging in den 1350er Jahren nach Oxford und obwohl er zeitweilig durch Staatsdienste – bei einer Gelegenheit in der Rolle eines Gesandten, bei einer anderen als Berater des Parlaments – davon abgelenkt wurde, verbrachte er sein Leben hauptsächlich mit Unterrichten, Predigen und Schreiben. Zwischen 1360, als er der Master von Balliol College war, und 1372, dem Jahr, in dem er den theologischen Doktorgrad erwarb, verfasste er eine philosophische Summa, deren wichtigster Band eine Abhandlung über Allgemeinbegriffe ist und die dazu bestimmt war, den Universalienrealismus gegen die nominalistischen Sophismen zu verteidigen. In seinen reifen Jahren schrieb er eine theologische Summa, die mit zwei Büchern banaler Orthodoxie begann, der mehrere Bände robuster Neuerungen folgten und die dann in offene Häresie überging und schließlich mit fruchtloser Polemik endete. Die Bände dieses Werkes deckten das gesamte Spektrum der mittelalterlichen Theologie ab. Drei von ihnen behandelten Rechts- und Eigentumsfragen. Sie schlugen die kontroversen Thesen vor, dass sündigen Klerikern der Unterhalt entzogen werden sollte und dass auch sündige Laien kein Recht auf den Besitz von Eigentum hatten. Mehrere andere Bände, über die Kirche, das König- und das Papsttum analysierten die Struktur der christlichen Kirche und Gesellschaft, prangerten Missstände an and schlugen Reformen vor. In einem seiner letzten Werke, über die Eucharistie, legte er eine neue Interpretation der Messe vor, des Zentrums der mittelalterlichen Spiritualität. 24 Vgl. hierzu R. A. Knox, Enthusiasm (Oxford: Oxford University Press, 1948), 66.

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John Wyclif in einem illuminierten Großbuchstaben.

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Eine von Wyclifs aufsehenerregendsten Neuerungen war, dass er – basierend auf seiner Theorie des dominiums oder Eigentumsrechts – für den Kommunismus eintrat. Er argumentierte auf folgende Weise: Einerseits hat niemand, der der Sünde verfallen ist, ein Recht auf Eigentum. Man kann etwas nur dann rechtmäßig besitzen, wenn man es gerecht nutzen kann, doch kein Sünder ist dazu in der Lage, da alle seine Handlungen sündhaft sind. Andererseits erbt man, wenn man sich im Zustand der Gnade befindet, als von Gott angenommenes Kind das ganze Reich Gottes. Wenn aber jeder Christ im Zustand der Gnade Herr über alles ist, muss er seine Herrschaft mit allen anderen Christen im Gnadenzustand teilen. „Alle Güter Gottes sollten Gemeineigentum sein. Dies wird folgendermaßen bewiesen. Jeder Mensch sollte sich im Zustand der Gnade befinden, und wenn er sich im Gnadenzustand befindet, ist er Herr der Welt und all ihrer Güter. Jeder Mensch sollte Herr des Universums sein. Doch ist dies damit, dass es mehrere Menschen gibt, nur dann vereinbar, wenn sie alles gemeinsam besitzen. Daher sollten alle Dinge Gemeineigentum sein.“ 25

Erstaunlicherweise haben Wyclifs Schriften über das Eigentumsrecht ihn trotz ihrer Radikalität zu seinen Lebzeiten anscheinend nicht in Schwierigkeiten mit den Obrigkeiten gebracht. Die Inhaber der säkularen Macht argumentierten mit ihrer Hilfe für die Besteuerung des Klerus, und sie ignorierten ihre Bedeutung für die Laien. Die zunehmende Kühnheit von Wyclifs Spekulationen hatte jedoch zur Folge, dass seine Position in Oxford immer unhaltbarer wurde. Als er die Päpste denunzierte und päpstliche Behauptungen infrage stellte, konnte er – zu einer Zeit, als ein schmachvolles Schisma die Christenheit spaltete – selbst unter dem höheren Klerus Gleichgesinnte finden. Als er, als keinem Orden angehörender Priester, der mehrere Privilegien genoss, die Enteignung der Kirche forderte, sagten seine Worte vielen Laien und Mönche in Bettelorden zu. Als er jedoch 1379 die Lehre von der Transsubstantiation angriff und behauptete, Brot und Wein seien während der Messe Christi Leib nur in demselben Sinne, in dem das Papier und die Tinte der Bibel das Wort Gottes sind, wendeten sich Mönche, Adelige und Bischöfe alle geschlossen gegen ihn. Er wurde auf einer regionalen Synode verurteilt und aus Oxford verwiesen. Er verbrachte den Rest seines Lebens, zwar in Freiheit, aber in Ungnade gefallen, in Lutterworth in Northamptonshire auf dem Lande. Nach seinem Tod war Wyclifs Einfluss stärker als zu Lebzeiten. In den nachfolgenden Jahrzehnten brachten seine englischen Anhänger, die Lollarden, unter seinem Namen eine englische Übersetzung der Bibel in Umlauf. Bezüglich der Frage, wieweit er selbst an dieser Übersetzung beteiligt war, besteht keine Einigkeit, doch es ist diese Bibel, wofür er – zu Recht oder zu Unrecht – bis in die neuere Zeit am bekanntesten war. Im Ausland wurde die Erinnerung an ihn durch die Anhänger von Jan Hus wach25 Zitiert nach: J. Wyclif, De Civili Dominio, ed. R. L. Poole (1885), 96.

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gehalten. Nachdem das Schisma auf dem Konzil von Konstanz im Jahre 1415 endgültig beendet wurde, verbrannte die offizielle Kirche Hus als Ketzer und verdammte 260 von Wyclifs Aussagen. In England wurde sein Leichnam exhumiert und verbrannt. Weil man ihn mit der Lollarden-Bibel in Zusammenhang brachte und aufgrund seiner Angriffe auf die Transsubstantiation und das Papsttum wurde Wyclif von protestantischen Hagiografen als Morgenstern der Reformation gefeiert. Von Philosophen wurden seine Werke kaum gelesen: Protestantische Denker stießen deren scholastische Elemente ab, von denen uns, so glaubt man, die Reformation befreit hatte, während katholische Gelehrte meinten, sie könnten die Texte eines Ketzers ignorieren, solange man noch auf kritische Ausgaben der Schriften heiliger Genies wartete. Doch in den letzten Jahren erkannten Philosophen, die sich mit seinem Werk beschäftigt haben, dass er ein bedeutsamer Denker war, ein würdiger Dritter zu seinen beiden großen Oxforder Vorgängern: der Abendstern der Scholastik.

Außerhalb der Grenzen von Paris und Oxford Wyclifs akademische Laufbahn fiel in eine Zeit, in der Oxford vom Rest Europas immer mehr abgeschnitten wurde. Scotus und Ockham waren in Paris ebenso bekannt wie in Oxford, und beide verbrachten längere Zeiten auf dem Kontinent. Wyclif blieb hingegen, mit Ausnahme eines kurzen Auslandsaufenthaltes, in England. Latein war weiterhin das Medium des akademischen Gedankenaustauschs, doch in allen europäischen Ländern blühte die Literatur in der jeweiligen Volkssprache auf, und Latein war für die besten Autoren unter Wyclifs Zeitgenossen, etwa für Chaucer und Langland, nicht mehr die Sprache ihrer Wahl. Hinzu kam, dass der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich auch eine Barriere zwischen Oxford und Paris errichtete. Beide Universitäten gingen, durch den fehlenden Austausch ärmer, ihrer getrennten Wege. Am Ende des 14. Jahrhunderts begannen in verschiedenen Teilen Europas neue Universitäten aufzublühen. Das Gründungsdatum der Karls-Universität in Prag fällt in das Jahr 1347. Im Jahre 1402 fanden die Streitgespräche zwischen den Anhängern von Ockham und Wyclif, die an ihren Schulen ausgetragen wurden, überall in Europa einen Widerhall. Die Universität Heidelberg wurde durch eine päpstliche Bulle im Jahre 1385 ins Leben gerufen, und ihr erster Rektor war Marsilius von Inghen, der vorher bereits Rektor der Universität von Paris gewesen war. 1399 erhielt die Universität von Padua ihre ersten Gebäude. 1400 wurde die Charta der Jagiellonen-Universität in Krakau unterzeichnet. St Andrews, die älteste Universität Schottlands, wurde 1410 gegründet, zu einer Zeit, als Schottland und England während der Kirchenspaltung verschiedenen Päpsten die Treue hielten. Die erste Universität der Niederlande wurde 1425 in Löwen gegründet. Es entstand ein neues internationales Netzwerk von Universitäten, das die alte enge Partnerschaft zwischen Paris und Oxford ablöste. In den Jahrzehnten um das

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Jahr 1500 studierte zum Beispiel eine Gruppe schottischer Gelehrter, deren zentrale Figur John Major oder Mair war und der später Rektor der Universität Glasgow wurde, gemeinsam an der Universität von Paris. Sie leisteten bedeutsame Beiträge zur Logik und Erkenntnistheorie, von denen ein Forscher erst kürzlich erklärte, sie seien zweifellos ebenbürtig mit der schottischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. 26 Gleichzeitig wurde außerhalb der Universitäten eine sehr verschiedene Art von Philosophie praktiziert. Diese Aufspaltung zwischen zwei Philosophiestilen sollte ernste, längerfristige Konsequenzen für die nichtakademische Welt haben. Während Duns Scotus zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Paris seine Vorlesungen hielt, lehrte dort auch ein anderer genialer Philosoph, der deutsche Dominikaner Meister Eckhart. Meister Eckhart erwarb später an der Universität Köln einen bedeutenden Ruf als Prediger und Dozent, und wenn man Scotus als ersten Vertreter der analytischen Tradition des Philosophierens im 14. Jahrhundert ansehen darf, kann Eckhart als Gründungsvater einer alternativen, mystischen Tradition gelten. Die erbaulichen Schriften der Denker dieser Tradition – die Devotio Moderna von Eckharts Schülern Johannes Tauler und Heinrich Seuse – gehören nicht zur Geschichte der Philosophie. Von Interesse für den Philosophiehistoriker ist jedoch die Tatsache, dass diese Schule eine anti-intellektuelle Grundhaltung hatte. Ein Niederländer namens Gerard Groote (1340–84) gründete in Deventer eine fromme Vereinigung, die sich als Brüder vom gemeinsamen Leben bezeichneten. Die Regeln, die er für diese Bruderschaft aufstellte, enthielten einen Angriff auf das gesamte akademische System. Nur ein Freidenker könne an einer Universität glücklich werden, und Disputationen und akademische Grade förderten lediglich die Prahlerei. Die Deventer-Bruderschaft führte zur Entstehung einer Kongregation normaler Kanoniker, die in Windesheim ihren Sitz hatte. Der bekannteste der Windesheimer Kanoniker war Thomas von Kempen, der aller Wahrscheinlichkeit nach der Autor der Nachfolge Christi ist, eines Klassikers der christlichen Erbauungsliteratur, der geschrieben wurde, als man Wyclif postum verdammte. Dieses Werk enthält eine scharfe Verurteilung der scholastischen Philosophie und Theologie: „Was nützt es dir, über die Dreieinigkeit hochgelehrt streiten zu können, wenn du die Demut nicht hast, ohne die du der Dreieinigkeit mißfällst? […] Es ist mir ungleich lieber, ein lebendiges Gefühl der Reue und Buße im Herzen zu haben, als eine schulgerechte Erklärung geben zu können, was Reue und Buße sei. […] O Eitelkeit der Eitelkeiten! – Alles ist eitel, außer Gott lieben und ihm allein dienen. […] Laß’ ab von überspannter Wißbegier: denn es ist viel Zerstreuung und Trug dabei […]. Sei nicht verstiegen, sondern bekenne lieber deine Unwissenheit.“ 27

26 Vgl. A. Broadie, The Circle of John Mair (Oxford: Oxford University Press, 1985) sowie Notion and Object (Oxford: Oxford University Press, 1989). 27 Zitiert nach: Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi, übersetzt von J. M. Sailers und bearbeitet von W. Kröber (Stuttgart: Reclam, 1976), 9 ff.

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Die Tradition von Deventer und Windesheim florierte bis weit in das 16. Jahrhundert hinein und war eine der Kräfte, die in diesem Jahrhundert zur Abwertung der Scholastik beitrugen. Der junge Erasmus war ein Schüler der Brüder vom gemeinsamen Leben und eine Zeit lang ein widerstrebender Kanoniker der Windesheimer Kongregation. Auch Luther wurde durch diesen mystischen Antiintellektualismus beeinflusst, und dieser war eine der Energiequellen für seine Angriffe auf den mittelalterlichen Aristotelismus. Ein Denker des 15. Jahrhunderts überbrückte den Gegensatz zwischen der analytisch-skeptischen und mystisch-fideistischen Tradition. Dies war Nikolaus von Kues, der in Kues in der Nähe von Koblenz an der Mosel geboren wurde. Auch er war ein Schüler der Deventer-Gemeinschaft. Später studierte er in Heidelberg und Padua. 1432 war er Gesandter auf dem Konzil von Basel, das den Höhepunkt der Behauptung der Autorität allgemeiner Konzilien gegenüber der Vormachtstellung des Papstes markierte. Später war er Anhänger des päpstlichen Lagers und wurde Diplomat im Dienst von Papst Eugenius IV. 1448 wurde er zum Kardinal ernannt und war von 1451 bis 1452 päpstlicher Gesandter in Deutschland. Er starb 1464 in Todi in Umbrien. Nikolaus war ein frommer und wohltätiger Mann, ein engagierter Kirchenreformer und Anhänger der Ökumene. Während seines gesamten Lebens verfolgte er das Ziel der Versöhnung: zwischen den Konziliaristen und Papstanhängern innerhalb der römischen Kirche, zwischen der lateinischen und griechischen Kirche, der scholastischen und mystischen Theologie sowie zwischen dem christlichen und heidnischen Denken. Er vertrat die Ansicht, dass die Namen, mit denen Juden, Griechen, Lateiner, Türken und Sarazenen Gott benennen, einander gleichwertig waren und in dem Tetragrammaton, dem Namen, den Gott selbst offenbart hatte, versöhnt werden konnten (Sermo 1. 6. 14). Nikolaus schrieb, wie die Oxforder Calculatoren, über mathematische Themen, doch sein bekanntestes philosophisches Werk, zugleich sein erstes, war die 1440 verfasste Abhandlung De Docta Ignoratia („Über die belehrte Unwissenheit“). Der Kerngedanke dieses Werkes ist, dass Gott die Einheit der Gegensätze ist, eine höchste und unendliche Synthese der Gegensätze. Wann immer wir auf Gott ein Prädikat anwenden, können wir mit gleichem Recht das Gegenteil auf ihn anwenden. Wenn Gott das größte Wesen ist, ist er auch das geringste: Er ist Maximum und Minimum, da nichts größer sein kann als er, doch gleichzeitig fehlt ihm auch jede Größe und jedes Ausmaß. Die Tatsache, dass in Gott die Gegensätze zusammenfallen, zeigt, wie unmöglich es für uns ist, irgendein wirkliches Wissen über ihn zu erlangen. Rationale Versuche, die letzte Wahrheit zu erreichen, gleichen einem in einen Kreis eingeschriebenen Vieleck. Wie viele Seiten wir ihm auch hinzufügen mögen: Es wird mit dem Umfang des Kreises niemals zusammenfallen, wie nah es ihm auch kommen mag. 28

28 Nikolaus von Kues’ Theologie wird in Kapitel 9 erörtert.

Platonismus in der Renaissance

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Platonismus in der Renaissance Nikolaus von Kues wird häufig als Übergangsgestalt zwischen dem Mittelalter und der Renaissance beschrieben. Tatsächlich fiel die Entstehung der Schrift Über die belehrte Unwissenheit mit einem der einflussreichsten Ereignisse der Renaissance zusammen: dem Konzil von Florenz im Jahre 1439. Das byzantinische griechische Reich von Konstantinopel ersuchte – bedroht von der überwältigenden militärischen Macht des Osmanischen Reiches – die Hilfe der Christenheit des Westens. Der Papst, der aus Venedig stammende Eugenius IV., machte die theologische Einheit zur Bedingung eines Kreuzzugs, und Kaiser Johannes VIII. und der Patriarch von Konstantinopel nahmen an einem Konzil in Ferrara und Florenz teil, um die Einheit der lateinischen und griechischen Kirche wiederherzustellen. Ihre Anwesenheit in Florenz wurde in Benozzo Gozzolis Fresken zur Anbetung der Drei Weisen im Palazzo Medici-Ricardi, auf denen Porträts der wichtigsten Teilnehmer dargestellt sind, verewigt. Die Einheit der christlichen Kirchen, die durch das Dekret Laetentur Caeli, auf das sich der Papst, der Kaiser und der Patriarch 1439 einigten, verkündigt wurde, stellte sich wie ihre Vorläuferin aus dem Jahr 1270 als kurzlebig heraus. Die Folgen des Konzils für die Geschichte der Philosophie waren jedoch von längerer Dauer. In Florenz war es schon vorher zur Wiederbelebung des Studiums der antiken Klassiker gekommen: des „Humanismus“, dies nicht verstanden als Interesse an der Menschheit, sondern im Sinne einer Zuwendung zu den Geisteswissenschaften. Eine Erscheinungsform dieser Rückbesinnung war die Bewunderung des Stils der klassischen römischen Autoren sowie eine entsprechende Abneigung gegen das scholastische Latein. Leonardo Bruni, ein höherer florentinischer Staatsbeamter, übersetzte in den 1430er Jahren wichtige Texte von Aristoteles in eleganteres Latein. Außer dem Wunsch nach neuen Übersetzungen der griechischen Klassiker hatten viele Gebildete ein starkes Verlangen danach, Griechisch selbst zu lernen und Platon, Aristoteles und die anderen antiken Denker in ihrer Originalsprache zu lesen. Seit 1396 wurde in Florenz regelmäßig eine kleine Zahl Ausgewählter im Griechischen unterrichtet. Die Anwesenheit von osteuropäischen Gelehrten auf dem Konzil von Florenz gab dieser Bewegung weiteren Auftrieb. Zu den Teilnehmern des Konzils gehörten Georgios Gemistos Plethon (1360–1452), ein führender Platoniker, sein Schüler Bessarion (1403–1472) und der Aristoteliker Georg von Trapezunt (1395–1484). Im Anschluss an das Konzil kehrte von diesen dreien nur Plethon, der ein Gegner der Kircheneinheit war, nach Griechenland zurück. Die anderen blieben in Rom, wo Georg ein päpstlicher Sekretär und Bessarion Kardinal wurde. Während des Konzils verglich Plethon in Vorlesungen die Vorzüge von Platon und Aristoteles. Seiner Meinung nach wurde Aristoteles von lateinischen Philosophen weit überschätzt. Platon sei eindeutig der Vorzug zu geben: Er glaubte an einen Schöpfergott, nicht nur an einen ersten Beweger, und er glaubte an eine wahrhaft unsterbliche Seele. Aristoteles’ Auffassung über die Ideen war verfehlt, ebenso wie

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seine Lehre, dass die Tugend in der Einhaltung der Mitte zwischen zwei Extremen bestehe und dass Glück mit Kontemplation gleichgesetzt werden könne. Plethons Angriff provozierte Reaktionen von Griechen und Lateinern. Georgios Scholarios, ein Bewunderer Thomas von Aquins, der in Florenz die Einheit der Kirchen unterstützt hatte, war später desillusioniert und kehrte nach Konstantinopel zurück, wo er schließlich Patriarch wurde. 1445 schrieb er eine Verteidigung des Aristoteles gegen diejenigen, die Platon den Vorzug gaben. Obwohl Aristoteles glaubte, dass es die Welt ewig gegeben habe, nahm er dennoch an, Gott sei ihre Wirkursache. Er glaubte auch, dass die Seele des Menschen unsterblich und unzerstörbar sei. Im Vergleich zu Platon sei er der klarere und wesentlich systematischere Philosoph gewesen. Scholarios war der Überzeugung – vielleicht zu Recht –, dass Plethon kein Christ sei, sondern ein neuplatonischer Heide, und nach dessen Tod ließ er seine Werke öffentlich verbrennen. Eine besonders leidenschaftliche Verteidigung von Aristoteles trug Georg von Trapezunt vor, der zur selben Zeit für Papst Nikolaus V. Werke von Platon und Aristoteles sowie zahlreicher Kirchenväter übersetzte. Sein Vergleich von Platon und Aristoteles (1458) macht aus Aristoteles einen christlichen Helden und aus Platon einen ketzerischen Bösewicht. Georg behauptet, Aristoteles habe an eine Schöpfung aus dem Nichts, an die göttliche Vorsehung und die Trinität der göttlichen Person geglaubt. Im Gegensatz dazu trage Platon so abstoßende Lehren vor wie die Schönheit der Knabenliebe und die Wanderung von Seelen in Tiere, und er ermutige beide Geschlechter zu gemeinsamen Leibesübungen in nacktem Zustand. Die Bewunderung Platons habe die griechische Kirche in Häresie und Spaltung geführt, während die lateinischen Aristoteliker die Philosophie mit dem rechten Glauben verbunden hätten. Nur Gelehrte, denen es mehr um Stil als um Inhalt ging, konnten Platon Aristoteles vorziehen. Um das Gleichgewicht wiederherzustellen, schalteten sich zwei Kardinäle in den Streit ein. Nikolaus von Kues, für den Georg Platons Parmenides übersetzt hatte, schrieb einen Dialog mit dem Titel De non aliud („Vom Nichtanderen“), in dem er die Grenzen sowohl der aristotelischen Logik als auch der platonischen Metaphysik hervorhob, während er versuchte, mit dem Ziel der Erkenntnis Gottes, des göttlichen Nichtanderen, auf beiden aufzubauen. Auf nüchternere Art verfasste Bessarion eine auf Griechisch und Latein veröffentlichte Abhandlung mit dem Titel In Calumniatorem Platonis („Gegen die Verleumder Platons“). Er wies darauf hin, dass viele christliche Heilige Platon bewundert hatten. Während weder Platon noch Aristoteles mit der Lehre des Christentums völlig übereinstimmten, gebe es nur wenige Streitpunkte zwischen ihnen, und zwischen Platon und Aristoteles bestünden ebenso viele Ähnlichkeiten wie zwischen Aristoteles und dem Christentum. Er sagte, Aristoteles habe, entgegen der Meinung von Georg von Trapezunt, nicht geglaubt, dass Gott die Welt frei aus dem Nichts erschaffen habe, und Platon stehe dem christlichen Glauben an die göttliche Vorsehung wesentlich näher. Außerdem habe Aristoteles nicht bewiesen, dass die Seele jedes einzelnen Menschen unsterblich

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sei. Die Art und Weise, auf die Aristoteles die Begriffsbildung durch den Einfluss des aktiven Intellekts erkläre, stehe Platons Theorie der menschlichen Erfassung der Ideen durch Wiedererinnerung sehr nahe. Bessarion stellte den von Georg zitierten unzüchtigen Passagen aus den Dialogen andere gegenüber, in denen Platon zu Keuschheit und Tugend aufruft. Platon und Aristoteles seien herausragende Denker gewesen, den Menschen von der Vorsehung geschickt, um sie auf verschiedenen Wegen zur Wahrheit zu führen. Platons Anthropologie zeigte für Bessarion deutlicher, wie das Leben ohne Erbsünde hätte sein können, während Aristoteles eine realistische Sicht der gefallenen Menschheit hat. In den 1460er Jahren wurde allgemein anerkannt, dass das Studium Platons für einen katholischen Gelehrten im westlichen Reich nicht unschicklich sei. Nachdem Konstantinopel 1453 an die Türken gefallen war, kam es zu einem Zustrom von Flüchtlingen, die nicht nur ihre eigene Kenntnis des klassischen Griechisch, sondern auch wertvolle Manuskripte antiker Autoren mitbrachten, die in Rom ebenso wie in Florenz willkommen waren. Cosimo de’ Medici beauftragte seinen Hofphilosophen Marsilio Ficino mit der Übersetzung der gesammelten Werke Platons. Die Arbeit war gegen 1469 abgeschlossen, als Lorenzo il Magnifico (Lorenzo der Prächtige) die Führung der Medici-Familie übernahm. Lorenzo sammelte in seiner neuen Biblioteca Laurenziana griechische Manuskripte, ebenso wie Papst Nikolaus V. und seine Nachfolger in der neugegründeten Bibliothek des Vatikans. Marsilio Ficino sammelte in Careggi in der Nähe von Florenz eine Gruppe wohlhabender Studenten Platons um sich, die er als seine Akademie bezeichnete. Zusätzlich zu Platon übersetzte er Werke von Proklos und Plotin sowie das Corpus Hermeticum, eine Sammlung antiker Schriften zur Alchemie und Astrologie. Außerdem schrieb er Kommentare zu vier wichtigen Dialogen Platons und zu Plotins Enneaden. Darüber hinaus verfasste er eine Reihe kürzerer eigener Abhandlungen sowie ein größeres Werk, die Theologia Platonica (1474), in der er seine eigene neuplatonische Auffassung vom Ursprung und der Bestimmung der Seele darlegte. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, die platonischen Elemente der scholastischen Tradition mit einer literarischen und historischen Würdigung ihrer Ursprünge in der antiken Welt zu verbinden. Er hielt auch die heidnische platonische Tradition für göttlich inspiriert und glaubte, dass ihre Einbeziehung in den theologischen Unterricht unerlässlich sei, wenn die christliche Religion für die neuen humanistischen Intellektuellen attraktiv sein sollte. So setzte er beispielsweise die Liebe, von der Paulus im ersten Korintherbrief spricht, mit dem Eros im Phaidros gleich und den christlichen Gott mit der Idee des Guten in der Politeia. Der bedeutendste von Ficinos platonischen Gefährten war Giovanni Pico, der Graf von Mirandola (1463–1494). Pico hatte in Latein und Griechisch eine gute Ausbildung bekommen und Griechisch und Hebräisch schon in jungen Jahren gelernt, und zusätzlich zum Studium des Corpus Hermeticum beschäftigte er sich ernsthaft mit der Kabbala, d. h. der mystischen Tradition des Judentums. Er wollte griechisches, jüdisches, islamisches und christliches Denken auf eklektische Weise zu einer umfas-

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Es gibt nur wenige Porträts von Kardinal Bessarion. In diesem Gemälde von Gentile Bellini wird er von dem reich verzierten Reliquienschrein, den er einer venezianischen Brudergemeinschaft übergibt, fast erdrückt.

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senden platonischen Synthese zusammenführen. Er formulierte diese Synthese in 900 Sätzen und lud 1487 alle interessierten Gelehrten ein, sie mit ihm in einer öffentlichen Disputation in Rom zu diskutieren. Papst Innozenz VIII. verbot diese Disputation und setzte ein Komitee ein, das die Thesen auf Häresie überprüfen sollte. Zu den verurteilten Aussagen gehört auch folgende: „Es gibt keinen Zweig der Wissenschaft, der uns eine größere Gewissheit über die Göttlichkeit Christi gibt, als Zauberei und Kabbala.“ Die Rede, die Pico zur Einführung der verbotenen Disputation vorbereitet hatte, ist uns unter dem Titel Über die Würde des Menschen erhalten geblieben. Zur Beschreibung der Schöpfung zitiert Pico zu gleichen Teilen das Buch Genesis und Platons Timaios, und er stellt sich vor, dass Gott den neu geschaffenen Menschen folgendermaßen anredet: „Die Natur anderer Wesen ist begrenzt und auf die von Uns vorgeschriebenen Grenzen eingeschränkt. Du, der du durch keine Grenzen eingeschränkt bist, sollst für dich selbst, in Übereinstimmung mit deinem eigenen freien Willen, in dessen Hände Wir dich gelegt haben, die Grenzen deiner Natur für dich selbst festlegen. Wir haben dich ins Zentrum der Welt gestellt, damit du von dort umso leichter erkennen kannst, was immer es in der Welt gibt. Wir haben dich weder vom Himmel noch von der Erde erschaffen, weder sterblich noch unsterblich, damit du dir selbst, als seiest du der Schöpfer und Gestalter deiner selbst, mit Freiheit der Wahl und Ehre die Gestalt gibst, die du vorziehst. Du sollst die Macht haben zu niederen Formen des Lebens, die tierisch sind, herabzusinken. Du sollst die Macht haben, nach dem Urteil deiner Seele, in den höheren Formen, die göttlich sind, wiedergeboren zu werden.“ 29

Pico sieht den Menschen zum Zeitpunkt seiner Geburt als ein Wesen mit unbegrenzten Möglichkeiten, das die Anlagen zu vielen Lebensformen in sich enthält. Je nachdem, welche Anlagen ein Mensch entwickelt, kann er eine Pflanze, ein Tier, ein rationaler Geist oder ein Sohn Gottes werden. Man kann sich sogar in sich selbst zurückziehen und in einsamer Dunkelheit mit Gott eins werden. Pico verfolgte in seinen Schriften konsequent das Ziel, die Kräfte und Möglichkeiten der menschlichen Natur zu verherrlichen. Aus diesem Grund verteidigte er die Verwendung der Alchemie und symbolischer Rituale: Hierbei handelte es sich um zulässige Formen von Zauberei, die von Schwarzer Magie, bei der die Hilfe von Dämonen angerufen wird, streng zu unterscheiden ist. Doch konnte man nicht allen wissenschaftlichen Behauptungen der antiken Autoren Glauben schenken. Pico schrieb zwölf Bücher gegen die Astrologie: Die Himmelskörper konnten den Leib des Menschen beeinflussen, jedoch nicht seinen Geist, und niemand konnte die Bewegungen und Kräfte der Sterne gut genug kennen, um ein Horoskop zu erstellen. 29 E. Cassirer et al., The Renaissance Philosophy of Man (Chicago: Chicago University Press, 1959), 225.

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Man musste die Astrologie bekämpfen, da der von ihr behauptete Determinismus die menschliche Freiheit einschränkte; „Weiße Magie“ sollte hingegen betrieben werden, da sie den Menschen zum „Herrn und Meister“ der Schöpfung macht. Picos Beschwörung der Würde des Menschen war ein Vorläufer von Hamlets Lobgesang: „Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! wie edel durch Vernunft! wie unbegrenzt an Fähigkeiten! in Gestalt und Bewegung wie bedeutend und wunderwürdig! im Handeln wie ähnlich einem Engel! im Begreifen wie ähnlich einem Gott! die Zierde der Welt! das Vorbild der Lebendigen!“ 30

Trotz seiner unorthodoxen Ansichten und seiner Schwierigkeiten mit den kirchlichen Autoritäten bewunderte ihn Thomas Morus sehr, der als junger Mann eine Darstellung seines Lebens verfasste und ihn Laien als Modell der Frömmigkeit vorhielt. Pico fand tatsächlich ein frommes Ende. Als Savonarola, nachdem er die Medici aus Florenz vertrieben hatte, die Stadt zu einer religiösen Republik machte, wurde Pico einer seiner Anhänger und trug sich mit dem Gedanken, Mönch zu werden. Bevor er jedoch seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, starb er im Alter von 31 Jahren. Zuletzt arbeitete er an einem Buch, in dem er versuchte, die Metaphysik Platons und Aristoteles’ in Einklang zu bringen.

Aristotelismus in der Renaissance In den 1490er Jahren, während die Platoniker Aristoteles gegenüber eine versöhnliche Haltung zeigten, kam es in Padua zu einer kraftvollen Wiederbelebung des Aristotelismus, und zwar in averroistischer und thomistischer Form. 1486 hatte der Dominikanerorden die Sentenzen von Petrus Lombardus, die an seinen Schulen als grundlegender Text für Vorlesungen dienten, durch die Summa Theologiae des heiligen Thomas ersetzt, was während der Renaissance zu einer Wiederbelebung des Thomismus führte. In Padua hatte zunächst die Fraktion der Averroisten die Oberhand. Die beiden führenden Dozenten, Nicoletto Vernia (gest. 1499) und sein Schüler Agostino Nifo (1473–1538), erstellten je eigene Ausgaben von Averroes’ Kommentar und verteidigten die averroistische Position, dass es für alle einzelnen Menschen nur einen einzigen unsterblichen Intellekt gebe. Im Jahre 1491 kam jedoch einer der bedeutendsten Thomisten aller Zeiten nach Padua: der Dominikaner Thomas de Vio, der nach der lateinischen Version von Gaeta, der Stadt, in der er geboren wurde und später Bischof war, stets Kajetan genannt wurde. Kajetan schrieb Kommentare zu mehreren von Aristoteles’ Werken, einschließ30 Zitiert nach: W. Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden, übersetzt von A. W. Schlegel, Band 4 (Berlin: Aufbau Verlag, 1975), 264 f.

Aristotelismus in der Renaissance

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lich De Anima, doch am bekanntesten ist er für seine Kommentare zu Thomas von Aquin. Den ersten schrieb er in den 1490er Jahren in Padua über De Ente et Essentia. Später verfasste er einen Kommentar zur gesamten Summa Theologiae. Obwohl sie nicht immer leicht zu lesen sind, werden diese Kommentare von Thomisten auch heute noch sehr geschätzt. Besonders einflussreich war ein kleiner Traktat zur Analogie, der die verschiedenen Arten von Analogie, die sich in den verstreuten Bemerkungen von Aristoteles und Thomas finden, systematisierte und klassifizierte. Zwischen 1495 und 1497 war Kajetan Professor für thomistische Metaphysik an der Universität Padua. 31 Obwohl Kajetan ein wohlwollender Kommentator war, hatte er keine Angst, Thomas zu widersprechen. Er gelangte zu der Überzeugung, dass Aristoteles keine individuelle Unsterblichkeit behauptet habe und dass sie mit der natürlichen Vernunft allein nicht erkannt werden könne. 32 Dies war auch die Ansicht von Pietro Pompanazzi, des kultivierten und hochgebildeten Gelehrten, der schließlich Leiter der Aristoteliker von Padua wurde. In seinem Buch De Immortalitate Animae behauptete er, der Glaube, die Seele könne den Tod überleben, sei unmöglich, wenn man Aristoteles’ Lehre, dass die Seele die Form des menschlichen Körpers sei, ernst nehme.33 Pomponazzi betrachtete sich als Christ und war bereit, die Unsterblichkeit der Seele als Glaubenssatz zu akzeptieren, doch zogen er und die anderen Aristoteliker in Padua schon bald die Feindseligkeit der Kirche auf sich. Im Jahre 1512 berief der kriegerische Papst Julius II., durch Konflikte und gesundheitlich angeschlagen, ein allgemeines Konzil in den Lateran mit der Absicht, die Verhältnisse in einer Kirche zu korrigieren, deren Zustand nach einmütigem Urteil dringend nach Reformen verlangte. Julius starb kurz nach der Einberufung des Konzils und an seine Stelle trat der Medici-Papst Leo X. Leo war für Reformen nicht zu begeistern, und das Konzil brachte fast keine praktischen Ergebnisse, mit Ausnahme eines Dekrets, welches erklärte, dass die Betreiber von Leihhäusern nicht notwendigerweise die Sünde der Wucherei begehen. Einige diesbezügliche kirchliche Missstände wurden zwar untersagt, doch die entsprechenden Dekrete blieben weitgehend wirkungslos, bis das Problem den Papst erneut heimsuchte, nachdem Luther es wieder auf die Tagesordnung gesetzt hatte. In der Zwischenzeit hielt es Leo für nützlich, die Aufmerksamkeit der Teilnehmer des Konzils auf weniger beschämende, philosophische Fragen zu lenken, wie die in Padua zur Unsterblichkeit vorgetragenen Lehrauffassungen. Eine im Dezember 1513 erlassene Bulle bedauerte, dass der Teufel in jüngster Zeit auf dem Felde des Herrn einen verderblichen Irrtum ausgesät habe, nämlich den Glau31 Ein Lehrstuhl für scotistische Philosophie, den zu dieser Zeit der Franziskaner Antonio Trombetta innehatte, war in Padua ebenfalls gegründet worden. 32 Kajetan wurde im Jahre 1501 nach Rom gerufen und wurde nacheinander Leiter des Dominikanerordens, Kardinal und päpstlicher Gesandter in Deutschland. In dieser Funktion führte er 1518 in Augsburg mit Luther ein berühmtes Streitgespräch. 33 Einzelheiten der Argumente von Pompanazzi werden in Kapitel 7 erörtert.

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ben, die rationale Seele sei entweder sterblich oder in allen Menschen dieselbe, und dass einige unbedachte Philosophen behauptet hätten, dies sei „zumindest in der Philosophie“ wahr. Im Gegensatz dazu proklamierte die Bulle, dass die Seele, an sich selbst und ihrem Wesen nach, die Form des menschlichen Körpers habe und unsterblich sei und dass sie im Verhältnis zur Anzahl der Körper, die Gott damit erfülle, vervielfacht werde. Und da Wahrheiten einander nicht widersprechen könnten, werde jede Behauptung, die der offenbarten Wahrheit widerspricht, als ketzerisch verdammt. Die Unsterblichkeit der Seele hatte das Christentum seit Jahrhunderten gelehrt, und die religiöse Lehre wurde bereits auf dem Konzil von Vienne im Jahre 1311 mit dem aristotelischen Hylomorphismus kombiniert. Was an der Erklärung des Laterankonzils bemerkenswert ist, ist die Tatsache, dass es auf der Beziehung zwischen offenbarter und philosophischer Wahrheit insistiert, und seine Behauptung, dass die Unsterblichkeit der Seele nicht nur wahr, sondern mit Vernunftsgründen beweisbar sei. Damit erließ die Kirche erstmals nicht nur Vorschriften über die religiöse Wahrheit, sondern auch über die Theorie der religiösen Erkenntnis. Wie die Reformdekrete scheint auch dieses kaum eine praktische Wirkung gehabt zu haben. Einige Jahre später veröffentlichte Pomponazzi seine Abhandlung über die Seele. An ihrem Anfang und ihrem Ende standen Glaubensbekenntnisse und Bekundungen der Unterwerfung unter den Heiligen Stuhl, doch die Substanz des Werkes bestand aus einer Batterie von Argumenten gegen die persönliche Unsterblichkeit. Während das Laterankonzil tagte, malte Raphael die Stanza della Segnatura 34 aus, zunächst für Papst Julius und dann für Papst Leo. Auf ihren Wänden und Decken waren die Disziplinen der Theologie, Jurisprudenz, Philosophie und Dichtung dargestellt. Das Fresko Die Schule von Athen enthält einige der liebevollsten Darstellungen von Philosophen und philosophischen Themen in der Geschichte der Kunst. Das Fresko verleiht der Versöhnung zwischen Platon und Aristoteles räumlichen und farblichen Ausdruck. Die beiden nebeneinanderstehenden Philosophen führen den Vorsitz über einen Hof glänzender griechischer und islamischer Denker. Platon, der in den Farben der flüchtigen Elemente Luft und Feuer gekleidet ist, zeigt gen Himmel. Aristoteles trägt wässriges Blau und irdisches Grün und steht mit beiden Füßen fest auf der Erde. In Raphaels Vision sind die beiden dadurch versöhnt, dass ihnen unterschiedliche Einflusssphären zugewiesen sind. Aristoteles steht, unter der Schirmherrschaft der Minerva, am Rande des Freskos neben der Wand der Jurisprudenz und dominiert eine Gruppe von Moral- und Naturphilosophen. Platon steht, unter dem Patronat Apollons, über einer Gruppe von Mathematikern und Metaphysikern. Überraschend ist vielleicht, dass er, der die Dichter aus dem Staat verbannt hatte, einen Platz neben der Wand erhält, die der Dichtung gewidmet ist und von Homer dominiert wird. Auf der anderen Seite des Zimmers befindet sich das Fresko La disputa del sacramento, in dem die großen 34 Anm. d. Übers.: Der erste von vier Räumen der apostolischen Gemächer des Vatikans, die Raphael und seine Mitarbeiter von 1508–1511 ausmalten.

Aristotelismus in der Renaissance

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Raphael zeigt, wie Platon und Aristoteles das Gebiet der Philosophie einvernehmlich in zwei getrennte Bereiche aufteilen.

christlichen Philosophen Augustinus, Bonaventura und Thomas von Aquin dargestellt sind. Das Ganze ist ein Meisterwerk versöhnenden Genies: Es bringt die beiden Wahrheiten zusammen, so verkündeten die Väter des Laterankonzils, die kein Mensch auseinanderreißen sollte.

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Logik und Sprache

Augustinus über die Sprache Im Verlauf der Darstellung seiner Kindheit in den Bekenntnissen beschreibt Augustinus, wie wir eine Sprache erlernen. Ein Abschnitt dieser Beschreibung ist berühmt geworden: „Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält, oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.“ (Conf. I. 8. 13) 1

Dieser Text wurde von Wittgenstein an den Anfang seiner Philosophischen Untersuchungen gestellt, um eine bestimmte, grundsätzlich verfehlte Auffassung der Sprache zu veranschaulichen: die Auffassung, dass das Benennen die Grundlage der Sprache ist und dass die Bedeutung eines Wortes der Gegenstand ist, für den es steht. Die zitierte Passage betont ausdrücklich die Rolle, die das Zeigen beim Erlernen von Wörtern spielt, und sie nimmt keine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Wortarten vor. Dennoch ist es merkwürdig, dass Wittgenstein Augustinus als Verfechter der von ihm angegriffenen These ausgewählt hat, da Augustinus’ Darlegungen in vielerlei Hinsicht Wittgensteins eigenen Auffassungen ähnlicher sind als denjenigen, gegen die sich Wittgensteins Kritik richtet. Augustinus ist wie Wittgenstein der Überzeugung, dass der Aufbau sprachlicher Konventionen eine Gleichartigkeit der Menschen hinsichtlich ihrer natürlichen, vorkonventionellen Reaktion auf so etwas wie das Zeigen mit Fingern voraussetzt: die „natürliche Sprache aller Völker“. Eine ostentative Definition allein kann einem Kind nicht die Bedeutung eines Wortes beibringen. Das Kind muss die Wörter darüber hinaus „wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen“ 1

Zitiert nach: L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 111980), Teil 1, 15.

Augustinus über die Sprache

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ausgesprochen hören. Der gesamte Lernprozess beginnt mit den eigenen Bemühungen des Kindes, seine Empfindungen und Bedürfnisse vorsprachlich zum Ausdruck zu bringen. Unmittelbar vor der zitierten Passage sagt Augustinus, dass er „durch Rufe und verschiedene Geräusche und die Bewegung seiner Glieder“ versucht habe, seine „inneren Gefühle auszudrücken“ und zu erreichen, dass man „seinem Willen gehorcht“. Hiermit weist er auf eine Tatsache hin, die von Wittgenstein besonders betont wird: dass „Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt“ 2 werden. In einem früheren Werk, der Schrift Über den Lehrer, findet sich eine Darstellung der Sprache, die wesentlich umfassender ist als diejenige in den Bekenntnissen. Das Thema dieses Werkes, bei dem es sich um einen Dialog zwischen Augustinus und seinem Sohn Adeodatus handelt, ist enger gefasst, als sein Titel vermuten lässt. Es geht darin nicht um die Erziehung im Allgemeinen, sondern der Dialog konzentriert sich auf das Unterrichten und Erlernen der Bedeutung von Wörtern. Er beginnt mit einer lebendigen Darstellung der verschiedenen Verwendungszwecke der Sprache. Wir verwenden sie nicht nur zur Mitteilung von Informationen, sondern außerdem für viele andere Zwecke, die vom Beten zu Gott bis zum Singen im Bad reichen. Wir können Sprache ohne Laute verwenden, in unserem Geist Wörter bilden: In diesem Fall verwenden wir die Wörter, um uns die von ihnen bezeichneten Gegenstände ins Gedächtnis zu rufen. Augustinus lässt die naheliegende Annahme, dass Wörter Zeichen sind, nicht ungeprüft gelten. Er zitiert eine Zeile aus Vergil: Wenn der Himmel von einer solchen Stadt nichts stehen lässt,

und fragt Adeodatus, was die Wörter „wenn“, „nichts“ und „von“ bedeuten. Wofür steht „wenn“? Die beste Antwort, die Adeodatus hierauf geben kann, lautet: Es bringt Zweifel zum Ausdruck. „Nichts“ bedeutet nichts, sodass es nicht wahr sein kann, dass jedes Wort etwas bedeutet. Und wie steht es mit „von“? Adeodatus schlägt als Antwort vor, es sei ein Synonym für „aus“, doch Augustinus hält dem entgegen, dass er dadurch lediglich ein Zeichen durch ein anderes ersetzt habe. Diese Antwort führe uns nicht vom Zeichen zur Wirklichkeit (DMg 2. 3 f.). Die ostentative Definition scheint einen Ausweg aus dieser Sackgasse anzubieten, zumindest für einige Wörter. Wenn ich frage, was „Wand“ bedeutet, könntest du mit dem Finger darauf zeigen. Nicht nur materielle Gegenstände, sondern auch Farben können auf diese Weise ostentativ definiert werden. Als allgemeingültige Erklärung lassen sich jedoch zwei Einwände hiergegen vorbringen. Erstens lassen sich Wörter wie „von“ nicht durch Zeigen definieren, und zweitens lässt sich der noch grundlegendere Einwand anführen, dass die Geste des Zeigens, nicht weniger als das Äußern eines Wortes, auch nur ein Zeichen und nicht die bezeichnete Realität ist (DMg 3. 5 f.). 2

L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt: Suhrkamp, 111980), Teil 1, 244.

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3 Logik und Sprache

Auf diese Gegenargumente antwortet Augustinus, dass es einige Wörter gibt, wie zum Beispiel „gehen“, „essen“ und „stehen“, die man erläutern kann, indem man ein Beispiel für die bezeichnete Sache selbst gibt: Ich definiere „gehen“, indem ich ostentativ gehe. Doch nehmen wir an, ich gehe bereits, wenn mich jemand fragt, was „gehen“ bedeutet: Wie definiere ich es dann? Adeodatus antwortet: vermutlich, indem man etwas schneller geht. Doch dies beweist, dass selbst in diesem privilegierten Fall das ostentative Definieren hoffnungslos doppeldeutig ist: Wie soll ich wissen, ob die Bedeutung, die mir angeboten wird, diejenige von „gehen“ oder „sich beeilen“ ist? Daraus, dass sich die Bedeutung von Wörtern durch Zeigen nicht erlernen lässt, zieht Augustinus schließlich den Schluss, dass sie durch keinen menschlichen Lehrer beigebracht werden kann, sondern durch einen Lehrer in uns, dessen Heimat im Himmel ist (DMg 14. 46). Dies ist eine christliche Version, angewendet auf den besonderen Fall des Erlernens von Sprache, der von Platon im Dialog Menon aufgestellten These, dass alles Lernen letztlich ein Fall von Wiedererinnerung ist. Bis er zu dieser Schlussfolgerung gelangt, diskutiert Augustinus jedoch eine Reihe wichtiger sprachphilosophischer Probleme. Zunächst klassifiziert er die Zeichen in einer rudimentären Semiotik. Alle Wörter sind Zeichen, doch nicht alle Zeichen sind Wörter. So gibt es beispielsweise Buchstaben und Gesten. Alle Namen sind Wörter, aber nicht alle Wörter sind Namen. Neben Wörtern wie „wenn“ und „von“ gibt es Pronomen, die an die Stelle von Nomen treten, und Verben, bei denen es sich um Wörter mit einer bestimmten Zeitstufe handelt (DMg 4. 9, 5. 13). Es ist wichtig, den Unterschied zwischen einem Zeichen und dem von ihm Bezeichneten (was Augustinus das „Signifikable“ nennt) vor Augen zu haben. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand einen Stein mit einem Wort für einen Stein verwechselt: Doch einige Wörter sind Wörter für Wörter, und in diesem Fall besteht eine reale Gefahr, das Zeichen und das Bezeichnete durcheinanderzubringen. In modernen Sprachen verringern wir das Risiko einer solchen Verwirrung durch die Verwendung von Anführungsstrichen. Adeodatus ist ein Mensch, und „Mensch“ hat eine Silbe. Im antiken Latein, in dem es keine Anführungsstriche gab, existiert keine so klare Unterscheidung zwischen dem normalen Fall, in dem ein Wort zur Bezeichnung von etwas anderem verwendet wird, und dem besonderen Fall, in dem wir ein Wort verwenden, um es selbst zu erwähnen. Adeodatus muss sich hüten, um nicht in die ihm von seinem Vater gestellte Falle zu laufen: Du bestehst nicht aus einer Silbe, daher bist du kein Mensch (DMg 8. 22). Augustinus erklärt über mehrere Seiten, dass jedes Wort, obwohl einerseits nicht alle Wörter Namen sind, in anderer Hinsicht dennoch ein Name ist, da es verwendet werden kann, um sich selbst zu benennen. Selbst „Verb“ ist ein Name. Die von Augustinus in diesem Dialog dargestellten Probleme wurden von den mittelalterlichen Scholastikern, die die Theorie der Supposition entwickelten, ausgiebig diskutiert. 3 3

Siehe Seite 138.

Die Logik von Boethius

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Selbst leistete Augustinus jedoch keinen Beitrag zur formalen Logik. Aristoteles hat er niemals ernsthaft studiert. Im Gottesstaat beschreibt er ihn – auf eine eher herablassende Weise – als „einen Mann mit hervorragendem Intellekt, der Platon stilistisch zwar unterlegen war, aus der gemeinen Herde jedoch dennoch hervorstach“. Eine Zeit lang interessierte er sich sehr für die Stoiker, wobei er sich allerdings in erster Linie mit ihrer Natur- und Moralphilosophie, jedoch nicht mit ihrer Logik beschäftigte. In Karthago hatte Augustinus als junger Mann auf Drängen seines Rhetoriklehrers die Kategorien von Aristoteles gelesen, und in seinen Bekenntnissen prahlte er damit, dass er den Text schnell verstanden habe: Aber er bedauerte, dass ihn dies nicht weitergebracht habe. Das Buch, meinte er, sei zwar sehr deutlich, wenn es um das Thema der Substanz und dasjenige gehe, was zu ihr gehöre, aus theologischer Perspektive sei es jedoch unbrauchbar. „Es nützte mir nichts, es schadete mir. Denn da ich glaubte, es müsse alles Sein unter diesen zehn Kategorien sich fassen lassen, suchte ich auch dich, mein Gott, so zu begreifen, dich, den wundersam Einfachen und Unwandelbaren, als ob auch Du der Träger wärest für deine Größe und deine Herrlichkeit, als wäre die in dir als Eigenschaften im Subjekt, so wie es auch beim Körper ist; und bist du doch selber deine Größe und bist deine Herrlichkeit!“ (Conf. IV 16) 4

Zu den Werken, die man Augustinus traditionellerweise zuschreibt, zumindest seit der Zeit von Alkuin, gehört auch eine lateinische Paraphrase von Aristoteles’ Kategorien. 5 Es wird jedoch von Augustinus in seinen Retractationes, einem umfassenden Katalog seines Nachlasses, nicht erwähnt, und es gilt in der heutigen Forschung allgemein als Werk eines anderen Autors. Dass man es Augustinus zuschrieb, sicherte diesem Teil von Aristoteles’ Logik die Aufmerksamkeit der Gelehrten des frühen Mittelalters. Ein anderes Werk, De Dialectica, das man lange Zeit für unecht hielt, wurde vor Kurzem wieder in den Kanon von Augustinus’ Schriften aufgenommen. 6 Es finden sich darin zwar Anzeichen eines stoischen Einflusses, doch die Schrift behandelt hauptsächlich Fragen der Grammatik, nicht der Logik oder Sprachphilosophie.

Die Logik von Boethius Der enge Zusammenhang zwischen Logik und Sprache wurde von Boethius hervorgehoben, dem bedeutendsten lateinischen Logiker des ersten Jahrtausends. Er 4 5 6

Zitiert nach: Augustinus, Bekenntnisse, übersetzt und eingeleitet von H. Hefele (Düsseldorf: Eugen Diederichs-Verlag, 1958), 98. Herausgegeben wurde der Text von L. Minio-Paluello als erster Band der lateinischen Ausgabe von Aristoteles’ Werken (Brügge: Desclée, De Brouwer, 1953–). Herausgegeben von D. Jackson (Dordrecht: Reidel, 1985).

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3 Logik und Sprache

In diesem Manuskript von Boethius’ Trost der Philosophie ist der Verfasser als mittelalterlicher Professor der Logik dargestellt.

schrieb: „Die gesamte Kunst der Logik hat es mit Sprache zu tun.“ Boethius übersetzte die meisten, vielleicht sogar alle von Aristoteles’ Büchern zur Logik und er stellte seiner Übersetzung der Kategorien einen Kommentar (ja sogar zwei Kommentare) der Isagoge, oder Einführung, von Porphyrios (ca. 233–309) voran. Porphyrios, der ein Schüler und Biograf von Plotin war, hatte Aristoteles’ Logik auf den Lehrplan der neuplatonischen Schulen gesetzt, und seine Isagoge wurde zum einführenden Standardtext. Boethius ist es zu verdanken, dass die Schrift diese Position bis weit in das Hochmittelalter behaupten konnte. Ein wichtiger Aspekt von Porphyrios’ Isagoge war die Theorie der Prädikabilien bzw. der Arten der Beziehung, in denen ein Prädikat zu einem Subjekt stehen kann. Er führte fünf Oberbegriffe der Klassifikation an: Art, Gattung, Differentia, Eigenschaft, Akzidens. Jeder von ihnen kommt in Aristoteles’ Topik vor, doch die Theorie der Prädikabilien ist von Aristoteles’ Theorie der Kategorien verschieden, obwohl die beiden Klassifikationen miteinander verwandt sind. „Stigger ist ein Labrador“ nennt die

Die Logik von Boethius

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Art, zu der Stigger gehört. „Stigger ist ein Hund“ nennt seine Gattung. Die Differentia gibt die Eigenschaft an, die die Art innerhalb der Gattung auszeichnet, wie zum Beispiel „Stigger ist ein Golden Retriever“. Der Mensch, wurde allgemein erklärt, bildete eine Art der Gattung Tier, die sich durch die Differentia „vernunftbegabt“ auszeichnet. Die Prädikate „Mensch“ und „Tier“ werden, wenn sie von einem einzelnen Menschen, Sokrates, ausgesagt werden, in der Kategorie der Substanz ausgesagt: Sie geben – vollständig oder teilweise – die grundlegende Art der Entität an, um die es sich bei Sokrates handelt. Das Prädikat „vernunftbegabt“, die Differentia, scheint den Unterschied zwischen Substanz und Akzidens zu übergreifen: Als Teil der Definition scheint es zur Kategorie der Substanz zu gehören, doch andererseits ist Vernunftbegabung zweifellos eine Eigenschaft, und Eigenschaften sind Akzidenzien. Eine Eigenschaft (proprium) ist ein Attribut, das für eine bestimmte Art charakteristisch ist, obwohl sie sie nicht definiert. Im Mittelalter galt die Fähigkeit, Witze verstehen zu können, als charakteristische Eigenschaft des Menschen. Ein Akzidens ist ein Prädikat, das auf ein bestimmtes Individuum zutrifft oder nicht, ohne dass dadurch über die Existenz dieses Individuums entschieden würde. Die Theorie der Prädikabilien erlaubt es uns, innerhalb der Kategorien Hierarchien zu errichten. Der Unterschied zwischen Gattung und Art ist relativ: Was im Verhältnis zu einer höheren Gattung eine Art ist, ist eine Gattung im Verhältnis zu einer niedrigeren Art. Doch es gibt letzte Arten, die keine Gattungen mehr sind: wie zum Beispiel die Art Mensch, und es gibt letzte Gattungen, die keine Arten höherer Gattungen mehr sind: wie beispielsweise die zehn Kategorien (die nicht Arten einer höheren Gattung wie etwa „Sein“ sind). Wenn wir die Kategorie der Substanz als grundlegend ansehen, können wir zwei Gattungen, Körper und Geist, aus ihr ableiten, indem wir die Differentia „materiell“ bzw. „immateriell“ hinzufügen. Aus der Gattung Körper können wir zwei weitere Gattungen, Lebewesen und Mineral, ableiten, indem wir die Differentia „belebt“ bzw. „unbelebt“ hinzufügen. Aus der Gattung Lebewesen gehen durch eine ähnliche Aufspaltung die Gattungen Pflanze und Tier hervor, und die Gattung Tier bringt, mithilfe der Differentia „vernunftbegabt“, die Art Mensch hervor, zu der die Individuen Peter, Paul und Hans gehören. Eine derartig verzweigte, als Diagramm dargestellte Hierarchie ist ein arbor porphyriana oder „Baum des Wissens“. In der Isagoge verwendet Porphyrios diese Verzweigungsmethode, um drei Fragen über Arten und Gattungen aufzuwerfen. Arten und Gattungen sind keine individuellen Entitäten wie Peter und Paul: Sie sind in einem gewissen Sinne etwas Allgemeines. Porphyrios’ Frage lautete nun, ob solche Entitäten außerhalb des Geistes existieren, oder ob sie lediglich innerhalb des Geistes existieren. Wenn sie außerhalb des Geistes existieren: Sind sie dann körperlich oder unkörperlich? Wenn sie unkörperlich sind: Existieren sie in den durch die Sinne wahrnehmbaren Dingen oder getrennt von ihnen? Porphyrios selbst ließ diese Fragen unbeantwortet, doch er stellte sie auf die Tagesordnung vieler mittelalterlicher Diskussionen. Sie wurden zur kanonischen Formulierung des Universalienproblems.

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3 Logik und Sprache

Boethius beantwortet diese Fragen auf folgende Weise: Solche Entitäten existieren außerhalb des Geistes. Sie sind unkörperlich. Sie können von den Einzeldingen nur im Denken getrennt werden. Eine Art oder eine Gattung sind eine von Einzeldingen abstrahierte Ähnlichkeit, so wie wir die Ähnlichkeit des Menschseins (similitudo humanitatis) von einzelnen individuellen Menschen abstrahieren. Boethius zufolge war dies Aristoteles’ Ansicht. Doch für die Zwecke der formalen Logik ist es nicht erforderlich, die platonische These auszuschließen, dass Universalien von den Einzeldingen getrennt existieren (PL 64. 835A). Boethius schrieb Kommentare zu Aristoteles’ Kategorien und zu seiner Schrift De Interpretatione. Aus diesen Kommentaren geht hervor, dass er auch mit der stoischen Logik ein wenig vertraut war, obwohl er die stoische Logik derjenigen von Aristoteles in keinem Punkt für überlegen hielt. So behauptete er beispielsweise, die Auffassung der Stoiker bezüglich kontingenter Aussagen über die Zukunft sei falsch: Wenn p eine Aussage im Futur über eine kontingente Tatsache ist, ist „Entweder p oder nicht-p“ wahr, doch muss weder „p“ noch „nicht-p“ einen definitiven Wahrheitswert haben. Daher ist die Aussage „Entweder wird morgen eine Seeschlacht stattfinden oder morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“ wahr; doch weder die Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ noch die Aussage „Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden“ muss bereits heute definitiv wahr sein. Außer Kommentaren zu Porphyrios und Aristoteles schrieb Boethius Lehrbücher über Syllogistik: eins über kategorische und eins über hypothetische Syllogismen. Ein hypothetischer Syllogismus muss mindestens eine hypothetische Prämisse enthalten, d. h. eine zusammengesetzte Aussage, die mithilfe der Bindewörter „wenn“, „oder“ oder „weil“ aus kategorischen Einzelaussagen gebildet wurde. Einige hypothetische Syllogismen enthalten kategorische und hypothetische Prämissen: Ein Beispiel ist der bereits in der stoischen Logik bekannte modus ponens: Wenn es Tag ist, scheint die Sonne; es ist aber Tag; daher scheint die Sonne.

Boethius ist jedoch mehr an Syllogismen interessiert, bei denen sämtliche Prämissen und die Schlussfolgerung hypothetisch sind, wie etwa: Wenn es A ist, ist es B; wenn es B ist, ist es C; wenn es also A ist, ist es C.

Er arbeitet Schemata aus, in denen neben bejahenden auch verneinende Prämissen vorkommen und solche, in denen andere Konjunktionen als „wenn“ vorkommen, wie zum Beispiel: „Entweder es ist Tag oder es ist Nacht.“ Er behauptet, dass hypothetische Syllogismen von kategorischen abhängen, da hypothetische Prämissen aus kategorischen Elementen bestehen und zur Ermittlung der Wahrheit ihrer Prämissen auf kategorische Syllogismen angewiesen sind. Boethius argumentiert auch hier wieder mit Aristoteles gegen die Stoiker, dieses Mal bezüglich der Beziehung zwischen Prädikaten- und Aussagenlogik.

Abelard als Logiker

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Bei der Erörterung hypothetischer Syllogismen trifft Boethius eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Arten hypothetischer Aussagen. Er verwendet consequentia („Konsequenz“) als Ausdruck für eine wahre hypothetische Aussage. Die nächste Entsprechung hierzu ist im modernen Sprachgebrauch vielleicht „Implikation“. Er stellt fest, dass bei einigen hypothetischen Aussagen keine notwendige Verbindung zwischen dem Vorder- und dem Nachsatz besteht. Sein Beispiel lautet: „Da Feuer heiß ist, sind die Himmel kugelförmig.“ Dies scheint ein Beispiel für das zu sein, was moderne Logiker als materiale Implikation bezeichnen. Boethius’ Ausdruck ist consequentia secundum accidens. Andererseits gibt es hypothetische Aussagen, bei denen der Nachsatz notwendig aus dem Vordersatz folgt. Zu dieser Klasse von Aussagen gehören nicht nur die logischen Wahrheiten, die moderne Logiker als „formale Implikationen“ bezeichnen würden, sondern auch hypothetische Aussagen, deren Wahrheit durch wissenschaftliche Forschung entdeckt wird, wie zum Beispiel die Aussage: „Wenn die Erde sich zwischen Sonne und Mond befindet, kommt es zu einer Mondfinsternis“ (PL 64. 835B). Wahre Konsequenzen ließen sich Boethius zufolge aus einem Satz höchster, allgemeiner Aussagen ableiten, die er loci nannte und hierin Ciceros Übersetzung des von Aristoteles verwendeten Wortes topos folgte. An welche Art von Aussagen er hierbei dachte, geht aus einem seiner Beispiele hervor: „Dinge, deren Definitionen sich voneinander unterscheiden, sind selbst voneinander verschieden.“ Er schrieb eine Abhandlung, De Topicis Differentiis, in der er eine Reihe von Prinzipien zur Klassifikation der höchsten Aussagen in Gruppen vorschlug. Obwohl dieses Werk für einen modernen Leser unfruchtbar scheint, war es im frühen Mittelalter einflussreich. 7

Abelard als Logiker Bis es im Hochmittelalter zur Rezeption aller logischen Schriften von Aristoteles kam, bildete Boethius’ Werk als Autor und Kommentator den Hintergrund für das Logikstudium. Ab dann wurde die von ihm überlieferte Logik, im Gegensatz zur neuen Logik an den Universitäten, als die „alte Logik“ bezeichnet. Die alte Logik erreichte in den ersten Jahren des zwölften Jahrhunderts ihren Höhepunkt im Werk von Abelard: Wie genial er war, zeigt sich darin, dass seine Logik eine Reihe von Einsichten enthielt, die in den Schriften späterer Logiker des Mittelalters fehlten. Abelards bevorzugter Name für die Logik ist „Dialektik“, und der Titel seines bedeutendsten logischen Werkes lautete Dialectica. Er war der Überzeugung, dass Logik und Grammatik eng miteinander verbunden sind: Logik ist eine ars sermocinalis, eine linguistische Disziplin. Wie die Grammatik hat es die Logik mit Wörtern zu tun, doch mit Wörtern, sofern sie eine Bedeutung haben (sermones), nicht nur mit 7

De Topicis Differentiis, übersetzt von E. Stump (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1978).

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3 Logik und Sprache

Geräuschen (voces). Dennoch müssen wir, wenn wir zu einer zutreffenden Logik gelangen wollen, mit einer der Sache angemessenen Darstellung der grammatischen Wortarten, wie Nomen und Verben, beginnen. Aristoteles hatte zwischen Nomen und Verben unterschieden, sofern die Letzteren, jedoch nicht die Nomen, einen Hinweis auf die Zeit enthalten. Abelard weist diese Begründung zurück: Es sei zwar zutreffend, dass nur Verben eine Zeitstufe haben, doch enthalten auch Nomen einen impliziten Bezug zur Zeit. Ausdrücke an der Stelle des Subjekts stehen hauptsächlich für in der Gegenwart existierende Dinge. Dies zeigt sich, wenn man zu einem Zeitpunkt, zu dem Sokrates alt ist, einen Satz wie „Sokrates war ein Junge“ betrachtet. Wenn der Zeitbezug allein zum Verb gehörte, würde dieser Satz dasselbe bedeuten wie „Ein Junge war Sokrates“, doch dieser Satz ist natürlich falsch. Der entsprechende wahre Satz lautet „Etwas, das ein Junge war, ist Sokrates“. Hieran zeigt sich der implizite Zeitbezug von Nomen, und in einer logisch klaren Sprache könnte dies dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass man die Nomen durch Pronomen ersetzt, die durch eine Beschreibung ergänzt werden, wie im folgenden Beispiel: „Wasser dringt ein“ könnte umgeschrieben werden zu: „Etwas, das Wasser ist, dringt ein.“ Das charakteristische Merkmal von Verben ist nicht, dass sie eine Zeitstufe anzeigen, sondern dass sie einen Satz vervollständigen. Ohne Verben, behauptet Abelard, gibt es keinen vollständigen Sinn. Es kann vollständige Sätze ohne Nomen geben (zum Beispiel „Komm her!“ oder „Es regnet“), doch keine vollständigen Sätze ohne Verben (D 149). Aristoteles hatte angenommen, die Standardform eines Satzes sei „S ist P“. Er wusste zwar, dass einige Sätze, wie zum Beispiel „Sokrates trinkt“, keine Kopula haben, doch hatte er behauptet, solche Sätze ließen sich immer in die Form „Sokrates ist ein Trinker“ umschreiben. Abelard hält die Form Nomen – Verb für die Normalform. Er ist der Ansicht, dass durch das Vorkommen von „ist“ die Verbindungsfunktion, die in jedem Verb explizit ist, lediglich eigens explizit gemacht wird. Wir sollten „… ist ein Mann“ als Einheit betrachten, als einzelnes Verb (D 138). Das Verb „sein“ kann nicht nur als Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat verwendet werden, sondern auch um die Existenz einer Sache anzuzeigen. Diesem Aspekt widmete Abelard besondere Aufmerksamkeit. Die lateinische Verbform est („ist“) kann ihm zufolge in einem Satz entweder als mit dem Subjekt verbunden auftreten (wie in dem Satz Socrates est, „Sokrates existiert“) oder als ein drittes Element (wie in Socrates est homo, „Sokrates ist ein Mensch“). Im zweiten Fall zeige das Verb keine Existenz an, wie wir an Sätzen wie Chimera est opinabilis („Schimären sind vorstellbar“) erkennen können. Jegliche Versuchung, zu meinen, das Verb enthalte einen Hinweis auf die Existenz, könnten wir ausschließen, wenn wir einen Ausdruck wie „… ist vorstellbar“ als Einheit auffassten und nicht als zusammengesetzt aus dem Prädikatsausdruck „vorstellbar“ und dem zweideutigen Wort „ist“. Abelard gibt uns zwei verschiedene Analysen von Existenzaussagen. An einer Stelle sagt er, dass die Aussage Socrates est erweitert werden sollte zu Socrates est ens, d. h., „Sokrates ist ein Seiendes“. Doch dies kann uns schwerlich zufriedenstellen, da

Abelard als Logiker

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sich die Doppeldeutigkeit des Verbs esse auf sein Partizip „seiend“ überträgt. An anderer Stelle – in einem seiner nicht-logischen Werke – zeigt er mehr Inspiration. Er schlägt vor, wir sollten in dem Satz „Ein Vater existiert“ den Ausdruck „Ein Vater“ nicht als Platzhalter für irgendetwas ansehen. Der Satz sei vielmehr gleichbedeutend mit dem Satz „Etwas ist ein Vater“. Auf diese Weise verschwindet „existiert“ als Prädikat völlig und wird durch einen Quantor und ein Verb ersetzt. Mit dieser Innovation sowie mit seinem Vorschlag, dass Ausdrücke wie „… ist Mensch“ als Einheit betrachtet werden sollten, nahm Abelard Einsichten des im 19. Jahrhundert arbeitenden Logikers Gottlob Frege vorweg, die für die moderne Logik grundlegend sind. 8 Das dringlichste Problem der Logik war für Abelards Zeitgenossen das Universalienproblem. Da er mit den Theorien seiner ersten beiden Lehrer, dem Nominalisten Roscelin und dem Realisten Wilhelm von Champeaux, nicht zufrieden war, schlug Abelard einen Mittelweg zwischen ihnen vor. Er meinte, einerseits sei es absurd zu behaupten, dass Adam und Peter nichts außer dem Wort „Mensch“ gemeinsam hätten; das Nomen wird auf beide aufgrund ihrer Ähnlichkeit, die etwas Objektives sei, angewendet. Andererseits sei es ebenso absurd, zu behaupten, es gebe eine substanzielle Einheit, die menschliche Art, die in jedem Individuum in ihrer Ganzheit gegenwärtig sei. Dies würde implizieren, dass Sokrates mit Platon identisch sein muss und dass er sich zur gleichen Zeit an zwei Orten befindet. Eine Ähnlichkeit ist keine substanzielle Sache, wie zum Beispiel ein Pferd oder ein Kohlkopf, und nur Einzeldinge existieren. „Wenn wir behaupten, dass die Ähnlichkeit zwischen Dingen selbst kein Ding ist, müssen wir vermeiden, dass der Eindruck entsteht, wir behandelten sie so, als hätten sie nichts gemeinsam. Denn was wir tatsächlich sagen ist, dass der eine und der andere sich in ihrem Menschsein gleichen, d. h., insofern sie beide Menschen sind. Wir meinen nicht mehr, als dass es menschliche Wesen sind, und dass sie sich in dieser Hinsicht nicht im geringsten unterscheiden.“ (LI 20)

Ihr Menschsein, bei dem es sich nach Abelard um kein Ding, sondern um einen Status handelt, ist der gemeinsame Grund der Anwendung des Nomens auf das Individuum. Sowohl der Nominalismus als auch der Realismus hängen von einer unzureichenden Analyse dessen ab, was es für ein Wort bedeutet, etwas zu bezeichnen. Wörter haben eine doppelte Bezeichnungsfunktion: Sie bedeuten Dinge und sie drücken Gedanken aus. Sie bezeichnen Dinge genau dadurch, dass sie die passenden Gedanken wachrufen, die Begriffe, unter denen der Geist die Dinge in der Welt zusammenfasst. Wir erwerben diese Begriffe durch die Reflexion über innere Bilder, doch sind 8

Die Umformulierung von Existenzaussagen in Quantorenaussagen hielt B. Russell für eine logische Innovation, die dem ontologischen Argument für die Existenz Gottes den Todesstoß versetzte; siehe Seite 294.

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3 Logik und Sprache

sie von diesen verschieden (D 329). Es sind diese Begriffe, die es uns ermöglichen, über Dinge zu sprechen und sprachliche Laute in bedeutungstragende Wörter zu verwandeln. Es gibt neben dem allgemeinen Nomen „Mensch“ keine Universalie „Mensch“ – in diesem Punkt ist dem Nominalismus Recht zu geben. Andererseits ist jedoch, entgegen der Auffassung von Roscelin, das Nomen „Mensch“ kein bloßer Hauch der Stimme: Es wird durch unser Verstehen in ein allgemeines Nomen verwandelt. Wie ein Bildhauer ein Stück Stein in eine Statue verwandelt, so verwandelt unser Verstand ein Geräusch in ein Wort. In diesem Sinne können wir behaupten, dass Universalien Schöpfungen des Geistes sind (LNPS 522). Wörter bezeichnen Universalien dadurch, dass sie allgemeine Begriffe ausdrücken. Doch sie bezeichnen Universalien nicht auf die Weise, auf die sie einzelne Dinge in der Welt bezeichnen. Wörter bezeichnen Dinge auf unterschiedliche Weise. Abelard unterscheidet zwischen dem, was ein Wort bezeichnet, und dem, wofür es steht. Das Wort „Knabe“ hat, wo immer es in einem Satz vorkommt, dieselbe Bedeutung: junger, männlicher Mensch. Wenn das Wort an der Subjektstelle eines Satzes steht, wie etwa in dem Satz „Ein Knabe läuft die Straße hinauf“, steht es darüber hinaus auch für einen Knaben. Doch in dem Satz „Dieser alte Mann war einst ein Knabe“, in dem es als Teil des Prädikats vorkommt, steht es für nichts. Annäherungsweise kann man sagen, dass „Knabe“ in einem bestimmten Kontext für etwas steht, wenn es sinnvoll ist zu fragen: „Welcher Knabe?“ Wir können nicht nur fragen, was einzelne Wörter, sondern auch was ganze Sätze bedeuten. Abelard definiert eine Aussage als „eine Äußerung, die Wahrheit oder Falschheit bezeichnet“. Auch hier ist zwischen zwei Arten von Bezeichnung zu unterscheiden. Ein wahrer Satz drückt einen wahren Gedanken aus, und er behauptet, was tatsächlich der Fall ist (proponit id quod in re est). Wenn wir uns mit Logik befassen, ist der zweite Sinn von „Bezeichnung“ wichtig, denn wir sind daran interessiert, welche Zustände aus anderen Zuständen folgen, nicht an der Abfolge der Gedanken im Geist irgendeines Menschen (D 154). Der sprachliche Ausdruck eines bestimmten Zustands (rerum modus habendi se), von dem eine Aussage behauptet, dass er bestehe, wird von Abelard als das dictum der Aussage bezeichnet (LI 275). Ein dictum ist keine Tatsache in der Welt, denn es ist etwas, das wahr oder falsch ist: Es ist wahr, wenn der entsprechende Zustand in der Welt besteht, ansonsten ist es falsch. Eine Tatsache entspricht dem Bestehen (bzw. Nichtbestehen) des fraglichen Zustands. Im Gegensatz zu einigen anderen mittelalterlichen und modernen Logikern unterschied Abelard deutlich zwischen Prädikation und Behauptung. Ein Subjekt und ein Prädikat können verbunden werden, ohne dass dadurch etwas behauptet oder eine Aussage gemacht wird. „Gott liebt dich“ ist eine Aussage, doch dasselbe Subjekt und dasselbe Prädikat sind in „Wenn Gott dich liebt, kommst du in den Himmel“ und ebenso in „Möge Gott dich lieben“ verbunden, ohne dass damit eine Aussage gemacht wird (D 160). Abelard definiert Logik als die Kunst zu urteilen und zwischen gültigen und ungültigen Argumenten oder Schlussfolgerungen zu unterscheiden (LNPS 506).

Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert

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Schlussfolgerungen sind für ihn nicht auf Syllogismen eingeschränkt: Sein Interesse gilt vielmehr dem allgemeineren Phänomen der logischen Konsequenz. Hierfür verwendet er nicht das lateinische Wort consequentia. Wie die anderen Autoren verwendet er dieses Wort zur Bezeichnung eines „Bedingungssatzes“, eines Satzes der Form „Wenn p, dann q“. Für das allgemeinere Phänomen verwendet er das Wort consecutio, das wir als „Enthaltensein“ übersetzen können. Die beiden Begriffe sind verwandt, aber nicht identisch. Ist „Wenn p, dann q“ eine logische Wahrheit, dann enthält p q und q folgt aus p. Doch „Wenn p, dann q“ ist häufig wahr, ohne dass p q enthält. p kann in q nur dann enthalten sein, wenn „Wenn p, dann q“ eine notwendige Wahrheit ist. Doch für Abelard reicht dies nicht aus. „Wenn Sokrates ein Stein ist, dann ist er ein Esel“ ist eine notwendige Wahrheit: Es ist für Sokrates unmöglich, ein Stein zu sein, und daher ist es unmöglich, dass er ein Stein wäre, ohne ein Esel zu sein (D 293). Abelard verlangt nicht nur, dass „Wenn p, dann q“ eine notwendige Wahrheit ist, sondern dass ihre Notwendigkeit aus dem Inhalt des Vorder- und Nachsatzes abgeleitet ist. „Eine Schlussfolgerung besteht in einer Notwendigkeit des Enthaltenseins, nämlich darin, dass dasjenige, was mit dem Folgesatz gemeint ist, durch den Sinn des Vordersatzes bestimmt wird.“ (D 253) Die Notwendigkeit des Enthaltenseins erfordert allerdings nicht, dass die Dinge, von denen im Vorder- und Nachsatz die Rede ist, auch existieren. „Wenn x eine Rose ist, ist x eine Blume“ bleibt auch dann wahr, wenn es auf der Welt keine Rosen mehr gibt (LI 366). Die Relation des Enthaltenseins besteht zwischen dicta, und dicta sind weder Gedanken in unserem Kopf noch Dinge in der Welt wie etwa Rosen. Abelards nützlichster Beitrag zur Modallogik war eine Unterscheidung (die er von Aristoteles’ Sophistici Elenchi [165b26] abgeleitet haben will) zwischen zwei Weisen, das Bestehen einer Möglichkeit auszusagen. Betrachten wir eine Aussage wie etwa „Es ist für den König möglich, nicht der König zu sein“. Wenn wir dies als die Behauptung verstehen, dass „Der König ist nicht der König“ möglicherweise wahr ist, dann ist die Aussage offensichtlich falsch. Abelard bezeichnet diese Art der Prädikation als Prädikation de sensu oder per compositionem. Wir können die Aussage jedoch auch anders verstehen, dass sie besagt, der König könnte abgesetzt werden, und so verstanden kann sie selbstverständlich wahr sein. Abelard bezeichnet diese Art der Prädikation als Prädikation de re oder per divisionem. Spätere Generationen von Philosophen sollten diese Unterscheidung in verschiedenen Zusammenhängen nützlich finden. Sie stellten der Prädikation de re jedoch normalerweise nicht die Prädikation de sensu, sondern de dicto gegenüber.

Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stand das gesamte Organon, beziehungsweise das Corpus sämtlicher logischer Schriften von Aristoteles, in lateinischen Übersetzungen zur Verfügung. Es stand von da an im Zentrum des Logiklehrplans. Er-

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Logik hatte im akademischen Lehrplan des Mittelalters einen ehrenvollen Platz. Hier bildet sie einen Teil der Krone der Dame Philosophie, die – umgeben von den sieben freien Künsten – den Vorsitz über ein Streitgespräch zwischen Platon und Aristoteles führt.

gänzt wurde es durch Porphyrios’ Isagoge, zwei Werke des Boethius und ein einzelnes mittelalterliches Werk, das Liber de Sex Principiis, von einem unbekannten Autor des zwölften Jahrhunderts. Es stellt sich selbst als Ergänzung der Kategorien dar und erörterte diejenigen Kategorien, die Aristoteles nur kursorisch behandelt hatte, ausführlich und im Detail. Zum Teil, weil sie erst vor Kurzem verfügbar geworden waren,

Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert

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waren die Sophistici Elenchi das zu dieser Zeit am intensivsten studierte Werk des Aristoteles. Sophismen – verwirrende Sätze, die einer sorgfältigen Analyse bedurften, wenn sie nicht zu absurden Konsequenzen führen sollten – gehörten von nun an zur Hauptnahrung auf dem logischen Speisezettel des Mittelalters. Unter den am meisten studierten Sophismen befanden sich Versionen des Lügner-Paradoxons: Der Satz „Ich lüge jetzt“ ist falsch, wenn er wahr ist, und wahr, wenn er falsch ist. Diese Art von Aussagen bezeichnete man als insolubilia. 9 Eine der Folgen der Wiederentdeckung von Aristoteles’ logischen Schriften bestand darin, dass das Werk von Abelard, dem große Teile des Organons unbekannt waren, einen schlechten Ruf bekam und vernachlässigt wurde. Dies war bedauerlich, denn in zahlreichen wichtigen Aspekten war die Logik Abelards derjenigen von Aristoteles überlegen. Einige seiner Einsichten tauchen in der späteren mittelalterlichen Logik wieder auf, ohne dass sie ihm zugeschrieben werden. Andere mussten auf ihre unabhängige Wiederentdeckung bis zum 19. Jahrhundert warten. In der Mitte des 13. Jahrhunderts erschienen zwei Logikhandbücher, die einen langen Einfluss haben sollten. Das eine waren die von William of Sherwood, einem Engländer in Oxford, verfassten Introductiones in Logicam, das andere der Tractatus, ein Text, der später als Summulae Logicales bekannt wurde. Sein Autor war Peter von Spanien, ein Magister in Paris, der mit dem Mann, der im Jahre 1276 Papst Johannes XXI. wurde, identisch sein mag oder auch nicht. Es gab keine festgelegte Ordnung, in der Autoren die logischen Themen behandelten, doch eine mögliche Abfolge entsprach der Reihenfolge ihrer Behandlung im Organon: Kategorien, De Interpretatione, Erste Analytik. Ein ordentliches Logikstudium beschäftigte sich zunächst mit einzelnen Wörtern („den Eigenschaften der Ausdrücke“), sodann mit vollständigen Sätzen (der Semantik von Aussagen) und schließlich mit den Beziehungen zwischen Sätzen (der Theorie der Folgerungen). Zu den Ausdrücken gehören nicht nur geschriebene oder gesprochene Wörter, sondern auch ihre geistigen Gegenstücke, wie immer man diese bestimmen mag. In der Praxis werden Begriffe mit den Wörtern identifiziert, mit denen sie ausgedrückt werden, sodass das mittelalterliche Studium der Ausdrücke im Wesentlichen das Studium der Bedeutung einzelner Wörter war. Im Laufe dieses Studiums entwickelten die Logiker eine ausgefeilte Terminologie. Das allgemeinste der für „Bedeutung“ verwendeten Wörter war significatio, doch hatte nicht jedes Wort, das nicht bedeutungslos war, eine Signifikation. Die Wörter wurden in zwei Klassen unterteilt, je nachdem, ob sie über eine eigene Signifikation verfügten (wie zum Beispiel Nomen) oder ob sie nur in Verbindung mit anderen bedeutsamen Wörtern etwas bezeichnen konnten. Die erste Klasse wurde als die der kategorematischen Ausdrücke bezeichnet, die zweite als die der synkategorematischen Ausdrücke. Hierzu gehörten Wörter wie zum Beispiel „nur“ in dem Satz „Nur Sokrates läuft“. Kategorematische Wörter geben

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Anm. d. Übers.: Aussagen, über deren Wahrheitswert nicht entschieden werden kann.

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3 Logik und Sprache

einem Satz seinen Inhalt, synkategorematische Wörter sind Funktionswörter, welche die Struktur von Sätzen und die Form von Argumenten wiedergeben. In einer ersten Annäherung kann man sagen, dass die Signifikation eines Wortes seiner im Wörterbuch angegebenen Bedeutung entspricht. Wenn wir die Bedeutung eines Wortes aus einem Wörterbuch lernen, erwerben wir einen Begriff, der mehrfach verwendbar ist. (Was genau die Beziehung zwischen Wörtern, Begriffen und der außerhalb des Geistes bestehenden Wirklichkeit ausmacht, wird davon abhängen, welche Theorie der Universalien man für die richtige hält.) Kategorematische Ausdrücke können, zusätzlich zur Signifikation, eine Reihe anderer semantischer Eigenschaften haben, je nachdem, wie die Wörter in bestimmten Kontexten verwendet werden. Betrachten wir die folgenden vier Sätze: „Ein Hund kratzt an der Tür“, „Ein Hund hat vier Beine“, „Ich werde dir zu Weihnachten einen Hund kaufen“ und „Der Hund hat sich gerade übergeben“. Das Wort „Hund“ hat in jedem der vier Sätze dieselbe Signifikation – es entspricht einem einzigen Wörterbucheintrag –, doch seine anderen semantischen Eigenschaften sind in jedem Satz verschieden. Diese Eigenschaften wurden von den mittelalterlichen Logikern unter dem Oberbegriff der suppositio (SL 79–89) zusammengefasst. Der Unterschied zwischen Signifikation und Supposition erfüllte zum Teil dieselben Funktionen wie die von modernen Philosophen vorgenommene Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung. Die einfachste Art der Supposition wurde von Peter von Spanien als „natürliche Supposition“ bezeichnet: Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit eines bedeutsamen allgemeinen Ausdrucks, irgendein Ding zu bezeichnen, auf das er anwendbar ist. Die Art und Weise, wie dies in verschiedenen Kontexten geschieht, führt zu verschiedenen Formen der Supposition. Eine wichtige anfängliche Unterscheidung ist diejenige zwischen einer einfachen und einer persönlichen Supposition (SL 81). Dieser Unterschied lässt sich im Deutschen leichter bezeichnen als im Lateinischen, da er im Deutschen dem Vorhandensein oder Fehlen eines Artikels vor einem Nomen entspricht. In dem Satz „Menschen sind sterblich“ kommt zum Beispiel kein Artikel vor und das Wort hat eine einfache Supposition. In dem Satz „Ein Mann klopft an die Tür“ hat das Wort eine persönliche Supposition. Doch die persönliche Supposition hat selbst wiederum mehrere verschiedene Formen: die diskrete, bestimmte, distributive und undeutliche. Ein Wort kann auf drei verschiedene Arten an der Subjektstelle eines Satzes stehen: Sie entsprechen der diskreten, bestimmten und distributiven Supposition. In dem Satz „Der Hund hat sich gerade übergeben“ hat das Wort „Hund“ eine diskrete Supposition: Das Prädikat ist mit einem definitiven Einzelexemplar des Gegenstandes verbunden, auf den sich das Wort bezieht. Diese Art der Supposition findet sich bei Eigennamen, Demonstrativpronomen und eindeutigen Beschreibungen. Der Satz „Ein Hund kratzt an der Tür“ liefert ein Beispiel für eine bestimmte Supposition. Das Prädikat ist mit einem Gegenstand verbunden, auf den das Wort anwendbar ist, ein Gegenstand, der nicht genauer bestimmt ist. Die Supposition in dem Satz „Ein Hund hat vier Beine“ (bzw. „Jeder Hund hat vier Beine“) ist distributiv: Das Prädikat

Die Logik der Ausdrücke im 13. Jahrhundert

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bezieht sich auf alles, auf das das Wort „Hund“ anwendbar ist. Zur Unterscheidung zwischen einer bestimmten und einer distributiven Supposition sollte man sich fragen, ob die Frage „Welcher Hund?“ sinnvoll ist oder nicht. Ein Wort kann jedoch nicht nur dann eine persönliche Supposition haben, wenn es an der Subjektstelle vorkommt, sondern auch, wenn es als Prädikat erscheint. In dem Satz „Buffy ist ein Hund“ (bzw. „Ein Dackel ist ein Hund“) wurde die Supposition des Wortes „Hund“ als „undeutlich“ bezeichnet. Bei einer undeutlichen Supposition kann man – wie bei der distributiven Supposition – nicht sinnvoll fragen: „Welcher Hund?“ (SL 82) Sämtliche von uns aufgelisteten Arten der Supposition – die einfachere Supposition und die verschiedenen Formen der persönlichen Supposition – sind Beispiele für eine formale Supposition. Das Gegenstück zur formalen Supposition ist, erwartungsgemäß, die materiale Supposition. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Klang eines Wortes seiner Materie und seine Bedeutung seiner Form entspricht. Das lateinische Äquivalent von „‚Hund‘ ist ein einsilbiges Wort“ wäre ein Beispiel für eine materiale Supposition, ebenso wie das Äquivalent von „‚Hund‘ ist ein Nomen“. Tatsächlich handelt es sich hierbei darum, dass ein Wort dazu verwendet wird, sich selbst zu bezeichnen, dass man über seine Eigenschaften als Symbol spricht, statt über das, was es bedeutet und wofür es steht. Auch in diesem Fall hat ein deutscher Muttersprachler einem mittelalterlichen Lateiner gegenüber einen Vorteil. Normalerweise erfordert es kein philosophisches Geschick, eine materiale Supposition zu erkennen, weil wir bereits in der Kindheit lernen, dass wir – wenn wir ein Wort erwähnen, statt es auf normale Weise zu verwenden – Anführungszeichen verwenden und schreiben müssen „‚Hund‘ ist ein einsilbiges Wort“. Doch in komplizierteren Fällen findet man, selbst in den Werken professioneller Philosophen, auch weiterhin von Zeit zu Zeit Verwechslungen von Zeichen und bezeichneten Dingen. 10 Die Supposition war zwar die wichtigste semantische Eigenschaft von Ausdrücken, doch kannten die Logiker des Mittelalters auch noch andere. Eine war die Appellation, bei der es um die Reichweite von Ausdrücken oder Sätzen ging. Betrachten wir beispielsweise den Satz: „Dinosaurier haben lange Schwänze.“ Ist dieser Satz wahr, obwohl es heute keine Dinosaurier mehr gibt? Wenn wir der Ansicht sind, dass ein Satz durch den gegenwärtigen Inhalt des Universums wahr oder falsch gemacht wird, dann scheint der Satz nicht wahr sein zu können, und wir können dieses Problem nicht dadurch lösen, indem wir die Zeitstufe des Verbs zu „hatten“ ändern. 10 Ich möchte meine Leser darauf hinweisen, dass es – obwohl die obengenannten Unterscheidungen von den meisten Logikern vorgenommen wurden – beträchtliche Unterschiede in der Terminologie gibt, mit der sie bezeichnet werden. Der Einfachheit halber habe ich außerdem einige der technischen Begriffe verkürzt. Was ich als „undeutliche Supposition“ bezeichnet habe, sollte streng genommen als „nur undeutliche Supposition“ bezeichnet werden, und was ich als „distributiv“ bezeichnet habe, als „undeutlich und distributiv“. Siehe P. Spade, in CHLMP, 196 sowie W. Kneale and M. Kneale, The Development of Logic (Oxford: Oxford University Press, 1962), 252.

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Wenn wir den Satz als wahr gelten lassen wollen, müssen wir die Wahrheit von Sätzen als etwas ansehen, das auf der Grundlage des gesamten vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Inhalts des Universums bestimmt wird. Die Logiker des Mittelalters sahen dieses Problem als eines der Appellation des Ausdrucks „Dinosaurier“. Zwei philosophische Richtungen gingen mit diesem Problem auf unterschiedliche Weise um. Eine Richtung, zu der Wilhelm von Sherwood gehörte, vertrat die Auffassung, dass die standardmäßige Appellation eines Ausdrucks lediglich die gegenwärtig existierenden Dinge sind. Wenn man möchte, dass ein Ausdruck für etwas steht, das nicht mehr existiert, muss man auf den Ausdruck ein als Erweiterung bezeichnetes Verfahren anwenden. Die andere Auffassung, der sich Peter von Spanien anschloss, meinte, die standardmäßige Appellation eines Ausdrucks umfasse alle Dinge, auf die er anwendbar sei – seien es gegenwärtig oder in der Vergangenheit oder in der Zukunft existierende Dinge. Wollte man die Supposition eines Ausdrucks auf den aktuellen Inhalt des Universums einschränken, so musste man ein als Restriktion bezeichnetes Verfahren darauf anwenden (SL 199–208). Beide Denkrichtungen stellten komplizierte Regeln auf, um anzuzeigen, in welchen Fällen der Kontext nach einer Erweiterung beziehungsweise einer Restriktion verlangte.

Aussagen und Syllogismen Wenden wir uns im Anschluss an die Logik der Ausdrücke der Aussagenlogik zu, so stellen wir fest, dass die Philosophen des Mittelalters, die annahmen, Nomen seien Ausdrücke für Begriffe des Geistes, die dazu analoge Auffassung vertraten, Sätze drückten die Meinungen im Geist des Menschen aus. Im Anschluss an Aristoteles unterschieden sie zwischen einfachen Gedanken, die in einzelnen Wörtern ausgedrückt wurden, und komplexen Gedanken, die durch Kombinationen von Wörtern ausgedrückt wurden. Hierin ebenfalls Aristoteles folgend, behaupteten sie, es gebe zwei verschiedene Tätigkeitsweisen des Intellekts: Eine sei das Verstehen nichtkomplexer Aussagen, die andere die Komposition und Zerlegung einer Aussage (vgl. Thomas von Aquin, I Sent. 19. 5 ad 1). Eine Aussage, so wird uns immer wieder gesagt, sei eine Kombination von Wörtern, die etwas ausdrücken, das entweder wahr oder falsch ist. Es bereitet eine Reihe von Schwierigkeiten, diese Beschreibungen des Wesens eine Aussage miteinander in Einklang zu bringen. Zunächst ist klar – wenn wir (mit Abelard) zwischen Prädikation und Behauptung unterschieden haben –, dass ein aus einem Objekt und einem Prädikat bestehender komplexer Ausdruck weder eine Behauptung aufstellen noch eine Überzeugung zum Ausdruck bringen muss. (Einige mittelalterliche Logiker heben diese Unterscheidung dadurch hervor, dass sie behaupten, nicht jede Aussage sei die Artikulation eines Gedankens [engl. enunciation]. 11) 11 L. de Rijk, Logica Modernorum (Assen: van Gorcum, 1962–6), ii. 1., 342.

Aussagen und Syllogismen

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Zweitens scheint „Komposition und Zerlegung“ bei Aristoteles dasselbe zu bedeuten wie „positive und negative Urteile“: Doch werden Subjekt und Prädikat in einem negativen Urteil nicht ebenso zu einem einzigen Komplex verbunden wie in einem positiven? Thomas von Aquin schlug für dieses Problem folgende Lösung vor: „Wenn wir betrachten, was im Geist von sich aus geschieht, so liegt immer eine Kombination vor, wo es Wahrheit und Falschheit gibt, denn der Geist kann nichts Wahres oder Falsches hervorbringen, sofern er nicht einen einfachen Begriff mit einem anderen verbindet. Wird hingegen die Beziehung zur Wirklichkeit betrachtet, so wird die Tätigkeit des Geistes manchmal als ,Kombination’ und manchmal als ,Zerlegung’ bezeichnet: als ,Kombination’, wenn der Geist einen Begriff neben einen anderen setzt, um die Kombination oder Identität der Dinge darzustellen; als ,Zerlegung’, wenn er einen Begriff so neben einen anderen setzt, dass die entsprechenden Wirklichkeiten als getrennt dargestellt werden. Von Sätzen reden wir auf die gleiche Weise: Ein bejahender Satz wird als ,Kombination’ bezeichnet, weil er eine Verbindung in der Wirklichkeit bezeichnet; ein verneinender Satz wird als ,Zerlegung’ bezeichnet, weil er bedeutet, dass die Wirklichkeiten getrennt sind.“ (In I Periherm. 1. 3, 26)

Eine Aussage ist, unabhängig davon, ob sie behauptet wird oder nicht, wahr oder falsch, d. h., sie wird der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Dasselbe gilt für den dazugehörenden Gedanken, sei es eine Überzeugung oder das bloße Bedenken einer Vermutung. Doch nur durch den Sprechakt der Behauptung, oder die entsprechende geistige Handlung des Urteilens, legt sich der Denkende oder Sprechende auf die Wahrheit der Aussage fest. Vor diesem Hintergrund können wir die Frage aufwerfen: „Was bezeichnen Aussagen?“ Wenn wir „bezeichnen“ als gleichbedeutend mit „ausdrücken“ ansehen, fällt die Antwort leicht: Gesprochene und geschriebene Aussagen drücken Gedanken im Geist des Menschen aus. Doch dann ergibt sich eine weitere Frage: Was bezeichnen solche geistige Aussagen? „Bezeichnen“ muss hier „bedeuten“ näher stehen als „ausdrücken“. Es scheint, dass Aussagen nichts in der Welt bezeichnen können, da eine Aussage dasselbe bezeichnen muss, ob sie wahr oder falsch ist, und wenn die Aussage falsch ist, gibt es in der Welt nichts, dem sie korrespondiert. Im 13. Jahrhundert war die gängigste Antwort auf diese Frage im Wesentlichen diejenige, die Abelard gegeben hatte: Was einen Satz wahr macht, ist ein in der Welt bestehender Zustand. Abelard hatte dies ein dictum genannt, andere ein enuntiabile. 12 Doch die meisten fanden es schwer, eine deutliche Erklärung seines metaphysischen Status zu geben. Ein Autor meinte, enuntiabilia seien weder Substanzen noch Qualitäten, sondern bildeten eine eigene Klasse, die in Aristoteles’ Kategorien nicht zu finden sei. Es seien keine berührbaren Entitäten, sondern sie könnten nur mit dem Verstand erfasst werden. 13 Wie wir 12 Anm. d. Übers.: von lat. enuntiare: aussagen, aussprechen. 13 L. de Rijk, Logica Modernorum (Assen: van Gorcum, 1962–6), ii. 1. 357–9. Ein besonderes

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3 Logik und Sprache

Studenten des Mittelalters lernten ihre logischen Gedächtnisstützen in Klassenzimmern wie diesem.

noch sehen werden, wurde die Existenz solcher Entitäten im 14. Jahrhundert infrage gestellt. Es stellt sich jedoch noch eine weitere, verwandte Frage: Von welcher Art ist das, was wahr oder falsch ist? Sätze, Gedanken und dicta können alle als wahr bezeichnet werden. Doch welche dieser Entitäten sind die primären Träger des Wahrheitswertes? Die Frage spitzt sich besonders dann zu, wenn wir die Beziehung zwischen Wahrheit und Zeit betrachten. Manche Philosophen glauben, dass alles, was wir in natürlichen Sprachen mithilfe von Aussagen in einer bestimmten Zeitform ausdrücken, in einer logischen Sprache ausgesagt werden könne, die keine Zeitstufen enthält. Ihre Sätze enthielten Verben ohne Zeitform, darüber hinaus jedoch einen expliziten Zeitbezug oder eine Quantifikation über verschiedene Zeiten. Der zur Zeit t1 ausgesprochene Satz „Es wird regnen“ müsste nach dieser These so verstanden werden, dass er eine Aussage macht, die Folgendes behauptet: Zu irgendeiner Zeit t später als t1 regnet es (zeitlos). Es wird nach wie vor kontrovers diskutiert, ob eine solche Übersetzung von Sätzen in einer bestimmten Zeitform in zeitlose Aussagen, ohne dass die Sätze etwas von ihrem Inhalt einbüßen, möglich ist. Im Mittelalter konnte man sich für derartige Übersetzungen nicht begeistern. Im Allgemeinen ging man davon aus, dass sowohl enuntiabilia als auch Sätze eine bestimmte Zeitform hatten. Daher konnten Sätze und enuntiabilia ihren Wahrheitswert ändern. Man zitierte häufig Aristoteles, der gesagt habe, dass derselbe Satz „Sokrates sitzt“ wahr ist, wenn Sokrates sitzt, und falsch, wenn er aufsteht. 14 Die größte Annäherung an zeitlose Aussagen, zu der es im Denken der Logiker des Mittelalters kam, war eine Disjunktion zeitbestimmter Aussagen. In diesem Sinne wurde manchmal vorgeschlagen, es gebe einen einzigen Glaubensgegenstand, an den die jüdischen Propheten und die christlichen Heiligen gleicherweise glaubten. Dies sei die Aussage: „Christus wird geboren werden, oder Christus wird geboren oder Christus wurde geboren.“ 15 Problem stellte die Signifikation von Aussagen in einer bestimmten Zeitform dar, das bei der Behandlung der göttlichen Voraussicht ständig wiederkehrte. Siehe Kapitel 9. 14 Dieses Problem wurde besonders im Zusammenhang mit Gottes zeitlosem Wissen von Ereignissen in der Zeit erörtert; siehe Kapiel 9. 15 Vgl. G. Nuchelmans, „The Semantics of Propositions“, in CHLMP, 202.

Aussagen und Syllogismen

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Die Logikhandbücher des 13. Jahrhundert enthielten, zusätzlich zu den Erörterungen über Ausdrücke und Aussagen, auch größere Abschnitte über die Theorie des logischen Schließens. Im Zentrum ihrer Behandlung dieses Themas stand die Syllogistik von Aristoteles. Die Logiker dachten sich Knittelverse aus, mit deren Hilfe man mit den Schlussregeln einfacher umgehen und sie sich leichter merken konnte. Die bekanntesten dieser Verse sind die folgenden: Barbara celarent darii ferio baralipton Celantes dabitis fapesmo frisesomorum; Cesare campestres festino baroco; darapti Felapton disamis datisi bocardo ferison.

Jedes Wort stellt einen bestimmten Modus einer gültigen Schlussregel dar, wobei die Vokale das Wesen der drei Aussagen angeben, aus denen sie besteht. Der Buchstabe „a“ steht für eine allgemeine bejahende Aussage und der Buchstabe „i“ für eine bejahende partikuläre Aussage. (Diese Buchstaben wurden gewählt, da es die beiden ersten Vokale in affirmo, „ich behaupte“, sind.) Der Buchstabe „e“ steht für eine allgemeine verneinende und „o“ für eine partikuläre verneinende Aussage. (Die Wahl dieser Vokale erklärt sich daraus, dass nego die lateinische Übersetzung von „ich bestreite“ ist.) Ein Syllogismus im Modus Barbara enthält drei allgemeine Aussagen (zum Beispiel „Alle Kätzchen sind Katzen; alle Katzen sind Tiere; daher sind alle Kätzchen Tiere“). Ein Syllogismus im Modus Celarent hat demgegenüber als Prämisse eine allgemeine verneinende und eine allgemeine bejahende Aussage sowie eine allgemeine verneinende Schlussfolgerung (zum Beispiel „Keine Katzen sind Vögel; alle Kätzchen sind Katzen; daher ist kein Kätzchen ein Vogel“). Die ersten vier Modi des Schließens galten als die am leichtesten verständlichen Formen des gültigen Argumentierens. Daher enthielten die mnemotechnischen Wörter für die späteren Modi Anweisungen dazu, wie diese sich in Argumente im einen oder anderen der ersten vier Modi umwandeln ließen. Der Anfangsbuchstabe der Namen jedes Modus zeigt an, in welchen der ersten vier Modi er umzuwandeln ist. „C“ am Anfang von „Cesare“ zeigt, dass er in einen Syllogismus in Celarent umzuwandeln ist. Andere Buchstaben zeigen an, wie dies erreicht werden kann: Das „s“ nach dem ersten „e“ in Cesare zeigt, dass die Reihenfolge der Ausdrücke in dieser Prämisse umgekehrt werden muss. Auf diese Weise wird „Keine Vögel sind Katzen; alle Kätzchen sind Katzen; daher ist kein Kätzchen ein Vogel“, eine Schlussfigur im Modus Cesare, durch die Umkehrung der Ausdrücke in der ersten Prämisse in die (oben veranschaulichte) Schlussfigur im Modus Celarent umgewandelt. Das Vorkommen des Buchstabens „c“ innerhalb eines der als Gedächtnisstützen verwendeten Wörter zeigt an, dass die Umwandlung in den bevorzugten Modus auf eine besonders komplizierte und schwierige Art durchzuführen ist, die wir hier nicht veranschaulichen müssen. Dieses Verfahren hatte jedoch auf die Logikstudenten eine so große Wirkung, dass von den beiden Wörtern, die solch ein „c“ enthielten, Baroco

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seinen Namen einem äußerst aufwendigen Architekturstil gab, und Bocardo der Name des Gefängnisses wurde, in das straffällige Oxforder Studenten eingesperrt wurden. Derartige Gedächtnishilfen, so einfallsreich sie auch sind, wurden von den Autoren der Renaissance als im wahrsten Sinne barbarisch verspottet, und sie trugen dazu bei, dass die mittelalterliche Logik in der Neuzeit in Verruf geriet.

Thomas von Aquin über Denken und Sprache Thomas von Aquin trug zwar zur formalen Logik nur wenig bei, doch er dachte intensiv über das Wesen der Sprache und die Beziehung zwischen Sprache und Denken nach. Er schlägt verschiedene Klassifikationen von Sprechakten und dessen vor, was man als die ihnen korrespondierenden Denkakte bezeichnen könnte. Seine Reflexionen gehen von einem Text von Aristoteles aus, der eine Unterscheidung zwischen zwei Arten intellektueller Aktivität vornimmt. „Es gibt, wie Aristoteles in De Anima sagt, zwei Arten der Aktivität unseres Verstandes. Eine besteht darin, die Begriffe einfacher Washeiten zu bilden, etwas was ein Mensch ist oder was ein Tier ist. Bei dieser Aktivität findet sich, betrachtet man sie für sich selbst, weder Wahrheit noch Falschheit, ebensowenig wie in nicht-zusammengesetzten Äußerungen. Die andere besteht im Zusammensetzen und Auseinandernehmen durch Bejahen und Verneinen: Hierbei kommt es zu Wahrheit und Falschheit, ebenso wie in zusammengesetzten Äußerungen, die ihr Ausdruck sind.“ (DV 14. 1)

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten des Denkens steht mit dem sprachlichen Unterschied in Zusammenhang, der zwischen der Verwendung einzelner Wörter und der Bildung vollständiger Sätze besteht. Dies zeigt sich, wenn Thomas erklärt, dass sich jeder Denkakt als Hervorbringung eines inneren Wortes oder Satzes ansehen lässt. „Das ‚Wort‘ unseres Verstandes […] ist das Ziel (terminus) unserer Verstandeshandlung. Es ist der Gedanke selbst, der als Verstandesbegriff bezeichnet wird: Hierbei kann es sich entweder um einen Begriff handeln, der durch eine nicht-zusammengesetzte Äußerung ausgedrückt werden kann, zum Beispiel wenn der Verstand die Washeit von Dingen bildet, oder um einen Begriff, der durch eine komplexe Äußerung ausgedrückt werden kann, zum Beispiel wenn der Verstand zusammenfügt und trennt.“ (DV 4. 2c)

Wie wir bereits gesehen haben, bereiten die Begriffe der „Zusammenfügung und Trennung“ des Verstandes einige Schwierigkeiten. Das Musterbeispiel solcher Zusammenfügung und Trennung ist das Fällen bejahender und verneinender Urteile. Doch es gibt auch noch andere Arten von komplexen Gedanken. Außer zu urteilen, dass p und dass nicht-p, kann ich mich fragen, ob p wahr ist, oder einfach den Gedanken,

Thomas von Aquin über Denken und Sprache

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dass p, als Teil einer Erzählung erfassen. Betrachten wir eine beliebige Aussage, wie etwa „Rauchen führt zu Taubheit“ oder „Saudi-Arabien ist im Besitz von Kernwaffen“. Bezüglich solcher Aussagen kann ein negatives oder positives Urteil entweder gefällt oder nicht gefällt werden. Wenn es gefällt wird, kann es zu Recht oder Unrecht gefällt werden, mit oder ohne Zögern, aufgrund von Argumenten oder der Evidenz seiner Wahrheit. Thomas klassifiziert die Ausübung der Verstandeskräfte auf der Grundlage dieser verschiedenen Möglichkeiten: Der Zurückhaltung im Urteil (dubitatio) entspricht der Zweifel, der zögerlichen Zustimmung, die die Möglichkeit des Irrtums zulässt, die Meinung (opinio). Eine bedingungslose Zustimmung zu einer Wahrheit aufgrund ihrer Evidenz ist das Verstehen (intellectus). Einer Wahrheit auf der Grundlage von Gründen vorbehaltlos zustimmen, ist Wissen (scientia), während die fraglose Zustimmung ohne zwingende Gründe Glaube oder Vertrauen (credere, fides) ist. Alle diese Arten der Ausübung der Verstandeskräfte sind Fälle von Zusammenfügung und Trennung. Doch wie verhält es sich mit der anderen Tätigkeit des Verstandes, der Erfassung nicht-zusammengesetzter Begriffe? Thomas scheint an verschiedenen Stellen zwei verschiedene Beschreibungen hierfür zu geben. Manchmal scheint er diese Tätigkeit mit der Fähigkeit gleichzusetzen, ein Wort zu verwenden. In diesem Fall verfügte jemand über den Begriff Gold, wenn er die Bedeutung von „Gold“ versteht. An anderen Stellen setzt Thomas einen Begriff jedoch mit der Erkenntnis der Quiddität oder des Wesens von etwas gleich: In diesem Fall würde nur der Chemiker, der die Eigenschaften des Goldes mit seiner Ordnungszahl und seinem Platz im Periodensystem der Elemente verbinden kann, einen wirklichen Begriff von Gold haben (ST 1a 3. 3 und 1a 77. 1 ad 3). Er war sich des Unterschieds zwischen diesen beiden Arten von Begriffen wohl bewusst: Er weist beispielsweise darauf hin, dass wir zwar wissen können, was das Wort „Gott“ bedeutet, sein Wesen jedoch weder erkennen noch jemals erkennen können (zum Beispiel ST 1a 2. 2 ad 2). Wie eng ist für Thomas die Verbindung zwischen Sprache und Denken? Was ist die Beziehung zwischen diesen verschiedenen geistigen Handlungen und den ihnen korrespondierenden Sprechakten? Thomas war der Überzeugung, dass sich jedes Urteil, das gefällt werden kann, durch einen Satz ausdrücken lässt (DV 2.4). Daraus folgt nicht, und Thomas behauptet dies auch nicht, dass jedes Urteil in Worte gefasst wird, sei es öffentlich oder in der Einbildungskraft des einzelnen Menschen. Und ferner sind, obwohl sich jeder Gedanke sprachlich ausdrücken lässt, nur eine kleine Anzahl von ihnen Gedanken über Sprache. In der Frage des Universalienstreits ist Thomas’ Ausgangspunkt seine Ablehnung des Platonismus, den er auf folgende Weise beschreibt: „Platon nahm, um die Tatsache zu retten, dass wir sicheres Verstandeswissen von der Wahrheit haben, zusätzlich zu den gewöhnlichen körperlichen Dingen eine weitere Klasse von Dingen an, die frei von Materie und Veränderung waren und die er Formen

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oder Ideen nannte. Aufgrund der Teilhabe an diesen Ideen wurden sämtliche berührbaren Einzeldinge ,Mensch’ oder ,Pferd’ oder was auch immer genannt. Daher war Platon der Auffassung, dass Definitionen und wissenschaftliche Wahrheiten und alle anderen Dinge, die mit der Tätigkeit des Verstandes in Zusammenhang stehen, nicht von den gewöhnlichen materiellen Körpern, sondern von diesen immateriellen Dingen in einer anderen Welt handelten.“ (ST 1a 84. 1c)

Nach Thomas wurde Platon durch die Lehre, dass Gleiches nur von Gleichem erkannt werden könne, insofern irregeleitet, als er annahm, die Form des Erkannten müsse auf genau dieselbe Weise im Erkennenden sein, wie sie im Erkannten ist. Es ist zwar wahr, dass die Gegenstände des Denkens im Verstand allgemein und immateriell sind, doch Universalien dieser Art existieren ausschließlich im Verstand und nirgends sonst. Thomas war bereit, Platon darin zuzustimmen, dass es Ideen gibt, die die Dinge zu dem machen, was sie sind: So gibt es beispielsweise eine Idee des Menschen, die Sokrates zu einem Menschen macht. Doch er bestritt, dass es irgendeine Idee solcher Art unabhängig von der Materie gebe. Es gibt außerhalb des Verstandes nicht so etwas wie das Wesen des Menschen an sich, ein absolutes, d. h. abgelöstes Wesen des Menschen. Es gibt lediglich die menschliche Natur von einzelnen Menschen wie Peter und Paul. Es gibt kein menschliches Wesen, das nicht das Wesen irgendeines Individuums ist, und es gibt weder im Himmel noch auf der Erde so etwas wie die Universalie Mensch (ST 1a 79c). Die menschliche Natur existiert im Geist durch Abstraktion von den individuellen Eigenschaften, und sie steht zu allen einzelnen Menschen außerhalb des Geistes auf gleiche Weise in Beziehung. Es gibt keine Idee des Menschen, sondern nur die Ideen verschiedener Menschen von dem, was zum Menschsein gehört. Platons Ideen werden zugunsten der Begriffe von Hinz und Kunz verworfen (DEE 3. 102–7). Das Menschsein eines individuellen Menschen war, wie Thomas dies ausdrückte, zwar „denkbar“ (weil es eine Form war), jedoch nicht „tatsächlich denkbar“ (weil es an Materie gebunden war). Um es tatsächlich denkbar zu machen, musste eine besondere geistige Kraft, der „aktive Intellekt“, darauf angewendet werden. Wir werden Thomas’ Erklärung dieses Vorgangs folgen, wenn wir uns seiner Philosophie des Geistes zuwenden.16 Im gegenwärtigen Kontext wollen wir die Frage stellen, welche Folgen Thomas’ anti-platonische Deutung der Allgemeinbegriffe für seine Semantik der Namen und Prädikate hat. Die Konsequenzen seiner Auffassung macht Thomas anhand einer Form von Universalie klar, nämlich der Art. Die Art Hund existiert nicht in der Wirklichkeit, und zum Hundsein gehört nicht, eine Art zu sein, obwohl Hunde eine Art ausmachen. Wenn eine Art zu sein Teil dessen wäre, was das Hundsein ist, dann wäre Fido eine Art. Wenn wir sagen, dass Hunde eine Art ausmachen, sagen wir – wenn 16 Vgl. Kapitel 7.

Analogie und Univozität

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Thomas Recht hat – in Wirklichkeit nichts über Hunde: Wir machen eine Aussage zweiter Ordnung über unsere Begriffe. Erstens behaupten wir, dass der Begriff „Hund“ ein Allgemeinbegriff ist: Er ist auf eine beliebige Anzahl von Hunden anwendbar. Zweitens behaupten wir, dass es sich um einen zusammengesetzten Begriff handelt, der andere Begriffe als Teilbegriffe enthält, wie beispielsweise den Begriff „Tier“. Gattung und Art werden in Bezug auf Prädikation definiert, und ein Prädikat ist etwas, das im Geist des Menschen durch bejahende und verneinende Urteile entsteht (DEE 3. 133–5). Einer der bekanntesten Beiträge von Thomas von Aquin zur Logik der Sprache ist seine Behandlung der analogischen Rede. Er führt das Thema auf unscheinbare Weise bei der Erörterung der Möglichkeit des Redens von Gott ein, doch es ist von weitreichender Anwendung. Indem er auf eine Reihe von dunklen Textpassagen bei Aristoteles zurückgreift, unterscheidet er zwei verschiedene Arten von Analogie: Die erste (die einige Scholastiker als „Analogie der Attribution“ bezeichneten) kann anhand des Begriffs „gesund“ veranschaulicht werden. Nimmt man es genau, können nur Lebewesen wie Tiere und Pflanzen gesund sein, doch auch eine bestimmte Art der Ernährung oder eine Gesichtsfarbe kann auf unmittelbar verständliche Weise als gesund bezeichnet werden. „Wir verwenden das Wort ‚gesund‘ in Bezug auf eine Ernährungsweise und eine Gesichtsfarbe, weil beide zur Gesundheit des Menschen in Beziehung stehen, das erste als Ursache und das zweite als Symptom“ (ST 1a 13. 5). Die andere Art der Analogie (die einige Scholastiker als „Analogie der Proportionalität“ bezeichneten) lässt sich mithilfe des analogischen Begriffs „gut“ erläutern. Ein gutes Messer ist ein handliches und scharfes Messer, eine gute Erdbeere ist eine weiche und wohlschmeckende Erdbeere. Offensichtlich ist das Gutsein eines Messers sehr verschieden von dem einer Erdbeere, doch es scheint kein bloßes Wortspiel zu sein, Messer und Erdbeeren „gut“ zu nennen. Ebenso wenig scheint man eine aus dem Umgang mit Messern gewonnene Metapher zu verwenden, wenn man eine bestimmte Anzahl von Erdbeeren als gut bezeichnet.

Analogie und Univozität Thomas behauptet, dass die Wörter, mit denen wir Gott und die Geschöpfe beschreiben, in beiden Fällen nicht im selben Sinne verwendet werden. In ähnlicher Weise meinen wir, um eines seiner Beispiele aufzugreifen, nicht dasselbe, wenn wir die Sonne oder einen Farbton als „hell“ bezeichnen. Einerseits ist es kein bloßes Wortspiel oder die Verwendung einer Metapher, wenn wir sagen, dass Gott weise ist und dass Sokrates weise ist. Nach Thomas liegt „diese Art der Verwendung von Wörtern irgendwo zwischen reiner Äquivokation und einfacher Univozität, denn das Wort wird weder im selben Sinne verwendet, wie beim univoken Gebrauch, noch in einem völlig anderen Sinn, wie bei der Äquivokation“ (ST 1a 13. 5). Diese Theorie der Analogie wurde von Duns Scotus verworfen, sowohl an sich als

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auch in ihrer Anwendung auf religiöse Sprache. Wenn es überhaupt möglich sein soll, über Gott zu reden, argumentierte Scotus, dann müsse es einige Wörter geben, die in der Anwendung auf Gott und die Geschöpfe dieselbe Bedeutung haben. Nicht alles theologische Reden kann analogisch sein, einiges muss univok sein. Scotus richtete sein Augenmerk auf Wörter wie „gut“ – Wörter, die er als „Transzendentalien“ bezeichnete, da sie die Grenzen der aristotelischen Kategorien überschreiten und auf alle von ihnen anwendbar sind. Wie Aristoteles selbst hervorgehoben hatte, können wir von guten Zeiten und guten Orten ebenso wie von guten Menschen und guten Eigenschaften reden (NE 1. 5. 1096a23–30). Scotus behauptete, sämtliche dieser transzendentalen Ausdrücke seien univok: Sie hatten einen einheitlichen Sinn, unabhängig davon, ob sie auf verschiedene geschaffene Dinge, oder ob sie auf die Geschöpfe oder Gott selbst angewendet wurden. Die wichtigste Transzendentalie war ens („Sein“). Substanzen und Akzidenzien, Geschöpfe und der Schöpfer waren alle Seiendes in genau demselben Sinn. Bei seiner Erörterung von Analogie und Univozität war Scotus’ Gegenspieler nicht Thomas von Aquin, sondern Heinrich von Gent. Heinrich hatte behauptet, dass sich hinter unserem unreflektierten Begriff des Seins zwei unterschiedliche Begriffe verbergen, einer, der sich auf das unendliche Sein Gottes, und ein anderer, der sich auf die geschaffenen Dinge bezieht, die unter die verschiedenen Kategorien fallen. Denkt man über diese Frage nach, so zeigt sich, dass es keinen einzigen univoken Begriff gibt, der sowohl auf Gott und die geschaffenen Dinge anwendbar ist. Es gibt allerdings eine hinreichende Ähnlichkeit zwischen den beiden Begriffen, die es uns ermöglicht, analogische Aussagen über Gott zu machen, und ihn nicht nur als ein Seiendes, sondern auch als gut, weise usw. zu beschreiben. Scotus verwirft die Vorstellung, es könne etwas auf halbem Wege zwischen Univozität und Äquivokation geben. Gewiss: Wenn wir es mit einfachen Begriffen zu tun haben, die keine Teilbegriffe enthalten, dann ist es unmöglich, dass der Sinn eines Wortes teilweise derselbe und teilweise ein anderer ist. Wenn die Begriffe, die wir auf Gott anwenden, äquivok sind – d. h., wenn sich ihr Sinn bei der Anwendung auf ihn von demjenigen der Anwendung auf die Geschöpfe deutlich unterscheidet –, können wir, wenn wir die Eigenschaften der Geschöpfe zugrunde legen, zu keinen Schlussfolgerungen über Gott gelangen. Jeder Versuch, ein analoges Prädikat als Mittelbegriff in einem Syllogismus zu verwenden, würde einen auf Äquivokation beruhenden Fehlschluss begehen (Lect. 16. 266). Nach Scotus ist ein Begriff univok, wenn „er in sich über eine ausreichende Einheit verfügt, sodass es einen Widerspruch bedeuten würde, ihn von demselben Ding bejahend und verneinend auszusagen. Er verfügt außerdem über ausreichende Einheit, um als Mittelbegriff eines Syllogismus dienen zu können, sodass wir, wann immer zwei Extreme durch einen Mittelbegriff verbunden werden, der auf diese Weise einheitlich ist, auf die Einheit der beiden Extreme untereinander schließen dürfen.“ (Ord. 3. 18)

Analogie und Univozität

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Um zu beweisen, dass es einen univoken Begriff des Seins geben kann, der auf Gott und die geschaffenen Dinge anwendbar ist, argumentiert Scotus auf folgende Weise: Wenn man sich des Satzes „S ist P“ sicher sein und gleichzeitig den Satz „S ist Q“ bezweifeln kann, dann müssen S und Q verschiedene Begriffe sein. Doch man kann sich sicher sein, dass Gott ein seiendes Wesen ist, während man darüber im Zweifel ist, ob er ein unendliches oder ein endliches Wesen ist. Daher ist der Begriff des Seins von dem eines unendlichen Wesens und eines endlichen Wesens – Heinrichs beiden einfachen Begriffen – verschieden und univok und sowohl endlich als auch unendlich im selben Sinne (Ord. 3. 29). Begriffe wie „Sein“, „gut“ und „eines“ sind daher für Scotus nicht nur in dem Sinne transzendent, dass sie die Grenzen der Kategorien übersteigen, sondern auch insofern, als sie die Kluft zwischen endlich und unendlich überschreiten. Scotus bestreitet nicht, dass es Begriffe gibt, die auf Gott und die geschaffenen Dinge in analoger Weise anwendbar sind. Er behauptet, dass diese Begriffe auf grundlegenderen univoken Begriffen aufbauen und ohne sie nicht existieren könnten. „Nehmen wir zum Beispiel die formalen Begriffe ‚Weisheit‘ oder ‚Intellekt‘ oder ‚Wille‘. Solch ein Begriff wird zunächst einfach für sich und absolut erwogen. Da dieser Begriff rein formal keine Unvollkommenheit oder Begrenzung enthält, wird von den damit bei geschaffenen Dingen verbundenen Unvollkommenheiten abstrahiert. Indem wir nun diese gleichen Begriffe der ‚Weisheit‘ und des ‚Willens‘ beibehalten, wenden wir sie auf Gott an – allerdings in einem vollkommenen Maß. Daher basiert jede Untersuchung in Bezug auf Gott auf der Voraussetzung, dass der Intellekt über den gleichen univoken Begriff verfügt, den er von den geschaffenen Dingen erhält.“ (Ord. 3. 26 f.)

Vielleicht sind die Auffassungen von Thomas, Heinrich und Scotus nicht so verschieden, wie es auf den ersten Blick scheint, denn die Ausdrücke derselbe Sinn und derselbe Begriff sind selbst nicht scharf voneinander abgegrenzt. Man könnte sagen, dass zwei Wörter einen verschiedenen Sinn haben, wenn ein Wörterbuch zwei verschiedene Definitionen für sie angibt. Doch wenn Thomas sagt, dass „gut“ ein analoger Ausdruck ist, muss er damit nicht behaupten, dass durch jede neue Anwendung von „gut“ eine neue lexikalische Einheit entsteht. Verschiedene Dinge haben unterschiedliche Eigenschaften, aufgrund derer wir sie als gut bezeichnen, doch dies bedeutet nicht, dass sich die Bedeutung von „gut“ in „gutes Pferd“ von der Bedeutung von „gut“ in „gute Zeit“ unterscheidet. Man könnte sogar behaupten, dass jemand, der nicht erkennt, dass „gut“ im Sinne von Thomas ein analoger Ausdruck ist, seine Bedeutung in der Sprache überhaupt nicht verstehen würde. Andererseits ist Scotus darin Recht zu geben, dass wir kein neues Vokabular erlernen, wenn wir „gut“ auf einen neuen Gegenstand anwenden. Ob „Sein“ ein analoger oder univoker Begriff ist, ist keine leicht zu beantwortende Frage, und zwar nicht aufgrund von Schwierigkeiten im Analogiebegriff, sondern wegen der fast durchgängigen Dunkelheit des mittelalterlichen Seinsbegriffs. Wenn

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3 Logik und Sprache

wir über Existenz reden, wie sie etwa in dem Satz „Es gibt einen Gott“ ausgedrückt wird, taucht die Frage, ob Sein ein analoger oder univoker Begriff ist, gar nicht auf, da wir, wenn wir einer Sache Existenz zuschreiben, keinem Subjekt ein Prädikat hinzufügen. Doch zumindest bei Scotus scheint der bloße Begriff „sein“, für sich genommen, gleichbedeutend mit einer riesigen Menge disjunktiv verbundener Prädikate: „ein Pferd sein oder eine Farbe oder ein Tag oder …“ bis ins Unendliche. Versteht man es auf diese Weise, ist „sein“ offensichtlich univok. Angenommen, das Universum enthielte nur die drei Dinge A, B und C. Dann schiene das Prädikat „… ist entweder A oder B oder C“ auf jedes der drei Dinge in genau demselben Sinn anwendbar zu sein.

Modistische Logik Scotus leistete keinen substanziellen Beitrag zur formalen Logik, obwohl seine metaphysischen Auffassungen zum Wesen von Kraft und Potenzialität eine bedeutende Langzeitwirkung auf die modale Logik haben sollten. Lange Zeit hielt man ihn jedoch für den Verfasser einer interessante Abhandlung im Grenzbereich von Logik und Linguistik, einer Grammatica Speculativa, die der junge Heidegger als Thema seiner Habilitationsschrift wählte. Die Forschung bestreitet heute, dass sie von Scotus geschrieben wurde, und sieht als ihren Verfasser Thomas von Erfurt an, einen seiner wenig bekannten Zeitgenossen, der um das Jahr 1300 schrieb. Das Werk ist wichtig, weil es einen neuen Zugang zur Logik darstellt, den sich Radulphus Brito (gest. 1320) und eine Reihe von Denkern des späten 13. Jahrhunderts zu eigen machten und der als „modistische Logik“ bezeichnet wurde, im Gegensatz zur „terministischen Logik“, der wir in den Werken Peter von Spaniens und Wilhelm Sherwoods begegnet sind. Statt die Eigenschaften von einzelnen Ausdrücken zu untersuchen, studierten die modistischen Logiker allgemeine grammatische Kategorien – wie zum Beispiel Nomen, Verben, Fälle und Zeitstufen –, die sie modi significandi, oder Weisen des Bezeichnens, nannten. Die Modisten vertraten die Auffassung, dass sprachliche Laute ihre Bedeutung durch Konvention erhalten, einen Vorgang, den sie als „Imposition“ bezeichneten. Die elementare Bedeutungseinheit war die dictio („Diktion“). Eine einzige Diktion konnte viele verschiedene Wortformen umfassen: zum Beispiel die Fälle eines lateinischen Nomens sowie die damit verbundenen Adjektive und Adverbien. Ein beliebtes Beispiel war die Diktion für „Schmerz“, wozu das Nomen dolor in seinen verschiedenen Fällen gehörte, das Verb doleo für das Empfinden von Schmerz, „schmerzen“ (wie in „es schmerzte sie“), sowie das Adverb dolenter, das die Bedeutung von „schmerzlich“ hat. Die grundlegende Konvention, durch welche die Diktion für „Schmerz“ zustande kommt, bezeichneten die Modisten als erste Imposition. Durch weitere Konventionen, eine zweite Imposition, wurden diejenigen modi significandi eingerichtet, durch die die verschiedenen Wortformen mit den unterschiedlichen Arten

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der Verwendung verbunden wurden.17 Einige modi significandi waren grundlegender als andere. Durch den elementarsten Bezeichnungsmodus wurde ein Wort als bestimmter Redeteil definiert, zum Beispiel als Nomen oder Verb. Andere akzidenzielle Bezeichungsweisen wiesen ihm Eigenschaften wie Kasus, Numerus, Tempus und Modus zu. Man erarbeitete komplizierte Regeln, mit denen sich feststellen ließ, welche modi significandi miteinander verbunden werden konnten, um einen wohlgeformten Satz zu bilden. Generell lässt sich sagen, dass das Studium der modi significandi ein Studium der Syntax war, während der Schwerpunkt der Semantik die ratio significandi war bzw. die Bezeichnungsrelation, die durch die erste Imposition zustande kommt. Die spekulativen Grammatiker versuchten jedoch, ein semantisches Element zu finden, das mit den Modi des Bezeichnens verbunden war. Der Sinn eines Ausdrucks wird durch die Kombination der ratio mit den modi fixiert. Man nannte dies die „formale Bedeutung“ eines Ausdrucks, seine Bedeutung aufgrund der Sprache (virtus sermonis). In moderner Terminologie könnten wir dies als seine lexikalische Bedeutung bezeichnen, seine durch ein Wörterbuch festgelegte Bedeutung. Im Kontext seiner tatsächlichen Verwendung hat ein Ausdruck jedoch auch eine Bedeutung, die durch seinen Sinn festgelegt wird. Wenn wir den lateinischen Satz Homo appropinquat vor uns haben, wird man uns vielleicht sagen, dass er aus dem Nominativ Singular des maskulinen Nomens homo, mit der Bedeutung „Mann“, sowie der dritten Person Singular des Verbs appropinquare, mit der Bedeutung „sich nähern“, besteht. Diese Information verdanken wir der virtus sermonis. Doch in einem konkreten Kontext können wir fragen, „welcher Mann“ sich nähert, und diese Tatsache eröffnet einen neuen Untersuchungsbereich. Die modistischen Logiker hatten hierzu verschiedene Vorschläge zu machen, sie wurden von späteren Philosophengenerationen jedoch nicht aufgegriffen. Stattdessen kam es zu einer Wiederbelebung der terministischen Logik, die die Theorie der Supposition entwickelt hatte, um genau auf die Fragen eingehen zu können, die sich bezüglich des Verhältnisses zwischen Sinn und Bedeutung ergeben.

Ockhams Sprache des Geistes Einer der bedeutendsten terministischen Logiker des 14. Jahrhunderts war Wilhelm von Ockham. Er schlägt ein neuartiges System vor: eine terministische Logik, die nominalistisch, nicht realistisch ist. Ockham vertrat die These, dass alle Zeichen Einzeldinge darstellen, da es so etwas wie Universalien, die sie stattdessen darstellen könnten, nicht gibt. Er bringt eine Reihe metaphysischer Argumente gegen die Auffassung vor, dass eine Universalie eine reale, allgemeine Natur existierender Einzeldinge ist. Wenn Einzeldinge Universalien enthielten, könnte kein Einzelding aus dem 17 Vgl. hierzu J. Pinborg, „Speculative Grammar“, in CHLMP, 254–69.

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Diese Kritzelei ist die früheste bekannte Darstellung von Ockham.

Nichts erschaffen werden, denn sein allgemeiner Teil würde bereits existieren. Andererseits würde Gott, wenn er ein Einzelding zerstörte, gleichzeitig alle anderen Individuen derselben Art zerstörten, indem er die ihnen gemeinsame Natur vernichtet (OPh. 1. 15). Ein Allgemeinbegriff ist etwas Einzelnes. Allgemein ist er nur durch die Signifikation, insofern er ein einzelnes Zeichen für viele Dinge ist. Es gibt zwei Arten von Allgemeinbegriffen: natürliche und konventionelle. Ein natürlicher Allgemeinbegriff ist ein Gedanke in unserem Geist (intentio animae). Konventionelle Zeichen werden zu Allgemeinbegriffen durch unsere Willensentscheidung: Es sind Wörter, die zum Ausdruck der Gedanken und zur Bezeichnung vieler Dinge geschaffen werden. Die Zeichen in unserem Geist werden zu mentalen Aussagen zusammengesetzt, und zwar

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auf die gleiche Weise, auf die gesprochene Wörter zusammengefügt werden, um einen ausgesprochenen Satz zu bilden (OPh. 1. 12). Ockham nahm an, dass diese mentalen Begriffe ein Sprachsystem ausmachen. Neben den gesprochenen, konventionellen Sprachen wie Englisch und Latein besaßen alle Menschen eine allgemeine, natürliche Sprache. Von dieser allgemeinen Sprache leiten die regionalen Sprachen ihre Signifikation ab. Diese mentale Sprache enthält einige, aber nicht alle grammatischen Funktionen, die von den modistischen Logikern studiert wurden. Sie enthält zum Beispiel Nomen und Verben, jedoch keine Pronomen und Partikel. Die Nomen verfügen über Kasus und Numerus und Verben über Genus und Tempus, doch es gibt keine unterschiedlichen Deklinationen der Nomen und verschiedene Konjunktionen der Verben wie im Lateinischen. Wenn zwei lateinische Ausdrücke oder zwei Ausdrücke in verschiedenen Sprachen miteinander synonym sind, dann entsprechen sie nach Ockham einem, nicht zwei Elementen der Sprache des Geistes. Hieraus folgt, dass es Synonymie in der Sprache des Geistes nicht gibt. Andere Logiker haben in späteren Jahrhunderten bisweilen versucht, ideale Sprachen zu konstruieren, die keine doppeldeutigen oder redundanten Ausdrücke enthalten. Man kann die moderne formale Logik als eine solche Idealisierung bestimmter Teile der natürlichen Sprache ansehen: der zur Verknüpfung von Aussagen dienenden Konjunktionen wie „und“, „oder“ und „wenn“, der quantifizierenden Wörter wie „alle“ und „einige“ sowie der verschiedenen Ausdrücke, bei denen es um die Zeitstufen und Modi des Verbs geht. Ockham gebührt das Verdienst, als einer der Ersten auf die Idealisierung hingewiesen zu haben, die bei der Abbildung der formalen Logik auf natürliche Sprachen eine Rolle spielt, auch wenn wir darüber schmunzeln müssen, wie bereit er war, idiomatische Aspekte des mittelalterlichen Lateins in die universale Sprache des Geistes aufzunehmen. Wenn ein Logiker eine ideale Sprache für einen bestimmten Zweck konstruiert, als Vergleichsobjekt, das dazu dienen kann, die Aufmerksamkeit auf diejenigen Aspekte natürlicher Sprachen zu lenken, die mehrdeutig sind oder leicht zu Verwirrungen führen, so ist dies eine Sache. Es ist eine andere Sache, wenn – mittelalterliche oder moderne – Logiker behaupten, dass ihre ideale Sprache in unserer Verwendung der natürlichen Sprache bereits irgendwie gegenwärtig ist und dass sie die letztgültige Erklärung der Bedeutung der Art und Weise enthält, auf die wir Wörter in der Alltagssprache verwenden. Wenn dies Ockhams Absicht war, dann war seine Erfindung der Sprache des Geistes vergeblich, denn sie erfüllt keine derartige Erklärungsfunktion. Erstens stellt das Wesen derjenigen Elemente der Sprache des Geistes, die den gesprochenen und geschriebenen Nomen entsprechen, ein Problem dar. Ockham selbst scheint dieses Problem erkannt und seine Meinung zu dieser Frage mindestens einmal geändert zu haben. Anfänglich setzte er die Namen in der Sprache des Geistes mentalen Bildern und Vorstellungen gleich. Es waren Schöpfungen des Geistes – „Fiktionen“, die als Elemente in mentalen Aussagen und als Stellvertreter der Dinge

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dienten, denen sie glichen. Fiktionen konnten allgemein in dem Sinne sein, dass sie mehreren verschiedenen Dingen auf gleiche Weise ähnlich waren. Welchen Status haben diese Fiktionen? Zu diesem Zeitpunkt behauptet Ockham, dass sie keine reale Existenz haben, sondern nur, was er als „objektive Existenz“ bezeichnet, d. h. Existenz als Objekt des Denkens. Es sind schließlich Fiktionen nicht nur von in der Wirklichkeit existierenden Dingen, sondern auch von Schimären und Bockhirschen, bei denen es sich um Fiktionen im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes handelt. Wenn wir einen Gedanken denken, sind zwei Dinge zu unterscheiden: unser Denkakt, und das, woran wir denken, d. h. der Inhalt oder das Objekt unseres Denkens. Letzteres ist die Fiktion und dasjenige, was als Element einer in der Sprache des Geistes formulierten Aussage vorkommt. Später hielt Ockham diese Unterscheidung für unberechtigt. Es gibt keinen Grund für die Annahme von Objekten des Denkens: Die einzigen Elemente, die zur Unterstützung der Sprache des Geistes benötigt werden, sind die Gedanken selbst. Im Gegensatz zu einer Schimäre ist Mein-Denken-an-eine-Schimäre eine reale Entität, eine zeitweise Qualität meiner Seele oder eine Episode in ihrer Geschichte. Kommen mentale Namen in mentalen Sätzen vor, dann als Elemente im Denken des Satzes. Zu einer Entscheidung darüber, ob es sich dabei um sukzessive Stadien im Denken des Satzes, eine Reihe gleichzeitiger Gedanken oder um einen einzigen komplexen Gedanken handelt, scheint Ockham nicht gelangt zu sein. Es gibt gute Gründe für Ockhams Zögern in diesem Punkt, denn die Analogie zwischen Sprache und Denken versagt, wenn wir ihre zeitliche Dauer bedenken. Das Aussprechen von Wörtern nimmt Zeit in Anspruch: Ein Wort folgt auf ein anderes. Für mentale Bilder von Wörtern gilt das Gleiche, zum Beispiel wenn man in Gedanken ein Gedicht aufsagt. Gedanken sind jedoch hiervon sehr verschieden: Der gesamte Inhalt eines Urteils muss dem Geist gleichzeitig präsent sein, wenn es überhaupt zu einem Urteil kommen soll, und die Vorstellung einer zeitlichen Abfolge der Elemente eines Gedankens ist völlig abwegig. 18 Wie immer man sich mentale Namen vorstellt: Nach Ockham beziehen sie sich alle auf einzelne Objekte oder stehen dafür, da es in der Wirklichkeit so etwas wie Universalien nicht gibt. Zu diesen einzelnen Objekten können jedoch einzelne Gedanken gehören. Ockhams Nominalismus zwingt ihn dazu, die Theorie der Supposition, die wir bei früheren Logikern wie Peter von Spanien kennengelernt haben, zu verändern. 19 Ockham definiert die Hauptformen der Supposition neu: als einfache und personale Supposition. Eine einfache Supposition war so definiert worden, dass hierbei ein Wort für eine von ihm bezeichnete Sache steht, und dies hatte man so verstanden, dass daraus folgte, dass das Subjekt „der Mensch“ in einem Satz wie beispielsweise „Der Mensch ist sterblich“ für einen Allgemeinbegriff steht. Doch für Ockham liegt eine einfache 18 Vgl. P. T. Geach, Mental Acts (London: Routledge & Kegan Paul, kein Datum), 104 f. 19 Siehe Seite 138.

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Supposition vor, wenn ein Wort für eine mentale Entität steht, wie etwa in dem Satz „Der Mensch ist eine Art“, in dem „der Mensch“ für einen mentalen Ausdruck steht, für das Einzige, das eine Art sein kann. Dies ist kein Fall, in dem ein Wort für etwas steht, was es bezeichnet, denn der Ausdruck „der Mensch“ bezeichnet einzelne Menschen und sonst nichts. Bei der personalen Supposition trifft es wirklich zu, dass ein Ausdruck für das steht, was er bezeichnet. In dem Satz „Jeder Mensch ist ein Tier“ steht das Wort „Mensch“ für das von ihm Bezeichnete, denn Menschen sind genau das, was es bezeichnet – nicht etwas, das ihnen gemeinsam ist, sondern die Menschen selbst. Doch es kann eine personale Supposition selbst dann geben, wenn ein Ausdruck nicht für ein Ding in der Welt steht. „Personale Supposition liegt vor, wenn ein Ausdruck für etwas steht, das er bezeichnet, unabhängig davon, ob es sich dabei um eine extramentale Wirklichkeit oder ein Wort oder einen Begriff des Geistes oder um etwas Geschriebenes oder um irgendetwas anderes Vorstellbares handelt.“ (OPh. 1. 64) Die personale Supposition ist für Ockham grundlegend und sie ist auf Prädikate und Subjekte anwendbar. Ein Prädikat bezeichnet und ist eine Supposition für das, wovon es wahr ist. Sind Peter, Paul und Johannes also die einzigen Menschen, die es gibt, dann steht das Wort „Mensch“ in den Sätzen „Jeder Mensch ist sterblich“ und „Jeder Apostel ist ein Mensch“ für Peter, Paul und Johannes. Dies scheint zu besagen, das der erste Satz gleichbedeutend ist mit „Peter, Paul und Johannes sind sterblich“ und der zweite Satz mit „Jeder Apostel ist entweder Peter, Paul oder Johannes“. Mit anderen Worten: Ein Allgemeinbegriff ist das Äquivalent einer Liste von Eigennamen – einer konjunktiven Liste im ersten Fall und einer disjunktiven im zweiten.

Wahrheit und logisches Schließen bei Ockham Ockham verwendet den Begriff der Supposition zur Definition der Wahrheit. Ein Satz wie „Sokrates ist ein Mensch“ ist genau dann wahr, wenn der Subjektbegriff „Sokrates“ und der Prädikatsausdruck für dieselbe Sache stehen. Dies wird manchmal als Zwei-Namen-Theorie der Wahrheit bezeichnet: Eine bejahende kategorische Aussage ist wahr, wenn sie als Subjekt und Prädikat zwei Namen für dieselbe Sache verbindet. Doch Ockhams Theorie ist etwas komplizierter als dies, zumindest wenn wir unter Namen Eigennamen verstehen. Wie wir gesehen haben, ist für Ockham ein allgemeiner Begriff kein Eigenname, sondern er entspricht einer Liste von Eigennamen, und die Wahrheitsbedingungen, die er hinsichtlich der Identität der Supposition festlegt, entsprechen der Anforderung, dass ein bejahender kategorischer Satz nur dann wahr sein kann, wenn derselbe Eigenname in der Subjekts- und der Prädikatsliste vorkommt. Es lässt sich leicht zeigen, dass die einfache Zwei-Namen-Theorie nicht haltbar ist. Wenn der Satz „Sokrates ist ein Philosoph“ wahr ist, weil Sokrates sowohl „Sokrates“ als auch „Philosoph“ genannt werden kann, dann lässt sich nur schwer erken-

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nen, wie die Wahrheitsbedingungen des Satzes „Sokrates ist kein Hund“ zu erklären sind. Um zu wissen, dass „Hund“ kein Name für Sokrates ist, müssen wir wissen, von was das Wort ein Name ist, und es scheint keine Antwort auf die Frage zu geben: „Welcher Hund ist es, der Sokrates nicht ist?“ Die komplexere Theorie von Ockham hat eine Antwort auf diese Schwierigkeit: Die Liste, die „Hund“ entspricht, und die (nur ein Element enthaltende) Liste für „Sokrates“ enthalten keinen gemeinsamen Ausdruck. Doch diese Antwort hat ihre eigenen Probleme. Wenn jeder allgemeine Begriff eine Abkürzung für eine Liste von Eigennamen ist, dann muss jede Aussage entweder notwendigerweise wahr oder notwendigerweise falsch sein. Der Satz „Sokrates ist ein Mensch“ ist sicherlich mehr als eine redundante Identitätsaussage. Doch er wird zu einer solchen Aussage, wenn er die Bedeutung von „Sokrates ist entweder Sokrates oder Platon oder Aristoteles“ hat. 20 Den logischen Beziehungen zwischen verschiedenen Aussagen, der Theorie der consequentiae, wie man sie im 14. Jahrhundert nannte, widmete Ockham große Aufmerksamkeit. Frühere Autoren hatten das Wort im Sinne von „Bedingungssatz“ verwendet. Versteht man es auf diese Weise, wäre ein Beispiel für eine consequentia der folgende Satz: Wenn Sokrates ein Mensch ist, ist Sokrates ein Tier,

wobei „Sokrates ist ein Mensch“ der Vordersatz und „Sokrates ist ein Tier“ der Folgesatz ist. So verstanden konnten consequentiae wahr oder falsch und notwendig oder zufällig sein. Logiker waren besonders an consequentiae interessiert, bei denen es sich, wie im obigen Beispiel, um notwendige Wahrheiten handelte. In solchen Fällen konnte man ein entsprechendes Argument aufstellen: Sokrates ist ein Mensch. Deshalb ist Sokrates ein Tier.

Hier haben wir es nicht mit einer, sondern mit zwei Aussagen zu tun: Der Vordersatz ist hier die Prämisse und der Nachsatz die Schlussfolgerung. Im Gegensatz zu Aussagen sind Argumente nicht wahr oder falsch, sondern gut oder schlecht, das heißt gültig oder ungültig, je nachdem, ob sich die Schlussfolgerung aus den Prämissen ergibt oder nicht. Die Abhandlungen des 14. Jahrhunderts über consequentiae waren vor allem darum bemüht, gute von schlechten Argumenten zu unterscheiden, weniger darum, den darin enthaltenen Aussagen Wahrheitswerte zuzuweisen. Argumente können eine beliebige Anzahl von Prämissen enthalten: Aristotelische Syllogismen, die nur 20 Siehe W. Kneale and M. Kneale, The Development of Logic (Oxford: Oxford University Press, 1962), 268.

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zwei Prämissen enthalten, waren nur eine Klasse der consequentiae. Die Prämissen und Schlussfolgerungen konnten verschiedene Formen haben: Sie konnten Einzelaussagen enthalten und nicht nur Aussagen mit Quantoren, wie sie in Syllogismen vorkommen. Ockham unterscheidet zunächst zwischen „einfachen Konsequenzen“ und „gegenwärtigen Konsequenzen“. Eine einfache Konsequenz gilt, wenn der Vordersatz nicht wahr sein kann, ohne dass der Folgesatz ebenfalls wahr ist, wie in dem Beispiel: „Kein Tier läuft, daher läuft kein Mensch“. Eine gegenwärtige Konsequenz ist gültig, wenn der Vordersatz gegenwärtig nicht wahr sein kann, ohne dass der Folgesatz wahr ist, selbst wenn dies zu irgendeiner anderen Zeit der Fall sein könnte. Ein Beispiel hierfür wäre: „Jedes Tier läuft, daher läuft Sokrates.“ Wenn Sokrates gestorben sein wird, kann der Vordersatz wahr sein, ohne dass der Folgesatz wahr ist (OPh. III. 3. 1). Eine zweite Unterscheidung, die Ockham vornimmt, trennt Konsequenzen, deren Gültigkeit intern ist (per medium intrinsecum), von solchen, deren Gültigkeit extern ist (per medium extrinsecum). Eine Konsequenz ist extern gültig, wenn ihre Gültigkeit nicht von der Bedeutung irgendwelcher Ausdrücke in der Prämisse und Schlussfolgerung abhängt. In diesem Fall kann die Konsequenz in einer schematischen Form ausgedrückt werden, in der nur Variablen vorkommen, wie zum Beispiel: Wenn nur As Bs sind, dann sind alle Bs As. Eine Konsequenz ist intern gültig, wenn ihre Gültigkeit von der Bedeutung eines der Ausdrücke abhängt. Die Gültigkeit von „Sokrates läuft, daher läuft ein Mensch“ hängt von der Tatsache ab, dass Sokrates ein Mensch ist. Es gibt kein allgemeines Prinzip, nach dem gelten würde: „Wenn X läuft, dann läuft ein A.“ (OPh. III. 3. 1) Schließlich unterscheidet Ockham noch zwischen materialen und formalen Konsequenzen. Nach seinen Beispielen scheint es, dass er als formale Konsequenzen sowohl die extern als auch die intern gültigen ansieht. Bei einer materialen Konsequenz hängt demgegenüber die Tatsache, dass der Vordersatz nicht wahr sein kann, ohne dass der Folgesatz wahr ist, nicht an irgendeiner externen oder internen Verbindung zwischen dem Inhalt des Vordersatzes und dem Inhalt des Nachsatzes. Diese Unmöglichkeit ergibt sich entweder daraus, dass der Vordersatz notwendigerweise falsch ist, oder dass der Folgesatz notwendigerweise wahr ist. Daher sind „Wenn ein Mensch ein Esel ist, dann existiert Gott nicht“ und „Wenn ein Mensch läuft, dann existiert Gott“ beides gültige materiale Konsequenzen (OPh. III. 3. 1). Das erste Beispiel veranschaulicht eine allgemeine Regel, „Aus dem Unmöglichen lässt sich Beliebiges folgern“, und das zweite ist ein Fall der Regel „Was notwendig ist, folgt aus einer beliebigen Prämisse“. Ockham stellt eine Reihe solcher Regeln auf, die für Schlussfolgerungen sehr unterschiedlicher Art gelten. Hierzu gehören unter anderem folgende sechs Regeln: 1. Was falsch ist, folgt nicht aus dem, was wahr ist. 2. Was wahr ist, kann aus etwas folgen, das falsch ist. 3. Was immer aus dem Nachsatz folgt, folgt aus dem Vordersatz. 4. Was immer den Vordersatz zur Folge hat, hat den Nachsatz zur Folge.

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5. Das Zufällige folgt nicht aus dem Notwendigen. 6. Das Unmögliche folgt nicht aus dem Möglichen. Viele von Ockhams Regeln sind von denen früherer Philosophen abgeleitet, doch er war der Erste, der sie systematisch dargelegt hat. Sie wurden von späteren Logikern im Allgemeinen akzeptiert.

Walter Burley und John Wyclif In der Schrift Von der Reinheit der Kunst der Logik von Walter Burley wird der Theorie der Konsequenzen ein noch größerer Vorrang eingeräumt und die aristotelische Syllogistik nur flüchtig behandelt. Eine sehr breite Vielzahl von Schlussfolgerungen wird unter die Rubrik der „hypothetischen Konsequenzen“ gebracht. Die Prämissen solcher Schlussfolgerungen enthalten nicht nur Bedingungssätze, („Wenn … dann“)Sätze, sondern auch konjunktive und disjunktive Sätze (mit „und“ oder „oder“) sowie exklusive Sätze und solche, die Ausnahmen formulieren (zum Beispiel „Nur Peter läuft“ und „Jeder außer Peter läuft“). Eine wichtige Klasse von Aussagen, die auch von Burleys Kollegen unter den Oxford Calculators studiert wurden, waren Sätze der Form „A beginnt zu W“ und „A hört auf zu W“. Burley akzeptiert Ockhams Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten der Konsequenz und fügt ihnen eigene, weitere Unterteilungen hinzu. Hierin setzt er die von Ockham begonnene Arbeit in dessen Sinne fort. Wenn wir uns jedoch von der Theorie der Konsequenzen dem altmodischeren Thema der Eigenschaften von Ausdrücken zuwenden, ergibt sich ein deutlich anderes Bild. Burley verwirft den Nominalismus, den Ockham in seine Logik integriert hatte, und er formuliert die Theorie der Signifikation und Supposition auf eine Weise um, die ihrer traditionellen realistischen Form näher kommt. Als Erstes verwirft er Ockhams Behauptung, dass ein Nomen alle Dinge bezeichnet, auf die es anwendbar ist. „Das Nomen ‚Mensch‘ hat eine primäre Signifikation und seine primäre Signifikation ist nicht Sokrates oder Platon. Wenn dies der Fall wäre, müsste jemand, der das Wort hört und weiß, was es bezeichnet, einen bestimmten und klaren Gedanken von Sokrates haben, was nicht der Fall ist. Daher hat dieses Nomen ‚Mensch‘ als primäre Signifikation nichts Singuläres. Seine primäre Signifikation ist also etwas Allgemeines, und dieses allgemeine Etwas ist die Art. Ob dieses allgemeine Etwas außerhalb der Seele existiert, oder ob es ein Begriff in der Seele ist, ist mir an dieser Stelle nicht wichtig.“ (PAL 7)

Mit der auf diese Weise definierten „Signifikation“ kann Burley die traditionelle Definition der einfachen Supposition wiederherstellen: Ein Ausdruck steht für das, was

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er bezeichnet. Der letzte Satz des zitierten Absatzes lässt die Möglichkeit offen, dass seine Definition in der Praxis mit Ockhams Definition der einfachen Supposition identisch ist, d. h., dass bei der einfachen Supposition ein Ausdruck für den Begriff in der Seele steht. Burley hat jedoch die traditionelle Theorie der Supposition nicht nur verteidigt, sondern auch erweitert. Wie Ockham vor ihm fand er wohlformulierte Sätze, die den Arten der persönlichen Supposition, die Peter von Spanien und Wilhelm von Sherwood aufgelistet hatten, nicht zugeordnet werden konnten. Ein solcher Satz war „Jeder Mensch liebt sich selbst“. Die hierfür bisher aufgestellte Klassifikation ließ jedoch die Tatsache, dass dies den Satz „Sokrates liebt Sokrates“ impliziert, nicht deutlich werden. Burley behauptete, dass in einem solchen Satz „sich selbst“ eine spezielle Form der persönlichen Supposition hatte, die in der Mitte zwischen einer undeutlichen und einer distributiven Supposition lag und der er einen neuen und komplizierten technischen Namen gab. Ein weiterer Satz, der sich mit dem herkömmlichen Begriffsapparat nur schlecht analysieren ließ, ist: „Dir ist ein Pferd versprochen worden.“ Um zwischen dem Fall, in dem jemandem ein bestimmtes Pferd versprochen wurde, und demjenigen, in dem sich das Versprechen mit einem beliebigen Pferd einlösen lässt, unterscheiden zu können, musste Walter erneut zusätzliche Suppositionsmodi einführen, die dem Wort „Pferd“ in diesem Beispiel zugewiesen werden konnten. Als Kritiker von Ockhams Nominalismus wurde Burley schon bald von John Wyclif übertroffen. Seine Abhandlung Über Universalien ist von Anfang bis Ende eine Verteidigung des Realismus. Den Schlüssel zum Verständnis der Universalien, davon war Wyclif überzeugt, besitzt derjenige, der das Wesen der Prädikation erfasst hat. Die offensichtlichste Form der Prädikation ist diejenige, bei der Subjekt und Prädikat linguistische Elemente oder Satzteile sind. Dies ist die am häufigsten erörterte Form der Prädikation, und moderne Autoren nehmen an, es gebe keine andere. Tatsächlich ist sie Wyclif zufolge nach dem Vorbild einer anderen Art von Prädikation, der realen Prädikation, gestaltet, die „von vielen gemeinsamen Dingen geteilt oder ausgesagt wird“ (U 1. 35). Bei der realen Prädikation handelt es sich nicht um eine Beziehung zwischen Ausdrücken – wie etwa die Beziehung zwischen „Banquo“ und „lebt“ in „Banquo lebt“ –, sondern um eine Beziehung zwischen Wirklichkeiten, nämlich Banquo und dem, was in der Welt dem Wort „lebt“ korrespondiert. Doch was ist diese außerhalb des Geistes existierende Wirklichkeit, die „lebt“ entspricht? Gibt es überhaupt irgendetwas in der Welt, das Prädikaten korrespondiert? Wyclifs Antwort auf die zweite Frage lautet, dass kein Unterschied zwischen wahren und falschen Sätzen bestünde, wenn es so etwas nicht gäbe. Seine Antwort auf die erste Frage ist seine Theorie der Universalien. Sein Argument für den Realismus ist einfach. Er behauptet, dass jeder, der an objektive Wahrheit glaubt, sich dadurch bereits auf den Glauben an die Existenz

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realer Universalien festgelegt hat. Angenommen, ein Individuum A wird als einem anderen Individuum B ähnlich wahrgenommen. Es muss eine Hinsicht C geben, in der A B ähnlich ist. Wenn man jedoch wahrnimmt, dass A B in Bezug auf C ähnlich ist, so ist dies dasselbe, als wenn man die C-heit von A und B wahrnimmt, und dies hat das gedankliche Erfassen der C-heit, einer A und B gemeinsamen Universalie, zur Voraussetzung. Jeder, der ein Urteil über Ähnlichkeiten abgeben kann, weiß automatisch, was eine Universalie ist. Betrachten wir, als Beispiele für Universalien, die Art Hund unter der Gattung Tier. Ein Realist kann eine Gattung einfach als dasjenige definieren, was von mehreren Dingen ausgesagt wird, die sich der Art nach unterscheiden. Ein Nominalist verstrickt sich hingegen in einer Umschreibung wie die folgende: „Eine Gattung ist ein Ausdruck, der selbst oder dessen Entsprechung von vielen Ausdrücken ausgesagt werden kann, die Dinge bezeichnen, die spezifische Unterschiede aufweisen.“ Er kann nicht sagen, dass es für einen Ausdruck wesentlich ist, tatsächlich von etwas ausgesagt zu werden: Vielleicht ist niemand vorhanden, der eine verbale Prädikation vornehmen kann. Er kann nicht sagen, dass irgendein bestimmter Ausdruck – irgendein bestimmter Klang oder ein Bild oder ein Zeichen auf Papier – aussagbar sein muss. Die meisten Zeichen sind zu kurzlebig, um mehrfach ausgesagt werden zu können. Aus diesem Grund muss er von Entsprechungen reden, von anderen Zeichen von derselben Art. Er kann nicht sagen, dass der Ausdruck von Ausdrücken prädiziert wird, die sich der Art nach unterschieden: Das Wort „Hund“ ist der Art nach nicht vom Wort „Katze“ verschieden – beides sind deutsche Nomen auf dieser Buchseite. Daher muss der Nominalist sagen, dass die Ausdrücke Dinge bezeichnen, die spezifische Unterschiede aufweisen. Doch indem er dies tut, verrät er seine eigene Position: Er macht den spezifischen Unterschied zu etwas auf der Seite des bezeichneten Dinges, nicht zu etwas, das lediglich zu den Zeichen gehört. Das nominalistische Kauderwelsch hilft ihm letztlich auf keine Weise. Wyclifs Argumente sind offensichtlich gegen einen Nominalisten gerichtet, der noch wesentlich radikaler ist als Ockham. Die „Namen“ in Ockhams System waren keine geäußerten Laute oder Zeichen auf Papier: Es waren Begriffe in einer geistigen Sprache. Doch Wyclifs Angriff trifft Ockham an seiner schwächsten Stelle: seiner Unfähigkeit, explizit zu erklären, in welcher Beziehung die Begriffe der von ihm erdachten Sprache des Geistes und die tatsächlichen Zeichen in der realen Welt zueinanderstehen. Ockham scheint geglaubt zu haben, dass er die Eigenschaften der lateinischen Grammatik erklärt, indem er ein geistiges Gegenstück postuliert. Der einzige Grund für die Annahme, dass die Sprache des Geistes irgendeine erklärende Kraft hat, ist die Tatsache, dass ihre Tätigkeiten sich im geisterhaften Medium des Geistes vollziehen. Indem Wyclif die Hinwendung der Diskussion zu Fleisch und Blut und zu Schreibwerkzeugen und Tintenzeichen erzwingt, antizipiert er Wittgensteins philosophische Methode, die latenten in manifesten Nonsens verwandelt.

Die dreiwertige Logik von Löwen

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Die dreiwertige Logik von Löwen Eine der letzten Entwicklungen des Mittelalters auf dem Gebiet der Logik war ein skizzenhafter Umriss der dreiwertigen Logik. Die Möglichkeit eines dritten Wertes zwischen wahr und falsch wird in einer Reihe von Diskussionen über Aristoteles’ Beispiel der Seeschlacht am nächsten Tag erwogen. In einem Fall löste die Frage jedoch einen Streit aus, der in ganz Europa Aufmerksamkeit erregte. Im Jahre 1465 wurde ein Mitglied der Artistenfakultät der jungen Universität von Löwen, Peter de Rivo, von einem seiner Studenten gebeten, folgende Frage zu erörtern: Stand es, nachdem Christus zu Petrus gesagt hatte: „Du wirst mich dreimal verleugnen“, noch in dessen Macht, Christus nicht zu verleugnen? Peter de Rivo beantwortete diese Frage mit Ja, doch dies war nicht vereinbar mit der Annahme, dass das, was Christus sagte, zum Zeitpunkt seiner Äußerung der Wahrheit entsprach. Wir müssten stattdessen behaupten, dass derartige Vorhersagen weder wahr noch falsch sind, sondern stattdessen einen dritten Wahrheitswert haben: Sie sind neutral. Die theologische Fakultät trat dieser Lösung scharf entgegen. In der Bibel stünden zahllose Aussagen über einzelne Ereignisse in der Zukunft: die Prophezeiungen. Es reiche nicht aus, von ihnen zu behaupten, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt wahr würden. Wenn sie nicht bereits zum Zeitpunkt ihrer Äußerung wahr waren, waren die Propheten Lügner. Peter antwortete hierauf, dass jeder, der die Möglichkeit eines dritten Wahrheitswertes leugne, sich der Häresie des Determinismus schuldig mache. Seine Position wurde von der Leitung der Universität Löwen unterstützt. Die Theologen baten Freunde in Rom um Rat. Ein Franziskanermönch, Francesco della Rovere, arbeitete einige der logischen Beziehungen aus, mit denen man es in einem dreiwertigen System der Logik zu tun hatte. Das Gegenteil einer wahren Aussage war offensichtlich eine falsche Aussage, doch das Gegenteil einer neutralen Aussage, so behauptete er, war nicht eine falsche, sondern ebenfalls eine neutrale Aussage. Diejenigen, die die auf die Zukunft bezogenen Artikel des Glaubensbekenntnisses leugneten, konnten fairerweise nur dann als Ketzer verurteilt werden, wenn sie eine Unwahrheit behaupteten. Daher mussten die Artikel, denen sie widersprachen, wahr und nicht neutral sein. Bestärkt durch diesen Rat leiteten die Theologen folgende Aussagen an den Vatikan weiter: „Damit eine Aussage über die Zukunft wahr ist, genügt es nicht, dass das von ihr Behauptete der Fall ist: Seine Wahrheit muss unabwendbar wahr sein. Wir müssen eine von zwei Alternativen behaupten: Entweder es gibt in den Glaubensaussagen über die Zukunft keine gegenwärtige und aktuelle Wahrheit, oder was sie behaupten, ist etwas, das noch nicht einmal göttliche Macht verhindern kann.“

Die Aussagen wurden im Jahre 1474 vom Papst verurteilt. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Idee einer dreiwertigen Logik von Logikern

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Francesco della Rovere, Papst Sixtus IV., nimmt hier die Huldigung des vatikanischen Bibliothekars Platina entgegen.

Die dreiwertige Logik von Löwen

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ernsthaft untersucht. Die Begebenheit veranschaulicht jedoch, wie schwer sich in der Geschichte der Philosophie eine scharfe Trennungslinie zwischen dem Mittelalter und der Renaissance ziehen lässt. Denn der Logiker, der sich in diese höchst scholastische Diskussion eingeschaltet hatte, war niemand anderer als der Papst, der die Verurteilung von 1474 aussprach: die beispielhafte Renaissance-Persönlichkeit Sixtus’ IV., der der Sixtinischen Kapelle seinen Namen gegeben hat.

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Erkenntnistheorie

Augustinus über Skeptizismus, Glaube und Wissen Vor seiner Bekehrung zum Christentum interessierte sich Augustinus unter dem Einfluss von Cicero für die skeptischen Argumente der Neuen Akademie. Die erste der philosophischen Abhandlungen, die er in Cassiciacum verfasste, war die Schrift Contra Academicos, in der er die These verteidigte, dass es möglich sei, Wissen verschiedener Art zu erlangen. Wir verfügen über logisches Wissen wie das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, d. h., dass entweder p oder nicht-p wahr ist (CA 3. 10. 23). Wir erkennen auch Wahrheiten über das, was uns unmittelbar erscheint. Ein Skeptiker kann niemanden widerlegen, der sagt: „Ich weiß, dass dieser Gegenstand weiß erscheint, dass dieser Klang bezaubernd ist, dass dieser Geruch angenehm ist, dass dies süß schmeckt, dass dies sich kalt anfühlt.“ (CA 3. 11. 26) Solche Behauptungen können nicht falsch sein. Doch täuschen uns die Sinne nicht, zum Beispiel wenn ein gerades Ruder im Wasser gekrümmt erscheint? In diesem Fall liegt keine Täuschung vor. Eher ist es so, dass mich meine Augen täuschen würden, wenn das Ruder im Wasser gerade aussähe. Aber es ist natürlich etwas völlig anderes, ob mir ein Ruder gekrümmt erscheint, oder ob ich urteile, dass es gekrümmt ist. Es gibt jedoch zahlreiche Aussagen, die irgendwo zwischen logischen Wahrheiten und Aussagen über die unmittelbare Erfahrung angesiedelt sind, und im Laufe seines Lebens hat sich Augustinus mit der Klassifikation und Bewertung solcher Aussagen wiederholt beschäftigt. Eine seiner umfassendsten Verteidigungen der Möglichkeit von Gewissheit findet sich in seiner späten Schrift De Trinitate („Über die Dreieinigkeit“). Er ist darin – um des Arguments willen – bereit zuzugestehen, dass die Sinne uns täuschen können, wenn das Auge ein Ruder gekrümmt sieht oder ein Steuermann auf See meint, dass sich eine Orientierungshilfe an Land bewegt. Doch ich kann mich nicht irren, wenn ich sage „Ich lebe“, wobei es sich nicht um ein Urteil der Sinne, sondern des Verstandes handelt. „Vielleicht träumst du?“ Doch selbst wenn ich schlafe, lebe ich. „Vielleicht bist du verrückt.“ Doch selbst wenn ich verrückt bin, lebe ich. Hinzu kommt, dass ich, wenn ich weiß, dass ich lebe, auch weiß, dass ich weiß, dass ich lebe usw. bis ins Unendliche. Skeptiker mögen ihr Geschwätz gegen die Dinge richten, die der Verstand über die Sinne wahrnimmt, jedoch nicht gegen die, die er unabhängig von ihnen wahrnimmt. „Ich weiß, dass ich lebe“ ist ein Beispiel für einen Satz der zweiten Art (DT 15. 12. 21). Wer Descartes gelesen hat, wird hierdurch unweigerlich an seine zweite Meditation erinnert, und tatsächlich findet man Argumente der Form „Ich denke, also bin ich“ in mehreren von Augustinus’ Werken. Im Gottesstaat entgegnet Augustinus auf

Augustinus über Skeptizismus, Glaube und Wissen

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die Frage der Akademie „Könntest du dich nicht irren?“: „Wenn ich mich irre, lebe ich.“ Was nicht existiert, kann sich nicht irren. Wenn ich mich daher irre, existiere ich (DCD IX. 26). Jeder von uns weiß nicht nur um die eigene Existenz, sondern auch um andere Tatsachen über sein Selbst. „Ich will glücklich sein“ ist ebenfalls etwas, das ich weiß, ebenso wie „Ich will mich nicht irren“. Im reifen Alter akzeptiert Augustinus neben den cartesischen Wahrheiten die Wahrheit zahlreicher Aussagen. Wir sollten die Wahrheit des Zeugnisses der Sinne nicht bezweifeln: Ihnen verdanken wir unser Wissen über den Himmel, die Erde und über das, was darin ist. Ein ungeheuer großer Teil unseres Wissens entstammt dem Zeugnis anderer Menschen: zum Beispiel über die Existenz des Ozeans und ferner Länder, das Leben geschichtlicher Helden und sogar über unseren eigenen Geburtsort und unsere Abstammung (DUC 12. 26). Den Wahrheiten der Mathematik räumte Augustinus zeitlebens einen Ehrenplatz ein. Er nennt sie „innere Regeln der Wahrheit“: Niemand behauptet, dass sieben und drei zehn sein sollte. Wir wissen einfach, dass ihre Summe zehn ist (DLA 2. 12. 34). Woher und wie erlangen wir unser mathematisches Wissen und unser Wissen über die wahre Natur der uns umgebenden Geschöpfe? In seinen Bekenntnissen hebt Augustinus hervor, dass Wissen über das Wesen der Dinge nicht über die Sinne gewonnen werden kann. „Die Augen sagen mir: Nur wenn sie Farben hatten, waren wir es, die sie meldeten. Die Ohren sagen: Erklangen sie, so haben wir sie angezeigt. Die Nase sagt: Hatten sie Geruch, sind sie durch mich hereingekommen. Der Geschmacksinn aber sagt: War’s kein Geschmack, so darfst du mich danach nicht fragen. Und das Gefühl sagt: War’s kein Körper, so hab ich’s nicht getastet; und hab ich’s nicht getastet, hab ich’s nicht gemeldet. […] Ebenso umfasst das Gedächtnis unzählige Verhältnisse und Gesetze von Zahlen und Maßen, die ihm kein Eindruck körperlicher Sinne je verschafft hat, weil sie ja keine Farben haben, nicht klingen und nicht riechen, sich nicht schmecken und nicht tasten lassen. […] Ich sah schon Linien von Künstlerhand, die feiner waren als ein Spinngewebe, doch dies sind nicht die Linien des rechnerischen Denkens […]. Der nur kennt sie, der sie, ohne auch an Körperliches nur zu denken, drin in der Seele denkend sieht.“ (Conf. X. 10 ff.) 1

Platon hatte in seinem Dialog Menon versucht zu beweisen, dass unser geometrisches Wissen aus einem Leben vor unserer Empfängnis stammt: Was so aussieht wie das Erlernen geometrischen Wissens, ist in Wahrheit die Erinnerung an verschollene Wissensinhalte unseres Gedächtnisses, die wir schon immer besaßen. In seinen jungen Jahren fand Augustinus diese Erklärung attraktiv (vgl. Ep. 7. 1. 2), doch in seinen

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Zitiert nach: Augustinus, Bekenntnisse, übertragen und eingeleitet von H. Hefele (Wiesbaden: VMA-Verlag, 1958), 236 ff.

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reiferen Jahren verlor die Idee, dass die Seele vor der Entstehung des Körpers existierte, ihre Anziehungskraft für ihn. Selbst wenn es ein solches Leben gegeben haben sollte, so argumentiert er in De Trinitate, würde es den Erwerb geometrischen Wissens nicht erklären, denn wir können wohl kaum annehmen, jeder von uns sei in einem früheren Leben ein Geometer gewesen. „Wir sollten stattdessen eher glauben, dass das Wesen des intellektuellen Geistes so geformt wurde, dass er mit Hilfe eines besonderen körperlosen Lichts die intelligiblen Wirklichkeiten sieht, denen er, in der natürlichen Ordnung der Dinge, unterworfen ist – ebenso wie die körperlichen Augen die Dinge sehen, die sie in diesem körperlichen Licht umgeben.“ (DT 12. 15. 24)

Was Augustinus hier als „intelligible Wirklichkeiten“ bezeichnet, nennt er an anderer Stelle „unkörperliche und ewige Gründe“. Sie sind unwandelbar und daher dem menschlichen Geist überlegen, aber dennoch auf irgendeine Weise mit dem Geist verbunden, da er sie ansonsten nicht als Maßstäbe für die Beurteilung körperlicher Dinge verwenden könnte (DT 12. 2. 2). Wir verwenden sie auf diese Weise, wenn wir beispielsweise entscheiden, dass ein bestimmtes Wagenrad kein vollkommener Kreis ist, oder wenn wir den Satz des Pythagoras bei der Messung eines Feldes benutzen. Doch wir wenden auf diese Weise nicht nur arithmetische und geometrische Standards an: Es gibt auch intellektuelle Maßstäbe der Schönheit. Augustinus erinnert sich an ein bestimmtes Maßwerkgewölbe, das er in Karthago gesehen hatte. Sein Urteil, dass er es ästhetisch ansprechend fand, basierte seiner Meinung nach auf einer Form von ewiger Wahrheit, die er mit dem Auge des Geistes wahrgenommen hatte (DT 9. 6. 11). Augustinus’ „intelligible Wirklichkeiten“ stehen Platons Ideen offensichtlich sehr nahe. Indem er die Erklärung im Dialog Menon zurückweist, leugnet Augustinus nicht die Existenz ewiger, als Maßstäbe dienender Formen. Seine Meinungsverschiedenheit bezieht sich vielmehr darauf, wie der Mensch Zugang zu diesen Formen erhält. Im Anschluss an neuplatonische Denker wie Plotin 2 glaubt er, diese Ideen hätten ihren Ort im göttlichen Geist. Augustinus’ Christianisierung von Platon wird am deutlichsten in seiner Abhandlung De Ideis, bei der es sich um die 46. seiner 83 verschiedenen Fragen handelt. Er schlägt drei lateinische Wörter für Ideen vor: „formae“, „species“ und „rationes“. Die Ideen können nirgendwo anders als im Geist des Schöpfers existieren. Wenn die Schöpfung ein Werk der Intelligenz war, muss sie nach ewigen Gründen erfolgt sein. Es ist jedoch gotteslästerlich zu glauben, dass Gott, als er die Welt gemäß den Ideen erschuf, sie außerhalb seiner selbst geschaut habe. Daher existieren die einzigartigen, ewigen und unveränderlichen Ideen im einzig-

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Siehe Band I, Seite 323.

Augustinus über göttliche Erleuchtung

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artigen, ewigen und unveränderlichen Geist Gottes. „Die Ideen sind archetypische Formen, stabile und unveränderliche Wesen der Dinge, nicht geschaffen, sondern ewig und unwandelbar im Geist Gottes existierend.“ (83Q 46. 2)

Augustinus über göttliche Erleuchtung Der Mensch erlangt seine Ideen weder durch Wiedererinnerung (wie Platon annahm) noch durch Abstraktion (wie Aristoteles glaubte), sondern durch göttliche Erleuchtung. „Erleuchtet von Gott mit intelligiblem Licht sieht die Seele nicht mit Hilfe der Augen des Körpers, sondern mit denen des Geistes, der ihren krönenden Glanz ausmacht, die Gründe, deren Schau ihre größte Seligkeit ausmacht.“ (83Q 46, Schlusssatz) Über Augustinus’ Theorie der Erleuchtung ist viel geschrieben worden. Ist die Erleuchtung für alles Wissen erforderlich oder nur für das apriorische Wissen der Logik und Mathematik? Wenn die Ideen der Inhalt des göttlichen Geistes sind, wie kann ein endlicher Geist mit ihnen in Kontakt kommen, ohne Gott selbst zu sehen? Wie ist die Schau Gottes, die nach dieser Erklärung für ein grundlegendes Verständnis der Geometrie erforderlich ist, von derjenigen Vision Gottes zu unterscheiden, die das letzte und exklusive Vorrecht der Seligen im Himmel ist? Meines Erachtens sind solche Diskussionen wenig ergiebig. Augustinus verfügt über keine gut durchdachte Theorie der Erleuchtung, wie sie von einigen seiner mittelalterlichen Nachfolger später entwickelt wurde. Er verwendet lediglich eine Metapher, die selbst als Metapher niemals auf konsistente und systematische Weise ausgearbeitet wird. Die Beschreibung intellektueller Funktionen mit Hilfe von Begriffen, die körperlichen Tätigkeiten entlehnt sind, ist eine natürliche und allgemeine Eigenschaft menschlicher Sprachen. Wir sprechen davon, dass wir einen Begriff „erfassen“, dass eine Aussage glaubhaft „klingt“ oder dass damit etwas faul ist (d. h., dass sie schlecht „riecht“). Von allen Sinnen ist es jedoch der Gesichtssinn, mit dem die Funktionen des Verstandes am häufigsten verglichen werden. Wenn wir einer Aussage zustimmen, ohne dass unsere Zustimmung durch ein Argument oder durch Überredung herbeigeführt wurde, sagen wir vielleicht, dass wir einfach „sehen“, dass sie wahr ist. Wir verwenden dieselbe Metapher, wenn wir von intuitivem Wissen sprechen. Augustinus spricht auf diese Weise ganz natürlich von intellektueller Schau oder dem Auge der Vernunft. Die Rede von einer Erleuchtung fügt dieser natürlichen Metapher jedoch noch ein weiteres Merkmal hinzu. Sie impliziert, dass ein Medium vorhanden ist, durch das wir etwas verstehen, wenn wir es verstehen, genauso wie Licht das Medium unseres Sehens ist, wenn wir Farben sehen. Sie impliziert ferner, dass es eine Quelle gibt, von der dieses Medium in der Weise ausgeht, wie die Sonne und die weniger leuchtstarken Himmelskörper die Quelle des Lichts sind, mit dessen Hilfe wir sehen. Und

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schließlich unterstellt diese Metapher auch, dass es Objekte des Sehens gibt, die durch Dunkelheit verborgen oder durch Licht offenbart werden können. Es ist schwer, Augustinus’ Erklärung der Erleuchtung so zu konkretisieren, dass sich eine zusammenhängende Reihe von Entsprechungen zu den Elementen der Metapher ergibt. Das deutlichste Element ist natürlich, dass Gott die Quelle der intellektuellen Erleuchtung ist, ebenso wie die Sonne die Quelle des sichtbaren Lichts. Die göttliche Erleuchtung soll erklären, wie wir Menschen Ideen besitzen können, die den platonischen Archetypen entsprechen. Doch die Ideen sind keine schattenhaften Entitäten, die erleuchtet werden müssten: Sie gehören zum Hellsten, was es gibt. Wenn wir akzeptieren, dass es so etwas wie Ideen gibt: Warum soll es eines Mediums bedürfen, um Zugang zu ihnen zu bekommen? Warum sollte man nicht sagen – wie Descartes es später tatsächlich getan hat –, dass Gott einfach Kopien der Ideen in unserem Geist kreiert, wenn er ihn erschafft? Vergessen wir, um Augustinus’ Darstellung zu bewerten, was wir über die Physik des Lichts wissen oder zu wissen glauben. Betrachten wir einfach die trivialen Tatsachen einer Erleuchtung (im wörtlichen Sinne): Tatsachen, die ihm ebenso vertraut waren, wie sie uns vertraut sind. Licht hilft uns Dinge zu sehen, wenn es auf die zu sehenden Objekte scheint. Licht – vor allem Sonnenlicht –, das direkt in unsere Augen fällt, hilft uns nicht zu sehen, sondern behindert unsere Sicht. Die göttliche Erleuchtung, wie sie von Augustinus dargestellt wird, scheint jedoch nicht auf die Objekte der intellektuellen Sicht, sondern auf die Augen unserer Vernunft. Die intellektuelle Nachforschung scheint nach dieser Metapher ein ebenso hoffnungsloses Unterfangen wie der Versuch, des Nachts ein Auto zu fahren, dessen Scheinwerfer um 180º gedreht und auf die Windschutzscheibe gerichtet sind. Die Rede von Erleuchtung verwischt außerdem den für spätere christliche Philosophen so wichtigen Unterschied zwischen Glaube und Vernunft. Es wurde üblich, zwischen demjenigen zu unterscheiden, was in diesem Leben über Gott allein mit der natürlichen Vernunft erkannt werden konnte, und demjenigen, was als Antwort auf die Offenbarung und die übernatürliche Gnade lediglich über ihn geglaubt werden konnte. Erleuchtung soll Augustinus zufolge offensichtlich von Erschaffung unterschieden sein, was den Eindruck erweckt, sie sei übernatürlich statt natürlich. Andererseits scheint Erleuchtung notwendig zu sein, um es dem Geist zu ermöglichen, nicht nur die Geheimnisse der Trinität, sondern auch die grundlegenden Wahrheiten der alltäglichen Erfahrung zu erfassen. Augustinus hat über Glauben (fides) vieles zu sagen, doch er schränkte das Wort nicht auf die spätere technische Verwendung ein, in der es den Glauben an eine Aussage auf der Grundlage des offenbarten Wortes Gottes bedeutet. An einer Stelle definiert er Glauben als „Denken mit Zustimmung“ (DPS 2. 5). Dies wurde zwar zur klassischen Definition, doch sie scheint in zweifacher Hinsicht unzureichend. Zum einen denken wir mit Zustimmung, wann immer wir uns eine Meinung zu einem beliebigen Thema ins Bewusstsein rufen, unabhängig davon, ob es eine religiöse Überzeugung ist oder nicht. Zum anderen glauben wir – worauf Augustinus häufig

Bonaventura über Erleuchtung

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selbst hinweist – zu jeder Zeit viele Dinge, obwohl wir überhaupt nicht an sie denken. Ein Gedanke, d. h. ein Denkakt (cogitatio), ist ein datierbares Ereignis in unserem geistigen Leben. Glaube (einschließlich der besonderen Art des religiösen Glaubens) ist etwas anderes, eher eine Disposition als ein Vorkommnis. Wenn Augustinus vom Glauben spricht, geht es ihm weniger darum, seinen epistemischen Status zu erläutern, als darum, sein Wesen als gnadenhafte Tugend hervorzuheben, als eine der drei paulinischen Tugenden – Glaube, Hoffnung und Liebe, die uns von Gott geschenkt werden. Und in seinen wortgewandtesten Darlegungen der Rolle des Glaubens macht er wiederum von der Lichtmetapher Gebrauch, jedoch auf eine Weise, die dieser Erklärung unserer Erkenntnis ewiger Wahrheiten widerspricht. So lesen wir beispielsweise im Gottesstaat: „Der menschliche Geist, der natürliche Sitz von Vernunft und Verstand, ist durch die verdunkelnde Wirkung tief verwurzelter Laster geschwächt. Er ist zu schwach, das unwandelbare Licht zu ertragen, geschweige denn es zu ergreifen und sich daran zu erfreuen. Um solcher Seligkeit fähig zu werden, bedarf es täglicher Medizin und Erneuerung. Er muss sich der Reinigung durch den Glauben unterwerfen.“ (DCD IX. 2)

Bonaventura über Erleuchtung Das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft nahm in der Erkenntnislehre von Augustinus’ Nachfolgern im Hochmittelalter einen wichtigen Platz ein. Bonaventura zog wie Augustinus die Philosophie Platons derjenigen des Aristoteles vor, doch er war der Überzeugung, dass selbst Platons größte Nachfolger, Cicero und Plotin, bezüglich der wahren Natur des menschlichen Glücks in tiefe Irrtümer verstrickt waren. Ohne den Glauben könne niemand etwas über das Geheimnis der Trinität oder das übernatürliche Schicksal in Erfahrung bringen, das Menschen nach ihrem Tode erwartet (I Sent. 3. 4). Doch für Bonaventura ist der Philosoph, wie begabt er auch sein mag, in einer schlechteren Position als der bloße Unwissende: Er befindet sich im Irrtum über die wichtigsten Dinge, die gewusst werden können. „Die philosophische Wissenschaft ist der Weg zu anderen Wissenschaften; doch wer nicht darüber hinausgehen will, fällt in Dunkelheit.“ (De Donis, 3. 12) Der durch die Gnade des Glaubens erleuchtete christliche Philosoph kann von den Argumenten der Philosophen guten Gebrauch machen, um sein Verständnis der rettenden Wahrheit zu erweitern. Bonaventura tut dies selbst, indem er verschiedene Beweise für die Existenz Gottes vorlegt: Unvollkommenes Sein setze vollkommenes voraus, abhängiges Sein unabhängiges, bewegliches Sein unbewegliches usw. Er interpretiert diese Argumente für das Dasein Gottes auf platonische Weise: als bloße Anreize, um das Wissen von Gottes Existenz, das von der Natur in den Geist des Menschen eingeprägt ist, zum vollen Bewusstsein zu bringen (Itin. c. 1). Er legt eine eigene Version von Anselms ontologischem Argument vor, um zu zeigen, dass nichts anderes als das Nachdenken über dasjenige erforderlich ist, was sich bereits in unse-

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In diesem Fresko von Fra Angelico sucht Bonaventura – der wahrscheinlich keinen Bart trug – Erleuchtung durch einen Blick gen Himmel.

Thomas von Aquin über die Begriffsbildung

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rem Geist befindet, um zu einem expliziten Bewusstsein von der Existenz Gottes zu gelangen.3 Wenn wir über das Verlangen nach Glück nachdenken, das jeden Menschen auszeichnet, so wird sich ergeben, dass dies ein Verlangen ist, welches ohne den Besitz des höchsten Gutes, das Gott selbst ist, nicht gestillt werden kann (De Myst. Trin. 1. 17, conclusio). Der angeborene Begriff von Gott war für Bonaventura ein Spezialfall. Im Allgemeinen glaubte er nicht, dass unsere Ideen angeboren sind. Er stimmte Aristoteles darin zu, dass der Geist anfänglich eine tabula rasa ist und dass selbst die allgemeinsten Prinzipien des Verstandes erst im Anschluss an die sinnliche Erfahrung erworben werden (II Sent. 24. 1. 2. 4). Einzig die Vorstellung von Gott war angeboren, da der Geist selbst ein Bild Gottes war, ein Spiegel, in dem die Eigenschaften Gottes dunkel zu erkennen sind (De Myst. Trin. 1. 1). Irgendwo zwischen dem angeborenen Wissen von Gott und der erworbenen Kenntnis der Verstandesprinzipien steht unser Wissen von der Tugend: Sie ist weder eine angeborene Idee noch aus der sinnlichen Erfahrung abstrahiert, sondern eine natürliche Fähigkeit, das moralisch Richtige vom moralisch Falschen zu unterscheiden (I Sent. 17. 1). Das von den veränderlichen und vergänglichen Objekten der sinnlichen Erfahrung erworbene Wissen ist Zweifel und Irrtum unterworfen. Wenn wir sichere Gewissheiten erlangen wollen, sind wir auf die Hilfe der unveränderlichen Wahrheit angewiesen, die Gott selbst ist. Die Ideen im Geist Gottes, die „ewigen Gründe“ sind für uns in diesem Leben nicht erkennbar, doch sie üben einen unsichtbaren, kausalen Einfluss auf unser Denken aus. Dies ist die göttliche Erleuchtung, die uns befähigt, die unwandelbaren Wesenheiten zu erfassen, die den flüchtigen Erscheinungen der Welt zugrunde liegen (Itin. 2. 9).

Thomas von Aquin über die Begriffsbildung Bonaventura appelliert also, einer langen Reihe von Vorgängern folgend, an das Übernatürliche, um die Funktion des menschlichen Geistes zu erklären. Sein Zeitgenosse Thomas von Aquin verwirft diese Vorgehensweise. Thomas verwendet zur Erklärung der Funktion des Verstandes die Metapher des Lichts: Der aktive Intellekt stellt das Licht bereit, durch das potenziell denkbare Einzelobjekte in der Welt in tatsächlich denkbare Objekte im Verstand verwandelt werden. Doch Thomas besteht darauf, dass der aktive Intellekt eine natürliche Fähigkeit des einzelnen Menschen ist, nicht – wie in der Tradition von Avicenna und Averroes – eine übernatürliche Entität, die von außen auf den Geist einwirkt. 4 In der Summa Theologiae weist Thomas mit großem Nachdruck darauf hin, dass der aktive Intellekt ein Teil der menschlichen Seele ist (ST la 79. 3 f.). Sicherlich gibt es 3 4

Vgl. Kapitel 9. Siehe Kapitel 7.

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4 Erkenntnistheorie

einen dem menschlichen überlegenen Intellekt, den göttlichen Intellekt, doch bedarf es für das menschliche Denken einer menschlichen Kraft, die von diesem höheren Intellekt abgeleitet ist. Gott erleuchtet jeden Menschen, der in die Welt kommt, wie der Evangelist Johannes sagt, doch nur als die allgemeine Ursache, die der menschlichen Seele die ihr eigentümlichen Kräfte verleiht (4 ad 1). Thomas erläutert seine Haltung zu Theorien wie derjenigen von Bonaventura in Frage 84 des ersten Teils der Summa, wo er der Frage nachgeht, ob die intellektuelle Seele materielle Dinge „in ihrem ewigen Wesen“ (in rationibus aeternis) erkennt. Im Abschnitt Sed contra, in dem er Einwände auflistet, führt er aus: „Augustinus sagt: ‚Wenn wir beide sehen, dass, was du sagst, wahr ist, und wenn wir beide sehen, dass, was ich sage, wahr ist, wo sehen wir dies dann? Ich nicht in dir und du nicht in mir, sondern wir beide sehen es in der unveränderlichen Wahrheit, die höher ist als unser Verstand‘ (Conf. XIII. 25. 35). Doch die unveränderliche Wahrheit ist in den ewigen Wesenheiten. Daher erkennt die intellektuelle Seele alle Dinge in ihren ewigen Wesenheiten.“ (ST 1a 84)

Auf seine übliche höfliche Art verwirft Thomas in der Folge die Lehre von der göttlichen Erleuchtung, doch er bringt seine Ablehnung so zum Ausdruck, dass er Augustinus nicht mehr als unbedingt notwendig kritisiert. 5 Es besteht kein Zweifel daran, dass Thomas kein Empirist ist, d. h., er bestreitet, dass sinnliche Erfahrung allein für das Verstandesdenken ausreicht (ST 1a 84. 6c). Zur sinnlichen Erfahrung muss die Funktion des aktiven Intellekts hinzutreten. Doch wenn Thomas kein Empirist ist, glaubt er, bei der gewöhnlichen Erkenntnis, auch nicht an Erleuchtung. Der aktive Intellekt reicht für sich nicht aus, um Verstandeserkenntnisse zu erwerben. „Außer dem intellektuellen Licht in uns bedarf es denkbarer Artbegriffe, die von den äußeren Dingen genommen sind, wenn Wissen über materielle Dinge möglich sein soll“ (ST 1a 84. 6c). Der menschliche Intellekt ist in diesem Leben eine Fähigkeit für das Verständnis materieller Gegenstände. Ohne die Sinne könnten uns keine Gegenstände gegeben werden, ohne den aktiven Intellekt wären keine Gegenstände denkbar. Gedanken ohne Vorstellungsbilder sind leer, Vorstellungsbilder ohne Artbegriffe sind für den Geist dunkel. Der aktive Intellekt ist für Thomas nichts Übernatürliches: Er ist Teil der menschlichen Natur. Bei der Erörterung des Wesens der Lehrtätigkeit (ST 1a 111. 1) sagt Thomas: „Es gibt in jedem Menschen ein Prinzip des Wissens, nämlich das Licht des aktiven Intellekts, mit dessen Hilfe von Anfang an bestimmte allgemeine Prinzipien aller Wissenschaften erkannt werden.“ Thomas vergleicht die Rolle des aktiven Intellekts bei der Lehrtätigkeit mit der Rolle unseres körperlichen Wesens in der Medizin.

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An dieser Stelle widerspreche ich der Darstellung von R. Pasnau, Thomas Aquinas on Human Nature (Cambridge: Cambridge University Press, 2001), von der ich viel gelernt habe.

Thomas von Aquin über die Begriffsbildung

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Die Kunst des Arztes ahmt die Natur nach, die einen Patienten durch die Steuerung der Körpertemperatur, durch Verdauung und die Ausscheidung giftiger Stoffe heilt. Wenn ein Schüler etwas lernt, unterstützt ihn der Lehrer dabei, das natürliche Licht seines Verstandes zu verwenden, um sich neues Wissen anzueignen. Die Analogie ist aufschlussreich: Die Tätigkeit des aktiven Intellekts ist ebenso wenig übernatürlich wie die Tätigkeit des Verdauungssystems. Beide sind in gleicher Weise Produkte des schöpferischen Gottes. Wenn etwas jedoch dadurch übernatürlich ist, dass es von Gott erschaffen wurde, ist die ganze Welt übernatürlich, und der Unterschied zwischen der Natur und dem Übernatürlichen verliert seinen Sinn. Flößt aber Gott, als Schöpfer des aktiven Intellekts, diesem nicht eine besondere Einsicht auf eine Weise ein, wie er dies bei der Erschaffung anderer Dinge nicht tut? In der Summa contra Gentiles 3. 47 unterscheidet Thomas zwischen der Ähnlichkeit Gottes, die in jeder Kreatur gegenwärtig ist, und der besonderen Ähnlichkeit im Intellekt, da er zur Erkenntnis der Wahrheit fähig ist. Es gibt einige Wahrheiten, bei denen alle Menschen einer Meinung sind: die ersten Prinzipien des spekulativen und praktischen Verstandesgebrauchs. Es ist die Gegenwart dieser Wahrheiten im Geist des Menschen, was ihn zum Ebenbild Gottes macht. Diese Wahrheiten sind nicht angeboren, und sie werden auch nicht durch immer gleiche Erfahrungen erworben. Angeboren ist jedoch die Fähigkeit, sie zu erkennen, wenn wir in der Erfahrung Beispielen von ihnen begegnen. Der aktive Intellekt ist im Wesentlichen eine Fähigkeit zur Bildung von Begriffen, die ihre Leistung an den Vorstellungsbildern ausübt. Er verwandelt die potenziell denkbaren Daten der sinnlichen Erfahrung in tatsächlich denkbare Artbegriffe. Zur Begriffsbildung müssen Prinzipien, wie zum Beispiel das Prinzip vom verbotenen Widerspruch, angewendet werden: Wer einen Begriff von X hat, besitzt damit die Fähigkeit, zwischen X und dem, was nicht X ist, zu unterscheiden. In diesem Sinne lässt sich behaupten, dass sich der aktive Intellekt solcher Prinzipien bewusst ist. Für sich allein, ohne jegliche Sinnesdaten, trägt dieses Bewusstsein jedoch zur Erkenntnis des Wesens der materiellen Gegenstände, worin die Aufgabe des Intellekts in diesem Leben besteht, selbstverständlich nichts bei. Was einem Abglanz oder einer Widerspiegelung des ungeschaffenen Lichts des göttlichen Geistes entspricht, ist der aktive Intellekt selbst. Wenn der aktive Intellekt seine Prinzipien anwendet, um aus sinnlichen Erfahrungsdaten Begriffe zu formen, bedarf er keiner weiteren göttlichen Erleuchtung, wie Thomas hervorhebt. In allem Bewusstsein der Wahrheit bedarf der Geist des Menschen des göttlichen Beistands. Bei den auf natürliche Weise erkannten Dingen bedarf er keines zusätzlichen Lichts, sondern lediglich des Antriebs und der Leitung Gottes (IBT 1. 1c). Natürlich glaubt Thomas an eine zur natürlichen hinzukommende, übernatürliche göttliche Erleuchtung des menschlichen Geistes: Dies war die Gnade, die bei denjenigen, die das Glück hatten, sie zu besitzen, zum Glauben führte. Doch er unterschied sie sorgfältig vom angeborenen natürlichen Licht, das der aktive Intellekt ist. „Im Licht der ersten Wahrheit verstehen und beurteilen wir alles, sofern das Licht

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unseres Verstandes, sei es das natürliche oder das gnadenhafte, nichts anderes ist als eine gewisse Einprägung der ersten Wahrheit.“ (ST 1a 88. 3 ad 1)

Thomas über Glauben, Erkenntnis und Wissenschaft Die scharfe Unterscheidung zwischen Wahrheiten, die mit dem Licht des natürlichen Verstandes erkennbar waren, und solchen, die nur mit dem übernatürlichen Licht des Glaubens erfasst werden konnten, war wohl Thomas von Aquins wichtigster Beitrag zur Erkenntnistheorie des Mittelalters. Er war der Überzeugung, dass die natürliche Vernunft eine begrenzte Anzahl von Wahrheiten über Gott erkennen konnte: dass er existierte, allwissend, allmächtig und wohlwollend war usw. Lehren wie die Trinität und die Inkarnation waren ohne Offenbarung nicht erkennbar und konnten mit der natürlichen Vernunft allein nicht bewiesen werden. Glaube, im theologischen Sinn, ist der Glaube an etwas im Vertrauen auf Gottes Wort. Dieser Glaube ist von der Art des Glaubens an die Existenz Gottes, die ein erfolgreicher philosophischer Beweis herbeiführen kann, zu unterscheiden. Der vertrauensvoll Glaubende vertraut Gottes Wort in vielen Dingen, doch an die Existenz Gottes kann man nicht auf das Wort Gottes hin glauben. Glaube an Gott, in diesem Sinne, ist kein Teil des Glaubens, sondern wird vom Glauben vorausgesetzt. Thomas bezeichnete ihn als eine „Präambel“ des Glaubens. Wahrheiten über Gott, die mit der natürlichen Vernunft erkannt werden können, sind der Bereich der natürlichen Theologie, die Geheimnisse des Glaubens das Thema der Offenbarungstheologie. Doch der Ausdruck „bloße Vernunft“ enthält eine Doppeldeutigkeit. Er kann bedeuten, dass die natürliche Theologie bei der Argumentation für ihre Schlussfolgerungen sich nur auf Prämissen stützt, die aus der Erfahrung oder der Reflexion stammen, und dass sie es nicht nötig hat, Prämissen zur Hilfe zu nehmen, die aus heiligen Texten oder speziellen Offenbarungen abgeleitet sind. In einem anderen Sinne kann er bedeuten, dass der natürliche Theologe ohne die Unterstützung göttlicher Gnade zu seinen Schlussfolgerungen gelangt. Wenn wir von „bloßer Vernunft“ im ersten Sinne reden, reden wir über die Prämissen, aus denen die Vernunft ihre Schlussfolgerungen zieht, und wir reden über logische Beziehungen. Stellen wir die bloße Vernunft hingegen der Unterstützung durch die Gnade gegenüber, haben wir uns vom Reich der Gründe in das der Ursachen bewegt: Wir reden über die kausalen, nicht die logischen Voraussetzungen des vernünftigen Schlussfolgerns. Selbst solche Wahrheiten, die der Vernunft erreichbar sind, wie etwa die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele, müssen nach Thomas in der Praxis von vielen Menschen aufgrund von Autorität akzeptiert werden. Sie durch philosophische Argumente einsichtig zu machen, verlange mehr Intelligenz, Muße und Kraft, als bei der Mehrzahl der Menschen vorausgesetzt werden kann. Bei seiner Darlegung des Aufbaus der natürlichen Theologie unterscheidet Thomas zwischen dem Glauben

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der gebildeten und der einfältigen Menschen. Der einfache Gläubige muss nicht fähig sein, Beweisen wie den Fünf Wegen zu folgen, die bei einem Philosophen (wenn sie gelingen) zu dem Wissen führen, dass Gott existiert. Der einfache Gläubige glaubt nur, dass es einen Gott gibt. Dieser Glaube ist, aus den genannten Gründen, nicht Glaube im Sinne der theologischen Tugend. Es ist ein Glaube aufgrund von menschlicher, nicht von göttlicher Autorität. Doch er ist vollkommen vernünftig, vorausgesetzt dass Argumente für die Existenz Gottes der glaubenden Gemeinschaft zur Verfügung stehen, selbst wenn sie nur von ihren gebildeten Mitgliedern verstanden werden können (ScG 1. 3–6). Thomas’ Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft und zwischen natürlicher und Offenbarungstheologie markiert einen Wendepunkt in der mittelalterlichen Erkenntnistheorie. Erkenntnistheorie ist die philosophische Disziplin, die Wissen und Glauben untersucht: welche Arten von Dingen wir erkennen können, und wie wir sie erkennen können; welche Arten von Dingen wir glauben sollten, und warum wir sie glauben sollten. Das Werk von Thomas verschärfte den Unterschied zwischen Wissen und Glauben. Mehr als irgendeiner seiner Vorgänger betonte er, dass das Erfassen des Geheimnisses der Trinität, das einem Christen zuteilwird, keine Sache des Wissens oder Verstehens, sondern des Glaubens ist. Innerhalb des Glaubensbereichs unterschied er auf der Grundlage verschiedener Gewissheitsgrade zwischen Glaube und Meinung. Der Glaube, jedoch nicht eine Meinung, beinhaltet eine Festlegung auf die Wahrheit der geglaubten Aussage, wie dies beim Wissen ebenfalls der Fall ist. Entsprechend diesem Unterschied bezüglich der Gewissheit gibt es einen Unterschied in der Art der Rechtfertigung: Glaube hängt von einem übernatürlichen Zeugnis ab, während eine Meinung auf alltäglichen Zeugnissen und Beweisen basiert. Nachdem er es vom Glauben unterschieden hat, gibt Thomas eine Erklärung des Wissens (scientia), die vom Ideal einer deduktiven Wissenschaft, wie es Aristoteles in seiner Zweiten Analytik dargelegt hat, stark beeinflusst ist. Jede Wahrheit, die im strengen Sinne gewusst werden kann, so behauptet er, ist eine Schlussfolgerung, die sich durch ein syllogistisches Verfahren aus selbstevidenten Prämissen ziehen lässt. Es gibt einige Aussagen, die lediglich verstanden werden müssen, um unsere Zustimmung zu verlangen: Hierzu gehören das Gesetz vom verbotenen Widerspruch und andere ähnlich grundlegende Prinzipien. Die Fähigkeit, diese Prinzipien zu erfassen und anzuwenden, entspricht der Grundausstattung des Intellekts: Sie wird als intellectus im strengsten Sinne bezeichnet. Der menschliche Verstand hat ferner die Kraft, aus selbstevidenten Prinzipien mithilfe syllogistischer Verfahren Schlussfolgerungen abzuleiten: Dies wird als ratio oder als Fähigkeit des vernünftigen Schließens bezeichnet. Erste Prinzipien verhalten sich zu den Schlussfolgerungen der Vernunft wie Axiome zu Theoremen. Die Erfassung erster Prinzipien wird als habitus principiorum, die Kenntnis von Theoremen, die von diesen abgeleitet sind, als habitus scientiae bezeichnet (ST 1a 2ae. 57. 2). Thomas gibt uns weder irgendwo eine Liste der selbstevidenten Prinzipien, die die Prämissen aller wissenschaftlichen Erkenntnis sind, noch versucht er, wie Spino-

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za, seine eigenen philosophischen Thesen als Schlussfolgerungen von selbstevidenten Axiomen darzulegen. Ein Theorem kann in mehr als einem System beweisbar sein: Dass die Erde rund ist, kann beispielsweise von einem Astronomen und einem Physiker bewiesen werden. Wissenschaften sind voneinander verschieden, wenn sie unterschiedliche formale Gegenstände haben. Man könnte etwa sagen, dass der Astronom und der Geometer über ein Wissen von einem einzelnen materiellen Gegenstand, der Sonne, unter zwei verschiedenen formalen Beschreibungen verfügen: als Himmelskörper oder als kugelförmiger Festkörper. Aus verschiedenen Wissenschaften ableitbare Schlussfolgerungen werden von Syllogismen mit verschiedenen Mittelbegriffen abgeleitet. Mehr als eine Schlusskette kann von den ersten Prinzipien zu einem bestimmten Theorem führen, doch von jedem Theorem muss mindestens eine Schlusskette zu den Axiomen zurückführen. Das auf diese Weise dargelegte Idealbild einer Wissenschaft schien am offensichtlichsten durch Euklids Formalisierung der Geometrie verwirklicht worden zu sein. Als allgemeine Erkenntnistheorie ist eine solche Theorie der Wissenschaft offensichtlich unzureichend. Erstens ist vieles von dem, wovon wir im Allgemeinen und zu Recht behaupten, dass wir es wissen, keine Aussage in einem deduktiven System. Man könnte entgegnen, dass es sich hierbei lediglich um ein Übersetzungsproblem handelt: Das lateinische Verb scire und das Nomen scientia bezeichnen nicht Wissen, sondern Wissenschaft. Tatsächlich verwendet Thomas dieses Verb häufig als gleichbedeutend mit „wissen“. Doch er verfügt auch über ein Ausdruckspaar, das Verb cognoscere und das Nomen cognitio, die einen wesentlich breiteren und weniger technischen Umfang haben. Diese Wörter werden in einer Vielzahl von Kontexten verwendet, um sehr verschiedene Dinge zu bezeichnen: sinnliche Wahrnehmung ebenso wie verständige Einsicht; Wissen durch Beschreibung ebenso wie Kenntnis durch Bekanntschaft, den Erwerb von Begriffen ebenso wie deren Verwendung. Um die passende Übersetzung in einem bestimmten Kontext zu ermitteln, muss dieser genau betrachtet werden. Bedauerlicherweise haben viele mit der Philosophie des Mittelalters beschäftigte Forscher in letzter Zeit statt Übersetzungen Transliterationen angefertigt, was nicht nur ein hässliches Deutsch, sondern auch intellektuelle Verwirrung zur Folge hat. Das Pseudowort „kognoszieren“ sieht aus wie ein episodisches Verb, und auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, alle Arten von verschiedenen kognitiven Zuständen, Funktionen und Akten bezögen sich auf ein flüchtiges Ereignis, von dem so etwas wie eine geistige Momentaufnahme möglich ist. Wenn wir jedoch bei Thomas nach einer uns durch ihre Einsichten bereichernden Erkenntnistheorie suchen, sollten wir analysieren, wie er das Wort cognitio verwendet, statt uns seiner Theorie der scientia zuzuwenden. Schauen wir uns jedoch Thomas’ Theorie einmal als eine Beschreibung der Wissenschaft statt als allgemeine Erkenntnistheorie an. Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass sie nicht als Beschreibung der wissenschaftlichen Methode gedacht ist: Wir sollen nicht davon ausgehen, dass der Wissenschaftler mit selbstevidenten Prinzipien beginnt, um von dort mithilfe erfahrungsunabhängiger Ableitungen zu Schlussfolge-

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rungen über die Welt fortzuschreiten. Die Vorgehensweise verläuft in umgekehrter Richtung: Der Wissenschaftler beginnt mit einem Phänomen – zum Beispiel einer Mondfinsternis – und sucht nach seiner Ursache. Die Ursache zu finden ist dasselbe wie den Mittelbegriff in einem Syllogismus zu finden, dessen Schlussfolgerung das Auftreten der Mondfinsternis ist. Die Aufgabe der Wissenschaft ist erst dann abgeschlossen, wenn dieser Syllogismus seinerseits durch weitere Syllogismen an die höchsten Prinzipien angeknüpft wird. Doch die auf diese Weise erreichten ersten Prinzipien bilden den Abschluss, nicht den Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung. 6 Die Reihe der Ableitungen ist nicht der Träger, sondern das Ergebnis des Projekts der Wissenschaft. Ein ernstes Problem von Thomas’ Theorie ist, dass sie nicht ausreichend präzisiert, welche Rolle Erfahrung und Experiment in der Wissenschaft zukommen. Gewiss: Die Bedeutung des Wortes „scientia“ ist breit genug, um Mathematik und Metaphysik einzuschließen. Doch aus Thomas’ Beispielen wird deutlich, dass seine Theorie auch für Fächer wie Astronomie und Medizin gelten soll. Scientia, so erklärt er uns, hat es mit allgemeinen und notwendigen Wahrheiten zu tun: Doch wie kann die sich in ständigem Fluss befindliche Welt, der wir in der sinnlichen Erfahrung begegnen, solche Wahrheiten zu erkennen geben? Wie ist es möglich, dass die Menschen – wie Thomas selbst sagt (ST 1a 101. 1) – für die Erlangung der scientia von den Sinnen abhängen? Die Rolle, die Thomas den Sinnen im Unternehmen der Wissenschaft zuweist, besteht eher darin, Begriffe zu bilden und Prinzipien zu verstehen, statt irgendwelche kontingenten Naturgesetze aufzustellen. Er beschreibt, inwieweit die von den Sinnen gelieferten Daten für die Abstraktion allgemeiner Begriffe erforderlich sind, und er zeigt auf, wie wir allgemeine Prinzipien erfassen, indem wir über einzelne Beispiele nachdenken, in denen sie realisiert sind. In jedem Fall verwendet er zur Beschreibung dieses Vorgangs das Wort inductio (CPA 1. 30, 2. 30). Doch dieses Wort ist, wie so viele technische Ausdrücke von Thomas’ Latein, eine Übersetzungsfalle. Die einzelnen Fälle liefern bei der inductio Beispiele und keine Argumente für eine Aussage, die – wenn sie deutlich erfasst wurde – eine selbstevidente Wahrheit ist. Dies ist sehr verschieden von dem, was wir seit Bacon unter Induktion verstehen: Nach dieser neueren Auffassung dienen Beispiele der statistischen Untermauerung wissenschaftlicher Verallgemeinerungen. In der frühen Neuzeit nahm die Erkenntnistheorie häufig die Form einer Antwort auf den Skeptizismus an: Welche Gründe haben wir, dem Zeugnis der Sinne zu vertrauen, die Existenz einer Außenwelt zu akzeptieren, an die Existenz von anderem 6

In der Summa Theologiae (ST 1a 79. 8) unterscheidet Thomas deutlich zwischen diesen beiden Verfahren, doch seine Darstellung ist etwas verwirrend, weil er das deduktive Vorgehen als „Untersuchung“ und den Hergang der Forschung als „Urteilsbildung“ bezeichnet. In seinem Kommentar zur Zweiten Analytik macht er jedoch deutlich, dass es in diesem Werk um „Urteilsbildung“ geht. Vgl. E. Stump, Aquinas (London: Routledge, 2003), 525, deren Buch ich viel verdanke.

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4 Erkenntnistheorie

Bewusstsein zu glauben? An einer so verstandenen Erkenntnistheorie zeigt Thomas wenig Interesse. Er geht von der allgemeinen Zuverlässigkeit der Sinne aus, betrachtet das Wesen materieller Objekte als den angemessenen Gegenstand des menschlichen Verstandes, wie wir ihn kennen, und er reflektiert über die Natur und Anzahl, nicht die Existenz des menschlichen Geistes und des Geistes übermenschlicher Wesen. Im intellektuellen Klima seiner Zeit gab es keine klare Unterscheidung zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie, d. h. zwischen der Beschreibung und der Rechtfertigung der Funktion unserer geistigen Fähigkeiten. Thomas selbst versuchte nicht, eine solche Unterscheidung auf ähnliche Weise zu entwickeln, wie er die Unterscheidung zwischen Glaube und Vernunft präzisiert hatte. Leser, die seine Überlegungen zur Funktion der Sinne und der Tätigkeit des Verstandes weiterverfolgen möchten, finden weitere Ausführungen hierzu im Kapitel über die Philosophie des Geistes (Kapitel 7).

Die Erkenntnistheorie von Duns Scotus Man kann mit guten Gründen behaupten, dass Erkenntnistheorie, wie sie in der Neuzeit verstanden wurde, zum ersten Mal in den Schriften von Duns Scotus auftauchte. Dies mag eine erstaunliche Behauptung sein. Auf den ersten Blick liegen Scotus irgendwelche skeptischen Bedenken wesentlich ferner als Thomas. Während Thomas der Auffassung war, dass der angemessene Gegenstand des Intellekts, in diesem Leben, das Wesen der materiellen Objekte ist, glaubte Scotus, die Leistungsfähigkeit des Intellekts reiche aus, alle Dinge im Himmel und auf der Erde zu erkennen: die ganze Stufenleiter des Seins, des unendlichen ebenso wie des endlichen. Außerdem war Scotus bereit, dem Intellekt ein direktes Wissen der Einzeldinge selbst zuzutrauen (Quodl. 13, 32), während Thomas glaubte, dass materielle Einzeldinge Gegenstand der sinnlichen und nicht der intellektuellen Erkenntnis sind. Doch obwohl Scotus den Gegenstandsbereich des Intellekts auf solche Weise erweiterte, verringerte er den Grad von Gewissheit, den er erreichen konnte. Ein besonderes Einzelding, so argumentierte Scotus in seinem Kommentar zu De Anima (22.3), ist etwas, das vom menschlichen Intellekt erfasst werden kann, selbst in diesem Leben, in dem seine Fähigkeiten durch die Sünde getrübt sind. Wäre es nicht so, gelangten wir durch Induktion niemals zur Erkenntnis von Allgemeinbegriffen, und wir wären nicht in der Lage, eine vernünftige Liebe für einen einzelnen Menschen zu empfinden. Allerdings ist unser Wissen von Einzeldingen dunkel und unvollständig. Wenn zwei einzelne Dinge in keiner ihrer sinnlichen Eigenschaften voneinander verschieden wären, könnte der Intellekt das eine vom anderen nicht unterscheiden, obwohl jedes von ihnen über seine eigene Diesheit (haecceitas) verfügte und ein eigenes Ding wäre. Diese Dunkelheit in unserer Erkenntnis von Einzeldingen muss auch eine Trübung unserer Erkenntnis von allgemeinen Begriffen zur Folge haben, denn „es ist unmöglich, Allgemeinbegriffe von Einzeldingen zu abstrahieren ohne vorherige Kenntnis des Einzeldinges, denn in diesem Falle würde der

Die Erkenntnistheorie von Duns Scotus

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Duns Scotus, wie ein Buchmaler ihn sich vorstellte.

Intellekt abstrahieren, ohne zu wissen, von was er abstrahiert“ (Kommentar zu De Anima, 22.3). Für Scotus gehört zum Wissen das Vorhandensein einer Darstellung seines Objekts im erkennenden Geist. Wie Thomas beschreibt er Wissen als Gegenwart einer Gattung oder Idee im Subjekt der Erkenntnis. Doch während für Thomas die Gattung ein Begriff ist, d. h. eine Fähigkeit des erörterten Intellekts, ist sie für Scotus das unmittelbare Objekt der Erkenntnis. Nach Scotus ist für Erkenntnis „die reale Gegenwart des Gegenstandes selbst nicht erforderlich, sondern etwas, in dem der Gegenstand dargestellt ist. Die Gattung ist von solcher Natur, dass das zu erkennende Objekt in ihr nicht tatsächlich und wirklich, jedoch als etwas vorhanden ist, das dargestellt wird“ (Ord. 3. 366). Für Thomas war der Gegenstand des Intellekts selbst tatsächlich vorhanden, denn es war ein Allgemeinbegriff, dessen einzige Existenzweise genau in diesem Vorhandensein im erkennenden Geist bestand. Scotus, da er an intellektuelle Erkenntnis von Einzeldingen glaubt, stellt sich intellektuelle Erkenntnis jedoch nach dem Modell sinnlicher Wahrnehmung vor. Wenn ich eine weiße Wand sehe, wirkt die Weiße der Wand auf meinen Gesichtssinn und meinen Geist, doch sie selbst kann weder in meinem Auge noch in meinem Geist präsent sein, sondern nur eine Repräsentation von ihr.

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4 Erkenntnistheorie

Scotus unterschied zwischen einer intuitiven und einer abstrakten Erkenntnis. „Wir sollten wissen, dass es im Intellekt zwei Arten des Gewahrwerdens und der Erkenntnis gibt: Eine Erkenntnis kann im Intellekt sein, sofern er von jeglicher Existenz abstrahiert; die andere kann die Erkenntnis eines Dinges sein, sofern es in seiner Existenz präsent ist.“ (Lect. 2. 285) Die Unterscheidung zwischen intuitiver und abstrakter Erkenntnis ist nicht identisch mit derjenigen zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem Intellekt – das Wort „abstraktiv“ sollte uns nicht irreleiten, obwohl Scotus glaubte, dass intellektuelle Erkenntnis, in diesem Leben, von Abstraktion abhängt. Es kann sowohl intellektuelle als auch sinnliche intuitive Erkenntnis geben, und die Einbildungskraft, die eine sinnliche Fähigkeit ist, kann über abstraktive Erkenntnis verfügen (Quodl. 13, 27). Scotus nimmt noch eine weitere Unterscheidung vor: zwischen vollkommener und unvollkommener intuitiver Erkenntnis. Eine vollkommene intuitive Erkenntnis ist die Erkenntnis eines gegenwärtig existierenden Objekts, eine unvollkommene intuitive Erkenntnis ist die Erkenntnis eines existierenden Objekts als künftig oder in der Vergangenheit. Abstraktive Erkenntnis ist eine Erkenntnis des Wesens eines Objekts, die die Frage, ob das Objekt existiert oder nicht, in der Schwebe lässt (Quodl. 7, 8). Erinnern wir uns, dass zu den Wesenheiten für Scotus auch das Wesen von Einzeldingen gehört, sodass abstraktive Erkenntnis nicht einfach die Erkenntnis abstrakter Wahrheiten ist. Der Begriff der abstraktiven Erkenntnis ist nicht leicht zu verstehen: Sicherlich gibt es kein Wissen, dass p, wenn p nicht der Fall ist. Vielleicht können wir diese Schwierigkeit umgehen, indem wir darauf bestehen, dass „Erkenntnis“ nicht die richtige Übersetzung für cognitio ist. Wir haben es jedoch mit einem Zustand des Geistes zu tun, der cognitio, dass p, die (a) denselben psychologischen Status hat wie die Erkenntnis, dass p, und die (b) damit kompatibel ist, dass p nicht der Fall ist. Des Weiteren stellt sich die Frage, wie wir im Einzelfall entscheiden können, ob unser geistiger Zustand eine intuitive oder abstraktive Erkenntnis ist. Lassen sich die beiden anhand eines untrüglichen inneren Kennzeichens unterscheiden? Wenn ja: Welches ist dies? Wenn nicht: Wie können wir jemals sicher sein, dass wir wirklich etwas erkannt haben?

Intuitive und abstraktive Erkenntnis bei Ockham Diese Probleme, die sich aus dem Begriff der abstraktiven Erkenntnis ergeben, öffnen den Weg zum Skeptizismus, was Scotus selbst beunruhigte (Lect. 2. 285). Da die Unterscheidung zwischen zwei Arten der Erkenntnis in den Jahren nach Scotus’ Tod äußerst einflussreich war, wurde der Weg, den sie öffnete, von seinen Nachfolgern auch beschritten, und zwar im Lauf der Zeit immer weiter. Wenden wir uns unter diesen Nachfolgern zunächst Ockham zu. Durch die Einführung der Begriffe der intuitiven und abstraktiven Erkenntnis trifft Ockham eine Unterscheidung zwischen Apprehension (Auffassung) und Urteil.

Intuitive und abstraktive Erkenntnis bei Ockham

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Wir fassen einzelne Ausdrücke und Aussagen verschiedenster Art auf, doch nur komplexen Gedanken stimmen wir zu. Wir können einen komplexen Gedanken denken, ohne ihm zuzustimmen, d. h. ohne zu urteilen, dass er wahr ist. Andererseits ist es unmöglich, ein Urteil zu fällen, ohne den Inhalt des Urteils aufzufassen. Erkenntnis umfasst Auffassung und Urteil, und sowohl die Auffassung als auch das Urteil setzen die Kenntnis der einfachen Ausdrücke voraus, die in die fraglichen komplexen Gedanken eingehen (OTh. 1. 16–21). Die Erkenntnis eines nicht-komplexen Gedankens kann abstraktiv oder intuitiv sein. Sie ist abstraktiv, wenn sie davon abstrahiert, ob der Gegenstand existiert oder nicht und welche zufälligen Eigenschaften er haben mag. Intuitive Erkenntnis wird von Ockham folgendermaßen definiert: „Intuitive Erkenntnis ist Erkenntnis von solcher Art, dass sie es einem ermöglicht zu wissen, ob ein Ding existiert oder nicht, sodass der Intellekt, wenn das Ding existiert, sofort urteilt, dass es existiert, und ein evidentes Bewusstsein seiner Existenz hat, sofern dem nicht irgendeine Unvollkommenheit in dieser Erkenntnis entgegensteht.“ (OTh. 1. 31) Intuitive Erkenntnis kann es nicht nur mit der Existenz, sondern auch mit den Eigenschaften von Dingen zu tun haben. Wenn Sokrates weiß ist, kann mir meine intuitive Erkenntnis von Sokrates und des Weißseins ein evidentes Bewusstsein davon geben, dass Sokrates weiß ist. Intuitive Erkenntnis ist für jede Erkenntnis zufälliger Wahrheiten grundlegend. Keine zufällige Wahrheit kann durch abstraktive Erkenntnis erfasst werden (OTh. 1. 32). Wenn man den Ausdruck zum ersten Mal liest, neigt man zu der Annahme, dass Ockham unter „intuitiver Erkenntnis“ ein Gewahrwerden durch die Sinne versteht. Es ist dann natürlich, seine Behauptung, dass zufällige Wahrheiten nur durch intuitive Erkenntnis erfasst werden können, als offenes Bekenntnis zum Empirismus zu verstehen, zu der Lehre, dass sämtliche Erkenntnis von Tatsachen aus den Sinnen abgeleitet ist. Ockham besteht jedoch darauf, dass es eine rein intellektuelle Form der intuitiven Erkenntnis gibt. Bloße sinnliche Empfindung ist seiner Meinung nach nicht in der Lage, ein Urteil des Intellekts herbeizuführen (OTh. 1. 22). Außerdem gibt es viele zufällige Wahrheiten über unseren eigenen Geist – unsere Gedanken, Gefühle, Vergnügen und Schmerzen –, die von den Sinnen nicht wahrgenommen werden können. Dennoch erkennen wir diese Wahrheiten: Hierbei muss es sich um eine intellektuelle intuitive Erkenntnis handeln (OTh. 1. 28). In der natürlichen Ordnung der Dinge wird die intuitive Erkenntnis von Objekten durch die Objekte selbst verursacht. Wenn ich den Nachthimmel anschaue und die Sterne sehe, verursachen sie in mir sowohl ein sinnliches als auch ein intellektuelles Gewahrwerden ihrer Existenz. Doch ein Stern und mein Bewusstsein von seiner Existenz sind zwei verschiedene Dinge, und Gott könnte das eine zerstören, ohne auch das andere zu zerstören. Was Gott durch sekundäre Ursachen tut, kann er auf direkte Weise durch seine eigene Macht tun. Es wäre daher möglich, dass das normalerweise durch die Sterne verursachte Bewusstsein ihrer Existenz durch ihn verursacht würde, ohne dass die Sterne existieren. Ockham sagt jedoch, dass solche Erkenntnis keine evidente Erkenntnis wäre.

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4 Erkenntnistheorie

„Gott kann in uns keine Erkenntnis von solcher Art herbeiführen, dass es uns evident erscheint, dass ein Ding gegenwärtig ist, wenn es tatsächlich abwesend ist, da dies einen Widerspruch bedeutet. Evidente Erkenntnis impliziert, dass sich die Dinge in Wirklichkeit so verhalten, wie es die Aussage, der man zustimmt, behauptet.“ (OTh. 9. 499) Während für die meisten Autoren nur das, was wahr ist, erkannt werden kann, scheint es für Ockham möglich, etwas wahrhaftig und fälschlicherweise zu erkennen. Jedoch nur was wahr ist, kann evidenterweise erkannt werden. Wenn Gott mich urteilen lässt, dass etwas gegenwärtig ist, wenn es abwesend ist, dann ist meine Erkenntnis Ockham zufolge nicht intuitiv, sondern abstraktiv. Doch dies scheint zu bedeuten, dass ich (ohne göttliche Offenbarung) noch nicht einmal sagen kann, welche Teile meines Wissens intuitiv und welche abstraktiv sind. 7 Wenn die intuitive Erkenntnis unser einziger Zugang zu empirischer Wahrheit und intuitive Erkenntnis mit Falschheit kompatibel ist, wie können wir uns dann empirischer Wahrheiten jemals sicher sein? Sicherlich könnte meine Täuschung über die Existenz des Sterns nur durch ein Wunder zustande kommen, und Ockham fügt hinzu, dass Gott ein weiteres Wunder bewirken könnte, durch das die normale Verbindung zwischen intuitiver Erkenntnis und Zustimmung aufgehoben würde, sodass ich mich des falschen Urteils, dass ich einen Stern vor Augen habe, enthalten könnte (OTh. 9. 499). Das scheint allerdings ein schwacher Trost angesichts der Offenbarung, dass ich niemals sagen kann, ob eine intuitive Erkenntnis evident ist oder nicht oder sogar ob eine bestimmte Erkenntnis intuitiv oder abstraktiv ist. Es sei hier darauf hingewiesen, dass Ockhams Position von derjenigen einiger späterer Empiristen sehr verschieden ist. Sie haben versucht, die Verbindung zwischen Wissen und Wahrheit dadurch zu bewahren, dass sie sagten, das unmittelbare Objekt intuitiven Gewahrwerdens sei kein externes Objekt, sondern etwas Privates, wie etwa ein Sinnesdatum. Ockham hingegen sagt explizit: Würde die sinnliche Anschauung einer Farbe von Gott in der Abwesenheit der Farbe aufrechterhalten, so wäre das unmittelbare Objekt sowohl der sinnlichen Anschauung als auch des Gewahrwerdens durch den Intellekt die Farbe selbst, obwohl sie nicht-existent wäre (OTh. 1. 39).

7

Die Frage, wie man das Verhältnis zwischen intuitiver Erkenntnis, Zustimmung und Wahrheit bei Ockham verstehen sollte, ist zurzeit Gegenstand einer umfangreichen kontroversen Diskussion. Für zwei gegenteilige Auffassungen vergleiche man E. Stump, „The Mechanisms of Cognition“ (in CCO, 168–203) und E. Karger, „Ockham’s Misunderstood Theory of Intuitive and Abstractive Cognition“ (in CCO, 204–226).

5

Physik

Augustinus über die Zeit Im elften Buch der Bekenntnisse findet sich ein berühmter Abschnitt über das Wesen der Zeit. Die Erörterung ergibt sich aus einer kritischen Frage: Was machte Gott, bevor die Welt begann? Augustinus spielt mit der Antwort, verwirft sie aber auch: „Höllen […] hat er gemacht für die, die solche Dinge fragen.“ (Conf. XI. 12. 14) Es handelt sich um eine ernste Schwierigkeit: Wenn Gott zunächst untätig, dann aber schöpferisch war, so bedeutet dies gewiss, dass es im Unveränderlichen zu einer Veränderung kam. Die von Augustinus entwickelte Antwort lautet, dass es vor der Erschaffung des Himmels und der Erde so etwas wie Zeit nicht gab, und ohne Zeit kann es keine Veränderung geben. Es ist Unsinn zu behaupten, dass Ewigkeiten vergangen sind, bevor Gott irgendetwas geschaffen hat, denn Gott ist der Schöpfer der Zeit, so dass es vor der Schöpfung keine Zeiträume gab: „Du hast die Zeit geschaffen, so dass keine Zeit vergehen konnte, bevor du sie geschaffen hattest. Doch wenn es vor dem Himmel und der Erde so etwas wie Zeit nicht gab, warum fragen die Leute dann, was du damals tatest? Als es keine Zeit gab, gab es auch kein Damals.“ (Conf. XI. 13. 15) Ebenso wenig können wir fragen, warum die Welt nicht früher erschaffen wurde, denn vor der Welt gab es kein Früher. Es ist irreführend selbst von Gott zu behaupten, er habe zu einer Zeit vor der Erschaffung der Welt existiert, denn es gibt keine zeitliche Abfolge in Gott. In ihm ersetzt das Heute kein Gestern, noch macht es dem Morgigen Platz. Es gibt nur eine ewige Gegenwart. Da er die Zeit wie ein Geschöpf behandelt, kann dies den Anschein erwecken, als behandle Augustinus die Zeit wie eine Entität von stabiler Beschaffenheit, vergleichbar mit den Dingen, aus denen das Universum besteht. Doch im weiteren Verlauf seines Arguments wird deutlich, dass seine Grundauffassung die Zeit als etwas Unwirkliches ansieht. „Was ist die Zeit?“, fragt er. „Wenn mich niemand fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht. Die Zeit besteht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Doch die Vergangenheit existiert nicht mehr, und die Zukunft ist noch nicht da. Die einzig wirkliche Zeit ist daher die Gegenwart. Eine Gegenwart, die nichts als Gegenwart ist, ist keine Zeit, sondern Ewigkeit“ (Conf. XI. 14. 17). Wir sprechen von längeren und kürzeren Zeiten: Was vor zehn Tagen geschah, liegt nur eine kurze Zeit zurück, was in hundert Jahren sein wird, liegt weit in der Zukunft. Doch weder die Zukunft noch die Vergangenheit existieren: Wie können vergangene oder künftige Zeiten also kurz oder lang sein? Wie können wir die Zeit messen? Angenommen, wir sagen von einem Zeitraum der Vergangenheit, er sei lang

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5 Physik

gewesen: Wollen wir damit sagen, dass er lang war, als er vergangen oder als er gegenwärtig war? Nur Letzteres ergibt Sinn. Doch wie kann irgendetwas in der Gegenwart lang sein, da die Gegenwart nur einen Moment dauert? 100 Jahre sind eine lange Zeit, doch wie können 100 Jahre gegenwärtig sein? In jedem Jahr eines Jahrhunderts werden einige Jahre in der Vergangenheit und einige in der Zukunft liegen. Vielleicht befinden wir uns im letzten Jahr eines Jahrhunderts, doch selbst dies Jahr ist nicht gegenwärtig, da einige seiner Monate in der Vergangenheit und andere in der Zukunft liegen. Dasselbe Argument ist auf Tage und Stunden anwendbar. Eine Stunde besteht aus flüchtigen Momenten. Das Einzige, was sich in Wahrheit als „gegenwärtig“ bezeichnen lässt, ist ein unteilbarer Moment der Zeit, der ständig von der Zukunft in die Vergangenheit fliegt. Was aber nicht in Vergangenheit und Zukunft geteilt werden kann, hat keine Dauer (Conf. XI. 15. 20). Keine Ansammlung von Augenblicken kann mehr als einen Augenblick lang sein. Die einzelnen Stadien jedes Zeitraums existieren niemals gleichzeitig: Wie können sie zu einem Ganzen zusammengesetzt werden? Jede Messung, die wir vornehmen, muss in der Gegenwart erfolgen. Doch wie können wir etwas messen, dass bereits vergangen oder noch nicht eingetroffen ist? Augustinus’ Antwort auf die von ihm aufgeworfenen Schwierigkeiten besteht darin zu sagen, dass es die Zeit nur im Geist des Menschen gibt. Seine vergangene Kindheit existiert jetzt, in seinem Gedächtnis. Der morgige Sonnenaufgang existiert jetzt, in seiner Voraussicht. Das Vergangene existiert nicht, doch wir schauen es in der Gegenwart an, wenn es sich gegenwärtig im Gedächtnis befindet. Die Zukunft existiert nicht: Das Einzige, was es gibt, ist unsere gegenwärtige Voraussicht. Anstatt zu sagen, dass es die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, sollten wir sagen, dass es eine Gegenwart vergangener Dinge (das Gedächtnis), eine Gegenwart der gegenwärtigen Dinge (welche die Anschauung ist) und die Gegenwart zukünftiger Dinge (die Voraussicht) gibt. Eine Länge der Zeit ist nicht wirklich eine Zeitlänge, sondern eine Länge der Erinnerung oder eine Länge der Voraussicht. Wenn ich Zeiträume messe, messe ich gegenwärtiges Bewusstsein (Conf. XI. 27. 36). Dies ist sicherlich keine befriedigende Antwort auf die von Augustinus so wortgewandt konstruierten Paradoxa. Betrachten wir meine gegenwärtige Erinnerung an ein Ereignis in meiner Kindheit. Füllt mein Erinnern nur einen Augenblick aus? Trifft dies zu, dann hat es keine Dauer und kann nicht gemessen werden. Erfordert es Zeit? In diesem Fall muss ein Teil von ihm in der Vergangenheit und ein Teil in der Zukunft liegen – in beiden Fällen ist es daher nicht messbar. Wenn wir diese Einwände außer Acht lassen, können wir immer noch fragen, wie eine gegenwärtige Erinnerung dazu verwendet werden kann, ein vergangenes Ereignis zu messen. Wir können doch gewiss eine kurze Erinnerung an ein langes, langweiliges Ereignis in der Vergangenheit haben und andererseits uns für lange Zeit der Erinnerung an ein zwar nur einen Moment dauerndes, aber traumatisches Ereignis der Vergangenheit hingeben. Augustinus’ eigener Text zeigt, dass er mit seiner Lösung nicht zufrieden war. Unsere Erinnerungen und Erwartungen sind Zeichen vergangener und künftiger Er-

Augustinus über die Zeit

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eignisse. Er weist jedoch darauf hin, dass dasjenige, an das wir uns erinnern und das wir erwarten, etwas von diesen Zeichen Verschiedenes und nicht gegenwärtig ist (Conf. XI. 23. 24). Die Lösung dieser Paradoxa besteht nicht in der weiteren Ausarbeitung einer Theorie der subjektiven Zeit, sondern darin, die Knoten zu entwirren, die bei ihrer Darlegung entstanden sind. Unser Begriff der Zeit stützt sich auf zwei verschiedene Zeitreihen: eine, die mithilfe der Begriffe „früher“ und „später“, und eine andere, die mit den Begriffen der Vergangenheit und Zukunft konstruiert wird. Augustinus’ Paradoxa entstehen dadurch, dass man Fäden beider Sichtweisen zusammenwebt, und sie können nur gelöst werden, wenn man dieses Gewebe wieder in seine Einzelfäden zerlegt. Es hat Philosophen viele Jahrhunderte gekostet, dies zu leisten, und einige sind sogar der Meinung, dass die Aufgabe noch nicht zufriedenstellend gelöst worden sei. 1 Augustinus’ Interesse an der Zeit war von seinem Wunsch bestimmt, die christliche Schöpfungslehre zu erhellen. „Einige Menschen“, schrieb er, „stimmen zu, dass die Welt von Gott geschaffen ist, sie weigern sich jedoch zuzugeben, dass sie einen Anfang in der Zeit hatte. Sie gestehen einen Anfang nur insofern zu, als die Welt fortwährend erschaffen wird“ (DCD IX. 4). Er hat für die Auffassung dieser Menschen eine gewisse Sympathie: Sie möchten verhindern, dass Gott irgendeine plötzliche, unüberlegte Handlung zugeschrieben wird, und es ist sicherlich vorstellbar, dass etwas keinen zeitlichen Anfang hat und dennoch kausal abhängig ist. Er zitiert sie, indem er sagt: „Hätte ein Fuß seit Ewigkeiten im Staub gestanden, so hätte er stets einen Abdruck unter sich gehabt, und doch wäre der Abdruck zweifellos durch den Auftritt hervorgerufen, wenn auch das eine nicht zeitlich vor dem anderen da war.“ (DCD X. 31) Diejenigen, die behaupten, dass es die Welt seit Ewigkeiten gegeben hat, sind nach Augustinus beinahe im Recht. Wenn sie lediglich glauben, dass es vor der Erschaffung der Welt keine Zeit gab, haben sie Recht, denn Zeit und Schöpfung hatten einen gemeinsamen Anfang. Es ist ebenso falsch zu glauben, dass es vor dem Beginn der Welt Zeit gab, wie zu glauben, es gebe Raum jenseits des Endes der Welt. Wir können daher nicht sagen, dass Gott die Welt geschaffen hat, nachdem so und so viele Zeitalter verstrichen waren. Dies bedeutet nicht, dass wir für die Schöpfung der Welt kein Datum angeben können. Wir können dies jedoch nur so tun, dass wir von der Gegenwart aus zurückzählen, und nicht vom ersten Moment der Ewigkeit zu zählen beginnen, was unmöglich ist. Tatsächlich sagt uns die Heilige Schrift, dass die Welt vor weniger als 6000 Jahren erschaffen wurde (DCD IX. 4, 12. 11).

1

Vgl. A. N. Prior, „Changes in Events and Changes in Things“, in Papers on Time and Tense (Oxford: Oxford University Press, 1968).

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5 Physik

Philoponos, ein Kritiker des Aristoteles Es gab eine bekannte, auf Aristoteles zurückgehende Reihe von Argumenten, aus denen sich ergab, dass das Universum keinen Anfang in der Zeit gehabt haben kann. Einige dieser Argumente waren Augustinus bekannt, und er versuchte, sie zu widerlegen. Doch der erste entschiedene Angriff auf Aristoteles’ Überlegungen stammt von Johannes Philoponos. Philoponos’ Werk Gegen Aristoteles, Über die Ewigkeit der Welt ist uns nur in Zitaten erhalten, die wir in den Kommentaren seines Gegenspielers Simplicius finden. Doch die überlieferten Fragmente sind so umfangreich, dass man seine Argumente zuversichtlich daraus rekonstruieren kann. 2 Der erste Teil des Werkes enthält einen Angriff auf Aristoteles’ Theorie der Quintessenz, d. h. auf die Meinung, außer den vier Elementen Erde, Luft, Feuer und Wasser mit ihren natürlichen nach oben und unten gerichteten Bewegungen gebe es ein fünftes Element, den Äther, dessen natürliche Bewegung kreisförmig ist. Demgegenüber argumentierte Philoponos für die Auffassung, dass der himmlische Bereich des Universums und der Bereich unterhalb des Mondes im Wesentlichen von gleicher Natur und aus denselben Elementen zusammengesetzt sind (Bücher 1–3). Aristoteles hatte behauptet, der Himmel müsse ewig sein, denn alle Dinge, die entstehen, entstehen aus einem Gegensatz, und die Quintessenz hatte keinen Gegensatz, weil es zu einer kreisförmigen Bewegung keinen Gegensatz gibt (De Caelo 1. 3. 270a 12–22). Philoponos wies darauf hin, dass die Komplexität der Planetenbewegungen nicht einfach durch einen Hinweis auf die Tendenz der Substanz der Himmelskörper, sich in einem Kreis zu bewegen, erklärt werden könne. Noch wichtiger war, dass er bestritt, alles entstehe aus einem Gegenteil. Durch die Schöpfung entsteht etwas aus nichts, doch dies darf nicht so verstanden werden, als wäre das Nichtsein das Material, aus dem die Kreaturen auf die Weise entstehen wie Schiffe aus Holz. Es bedeutet lediglich, dass es kein Ding gibt, aus dem sie erschaffen ist. Die Ewigkeit der Welt ist nach Philoponos nicht nur mit der christlichen Lehre von der Schöpfung unvereinbar, sondern auch mit Aristoteles’ eigener Überzeugung, dass nichts eine mehr als endliche Anzahl von Zeitabschnitten durchlaufen kann. Wenn die Welt nämlich keinen Anfang hatte, muss sie seit einer unendlichen Anzahl von Jahren bestanden haben und – was noch schlimmer ist – seit einer 365-mal größeren Anzahl von Tagen (Buch 5, Frag. 132). In seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles (641. 13 ff.) greift Philoponos die Lehre von den natürlichen und unnatürlichen Bewegungen an. Aristoteles war bei der Erklärung der Bewegung geworfener Körper auf ein Problem gestoßen. Wenn ich einen Stein werfe, was bewirkt dann, dass er sich nach oben und von mir weg bewegt, wenn er meine Hand verlässt? Seine natürliche Bewegung ist nach unten gerichtet, 2

Diese Rekonstruktion wurde von C. Wildberg durchgeführt, der den rekonstruierten Text übersetzt hat als: Against Aristotle on the Eternity of the World (London: Duckworth, 1987).

Naturphilosophie im 13. Jahrhundert

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und meine Hand ist nicht mehr mit ihm in Kontakt, um die – für ihn unnatürliche – Bewegung nach oben auf ihn zu übertragen. Aristoteles’ Antwort lautete, dass der Stein an jedem Punkt seiner Flugbahn von der Luft unmittelbar hinter ihm weitergeschoben wurde. Philoponos verspottete diese Antwort, zweifellos zu Recht. Philoponos’ eigene Antwort lautete, dass die fortgesetzte Bewegung das Resultat einer Kraft innerhalb des geworfenen Gegenstandes selbst sei: eine immaterielle Bewegungskraft, die durch den Werfenden auf den Gegenstand übertragen wurde. Spätere Physiker gaben dieser Kraft die technische Bezeichnung impetus. Die Theorie des Impetus blieb einflussreich, bis Galileo und Newton das erstaunliche Prinzip vorschlugen, dass es zur Erklärung der fortgesetzten Bewegung eines sich bewegenden Körpers keiner externen oder internen Bewegungsursache bedarf. Philoponos wendete seine Theorie des Impetus auf den gesamten Kosmos an. Es bewegen sich die Himmelskörper beispielsweise nicht deshalb auf ihren Bahnen, weil sie eine Seele haben, sondern weil Gott ihnen, als er sie erschuf, den passenden Impetus mitgab. Obwohl die Theorie des Impetus durch die Entdeckung der Trägheit überholt wurde, war sie, verglichen mit ihrer aristotelischen Vorgängerin, dennoch ein großer Fortschritt. Mit ihrer Hilfe konnte Philoponos auf die merkwürdige Mischung aus Physik und Psychologie verzichten, die für Aristoteles’ Astronomie charakteristisch war.

Naturphilosophie im 13. Jahrhundert Aristoteles’ Naturphilosophie blieb dennoch viele weitere Jahrhunderte lang einflussreich. Sowohl in der islamischen als auch lateinischen Philosophie vollzog sich das Studium der Natur innerhalb des Rahmens, der durch Kommentare zu den Werken von Aristoteles, besonders seiner Physik, vorgegeben wurde. Einzelne Denker, wie zum Beispiel Robert Grosseteste und Albertus Magnus, erweiterten die aristotelische Wissenschaft durch Einzelstudien zu bestimmten wissenschaftlichen Themen, doch der allgemeine begriffliche Rahmen blieb bis zum 14. Jahrhundert aristotelisch. Dies lässt sich anhand einer Betrachtung der Begriffe Bewegung, Zeit und Ursache verdeutlichen. Aristoteles hatte Bewegung definiert als „die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand“. 3 Arabische Kommentatoren bemühten sich intensiv darum, diese Definition mit dem System der Kategorien in Verbindung zu bringen. Avicenna ordnete Bewegung der Kategorie der passio zu: Alle Änderungen in der Natur waren auf die Aktivität der himmlischen Intelligenzen zurückzuführen, die sozusagen „die Ideen in der Brühe der natürlichen Welt umrührten“. Averroes hob die Vielzahl der verschiedenen Arten von Veränderung hervor, die durch den aristotelischen Begriff der Bewegung abgedeckt werden. Es gab Ortsveränderung, Bewegung 3

Siehe Band I, Seite 196.

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5 Physik

von einer Stelle an eine andere, Wachstum, eine Zunahme der Größe und zahlreiche Arten von qualitativen Veränderungen. Jedes Beispiel der Bewegung gehörte in dieselbe Kategorie wie sein Endzustand: Ort, Quantität oder Qualität. Weit davon entfernt das passive Ergebnis der Tätigkeit der himmlischen Intelligenzen zu sein, war jede Änderung in einem belebten oder unbelebten natürlichen Körper die Wirkung eines internen Agens (eines motor conjunctus). Albertus Magnus versuchte mit Unterstützung von Aristoteles’ Texten diese beiden islamischen Erklärungen zu kombinieren: Eine Bewegung war gleichzeitig die Wirkung eines internen Agens und die passio eines bewegten Objekts. Wenn ein Gärtner den Boden umgräbt, so ist dies gleichzeitig eine Tätigkeit des Gärtners und etwas, das mit dem Boden geschieht. Er stimmte Averroes darin zu, dass Bewegung ein analogischer Begriff war, der sich über mehrere Kategorien erstreckte, doch er glaubte, dass Averroes Aristoteles’ Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Wirklichkeiten nur unzureichend verstanden hatte. Ein beweglicher Körper am Punkt A verfügt über die Möglichkeit, sich an Punkt B zu befinden. Die Ankunft bei B ist die vollkommene Wirklichkeit dieser Möglichkeit. Doch die Bewegung in Richtung auf B ist die unvollkommene Wirklichkeit, wenn der sich bewegende Körper sich noch nicht bei B befindet, sondern nur auf dem Weg zu B ist. Albertus behauptet, dass sich Aristoteles’ weit gefasste Definition der Bewegung – die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand –, wenn man ihren analogischen Sinn erweitert, auf die Entstehung (substanzielle Änderung) und die Schöpfung (etwas aus nichts ins Sein bringen) anwenden lässt. 4 Für Aristoteles sind Zeit und Bewegung eng miteinander verbunden: Die Zeit ist das Maß der Bewegung und sie leitet ihre Kontinuität von derjenigen der Bewegung ab. Die Frage, ob Zeit und Bewegung einen Anfang hatten, wurde im 13. Jahrhundert unter christlichen Philosophen, im Zusammenhang mit der Frage der Beweisbarkeit der Existenz Gottes, heftig diskutiert. Im Anschluss an al-Kindi und die kalam-Philosophen und unter Verwendung einiger Argumente von Philoponos glaubten einige Theologen beweisen zu können, dass die natürliche Welt einen Anfang hatte, weshalb es einer übernatürlichen Ursache, Gottes, bedurfte, ihre Existenz zu bewirken. Andere waren hingegen der Auffassung, dass der Beginn der Welt zwar vom Buch Genesis gelehrt wurde, jedoch mit rein philosophischen Argumenten nicht erwiesen werden konnte. Thomas von Aquin, der die zweite Ansicht vertrat, fasste die Argumente auf beiden Seiten in der 46. Frage des ersten Teils der Summa Theologiae zusammen. Im ersten Artikel stellt er zehn Argumente vor, die behaupten zu beweisen, dass es die Welt („das Universum und die Geschöpfe“) schon immer gegeben hat, im zweiten Artikel acht Argumente, die beweisen, dass die Welt einen Anfang hatte. Er widerlegt jedes der Argumente auf beiden Seiten und gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Welt zwar einen Anfang in der Zeit hatte, dass dies jedoch nicht etwas ist, was bewie4

Vgl. J. Weisheipl, „The Interpretation of Aristotle’s Physics“, in CHLMP, 526 ff.

Naturphilosophie im 13. Jahrhundert

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Albertus Magnus während des Astronomieunterrichts.

sen oder als wissenschaftliche Tatsache gewusst werden könne, sondern dass es ein Glaubenssatz sei. Das Folgende ist ein Beispielargument, mit dem gezeigt werden soll, dass es die Welt schon immer gegeben haben muss. Es hat die Form einer reductio ad absurdum.

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5 Physik

„Bei allem nämlich, was zu sein angefangen hat, ist, bevor es war, möglich gewesen, daß es nicht war: sonst wäre ja unmöglich gewesen, daß es wurde. Wenn also die Welt angefangen hat zu sein, so ist, bevor sie anfing, möglich gewesen, daß sie wäre. Nun ist aber das, was seinsmöglich ist, der Wesungsstoff, der im Mögestand zum Sein ist, das es durch die Wesungsform gibt, und zum Nichtsein, das es durch die Privation (das Fehlen) gibt. Wenn also die Welt zu sein angefangen hat, so gab es vor der Welt den Wesungsstoff. Nun kann es aber den Wesungsstoff nicht ohne Wesungsform geben: Weltstoff aber mit Form ist Welt. Es ist also die Welt gewesen, bevor sie zu sein anfing: was unmöglich ist.“ 5

Hierauf antwortet Thomas, dass die Möglichkeit der Welt, bevor sie existierte, nicht die passive Möglichkeit war, die die Materie ausmacht. Die präexistente Möglichkeit bestand aus zwei Elementen: der logischen Möglichkeit der Existenz der Welt sowie der aktiven Kraft des allmächtigen Gottes. Eins von Thomas’ Argumenten auf der Gegenseite ist ein Argument, das bereits eine lange Geschichte hinter sich hatte: „Wenn es die Welt schon immer gegeben hätte, dann ist bis heute eine unendliche Anzahl von Tagen verstrichen. Doch es ist unmöglich, irgendeine Unendlichkeit zu durchschreiten. Deshalb hätte der heutige Tag nie erreicht werden können, was offensichtlich falsch ist.“ (ST 46. 2, obj. 6) Seine Antwort ist kurz, aber entschieden: Ein Durchschreiten muss einen Anfang und ein Ende haben. Doch welchen früheren Tag man auch als Anfang festlegen mag: Er kann nur eine endliche Zahl von Tagen zurückliegen. Der Einwand nimmt an, dass es möglich ist, einen Anfangs- und einen Endpunkt zu wählen, zwischen denen unendlich viele Tage liegen. Thomas beantwortet jedoch nicht nur einzelne Argumente für und gegen die Annahme, die Welt habe es seit Ewigkeiten gegeben, sondern er nennt auch allgemeine Gründe, warum wir aus reiner Vernunft allein niemals wissen können, ob sie einen Anfang hatte oder nicht. Unser Nachdenken über die Welt verwendet allgemeine Begriffe, und Universalien abstrahieren von Zeiten und Orten. Aus diesem Grund können sie uns nichts über Anfangs- und Endzustände sagen. Das Nachdenken über Gott hilft uns auch nicht weiter: Die Vernunft mag uns zwar notwendige Wahrheiten über ihn lehren, über die unergründlichen Ratschlüsse seiner souveränen Freiheit kann sie uns jedoch nichts sagen (ST 46. 2c). Obwohl Thomas bezüglich der Grenzen der philosophischen Kosmogonie einen bewundernswerten Agnostizismus vertritt, war er übermäßig leichtgläubig, wenn es um die Kausalstruktur des tatsächlich existierenden Universums geht. Einerseits akzeptierte er die aristotelische Theorie, dass die Natur der Himmelskörper von derjenigen sämtlicher Körper auf der Erde sehr verschieden war. Andererseits glaubt er jedoch, dass diese selben Himmelskörper für die natürlichen Aktivitäten aller kom5

Zitiert nach: T. von Aquino, Summe der Theologie, herausgegeben von J. Bernhart (Stuttgart: Kröner Verlag, 1985), 203 (mit geringfügigen Änderungen).

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plexen Wesen und Dinge auf Erden direkt kausal verantwortlich seien. Die vier Elemente und ihre physikalischen Eigenschaften wie Hitze und Kälte, behauptete er, reichten nicht aus, die reiche Vielfalt der natürlichen Phänomene auf der Erde zu erklären. Daher sagt er, Aristoteles’ De Generatione zitierend: „Wir müssen ein aktives Prinzip der Bewegung annehmen, das durch seine Gegenwart und sein Fehlen die Vielfalt des Entstehens und Vergehens der Körper auf Erden bewirkt. Solch ein Prinzip stellen die Himmelskörper dar. Was immer demnach auf Erden anderes seiner Art hervorbringt, fungiert als Instrument eines Himmelskörpers. Entsprechend heißt es im zweiten Buch der Physik, dass der Mensch und die Sonne den Menschen erzeugen.“ (ST 1a 115a 3 ad 2)

In einem späteren Artikel erläutert Thomas, wie er diese obskure aristotelische Feststellung versteht. Samen habe eine aktive Kraft, die der Seele des Mannes entstammt, der ihn hervorbringt. Das Vehikel der aktiven Kraft ist der Schaum des Samens, der über eine besondere Eigenhitze verfügt, die nicht aus der Seele des Mannes stammt, sondern aus der Wirkung der Himmelskörper. Daher gibt es im frühesten Stadium der Erzeugung eines menschlichen Wesens ein Zusammentreffen der Kräfte des Menschen und der Himmelskörper (ST 1a 118. 1 ad 2). Obwohl er von der engen Beteiligung der Himmelskörper an den Vorgängen auf der Erde überzeugt ist, glaubt er nicht an alle Behauptungen der Astrologen. Er bestreitet nicht, dass sich die Himmelskörper auf das menschliche Verhalten auswirken können – schließlich kann große Sonnenhitze dazu führen, dass ich meinen Mantel ausziehe. Doch er besteht darauf, dass sie es nicht auf eine solche Weise tun, dass menschliche Entscheidungen dadurch beeinflusst und astrologische Vorhersagen möglich werden. Wenn der Intellekt und der Wille des Menschen rein körperliche Funktionen wären, würden die Sterne tatsächlich direkt auf sie einwirken können. Da es sich hierbei jedoch um spirituelle Fähigkeiten handelt, sind sie ihrem schicksalhaften Einfluss entzogen. Denjenigen, die behaupten, Astrologen könnten den Ausgang von Kriegen wahrheitsgemäß vorhersagen, antwortet Thomas, dies liege daran, dass die Mehrheit der Menschen von ihrem freien Willen keinen Gebrauch mache und sich stattdessen den Leidenschaften des Körpers hingebe. Daher können Astrologen statistisch zuverlässige Vorhersagen machen, das Schicksal einer einzelnen Person vorhersagen können sie jedoch nicht. Er erwähnt, dass Astrologen selbst zugäben, ein weiser Mensch könne die Macht der Sterne besiegen (ST 1a 115. 4).

Aktuale und mögliche Unendlichkeit Die meisten Philosophen des Mittelalters teilten Aristoteles’ Auffassung, dass eine unendlich große Zahl in der Wirklichkeit nicht existieren kann. Dies anzunehmen sei inkonsistent. Er behauptete, die Materie sei bis ins Unendliche teilbar. Dies bedeu-

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tete jedoch nicht, dass die Materie aus unendlich vielen Teilen bestehe, sondern dass sie, unabhängig davon, wie oft sie bereits geteilt worden sei, immer noch weiter geteilt werden könne. Das Unendliche existierte seiner Meinung nach nur der Möglichkeit nach. Aristoteles’ Einwände richteten sich lediglich gegen das synchronische aktual Unendliche. Er glaubte, dass es das Universum immer schon gegeben habe, und dies muss bedeuten, dass eine unendliche Anzahl von Zeitabschnitten bereits verstrichen ist. Dieses Theorem wurde von den mittelalterlichen Philosophen jedoch nicht nur auf die Teilbarkeit des Kontinuums, sondern auch auf die Dauer des geschaffenen Universums angewendet. Diejenigen, die beweisen wollten, dass die Welt in der Zeit erschaffen worden war, führten häufig das Argument an, dass der Glaube an ein ewiges Universum den Glauben an ein aktual Unendliches beinhalte. Bonaventura argumentiert zum Beispiel folgendermaßen: „Dem Unendlichen lässt sich nichts hinzufügen. Dies wird daraus ersichtlich, dass dasjenige, dem etwas hinzugefügt wird, größer wird, doch nichts ist größer als das Unendliche. Wenn die Welt jedoch keinen Anfang hatte, hat sie seit Ewigkeiten bestanden. Daher kann ihrer Dauer nichts hinzugefügt werden. Doch es ist klar, dass dies falsch ist. Jeden Tag wird allen Sonnenumläufen der Vergangenheit ein weiterer hinzugefügt. Vielleicht wirst du sagen, sie sei unendlich in Bezug auf die Vergangenheit, in Bezug auf die Gegenwart, die sich jetzt ereignet, jedoch endlich, und dass man nur bezüglich des gegenwärtigen, endlichen Teils etwas Größeres finden könne. Doch wir können zeigen, dass bezüglich der Vergangenheit etwas Größeres gefunden werden kann. Es ist unbezweifelbar wahr, dass es, wenn die Welt ewig ist, unendlich viele Sonnenumläufe gegeben hat, und darüber hinaus, dass es für jeden Sonnenumlauf zwölf Umläufe des Mondes gegeben hat. Daher hat es mehr Mond- als Sonnenumläufe gegeben. Die Sonne hat jedoch unendlich oft ihre Bahn gezogen. Daher ist es möglich, etwas zu finden, was das Unendliche in genau der Hinsicht übertrifft, in der es unendlich ist. Dies ist aber unmöglich.“ 6

Wenn es aktuale Unendlichkeiten gäbe, wären sie, selbst wenn sie nicht synchron wären, auf die Weise zählbar, wie Jahre und Monate zählbar sind. Wenn es jedoch zählbare Unendlichkeiten gäbe, dann würde es ungleiche Unendlichkeiten geben, und dies war gewiss ein Skandal. Mittelalterliche Philosophen antworteten auf diesen Skandal auf unterschiedliche Weise. Einige bestritten, dass „so groß wie“ und „größer als“ auf unendliche Zahlen überhaupt anwendbar waren. Andere hingegen akzeptierten, dass es gleich und ungleich große Unendlichkeiten geben könne, bestritten jedoch, dass das Axiom „Das Ganze ist größer als seine Teile“ für unendliche Zahlen gültig ist. 6

II Sent. 1. 1. 1. 2; zitiert von J. Murdoch, „Infinity and Continuity“, in CHLMP, 570.

Aktuale und mögliche Unendlichkeit

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Das unendlich teilbare Kontinuum, wie Aristoteles es sich vorstellte, führte nicht auf das Problem der ungleich großen Unendlichkeiten, da die Teile des Kontinuums nur der Möglichkeit nach voneinander verschieden waren, und mögliche Entitäten waren nicht auf die gleiche Weise zählbar wie gegenwärtig wirkliche. Im 14. Jahrhundert begannen einige Denker jedoch die These zu verteidigen, dass das Kontinuum aus unteilbaren Atomen zusammengesetzt war, deren Anzahl unendlich war. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere Heinrich von Harclay, der 1312 Kanzler der Universität Oxford war. Aristoteles hatte behauptet, es sei unmöglich, dass ein Kontinuum aus Punkten bestehe, die keine Größe haben. Da ein Punkt keine Teile hat, kann er keine von sich selbst verschiedene Grenze haben. Zwei Punkte konnten einander daher nicht berühren, ohne zu einem Punkt zu werden. Doch Heinrich versuchte, die Auffassung zu verteidigen, dass sie sich berühren konnten – sie würden sich tatsächlich als ganze berühren, doch sie könnten dennoch in Bezug auf ihre Position voneinander verschieden sein und so zueinander hinzuaddiert werden. Diese Theorie war schwer zu verstehen, und Bradwardine konnte zeigen, dass sie die euklidische Geometrie in Unsinn verwandelte. Wenn man in einem Quadrat parallele Linien von jedem Atom auf der einen Seite zu jedem auf der gegenüberliegenden Seite zieht, dann schneiden diese Linien die Diagonale bei ebenso vielen Atomen, wie sie auf beiden Seiten treffen. Doch dies ist mit der Tatsache nicht zu vereinbaren, dass die Längen der Diagonale und der Seiten inkommensurabel sind. Ockham bezog eine wesentlich radikalere Position als Heinrich. Als Teil seines allgemeinen reduktionistischen Programms behauptete er, dass Punkte keine absolute Existenz haben. Nicht einmal Gott könne einen Punkt unabhängig von allen anderen Entitäten existieren lassen. Eine Linie war also keineswegs aus Punkten zusammengesetzt, wie es sich für Heinrich darstellte: Ein Punkt war lediglich eine Grenze oder ein Schnittpunkt innerhalb einer Linie. „Ein Punkt ist kein absolutes Ding, verschieden von Substanz und Qualität und den anderen von modernen Autoren aufgelisteten Quantitäten, denn wenn er es wäre, wäre er etwas anderes als eine Linie. Das aber ist falsch. Ist er Teil einer Linie oder nicht? Kein Teil, denn wie Aristoteles zu zeigen versucht, besteht eine Linie nicht aus Punkten. Wenn er nicht Teil einer Linie ist – und eine Linie ist offensichtlich nicht Teil eines Punktes –, dann sind die beiden völlig verschiedene Dinge, keines ein Teil des anderen.“ (OPh. 2. 207)

Ockham stimmt Aristoteles bezüglich der Unmöglichkeit eines aktual Unendlichen zu, und er verwendet dieses Theorem, um zu zeigen, dass ein Punkt kein unteilbares Etwas ist, das von irgendetwas Teilbarem wirklich verschieden ist. Wenn Punkte solche Atome wären, würden unendlich viele von ihnen tatsächlich existieren. Auf jedem Stück Holz kann man eine beliebige Anzahl von Linien definieren, von denen jede in einem Punkt endet. Wenn die Punkte wirklich sind, dann gibt es unendlich viele

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aktual existierende Entitäten, was unmöglich ist und aller Philosophie widerspricht (OPh. 2. 209 f.). Logiker und Naturphilosophen des 14. Jahrhunderts interessierten sich nicht nur für das räumliche Kontinuum, sondern auch für die Kontinua von Zeit und Bewegung. Ein Sophismus in Richard Kilvingtons Sophismata (Nr. 13) behandelt das Problem des Durchschreitens einer bestimmten Entfernung. Wenn Sokrates eine bestimmte Entfernung A durchschreitet, sollen wir sagen, dass er sie zu irgendeinem Zeitpunkt während des Vorgangs durchschreitet, oder erst, wenn der Vorgang beendet ist? Beide Antworten sind problematisch. Wenn wir die zweite Möglichkeit wählen, dann durchschreitet Sokrates A nur, wenn er aufgehört hat, es zu tun. Wählen wir die erste Möglichkeit, dann durchschreitet Sokrates A unendlich oft, da die Bewegung unendlich teilbar ist, doch er durchschreitet sie nur einmal. Kilvington behandelt den verwirrenden Satz „Sokrates wird die Entfernung A durchschreiten“, indem er eine Unterscheidung zwischen zwei Möglichkeiten trifft, die Bedeutung der Verbform „wird durchschreiten“ auszulegen. „Auf eine Weise wird sie folgendermaßen ausgelegt: ‚Sokrates wird die Entfernung A durchschreiten‘ – das heißt: ‚Sokrates wird sich im Durchqueren der Entfernung A befinden‘, und auf diese Weise ist der Sophismus wahr. Außerdem wird die letzte Schlussfolgerung – dass Sokrates auf diese Weise die Entfernung A unendlich oft durchschreitet – zugestanden, denn Sokrates wird sich unendlich oft im Durchschreiten der Entfernung A befinden. Der Sophismus kann folgendermaßen auch auf andere Weise ausgelegt werden: ‚Sokrates wird die Entfernung A durchschreiten‘ – das heißt: ‚Die Entfernung A wird von Sokrates durchschritten worden sein‘. Wenn man dies behauptet, bevor C [der Endpunkt] erreicht wurde, dann durchschreitet Sokrates die Entfernung A nicht.“ (Sophismata, 328) 7

Die Methode der „Auslegung“ von Verben war unter Logikern seit der Zeit von Peter von Spanien beliebt. Beliebte „auslegbare“ Verben waren „anfangen“ (incipere) und „aufhören“ (desinere). Kilvington und seine Kollegen boten Auslegungen solcher Verben, um mit Problemen fertig zu werden wie den Fragen, ob es einen ersten und einen letzten Moment der Bewegung gibt. Die übliche Antwort lautete, dass es sie nicht gab: lediglich einen letzten Moment vor Beginn der Bewegung und einen ersten Moment nach ihrem Ende. Walter Burley schrieb eine ganze Abhandlung mit dem Titel Über den ersten und letzten Augenblick, in der er Dinge und Prozesse in verschiedene Arten einteilte: Einige von ihnen hatten einen ersten, aber keinen letzten Augenblick, andere keinen ersten, sondern nur einen letzten Augenblick usw. Außerdem dehnte er die Begriffe der Kontinuität und Teilbarkeit auf Änderungen sowohl der Qualität als auch der Quantität 7

Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von N. Kretzmann und B. Ensign Kretzmann (Cambridge: Cambridge University Press, 1990).

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aus. Sein Buch Über die Ausbildung und Rückbildung der Formen erörtert das Wesen und die Messung von kontinuierlichen Eigenschaften wie Wärme und Farbe. Scholastische Philosophen nahmen, wenn sie die Erwärmung von Körpern erörterten, normalerweise eine von zwei Positionen ein. Gemäß seiner Ansicht geschah die Erwärmung eines Körpers dadurch, dass ihm ein Wärmeelement hinzugefügt wurde. Der anderen Auffassung zufolge ließ sich die Änderung der Temperatur durch die Beimischung von Wärme oder Kälte erklären. Burley führte eine dritte Möglichkeit ein: Er führte den Begriff des Wärmegrades auf einem einheitlichen Maßstab ein, den er als „Latitüde“ bezeichnete. Wärme und Kälte waren nicht als zwei unterschiedliche Qualitäten anzusehen, sondern als eine. An einem Ende des Maßstabs befand sich die maximale Wärme und am anderen die maximale Kälte. Hiermit wurde der moderne Begriff der Temperatur eingeführt und die Grundlage für wichtige Entwicklungen in der Physik gelegt.

6

Metaphysik

In den Schriften der späten Neuplatoniker und des Augustinus fehlt es nicht an Beispielen für metaphysisches Denken. In ihren Werken ist es jedoch mit den Erörterungen des Wesens Gottes so eng verbunden, dass es von ihrer natürlichen Theologie nur schwer zu trennen ist, weshalb es in diesem Band im Kapitel über Gott erörtert wird. Völlig anders liegen die Dinge, wenn wir zur Philosophie von Avicenna kommen, der ohne jeden Zweifel der bedeutendste Metaphysiker des ersten Jahrtausends n. Chr. war. Wir erinnern uns daran, dass Aristoteles die Erste Philosophie auf zwei unterschiedliche Weisen definierte. Nach der einen Definition war es die Wissenschaft von der göttlichen Substanz, nach der anderen die Wissenschaft, die das Sein als Seiendes betrachtet. Ich habe die Auffassung vertreten, dass beide Definitionen zusammenfallen. Die zweite beschreibt die Metaphysik in Bezug auf das Feld der zu erklärenden Gegenstände, d. h. all dessen, was es gibt. Die erste beschreibt die Metaphysik anhand des von ihr angebotenen Erklärungsprinzips: des Bezugs auf den göttlichen unbewegten Beweger. Daher sind Theologie und die Wissenschaft vom Sein als Seiendem ein und dieselbe Erste Philosophie. 1

Avicenna über Sein, Wesen und Existenz Aristoteles-Kommentatoren gingen jedoch in der Regel davon aus, dass die beiden Definitionen die Metaphysik auf verschiedene, miteinander konkurrierende Weisen beschreiben. Avicenna akzeptierte die These, dass die Metaphysik das Sein als Seiendes studiert, doch er verwirft die Auffassung, dass der Gegenstand der Metaphysik Gott ist. Er gibt hierfür folgenden Grund an: Keine Wissenschaft kann die Existenz ihres eigenen Gegenstandes beweisen. Die Metaphysik, und nur die Metaphysik, beweist jedoch die Existenz Gottes. Daher kann Gott nicht Gegenstand der Metaphysik sein (Metaph. 1. 5 f.). Das Sein, der Gegenstand der Metaphysik, ist etwas, dessen Existenz nicht bewiesen werden muss. Die Metaphysik studiert das Sein als solches, keine bestimmten Arten von Sein, wie etwa materielle Objekte. Sie studiert Gegenstände in den aristotelischen Kategorien, die sozusagen Arten des Seins sind. Sie behandelt Themen wie etwa das Eine und das Viele, Potenzialität und Aktualität, Allgemeines und Besonde-

1

Siehe Band I, Seite 239.

Avicenna über Sein, Wesen und Existenz

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res, das Mögliche und das Notwendige – Themen, die die Grenzen zwischen naturwissenschaftlichen, mathematischen und ethischen Disziplinen überschreiten. Sie wird als göttliche Wissenschaft bezeichnet, da sie von Dingen handelt, die „in ihrer Definition und ihrem Sein von der Materie getrennt sind“ (Metaph. 1. 13–15). Nach Avicenna sind die ersten Ideen, die sich der Seele einprägen, die Ideen Ding, Sein und notwendig. Sie können nicht durch Ideen erklärt werden, die besser erkannt sind, und der Versuch, eine solche Erklärung zu liefern, führt zu einem Zirkelschluss. Jedes Ding hat seine eigene Wirklichkeit, die es zu dem macht, was es ist: Ein Dreieck hat eine Wirklichkeit, die es zu einem Dreieck macht, das Weiße hat eine Wirklichkeit, die es zum Weißen macht: Sie kann als sein Sein bezeichnet werden, doch ein passenderer technischer Ausdruck ist seine „Quiddität“. 2 Dies ist ein besseres Wort, denn „Sein“ hat die alternative Bedeutung von „Existenz“. Der wichtigste Unterschied zwischen Arten des Seins ist derjenige zwischen notwendigem und möglichem Sein. (Es gibt kein unmögliches Sein.) Mögliches Sein ist dasjenige, was, an sich selbst betrachtet, nicht notwendigerweise sein muss. Notwendiges Sein ist dasjenige, was, an sich selbst betrachtet, notwendigerweise sein muss. Was von sich aus notwendig ist, hat keine Ursache, im Gegensatz zu dem, was von sich aus möglich ist. Ein Sein, dass eine Ursache hätte, würde – unabhängig von dieser Ursache betrachtet – nicht länger notwendig sein. Daher wäre es nicht das, was von sich aus notwendig ist. „Was immer, an sich selbst betrachtet, möglich ist, hat eine Ursache seines Seins und seines Nicht-Seins. Wenn es Sein hat, hat es ein vom Nicht-Sein verschiedenes Sein erlangt. Wenn es jedoch aufgehört hat zu sein, hat es ein vom Sein verschiedenes Nicht-Sein. Es kann nicht anders sein, als dass jedes von diesen entweder von etwas anderem als es selbst erlangt wird, oder nicht von etwas anderem als es selbst. Wenn es von etwas anderem als es selbst erlangt wird, ist dieses andere Ding seine Ursache. Wenn es nicht von etwas anderem als es selbst erlangt wird, dann muss es von seiner eigenen Quiddität abgeleitet sein. Wenn die Quiddität für sich für das Erlangen ausreicht, dann ist es kein mögliches, sondern ein notwendiges Wesen. Reicht die Quiddität für sich für das Erlangen nicht aus, sondern benötigt sie externe Hilfe, dann ist dieses externe Element die reale Ursache des Seins oder Nicht-Seins des möglichen Seienden.“ (Metaph. 1. 38)

Avicenna verwendet dieses Argument, um die Existenz einer ersten Ursache zu beweisen, die an sich notwendig ist. Im Anschluss daran listet er die Eigenschaften dieses notwendigen Wesens auf: Es ist unverursacht, unvergleichlich, einzigartig usw. Es ist 2

Der arabische Ausdruck ist von dem Fragepronomen „Was?“ abgeleitet. Die lateinischen Übersetzer bildeten ein entsprechendes Wort, Quidditas, um das anzudeuten, was die Frage „Was (quid) ist ein X?“ beantwortet. Zwar ließe sich das Wort „Washeit“ bilden, doch hat sich das Wort „Quiddität“ im Laufe der Jahrhunderte eingebürgert.

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6 Metaphysik

jedoch wichtig, an dieser Stelle innezuhalten und über den soeben gelesenen Text nachzudenken. Der Textabschnitt nimmt an, dass es ein Subjekt geben kann, ein und dasselbe Subjekt, das zuerst Nicht-Sein und dann, zu einem späteren Zeitpunkt, Sein besitzt: ein X, von dem gilt, das es zunächst nicht existiert und dann existiert. Dies ist offensichtlich etwas völlig anderes als eine zugrunde liegende Materie, die zunächst eine Form hat und dann eine andere, wie wenn im System von Aristoteles ein Stück Ton verschiedene Formen annimmt oder ein Element in ein anderes verwandelt wird (vgl. Metaph. 1. 73). Es ist jedoch nicht klar, was für eine metaphysische Entität uns nun genau angeboten wird. Ist das Subjekt, das vom Nicht-Sein zum Sein gelangt (und umgekehrt), das Universum oder eine Art oder ein Einzelding? Will Avicenna, dass wir uns beim Lesen dieses Textes vorstellen: „Einst hat das Universum nicht existiert“ oder „Es gab einmal Dinosaurier, aber jetzt gibt es sie nicht mehr“ oder „Erst gab es keinen Sokrates, und dann gab es ihn“? Jeder dieser Gedanken wirft metaphysische Probleme auf, doch konzentrieren wir uns auf den letzten, der zugleich der am deutlichsten formulierte und problematischste ist. Sicherlich gab es, bevor Sokrates existierte, kein solches Subjekt, von dem man Prädikate aussagen konnte, oder, um es anders zu sagen: Es gab keinen Sokrates, der mit Nichtsein hätte beschäftigt sein können. Es scheint schwierig, über nicht-existente Individuen zu sprechen, da, was nicht existiert, sich nicht individuieren lässt. Doch wie individuieren wir, was existiert? Aristoteles glaubte, dass ein Individuum einer bestimmten Art von einem anderen verschieden war, weil es aus verschiedener Materie bestand. Was nicht existiert, ist jedoch nicht Teil des materiellen Universums und kann daher durch Materie nicht individuiert werden. Doch muss Avicenna akzeptieren, dass die Materie das einzige individuierende Merkmal ist? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns ansehen, was uns Avicenna über das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem zu sagen hat. Nach seiner Meinung kann ein Begriff auf unterschiedliche Weise ein Allgemeinbegriff sein. Er kann etwas sein, was tatsächlich von vielen Dingen wahr ausgesagt werden kann, wie zum Beispiel der Begriff Mensch. Es kann etwas sein, von dem es logisch möglich ist, dass es von vielen Dingen ausgesagt wird, was aber de facto nicht von vielen Dingen wahr ausgesagt wird. Zwei mögliche Fälle sind hier zu unterscheiden. Der Begriff heptagonales Haus wird von nichts wahr ausgesagt, doch es gibt nichts, was verhindern könnte, dass dieser Allgemeinbegriff mehrfach realisiert wird. Der Begriff Sonne wird jedoch nur von einem Ding wahr ausgesagt und kann nur von einem Ding wahr ausgesagt werden. Diese Unmöglichkeit ist jedoch eine Sache der Physik, nicht der Logik. Bei Individuen liegen die Dinge deutlich anders. „Ein Individuum ist etwas, von dem sich nicht denken lässt, dass es von mehr als einem Ding ausgesagt wird, wie das Wesen von Zaïd hier, von dem sich nicht denken lässt, dass es zu etwas anderem als ihm selbst gehört.“ (Metaph. 5. 196) Betrachten wir den Begriff Pferd. Wir können dies auf drei verschiedene Weisen tun: Wir können ihn ansehen als etwas, das in Individuen Sein hat, oder hinsichtlich

Avicenna über Sein, Wesen und Existenz

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des Seins, das er im Geist hat, oder wir können ihn absolut betrachten, rein abstrakt und ohne Bezug auf diese beiden Seinsweisen. „Die Definition der Pferdheit umgeht die Definition des Allgemeinen, und Allgemeinheit ist in der Definition der Pferdheit nicht enthalten. Pferdheit hat eine Definition, die keiner Allgemeinheit bedarf. Allgemeinheit ist etwas Zusätzliches. Pferdheit ist selbst nichts anderes als Pferdheit. An sich selbst ist sie weder Eines noch Vieles, an sich selbst existiert sie weder in wahrnehmbaren Individuen noch in der Seele. […] Pferdheit ist allgemein, insofern viele Dinge ihre Definition teilen: Nimmt man sie aber mit bestimmten Eigenschaften und zugeordneten Akzidenzien, so ist sie etwas Individuelles. Pferdheit an sich ist nichts anderes als Pferdheit.“ (Metaph. 5. 196)

Avicenna behauptet nicht, auf platonische Weise, dass so etwas wie Pferdheit an sich existiert, unabhängig von irgendeinem einzelnen Pferd. Pferdheit ist etwas, was in einzelnen Pferden vorkommt, Bellerophon oder Eclipse, und wir können sie studieren, indem wir diese Einzelwesen untersuchen. Wir können den Begriff auch hinsichtlich seines Auftretens im Geist betrachten: Wie wir es tun, wenn wir sagen, dass der Begriff Pferd leicht erworben werden kann. Doch wir können auch abstrakt erwägen, was alles zum Pferdsein dazugehört, und dies ist die Betrachtung der Pferdheit an sich (Metaph. 5. 207). Die Pferdheit eines einzelnen Pferdes und die Menschheit in einem bestimmten Menschen sind begleitet von „bestimmten Eigenschaften und zugeordneten Akzidenzien“, sagt Avicenna. Für Aristoteles wären diese zugeordneten Akzidenzien – diejenigen, die eine bestimmte Materieansammlung auszeichnen – dasjenige, was Sokrates individuiert. Doch für Avicenna ist die Menschheit eines einzelnen Menschen selbst individuiert. Obwohl die Menschheit von Zaïd und Amr sich nicht voneinander unterscheiden, ist es völlig verfehlt anzunehmen, sie seien numerisch identisch: Es ist nicht eine Menschheit, sondern es sind zwei. Für Avicenna gibt es individuelle und allgemeine Wesenheiten. Die Einführung individueller Wesenheiten eröffnet die Möglichkeit, nicht-existente Entitäten zu individuieren. Ebenso wie man das Zur-Existenz-Kommen von Dampf aus Wasser als die Hinzufügung der Form des Dampfes zur präexistenten Materie ansehen kann, lässt sich das Zur-Existenz-Kommen von Sokrates ansehen als das Hinzufügen der Existenz zu dem Wesen, dem sie vorher fehlte. Das präexistente Wesen kann als Potenzialität angesehen werden, deren Aktualität die Existenz ist. Auf diese Weise erscheinen Wesen und Existenz als drittes „Potenzialität-Aktualität“-Paar neben Materie – Form und Substanz – Akzidens. Existenz, scheint Avicenna manchmal zu sagen, ist ein Akzidens, das dem Wesen hinzugefügt wird. 3 Im Falle eines Wesens, das für sich selbst notwendig ist, kann es so etwas wie das Haben von Sein nach dem Nichthaben von Sein nicht geben, sodass der Unterschied 3

So wurde es im lateinischen Mittelalter zumindest häufig verstanden; siehe CHLMP, 393.

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zwischen Wesen und Existenz nicht auftaucht. Doch bei allen anderen Wesen sind sie nach Avicenna verschieden. Seit den Zeiten Avicennas haben ihm einige Philosophen darin zugestimmt, dass es in allen Fällen außer demjenigen Gottes einen realen Unterschied zwischen Wesen und Existenz gibt. Andere Philosophen haben dies zwar bestritten, doch alle haben die Frage als wichtiges Problem behandelt. Die Bedeutung der Frage hängt davon ab, ob „Wesen“ in diesem Zusammenhang ein allgemeines oder einzelnes Wesen bedeutet. Wenn wir Wesen im allgemeinen Sinn verstehen, dann entspricht dem Unterschied zwischen Existenz und Wesen der Unterschied zwischen den Fragen „Gibt es Xs?“ und „Was sind Xs?“. Dass es Quarks gibt, ist ganz und gar nicht dasselbe wie das, was Quarks sind. Wenn die Unterscheidung hierauf hinausläuft, lässt sie sich nicht bestreiten.4 Wenn wir jedoch annehmen, dass sich die Unterscheidung auf individuelle Wesenheiten bezieht, dann scheint sie die Möglichkeit zu beinhalten, dass es individuelle Wesenheiten geben kann, die mit nichts Existierendem verbunden sind: einzelnen Wesenheiten von möglichen, aber nicht-existenten Individuen. Das Wesen Adams, beispielsweise, besteht seit aller Ewigkeit: Wenn Gott Adam erschafft, erteilt er dieser bereits existierenden Potenzialität Aktualität. Die Postulierung des Einzelwesens von Individuen wurde, obwohl sie durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag einflussreich sein sollte, zum Anlass philosophischer Verwirrung. Fragen wir uns, wie eine einzelne Menschheit, sagen wir die Menschheit von Abraham, selbst individuiert wird. Sie wird nicht als Menschheit individuiert: Das ist etwas allen Menschen Gemeinsames. Sie wird nicht dadurch individuiert, dass sie zu Abraham gehört: Gemäß unserer Voraussetzung könnte sie auch dann existieren und dieselbe Entität sein, wenn Abraham niemals erschaffen worden, sondern ewig eine Möglichkeit geblieben wäre. Sie kann nach Avicenna nur durch die sie begleitenden Eigenschaften und Akzidenzien individuiert werden – mit anderen Worten, durch alles, was vom wirklichen Abraham wahr ausgesagt werden konnte: dass er aus Ur in Chaldäa ausgewandert ist, einem göttlichen Befehl, seinen Sohn zu opfern, gehorchte usw. Da es das Wesen Abrahams gab, bevor Abraham existierte, konnte es nicht durch die Wirklichkeit dieser Dinge individuiert werden, sondern lediglich durch ihre Möglichkeit. Doch bevor Abraham empfangen wurde, gab es niemanden und nichts, was Subjekt dieser Möglichkeiten hätte sein können. Es bestand lediglich die abstrakte Möglichkeit, dass es ein Individuum geben könnte, das von Ur auswanderte, bereit war, seinen Sohn zu opfern usw. Es war nicht die Möglichkeit dieses Individuums. Auf die gleiche Weise kann man sagen, dass, bevor Noah empfangen wurde, keine Möglichkeit bestand, dass er die Arche bauen würde, sondern nur die Möglichkeit, dass je4

Doch wenn diese Interpretation akzeptiert wird, dann läuft die Lehre, dass in Gott Wesen und Existenz nicht unterscheidbar sind, darauf hinaus, dass die Antwort auf die Frage „Was ist Gott?“ lautet: „Es gibt einen.“ Einige Theologen scheinen bereit, dies zu akzeptieren.

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mand sie bauen würde. Avicenna bestand gegen Platon zu Recht darauf, dass es ohne Individuierung keine Aktualisierung geben kann – es existierten keine aktualen Universalien. Es ist bedauerlich, dass er das umgekehrte Prinzip, dass es ohne Aktualisierung keine Individuierung geben kann, nicht akzeptierte.

Thomas von Aquin über Wirklichkeit und Möglichkeit Die Ideen von Avicenna waren während des gesamten Hochmittelalters sehr einflussreich. Spuren seines Denkens finden sich häufig im Werk von Thomas von Aquin, dessen frühes metaphysisches Manifest Über das Sein und das Wesen mit einem Zitat von Avicenna beginnt, in dem behauptet wird, Sein und Wesen seien das Erste, was der Intellekt erfasse. Während sein Denken reifte, entwickelte Thomas seine eigene Form einer aristotelischen Metaphysik, doch schüttelte er den Einfluss von Avicenna niemals ganz ab. Die zentralen Begriffe der Metaphysik von Thomas von Aquin sind die Begriffe Wirklichkeit und Möglichkeit. Sie stammen offensichtlich von Aristoteles und seinen Kommentatoren, doch er wendet sie in neuen Bereichen und mit einer Differenziertheit an, die man vor ihm nicht kannte. Bereits bei Aristoteles wurde die einfache Gegenüberstellung der Begriffe durch eine Unterscheidung zwischen erster und zweiter Wirklichkeit modifiziert: Thomas entwickelte diese Unterscheidung zu einem Schichtenmodell verschiedener Möglichkeits- und Wirklichkeitsstufen weiter, wobei er insbesondere eine systematische Untersuchung des Begriffs habitus, oder Disposition, vornahm. Bei Aristoteles sind die beiden wichtigsten Beispiele für die „Möglichkeit-Wirklichkeit“-Struktur die Beziehungen zwischen Subjekt und Akzidens und Materie und Form. Thomas übernimmt Avicennas Ausweitung der Struktur auf die Dichotomie von Wesen und Sein und führt sie seinerseits weiter aus. Thomas widmet dem Begriff habitus in der Prima Secundae der Summa Theologiae fünf Fragen. Der unmittelbare Zweck dieser Abhandlung (bei der es sich, obwohl in aristotelischem Geist verfasst, um ein eigenständiges Werk handelt) besteht darin, den Begriff der Tugend einzuführen. Doch der Begriff des habitus hat eine wesentlich breitere Anwendung: Tatsächlich ist er ein wesentliches Element der Beschreibung des typischen Verhaltens des Menschen und seiner Welterfahrung, obwohl selbst bedeutende Philosophen diese Tatsache manchmal fast übersehen haben. Thomas von Aquin gebührt das Verdienst, die Bedeutung dieses Begriffes erfasst und als erster der großen Philosophen versucht zu haben, ihn umfassend zu analysieren. Zu den Beispielen für habitus gehören – neben Tugenden wie Mäßigung und Barmherzigkeit – Krankheit und Gesundheit, Schönheit und Zähigkeit, logisches und wissenschaftliches Wissen, Überzeugungen jeder Art sowie der Besitz von Begriffen. Die Vielfalt der Beispiele zeigt, dass das Wort „Gewohnheit“ (engl. habit) als Übersetzung nicht infrage kommt. Derjenige moderne philosophische Ausdruck, der der Bedeutung am nächsten kommt, ist „Disposition“. Die Bedeutung des Be-

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6 Metaphysik

Ein Manuskript von Thomas von Aquin.

griffs der Disposition erschließt man am besten über die Begriffe der Fähigkeit und Handlung. Menschen verfügen über zahlreiche Fähigkeiten, die den Tieren fehlen: zum Beispiel die Fähigkeit, eine Sprache zu erlernen oder großzügig zu sein. Diese Fähigkeiten werden in Handlungen realisiert, wenn bestimmte Menschen bestimmte Sprachen sprechen oder sich großzügig verhalten. Zwischen der Fähigkeit und der

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Handlung kann es jedoch noch einen Zwischenzustand geben. Wenn wir von einem Mann sagen, dass er Französisch sprechen kann, so meinen wir weder, dass er tatsächlich Französisch spricht, noch dass sein Fränzösisch-Sprechen lediglich eine logische Möglichkeit darstellt. Wenn wir jemanden großzügig nennen, dann meinen wir damit mehr als dies: dass er, wie alle anderen Menschen, über diese Fähigkeit verfügt. Aber wir behaupten damit ebenso wenig, dass er zurzeit etwas Großzügiges tut. Zustände wie die französische Sprache beherrschen oder großzügig sein sind Dispositionen. Eine Disposition liegt nach Thomas in der Mitte zwischen einer Fähigkeit und einer Handlung, zwischen reiner Möglichkeit und voller Wirklichkeit (ST 1a 2ae 50. 4). Für Thomas ist nicht jede Aktivität die Ausübung einer Disposition. Die Gedanken Gottes und die Bewegung der Planeten sind Aktivitäten, die keinen Dispositionen entspringen. Natürliche Kräfte benötigen keine Disposition, um die ihnen natürlichen Wirkungen hervorzubringen. Seiner Natur nach führt Feuer zu Erwärmung und Wasser dazu, dass etwas nass wird: Dies sind die natürlichen Wirkungen von Feuer und Wasser und die einzigen Wirkungen, derer sie fähig sind. Wo Fähigkeit und Ausübung identisch sind, wie bei Gott, oder wo die Fähigkeit nur in einer einzigen Wirkung realisiert werden kann, ist kein Raum für etwas Drittes zwischen Fähigkeit und Ausübung. Dispositionen sind Qualitäten: Sie fallen in eine der neun aristotelischen Kategorien von Akzidenzien. Akzidenzien inhärieren in Substanzen, und dasselbe gilt auch für Dispositionen. Thomas hebt ausdrücklich hervor, dass alle Attribute letztlich Attribute von Substanzen sind, und sämtliche Dispositionen einer Person sind Dispositionen eines Menschen. Was glaubt oder großzügig ist oder gesund, ist, genau genommen, ein Mensch und nicht sein Geist oder Herz oder Körper (ST 1a 2ae 50. 2). Dennoch ist es nicht sinnlos zu fragen, ob die Fähigkeit der Geschichtsschreibung beispielsweise in erster Linie eine Gabe des Gedächtnisses oder der Einbildungskraft ist. Fragt man, ob etwas eine Disposition des Geistes oder des Körpers ist, so fragt man, ob es zum Menschen gehört, sofern er ein intelligentes Wesen oder ein Tier mit einer bestimmten Konstitution ist. Auch in diesem Fall, in dem er Dispositionen bestimmten Fähigkeiten ebenso wie der Substanz zuordnet, der sie als Akzidenzien letztlich inhärieren, wendet Thomas auf die ursprüngliche aristotelische Dichotomie von Wirklichkeit und Möglichkeit ein Stufenmodell an. Die Ergebnisse sind manchmal überraschend. Keine menschliche Aktivität, so behauptet er, entspringt aus einer rein körperlichen Disposition. Körperliche Aktivitäten unterliegen entweder der Steuerung des Willens oder nicht. Unterliegen sie nicht der Steuerung des Willens, so sind es natürliche Aktivitäten, und es bedarf keiner Disposition, um sie zu erklären. Wenn sie der Steuerung des Willens unterliegen, müssen die Dispositionen, die sie erklären, sich primär in der Seele befinden. Daher ist für Thomas die Fähigkeit, einen Marathon zu laufen, nicht weniger eine Disposition der Seele als die Fähigkeit, Hebräisch zu lesen (ST 1ae 2ae 50. 1). Generell lässt sich sagen, dass Thomas’ Behandlung der Beziehung zwischen Sub-

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stanzen und Akzidenzien eine natürliche Entwicklung aus ihrem aristotelischen Ursprung darstellt. Eine höchst neuartige Anwendung der Begriffe ist Thomas’ Erklärung der Eucharistie, des Sakraments, bei dem nach katholischem Glauben das Brot und der Wein durch die Worte des Priesters während der Messe in Christi Leib und Blut verwandelt werden. Er behauptete, dass die Substanz des Brotes der Substanz von Christi Leib weiche – dies war die Transsubstantiation – und dass, was auf dem Altar sichtbar und berührbar zurückbleibe, lediglich die Akzidenzien von Brot und Wein seien. Die Form, Farbe usw. des Brotes bleiben ohne eine Substanz zurück, der sie inhärieren (ST 3a 75–7). Es ist schwer zu entscheiden, ob die Vorstellung von Akzidenzien, die keiner Substanz inhärieren, überhaupt verständlich ist. Einerseits scheint die Vorstellung vom Grinsen einer Katze ohne die Katze absurd, andererseits ist das Blau des Himmels nicht das Blau von irgendetwas Realem und damit vielleicht ein Akzidens ohne eine Substanz. Doch Thomas’ Erläuterung scheint ihren Zweck zu verfehlen, der darin besteht, die Gegenwart Christi auf dem Altar zu erklären, denn eines der aristotelischen Akzidenzien ist der Ort. „Befindet sich auf dem Altar“ gibt, wie „ist weiß und rund“, einfach die Gegenwart eines Akzidens an, das keiner Substanz inhäriert, und sagt uns nichts über den Ort Christi. Wie dem auch sei: Diese spezielle Anwendung des Begriffspaares Substanz und Akzidens hätte Aristoteles sicherlich überrascht. Doch wenn es auch unwahrscheinlich ist, dass Aristoteles von einer Substanz getrennt existierende akzidenzielle Form zugelassen hätte, so ließ er seine Nachfolger bezüglich der Frage, ob er es für möglich halte, dass substanzielle Formen von der Materie getrennt existieren, im Zweifel. Thomas erhebt, wie Aristoteles, häufig Einwände gegen Platons Annahme getrennter Formen, doch im Gegensatz zu Bonaventura verwirft er einen universalen Hylomorphismus und betrachtet Engel als reine Formen. Der folgende Text aus seiner Behandlung des Themas der Schöpfung ist für die Zweideutigkeit von Thomas’ Position typisch: „Erschaffenwerden ist eine Art zu werden. Das Werden ist jedoch auf das Sein des Dinges hingeordnet. Daher kommt Werden und Erschaffenwerden im eigentlichen Sinne dem zu, dem Sein zukommt. Und dies sind subsistente Dinge. […] Sein im eigentlichen Sinne kommt dem zu, was Sein hat – und das ist ein subsistentes Ding mit seinem eigenen Sein. Wesensformen und Akzidenzien und anderes Derartiges heißen nicht deshalb seiend, weil sie selbst sind, sondern weil durch sie etwas anderes das ist, was es ist. Daher wird das Weiße seiend genannt, weil durch es etwas weiß ist. Aus diesem Grunde sagt Aristoteles, dass ein Akzidens nicht so sehr ist, als vielmehr zum Sein gehört. Akzidenzien und Wesensformen und Derartiges, die nicht für sich existieren, sind eher mitseiend als seiend, weshalb sie auch eher miterschaffen als erschaffen genannt werden sollten. Was im eigentlichen Sinne erschaffen wird, sind subsistente Entitäten.“ (ST 1a. 45. 4c)

In der zitierten Form ist der Text eine bewundernswerte Darlegung eines klaren und deutlichen Aristotelismus gegen jegliche platonische Verdinglichung von Formen,

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seien diese substanziell oder akzidenziell. Doch im selben Abschnitt unterteilt Thomas, in einem Satz, den ich absichtlich herausgenommen habe, die subsistenten Entitäten, die allein über Sein im eigentlichen Sinne verfügen und erschaffen sind, in zwei Klassen: hylomorphe materielle Substanzen auf der einen und getrennte Substanzen auf der anderen Seite. Doch getrennt existierende Substanzen – Geister von Engeln und dergleichen – sind nach Thomas’ Verständnis Formen, die nicht Formen von etwas sind, und gegen diese Art sie zu begreifen lassen sich offenbar sämtliche Einwände vorbringen, die ein Aristoteliker gegen einen Platoniker anführt. Es scheint schwer, Thomas’ Auffassungen zu diesem Thema anders konsistent zu machen als durch die Feststellung, dass er ein Aristoteliker auf Erden, im Himmel aber ein Platoniker ist. Die wichtigste Erweiterung des aristotelischen Systems der Möglichkeit und Wirklichkeit, die Thomas, mit gutem und schlechtem Ergebnis, vornimmt, ist ihre Anwendung auf das Begriffspaar Wesen und Existenz, das er von Avicenna übernahm. Es gibt für Thomas, wie für Avicenna, nicht nur allgemeine Wesenheiten, wie etwa Menschheit, sondern auch die individuelle Menschheit von Peter und Paul. Außerdem gibt es zwei verschiedene Arten von Existenz, oder zwei unterschiedliche Bedeutungen von esse, des lateinischen Verbs „sein“, wenn es als Äquivalent von „existieren“ verwendet wird. Zunächst gibt es die generische Existenz, die Existenz einer Art von Ding, wie in den Sätzen „Engel existieren“ oder „Es gibt Engel“. Es gibt jedoch auch die individuelle Existenz eines bestimmten Gegenstandes, wie in dem Satz: „Die große Pyramide existiert noch, der Leuchtturm von Alexandria jedoch nicht mehr.“ (Im Lateinischen ist die Verwendung von est und non est in solchen Zusammenhängen völlig normal, im Deutschen hat der Satz „Rom ist, aber Troja ist nicht mehr“ hingegen einen archaischen Klang.) Die generische Existenz ist die Art von Existenz, von der Philosophen seit Kant behaupten, dass sie „kein Prädikat ist“. Sie wird in der modernen Logik durch die Verwendung des Existenzquantors ausgedrückt. (Für ein x gilt: x ist ein Engel.) Die individuelle Existenz ist jedoch durchaus ein echtes Prädikat. Thomas’ Auffassung bezüglich der generischen Existenz ist relativ deutlich. In seiner Schrift De Ente et Essentia findet sich der folgende klassische Text: „Was nämlich auch immer nicht zum Begriff des Wesens oder der Washeit gehört, das ist etwas, das von außen kommt, und eine Zusammensetzung mit dem Wesen bildet, weil kein Wesen ohne das, was die Teile des Wesens sind, gedacht werden kann. Jedes Wesen oder jede Wesenheit kann aber nicht gedacht werden, ohne dass man etwas über sein (ihr) Sein weiß: ich kann nämlich wissen, was ein Mensch oder ein Phönix ist, und dennoch nicht wissen, ob er ein Sein im Reich der Wirklichkeit hat. Also ist offenbar, dass das Sein etwas anderes ist als Wesen oder Washeit.“ (DEE 4. 94–105) 5 5

Zitiert nach: T. von Aquin, De Ente et Essentia, Das Seiende und das Wesen (Stuttgart: Reclam, 1979), 49.

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Ob es Dinge einer bestimmten Art gibt, ist eine ganz andere Frage als die Frage, was die Dinge dieser Art sind: Ob es Engel gibt, ist nicht dieselbe Frage wie die Frage, was „Engel“ bedeutet. Wenn dies mit der Behauptung, dass Wesen und Existenz zu unterscheiden sind, gemeint ist, dann ist diese Lehre zweifellos richtig. Es ist nicht so einfach zu ermitteln, wie die Beziehung zwischen individuellen Wesenheiten und individueller Existenz von Thomas verstanden wurde. Gibt es einen realen Unterschied zwischen Peters Existenz und Peters Wesen – oder zwischen diesen beiden und Peter selbst? Sicherlich nicht: Es scheint, dass Peter, Peters Menschheit und Peters Existenz von exakt gleicher zeitlicher Dauer sind. Sie alle beginnen, grob gesagt, ein paar Monate vor Peters Geburt und enden mit Peters Tod. Doch vielleicht ließe sich auf folgende Weise ein realer Unterschied zwischen Wesen und Existenz begründen. Während es wahr ist, dass die Existenz jedes Geschöpfs genau so lange dauert wie sein Wesen, gibt es dennoch diesen Unterschied zwischen den beiden, dass seine Existenz zu einer Zeit keine Konsequenzen für seine Existenz zu einem späteren Zeitpunkt auf die Weise hat, auf die seine Wesenheit zu einer Zeit Konsequenzen für seine Existenz zu einem späteren Zeitpunkt nach sich zieht. Ein Mensch tendiert dazu, eine bestimmte Zeit lang zu leben. Ein radioaktives Element zeigt die Tendenz, mit einer bestimmten Rate zu zerfallen. Diese Tendenzen sind Teil der jeweiligen Wesenheiten: Diese Dinge tendieren dazu, fortzubestehen oder zu zerfallen und aufzuhören zu existieren. Das Wesen wäre daher von der Existenz, und zwar als Ursache – in diesem Fall als formale Ursache – so verschieden wie eine Ursache von ihrer Wirkung. Thomas’ Lehre über das Verhältnis von Wesenheit und Existenz ist zum Teil deshalb so dunkel, weil das Wort esse, zusätzlich zu „Existenz“ in seinen beiden Bedeutungen, über eine Reihe von Bedeutungen verfügt, in denen es dem Wort „sein“ entspricht. Manchmal sagt Thomas beispielsweise, dass all die Dinge der verschiedenen Arten, die es im Universum gibt – Mäuse und Menschen, Stürme und Jahreszeiten, Tugenden und Laster, Zeiten und Orte –, dies gemeinsam haben: dass sie sind. (Gilbert Ryle beschrieb es einmal auf folgende Weise: Es sei „wie Atmen, nur leiser“.) In anderen Zusammenhängen wird das Wort „sein“ verwendet, um den Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit zu bezeichnen. Eine Raupe kann ein Schmetterling werden, doch solange sie eine Raupe bleibt, ist sie kein Schmetterling. Nur wenn der magische Tag gekommen ist, können wir sagen: Jetzt ist sie ein Schmetterling. Diese Bedeutungen von „sein“ sind im System von Thomas nur wichtig, wenn er sie dazu verwendet, seine These zu erläutern, dass es bei Gott, anders als bei den Geschöpfen, keinen Unterschied zwischen Sein und Wesen gibt. Er behauptet, dass Gott reines Sein ist. Nicht nur der Unterschied zwischen Wesen und Existenz, sondern auch der Unterschied zwischen anderen Formen von Möglichkeit und Wirklichkeit – Substanz und Akzidens, Materie und Form – ist fehl am Platz, wenn wir eine Beschreibung Gottes geben wollen, denn er ist reine Wirklichkeit. Diese Lehren werden wir im letzten, religionsphilosophischen Kapitel dieses Buches analysieren.

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Die Metaphysik von Duns Scotus Im System von Duns Scotus ist die Metaphysik von grundlegender Bedeutung. Sie ist in aristotelischen Begriffen formuliert, denen jedoch eine sehr persönliche Deutung gegeben wird. Wie Aristoteles definiert Scotus die Metaphysik als Wissenschaft, die das Sein als Seiendes untersucht, doch während für Aristoteles etwas als Seiendes zu studieren eine besondere Art der Untersuchung bedeutete, ist bei Scotus das Sein als Seiendes ein besonderer Gegenstand der Untersuchung. Tatsächlich ist das Sein als Seiendes der umfassendste Gegenstand einer Untersuchung, einschließlich des endlichen und unendlichen, wirklichen und möglichen Seins. Für Scotus ist, wie für Thomas von Aquin, eines der Hauptanliegen der Metaphysik der Beweis der Existenz und der Eigenschaften Gottes, sodass die natürliche Theologie ein Teil dieser Disziplin ist. Für Scotus ist jedoch der Umfang der natürlichen Theologie, und damit der Metaphysik, sowohl breiter als auch enger, als dies bei Thomas der Fall ist. Er ist breiter, weil Scotus glaubte, dass die Begriffe, die die grundlegenden Eigenschaften des Seins als Seiendem bezeichnen – wie etwa „gut“, „wahr“, „eines“ usw. –, auf Gott und die Geschöpfe nicht nur analog, sondern univok anwendbar sind. Er ist jedoch enger, weil zahlreiche Wahrheiten über Gott, von denen Thomas glaubte, sie seien mit der natürlichen Vernunft zu erkennen, nach Scotus allein durch den Glauben erfasst werden können. Thomas von Aquin hatte geglaubt, die Vernunft könne beweisen, dass Gott allmächtig, unermesslich, allgegenwärtig usw. sei. Scotus hingegen war im Gegenteil davon überzeugt, die Vernunft sei nicht in der Lage zu beweisen, dass Gott allmächtig sei. Ein Christ, argumentierte er, weiß, dass zu den Kräften eines allmächtigen Gottes auch die Macht gehört, einen Sohn hervorzubringen, doch hierbei handelt es sich nicht um eine Macht, von der mit bloßer Vernunft bewiesen werden kann, dass Gott sie besitzt. Daher wurden zahlreiche Themen, die für Thomas von Aquin in den Bereich der Metaphysik fielen, von Scotus dem dogmatischen Theologen zugewiesen. Es war unter den Scholastikern ein Gemeinplatz zu behaupten, dass „sein“ ein transzendentaler Ausdruck ist, der auf alle aristotelischen Kategorien anwendbar ist, und weiterhin zu behaupten, dass jedes Seiende jeglicher Art Eigenschaften wie Gutheit und Einheit besaß. Neu war in diesem Zusammenhang Scotus’ Behauptung, dass transzendentale Prädikate wie „sein“ und „gut“ univok und nicht analog verwendet werden. 6 Doch es gibt noch eine andere Art von transzendentalem Ausdruck, dem Scotus große Bedeutung beimaß: die transzendentale Disjunktion. Er stellte eine Liste paarweiser Ausdrücke zusammen, von denen der eine oder andere auf alles, was es gibt, anwendbar sein musste: Jedes Seiende muss entweder wirklich oder möglich sein, endlich oder unendlich, notwendig oder zufällig. „Notwendig“ ist ein Ausdruck, der nicht auf jedes Seiende anwendbar ist, doch die Disjunktion „notwendig oder zufällig“ kann auf jegliches Seiende angewendet werden (Ord. 3. 207). 6

Siehe Kapitel 3.

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Scotus verlieh nicht nur der Disjunktion „notwendig – zufällig“ neues Gewicht: Er führte einen völlig neuen Begriff von Kontingenz ein. Die Scholastiker glaubten im Allgemeinen, dass viele Tatsachen zufällig waren. Es ist zufällig, dass ich sitze, denn es ist mir möglich aufzustehen. Ich kann diese Möglichkeit unter Beweis stellen, indem ich mich im nächsten Moment erhebe. Scotus akzeptierte, wie die anderen Scholastiker, eine solche Möglichkeit. Doch er ging noch weiter und behauptete, dass in demselben Moment, in dem ich sitze, eine Möglichkeit existiert, gemäß der ich in diesem Moment stehe. Dies erfordert eine neue, radikalere Form der Kontingenz, die passend als „synchrone Kontingenz“ bezeichnet wurde (Lect. 17. 496 f.). Scotus behauptet natürlich nicht, dass ich in ein und demselben Moment sowohl sitzen als auch stehen kann. Doch er trifft eine Unterscheidung zwischen „Momenten der Zeit“ und „Momenten der Natur“. In einem einzelnen Moment der Zeit kann es mehr als einen Moment der Natur geben. In diesem Moment der Zeit sitze ich: Doch in diesem Moment der Zeit gibt es einen anderen Moment der Natur, in dem ich stehe. Momente der Natur sind synchrone Möglichkeiten. Scotus spricht nicht nur über eine bloß logische Möglichkeit: Ein Moment der Natur ist eine reale Möglichkeit, die von bloß logischer Kohärenz verschieden ist. Es ist etwas, das möglich wäre, während das Wesen der physikalischen Welt dasselbe bliebe. Synchrone Möglichkeiten müssen nicht miteinander kompatibel sein, wie in dem soeben erörterten Fall. Ein moderner Philosoph könnte sagen, dass sie nicht in derselben möglichen Welt, sondern in verschiedenen möglichen Welten möglich sind. Scotus’ Momente der Natur sind tatsächlich die Vorläufer des gegenwärtigen philosophischen Begriffs einer möglichen Welt. In seiner eigenen Beschreibung des Ursprungs der Welt wählt Gott aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Universen eines von ihnen zur Verwirklichung aus. Spätere Philosophen trennten den Begriff der möglichen Welten vom Begriff der Schöpfung und begannen das Wort „Welt“ auf abstrakte Weise zu verwenden, sodass jede Totalität gleichzeitig mögliche Situationen einer möglichen Welt ausmachte. Diese abstrakte Vorstellung diente dann dazu, jegliche Art von Fähigkeit oder Möglichkeit zu veranschaulichen. Die Einführung dieses Begriffs wird häufig Leibniz zugeschrieben, doch dieses Verdienst, wenn es denn eines ist, gebührt Scotus. Die Einführung des Begriffs der synchronen Kontingenz verlangt eine radikale Neufassung der aristotelischen Begriffe von Möglichkeit und Wirklichkeit. Für Scotus können, anders als für Aristoteles und Thomas von Aquin, doch ebenso wie für Avicenna, nicht-existente Entitäten über die Möglichkeit zu existieren verfügen. Diese Möglichkeit wird von Scotus als objektive Möglichkeit bezeichnet, um sie von der aristotelischen Möglichkeit, die er subjektive Möglichkeit nennt, zu unterscheiden. „Es gibt zwei Arten, auf die etwas als ein Wesen in Möglichkeit bezeichnet werden kann. Auf die eine Art ist es der Endpunkt einer Kraft, dasjenige, worauf die Kraft gerichtet ist – und dies wird als objektiv in Möglichkeit sein bezeichnet. Auf solche Weise wird vom Antichristen gesagt, er befinde sich in Möglichkeit, und ebenso kann

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von anderen Dingen gesagt werden, sie befänden sich in Möglichkeit, wie beispielsweise von einer Weiße, die verwirklicht werden soll. Auf die andere Art wird von etwas als dem Subjekt der Kraft, oder als dem, worin die Kraft inhäriert, gesagt, es sei in Möglichkeit. Auf diese Weise wird von etwas gesagt, es sei subjektiv in Möglichkeit, denn es befindet sich in Möglichkeit zu etwas, ist aber noch nicht vervollkommnet (wie eine Oberfläche, die im nächsten Moment weiß gestrichen wird).“ (Lect. 19. 80)

Nicht-existente Entitäten werden Scotus zufolge durch ihre objektive Möglichkeit individuiert: Das nicht-existente A unterscheidet sich vom nicht-existenten B, weil A und B, sofern und wenn sie existieren, voneinander verschieden sind. Andere Begriffe aus dem Instrumentarium der aristotelischen Metaphysik werden ebenfalls uminterpretiert. So versteht Scotus beispielsweise auch das Verhältnis von Materie und Form auf neue Weise. Für Aristoteles war die Materie ein grundlegendes Element der Analyse substanzieller Veränderungen. Diese Art der Veränderung liegt vor, wenn ein Element sich in ein anderes verwandelt – zum Beispiel wenn Wasser zu Dampf (Luft) wird – oder ein Lebewesen entsteht oder vergeht, zum Beispiel wenn ein Hund verendet und sein Kadaver verwest. Wenn eine Substanz irgendeiner Art sich in eine oder mehrere Substanz(en) einer anderen Art verwandelt, existiert nach Aristoteles eine Form, die das Wesen derjenigen Substanz bestimmt, die der Veränderung vorausliegt, und eine andere Form, die das Wesen der Substanz(en) nach der Veränderung bestimmt. Das Element, das während der Veränderung konstant bleibt, ist Materie: Materie ist, an sich, weder diese noch jene Art von Substanz, sondern hat, als solche, keine Eigenschaften. Während die Form bestimmt, welche Art von Ding eine Substanz ist, ist es die Materie, die festlegt, welches Ding dieser Art eine Substanz ist. Man könnte daher sagen, dass Materie das Prinzip der Individuation und Form das Prinzip der Spezifikation ist. Scotus verwirft sowohl die Vorstellung von einer Materie ohne Eigenschaften als auch die These, dass die Materie das Prinzip der Individuation ist. Nach seiner Meinung hat Materie Eigenschaften, wie etwa eine bestimmte Quantität, und darüber hinaus verfügt sie, noch vor solchen Eigenschaften, über ein eigenes Wesen, selbst wenn es für Menschen so gut wie unmöglich ist, zu erkennen, was dieses Wesen ist (Lect. 19. 101). Materie kann sehr wohl ohne jegliche Form existieren. Materie und Form sind wirklich verschieden, und es steht durchaus in Gottes Macht, sowohl eine immaterielle Form als auch eine formlose Materie, die je für sich selbst individuiert sind, zu erschaffen und zu erhalten. Wirkliche materielle Substanzen, darin stimmt Scotus Aristoteles und Thomas von Aquin zu, sind aus Materie und Form zusammengesetzt. Sokrates ist beispielsweise ein menschliches Individuum, das aus einer individuellen Materie und einer individuellen Form der Menschheit zusammengesetzt ist. Scotus gibt jedoch eine neue Erklärung dafür, wie die individuelle Substanz und ihre Materie und Form selbst individuiert sind. Für Thomas ist die Form der Menschheit eine individuelle Form, da es die menschliche Form von Sokrates ist, und Sokrates ist durch seine

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Materie individuiert, die ihrerseits dadurch individuiert ist, dass sie als bestimmte Materiemenge ausgezeichnet ist (materia signata). Für Scotus hingegen ist die Form ein eigenständiges Individuum, unabhängig von der Materie von Sokrates und der Substanz Sokrates (Ord. 7. 483). Was Sokrates individuiert, ist weder seine Materie noch seine Form, sondern etwas Drittes, das manchmal als haecceitas, oder „Diesheit“, bezeichnet wird. Scotus lehrt, dass es in jedem Ding eine entitas individualis gibt. „Diese Entität ist weder Materie noch Form noch das zusammengesetzte Ding, sofern jedes von diesen eine Natur ist, sondern es ist die letzte Wirklichkeit des Wesens, das Materie oder Form oder ein zusammengesetztes Ding ist.“ (Ord. 7. 393) Im ursprünglichen System von Aristoteles entstehen oder vergehen die Formen selbst nicht: Substanzen, nicht Formen, sind dem Entstehen und Vergehen unterworfen. Genau genommen sollten wir nicht sagen, dass die Weisheit von Sokrates entsteht: Das ist lediglich eine komplizierte Art festzustellen, dass Sokrates weise wird. Bezüglich der unabhängig individuierten substanziellen Formen im System von Scotus kann man jedoch fragen, wie sie ihre Existenz erlangen, und ob sie aus dem Nichts stammen. Sind sie erschaffen oder entwickeln sie sich aus etwas Präexistentem? Scotus verwirft beide Alternativen. Formen entwickeln sich nicht aus embryonalen Vorstufen, oder rationes seminales, wie Augustinus und nach ihm Bonaventura angenommen hatten. Man beantwortet die Frage nach dem Ursprung der Formen nicht dadurch, dass man die Existenz solcher Entitäten postuliert, da die Frage lediglich erneut auftaucht, und zwar bezüglich des neuen Elements, das eine vollständig entwickelte von einer keimhaften Form unterscheidet. Andererseits wollen wir auch nicht sagen, dass Formen erschaffen sind. Doch wir können dies vermeiden, wenn wir den Begriff der „Schöpfung“ auf neue Weise definieren: nicht als einen Vorgang, durch den etwas aus dem Nichts erschaffen wird, sondern als einen Vorgang, durch den etwas ohne jegliche Vorbedingung Existenz verliehen wird (Lect. 19. 174). Thomas von Aquin hatte behauptet, dass es in allen materiellen Substanzen, einschließlich menschlicher Wesen, nur eine einzige substanzielle Form gibt. Scotus bestritt dies: Und in dieser Leugnung hatte er, ausnahmsweise, die Mehrheit der mittelalterlichen Scholastiker auf seiner Seite. Er stimmte Thomas darin zu, dass nicht-lebende Entitäten nur über eine einzige substanzielle Form verfügen: Eine chemische Verbindung bewahrt nicht die Formen der Elemente, aus denen sie zusammengesetzt ist. Doch lebende Körper – Pflanzen, Tiere und der Mensch – besitzen, zusätzlich zu den spezifischen Formen, die zu ihrer Art gehören, eine allgemeine Form der Körperlichkeit, die sie alle zu Körpern macht. Als Argument für diese Behauptung führte er an, dass ein menschlicher Körper unmittelbar nach dem Tod derselbe Körper ist, der er unmittelbar vor dem Tod war, obwohl er kein beseeltes menschliches Wesen mehr ist. Ähnliche Überlegungen gelten für Tiere und Pflanzen. Obwohl Scotus der Auffassung war, dass die Seele nicht die einzige substanzielle Form eines Menschen ist, glaubte er, anders als einige seiner Vorgänger, nicht, dass jeder Mensch drei verschiedene, koexistente Seelen besitzt: eine intellektuelle, eine

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empfindende und eine vegetative Seele. Wenn es außer der Seele und der Form der Körperlichkeit irgendwelche anderen Formen im Menschen gab, so waren es die Formen der verschiedenen menschlichen Organe. Diese Möglichkeit wurde von Scotus einmal erwogen. 7 Zusätzlich zu der Materie und Form gibt es in einer Substanz ein weiteres Element, das weder Materie noch Form ist, die haecceitas, die sie zu dem Einzelwesen macht, das sie ist. Denn die Individualität der Materie und die Individualität der Form reichen allein nicht aus, um die zusammengesetzte Substanz zu individuieren (Lect. 17. 500). Wie passen alle diese Elemente – Materie, Formen und haecceitas – in der konkreten materiellen Substanz zusammen? Es ist ein Irrtum, sich eine materielle Substanz als ein Aggregat vorzustellen, dessen Teile diese Elemente sind, denn die Teile könnten, nach Scotus’ Verständnis, alle auch getrennt existieren. Außerdem hat die einheitliche Substanz Eigenschaften, die von den Eigenschaften der aufgelisteten Teile verschieden sind: zum Beispiel die Eigenschaft, ein einheitliches Ganzes zu sein. Scotus glaubte, dass man zusätzlich zu diesen Teilen noch ein weiteres Element hinzufügen musste: die Beziehung zwischen ihnen – die er bereit war, als noch einen weiteren Teil anzusehen. Doch selbst wenn wir dies hinzugefügt haben, müssen wir sagen, dass eine individuelle materielle Substanz eine unabhängige Entität ist, die von ihrer Materie, ihren Formen und Beziehungen (oder einer beliebigen Kombination aus zwei oder drei dieser Elemente) verschieden ist (Oxon. 3. 2. 2, Fn. 8). Wie sind diese verschiedenen Entitäten – das Ganze und seine einzelnen Teile – voneinander unterschieden? Scotus behauptet, dass es einen realen Unterschied zwischen der Substanz, ihrer Materie, ihrer Form und der Beziehung zwischen diesen gibt. Durch die Feststellung, dass diese Elemente wirklich voneinander verschieden sind, will er zum Ausdruck bringen, dass es für jedes von ihnen zumindest logisch möglich ist, ohne irgendeines der anderen zu existieren. Darüber hinaus behauptet er, dass wir, wenn wir sagen, das Wesen oder die Quiddität einer Substanz entspreche der Kombination ihrer Materie und Form, auch sagen müssen, dass das Wesen, nicht weniger als die Substanz selbst, von seinen Komponenten real verschieden ist. Wir können uns fragen, was die Beziehung zwischen dem Wesen und der haecceitas ist: Sind diese beiden ebenfalls real voneinander verschieden? Ein Individuum wie Sokrates verfügt Scotus zufolge sowohl über eine allgemeine menschliche Natur als auch über ein individuierendes Prinzip. Die menschliche Natur ist etwas Wirkliches, das Sokrates und Platon gemeinsam haben. Wenn sie nichts Wirkliches wäre, wäre Sokrates Platon nicht ähnlicher als einer auf eine Tafel gezeichneten Linie. Das individuierende Prinzip muss ebenfalls etwas Wirkliches sein, da Sokrates und Platon ansonsten identisch wären. Die Natur und das individuierende Prinzip müssen miteinander verbunden sein, und das eine kann ohne das andere in Wirklichkeit nicht existieren: Wir können in der Welt keiner menschlichen Natur begegnen, die nicht 7

Siehe R. Cross, The Physics of Duns Scotus: The Scientific Context of a Theological Vision (Oxford: Clarendon Press, 1998), 68.

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die Natur von irgendjemand ist, ebenso wenig wie wir einem Individuum begegnen können, das nicht ein Individuum irgendeiner Art ist. Dennoch können wir die Natur der haecceitas nicht bestimmen: Wenn die Natur des Esels identisch wäre mit der Diesheit des Esels Brownie, dann würde jeder Esel Brownie sein. Um dieses Rätsel zu lösen, führt Scotus eine neue Komplikation ein. Er behauptet, dass jedes geschaffene Wesen zwei Merkmale hat: Replizierbarkeit und Individualität. Mein Wesen als Mensch ist replizierbar: Es kann andere Menschen geben, die wesentlich mit mir identisch sind, und es gibt solche Menschen. Doch es ist auch individuell: Es ist mein Wesen, weil es eine individuierende haecceitas einschließt. Die Unterscheidung zwischen dem Wesen und der haecceitas (Ord. 2. 345 f.) ist keine reale Unterscheidung, doch es ist auch keine bloße Fiktion oder Schöpfung des Geistes. Scotus sagt, dass es eine besondere Art von formalem Unterschied ist, eine distinctio formalis a parte rei, ein formaler Unterschied „aufseiten der Wirklichkeit“. Das Wesen und die haecceitas sind nicht auf die Weise wirklich verschieden, auf die Sokrates und Platon oder meine zwei Hände voneinander verschieden sind. Ebenso wenig sind sie lediglich für das Denken verschieden, wie Sokrates und der Lehrer Platons es sind. Scotus sagt, dass sie noch vor jedem Gedanken an sie formal verschieden sind: Es sind zwei verschiedene Formen im selben Ding. Mir ist nicht klar, ebenso wenig wie vielen von Scotus’ Nachfolgern, wie die Einführung dieser Terminologie das Problem löst, das sie lösen soll. Eines der Probleme, warum es so schwer ist, genau zu begreifen, wie diese Unterscheidung nach Scotus verstanden werden soll, besteht darin, dass die Beispiele, die er zu ihrer Veranschaulichung anführt, und die Kontexte, in denen er sie anwendet, selbst höchst obskuren Bereichen entstammen: der Beziehung zwischen den verschiedenen göttlichen Attributen und der Unterscheidung zwischen der vegetativen, empfindenden und vernünftigen Seele des Menschen.

Ockhams reduktionistisches Programm Wilhelm von Ockham war einer der Ersten, die Scotus’ formale Unterscheidung aufseiten der Wirklichkeit verwarfen. Er argumentiert auf folgende Weise: „Wo es einen Unterschied oder eine Nicht-Identität gibt, muss es einige widersprüchliche Aussagen geben, die von den betreffenden Dingen wahr sind. Es ist aber unmöglich, dass sich widersprechende Aussagen von irgendetwas wahr sind, sofern sie – oder die Dinge, die sie bezeichnen – nicht verschiedene Dinge oder verschiedene Begriffe oder verschiedene entia rationis, oder ein Ding und ein Begriff sind. Stammt die Unterscheidung jedoch aus der Natur der Dinge, dann sind es weder verschiedene Begriffe noch ein Paar aus einem Ding und einem Begriff: Daher sind es verschiedene Dinge.“ (OTh. 2. 14)

Dieses Argument setzt jedoch voraus, dass die einzigen Entitäten, zwischen denen ein Unterschied möglich ist, (a) Dinge, (b) entia rationis oder (c) Begriffe sind. Hiermit

Ockhams reduktionistisches Programm

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wird jedoch gegen Scotus als wahr vorausgesetzt, was erst bewiesen werden soll, denn Scotus’ Ontologie war wesentlich weniger restriktiv. Diese Art der Argumentation ist jedoch typisch für Ockhams reduktionistisches Programm. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem – „Entitäten dürfen über das Notwendige hinaus nicht vermehrt werden“. Dies ist das berühmte „Rasiermesser“ Ockhams, ein Sparsamkeitsprinzip, das dazu bestimmt war, die überflüssigen Begriffe und Theorien der Philosophen „abzuschneiden“. Tatsächlich ist der Satz in den uns von Ockham überlieferten Schriften nicht zu finden. 8 Er hat zwar Ähnliches gesagt, wie zum Beispiel „Es ist sinnlos, mit Vielem zu tun, was mit Wenigem getan werden kann“ und „Pluralität darf nicht ohne notwendigen Grund angenommen werden“, doch er war nicht der Erste, der solche Bemerkungen von sich gab. Dennoch fasst der Wahlspruch seine reduktionistische Grundhaltung zu den technischen philosophischen Entwicklungen seiner Vorgänger treffend zusammen. Eine der ersten überflüssigen Entitäten, die dem Rasiermesser zum Opfer fallen, ist Scotus’ haecceitas oder sein Prinzip der Individuation. Scotus hatte behauptet, dass es zusätzlich zur menschlichen Natur von Sokrates etwas geben müsse, was sie zu dieser Natur mache, denn wenn dieses seine menschliche Natur selbst wäre, dann wäre jede menschliche Natur dieses, d. h. die Natur von Sokrates. Ockham glaubte weder an eine allgemeine Natur noch an ein Prinzip der Individuation. In Wirklichkeit existieren nur Einzeldinge, und die sind Einzelnes – sie benötigen für ihre Individuation kein zusätzliches Prinzip. Was erklärt bzw. durch eine Erklärung beseitigt werden muss, ist nicht das Besondere, sondern das Allgemeine. Doch Ockhams Nominalismus ist nur ein Teil seines Programms der metaphysischen Reduktion. Zusätzlich zu den Allgemeinbegriffen möchte Ockham große Klassen von Individuen eliminieren. Für seine mittelalterlichen Vorgänger gab es Individuen in jeder Kategorie – nicht nur individuelle Substanzen wie Sokrates und den Esel Brownie, sondern individuelle Akzidenzien vieler Art, wie beispielsweise den Ort von Brownies Aufenthalt und Sokrates’ Beziehung zu Platon. Ockham reduzierte die zehn Kategorien des Aristoteles auf zwei: Wirklich waren nur Substanzen und ihre Eigenschaften. Der Glaube an Individuen anderer Art stammte nach Ockham aus der naiven Annahme, jedes Wort habe eine Entsprechung in der Wirklichkeit (OTh. 9. 565). Dies führte Menschen zur Erfindung von „Wenn-heiten“ und „Wo-heiten“. Sie könnten nach seiner Meinung ebenso gut „Und-heiten“ und „Doch-heiten“ erfinden. Tatsächlich lag den Philosophen des Mittelalters nicht viel an den späteren Kategorien in Aristoteles’ Liste. Besonders schwerwiegend war an Ockhams Neuerung, dass er die Wirklichkeit der Kategorien der Quantität und der Relation bestritt. Ockham leugnete nicht den Unterschied zwischen den verschiedenen Kategorien: Was er bestritt, war lediglich, dass die Unterscheidung mehr als begrifflich war. 8

Er scheint ihm zum ersten Mal in einer Fußnote der 1639 von Wadding erstellten Ausgabe der Werke von Scotus zugeschrieben worden zu sein.

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„Substanz, Qualität und Quantität sind unterschiedliche Kategorien, obwohl sie keine von Substanz und Qualität verschiedene absolute Realität bezeichnen, weil es unterschiedliche Begriffe und Wörter sind, die dieselben Dinge, jedoch auf unterschiedliche Weise bezeichnen. Es sind keine synonymen Namen, weil Substanz alle Dinge, die sie bezeichnet, auf bestimmte Weise bezeichnet, nämlich direkt. ‚Quantität‘ bezeichnet dasselbe Ding, jedoch auf eine andere Weise der Bezeichnung, indem sie die Substanz direkt und ihre Teile indirekt bezeichnet. Denn sie bezeichnet eine ganze Substanz und impliziert, dass sie vom Ganzen verschiedene Teile hat.“ (OTh. 9. 436)

Ockhams Hauptargument gegen die Wirklichkeit der Quantität ist von den Phänomenen der Expansion und Kontraktion sowie der Verdünnung und Verdichtung abgeleitet. Wenn ein Stück Metall erwärmt wird und sich dadurch von 80 cm auf 90 cm verlängert, dann hat es sich, gemäß der Theorie, die er angreift, so verändert, dass es, statt das Akzidens der „80-cm-Langheit“ zu besitzen, das Akzidens der „90-cm-Langheit“ besitzt. Ockham behauptet, dass es schwer ist, eine überzeugende Erklärung dafür zu geben, woher das zweite Akzidens stammt, und was aus dem ersten geworden ist. Eine weitere Schwierigkeit kommt noch hinzu: Wenn die Veränderung kontinuierlich geschieht, sodass das Metallstück sich von 81 cm auf 82 cm verlängert usw., dann bedeutet dies, dass eine unendliche Anzahl flüchtiger Akzidenzien entsteht und vergeht. Der Wahrheit dieser Schlussfolgerung lässt sich nach Ockham nur schwer zustimmen. Die örtliche Bewegung, bei der ein Teil sich von einem anderen wegbewegt, reicht vollständig aus, um dieses Phänomen zu erklären. Demnach sind wirkliche Akzidenzien der Quantität vollkommen überflüssig, und sie sollten aus philosophischen Überlegungen ausgeschlossen werden. Man könnte denken, dass sich mit ähnlichen Überlegungen beweisen ließe, dass auch Eigenschaften keine wirklichen Akzidenzien sind. Aristoteles hatte vier Arten von Eigenschaften aufgelistet: (a) Dispositionen wie Tugend und Gesundheit, (b) angeborene Fähigkeiten, (c) sinnliche Eigenschaften wie Farbe, Geschmack und Wärme und (d) Formen. Ockham war bereit, einige der Eigenschaften in der ersten Klasse zu eliminieren, wie zum Beispiel Gesundheit und Schönheit, und er verwendete sein Rasiermesser explizit, um die Eigenschaften der vierten Klasse auszuschließen. „Wenn eine Aussage auf die Wirklichkeit zutrifft, ist es überflüssig zwei Dinge zu postulieren, wenn eines ausreicht, sie wahr zu machen. Doch Aussagen wie ‚Diese Substanz ist rechteckig‘, ‚Diese Substanz ist rund‘ treffen auf die Wirklichkeit zu, und eine auf bestimmte Weise disponierte Substanz ist für ihre Wahrheit ausreichend. Wenn die Teile einer Substanz entlang gerader Linien angeordnet sind und nicht örtlich bewegt werden und nicht wachsen oder schrumpfen, dann ist es ein Widerspruch, dass sie zuerst rechteckig und dann rund sein sollte. Rechteckigkeit und Rundheit fügen einer Substanz und ihren Teilen daher nichts hinzu.“ (OTh. 9. 707)

Ockhams reduktionistisches Programm

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Er behauptet jedoch, dass sich die Dinge bei anderen Eigenschaften, insbesondere bei Farben, anders verhalten. „In Fällen, in denen dies nicht durch den Lauf der Zeit oder die Veränderung des Ortes erklärt werden kann, ist es unmöglich, dass etwas von einem Gegensatz zu einem anderen übergeht, ohne dabei etwas Wirkliches zu verlieren. Doch ein Mann ist zuerst nicht-weiß und später weiß, und diese Veränderung ist nicht durch den Lauf der Zeit oder die Veränderung des Ortes erklärbar. Daher ist das Weiße von dem Mann wirklich verschieden.“ (OTh. 9. 706)

Man könnte jedoch meinen, dass für eine allmähliche Änderung der Farbe Ähnliches wie für eine allmähliche Änderung der Größe gilt: Auch in diesem Fall lässt sich darauf hinweisen, dass die Annahme einer unendlichen Reihe von flüchtigen Akzidenzien einfach nicht plausibel ist. Was für Ockham den Unterschied zwischen den beiden Fällen ausmacht, scheint einfach die Tatsache zu sein, ob die zu erklärende Veränderung mit Hilfe von örtlichen Bewegungen erklärbar ist oder nicht. Ockhams Argumente zur Thematik der Relationen sind überzeugender als seine Argumente gegen die Realität von Quantitäten. Wenn eine Relation eine von den Relata verschiedene Entität wäre, dann müsste sie auch ohne diese existieren können. Angenommen, Sokrates ist der Vater von Platon und Platon der Sohn von Sokrates, dann besteht eine Relation der Vaterschaft zwischen Sokrates und Platon. Es ist absurd, entweder zu behaupten, diese Relation könnte existieren, ohne dass Sokrates Platon jemals gezeugt hätte, oder dass, nachdem Sokrates Platon gezeugt hat, Gott in der Lage wäre, Sokrates diese Beziehung der Vaterschaft zu nehmen (OTh. 4. 368). Die Relation der Ähnlichkeit ist für Ockham wegen ihrer Beziehung zu wirklichen Eigenschaften wichtig: Alles, was eine bestimmte reale Eigenschaft P hat, ist allem ähnlich, das dieselbe Eigenschaft besitzt. Eine weiße Wand ist jeder anderen weißen Wand ähnlich. Ein Maler, der eine Wand in Rom weiß anstreicht, macht sie jeder weißen Wand in London ähnlich. Doch wenn die Relation der Ähnlichkeit etwas Reales wäre, dann würde der Maler in Rom zahlreiche Entitäten in London entstehen lassen. Wenn Gott tausend Welten erschaffen würde und jemand in einer von ihnen Weißheit erzeugte, würde er Ähnlichkeiten in jeder dieser Welten hervorbringen (OTh. 1. 291, 9. 614). Was für die Ähnlichkeit gilt, gilt auch für die Position. Wenn ich meinen Finger bewege, wird seine Position zu allem anderen in der Welt verändert. Wenn die Relationen zwischen räumlichen Positionen reale Entitäten sind, dann erzeuge ich durch die Bewegung meines Fingers eine riesige Anzahl von wechselseitigen Relationen im gesamten Universum. Ockham behauptet nicht, dass eine Relation mit ihrer Grundlage identisch ist. „Ich sage nicht, dass eine Relation in Wirklichkeit dasselbe ist wie ihre Grundlage, doch ich sage, dass eine Relation nicht die Grundlage, sondern nur eine Intention oder ein Begriff im Geist ist, der mehrere absolute Dinge bezeichnet.“ (Ord. 1. 301) Relative Ausdrücke bezeichnen die absoluten Dinge, die die Träger der Relation sind,

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6 Metaphysik

doch es sind konnotative Ausdrücke, die ein Element der Relation bezeichnen und das andere Element sowie die Art und Weise, auf die beide existieren, mitbezeichnen. Wenn wir daher sagen, dass sich A neben B befindet, sprechen wir nicht über eine reale Entität der „Nahheit“: Wir bezeichnen A, bezeichnen B mit und sagen, dass es nichts gibt, was sich zwischen ihnen befindet (OTh. 4. 285, 312). Dies ist, sagt Ockham, was uns die natürliche Vernunft lehrt: dass es solche Entitäten wie Relationen nicht gibt. Allerdings ist er, auf eher entwürdigende Weise, bereit, die Existenz solcher Relationen in bestimmten Fällen zu akzeptieren, weil er glaubt, dass bestimmte christliche Lehren – über die Trinität, die Inkarnation und die Eucharistie – die Existenz solcher Relationen voraussetzen. Dies gab natürlicherweise Anlass zu dem Verdacht, er sei ein Vertreter einer doppelten Wahrheit: dass etwas in der Theologie wahr sein könne, was in der Philosophie falsch sei.

Wyclif und der Determinismus In der Generation nach Ockham kam es, wie wir gesehen haben, zu einer Reaktion gegen seinen Nominalismus und sein generell reduktionistisches Programm. In Oxford geschah dies in Form einer Wiederbelebung des Augustinismus, die ihrerseits zu einem neuen Interesse an den Problemen der Prädestination und des Determinismus führte. John Wyclif war der Anführer der realistischen Reaktion. Nach seinem Tod kam er in den Ruf, ein extremer Determinist gewesen zu sein. Eine der ihm zugeschriebenen und auf dem Konzil von Konstanz verworfenen Aussagen lautete: „Alle Dinge geschehen mit absoluter Notwendigkeit.“ Tatsächlich entwickelte Wyclif als junger Mann eine höchst subtile und differenzierte Theorie der Beziehung zwischen verschiedenen Arten von Notwendigkeit und Zufälligkeit. Er unterschied nicht weniger als sieben Arten von Notwendigkeit, die wir etwas vergröbert folgendermaßen auflisten können: logische Notwendigkeit, natürliche Notwendigkeit, ewige Wahrheit, immerwährende Wahrheit, unausweichliche Wahrheit, Zwang und unwiderstehliche Impulse. Er bestand darauf, dass es einige Ereignisse gebe – zum Beispiel menschliche Entscheidungen, die von jeder dieser Arten von Notwendigkeit ausgenommen seien. Um diese Auffassung zu verteidigen, musste Wyclif mit dem folgenden Problem fertig werden, das er sich selbst vorlegte: „Wie niemand verhindern kann, dass es die Welt gegeben hat, so kann auch niemand irgendeine Wirkung verhindern, die zur rechten Zeit eintritt. Denn das folgende Argument ist gültig: Gott bestimmt A. Daher wird A zur rechten Zeit notwendigerweise eintreten. Der Vordersatz liegt außerhalb jeglicher geschaffenen Macht und ist demnach auf keine Weise zu verhindern. Daher ist alles, was formal daraus folgt, ebenfalls nicht zu verhindern.“ (U XIV. 322–7)

Wyclif und der Determinismus

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Nach der Blütezeit der Scholastik lebte der Einfluss von Augustinus im späten Mittelalter wieder auf. Dieses Fresko zeigt, wie er einem Dominikaner etwas diktiert.

Wyclif schlägt als Lösung dieser Schwierigkeit vor, dass die Beziehung zwischen dem göttlichen Willen und den Ereignissen in der Welt eine wechselseitige ist: Wenn Gottes Wille dazu führt, dass hier auf Erden bestimmte Dinge geschehen, dann verursachen, in gewisser Weise, auch Ereignisse auf der Erde den Willen Gottes. „Hierzu ist anzumerken, dass der Wille Gottes, in Bezug auf die Existenz eines Geschöpfs, als eine Beziehung verstanden werden kann, als eine geistige Entität mit einer Grundlage im Wollen Gottes, dass dieses Ding entsprechend seinem geistigen Sein – was etwas absolut Notwendiges ist – existiere und dass sein Ziel in der Existenz des Geschöpfes gemäß seiner eigenen Art bestehe. Und solch eine Beziehung hängt von ihren beiden Gliedern ab, da – wenn Gott wollen können soll, dass Peter oder ein anderes Geschöpf existiert – es erforderlich ist, dass es tatsächlich existiert. Und auf diese Weise bewirkt die Existenz des Geschöpfs, obwohl es nur zeitlich ist, in Gott eine

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6 Metaphysik

ewige geistige Beziehung, die sich stets im Prozess des Verursachtwerdens befindet, und doch immer vollständig verursacht ist.“ (U XIV. 328–44)

Der Einwand: Wenn Gottes Bestimmung außerhalb unserer Macht liegt, dann liegt auch all das außerhalb unserer Macht, was daraus folgt, wird auf dramatische Weise beantwortet. Wyclif bestreitet einfach den Vordersatz: Gottes Bestimmung liegt nicht außerhalb unserer Macht. Man wird nicht behaupten können, dass Wyclifs Vorschlag das Problem der Beziehung zwischen Determinismus und Freiheit löst. Wenn er die Ratschlüsse Gottes als komplexe relationale Willensakte versteht, wird man den Einwand einfach in Bezug auf die absoluten geistigen Willensakte, die ein Element des Komplexes sind, neu formulieren wollen. Dieses Element scheint völlig jenseits menschlicher Einflussnahme. Doch keinem anderen Theologen des Mittelalters gelingt es, den Gegensatz von göttlicher Macht und irdischer Zufälligkeit auf zufriedenstellende Weise zu versöhnen, und vielleicht wird eine solche Antwort niemals möglich sein. Doch es wird deutlich, dass es ein großer Irrtum ist, Wyclif als Erzdeterministen zu betrachten. Er weicht von seinen Kollegen nicht darin ab, dass er menschlichen Handlungen eine zusätzliche Notwendigkeit zuschreibt, sondern darin, dass er den göttlichen Willensakten eine ungewöhnliche Kontingenz unterstellt.

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Geist und Seele

Die Philosophen des Geistes der gesamten Philosophiegeschichte lassen sich in zwei Gruppen einteilen: die Introvertierten und die Extrovertierten. Introvertierte Philosophen glauben, die beste Methode, die Natur des menschlichen Geistes zu verstehen, bestehe darin, den Phänomenen des introspektiven Bewusstseins die genaueste Aufmerksamkeit zu widmen. Extrovertierte Philosophen gehen vom beobachtbaren Verhalten des Menschen aus und fragen nach den Kriterien, nach denen wir anderen Personen geistige Fähigkeiten, Zustände und Aktivitäten zuschreiben. Im zweiten Jahrtausend könnten wir Descartes und Hume als Vertreter der introvertierten Schule und Thomas von Aquin und Wittgenstein als, unterschiedlich ausgeprägte, Beispiele der extrovertierten Vorgehensweise ansehen. Die Extrovertierten in der antiken Welt sehen Aristoteles als ihren Meister. Die introvertierte Schule kann Augustinus als ihren Gründungsvater in Anspruch nehmen. Er ist bis heute einer ihrer wortgewandtesten Vertreter.

Augustinus über das innere Leben Augustinus spricht häufig vom „inneren“ und vom „äußeren“ Menschen. Dies darf nicht mit der Unterscheidung zwischen Körper und Seele verwechselt werden. Nicht nur der Körper, sondern auch bestimmte Aspekte unserer Seele gehören zum äußeren Menschen, nämlich dasjenige, was wir mit den stummen Tieren gemeinsam haben, wie etwa die Sinne und das sinnliche Gedächtnis. Der innere Mensch ist der bessere Teil von uns: der Geist, zu dessen Aufgaben die Erinnerung und Vorstellung ebenso wie das vernünftige Urteil und die intellektuelle Kontemplation gehören (DT 12. 1 ff.). Der äußere Mensch nimmt die Körperwelt mit den fünf Sinnen wahr: dem Gesichts-, Gehör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Augustinus hält den Gesichtssinn für das Musterbeispiel der Sinne. Wenn wir etwas sehen – einen Fels oder eine Flamme –, müssen drei Dinge erwogen werden: der gesehene Gegenstand, das Sehen des Gegenstandes und ein drittes Element, das Augustinus als intentio animi bezeichnet, d. h. unsere geistige Aufmerksamkeit auf den Gegenstand. Nach Augustinus ist dieses dritte Element etwas allein dem Geist Eigentümliches. Der Gesichtssinn wird nur deshalb als Sinn des Körpers bezeichnet, weil die Augen Teil des Körpers sind (DT 11. 2). Das geistige Element kann bestehen bleiben, als ein Streben nach dem Sehen, wenn das Sehen selbst nicht möglich ist. Das Sehen ist ein Produkt des Gegenstandes und des Sinnes: Ein gesehener Kör-

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7 Geist und Seele

per prägt dem Sinn seine Form ein, und das ist es, was wir als Sehen bezeichnen. Sie ist dem gesehenen Ding ähnlich. „Wir können aber beim Sehen die Form des Körpers, den wir schauen, und die Form, die von jener im Sinne des Schauenden entsteht, durch eben diesen Sinn nicht auseinanderhalten, weil die Verbindung so innig ist, daß für das Auseinanderhalten in der Schau keine Möglichkeit mehr offensteht. Wir schließen aber mit dem Verstande, daß wir in keiner Weise etwas hätten wahrnehmen können, wenn nicht in unserem Sinne irgendwie ein Abbild des geschauten Körpers entstünde.“ (DT 11. 2. 3) 1

Das Bild ist vom Körper verschieden, obwohl es nicht erhalten bleibt, wenn der Körper entfernt wird. Augustinus vergleicht dies mit folgender Situation: Wenn ein Ring in eine Flüssigkeit getaucht wird, dann sind die Verdrängung der Flüssigkeit und die Form des Ringes zwei verschiedene Dinge, auch wenn die Verdrängung aufhört, wenn der Ring entfernt wird. Nachbilder beweisen, dass es einen Unterschied zwischen der Form des gesehenen Gegenstands und dem Eindruck gibt, den er auf das Auge macht. Dasselbe wird auch dadurch bewiesen, dass man durch seitliches Drücken auf den Augapfel Doppelsichtigkeit erzeugen kann. Die eingedrückte Form „war so innig mit der Gestalt des Gegenstandes, der gesehen wurde, verbunden, daß sie gar nicht von ihm gesondert geschaut werden konnte; sie war eben die Schau“ (DT 11. 2. 4). Es ist eine unter den Kommentatoren umstrittene Frage, ob diese Behauptung Augustinus auf eine Abbildtheorie der sinnlichen Wahrnehmung verpflichtet. Sehr wahrscheinlich ist dies nicht der Fall, wenn eine „Abbildtheorie“ eine Theorie ist, gemäß der das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung ein Bild oder ein Sinnesdatum ist. Das geformte Bild ist nach Augustinus in keiner Weise offensichtlich. Seine Existenz muss mit Argumenten bewiesen werden. Wahrscheinlich postuliert es Augustinus als etwas, das benötigt wird, um erklären zu können, wie sinnliche Eindrücke zu Erinnerungen führen können (DT 11. 9. 16). 2 Die Sinne sind Informationsquellen über die Gegenstände in der Welt, doch sind sie natürlich nicht der einzige Weg, auf dem wir zu solchen Informationen gelangen können. Ein Blinder kann nicht sehen, doch er kann, indem er andere fragt, die Dinge in Erfahrung bringen, die sie durch den Gesichtssinn gelernt haben. Worin besteht der Unterschied zwischen sinnlicher Wahrnehmung und der Sammlung von Informationen? Um diese Frage zu beantworten, hatte Aristoteles vor langer Zeit den Begriff der Lust zur Hilfe gerufen. „Denn wo es eine Wahrnehmung gibt, da gibt es auch Schmerz und Lust, und wo diese sind, da notwenigerweise auch Begierde“ (De 1 2

Sämtliche Zitate aus De Trinitate stammen aus: A. Augustinus, Über die Dreieinigkeit, übersetzt und eingeleitet von M. Schmaus (München: Kösel, 1935). Vgl. G. Matthew, „Knowledge and Illumination“, in CCA, 176. Eine gegensätzliche Auffassung vertritt P. Spade in IHWP, 63 f.

Augustinus über das innere Leben

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An. 2. 413b23). 3 Die über die Sinne erworbenen Informationen und die mit ihrer Hilfe vorgenommenen Unterscheidungen können auf anderem Wege als über die Sinne erworben oder vorgenommen werden, und sogar von anderen Vermittlungsinstanzen als Menschen. Wir können visuelle Informationen zur Klassifikation verschiedener Menschen durch optische Geräte erlangen und die visuellen Merkmale von Mondlandschaften mithilfe weit entfernter Sonden katalogisieren. Bei solchen Tätigkeiten handelt es sich jedoch nicht um Sinneswahrnehmung, weil sie ohne Lust und Schmerz erfolgen. Die auf diese Weise samt ihrer statistischen Daten inventarisierten Menschen werden nicht als schön oder hässlich wahrgenommen, die Landschaften erregen weder Schrecken noch Ehrfurcht. Augustinus ist sich dieses Doppelaspekts unseres Begriffes der Sinnlichkeit wohl bewusst, er hebt die lustvolle gegenüber der kognitiven Komponente der sinnlichen Wahrnehmung eigens hervor. In seiner Schrift Über die Freiheit des Willens findet sich die Bemerkung, dass „Lust und Schmerz in den Bereich der Jurisdiktion der körperlichen Sinne fallen“. Der Gesichtssinn urteilt, ob Farben miteinander harmonieren oder im Streit liegen, und das Gehör urteilt, ob eine Stimme melodisch oder harsch klingt (DLA 2. 5. 12. 49). Im zehnten Buch der Bekenntnisse führt er eine bunte Liste der verschiedenen Arten sinnlicher Lust an, die verführerisch auf uns wirken können. Wir müssen seiner Meinung nach zwischen zweierlei Gebrauch der Sinne unterscheiden: um Vergnügen zu bereiten oder um die Neugier zu befriedigen. Auch der zweite Gebrauch kann natürlich zur Versuchung werden: Wir können auch durch das Verlangen nach Erfahrung und Wissen sündigen (Conf. X. 35. 54). Unter den Gegenständen der äußeren Sinne trifft Augustinus die übliche Unterscheidung zwischen denjenigen, die nur durch einen Sinn (zum Beispiel Farbe und Schall), und denjenigen, die durch mehr als einen Sinn wahrgenommen werden können (zum Beispiel Größe und Form). Außer den äußeren fünf Sinnen nimmt Augustinus den inneren Sinn an. Bei den Tieren sei der Gesichtssinn verschieden von dem Sinn, mit dem das Gesehene gescheut oder gewollt wird, und Entsprechendes gelte für die anderen Sinne, deren Gegenstände manchmal mit Vergnügen angenommen und manchmal mit Abscheu gemieden werden. Dieser Sinn kann mit keinem der fünf Sinne gleichgesetzt werden, sondern es muss sich um einen anderen Sinn handeln, der über allen übrigen steht. Obwohl wir diese getrennte Fähigkeit nur durch Vernunftschlüsse erkennen, ist sie selbst kein Teil der Vernunft, da nicht nur vernünftige Menschen, sondern auch unvernünftige Tiere sie besitzen (DLA 2. 2. 8). Bei der Beschreibung unserer geistigen Fähigkeiten widmet Augustinus dem Gedächtnis die größte Aufmerksamkeit, und tatsächlich verwendet er das Wort „Gedächtnis“ häufig in einem so weiten Sinn, dass es fast dem Begriff des Geistes selbst entspricht. Einige der Leistungen des Gedächtnisses beschreibt er in Abschnitt 13 des 3

Zitiert nach: Aristoteles, De Anima, übersetzt und herausgegeben von G. Krapinger (Stuttgart: Reclam, 2011).

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7 Geist und Seele

zehnten Buches der Bekenntnisse. Selbst in Dunkelheit und Stille kann ich in meinem Gedächtnis Farben erzeugen und zwischen Weiß und Schwarz unterscheiden. Mit ruhender Zunge und stummer Kehle kann ich jedes beliebige Lied singen. Wir sehen das Gedächtnis als etwas Selbstverständliches an: Augustinus drängt uns dazu uns klarzumachen, was für eine bemerkenswerte Fähigkeit es ist. Menschen schauen mit Staunen auf Gebirgsketten, riesige Wellen, gewaltige Wasserfälle, den endlos weiten Ozean und den Lauf der Gestirne. Doch sich selbst und ihrem Gedächtnis widmen sie keinerlei Aufmerksamkeit, obwohl es doch den Himmel, das Meer, das Land und außerdem noch vieles andere enthält. Augustinus sagt, dass ich von keinem der Wunder der Natur sprechen könnte, wenn ich die Gebirge und Wellen und Flüsse und Sterne nicht in meinem Inneren sehen könnte – und sogar den Ozean, den ich noch nie gesehen habe, doch von dem ich durch die Erzählung anderer weiß. „Ich sehe sie in meinem Innern in derselben Größe, in der ich sie in der äußeren Welt gesehen habe.“ (Conf. X. 8. 15) Augustinus beschreibt das Gedächtnis als eine riesige Höhle voll dunkler und geheimnisvoller Ecken und Winkel. Getreu seiner introvertierten Tradition stellt er sich einen inneren Menschen vor, der dieses riesige Lagerhaus erforscht. Wenn ich mich darin befinde, kann ich nach etwas rufen, an das ich mich erinnern will. Es herbeizuholen, kann mehr oder weniger Zeit beanspruchen. „… wieder andere Bilder kommen gleich zu Haufen, und wird ein anderes gefordert und gesucht, so drängen sie sich vor, als sagten sie: Sind es nicht wir vielleicht? Ich aber mit der Hand des Geistes treibe sie vom Angesichte der Erinnerung, bis, was ich will, entnebelt wird und aus dem Dunklen mir ins Helle steigt.“ (Conf. X. 8. 12) 4

Augustinus hat die Gabe der lebhaften phänomenologischen Beschreibung von Erfahrungen des Erinnerns und Vergessens: dass man sich an ein Gesicht, nicht aber an den Namen erinnert, dass man sich an den Inhalt eines gedankenlos gelesenen Briefes nicht erinnern kann, dass man sich ständig an etwas Unliebsames erinnert, was man lieber vergessen möchte (DT 11. 5. 9). Wenn er seine philosophische Analyse des Gedächtnisses vorlegt, zeigt sich, dass sie stark an seine Erklärung des äußeren Sehens angelehnt ist. Ebenso wie beim Sehen zwischen dem gesehenen Gegenstand, dem Akt des Sehens selbst und der geistigen Aufmerksamkeit zu unterscheiden ist, gilt es beim Gedächtnis zwischen der abgerufenen Erinnerung, dem Akt des Erinnerns und dem Blick des Geistes zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen einer bloßen dispositionellen Erinnerung (etwas, das wir gelernt und nicht vergessen haben) und einem tatsächlichen Akt des Erinnerns wird von Augustinus parallel zu dem Unterschied dargestellt, der zwischen einem Gegenstand außerhalb des Gesichtsfeldes und einem Gegenstand im direkten Blickfeld besteht (DT 11. 8). Erinnern wird im wahrsten 4

Zitiert nach: Augustinus, Bekenntnisse, übertragen und eingeleitet von H. Hefele (Wiesbaden: VMA-Verlag, 1958).

Augustinus über das innere Leben

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Sinne des Wortes als inneres Sehen behandelt, und im Fall des inneren und äußeren Sehens legt Augustinus großes Gewicht auf die Freiwilligkeit dieser Aktivität. Wenn er über geistige Aufmerksamkeit und den Blick des Geistes spricht, denkt Augustinus an die Tätigkeit des Willens (DT 11. 2. 3). Der Wille kann sich entscheiden, ob er sich auf das äußere oder das innere Auge konzentriert. Wenn er sich für Letzteres entscheidet, kann er sich Körper so lebhaft vorstellen, „dass noch nicht einmal die Vernunft selbst entscheiden kann, ob ein Körper mit dem äußeren Auge gesehen oder ob etwas Ähnliches mit dem inneren vorgestellt wird“. Schreckliche Einbildungen können einen Menschen aufschreien lassen und sexuelle Fantasien zu Erektionen führen. Doch nicht alle Erfahrung unterliegt der Steuerung des Willens: In Schlaf und Wahn können sich durch „eine gewisse geistige Mischung einer ähnlicherweise geistigen Substanz“ (DT 11. 4. 7) unserem geistigen Auge Bilder aufdrängen. Erinnern kann ich mich nur an das, was ich gesehen habe; denken kann ich jedoch viele andere Dinge. So kann ich mich beispielsweise nur an eine Sonne erinnern, ich kann aber an zwei oder drei Sonnen denken. Ich kann mir die Sonne größer oder kleiner vorstellen, als sie ist. Ich kann mir vorstellen, dass sie stillsteht oder dorthin wandert, wohin ich will. Ich kann sie mir rechteckig und grün vorstellen. Augustinus betrachtet Gedanken dieser Art offensichtlich als Bilder einer inneren Anschauung: Er besteht darauf, dass das, was wir mit dem inneren Auge sehen, von unserer Erinnerung an die eine und einzige Sonne abgeleitet ist. Doch wie liegen die Dinge, wenn wir der Erzählung einer anderen Person zuhören? In diesem Fall können wir das Auge unseres Geistes nicht auf die Erinnerung zurücklenken. In diesem Fall folgen wir der Erzählung, indem wir Vorstellungen abrufen, die den Wörtern ihrer Geschichte entsprechen. Doch auch dies ist vom Gedächtnis abhängig. „Ich könnte nämlich den Erzähler nicht verstehen, wenn ich, was er sagt, und dessen Zusammenhang dabei zum ersten Mal hörte und nicht eine allgemeine Erinnerung an die einzelnen Angaben hätte. Wenn mir zum Beispiel jemand von einem des Waldes beraubten und mit Ölbäumen bepflanzten Berg erzählt, dann erzählt er das einem Manne, der sich an die Gestalt von Bergen, Wäldern, Ölbäumen erinnert. Hätte ich dies alles vergessen, dann würde ich gar nicht wissen, was er sagt, und daher könnte ich mir bei seiner Erzählung nichts denken.“ (DT 11. 8. 14)

Was für das Hören der Geschichten anderer gilt, trifft auch zu, wenn man sich selbst eine Geschichte ausdenkt. Ich kann Erinnerungsbilder miteinander kombinieren und sagen: „Oh wäre nur dies oder das der Fall.“ Was immer wir uns vorstellen, ist aus Elementen zusammengesetzt, die uns das Gedächtnis liefert. Auf diese Weise bildet sich Augustinus seine Vorstellung von den Stadtmauern von Alexandria, die er niemals gesehen hat: nach dem Erinnerungsbild der Mauern von Karthago, die er kennt. Zweifellos würde jeder, der Alexandria kennt und das Bild in Augustinus’ Geist sehen könnte, es höchst unangemessen finden (DT 8. 6. 9). Gedanken späterer empiristi-

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7 Geist und Seele

scher Philosophen vorwegnehmend, sagt Augustinus, dass es unmöglich ist, irgendeine Idee von einer Farbe zu haben, die man noch nie gesehen, von einem Geräusch, das man noch nie gehört, oder von einem Gewürz, das man noch nie geschmeckt hat. Der erhabenste Teil des Geistes, der Verstand oder die geistige Seele, besteht für Augustinus aus zwei Elementen. Der oberste Teil des Verstandes ist mit den ewigen Wahrheiten beschäftigt, die nur dem Geist zugänglich sind. Der untere Teil regelt unseren Umgang mit zeitlichen und körperlichen Dingen. Augustinus sagt, er sei der Stellvertreter des obersten Teils: ein Minister für zufällige Angelegenheiten, sozusagen. Sowohl der untere als auch der obere Verstand gehören zum inneren Menschen (DT 13. 1). Als Gott Adam schuf, fand er unter den Tieren keinen angemessenen Gefährten für ihn. In ähnlicher Weise reichen auch diejenigen Teile der menschlichen Seele, die wir mit den stummen Tieren gemeinsam haben, dem Geist nicht aus, um sich in der Welt, in der wir leben, zuhause zu fühlen. Daher hat Gott uns mit der Fähigkeit eines praktischen Verstandes ausgestattet, die – ähnlich wie Eva aus Adams Körper – aus Verstandessubstanz geformt wurde, und die mit dem höheren Teil des Verstandes ebenso eng verbunden ist wie Adam mit Eva, die zwei in einem Fleisch waren (DT 12. 3). Die Funktion des unteren Verstandes wird von Augustinus als scientia bezeichnet, die er definiert als „die Kenntnis der zeitlichen und wandelbaren Dinge, die für die Besorgung des Handels und Wandels in diesem Leben nötig ist“ (DT 12. 12. 17). Die Funktionen dieses Verstandes sind denen sehr ähnlich, die Aristoteles der phronesis, oder „praktischen Weisheit“, zugewiesen hatte, und die Übersetzung „Wissenschaft“ würde einen irreführenden Eindruck von dem geben, was damit gemeint ist. Wissenschaft, wie wir sie verstehen, hat in Augustinus’ Repertoire geistiger Aktivitäten kaum einen Platz, und von Zeit zu Zeit äußerte er sich abfällig über das Streben nach Erkenntnis um ihrer selbst willen. Scientia ist, wie phronesis, unerlässlich für den Besitz moralischer Tugenden (DT 14. 22). Die Funktion des höheren Verstandes wird als sapientia bezeichnet. Auch in diesem Falle wäre die nächstliegende Übersetzung, „Weisheit“, irreführend, da dieses Wort besser zum praktischen Verstand als zur Tugend des theoretischen Verstandes passt. Sapientia ist für Augustinus Kontemplation: das Bedenken der ewigen Wahrheiten in diesem Leben und die Kontemplation Gottes im Leben der Seligen (DT 12. 14). Die Kontemplation dient nicht dem Handeln, sondern sie wird um ihrer selbst willen verfolgt. Augustinus gibt sich besondere Mühe, uns zu erklären, dass derjenige Teil des menschlichen Geistes, der es mit der Betrachtung ewiger Gründe zu tun hat, ein Teil ist, den „offenkundig nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen“ (DT 12. 7. 12) besitzen.

Augustinus über den Willen

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Augustinus über den Willen Augustinus widmet große Teile seiner Schrift Über die Dreieinigkeit der Suche nach Nachbildungen der göttlichen Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist im Wesen des Menschen. Er ermittelte verschiedene Dreiergruppen, doch das höchste Nachbild Gottes ist die Trinität von Gedächtnis, Geist und Wille (DT 9. 12, 15. 3). Wie steht dies mit der Struktur des Geistes, die wir soeben zusammengefasst haben, in Beziehung? Wenn es ihm besonders darum geht, die theologische Parallele herauszustellen, legt Augustinus seine menschliche Trinität als die Existenz des Geistes, sein Wissen von sich selbst und die Liebe seiner selbst dar (DT 9. 12). Doch er verwendet die Begriffe seiner geistigen Trinität in einer breiten Vielfalt unterschiedlicher Zusammenhänge, die wir folgendermaßen zusammenfassen können: Das Gedächtnis ist die Fähigkeit, Gedanken jeglicher Art zu denken, der Geist (dessen Aktivität der sapientia entspricht) ist die Fähigkeit, der Wahrheit theoretischer Gedanken zuzustimmen, während der Wille die Fähigkeit ist, Gedanken als Plänen für Handlungen zuzustimmen. Augustinus setzt sich mit dem Begriff des Willens intensiv auseinander, und einige Kommentatoren haben behauptet, dass er hierdurch einen Begriff erfunden hat, der in der antiken Welt fehlte. Diese Behauptung kann nur von einem Philosophen aufgestellt werden, der von einer introspektiven Position in der Philosophie des Geistes ausgeht. Philosophische Erörterungen des Willens können damit beginnen, ihn als der Introspektion zugängliches Phänomen zu betrachten, als Element des Bewusstseins, das den Unterschied zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen ausmacht. Sie können jedoch auch vom beobachtbaren Verhalten von Personen ausgehen und nach externen Kriterien fragen, anhand deren wir zwischen freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen anderer unterscheiden. In der Antike ist Augustinus der herausragende Vertreter der introspektiven Vorgehensweise. Aristoteles hatte hingegen die Gegenposition bezogen, was introvertierte Philosophen dazu geführt hat, zu bestreiten, dass er überhaupt über einen Begriff des Willens verfügte. 5 Tatsächlich bestehen jedoch beträchtliche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Philosophen. Für Augustinus und für Aristoteles entspringt eine im vollen Sinne menschliche Entscheidung aus dem Streben nach Glück, und beide sehen einzelne Entscheidungen als die Auswahl von Mitteln zu einem Zweck. Angenommen, sagt Augustinus, ich möchte eine Narbe sehen, als Hinweis auf eine Wunde, oder durch ein Fenster schauen, um sehen zu können, wer daran vorübergeht. „Alle diese und andere ähnliche Handlungen haben ihre eigenen Zwecke, die als Zweck dieses Willens bezeichnet werden, gemäß dem wir glücklich leben und dasjenige Leben erreichen wollen, das keinem anderen dient, sondern in sich selbst dem genügt, der es liebt.“ Dies weist große Ähnlichkeit mit Aristoteles’ Erklärung des praktischen Verstandesgebrauchs auf (NE 1112b 18 V.; EE 1. 1218b8–24). 5

Vgl. A. Kenny, Aristotle’s Theory of the Will (London: Duckworth, 1979).

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Sowohl Aristoteles als auch Augustinus stellen sich den Willen oder den praktischen Verstand als Ursprung von Befehlen vor, und beide von ihnen sind an der Möglichkeit des Ungehorsams diesen Befehlen gegenüber, beim Sünder (Augustinus) oder zügellosen Menschen (Aristoteles), höchst interessiert (NE 1147a32). Doch Augustinus wertet diese Analogie wesentlich stärker aus. Er betrachtete jede absichtliche Bewegung des Körpers als Gehorsam gegen einen Befehl des Willens, und er ist von der Möglichkeit fasziniert, dass es Befehle zweiter Ordnung gibt, solche, die der Wille gegen sich selbst richten kann. „Die Seele gebietet dem Leib und er gehorcht sogleich; die Seele gebietet sich selbst und findet Widerstand. Es gebietet die Seele, daß die Hand sich bewege, und es geschieht so leicht, daß vom Vollziehen sich der Befehl kaum unterscheidet. Und die Seele ist doch Seele, die Hand aber Leib. Es gebietet die Seele, daß die Seele wolle und ist die gleiche doch und tut doch nicht.“ (Conf. VIII. 9. 21)

Was geschieht in einem solchen Fall, wenn ein Mann zum Beispiel keusch sein will, und das Keuschsein doch nicht wirklich will? Wie kann der Wille sich selbst einen Befehl geben, und dennoch nicht gehorchen? Der Befehl zu wollen ist in diesem Fall Augustinus zufolge nur halbherzig: Wäre dieser echt, so wäre der Wille keusch zu sein bereits da. Von sich selbst sagte er, während er zögerte, Gott zu dienen: „Ich, der ich bereit war zu dienen, war dasselbe Ich, das nicht bereit war zu dienen. Ich war weder völlig willig, noch völlig unwillig.“ Solch ein Selbstkonflikt, solch eine innere Spaltung, ist nur möglich, weil wir die Nachkommen Adams sind und seine Sünde geerbt haben. Es ist diese Betrachtung Adams, die Augustinus in einem wichtigen Punkt eine von Aristoteles deutlich abweichende Auffassung vertreten lässt. Aristoteles nahm zwar an, dass ein Mann gegen den Befehl des rationalen Willens handeln kann, doch er stellte sich dies als etwas vor, das aufgrund des Drucks tierischer Leidenschaften geschieht. Doch Adam sündigt im Garten Eden zu einer Zeit, als in seinen Leidenschaften keine Unordnung herrschte. Luzifer und seine Engel fielen ihrerseits in Sünde, obwohl sie keine tierischen Körper hatten. Augustinus wird daher dazu gebracht, unverursachte Akte des bösen Willens zu postulieren. „Sucht man nun nach der Wirkursache des bösen Willens, so stößt man auf nichts. Wohl wirkt der böse Wille das böse Werk, aber was wirkt den bösen Willen? Und demnach ist der böse Wille die Wirkursache des bösen Werkes, aber die Wirkursache des bösen Willens ist nichts.“ (DCD XII. 6) Versucht man jedoch, die Ursache einer bösen Handlung zurückzuverfolgen, stößt man früher oder später auf einen reinen Akt bösen Willens. Angenommen, wir stellen uns zwei Menschen vor, die sich in körperlicher und seelischer Hinsicht gleichen. Beide sind bislang unschuldig und beide derselben Versuchung ausgesetzt. Der eine gibt ihr nach, der andere nicht. Was ist die Ursache der Sünde des Sünders? Wir können nicht sagen, dass es der Sünder selbst ist. Gemäß unserer Voraussetzung waren beide Menschen bis zu diesem Punkt gleich gut. Wir müssen

Augustinus über den Willen

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Der Gottesstaat war einer der am meisten gelesenen und kopierten Texte des Mittelalters. Diese Zeichnung auf dem Rand eines Manuskripts zeigt, wie ein Schreiber von einer „bösen, bösen Maus“ von seiner Arbeit abgelenkt wird.

sagen, dass es eine unverursachte böse Entscheidung ist (DCD XII. 6). Daher legt Augustinus eine Auffassung dar, die später als „kontrakausale Freiheit“ bezeichnet wurde, die er paradoxerweise mit einer starken Version des Determinismus verbindet, wie wir in einem späteren Kapitel, wenn wir uns seiner Theorie der Prädestination zuwenden, noch sehen werden.

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Der aktive Intellekt im islamischen Denken In den interessantesten Entwicklungen in der Philosophie des Geistes während der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends ging es nicht um den Willen, sondern um den Intellekt, und sie vollzogen sich nicht in der Christenheit, sondern in den muslimischen Schulen von Bagdad. Al-Kindi und al-Farabi widmeten sich beide der Erläuterung des rätselhaften Textabschnitts in Aristoteles’ De Anima, in dem er lehrt, dass es zwei Formen des Intellekts gibt: einen aktiven Intellekt „zur Hervorbringung von Dingen“ und einen passiven Intellekt „zum Werden von Dingen“. Al-Farabi, der al-Kindi hierin folgte, erklärte dies in den Begriffen seiner eigenen Version von Aristoteles’ Astronomie. Er glaubte, dass jede der neun himmlischen Sphären eine rationale Seele habe. Sie wurde von ihrem eigenen körperlosen Beweger bewegt, der als Gegenstand des Verlangens auf sie wirkte. Diese unkörperlichen Beweger, oder Intelligenzen, gingen in einer Reihe auseinander hervor, deren Ursprung der erste Beweger, oder Gott, war. Aus der neunten Intelligenz (die den Mond bewegt) geht eine zehnte Intelligenz hervor, bei der es sich um nichts anderes als den aktiven Intellekt handelt, von dem Aristoteles sagt, dass er, was er ist, dadurch ist, dass er alle Dinge hervorbringt. Der aktive Intellekt wird nach al-Farabi benötigt, um zu erklären, wie der menschliche Intellekt von der Möglichkeit zur Wirklichkeit übergeht. In seiner Darstellung der menschlichen Psychologie finden wir sogar drei Formen oder Stufen des Intellekts. Die erste ist der passive oder potenzielle Intellekt, die angeborene Fähigkeit zu denken. Unter dem Einfluss des externen aktiven Intellekts wird diese Disposition in realen Akten des Denkens verwirklicht, wodurch der menschliche Intellekt ein Intellekt in Aktualität („der aktuelle passive Intellekt“) wird. Und schließlich, lehrt al-Farabi, vervollkommne ein Mensch „seinen passiven Intellekt durch sämtliche einleuchtenden Gedanken“. Der auf diese Weise vervollkommnete Intellekt wird als der erworbene Intellekt bezeichnet. 6 Können wir al-Farabis Psychologie aus ihrem antiquierten astronomischen Kontext lösen? Wir können sie zu verstehen versuchen, indem wir fragen, warum jemand denken sollte, dass ein aktiver Intellekt überhaupt erforderlich ist. Die aristotelische Antwort könnte lauten, dass die materiellen Objekte der Welt, in der wir leben, an sich selbst keine für das intellektuelle Verstehen angemessenen Objekte sind. Die Natur und die Eigenschaften der Objekte, die wir sehen und fühlen, sind ausnahmslos in die Materie eingebettet: Sie sind vergänglich und nicht stabil, individuell und nicht allgemein. Sie sind, in aristotelischen Begriffen, nur der Möglichkeit nach denkbar oder verstehbar, nicht tatsächlich. Um sie tatsächlich denkbar zu machen, ist es erforderlich, dass von der vergänglichen und vereinzelnden Materie abstrahiert wird

6

Siehe H. A. Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect (Oxford: Oxford University Press, 1992), Kapitel 3.

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und Begriffe geschaffen werden, die tatsächlich denkbaren Gegenstände. Dies ist die Funktion des aktiven Intellekts. Al-Farabi vergleicht die Wirkung des aktiven Intellekts auf die Daten der sinnlichen Erfahrung mit der Wirkung der Sonne auf die Farben. Farben, die im Dunkeln nur der Möglichkeit nach sichtbar sind, werden durch das Sonnenlicht tatsächlich sichtbar gemacht. Auf ähnliche Weise werden in unserer Einbildungskraft gespeicherte Sinnesdaten durch den aktiven Intellekt in tatsächlich denkbare Gedanken verwandelt. Der aktive Intellekt strukturiert sie innerhalb eines Rahmens universaler Prinzipien, die allen Menschen gemeinsam sind. (Als Beispiel nennt al-Farabi: „Zwei Dinge, die einem dritten gleich sind, sind auch untereinander gleich.“) Bis hierher scheint al-Farabis Darstellung philosophisch plausibel. Der schwierige Punkt – der jahrhundertelang debattiert werden sollte – betrifft die Frage, ob der aktive Intellekt mit einer getrennt existierenden, übermenschlichen Entität gleichgesetzt werden kann, oder ob man ihn als eine Art von spezifischer Fähigkeit ansehen sollte, die Menschen von Lebewesen unterscheidet, die über keine Sprache verfügen. Al-Farabis muslimische Nachfolger hoben im Laufe der Zeit das übermenschliche Element im Denken des Intellekts immer stärker hervor. Für Avicenna steht die erste Ursache, wie für al-Farabi, am höchsten Punkt einer Reihe von zehn körperlosen Intelligenzen, von denen jede die nächste in einem Vorgang der Emanation entstehen lässt und deren zehnte der aktive Intellekt ist. Allerdings hat der aktive Intellekt für Avicenna eine wesentlich kompliziertere Funktion als bei al-Farabi: Er ist ein wahrer Halbgott. Zuerst bringt er durch Emanation die Materie der sublunaren Welt hervor, welche Aufgabe al-Farabi den Himmelssphären zugeordnet hatte. Dies bedeutet, dass er für die Existenz der vier Elemente verantwortlich ist. Als Nächstes bringt der aktive Intellekt die komplexeren Gestalten dieser Welt hervor, einschließlich der Seelen von Pflanzen, Tieren und Menschen. Auch hier begegnen wir wieder der Emanation: Formen, die innerhalb des aktiven Intellekts undifferenziert sind, werden mit Notwendigkeit in die Welt der Materie übertragen. Erst in einem dritten Stadium übt der aktive Intellekt die Funktion aus, die er bei al-Farabi hatte und die darin bestand, dass er den menschlichen Intellekt von der Möglichkeit zur Wirklichkeit bringt. 7

Avicenna über Intellekt und Einbildungskraft Nach Avicenna erfüllt der aktive Intellekt, der Verleiher der Formen, ein Stück Materie mit einer menschlichen Seele, wenn es sich in einen Zustand entwickelt hat, in dem es fähig ist, eine solche Seele aufzunehmen. Die Seele ist jedoch mehr als die

7

Vgl. H. A. Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect (Oxford: Oxford University Press, 1992), 74–83.

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Form des menschlichen Körpers. Um dies zu beweisen, verwendet Avicenna ein einfallsreiches Argument, das später von Descartes abermals erfunden wurde. „Jemand stelle sich vor, er sei in einem Augenblick vollständig erschaffen. Seine Sicht sei verschleiert, sodass er keinen äußeren Gegenstand sehen kann. Man stelle sich weiter vor, er werde im Fall durch die Luft, oder in einem Vakuum geschaffen, sodass er keinen Druck der Luft spürt. Ferner nehme man an, dass seine Gliedmaßen eine solche Stellung zu seinem Körper haben, dass sie sich nicht begegnen oder berühren. Er solle darüber nachdenken, ob er in einem solchen Fall seine eigene Existenz bestätigen wird. Er wird nicht zögern zu behaupten, dass er selbst existiert, doch indem er dies tut, behauptet er nicht die Existenz irgendeines seiner Gliedmaßen oder äußeren oder inneren Organe, wie zum Beispiel des Herzens oder Gehirns oder irgendeines äußeren Gegenstands. Er wird seine eigene Existenz bestätigen, ohne sich irgendeine Länge, Breite oder Körperfülle zuzuschreiben. Wenn er in diesem Zustand in der Lage wäre, sich eine Hand oder einen anderen Körperteil vorzustellen, würde er ihn sich nicht als Teil seiner selbst oder als Bedingung seiner eigenen Existenz vorstellen.“ (CCMP 110)

Avicenna behauptete, dass Gedanken des Intellekts, da sie keine Teile haben, zu etwas gehören müssen, das unteilbar und körperlos ist. Daher gelangte er zu der Schlussfolgerung, die Seele sei eine körperlose Substanz, die nicht einfach als Form oder Fähigkeit eines Körpers angesehen werden könne. Avicenna unterscheidet vier verschiedene mögliche Zustände des menschlichen Intellekts. Wenn ein Baby geboren wird, besitzt es einen Intellekt, der noch keine Gedanken enthält. Seine Seele verfügt lediglich über die Fähigkeit zu denken. Im zweiten Zustand wurde der Intellekt mit den grundlegenden intellektuellen Werkzeugen ausgerüstet: Er versteht das Widerspruchsprinzip und die allgemeinen Prinzipien wie dasjenige, dass das Ganze größer ist als einer seiner Teile. Avicenna vergleicht dies mit einem Jungen, der gelernt hat, mit Federhalter und Tinte umzugehen, und der einzelne Buchstaben schreiben kann. Im dritten Zustand hat die Person einen Vorrat von Begriffen und Überzeugungen angesammelt, doch sie sind ihr im Denken nicht gegenwärtig. In diesem Zustand gleicht er einem erfahrenen Schreiber, der auf Wunsch einen beliebigen Text niederschreiben kann. Alle diese drei Zustände sind Möglichkeit, doch jede von ihnen ist der Wirklichkeit näher als die vorige: Der dritte Zustand wird von Avicenna als „vollkommene Möglichkeit“ bezeichnet. Der vierte Zustand liegt vor, wenn ein Denker tatsächlich einen bestimmten Gedanken denkt (jeweils einen einzigen). Dies entspricht der tatsächlichen Niederschrift eines Satzes. Bei jedem dieser Übergänge von der Möglichkeit zur Wirklichkeit wirkt nach Avicenna der übermenschliche aktive Intellekt direkt kausal auf den menschlichen Intellekt ein. Erfahrung, so behauptet er, könne weder die Quelle der ersten Prinzipien noch der allgemeinen wissenschaftlichen Schlussfolgerungen sein, zu denen der Intellekt gelangt. Erfahrung kann nur induktive Verallgemeinerungen liefern, wie

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zum Beispiel: „Alle Tiere verwenden zum Kauen den Unterkiefer.“ Erste Prinzipien und allgemeine Gesetze müssen uns daher von außerhalb der natürlichen Welt eingeflößt werden. Es ist schwer sich vorzustellen, wie diese Kausalität genau funktioniert. Es scheint sich um etwas zu handeln, das der unwillkürlichen Telepathie ähnlich ist. Vielleicht kann man es sich so vorstellen, um eine Metapher zu verwenden, die Avicenna nicht zur Verfügung stand, dass der aktive Intellekt einer Rundfunkstation gleicht, die ständig, auf verschiedenen Wellenlängen, alle Gedanken aussendet, die es gibt. Die Bewegung des menschlichen Intellekts von der Möglichkeit zur tatsächlichen Handlung ergibt sich dann, wenn er eine passende Wellenlänge eingestellt hat. Um zu erklären, wie ein Mensch diese Einstellung vornimmt, erläutert Avicenna eine komplizierte Theorie der inneren Wahrnehmung. Avicenna nimmt an, dass wir, zusätzlich zu den fünf vertrauten äußeren Sinnen, über fünf innere Sinne verfügen: (1) den Allgemeinsinn, der die Eindrücke der fünf äußeren Sinne sammelt; (2) die bewahrende Einbildungskraft, die die auf diese Weise gesammelten Bilder speichert; (3) die kompositive Einbildungskraft, die diese Bilder verwendet; (4) die schätzende Kraft, die instinktive Urteile fällt, zum Beispiel über Genuss oder Gefahr; (5) die erinnernde Kraft, die die unmittelbaren Erkenntnisse der schätzenden Kraft speichert. Einigen dieser Fähigkeiten sind wir bei Aristoteles und Augustinus 8 bereits begegnet, doch Avicenna behandelt sie auf wesentlich ausführlichere und systematischere Weise. Es sind Fähigkeiten, die Menschen und Tieren gemeinsam und bestimmten Orten in den Ventrikeln des Gehirns zugeordnet sind. Während das Gehirn ein passender Speicher für die Informationen der äußeren und inneren Sinne ist (einschließlich zum Beispiel des instinktiven Wissens der Schafe, dass der Wolf gefährlich ist), kann es nicht als Aufbewahrungsort der Gedanken des Intellekts angesehen werden. Wenn ich sie nicht tatsächlich denke, sind meine Gedanken nur außerhalb von mir verfügbar, im aktiven Intellekt. Meine Erinnerung an diese Gedanken, meine Fähigkeit, sie erneut abzurufen, entspricht meiner Fähigkeit, mich auf Wunsch in die ununterbrochene Übertragung des aktiven Intellekts einzuschalten. 9 8 9

Vgl. Band I, 257 und 221. Avicenna schmückt diese bereits komplizierte Struktur mit einer detaillierten Analyse der Situation aus, in der sich jemand sicher ist, dass er eine Frage beantworten kann, die er nie zuvor beantwortet hat. Diese Diskussion weist interessante Parallelen zu Wittgensteins Erörterung des Phänomens „Jetzt weiß ich weiter“ in den Philosophischen Untersuchungen (Teil 1, 151) auf.

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Die Ausübung der Fähigkeit, Gedanken des Intellekts zu erwerben oder zu behalten, bezieht die Sinne mit ein, doch nur auf eine Weise, die derjenigen analog ist, auf die die Entwicklung der Materie im Embryo der Auslöser dafür ist, dass ihm eine Seele eingeflößt wird. Die Rolle der kompositiven Einbildungskraft ist hier von entscheidender Bedeutung: Wenn sie die menschliche Seele für intellektuelles Denken vorbereitet, wird sie von Avicenna als „kognitive Fähigkeit“ bezeichnet. Diese Fähigkeit verarbeitet die im Gedächtnis aufbewahrten Bilder und trennt und kombiniert sie zu neuen Konfigurationen. Befinden sich diese im passenden Brennpunkt für einen bestimmten Gedanken, so stellt der menschliche Intellekt den Kontakt mit dem aktiven Intellekt her und denkt genau diesen Gedanken. Avicenna beschreibt das Zusammenspiel zwischen Einbildungskraft und Intellekt am Beispiel des syllogistischen Schließens. Ein menschlicher Intellekt möchte wissen, ob alle As B sind. Seine kognitive Kraft durchstöbert verschiedene Bilder und findet ein Bild von C, das ein passender Mittelbegriff zum Beweis der gewünschten Schlussfolgerung ist. Angeregt durch dieses Bild nimmt der menschliche Intellekt Kontakt zum aktiven Intellekt auf und erlangt den Gedanken C. Die Aneignung dieses Gedankens vom aktiven Intellekt ist eine Einsicht, und Avicenna erklärt, dass der Intellekt in günstigen Fällen eine Einsicht haben – die Lösung eines intellektuellen Problems erblicken – kann, ohne dazu den komplizierten Prozess der introspektiv zugänglichen Kognition durchlaufen zu müssen. Avicenna bezeichnet den Zustand, in dem jemand einen intellektuellen Gedanken tatsächlich denkt, als „erworbene Einsicht“. Der Ausdruck ist angemessen, da für ihn jeder intellektuelle Gedanke, selbst der alltäglichsten Art, nicht das Werk des menschlichen Denkens, sondern eine Gabe des aktiven Intellekts ist. Einen sehr ähnlichen Ausdruck verwendet er jedoch auch für einen Intellekt, der im Besitz der gesamten wissenschaftlichen Wahrheit ist und sie sich nach Belieben ins Bewusstsein rufen kann. Dieser Intellekt ließe sich vielleicht treffender als „vollkommener Intellekt“ bezeichnen. Für einen Menschen, der diesen Zustand erreicht, sind die Sinne nicht mehr notwendig: Sie sind eine Ablenkung. Sie gleichen einem Pferd, das einen an das gewünschte Ziel gebracht hat und das nun freigelassen werden sollte. Ist ein solch vollkommener Zustand in diesem Leben zu erreichen – und wenn nicht: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Avicennas Antwort auf die erste Frage ist unklar, doch zu der zweiten Frage hat er uns viel zu sagen. Die Zerstörung des Körpers hat nicht die Zerstörung der Seele zur Folge, und die ganze Seele, nicht nur der Intellekt, ist unsterblich. Von einigen ihrer Fähigkeiten machen die Seelen, wenn sie von ihren Körpern getrennt sind, keinen Gebrauch mehr, doch sind sie auch dann noch individuelle Entitäten und wandern nicht in andere Körper. Die unsterblichen Seelen erreichen nach dem Tod unterschiedliche Stufen des Heils. Eine Seele, deren Einsicht solche Vollkommenheit erreicht hat, wie es in diesem Leben möglich ist, tritt in die Gemeinschaft himmlischer Wesen ein und erfreut sich vollkommener Glückseligkeit. Auch diejenigen, deren Einsicht zwar nicht ebenso vollkommen ist, die aber eine gewisse Kompetenz in Wissenschaft und Metaphysik

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erreicht haben, werden eine Glückseligkeit genießen, wenn auch keine ebenso große. Diejenigen schließlich, die zu philosophischen Untersuchungen fähig waren, aber die Gelegenheit dazu in diesem Leben versäumt haben, erleiden das größte Unglück. Ja, sie erleiden noch größere Qualen als jene Philosophen, die (wie Avicenna selbst) ihren körperlichen Begierden zu sehr nachgegeben haben. Denn die unerfüllten körperlichen Begierden werden, wenn die Seele allein überlebt, schon bald immer schwächer werden und ihre aufstachelnde Kraft verlieren, während der Schmerz unerfüllter philosophischer Sehnsucht niemals vergeht, denn intellektuelle Neugier gehört zum Wesen der Seele (PMA 259–62). So viel zum jenseitigen Leben der Intellektuellen. Doch viele Menschen werden von Avicenna als „einfältige Seelen“ bezeichnet, denen intellektuelle Neugier oder Befriedigung fremd ist. Nach dem Tode werden sie weder die Freuden des erfüllten Intellekts genießen noch die Schmerzen des unerfüllten Intellekts erleiden. Sie werden ewig in einer Art friedlichem Zustand leben. Wenn sie in ihrem irdischen Leben dazu gebracht wurden zu glauben, dass sie für Tugend durch sinnlichen Genuss (zum Beispiel in einem Garten mit dunkeläugigen Mädchen) belohnt oder für Laster mit körperlichen Schmerzen (zum Beispiel in einem Höllenfeuer) bestraft werden, dann gelangen sie mit dem Tod in den entsprechenden Traum, der ihnen so lebhaft erscheinen wird wie die Wirklichkeit. In seinem psychologischen System wies Avicenna, wie al-Farabi, der Weissagung eine wichtige Rolle zu. In ihrer höchsten Form ist die Weissagung die oberste Stufe der Einsicht, in der der menschliche Geist mit dem aktiven Intellekt ohne jede Anstrengung in Kontakt tritt und Schlussfolgerungen erfasst, ohne sie mühsam erarbeiten zu müssen. Auf einer niedrigeren Stufe verkleidet die kompositive Einbildungskraft des Propheten das prophetische Wissen in eine bildliche Form, in der es auch zur Mitteilung an ungebildete Menschen geeignet ist. Die Fähigkeit, Wunder zu wirken, ist für Avicenna ein Teilaspekt der Weissagung. Der Körper des Propheten verfügt über eine besonders starke bewegende Kraft, die es ihm ermöglicht, auf die Körperwelt einzuwirken, wie zum Beispiel durch eine bloße Anstrengung des Willens Kranke zu heilen und es regnen zu lassen. Was sollen wir zu Avicennas Philosophie des Geistes sagen? Nimmt man sie als System, kann man ihr eindeutig keinen Glauben schenken. Lässt man ihre Verbindung mit antiquierter Astronomie außer Betracht, enthält sie eine Reihe innerer Widersprüchlichkeiten. Wie kann die ganze Seele unsterblich sein, wenn wir die inneren Sinne mit den Tieren gemeinsam haben? Wie kann eine körperlose Seele träumen, wenn träumen eine Aktivität des Gehirns ist? Dies sind nur einige Beispiele für Inkonsistenzen, die sich ergänzen ließen. Dennoch ist Avicennas philosophische Psychologie in der Geschichte der Philosophie wichtig, da er zahlreiche Begriffe und Strukturen erdacht hat, die eine Rolle in den Systemen von Philosophen gespielt haben, die nüchterner waren als er. Viele andere akzeptierten seine Einteilung der inneren Sinne, und diejenigen, die seine Auffassung über das Wesen des aktiven Intellekts nicht teilten, stimmten ihm in der

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Beschreibung der Aufgaben zu, die er erfüllen musste. Wiederum andere, aus verschiedenen Glaubensrichtungen, haben seine Rationalisierung der Freuden und Leiden, die die Religion für das Leben nach dem Tod in Aussicht stellt, akzeptiert, sei es bewusst oder unbewusst.

Die Psychologie von Averroes Zu Beginn seiner philosophischen Entwicklung akzeptierte Averroes eine Theorie des Intellekts, die derjenigen Avicennas sehr ähnlich war. Er glaubte, dass jeder einzelne Mensch über einen materiellen oder passiven Intellekt verfügte, der durch die Verbindung zwischen der angeborenen menschlichen Disposition für das Denken und der Aktivität des transzendenten aktiven Intellekts erzeugt wird. Nach einer längeren Zeit des Nachdenkens legte Averroes jedoch eine hiervon radikal abweichende Theorie vor: Der passive Intellekt ist, nicht weniger als der aktive Intellekt, eine einzige, ewige körperlose Substanz. Für diese Schlussfolgerung argumentiert er auf folgende Weise. Aristoteles lehrte uns, dass der passive Intellekt alle materiellen Formen aufnimmt. Doch er kann dies nicht leisten, wenn er selbst irgendeine materielle Form besitzt. Daher kann er weder ein Körper noch auf irgendeine Weise mit Materie vermischt sein. Da er immateriell ist, muss er unzerstörbar sein, weil Materie die Grundlage der Vergänglichkeit ist, und er muss einfach und einer sein, da die Materie das Prinzip der Vervielfachung ist. Der passive Intellekt ist der niedrigste in der Hierarchie unkörperlicher Intelligenzen. Er befindet sich eine Stufe unterhalb des aktiven Intellekts. Paradoxerweise ist er, obwohl selbst unkörperlich, mit dem aktiven Intellekt auf eine Weise verbunden, die derjenigen ähnlich ist, auf die die Materie eines Körpers mit seiner Form verbunden ist, weshalb er als materieller Intellekt bezeichnet werden kann. Doch wie können meine Gedanken meine Gedanken sein, wenn ihr Ort ein übermenschlicher Intellekt ist? Averroes’ Antwort auf diese Frage lautet, dass sie nicht zu einem, sondern zu zwei Subjekten gehören. Der ewige passive Intellekt ist ein Subjekt: Das andere ist meine Einbildungskraft. Jeder von uns besitzt seine eigene individuelle, körperliche Einbildungskraft, und nur aufgrund der Rolle, die diese individuelle Einbildungskraft in unserem Denken spielt, kann ein jeder von uns beanspruchen, eigene Gedanken zu haben. Das Verfahren, durch das der übermenschliche Intellekt in das geistige Leben des einzelnen Menschen involviert ist, ist höchst rätselhaft. Obwohl er eine der Menschheit weit überlegene Entität ist, scheint er bis zu einem gewissen Grad von den sterblichen Menschen gesteuert werden zu können. Die Initiative für einen bestimmten Gedanken geht von der Einbildungskraft, nicht vom passiven Intellekt aus. Dieser Vorgang wurde auf folgende Weise sehr treffend beschrieben:

Die Psychologie von Averroes

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Averroes’ Psychologie wurde im 13. Jahrhundert sowohl bewundert als auch angegriffen. Dieses Manuskript aus dieser Zeit zeigt ihn im Gespräch mit dem griechischen Logiker Porphyrios. „Die Ewigkeit des Denkens der Körperwelt durch den materiellen Intellekt ist demnach kein einziger, kontinuierlicher Faden, noch entspringt sie aus dem materiellen Intellekt. Sie hängt vollständig vom Denken und Bewusstsein einzelner Menschen ab, wobei der volle Umfang der möglichen Gedanken über die Körperwelt in jedem Moment von den Individuen geliefert wird, die in diesem Moment leben. Die Kontinuität des Denkens des materiellen Intellekts durch die unendliche Zeit wird von den Gedanken der Individuen gesponnen, die in unterschiedlichen Momenten leben.“ 10

Averroes’ Psychologie kommt einem modernen Leser höchst seltsam vor. Dennoch haben Philosophen des 20. Jahrhunderts Positionen vertreten, die dazu in Beziehung stehen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass der Inhalt der Einbildungskraft ein gewisses Maß an Privatheit und Individualität aufweist, während dies für den Inhalt des Intellekts nicht gilt, obwohl moderne Philosophen den Grund hierfür normalerweise in der sozialen Welt, nicht im himmlischen Bereich suchen. Außerdem neigen wir alle dazu, mit einer gewissen Ehrfurcht von der Wissenschaft zu sagen, sie

10 H. A. Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averrroes on Intellect (New York: Oxford University Press, 1992), 292 f.

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bestehe aus einer Sammlung zusammenhängender, dauerhafter Wahrheiten, die unmöglich vom Geist eines einzigen sterblichen Wissenschaftlers umfasst werden kann. Da für Averroes das wahrhaft intellektuelle Element des Denkens unpersönlich ist, glaubte er nicht an die persönliche Unsterblichkeit einzelner Menschen. Nach dem Tod verschmelzen die Seelen miteinander. Averroes argumentiert hierfür auf folgende Weise: „Zaïd und Amr sind numerisch verschieden, aber der Form nach identisch. Wenn beispielsweise die Seele von Zaïd auf diese Weise von der Seele von Amr numerisch verschieden wäre, auf die Zaïd von Amr numerisch verschieden ist, wären die Seele von Zaïd und die Seele von Amr numerisch zwei, doch eine ihrer Form nach, und die Seele würde eine weitere Form besitzen. Die notwendige Schlussfolgerung hieraus ist daher, dass die Seele von Zaïd und die Seele von Amr ihrer Form nach identisch sind. Eine identische Form inhäriert in einer numerischen, d. h. teilbaren Mannigfaltigkeit nur durch die Mannigfaltigkeit der Materie. Wenn dann die Seele nicht mit dem Körper stirbt oder wenn sie ein unsterbliches Element besitzt, so muss sie, wenn sie den Körper verlassen hat, eine numerische Einheit bilden.“

Im Tod geht die Seele in die allgemeine Intelligenz ein wie ein Tropfen in das Meer. Einer der ersten und schärfsten Kritiker von Averroes’ Philosophie des Geistes war Albertus Magnus. In einer besonderen Abhandlung listete er 30 averroistische Argumente für den einfachen aktiven Intellekt auf und widerlegte jedes einzelne von ihnen. Er stellte ihnen 36 eigene Argumente gegenüber. Er bestand darauf, dass sowohl der passive als auch der aktive Intellekt Fähigkeiten der einzelnen Seele waren: Jeder Mensch verfügt über seinen eigenen aktiven Intellekt. Ansonsten wäre die intellektuelle Seele nicht die Form des Körpers und unsere Gedanken wären nicht unsere eigenen. Die Aufgabe des aktiven Intellekts des Menschen besteht darin, die Abstraktion eines allgemeinen Begriffs aus den Sinnesdaten zustande zu bringen. Albertus unterscheidet vier Stufen der Abstraktion. Die erste Stufe der Abstraktion befindet sich bereits in der sinnlichen Wahrnehmung selbst, obwohl das Objekt gegenwärtig ist, denn statt der materiellen Form dessen, was wahrgenommen wird, gibt es eine separate intentio in unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Die zweite Stufe der Abstraktionen liegt vor, wenn die auf diese Weise erworbene intentio in unserer Einbildungskraft zurückbehalten wird. Sie ist nun zwar von der Gegenwart des Objekts getrennt, weist jedoch noch ihre volle Besonderheit auf. Das Bild des Mannes behält die gleiche Haltung, Farbe, das gleiche Alter usw. wie das Original. Die dritte Stufe ereignet sich in der Fantasie, die Albertus von der Einbildungskraft unterscheidet. Man würde erwarten, dass es sich hierbei um ein Bild handelt, das unbestimmt genug ist, um mehr als ein Ding darzustellen, doch Albertus sagt uns, dass es einige nicht sinnliche Eigenschaften des Individuums umfasst, wie zum Beispiel, ob die Person angenehm im Umgang ist oder nicht und wer ihr Vater war. Die vierte Stufe ist die

Thomas von Aquin über die Sinne und den Intellekt

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Funktion des aktiven Intellekts, die den allgemeinen Begriff erzeugt, der auf mehrere Exemplare einer Art anwendbar ist (CHLMP 603 f.; De An. 2. 3. 4). Entsprechend seinem Interesse an der empirischen Wissenschaft ist Albertus sehr darum bemüht, diese verschiedenen Aktivitäten bestimmten Teilen des Gehirns zuzuordnen. Die inneren Sinne, wie beispielsweise die Einbildungskraft und die Fantasie, befinden sich in Kapseln mit tierischen Geistern oder Flüssigkeiten, die je nach der mit ihnen verbundenen Abstraktionsstufe unterschiedlich dünn sind. Während Albertus den materiellen Träger von fast allen Formen des Denkens betont (eine Ausnahme bilden lediglich die intellektuellsten Formen), bewahrt er jedoch insofern einen Rest der Theorien von Avicenna und Averroes, als er einen direkten kausalen Einfluss Gottes auf die Intelligenz des Menschen anerkennt. Wenn die allgemeinen Begriffe und Überzeugungen, die Leistung unseres aktiven Intellekts sind, in Form von Wissen in unserem passiven Intellekt erhalten bleiben sollen, bedarf es eines besonderen Lichts, das vom ungeschaffenen aktiven Intellekt ausgeht. Eine solche Erleuchtung ist besonders dann erforderlich, wenn es möglich sein soll, ein Wissen von immateriellen Objekten, etwa von Engeln und von Gott, zu erlangen; hier können Einbildungen und Abstraktionen nicht weiterhelfen.

Thomas von Aquin über die Sinne und den Intellekt Thomas von Aquin verwarf die Vorstellung, es bedürfe zur Erklärung der normalen menschlichen Begriffsbildung und für naturwissenschaftliche Nachforschungen einer besonderen göttlichen Erleuchtung. 11 Für ihn ist der Intellekt – sowohl der aktive als auch der passive Intellekt – eine Fähigkeit des einzelnen Menschen, die an der Spitze der Hierarchie der Fähigkeiten und Vermögen steht, die die menschliche Seele ausmachen. Im Anschluss an Aristoteles nimmt Thomas drei verschiedene Seelenarten an: eine vegetative Seele in Pflanzen, eine empfindende Seele in Tieren und eine vernünftige Seele im Menschen. Menschliche Wesen besitzen nur eine einzige Seele, die vernünftige Seele. Doch diese Seele verfügt zusätzlich zu ihren besonderen geistigen Kräften über andere Kräfte, die denen der anderen beiden Seelenarten entsprechen: vegetative Kräfte für Wachstum und Fortpflanzung und sinnliche und bewegende Kräfte, über die auch die Tiere verfügen. Auf der tierischen und vernünftigen Ebene gibt es zwei Arten von Kräften: kognitive oder Informationen sammelnde Kräfte und appetitive oder zielgerichtete Kräfte. Auf der tierischen Ebene gibt es die Kraft der Wahrnehmung und des Verlangens, während auf der vernünftigen Ebene die Kraft zu denken und zu wollen zu finden sind (ST 1a 78. 1 f.). Beim Studium von Thomas’ Philosophie des Geistes ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass er – im Gegensatz zu vielen modernen Philosophen – Geist nicht mit Bewusstsein gleichsetzt. Für ihn war der Geist im Wesentlichen diejenige Fähigkeit 11 Vgl. Kapitel 4 oben.

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oder die Reihe von Fähigkeiten, die den Menschen von anderen Tieren unterscheidet. Die geistlosen Tiere und der Mensch können sehen und hören und fühlen, doch nur menschliche Wesen können abstrakte Gedanken erfassen und vernünftige Entscheidungen treffen. Durch den Besitz von Intellekt und Wille ist der Mensch von den Tieren abgesetzt, und es sind diese beiden Fähigkeiten, die im Wesentlichen den Geist oder die vernünftige Seele ausmachen. Dennoch ist es für das Verständnis von Thomas’ Auffassung des Geistes wichtig zu wissen, was er über die Sinne sagt, denn seiner Meinung nach ist die Aktivität der beiden Vermögen, der Vernunft und der Sinne, auf das Engste miteinander verbunden. Die Funktion der Sinne ist sowohl für den Ursprung als auch für die Anwendung der intellektuellen Begriffe unerlässlich. Außerdem ist vieles, was ein moderner Philosoph als geistige Aktivität betrachten würde, für Thomas die Funktion eines Sinnes von besonderer Art, nämlich die Einbildungskraft, die ein innerer Sinn ist. Thomas übernahm die traditionelle Liste der fünf äußeren Sinne. Mit ihrer Hilfe können wir sehen, hören, tasten, schmecken und riechen. Die Sinne sind voneinander nicht aufgrund ihrer verschiedenen Organe, sondern durch unterschiedliche Objekte verschieden: Sehen und Hören unterscheiden sich nicht, weil Augen von Ohren verschieden sind, sondern weil sich Farben von Geräuschen unterscheiden. Die Sinne sind im Wesentlichen Unterscheidungskräfte. Sie lassen uns zum Beispiel den Unterschied zwischen heiß und kalt, schwarz und weiß usw. erkennen. Jeder Sinn hat sein passendes Objekt, ein Objekt, das nur er erkennen kann. Doch es gibt auch Objekte, die von mehr als einem Sinn wahrgenommen werden können, wie zum Beispiel räumliche Gestalten, die gesehen und gefühlt werden können (ST 1a 78. 3. 3). Ein Sinn entspricht für Thomas der Fähigkeit, eine besondere, durch ein äußeres Objekt ausgelöste Art der Veränderung zu erleiden. Wenn wir sehen, wird die Form der Farbe im Auge aufgenommen, ohne dass das Auge selbst farbig wird. Wenn ein materielles Objekt die Form F aufnimmt, wird das Objekt F, zum Beispiel wenn ein Stein die Form der Wärme aufnimmt und heiß wird. Dies ist die normale Form der Veränderung, der materiellen Veränderung. Die Art der Veränderung, zu der es beim Sehen einer Farbe kommt, bezeichnet Thomas als „intentionale“ Veränderung. Die Form der Farbe existiert auf intentionale Weise im Auge, oder – wie er manchmal sagt – die Intention (intentio oder species) der Farbe existiert im Auge (ST 1a 84. 1). Eine intentio ist keine Darstellung, obwohl sie Thomas manchmal als Ähnlichkeit, oder similitudo, des wahrgenommenen Objekts bezeichnet. Manche Philosophen glauben, dass wir in der sinnlichen Wahrnehmung die Objekte oder Eigenschaften in der Außenwelt nicht direkt beobachten, sondern dass wir private Sinnesdaten wahrnehmen, aus denen wir das Wesen der äußeren Gegenstände und Eigenschaften erschließen. Bei Thomas gibt es zwischen dem Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Gegenstand keine solchen Vermittler. In der Wahrnehmung kommt das sinnliche Vermögen nicht mit einer Ähnlichkeit des Gegenstandes in Kontakt, sondern es wird selbst dem Objekt ähnlich, indem es seine Form annimmt. Dies wird in dem von Thomas übernommenen Ausspruch zusammengefasst: Die Funktion der

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sinnlichen Fähigkeit ist identisch mit der Wirkung des Sinnesobjekts (sensus in actu est sensibile in actu). 12 Thomas’ Intentionalitätslehre will als Theorie der Wahrnehmung keinen geheimnisvollen Mechanismus vorschlagen. Sie ist vielmehr als philosophische Binsenweisheit gemeint, die uns helfen soll, klar zu erkennen, was bei der Wahrnehmung geschieht. Der aristotelische Ausspruch besagt nicht mehr als dies: Wenn ich ein Bonbon in den Mund nehme, so ist mein Schmecken seiner Süße (die Funktion meines sinnlichen Vermögens: sensu in actu) identisch damit, dass es mir süß schmeckt (die Wirkung der sinnlichen Eigenschaft: sensibile in actu). Die Bedeutung dieser Binsenweisheit besteht genau darin, die naive Vorstellung – der man hier besonders leicht erliegen kann – abzuwehren, man habe es mit einer Form der Darstellung zu tun. Zusätzlich zu den fünf äußeren Sinnen nahm Thomas die Existenz innerer Sinne an und übernahm von Avicenna eine Liste von ihnen: den Allgemeinsinn, das Gedächtnis, die Einbildungskraft sowie eine vierte Fähigkeit, die bei Tieren als vis aestimativa und bei Menschen als vis cogitativa bezeichnet wird. Die vis aestimativa scheint unserem Begriff des Instinkts zu entsprechen: das Tieren angeborene Verständnis dessen, was für sie nützlich oder gefährlich ist, das in Aktivitäten wie dem Nestbau oder der Flucht vor Raubtieren zum Ausdruck kommt. Es gelingt Thomas nicht, deutlich zu machen, was er für die dem Menschen äquivalente Fähigkeit hält (ST 1a 78. 4). Außer Thomas von Aquin haben viele andere Philosophen das Gedächtnis und die Einbildungskraft als innere Sinne eingestuft. Sie betrachteten diese Fähigkeiten als Sinne, da sie ihre Funktion als die Herstellung von Bildern ansahen. Sie hielten sie für innere Sinne, da ihre Aktivität, im Gegensatz zu den äußeren Sinnen, nicht durch äußere Reize gesteuert wurde. Thomas glaubte, dass die inneren Sinne, ebenso wie die äußeren, über Organe verfügen, und zwar solche, die sich in verschiedenen Teilen des Gehirns befinden. Es scheint ein Irrtum, die Einbildungskraft als inneren Sinn anzusehen. Sie verfügt über kein Organ in dem Sinne, in dem der Gesichtssinn ein Organ hat: Es gibt keinen Teil des Körpers, der auf die Weise absichtlich bewegt werden kann, um uns Dinge lebhafter vorzustellen zu können, auf die die Augen absichtlich bewegt werden können, damit wir besser sehen können. Außerdem ist es nicht möglich, sich auf die Weise über dasjenige zu täuschen, was man sich innerlich vorstellt, wie man sich über das täuschen kann, was man sieht: Andere können nicht überprüfen, ob ich mir tatsächlich vorstelle, was ich mir vorzustellen behaupte, wie sie dasjenige überprüfen können, was ich zu sehen behaupte. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen der Einbildungskraft und wirklichen Sinnen. Glücklicherweise wird vieles von dem, was Thomas über die Rolle der Einbildungskraft und ihre Beziehung zum Intellekt zu sagen hat, durch diese übermäßige 12 Vgl. Band I, 256.

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Annäherung an die fünf Sinne nicht betroffen. Sie einen Sinn zu nennen – und sie für Thomas damit als Fähigkeit zu bezeichnen, die vollständig im Bereich des Materiellen verbleibt – hat den großen Vorteil, sie vom Intellekt zu unterscheiden. Viele Philosophen haben sich den Geist als immaterielle und private Welt vorgestellt, als Ort unserer geheimen Gedanken, als Raum, in dem unsere inneren Monologe stattfinden. Dies ist ein schwerwiegender Fehler. Natürlich ist nicht zu bezweifeln, dass Menschen ihre Gedanken geheim halten und mit sich selbst sprechen können, ohne irgendein Geräusch von sich zu geben und Bilder vor ihr geistiges Auge zu rufen. Doch für Thomas ist diese Fähigkeit nicht mit dem Geist gleichzusetzen: In ihr drückt sich nicht der Intellekt, sondern die Einbildungskraft aus. Intellectus ist einer der wenigen technischen Ausdrücke bei Thomas von Aquin, der ungefähr dasselbe bedeutet wie sein deutsches Äquivalent „Intellekt“. Das verwandte Verb intelligere verfügt über keine Entsprechung, und glücklicherweise ist noch kein Mittelalterforscher auf die Idee gekommen – als Parallele zu „kognoszieren“ –, ein solches Wort zu erfinden. Das lateinische Verb wird häufig mit „verstehen“ übersetzt, doch bei Thomas hat es eine sehr breite Bedeutung, etwa so wie das deutsche Verb „denken“. Wir sahen bereits, dass Thomas die Handlungen des Intellekts in zwei Klassen unterteilt: in das Erfassen nicht-komplexer Ausdrücke auf der einen Seite und das Zusammenstellen und Teilen auf der anderen. 13 Sie entsprechen zwei Arten des Denkens: Gedanken an (wie etwas der Gedanke an einen Falken) und Gedanken, dass (wie etwa der Gedanke, dass ein Falke keine Handsäge ist). Allerdings wird man Thomas nicht ganz gerecht, wenn man den Intellekt mit der Fähigkeit des Denkens gleichsetzt, denn er glaubte, dass Tiere, die über keinen Intellekt verfügen, einfache Gedanken haben können. Es ist zutreffender, den Intellekt mit der Fähigkeit zu denjenigen Gedanken gleichzusetzen, die nur ein Wesen haben kann, das eine Sprache verwendet. Nach Thomas denkt der Intellekt in Allgemeinbegriffen, und das Erfassen von Allgemeinbegriffen übersteigt die Fähigkeit von Tieren: Ein Allgemeinbegriff kann weder sinnlich wahrgenommen noch in der Einbildung vorgestellt werden. Dennoch war Thomas der Überzeugung, dass die Funktion der Sinne und der Einbildungskraft beim Menschen für den Erwerb und die Verwendung von Allgemeinbegriffen unerlässlich ist. Im gegenwärtigen Leben war seiner Meinung nach das angemessene Objekt des menschlichen Intellekts das Wesen oder die Quiddität materieller Objekte, und er sagte, dass der Intellekt dieses durch die Abstraktion von Bildern der Fantasie (phantasmata) erfasse. Unter „Bildern der Fantasie“ versteht Thomas die Daten der Sinne und der Einbildungskraft, ohne sie ist Thomas zufolge das Denken des Intellekts unmöglich. Doch im Gegensatz zu empiristischen Philosophen glaubte er nicht, dass Ideen von der sinnlichen Erfahrung dadurch abgeleitet werden, dass man von Merkmalen dieser Erfahrung abstrahiert oder ihnen eine selektive Aufmerksamkeit widmet. Wenn dies der Fall wäre, würden Tiere ebenso wie Menschen in der Lage 13 Siehe Kapitel 3.

Thomas von Aquin über die Sinne und den Intellekt

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sein, Allgemeinbegriffe zu bilden, während Thomas glaubte, dass eine solche Begriffsbildung eine artspezifische menschliche Fähigkeit verlange: den aktiven Intellekt. Andererseits glaubte Thomas im Gegensatz zu rationalistischen Philosophen nicht, dass jeder Mensch über einzelne, angeborene Ideen verfüge. Zum Zeitpunkt der Geburt ist der menschliche Intellekt für ihn eine tabula rasa (ST 1a 85). Der menschliche Intellekt besteht für Thomas aus zwei Vermögen mit einer doppelten Funktion. Außer dem aktiven Intellekt, der in der Fähigkeit besteht, allgemeine Vorstellungen aus besonderen sinnlichen Erfahrungen zu abstrahieren, verfügen Menschen über einen passiven Intellekt, in dem die von der sinnlichen Erfahrung abstrahierten Ideen und die durch die Erfahrung erworbenen Überzeugungen abgelegt sind. Zum Zeitpunkt der Geburt ist dieses Lagerhaus noch leer: Der passive Intellekt ist die anfänglich noch leere Seite, auf die der aktive Intellekt schreibt. Doch Fantasiebilder, so behauptet Thomas, sind nicht nur für den Erwerb von Begriffen erforderlich, sondern auch für ihre Anwendung: nicht nur, um Ideen im geistigen Lagerhaus abzulegen, sondern auch, um sie wieder herauszuholen und zu verwenden (ST 1a 79). Diese letzte Behauptung ist wichtig, wenn wir die Anwendung von allgemeinen Ideen auf Einzeldinge in der Welt erwägen. Manche Philosophen haben geglaubt, ein Objekt könne dadurch individuiert werden, dass man die Gesamtheit seiner Eigenschaften auflistet, d. h. die allgemeinen Begriffe, unter die es fällt. Doch Thomas verwarf diese Auffassung: Wie lang die von uns erstellte Liste auch sein mag, es bleibt immer möglich, dass sie auf mehr als ein Einzelding zutrifft. Da der Intellekt in Allgemeinbegriffen denkt, ist es daher unmöglich, ein rein intellektuelles Wissen von Einzeldingen zu haben. „Ein Einzelding kann der Intellekt nur indirekt und durch eine Art Reflexion erkennen. Selbst nachdem er Ideen abstrahiert hat, kann er von ihnen durch seine Handlungen keinen Gebrauch machen, wenn er sich nicht den Vorstellungsbildern zuwendet, in denen er die Ideen erfasst, wie Aristoteles sagt. Daher ist das, was der Intellekt direkt erfasst, der Allgemeinbegriff; doch indirekt erfasst er Einzeldinge, zu denen die Vorstellungsbilder gehören. Und auf diese Weise bildet er den Satz ‚Sokrates ist ein Mensch‘.“ (ST 1a 86c)

Wenn ich jemanden gut kenne, wird es viele Beschreibungen geben, die ich von ihm geben kann, doch solange ich nicht auf bestimmte Zeiten und Orte Bezug nehme, wird es vielleicht keine Beschreibung geben, die theoretisch nicht auch auf jemand anderen zutrifft. Nur indem ich auf ihn zeige oder indem ich ihn jemandem vorstelle, oder die Person an eine Gelegenheit erinnere, bei der sie ihn getroffen hat, kann ich ihr deutlich machen, an wen ich denke, und Zeigen, Sehen und Erinnern liegen außerhalb des Bereichs des reinen Denkens. Die indirekte Natur des Denkens über Einzeldinge folgt aus zwei von Thomas vertretenen Thesen: erstens, dass die Materie das Prinzip der Individuation ist, und

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zweitens, dass das unmittelbare Objekt allen Wissens eine Form ist. Die Sinne nehmen zufällige Formen wie Farbe und Gestalt wahr, der Intellekt erfasst substanzielle Formen, wie etwa das Menschsein. Sowohl das Denken als auch die Wahrnehmung sind Fälle, in denen Formen intendiert werden. Doch während die Formen in der Wahrnehmung einzelne Formen sind (der Duft dieser Rose), ist die Form im Denken allgemein (die Idee einer Rose). An dieser Auffassung vom Wesen des Denkens liegt es, dass wir bis heute beispielsweise davon reden, wir würden über eine Sache informiert, und dass wir den Erwerb von Wissen als Aneignung von Informationen bezeichnen. Die Intentionalität des Intellekts wird, wie die Intentionalität der Wahrnehmung, durch einen Spruch zum Ausdruck gebracht: Intellectus in actu est intelligibile in actu („Die Wirklichkeit der Kraft des Denkens ist identisch mit der Wirklichkeit des Objekts der Gedanken“). Wenn ich einen allgemeinen Gedanken habe, ist mein Denken der allgemeinen Vorstellung ein und dasselbe wie das Auftreten der Vorstellung in meinem Geist. Einerseits ist der Intellekt eben die Fähigkeit, allgemeine Ideen zu denken; und andererseits ist das Allgemeine an sich, das Objekt des Denkens, etwas, dessen Existenz allein darin besteht, in Gedanken aufzutreten.

Thomas von Aquin über den Willen Die andere große Kraft des Geistes im System von Thomas von Aquin ist der Wille. Der Intellekt ist eine kognitive Kraft einer spezifisch menschlichen Art, der Wille eine entsprechende appetitive oder strebende Kraft. Es ist das Vermögen, ein Verlangen zu haben, das nur der Intellekt formulieren kann. Der Wille ist die höchste Form des Begehrens, der höchste Punkt einer Skala, an deren unterem Ende die teleologischen Tendenzen unbelebter Körper (zum Beispiel die Tendenz von Feuer, nach oben zu steigen) und die bewussten, aber nicht vernünftigen Wünsche von Tieren stehen (zum Beispiel der Wunsch eines Hundes nach einem Knochen). Menschen teilen diese Tendenzen – als schwere Körper fallen sie, wenn sie sich nicht abstützen; als Tiere wollen sie Nahrung und Schlaf –, doch sie verfügen auch über typisch menschliche Bedürfnisse, insbesondere den Wunsch nach Glück und nach den Mitteln zu seiner Verwirklichung. Außerdem unterliegt beim Menschen selbst das tierische Verlangen der Steuerung des intellektuellen Teils der Seele, des Willens. „Die übrigen Tiere reagieren auf das Begehren des Verlangens oder der Aggression unmittelbar: Ein Schaf, das einen Wolf fürchtet, flieht sofort vor ihm, denn bei ihm gibt es kein oberes Begehren, das dem entgegenstehen könnte. Der Mensch reagiert jedoch nicht sofort auf das Begehren des Verlangens oder der Aggression, sondern es wird der Befehl eines höheren Begehrens, des Willens, abgewartet.“ (ST 1a 81. 3)

Thomas von Aquin über den Willen

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Thomas vergleicht die Ausführung einer gewollten Handlung häufig mit dem Gehorsam gegen einen inneren Befehl. Es gibt seiner Meinung nach zwei Arten von Willensakten: unmittelbare Akte (actus eliciti), wie zum Beispiel Genießen, Beabsichtigen, Wählen, Überlegen und Zustimmen (1a 2ae 1. 1 ad 2); und befohlene Willensakte (actus imperati), absichtliche Bewegungen des Körpers, wie etwa Gehen und Sprechen, deren Durchführung zusätzlich zum Willen die Ausübung eines anderen Vermögens erfordert. Wir müssen uns dies nicht so vorstellen, als lehre Thomas, dass wir jedes Mal, wenn wir einen Spaziergang machen, uns selbst den Befehl zuflüstern: „Gehe spazieren!“ Ebenso wenig nimmt er an, es gebe so etwas wie innere Akte des reinen Wollens. Das lateinische Wort actus muss nicht irgendeine Handlung bedeuten: Tatsächlich ist ein Willensakt normalerweise eine Tendenz und keine zeitlich begrenzte Begebenheit (ST 1a 2ae 6. 4). Eine Tendenz kann wirksam sein, ohne dass sie dem Bewusstsein gegenwärtig ist: Der Wunsch, an ein Ziel zu gelangen, kann ein Verhalten während einer Reise durchgehend bestimmen, ohne dass ständig an diesen Wunsch gedacht wird. Eine willentliche Handlung ist für Thomas eine Handlung, die aus einer rationalen Abwägung der Handlung hervorgeht. Das Minimum an rationaler Erwägung scheint darin zu bestehen, dass die Handlung aus einer Betrachtung resultiert, die einer bestimmten sprachlichen Beschreibung genügt – zum Beispiel aus dem Weg springen, wenn jemand anderes ruft: „Geh mir aus dem Weg!“ Stärker interessieren Thomas jedoch die Fälle, in denen wir Gründe für unser Handeln haben, wenn eine Handlung als Schlussfolgerung einer praktischen Überlegung dargestellt werden kann. Die Gründe für eine Handlung müssen vor der Durchführung nicht bewusst durchdacht worden sein. Soll eine Handlung jedoch eine Willenshandlung im vollen Sinne sein, dann sollte man auf Anfrage Gründe dafür angeben können – was darin bestehen könnte, dass man auf den Wert der Handlung selbst hinweist, oder zeigt, dass sie das Mittel zu einem wünschenswerten Zweck war. Indem Thomas absichtliches Verhalten als „befohlene Handlung“ bezeichnet, lenkt er unsere Aufmerksamkeit auf die Analogie, die zwischen der logischen Beziehung zwischen Befehl und Ausführung und der Beziehung zwischen Wollen und Handeln besteht. Ein menschlicher Willensakt ist ein geistiger Zustand, der durch die sprachliche Beschreibung der Handlung oder des Standes der Dinge definiert ist, die bzw. der ihn realisiert. Ich möchte, dass p der Fall ist. Die Aussage p gibt meinen geistigen Zustand wieder und sie bescheibt den Stand der Dinge, der sich zu ihm wie die Erfüllung eines Wunsches verhält. Nehmen wir jedoch an, dass nicht ich will, dass p der Fall ist, sondern dass ein anderer mir befiehlt, ich solle p herbeiführen: Die Aussage hat eine analoge Funktion. Die Metapher, dass der Wille Befehle ausgibt, ist angemessen und fruchtbar. 14 14 Die Ähnlichkeiten sind sehr groß, wie ich in meinem Buch Will, Freedom and Power (Oxford: Blackwell, 1975) zu zeigen versucht habe.

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Praktische Schlussfolgerungen sind ein schwieriges Thema und ihre Logik ist bis heute nicht vollständig ausgearbeitet. Ein Aspekt, durch den sie sich von theoretischen Schlussfolgerungen unterscheiden, ist ihre – juristisch gesprochen – Anfechtbarkeit. Hiermit ist Folgendes gemeint: Für theoretische, deduktive Schlussfolgerungen gilt: Ergibt sich eine Schlussfolgerung aus einem bestimmten Satz von Prämissen, so ergibt sie sich auch aus jedem größeren Satz, der diese Prämissen enthält. Das Argument kann durch die Hinzufügung weiterer Prämissen nicht ungültig werden. Bei praktischen Schlussfolgerungen verhält es sich jedoch anders. Eine Form der praktischen Argumentation, die eine bestimmte Handlung auf der Grundlage bestimmter Wünsche und Überzeugungen rechtfertigen würde, kann sehr wohl ungültig werden, wenn weitere Wünsche und Überzeugungen in die Argumentation einbezogen werden. Thomas erkannte die Anfechtbarkeit praktischer Schlussfolgerungen und hielt sie sogar für das Fundament der Freiheit des Willens. Im Gegensatz zu den Tieren gilt für den Menschen: „Da eine besondere praktische Bewertung nicht Sache des angeborenen Instinkts ist, sondern das Ergebnis der Abwägung von Gründen, handelt ein Mensch nach freiem Urteil, und er kann verschiedene Wege gehen. Bei zufälligen Angelegenheiten kann die Vernunft sich auf die eine oder andere Weise entscheiden […] und was in bestimmten Situationen zu tun ist, ist eine kontingente Angelegenheit. In solchen Fällen stehen dem Urteil der Vernunft daher Alternativen offen und es ist nicht auf irgendeinen Weg festgelegt. Daher hat der Mensch eine freie Wahlentscheidung aufgrund der Tatsache, dass er vernunftbegabt ist.“ (ST 1a 83. 1c)

Wenn wir eine praktische Schlussfolgerung betrachten – eine Überlegung zu dem, was zu tun ist –, finden wir, wo uns die Analogie mit theoretischen Schlussfolgerungen Notwendigkeiten erwarten lässt, lediglich kontingente und anfechtbare Verbindungen zwischen den einzelnen Schritten. Thomas hielt diese Kontingenz für die Grundlage der menschlichen Freiheit. Thomas verwendet normalerweise keinen lateinischen Ausdruck, der unserer Rede von der „Freiheit des Willens“ entspricht. Stattdessen redet er vom „Willen“ (voluntas) und von der „Wahlfreiheit“ (liberum arbitrium). Das Wählen ist Ausdruck sowohl des Intellekts als auch des Willens: Eine Wahl ist eine Ausübung des Intellekts, da sie das Ergebnis einer Überlegung ist, und sie ist eine Ausübung des Willens, da sie eine Form des Strebens ist. Im Anschluss an Aristoteles sagt Thomas, dass sie sowohl eine appetitive Intelligenz als auch ein vernünftiges Streben ist (ST 1a 83c). Intellekt und Wille sind die beiden großen Kräfte der vernünftigen Seele, der dem Menschen eigentümlichen Seele. Die vernünftige Seele ist nicht nur die Seele allein des Menschen, sondern sie ist auch seine einzige Seele. Zeitgenossen, die annahmen, der Mensch habe außerdem eine tierische und eine vegetative Seele sowie eine Form der Körperlichkeit, hielt Thomas entgegen, dass die rationale Seele die einzige sub-

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stanzielle Form eines menschlichen Wesens sei. Andernfalls, argumentierte Thomas, wenn der Mensch über mehrere Formen verfügte, würde man nicht sagen können, es sei ein und derselbe Mensch, der denkt, liebt, sieht, hört, trinkt und schläft und ein bestimmtes Gewicht und eine bestimmte Größe hat. Thomas glaubte, dass die Seele des Menschen immateriell und unsterblich ist. Das Argument, dass die Seele eine reine, mit keiner Materie vermischte Form ist, lautet folgendermaßen: „Das Prinzip der Funktion des Intellekts, das wir die menschliche Seele nennen, muss ein unkörperliches und für sich selbst bestehendes Prinzip sein. Denn es ist offensichtlich, dass der Mensch durch seinen Intellekt das Wesen aller körperlichen Dinge erkennen kann. Um jedoch Dinge erkennen zu können, darf der Erkennende nichts von ihrer Natur in seiner eigenen Natur haben. Wenn es so wäre, würde dies verhindern, dass er andere Dinge erkennt. Wie auch die Zunge eines Kranken, die von einem galligen und bitteren Belag befallen ist, nichts Süßes schmecken kann, weil ihr alles bitter schmeckt. Hätte das Prinzip des Intellekts daher die Natur irgendeines körperlichen Dinges in sich, könnte es nicht alle körperlichen Dinge erkennen.“ (ST 1a 75. 2)

Die These von der Immaterialität der Seele geht Hand in Hand mit der These von der intentionalen Existenz des Objekts der Gedanken. „Die primäre Materie empfängt einzelne Formen, der Intellekt empfängt reine Formen“, sagt Thomas. Das heißt: Die Form der großen Pyramide ist ihre Form, und nicht die Form irgendeines anderen pyramidenartigen Objekts. Die Idee einer Pyramide in meinem Geist ist lediglich die Idee einer Pyramide überhaupt, und nicht die Idee irgendeiner besonderen Pyramide. Wenn der Geist jedoch irgendwelche Materie enthielte, würde die Idee eine einzelne, und sie wäre nicht mehr allgemein (ST 1a 75. 5c). Wenn dieses Argument gültig ist, beweist es, dass die Seele keine Materie enthält. Doch bedeutet das, dass sie getrennt von der Materie – zum Beispiel vom Körper der Person, deren Seele sie ist – existieren kann? Thomas glaubt, diese Frage bejahen zu können. Das Denken des Intellekts ist eine Aktivität, an der der Körper nicht beteiligt ist. Doch nichts kann von sich aus handeln, wenn es nicht für sich existiert, denn nur was tatsächlich existiert, kann handeln, und wie etwas handelt, hängt davon ab, wie es existiert. „Daher sagen wir nicht, dass Wärme, sondern dass ein warmer Körper erwärmt. Die menschliche Seele, die als Intellekt oder Geist bezeichnet wird, ist daher etwas Unkörperliches und für sich selbst Bestehendes.“ (ST 1a 75. 2c) Ein Problem dieses Arguments besteht darin, dass Thomas an anderer Stelle darauf besteht, dass die Behauptung, dass die Seele oder der Geist denkt, ebenso falsch ist wie die Behauptung, dass Wärme erwärmt. Aristoteles hatte gesagt: „Statt zu sagen, die Seele empfindet Mitleid, lernt oder denkt, wäre es besser, man sagte, der Mensch tut dies mit der Seele.“ Thomas nimmt dies auf, wenn er feststellt: „Man kann sagen, dass die Seele denkt, ebenso wie die Augen sehen, doch ist es besser zu sagen, der Mensch denke mit der Seele.“ Wenn wir diesen Vergleich ernst nehmen, müssen wir

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sagen, dass ebenso wie ein Auge außerhalb des Körpers kein Auge im eigentlichen Sinne mehr ist, eine von ihrem Körper getrennte Seele keine wirkliche Seele mehr ist. Dieses Argument wird von Thomas zu einem gewissen Grad akzeptiert, doch er behandelt es nicht als reductio ad absurdum. Er stimmt der Behauptung zu, dass die körperlose Seele einer Person nicht dasselbe ist wie die Person, deren Seele sie ist. Paulus schrieb: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen“ (1 Kor. 15: 19). Diesen Satz kommentierend schrieb Thomas: „Ein Mensch wünscht natürlicherweise seine Erlösung, doch die Seele, da sie ein Teil des menschlichen Körpers ist, ist kein vollständiger Mensch, und ich bin nicht meine Seele. Selbst wenn also eine Seele Erlösung in einem anderen Leben findet, so bin das nicht ich, noch ist es irgendein anderer Mensch.“ Ob Thomas nun angenommen hat, dass der Glaube an die Möglichkeit körperloser Seelen widerspruchsfrei ist oder nicht: Es ist erstaunlich, dass er sich weigert, solch eine Seele, selbst wenn sie seliggesprochen ist, mit irgendeinem Selbst oder Ego zu identifizieren. Im Gegensatz zu vielen Theologen vor und vielen Philosophen nach ihm weigert er sich, einen einzelnen Menschen mit seiner Seele zu identifizieren.

Scotus gegen Thomas Entsprechend den Unterschieden ihrer metaphysischen Systeme war Duns Scotus’ Philosophie des Geistes von derjenigen von Thomas von Aquin grundverschieden. Thomas glaubte, dass es keine rein intellektuelle Erkenntnis von Einzeldingen geben kann, da die Individuation durch Materie erfolgt, und dass das Denken des Intellekts frei von Materie ist. Doch für Scotus gibt es ein individuelles Element, die haecceitas, das Gegenstand der Erkenntnis ist: Es ist nicht wirklich eine Form, doch einer Form ähnlich genug, um im Intellekt vorhanden sein zu können. Und da jedes Ding in sich ein formales, erkennbares Prinzip enthält, fällt der Grund weg, warum Thomas einen artspezifischen aktiven Intellekt des Menschen benötigte. Anders als Universalien entstehen einzelne Dinge und vergehen wieder. Wenn zu den angemessenen Objekten des Intellekts nicht nur Universalien, sondern auch individuelle Elemente wie eine haecceitas gehören, dann besteht die Möglichkeit, dass sich ein solches Objekt im Intellekt befindet, ohne in der Wirklichkeit zu existieren. Die Möglichkeit, dass sich ein Objekt im Intellekt, jedoch nicht in der Wirklichkeit befindet, war diejenige Möglichkeit, die Thomas’ Theorie der Intentionalität sorgfältig vermieden hatte. Eine individuelle Form kann für Scotus im Geist existieren, ohne dass das entsprechende Einzelding real existiert. Daher kann es sich bei der im Geist gegenwärtigen individuellen Form nur um eine Darstellung des Objekts handeln, dessen Erkenntnis sie verkörpert, die Form kann nicht mit ihm identisch sein. Daher wird auf diese Weise auf der höchsten Stufe der intellektuellen Erkenntnis ein Fenster geöffnet, durch das erkenntnistheoretische Probleme eintreten können, mit denen wir seit Descartes vertraut sind.

Scotus gegen Thomas

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Die Unterschiede zwischen Thomas und Scotus in Bezug auf den Intellekt kommen weniger dadurch zustande, dass Scotus von Thomas vertretene Positionen verwirft. Es ist eher so, dass man durch das Betrachten der scotistischen Position dazu veranlasst wird, über ihre tief gehende Inkompatibilität mit der thomistischen Anthropologie zu reflektieren. Wenden wir uns jedoch vom Intellekt dem Willen zu, verhält die Sache sich völlig anders. In diesem Bereich lehnt Scotus die ihm vorausgehende Tradition bewusst ab. Er ist ein Innovator und er weiß es. Er ist davon überzeugt, dass Thomas das Wesen der menschlichen Freiheit und die Beziehung zwischen Intellekt und Wille falsch dargestellt hat. Für Thomas ist der Grund der menschlichen Freiheit die Abhängigkeit des Willens vom praktischen Vernunftgebrauch. Für Scotus ist der Wille autonom und souverän. Er stellt die Frage, ob irgendetwas anderes als der Wille den Willensakt im Willen bewirkt. Seine Antwort lautet: Nichts anderes als der Wille ist die vollständige Ursache des Wollens. Was kontingent ist, muss aus einer undeterminierten Ursache stammen, bei der es sich nur um den Willen selbst handeln kann. Er argumentiert gegen eine Position, die er „einem älteren Doktor“ zuschreibt, nach der die Unbestimmtheit des Willens das Ergebnis einer Unbestimmtheit aufseiten des Intellekts ist. „Du sagst: Diese Unbestimmtheit liege aufseiten des Intellekts, indem er das Objekt dem Willen so darstellt, wie es sein wird oder nicht sein wird. Im Gegenteil: Der Intellekt kann den Willen nicht gleichgültig zum einen oder anderen von zwei sich widersprechenden Ausgängen bestimmen (zum Beispiel dass dieses sein wird oder nicht sein wird), außer dadurch, dass er den einen beweist und bezüglich des anderen einen Trugschluss oder einen sophistischen Syllogismus aufstellt, sodass er beim Ziehen der Schlussfolgerung getäuscht wird. Daher würde, wenn diese Kontingenz, gemäß der dieses sein oder nicht sein kann, aus dem Intellekt stammte, der auf diese Weise durch gegenteilige Schlussfolgerungen etwas bestimmte, durch den Willen Gottes oder durch Gott nichts kontingenterweise geschehen, denn er konstruiert keine Trugschlüsse und täuscht sich nicht. Doch dies ist falsch.“ (Oxon. 2. 25)

Scotus’ Kritik an der Auffassung, dass der Indeterminismus des Willens aus einem Indeterminismus im Intellekt entspringt, basiert auf einem Missverständnis der von ihm angegriffenen Theorie. Indem der Intellekt das Schlussvermögen bestimmt, sagt er nicht: „Dies wird sein“ oder „Dies wird nicht sein“, sondern stattdessen: „Dies soll sein“ oder „Dies soll nicht sein“, „Dies ist gut“ oder „Dies ist nicht gut“. Wenn es um ein nicht-notwendiges Mittel zu einem Zweck geht, kann der Intellekt, ohne einen Irrtum, beides bestimmen: dass etwas gut ist und dass sein Gegenteil gut ist. Außerdem läuft Scotus’ Theorie, indem sie den Willen zu seiner eigenen Ursache macht, Gefahr, in einen unendlichen Regress freier Wahlentscheidungen zu führen, wobei die Freiheit einer Entscheidung von einer früheren freien Entscheidung abhängt, deren Freiheit von einer noch früheren abhängt usw. ins Unendliche. Scotus war sich dieser Gefahr durchaus bewusst, und als Gegenstück zu der von

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ihm angegriffenen Position entwickelt er seine eigene detaillierte Analyse der Struktur der menschlichen Freiheit, und zwar auf eine Weise, von der er glaubte, sie biete die Möglichkeit, einen infiniten Regress zu vermeiden. Er behauptet, dass in jedem Fall einer freien Handlung Gegenteiliges möglich sein müsse. Eine solche Möglichkeit ist offensichtlich: Es ist das Vermögen des Willens zu wollen, nachdem er nicht gewollt hat, oder seine Fähigkeit, eine Reihe gegensätzlicher Handlungen auszuführen. Natürlich kann der Wille nicht über die Fähigkeit verfügen, zur selben Zeit etwas zu wollen und nicht zu wollen – das wäre Unsinn. Doch während A zum Zeitpunkt t X will, hat A die Fähigkeit, zum Zeitpunkt t + 1 X nicht zu wollen. Scotus behauptet, dass es neben dieser offensichtlichen Fähigkeit noch eine andere, nicht-offensichtliche Fähigkeit gibt, bei der es nicht um eine zeitliche Abfolge geht (alia, non ita manifesta, absque omni successione). Er veranschaulicht diese Fähigkeit mit einem Gedankenexperiment: Er stellt sich einen geschaffenen Willen vor, der nur für einen einzigen Augenblick existiert. In diesem Augenblick könnte er nur eine Willensentscheidung treffen, doch selbst diese Entscheidung wäre nicht notwendig, sondern frei. Obwohl das Fehlen des Eingebundenseins in ein zeitliches Erfolgen, das für Freiheit charakteristisch ist, am Beispiel des nur für einen Augenblick existierenden Willens besonders deutlich wird, ist es bei jeder freien Handlung anzutreffen. Dies bedeutet: Während A zum Zeitpunkt t X will, hat A nicht nur die Fähigkeit, X zum Zeitpunkt t + 1 nicht zu wollen, sondern A verfügt außerdem über die Fähigkeit, X zum Zeitpunkt t, genau in diesem Moment, nicht zu wollen. Von dieser Fähigkeit wird natürlich nicht Gebrauch gemacht, doch sie ist dennoch vorhanden. Sie muss von bloß logischer Möglichkeit – der Tatsache, dass As Nichtwollen von X in genau diesem Moment keinen Widerspruch beinhaltet – unterschieden werden. Sie ist mehr als das: eine wirkliche aktive Möglichkeit. Diese Möglichkeit steht für Scotus im Zentrum der menschlichen Freiheit. 15 Bei seiner Verteidigung der Widerspruchsfreiheit des Begriffs dieser nicht-verwirklichten Möglichkeit macht Scotus von einer logischen Unterscheidung Gebrauch, die sich bis zu Abelard zurückverfolgen lässt. Betrachten wir den Satz: „Dieser Wille, der X zur Zeit t will, kann X zur Zeit t nicht wollen.“ Dies kann auf zwei Weisen verstanden werden. Versteht man ihn auf eine Weise („in einem zusammengesetzten Sinn“), bedeutet er: „Dieser Wille, der X zur Zeit t will, will X zur Zeit t nicht“ ist möglicherweise wahr. So verstanden ist der Satz falsch, ja sogar notwendigerweise falsch. Versteht man ihn auf eine andere Weise („in einem gegliederten Sinn“), bedeutet er, dass es möglich ist, dass das Nichtwollen von X zur Zeit t in diesem Willen, der zur Zeit t tatsächlich X will, inhäriert haben könnte. Scotus behauptet, dass der Satz, versteht man ihn in diesem Sinne, durchaus wahr sein kann (Ord. 4. 417 f.).

15 Vgl. die Erörterung der synchronen Kontingenz in Kapitel 6.

Ockham gegen Scotus

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Ockham gegen Scotus Ockham verwarf die von Scotus eingeführte nicht-realisierte Möglichkeit. Es handele sich dabei seiner Meinung nach um keine echte Möglichkeit, da sie ohne Widerspruch nicht realisiert werden konnte. Die Möglichkeit, zum Zeitpunkt t nicht zu sitzen, sollte nicht als eine Möglichkeit angesehen werden, die zum Zeitpunkt t existiert (wenn ich tatsächlich sitze), sondern zum Zeitpunkt t–1, dem letzten Moment, zu dem es mir noch möglich war, zum Zeitpunkt t zu stehen. Wie Ockham finde ich Scotus’ verborgene Fähigkeiten unbegreiflich. Doch Ockhams Ablehnung fehlt es an Ernsthaftigkeit. Scotus’ Fehler hatte darin bestanden, ein Vermögen als ebenso datierbares Ereignis anzusehen wie der Gebrauch einer Fähigkeit. Ockham akzeptiert den Begriff eines in einem Augenblick bestehenden Vermögens und verlegt lediglich die zeitliche Position des Vermögens nach vorn. Doch der Besitz eines Vermögens ist ein Zustand, es ist kein momentanes Ereignis wie eine Handlung. Es mag wahr sein, dass ich, zum Zeitpunkt t, die Fähigkeit habe, X zu tun, ohne dass daraus folgt, dass ich die Fähigkeit habe, X-zum-Zeitpunkt-t-zu-tun. Es kann natürlich zutreffen, dass ich zum Zeitpunkt t X tun kann, doch um eine solche Aussage zu analysieren, müssen wir zwischen Fähigkeit und Gelegenheit unterscheiden. Damit es wahr sein kann, dass ich jetzt fähig bin zu schwimmen, ist es nicht nur erforderlich, dass ich zum jetzigen Zeitpunkt die Fähigkeit zu schwimmen besitze (d. h., dass ich weiß, wie man schwimmt), sondern ich muss auch über die Gelegenheit zu schwimmen verfügen (d. h., es muss eine ausreichend große Wassermenge vorhanden sein). Weder Scotus noch Ockham nehmen die entsprechende Unterscheidung vor, und ihre zeitlich qualifizierten Vermögen sind eine Mischung der beiden Begriffe Vermögen und Gelegenheit. Eine Gelegenheit ist jedoch keine meiner verborgenen Kräfte: Es ist etwas, das mit den Zuständen und Vermögen anderer Dinge und mit deren Vereinbarkeit mit der Ausübung meiner Fähigkeiten zu tun hat. 16 Trotz ihrer gegensätzlichen Auffassungen darüber, worin genau das Wesen der Freiheit besteht, heben Ockham und Scotus beide die Autonomie des Willens hervor. Die Tätigkeit des Willens wird weder durch das natürliche Verlangen nach Glück, durch irgendwelche Befehle des Intellekts, noch durch irgendeine Gewohnheit im sinnlichen Streben bestimmt: Der Wille behält immer die Freiheit, sich zwischen Gegensätzen zu entscheiden. Wenn es um die kognitive Seite der Seele geht, schreibt Ockham regelmäßig so, als ob er die drei Gruppen der in der aristotelischen Philosophie üblichen Vermögen annimmt: den äußeren Sinn (die vertrauten fünf Sinne), den inneren Sinn (die Einbildungskraft) und den Intellekt. Wenn er den Intellekt erörtert, wird allerdings über16 Vgl. hierzu Kapitel 8 meines Buches A. Kenny, Will, Freedom and Power (Oxford: Blackwell, 1975).

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haupt nicht deutlich, dass er über dasselbe Vermögen spricht, das Aristoteles und Thomas von Aquin beschrieben haben. Für Thomas bestand der Unterschied zwischen dem Intellekt und den Sinnen darin, dass das Allgemeine der Gegenstand des Intellekts und das Besondere der Gegenstand der Sinne war. Doch für Ockham können das Besondere und das Allgemeine durch die Sinne und den Intellekt direkt erkannt werden. Die Erkenntnis eines bestimmten Pferdes durch den Geist des Menschen folgt nach Thomas auf den Erwerb der allgemeinen Idee (species) des Pferdes, die durch die kreative Aktivität einer dem Menschen eigentümlichen Fähigkeit, des aktiven Intellekts, aus den Erfahrungen der Sinne geschaffen wird. Nachdem diese Idee erworben wurde, kann sie nur durch eine reflektierende Tätigkeit des Intellekts, der sich dazu auf die sinnliche Erfahrung zurückbezieht, angewendet werden. Ockham hält all dies für überflüssig. „Wir können davon ausgehen, dass der Intellekt durch denselben Vorgang zur Kenntnis eines Einzeldinges gebracht werden kann, durch den er zur Kenntnis eines Allgemeinbegriffs gelangt. Wenn er zur Erkenntnis des Allgemeinbegriffs allein durch den aktiven Intellekt gebracht wird, dann kann der aktive Intellekt für sich – so können wir annehmen – den Intellekt ebenso einfach zur Erkenntnis eines Einzeldinges bringen. Und wie er durch die erkennbare Species oder das Vorstellungsbild dazu gebracht werden kann, an einen Allgemeinbegriff statt an einen anderen zu denken, so können wir ebenfalls annehmen, dass er durch die erkennbare Species dazu gebracht werden kann, an dieses Einzelding, und nicht an ein anderes zu denken. Auf welche Weise der Geist nach dem Erwerb des allgemeinen Begriffs auch immer dazu gebracht werden kann, an ein Einzelding statt an ein anderes zu denken (obwohl die Erkenntnis des Allgemeinbegriffs alle Einzeldinge auf gleiche Weise betrifft), auf eben dieselbe Weise kann er, selbst vor dem Erwerb des allgemeinen Begriffs, dazu gebracht werden, an dieses Einzelding statt an ein anderes zu denken.“ (OTh. 1. 493)

Wenn Ockham die Behauptung aufstellt, dass der Intellekt das Einzelne erkennen kann, so gründet er sie nicht auf die Existenz eines formalen Elementes der Individuation, wie es die scotistische haecceitas darstellt. Er verwarf ein derartiges Prinzip und bestritt seine Notwendigkeit. Was immer in der realen Welt existiert, ist ein Einzelding und bedarf für seine Individuation keines Prinzips. Sein Argument in der zitierten Textpassage besagt Folgendes: Wie immer man den Erwerb und die Anwendung der Erkenntnis des Allgemeinen philosophisch auch erklären mag: Genau die gleiche Erklärung kann für den Erwerb und die Anwendung der Erkenntnis des Besonderen gegeben werden. Ist dies der Fall, so verstößt man gegen das Prinzip von Ockhams Rasiermesser, wenn man zwei verschiedene Vermögen mit genau derselben Funktion postuliert. Tatsächlich unterscheidet Ockham zwischen den Sinnen und dem Intellekt, doch wann immer er die Funktion des Intellekts beschreibt, scheint er eine bloße Verdop-

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pelung entweder des inneren oder des äußeren Sinnes zu sein. Genau dasselbe Objekt, das wir mit den Sinnen erfahren, wird durch den Intellekt gemäß derselben Beschreibung intuitiv erfasst. Das Erfassen des sinnlich wahrgenommenen Gegenstandes durch den Intellekt erfolgt parallel zur Darstellung der sinnlichen Wahrnehmung des Objekts durch die Einbildungskraft (OTh. 1. 494). Einen weißen Gegenstand sehen, sich einen weißen Gegenstand vorstellen und an einen weißen Gegenstand denken, sind für Ockham geistige Vollzüge ähnlicher Art. Die eine Eigenschaft, die für den Intellekt spezifisch zu sein scheint, ist die Urteilshandlung, dass es einen weißen Gegenstand gibt. Dieses Urteil ist weder eine Leistung der Sinne, noch ein Akt des Willens, sondern beruht allein auf der Tätigkeit des Intellekts (OTh. 6. 85 f.). Ebenso wenig, wie ihn die traditionellen Argumente für die Existenz Gottes überzeugten, war Ockham von den Argumenten der mittelalterlichen Aristoteliker für die Unsterblichkeit der Seele überzeugt. Wenn die Seele eine immaterielle und unzerstörbare Form ist, sagte er, dann „kann offensichtlich weder durch Argumente noch durch Erfahrung gewusst werden, dass es eine derartige Form in uns gibt. Ebenso wenig kann gewusst werden, dass das Denken in uns zu einer solchen Substanz gehört, noch dass solch eine Seele eine Form des Körpers ist. Was Aristoteles hierüber dachte, interessiert mich nicht, da er stets sehr zögerlich darüber zu sprechen scheint. Diese drei Dinge sind lediglich Gegenstände des Glaubens.“ (OTh. 9. 63 f.)

Pomponazzi über die Seele Als das Mittelalter zu Ende ging, begegnete man den philosophischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele mehr und mehr mit Skepsis. Die Argumente für und gegen die Unsterblichkeit des einzelnen Menschen sind in Pietro Pomponazzis Pamphlet von 1516, Über die Unsterblichkeit der Seele, einander gegenübergestellt. Pomponazzi erwägt zuerst die Auffassung, dass es eine einzige, unsterbliche intellektuelle Seele des Menschen gibt, während jeder einzelne Mensch nur eine sterbliche Seele hat. Er schreibt diese Meinung Averroes und Themistios zu und sagt uns, dass sie „zu unserer Zeit weit verbreitet ist und nach der sicheren Überzeugung fast aller diejenige des Aristoteles war“. Tatsächlich ist sie nach seinem Urteil falsch, unverständlich, monströs und Aristoteles ziemlich fremd. Um zu beweisen, dass die Meinung falsch ist, verweist Pomponazzi den Leser auf Argumente, die Thomas von Aquin in seiner Schrift De Unitate Intellectus verwendet. Um zu zeigen, dass sie nicht aristotelisch ist, beruft er sich auf die Lehre von De Anima, dass der Intellekt, um tätig sein zu können, immer ein Vorstellungsbild benötigt, was etwas Materielles ist. Unsere intellektuelle Seele ist die Tätigkeit eines physi-

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Eine Darstellung des fünften Laterankonzils, das Pompanazzis Lehre von der Unsterblichkeit der Seele verurteilte.

Pomponazzi über die Seele

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schen, organischen Körpers. Es mag Formen von Intelligenzen geben, die zu ihrer Tätigkeit keines Organs bedürfen, doch der menschliche Intellekt gehört nicht dazu. Ein Körper kann jedoch als Subjekt oder als Objekt fungieren. Unsere Sinne sind auf beide Weisen auf Körper angewiesen: Ihre Organe sind körperlich und ihre Gegenstände ebenfalls. Der Intellekt benötigt als Subjekte allerdings keinen Körper und er kann Tätigkeiten ausführen (zum Beispiel über sich selbst reflektieren), zu denen kein körperliches Organ fähig ist: Der Geist kann an sich selbst denken, das Auge sich jedoch nicht selbst sehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Intellekt völlig unabhängig vom Körper tätig sein kann. Um eine andere Meinung zu widerlegen – die platonische Ansicht, dass jeder Mensch zwar eine unsterbliche Einzelseele hat, diese Seele jedoch mit dem Körper nur so verbunden ist wie ein Beweger mit dem Bewegten (etwa wie ein Ochse mit einem Pflug) –, wird erneut Thomas von Aquin in Anspruch genommen. Wie Thomas beruft sich Pomponazzi auf die Erfahrung: „Ich, der ich diese Worte schreibe, werde von vielen körperlichen Schmerzen geplagt, die die Funktion der empfindenden Seele sind; und dasselbe Ich, das sich quält, bedenkt ihre medizinischen Ursachen, um diese Schmerzen zu beseitigen, was allein durch den Intellekt möglich ist. Wenn aber das Wesen, durch das ich fühle, von demjenigen verschieden wäre, durch das ich denke: Wie könnte es möglich sein, dass ich, der ich fühle, mit dem Ich, das denkt, identisch bin?“ (De imm. an. VI) 17

Wir müssen daraus schließen, dass die intellektuelle Seele und die empfindende Seele im Menschen identisch sind. Hierin ist sich Pompanazzi mit Thomas einig: Doch an diesem Punkt trennen sich ihre Wege. Thomas, sagt er, glaubte, dass diese einzelne Seele wahrhaft unsterblich ist, und sterblich nur in gewisser Hinsicht (secundum quid). Doch er, Pomponazzi, werde es nun unternehmen zu zeigen, dass die Seele wahrhaft sterblich und unsterblich nur in gewisser Hinsicht ist. Er spricht von Thomas weiterhin mit großem Respekt. „Da die Autorität eines so gelehrten Doktors mir viel bedeutet, nicht nur in Fragen der Theologie, sondern auch in der Interpretation von Aristoteles, würde ich es nicht wagen, irgendetwas gegen ihn zu behaupten: Was ich sage, bringe ich lediglich in Form von Zweifeln vor.“ (De imm. an. VIII) 18 Der Mensch wird von Natur aus stärker durch die Sinne als durch den Verstand bestimmt, ist eher sterblich als unsterblich. Unsere vegetativen und sinnlichen Vermögen sind umfassender als unsere verstandesmäßigen Kräfte, und wesentlich mehr Menschen widmen sich der Ausübung dieser Kräfte als der Kultivierung des Intel-

17 Nach E. Cassirer et al. (eds.), The Renaissance Philosophy of Man (Chicago: University of Chicago Press, 1959), 298. 18 Ebd., 302.

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lekts. Die große Mehrzahl der Menschen sind weniger rationale als vielmehr irrationale Tiere. Schwerwiegender ist das Argument, dass die Seele nur trennbar sein kann, wenn sie über eine vom Körper unabhängige Tätigkeit verfügt. Doch sowohl Aristoteles als auch Thomas von Aquin behaupten, dass jegliche Funktion des Denkens auf Vorstellungsbilder angewiesen ist: Daher benötigt die Seele einen Körper, wenn nicht als Subjekt, dann zumindest als Objekt. Seelen können nur durch die Materie der Körper individuiert werden, deren Form sie sind. Es geht nicht an, wenn man behauptet, dass von ihren Körpern getrennte Seelen durch eine bleibende Fähigkeit, Form eines bestimmten Körpers zu sein, individuiert werden. Glaubte Aristoteles an Unsterblichkeit? In der Ethik scheint er zu behaupten, dass es nach dem Tod keine Glückseligkeit gibt, und wenn er sagt, dass es möglich ist, das Unmögliche zu wünschen, führt er als Beispiel für einen solchen Wunsch den Wunsch nach Unsterblichkeit an. Thomas fragt, warum Aristoteles, wenn er glaubte, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, wollen konnte, dass Menschen sterben, statt dass sie auf verwerfliche Weise leben. Doch die einzige unsterbliche Intelligenz, die Aristoteles anzuerkennen scheint, ist eine Intelligenz, die vor dem einzelnen Menschen existiert und seinen Tod überlebt. Pomponazzi sagt uns jedoch, dass er mit Aristoteles keinen Streit wünscht: Was sei ein Floh gegen einen Elefanten? (De imm. an. VIII und X) 19 Die aristotelische Schlussfolgerung, die Pomponazzi schließlich akzeptierte, ist folgende: Die menschliche Seele ist sowohl verständig als auch sinnlich, und streng genommen ist sie sterblich, unsterblich nur secundum quid („in gewisser Hinsicht“). In all seinen Funktionen ist der menschliche Intellekt die Wirklichkeit eines organischen Körpers, und er hängt von diesem Körper als seinem Objekt ständig ab. Die menschliche Seele ist dasjenige, was einen Menschen zu einem Einzelwesen macht, sie ist jedoch selbst kein subsistentes Individuum (c. 9, 321). Diese Position „stimmt mit der Vernunft und der Erfahrung überein, sie behauptet nichts Mystisches und nichts, was vom Glauben abhängt“. Der Intellekt, der Aristoteles zufolge den Tod überlebt, ist kein menschlicher Intellekt. Wenn wir die Seele unsterblich nennen, ist es so, als wenn wir Grau als Weiß bezeichnen, wenn es mit einem schwarzen Hintergrund verglichen wird. Die Unsterblichkeit der Seele, so endet Pomponazzi seine Ausführungen, ist eine Frage wie diejenige nach der Ewigkeit der Welt. Die Philosophie kann sie weder definitiv beweisen noch bestreiten. Ebenso unfähig ist sie die Frage zu beantworten, ob die Seele sterblich ist oder nicht. Sein letztes Wort – sei es aufrichtig oder nicht – ist dies: Wir müssen zweifelsfrei behaupten, dass die Seele unsterblich ist. Doch dies ist ein Akt des Glaubens, keine philosophische Schlussfolgerung.

19 Nach E. Cassirer et al. (eds.), The Renaissance Philosophy of Man (Chicago: University of Chicago Press, 1959), 313 und 334.

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Ethik

Augustinus über das glückliche Leben Wie die meisten Moralisten der Antike gründet auch Augustinus seine ethischen Lehren auf die Voraussetzung, dass jeder Mensch glücklich sein will und dass es die Aufgabe der Philosophie ist, das höchste Gut zu definieren und zu erklären, wie es erreicht werden kann. In seinen Bekenntnissen sagt Augustinus: Wenn man zwei Personen fragt, ob sie in die Armee eintreten wollen, mag der eine diese Frage bejahen und der andere sie verneinen. Fragte man sie jedoch, ob sie glücklich sein wollen, würden sie diese Frage beide ohne zu zögern bejahen. Der einzige Grund, warum sie die erste Frage unterschiedlich beantworten, besteht darin, dass der eine glaubt, dass ihn dies glücklich machen wird, während der andere es nicht glaubt (Conf. X. 21. 31). In De Trinitate (DT 13. 3. 6) erzählt Augustinus die Geschichte von einem Schauspieler, der seinen Zuhörern versprach, ihnen bei seinem nächsten Auftritt zu sagen, woran ein jeder von ihnen denkt. Als sie wiederkamen, sagte er ihnen: „Jeder von euch möchte billig einkaufen und teuer verkaufen.“ Dies sei zwar klug gewesen, meint Augustinus, aber nicht wirklich zutreffend – und er führt eine Reihe von möglichen Gegenbeispielen an. Hätte der Schauspieler jedoch gesagt: „Jeder von euch will glücklich sein, und keiner will unglücklich sein“, hätte er den Nagel auf den Kopf getroffen. Der Teil der Philosophie, den die Griechen als „Ethik“ und die Lateiner als „Moralphilosophie“ bezeichnen, ist nach Augustinus eine Untersuchung des höchsten Guts. Dies ist das Gut, das den Maßstab für all unser Handeln abgibt. Es wird um seiner selbst willen erstrebt, nicht als Mittel zu einem Zweck. Wenn wir es erreicht haben, fehlt uns nichts, was zum Glück notwendig ist (DCD VIII. 8). Bis hierher sagt Augustinus nichts, was nicht bereits von klassischen Moralisten gesagt worden wäre, und er schließt sich vorhandenen Beispielen auch darin an, dass er Reichtümer, Ehre und sinnliche Vergnügungen als Kandidaten für das höchste Gut verwirft. Neben anderen lehrten auch die Stoiker einen ähnlichen Verzicht und sie behaupteten, das Glück liege in den Tugenden des Geistes. Sie glichen sich jedoch sowohl darin, dass sie annahmen, Tugend allein reiche für das Glück aus, als auch darin, dass sie meinten, die Tugend könne ohne Hilfe allein durch menschliche Anstrengung erreicht werden. Augustinus geht über alle seine heidnischen Vorgänger einen Schritt hinaus, indem er behauptet, dass wahres Glück nur durch die Schau Gottes in einem Leben nach dem Tode möglich sei. Zunächst behauptete er, dass jeder, der glücklich sein will, auch wollen muss, dass er unsterblich ist. Wie können wir meinen, dass ein glückliches Leben im Tod an ein

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Ende kommen soll? Wenn ein Mensch sein Leben nicht verlieren will: Wie sollte er mit dieser Aussicht glücklich sein können? Wenn sein Leben andererseits etwas ist, von dem er sich zu trennen bereit ist: Wie kann es wahrhaft glücklich gewesen sein? Doch wenn die Unsterblichkeit für das Glück auch notwendig ist, reicht sie nicht dazu aus. Heidnische Philosophen, die behaupteten, die Unsterblichkeit der Seele bewiesen zu haben, stellten auch einen erbärmlichen Kreislauf von Wiedergeburten in Aussicht. Allein der christliche Glaube verspricht dem ganzen Menschen ein ewiges Glück, das Seele und Körper umfasst (DT 13. 8. 11–9. 12). „Da also das höchste Gut des Gottesstaates der ewige und vollkommene Friede ist, nicht ein bloßer Durchgangsfriede für Sterbliche mit Geburt und Tod als Grenzpunkte, sondern ein Beharrungsfriede für Unsterbliche unter Ausschluß jeder Widerwärtigkeit, so ist doch unleugbar das jenseitige Leben vollkommen glückselig, und im Vergleich mit ihm das gegenwärtige Leben, und wäre es auch mit Gütern des Geistes und des Leibes und des äußeren Besitzes im vollsten Maße ausgestattet, für überaus unselig zu erachten. Immerhin jedoch kann man einen, der das gegenwärtige Leben in der Weise besitzt, daß er dessen Gebrauch in Beziehung setzt zu dem heißgeliebten und zuversichtlich erhofften jenseitigen als dem Endziel, auch in diesem Leben schon mit einiger Berechtigung glücklich nennen, freilich mehr durch Jenseitshoffnung als in der Diesseitswirklichkeit.“ (DCD XIX. 20)

Tugend im gegenwärtigen Leben kann daher nicht mit Glück gleichgesetzt werden: Sie ist lediglich ein notwendiges Mittel zu einem Ziel, das letztlich nur in einer anderen Welt erreichbar ist. Außerdem sind wir ohne Gnade, d. h. ohne besonderen göttlichen Beistand, der nur den für die Erlösung durch Christus Auserwählten zuteil wird, nicht in der Lage, Laster zu vermeiden, wie sehr wir uns auch darum bemühen mögen. Die Tugenden der großen heidnischen Helden, die im Gottesstaat hin und wieder gepriesen werden, waren in Wirklichkeit nur glänzende Laster, die ihren Lohn in Roms glorreicher Geschichte empfingen, jedoch auf die einzig wahre Glückseligkeit des Himmels kein Anrecht verschafften. Viele klassische Moraltheoretiker vertraten die Ansicht, dass die moralischen Tugenden untrennbar sind: Wer immer eine von ihnen besitzt, verfügt auch über alle anderen, und wem eine Tugend fehlt, dem fehlen auch alle anderen. Als Konsequenz waren einige Moralphilosophen der Auffassung, es gebe keine Grade von Tugend und Laster und dass alle Sünden gleich schwerwiegend seien. Augustinus verwirft diese Ansicht. 1 „Eine Frau […], die ihrem Mann treu bleibt, hat Keuschheit, wenn sie dies aufgrund des Gebotes und Versprechens Gottes tut und vor allem ihm treu ist. Ich weiß nicht, wie ich sagen könnte, solche Keuschheit sei keine oder nur eine unbedeutende Tugend. Ebenso 1

Vgl. B. Kent, „Augustine’s Ethics“, in CCA, 226–9.

Augustinus über Lügen, Mord und Sex

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im Falle des Mannes, der seiner Frau treu ist. Doch es gibt viele solcher Menschen, von denen ich annehmen würde, dass keiner von ihnen ohne Sünde ist, und solche Sünde, welche es auch sei, kommt gewiss vom Laster. Daher ist die eheliche Keuschheit frommer Männer und Frauen zweifellos eine Tugend – denn sie ist weder nichts noch ein Laster, und doch hat sie nicht alle Tugenden bei sich.“ (Ep. 167. 3. 10)

Wir sind alle Sünder, selbst die frommsten Christen unter uns. Jedoch ist nicht alles, was wir tun, sündhaft. Wir sind alle auf die eine oder andere Weise boshaft, doch nicht jede unserer Charaktereigenschaften ist ein Laster. Es gibt allerdings in Augustinus’ Morallehre ein Element, das viele derselben Konsequenzen hat wie die heidnische These von der Untrennbarkeit der moralischen Tugenden. Dies ist die Lehre, dass die moralischen Tugenden von den theologischen Tugenden nicht zu trennen sind. Dies bedeutet: Jemand, dem die Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe fehlen, kann Tugenden wie Weisheit, Mäßigung oder Tapferkeit nicht wirklich besitzen (DT 13. 20. 26). Eine Handlung, die nicht aus der Liebe zu Gott entspringt, muss sündhaft sein, und ohne den rechten Glauben kann man Gott nicht wahrhaft lieben (DCG 14. 45). Augustinus sagt häufig, dass die Tugenden der Heiden nichts als glänzende Laster waren: Ein schlechter Baum kann keine guten Früchte tragen. Manchmal ist er bereit zuzugestehen, dass jemand, der keinen Glauben hat, einzelne gute Handlungen ausführen kann, sodass nicht jede Handlung eines Ungläubigen eine Sünde ist. Doch selbst wenn die Heiden gelegentlicher moralisch guter Taten fähig sind, hilft dies ihnen nicht, das höchste Glück zu erreichen: Das Beste, worauf sie hoffen können, ist, dass ihre immerwährende Strafe weniger unerträglich ist als die Strafe anderer. Während der langen Geschichte des Christentums sollten viele Augustinus’ Vorstellung von der furchtbaren Zukunft übernehmen, die auf die große Mehrheit der Menschen wartet. Nach der Unterbrechung durch die Reformation sollten Calvin im protestantischen Lager und Jansenius auf katholischer Seite Visionen von noch größerer Trübsal anbieten, und im 19. Jahrhundert betonten Kierkegaard und Newman, ebenso wie Augustinus, wie eng die Pforte sei, durch die der Weg zum höchsten Gut der himmlischen Seligkeit führt. Der fröhliche Optimismus, der für viele Christen im 20. Jahrhundert charakteristisch war, findet wenig Unterstützung in der Tradition. Dies ist jedoch eine Sache der Geschichte der Theologie, nicht der Philosophie.

Augustinus über Lügen, Mord und Sex Aus philosophischer Perspektive sind Augustinus’ Beiträge zu bestimmten ethischen Debatten von größerem Interesse als seine Gesamtansicht vom Wesen der Moral. Über drei der Zehn Gebote hat er Vieles geschrieben, was ein genaues Studium lohnt. Es handelt sich um die Gebote „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht ehebrechen“ und „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten“.

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Im Gottesstaat hat Augustinus für künftige Generationen festgelegt, wie Christen das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ verstehen sollten. Zunächst stellt er fest, dass sich dieses Verbot nicht auf das Töten von nichtmenschlichen Kreaturen bezieht. „Wenn wir also das Tötungsverbot lesen, dann beziehen wir es nicht auf die Pflanzen, weil sie der Empfindung entbehren, und nicht auf die vernunftlosen Lebewesen, die fliegenden, schwimmenden, laufenden, kriechenden, weil sie uns nicht durch die Vernunft gleichgestellt sind, die mit uns gemeinsam zu haben ihnen nicht gewährt ist, weshalb nach des Schöpfers gerechtester Anordnung ihr Leben und ihr Tod der Zweckmäßigkeit für uns unterstellt ist.“ (DCD I. 20)

Zweitens ist es nicht in jedem Falle ein Unrecht, wenn ein Mensch einem anderen Menschen absichtlich das Leben nimmt. Augustinus akzeptiert, dass ein staatlicher Richter berechtigt sein kann, einem Verbrecher die Todesstrafe aufzuerlegen, vorausgesetzt die Strafe wird nach den Gesetzen des Staates verhängt und vollstreckt. Außerdem sagte er, dass das Tötungsverbot nicht von denen gebrochen wird, „die auf Gottes Geheiß Krieg geführt haben“ (DCD I. 21). Doch woran soll man erkennen, wann ein Krieg mit göttlicher Autorität geführt wird? Augustinus ist nicht jemand, der den Krieg verherrlicht: Es ist ein Übel, zu dem man nur greift, um ein größeres Übel zu verhindern. Alle Wesen sehnen sich nach Frieden, und selbst Krieg wird nur geführt um des Friedens willen. Denn Sieg ist nichts anderes als Frieden mit Ruhm. „Jeder sucht Frieden, während er Krieg führt, doch niemand sucht Krieg, während er Frieden schließt.“ (DCD XIX. 10) Einerseits ist Augustinus kein Pazifist, wie es einige seiner christlichen Vorgänger aufgrund der Forderung des Evangeliums, „die andere Wange hinzuhalten“, gewesen waren. Soldaten dürfen an Kriegen teilnehmen, ja sind sogar verpflichtet daran teilzunehmen, wenn sie von Staaten zur Selbstverteidigung geführt werden oder um eine große Ungerechtigkeit zu beseitigen. Augustinus hat diese Bedingungen nicht auf die Weise dargelegt, wie es seine Nachfolger im Mittelalter und der frühen Neuzeit getan haben, als sie die Theorie des gerechten Krieges entwickelten. Er sagte jedoch deutlich, dass selbst in einem gerechten Krieg mindestens eine Seite sündhaft handelt (DCD XIX. 7), und nur ein Staat, in dem Gerechtigkeit herrscht, hat das Recht, seinen Soldaten den Befehl zum Töten zu geben. „Was sind überhaupt Reiche, wenn die Gerechtigkeit fehlt, anderes als große Räuberbanden?“ (DCD IV. 4) Dennoch ist er bereit, historische Beispiele für Kriege zu geben, die er für göttlich sanktioniert hielt, wie etwa die Verteidigung von Norditalien gegen die Ostgoten, die im Jahre 405 mit dem spektakulären Sieg des kaiserlichen Generals Stilicho bei Fiesole endete (DCD V. 23). Doch wie beurteilt Augustinus Fälle, in denen ein Privatmann zur Selbstverteidigung oder zur Verteidigung des Lebens einer anderen Person jemanden tötet? Augustinus scheint sich in der Frage, ob dies gerechtfertigt sein kann, nicht entschieden zu haben. In seinen Briefen finden sich Passagen, mit denen sich beide möglichen Ant-

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worten verteidigen lassen. Doch zu einem Thema, das in der hellenistischen Philosophie heftig umstritten war, bezieht Augustinus eine definitive Position: Der Selbstmord ist nicht erlaubt. Das Gebot „Du sollst nicht töten“ gilt für die eigene Person ebenso wie für andere Menschen (DCD I. 20). Die Frage war aktuell, als Augustinus den Gottesstaat zu schreiben begann, denn während der Plünderung von Rom im Jahre 410 hatten sich viele christliche Männer und Frauen das Leben genommen, um der Vergewaltigung oder Versklavung zu entgehen. Augustinus behauptete, dass sich Selbstmord mit keinerlei Gründen rechtfertigen lasse. Selbstmord angesichts von materieller Entbehrung ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Seelengröße. Selbstmord zur Vermeidung einer Schmach – wie im Falle des Römers Cato, der nicht bereit war, sich der tyrannischen Herrschaft von Julius Cäsar zu beugen – bringt nur noch größere Schande mit sich (DCD I. 23 f.). Ein Selbstmord, der begangen wird, um der Versuchung zur Sünde zu entgehen, ist – obwohl er die am wenigsten verwerfliche Form des Selbstmords ist – dennoch eines Christen, der Gott vertraut, unwürdig. Der Selbstmord einer Frau, die sich das Leben nimmt, um einer Vergewaltigung zu entgehen – ein Verhalten, das von einigen anderen Christen, wie zum Beispiel von Ambrosius, als heldenhaft angesehen wurde –, wird von Augustinus noch härter verurteilt, denn vergewaltigt zu werden ist keine Sünde und sollte für ein Opfer, das seine Zustimmung versagte, keine Schande mit sich bringen (DCD I. 19). Wenn es um die Verteidigung anderer Menschenrechte als des Rechts auf Leben geht, spricht sich Augustinus weniger deutlich aus. Er fragt, ob ein Magistrat sich richtig verhält, wenn er Zeugen foltern lässt, um Aussagen von ihnen zu bekommen. Er gibt eine wortgewandte Beschreibung der mit der Folter verbundenen Übel: Ein unbeteiligter Zeuge leidet, obwohl er selbst unschuldig ist. Ein unschuldiger Angeklagter kann sich schuldig bekennen, um der Folter zu entgehen, und selbst wenn das Opfer der Folter tatsächlich schuldig ist, ist es dennoch möglich, dass die Person lügt und der Strafe entkommt. Zusammenfassend stellt er fest, dass der Schmerz der Folter sicher ist, ihr Wert als Mittel zur Erlangung von Beweismaterial jedoch zweifelhaft. Dennoch gelangt er zu dem Schluss, dass ein Magistrat sich nicht weigern kann, seine Pflichten zu erfüllen, wie abstoßend sie auch sein mögen. Er war sich vielleicht nicht bewusst, dass die Praxis des Folterns durch eine Synode von Bischöfen in Rom im Jahre 384 verurteilt worden war. Und wie steht Augustinus zur Sklaverei? Im Gegensatz zu Aristoteles hält er sie nicht für etwas Natürliches. Sie ist seiner Meinung nach ein Ergebnis der Sünde, und um dies zu veranschaulichen, gibt er ein Beispiel einer Form von Sklaverei, die auch Aristoteles als unmoralisch ansah: die Versklavung der in einem ungerechten Krieg Besiegten durch die Sieger. Dennoch verurteilt er die Sklaverei als Institution in dieser sündigen Welt nicht vollständig. Daran hindert ihn das Beispiel der Patriarchen des Alten Testaments und Paulus’ Ermahnung im Neuen Testament, das Sklaven ihren Herren gehorchen sollen. „Obwohl die Sklaverei den Charakter einer Strafe trägt, ist auch sie eine ordnende Folge des Gesetzes, das die natürliche Ordnung zu wahren

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befiehlt.“ Wie so häufig, wenn er mit einem unlösbaren sozialen oder politischen Problem konfrontiert ist, sucht Augustinus seine Zuflucht in der Verinnerlichung des Problems: Es ist besser, Sklave eines guten Herrn zu sein als seiner eigenen bösen Gelüste, weshalb Sklaven das Beste aus ihrem Los machen und Herren ihre Sklaven freundlich behandeln und sie nur strafen sollten, wenn es zu ihrem eigenen Besten ist (DCD XIX. 15 f.). Am stärksten war Augustinus’ Einfluss auf spätere christliche Denker in Fragen der Sexualethik. Seine Lehren über Sexualität und Ehe wurden, mit geringfügigen Änderungen, zu den Standardauffassungen der mittelalterlichen Moralphilosophen. Unter den bedeutenden Philosophen des lateinischen Mittelalters war Augustinus der einzige mit sexueller Erfahrung – wenn wir von Abelard absehen, dessen Leben in sexueller Beziehung glücklicherweise untypisch verlief. In neuerer Zeit hat Augustinus unter Nichtchristen den Ruf erworben, ein Frauenfeind mit einem Hass auf Sexualität gewesen zu sein. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass dieser Ruf einer Prüfung unterzogen werden muss. 2 Es ist zutreffend, dass Augustinus der Urheber einer strengen christlichen Tradition ist, nach der Sexualität nur innerhalb der Ehe erlaubt und der Hauptzweck der Ehe die Zeugung von Kindern ist. Hieraus ergeben sich Grenzen für die Formen der sexuellen Aktivität, die zwischen einem Mann und einer Frau zulässig sind. 3 Allerdings stehen Augustinus’ Lehren der Sexualität wesentlich weniger feindlich gegenüber als diejenigen seiner Zeitgenossen und Nachfolger. Christen wie Ambrosius und Jerome glaubten, die Ehe sei eine Konsequenz des Sündenfalls und dass es im Paradies keinen Beischlaf gegeben habe. Augustinus vertrat die Auffassung, dass die Ehe Teil des ursprünglichen göttlichen Planes für den unsündigen Menschen gewesen sei, und dass Adam und Eva, selbst wenn es nicht zum Sündenfall gekommen wäre, sich durch sexuelle Vereinigung fortgepflanzt hätten (DCD XIV. 18). (Nach seiner Darstellung würden dieser Vereinigung allerdings die Elemente der Leidenschaft gefehlt haben, die zur Freude an der sexuellen Vereinigung gehören: Im Paradies wäre der Beischlaf eine so klinische Aktivität gewesen wie eine Impfung; DCD XIV. 26.) Gegen Asketen, die Jungfräulichkeit als die für einen Christen einzige anständige Möglichkeit ausgaben, schrieb Augustinus im Jahre 401 eine Abhandlung, De Bono Conjugali („Über das Gut der Ehe“), zur Verteidigung der Ehe als einem legitimen und ehrbaren Stand. Darin führt er aus, dass die Ehe nicht sündhaft, sondern ein wahres Gut, nicht lediglich ein kleineres Übel als die Unzucht sei. Christen können die Ehe eingehen, um Kinder zu zeugen und auch, um die besondere Gemeinschaft zu genießen, die 2 3

Siehe insbesondere P. Brown, The Body and Society (New York: Columbia University Press, 1988), 387–427. M. D. Jordan weist in The Ethics of Sex (Oxford: Blackwell, 2002), 110, darauf hin, dass der zentrale neutestamentliche Text über die Ehe, 1 Kor. 7, keine Beziehung zwischen ehelicher Moral und Fortpflanzung herstellt: Ehe wird darin als Zugeständnis an die Stärke sexuellen Verlangens dargestellt.

Augustinus über Lügen, Mord und Sex

Im Gegensatz zu den Kirchenvätern lehrte Augustinus, dass die geschlechtliche Fortpflanzung Teil von Gottes Plan für das Paradies war. Durch den Sündenfall – der hier auf einem Gemälde in einer römischen Katakombe dargestellt ist – wurde die Sexualität etwas Beschämendes und unkontrollierbar.

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Mann und Frau verbindet. Die Ehe muss monogam und dauerhaft sein: Eine Scheidung ist nicht erlaubt und nur der Tod kann ein Paar trennen (DBC 3. 3, 5. 5). Da der Zweck der Fortpflanzung dasjenige ist, was die Ehe ehrbar macht, dürfen Mann und Frau nichts unternehmen, was eine Empfängnis verhindern würde. Außerdem müssen sie dem angemessenen Wunsch des anderen nach körperlicher Vereinigung nachkommen, es sei denn, der Wunsch betreffe etwas Unnatürliches (DBC 4. 4, 11. 12). Ist jedoch der Bedarf nach Fortpflanzung erfüllt, tun Mann und Frau gut daran, den Beischlaf zu unterlassen und sich auf eine enthaltsame Gemeinschaft zu beschränken (DBC 3. 3). Da es nicht länger erforderlich ist, den Umfang der Menschheit zu vergrößern – wie dies in der Zeit der polygamen jüdischen Erzväter der Fall war –, ist lebenslange Enthaltsamkeit, obwohl keine Verpflichtung dazu besteht, ein höherer Stand als die Ehe (DBC 10. 10). Die Ehe ist für Augustinus eine Institution, die zwei ungleiche Partner verbindet: Der Mann ist das Haupt der Familie, und die Frau muss gehorchen. Angesichts der eindeutigen Lehren von Paulus hätte er kaum etwas anderes denken können. Außerdem war er der Überzeugung, dass die Gemeinschaft von Männern in einer akademischen oder klösterlichen Kommunität selbst der Gemeinschaft zwischen Mann und Frau in der Intimität der Ehe vorzuziehen sei. Doch wie das folgende Beispiel zeigt, verwendet er bei der ethischen Beurteilung der Sexualität keine Doppelmoral, die für Männer voreingenommen ist. Angenommen ein Mann nimmt sich eine Zeit lang eine Geliebte, während er auf eine vorteilhafte Heirat wartet. Solch ein Mann begeht Ehebruch, und zwar nicht gegen seine künftige Frau, sondern gegen seine derzeitige Gefährtin. Seine Partnerin macht sich hingegen keines Ehebruchs schuldig, ja tatsächlich ist sie „besser als viele verheiratete Frauen, wenn sie in ihrem sexuellen Verhalten alles getan hat, um Kinder zu empfangen, jedoch wider ihren Willen zur Verhütung einer Empfängnis gezwungen wurde“ (DBC 5. 5). Außerdem zeigte Augustinus Verständnis für die Eigentumsrechte von Frauen: Er sagt uns, er könne sich kein ungerechteres Gesetz vorstellen als das römische Lex Voconia, nach dem eine Frau nicht erben konnte, selbst wenn sie jemandes einzige Tochter war (DCD III. 21). Da die Fortpflanzung der göttliche Zweck der Sexualität ist, versteht es sich fast von selbst, dass nur heterosexueller Verkehr erlaubt ist. „So waren auch immer und überall Sünden, die wider die menschliche Natur sind, verabscheuenswert und strafwürdig wie die der Sodomiter. Jedes Volk, das solches beginge, würde nach Gottes Gesetz für gleiches Verbrechen gleiches Urteil und gleiche Strafe treffen. Denn Gott hat den Menschen nicht so geschaffen, dass sie auf diese Weise Verkehr miteinander pflegen dürften.“ (Conf. III. 8. 3) Erst kurz zuvor hatte der Kaiser Theodosius ein Gesetz erlassen, nach dem männliche Prostituierte öffentlich zu verbrennen waren. Das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten“ wurde in christlichen Kommentaren häufig zu einem generelleren Verbot erweitert, doch war man sich nicht darüber einig, ob Lügen unter allen Umständen verboten sei. Ebenso wie Augustinus denjenigen Christen widersprach, die einen Selbstmord für gerechtfertigt hielten, wenn er begangen wurde, um einer Vergewaltigung zu ent-

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gehen, vertrat er auch gegen diejenigen eine strenge Position, die meinten, dass Lügen für einen guten Zweck (zum Beispiel um die Geheimnisse des Glaubens vor neugierigen Heiden zu verbergen) gerechtfertig sei. Er schrieb zwei Abhandlungen über das Lügen, das er definierte als „Äußerung einer Sache durch Worte oder Zeichen, während man etwas anderes im Geist hat“ (DM 3. 3). Er bestreitet, dass solches Lügen in der Absicht zu täuschen jemals erlaubt sei. Natürlich muss er sich hierbei mit Fällen auseinandersetzen, in denen es so scheint, dass ein guter Mensch auf den ersten Blick gut daran tut zu lügen. Angenommen es verberge sich in jemandes Haus eine zu Unrecht verurteilte Person. Ist es erlaubt zu lügen, um sie zu schützen? Augustinus stimmt zu, dass man versuchen darf, die Verfolger von seiner Fährte abzulenken, doch es ist nicht erlaubt, dazu absichtlich zu lügen. „Da man durch Lügen ein ewiges Leben verliert, ist es niemals erlaubt zu lügen, um ein irdisches Leben zu retten.“ (DM 6. 9) Obwohl alle Lügen moralisch verwerflich sind, sind für Augustinus nicht alle Lügen im selben Maße verwerflich. Eine Lüge, die jemand anderem hilft, ohne irgendeinen Schaden zu verursachen, ist die verzeihlichste, während eine Lüge, die jemanden in einen religiösen Irrtum führt, die boshafteste Form der Lüge ist. Eine unwahre Geschichte, die jemand zur Unterhaltung erzählt, ohne die Absicht zu täuschen, ist überhaupt keine wirkliche Lüge – obwohl der Erzähler damit möglicherweise einen bedauernswerten Mangel an Ernsthaftigkeit zu erkennen gibt (DM 2. 2, 25).

Abelards Ethik der Intention Augustinus’ Morallehre legt großes Gewicht auf die Bedeutung des Motivs oder des übergreifenden Verlangens, aufgrund dessen Handlungen durchgeführt werden. Doch unter den christlichen Ethikern war es Abelard, der bei der moralischen Beurteilung von Handlungen der Absicht die größte Bedeutung beigemessen hat. In seiner Ethik, die den Titel Kenne Dich selbst trägt, widersprach er der allgemeinen Lehre, dass das Töten von Menschen oder der Ehebruch moralisch falsch ist. Falsch sei seiner Meinung nach nicht die Handlung, sondern der Zustand des Geistes, in dem sie begangen wird. „Es ist nicht, was getan wird, was Gott erwägt, sondern die Absicht, in der es getan wird. Anerkennung und Lob des Handelnden beruhen nicht auf seiner Handlung, sondern auf seiner Absicht.“ (AE, c. 3) Abelard unterscheidet zwischen „Wille“ (voluntas) und „Absicht“ (intentio, consensus). Wille ist streng genommen das Verlagen nach etwas um seiner selbst willen; und die Sünde liegt nicht im Wollen, sondern in der Zustimmung. Es gibt Sünde ohne Wille (zum Beispiel wenn jemand auf der Flucht in Notwehr tötet) und einen moralisch verwerflichen Willen ohne Sünde (zum Beispiel bei wollüstigem Verlangen, das man nicht steuern kann). Wenn wir Wille in einem weiteren Sinn verstehen, können wir zustimmen, dass alle Sünden willentlich begangen werden, in dem Sinne, dass sie nicht unvermeidlich und das Ergebnis irgendeines Willens sind – zum Beispiel des Willens des Flüchtenden zu entkommen (AE 17). Absicht oder Zustim-

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Im Zentrum von Abelards Auffassungen über die Absicht standen praktische Probleme. In dieser Miniatur stellt eine Dame, die den Edelmann auf der rechten Seite heiraten wollte, fest, dass sie irrtümlicherweise den Leibeigenen auf der linken geheiratet hat.

mung scheint ein geistiger Zustand zu sein, der dem Wissen näher steht als dem Verlangen. Da man eine verbotene Handlung schuldlos ausführen kann – zum Beispiel, indem man seine Schwester heiratet, wenn man nicht weiß, dass sie die eigene Schwester ist –, kann das Böse nicht in der Handlung bestehen, sondern in der Absicht oder Zustimmung. Auf diese Weise kann eine böse Absicht eine gute Handlung verderben. Ein Verbrecher kann zu Recht gehängt werden. Verurteilt ihn der Richter jedoch nicht aus Leidenschaft für die Gerechtigkeit, sondern aufgrund eines eingefleischten Hasses, so

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sündigt er. Strittiger ist Abelards Behauptung, dass eine gute Absicht eine verbotene Handlung rechtfertigen kann. Das Evangelium berichtet, dass die von Jesus Geheilten seinen Befehl, ihre Heilung geheim zu halten, nicht befolgt haben. Sie haben jedoch nichts Böses getan, da ihr Motiv für die Mitteilung der Wunder gut war. Gott selbst befahl etwas Böses zu tun, als er Abraham befahl, Isaak zu töten, und etwas Böses zu befehlen, ist selbst eine böse Handlung. Doch Gottes Absicht, seinen Glauben auf die Probe zu stellen, war gut, und „diese Absicht Gottes war richtig bei einer Handlung, die nicht richtig war“ (AE 31). Eine gute Absicht, die nicht realisiert wurde, kann ebenso viel Lob verdienen wie eine gute Handlung. Angenommen zwei Männer nehmen sich vor, jeweils ein Armenhaus zu bauen. Einem von ihnen gelingt es, doch dem Zweiten wird sein Geld gestohlen, bevor er seine Absicht verwirklichen kann. Beide verdienen das gleiche Lob, da wir ansonsten behaupten müssen, dass ein Mann nur deshalb tugendhafter ist, weil er reicher ist oder mehr Glück hat (AE 49). Auf ähnliche Weise sind böse Absichten ebenso verwerflich wie böse Handlungen. Warum sollte man dann Handlungen statt Absichten bestrafen? Abelard war ein früher Verfechter der Lehre von der verschuldungsunabhängigen Haftung, der Lehre, dass es für eine Straftat keines Unrechtsbewusstseins (mens rea) bedarf. Seiner Meinung nach konnte ein Mensch bestraft werden, ohne dass eine Schuld vorlag. Angenommen eine Frau drückt im Schlaf das neben ihr liegende Kleinkind zu Tode. Es liegt in diesem Fall keine Sünde vor, da sie nicht wusste, was sie tat, doch sie kann dennoch gerechterweise bestraft werden, um andere vorsichtiger zu machen. Der Grund, warum wir statt Absichten Handlungen bestrafen, besteht darin, dass die menschliche Schwäche ein offensichtliches Übel für schlimmer hält als ein verborgenes. Doch im Jüngsten Gericht wird Gott anders urteilen. Folgt hieraus, dass die Handlungen derjenigen, die Christen in dem Glauben verfolgen, dadurch Gott zu dienen, Lob verdienen? Nicht unbedingt, sagt Abelard: Doch sie sind nicht schuldiger als ein Mann, der einen anderen tötet, weil er ihn auf der Jagd in einem Wald versehentlich für ein Tier hält. Um über eine gute Absicht zu verfügen, reicht es jedoch nicht aus, dass ein Mann davon überzeugt ist, dass er sich richtig verhält. „Die Absicht der Verfolger ist falsch, und ihr Blick ist nicht arglos.“ Abelard macht keinen deutlichen Unterschied zwischen der falschen Meinung der Verfolger darüber, ob es wünschenswert ist, Christen zu töten, und ihrem tugendhaften Zweck bei dieser Tötung, nämlich Gott zu dienen. Dies hat zur Folge, dass unklar bleibt, ob seine Lehre von der Rechtfertigung durch die Absicht bedeutet, dass ein Gewissen, welches sich im Irrtum befindet, von Schuld befreit, oder ob ein guter Zweck Mittel rechtfertigt, von denen erkannt ist, dass sie unmoralisch sind. Abelard unterscheidet niemals deutlich zwischen dem willentlichen und dem kognitiven Element der Absicht. Abelards Lehre kommt dem Slogan der Hippies der 1960er Jahre: „Es kommt nicht darauf an, was du tust, solange du es ehrlich tust“, sehr nahe, und es ist nicht verwunderlich, dass sie seine Zeitgenossen schockierte, obwohl er glaubte, dass unser

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Verständnis des Naturrechts den Möglichkeiten aufrichtiger moralischer Fehler eine Grenze setzt. Das Konzil von Sens verurteilte seine Lehre, dass diejenigen, die Christus in gutem Glauben töteten, frei von Sünde waren. Zu den verurteilten Aussagen gehörte unter anderem auch die folgende: „Ein Mensch wird durch seine Werke weder besser noch schlechter.“ (DB 380)

Die Ethik Thomas von Aquins Thomas von Aquin wies wie Abelard der Absicht in der Ethik eine große Bedeutung zu. Allerdings positionierte er den Begriff der Absicht in einer wesentlich umfassenderen Beschreibung des Wesens menschlicher Handlungen, bei der er sich auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles stützte und diese verbesserte. Bei der Beschreibung menschlichen Handelns macht Aristoteles von zwei Schlüsselbegriffen Gebrauch: der Freiwilligkeit und dem Zweck. Für ihn ist etwas dann freiwillig, wenn es seinen Ursprung in einem Handelnden hat, der frei von Zwang und Irrtum ist. Es ist ein Zweck (prohairesis), wenn es als Teil eines umfassenden Lebensplans gewählt wird. Sein Begriff der Freiwilligkeit war zu breit und sein Begriff des Zwecks zu eng, um die meisten moralischen Entscheidungen des alltäglichen Lebens erfassen zu können. Während er Aristoteles’ Begriffe beibehielt und weiterentwickelte, führte Thomas den Begriff der Absicht ein, um die Lücke zwischen den beiden Begriffen zu schließen. Er erläutert den Begriff auf folgende Weise. Es gibt drei Arten von Handlungen: solche, die um ihrer selbst willen ausgeführt werden, solche, die Mittel zu einem Zweck sind, und solche, die wir – vielleicht widerwillig – als unvermeidliche Begleiterscheinungen von Handlungen der ersten beiden Arten ausführen. In Handlungen der zweiten Art zeigen wir eine Absicht: Wir versuchen, den Zweck durch die Mittel zu erreichen. Handlungen der dritten Art sind nicht absichtlich, sondern lediglich willentlich. Freiwilligkeit ist demnach der umfassendste Begriff. Was immer absichtlich ist, ist willentlich, das Umgekehrte gilt jedoch nicht. Die Absicht selbst, obwohl der Begriff nicht so breit ist wie der Begriff der Freiwilligkeit, ist ein breiterer Begriff als Aristoteles’ Zweck (ST 1a 2ae 12). Bezüglich ihrer moralischen Bewertungen können menschliche Handlungen abermals drei Kategorien zugeordnet werden. Einige Arten von Handlungen sind gut (zum Beispiel das Geben von Almosen), andere sind böse (zum Beispiel eine Vergewaltigung) und andere sind indifferent (zum Beispiel ein Spaziergang auf dem Lande). Jede einzelne Handlung wird im konkreten Leben unter besonderen Umständen mit einer bestimmten Absicht ausgeführt. Damit eine einzelne Handlung moralisch gut sein kann, muss sie in eine Klasse von Handlungen gehören, die nicht böse sind, sie muss unter angemessenen Umständen und mit einer tugendhaften Absicht ausgeführt werden. Fehlt irgendeines dieser Elemente, so handelt es sich um eine moralisch schlechte Handlung. Daher kann eine moralisch schlechte Absicht eine gute Handlung vereiteln (Almosengeben aus Angeberei), doch eine gute Absicht kann

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eine moralisch schlechte Handlung besser machen (Stehlen für die Armen). Wir dürfen nichts Böses tun, damit Gutes daraus entsteht (ST 1a 2ae 19 f.). Thomas stimmt Abelard darin zu, dass die Güte einer guten Handlung aus dem guten Willen entspringt, mit dem sie ausgeführt wird, doch er sagt, dass der Wille nur dann gut sein kann, wenn er eine Handlung will, die von der Vernunft gebilligt werden kann. Wir können eine falsche Meinung über den moralischen Wert einer Handlung haben. Eine solche Meinung wird von Thomas als fehlerhaftes Gewissen bezeichnet. Wir müssen unserem Gewissen folgen, auch wenn es sich irrt. Doch obwohl uns ein fehlerhaftes Gewissen stets verpflichtet, entschuldigt es uns nicht immer. Während ein Irrtum über eine Tatsache (zum Beispiel darüber, ob diese Frau mit jemand anderem verheiratet ist oder nicht), wenn er nicht auf Fahrlässigkeit beruht, uns von Schuld ausnehmen kann, stellt ein Irrtum über göttliche Gesetze (zum Beispiel die Meinung, dass Ehebruch nicht sündhaft ist) keine Entschuldigung dar. Wieder besteht Thomas, gegen Abelard, darauf, dass ein guter Wille nur dann echt sein kann, wenn er sich – bei gegebener Gelegenheit – in eine Handlung umsetzt. Nur ein unabsichtliches Versagen kann entschuldigen, dass die Handlung unterblieb. Auf diese Weise vermeidet Thomas die Paradoxa, die Abelards Theorie der Absicht in Verruf brachten (ST 1a 2ae 19. 5 f.). Thomas verwendete seinen Begriff der Intention für die Erörterung der Frage, wie der moralische Wert einer Handlung durch ihre Konsequenzen beeinflusst werden kann. Voraussicht ist für ihn nicht dasselbe wie Absicht: Eine Konsequenz kann vorhergesehen werden, ohne dass man sie beabsichtigt. „Ein Mann, der sorglos über ein besätes Feld geht, um Unzucht zu treiben, kann die Saat schädigen. Er kann wissen, dass er dies tut, ohne irgendeinen Schaden anrichten zu wollen.“ In einem Fall wie diesem, bei einer moralisch schlechten Handlung mit schlechten Konsequenzen, ist der Unterschied moralisch unerheblich, da ein moralisches Fehlverhalten in jedem Fall durch die Konsequenzen verschlimmert wird. Der Unterschied gewinnt jedoch an Bedeutung, wenn wir es mit den schlechten Konsequenzen ansonsten guter Handlungen zu tun haben. Bei der Erörterung der Rechtmäßigkeit einer Tötung in Notwehr erklärt Thomas, dass die Selbstverteidigung einer Person zwei Konsequenzen haben kann: den Schutz des eigenen Lebens und den Tod des Angreifers. Die Anwendung von hinreichender Gewalt zur Selbstverteidigung ist erlaubt, selbst wenn der Tod eine unbeabsichtigte Konsequenz ist, doch ist es niemals gesetzmäßig, wenn eine Privatperson beabsichtigt, jemanden zu töten (1a 2ae 20. 5). Bei seinen Bewunderern und Kritikern hat Thomas den Ruf, ein Vertreter der Naturrechtslehre zu sein. Dieser Ruf besteht nicht ganz zu Recht. Obwohl er in der jüdisch-christlichen Tradition schreibt, die den göttlichen Geboten als Maßstäben für die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit oder Sündhaftigkeit einer Handlung einen Vorrang einräumt, steht im Zentrum von Thomas’ Ethik nicht der biblische Begriff des Gesetzes, sondern der aristotelische Begriff der Tugend. In der Prima Secundae 4 fin4

Anm. d. Übers.: Im ersten Teil des zweiten Teils der Summa Theologiae.

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den sich 20 Fragen über Tugend und 18 über Gesetze, während die Secunda Secundae fast vollständig gemäß den, heidnischen und christlichen, Tugenden strukturiert ist. Obwohl Thomas am Begriff des Gesetzes als Schlüssel zur Moral relativ wenig Interesse zeigt, hat er dem Begriff der Natur in seinem ethischen Denken eine wichtige Rolle eingeräumt. Seit Jahrhunderten ist es üblich gewesen, sich die Natur als einzelne universale Kraft vorzustellen, je nach Kontext und Stimmungslage mehr oder weniger personifiziert. Dies entsprach nicht der Auffassung von Thomas. Als Aristoteliker steht am Anfang für ihn die Tatsache, dass Menschen, Tiere und andere Lebewesen ihre Art fortpflanzen, und es ist die Natur jedes lebenden Wesens, die begründet, dass es zu einer bestimmten natürlichen Art gehört. Fortpflanzungsprozesse enden mit der Reproduktion einer Natur, d. h. damit, dass ein weiteres Exemplar derselben Art entsteht. Die Natur eines Dinges ist identisch mit seinem Wesen, wobei sein Wesen als Quelle von Aktivität und Fortpflanzung angesehen wird. Die Reproduktion einer Natur, die das Ergebnis des Fortpflanzungsprozesses ist, ist auch der Zweck und das Ziel dieses Prozesses. Thomas glaubte, dass jede Natur auch selbst einen Zweck hat, nicht weniger als der Prozess, durch den sie reproduziert wird. Es muss sich so verhalten, so mag es zumindest scheinen, wenn die Fortpflanzung selbst einen Zweck haben soll. Menschen auf die Welt zu bringen wäre zwecklos, wenn das Menschsein keinen anderen Zweck hätte, als andere Menschen auf die Welt zu bringen. Thomas schrieb: „Die Natur eines Dinges, die das Ziel seiner Hervorbringung ist, ist selbst auf ein anderes Ziel gerichtet, das entweder eine Handlung oder das Ergebnis einer Handlung ist.“ (ST 1a 49. 3) Auf diese Weise könnte es sein, dass der Zweck eines Glühwürmchens darin besteht, zu glühen, und der Zweck einer Biene, Honig herzustellen. Es ist offensichtlich von großer Wichtigkeit, ob diese Überlegungen zutreffen, um eine korrekte Sicht dessen haben zu können, was der Zweck des Menschseins ist. Thomas lehrt, dass alle Geschöpfe um Gottes willen existieren. Mit und ohne Intellekt ausgestattete Geschöpfe spiegeln, indem sie sich gemäß ihrer Natur entwickeln, gleichermaßen das Gutsein Gottes wider. Intelligente Wesen spiegeln Gott jedoch auf eine besondere Weise wider: Sie finden ihre Erfüllung im Verständnis und der Kontemplation Gottes. Menschliches Glück kann nicht in sinnlichen Vergnügungen, in Ehre, Ruhm, Reichtümern und weltlicher Macht, ja noch nicht einmal in der Ausübung bestimmter Fähigkeiten oder der moralischen Tugend gefunden werden: Es ist in der Erkenntnis Gottes zu finden, nicht wie er in diesem Leben durch menschliche Vermutungen, Tradition oder Argumente erkannt werden kann, sondern in der Schau des göttlichen Wesens, von der Thomas glaubte zeigen zu können, dass sie in einem anderen Leben mithilfe übernatürlicher göttlicher Erleuchtung möglich sei. In all diesen Überlegungen stützt sich Thomas stark auf die Ethik von Aristoteles. Im zehnten Buch dieses Werkes lehrt Aristoteles, dass menschliches Glück in philosophischer Kontemplation gefunden werden kann, doch er führt inkonsistente Gründe hierfür an. Er behauptete, dass der Intellekt das Menschlichste an uns ist, jedoch auch,

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dass er übermenschlich und göttlich ist. Diese Zweideutigkeit wird von Thomas in 1a 2ae 5. 5 aufgelöst. Ein umfassendes Verständnis der menschlichen Natur zeigt, so behauptet er, dass die tiefsten Bedürfnisse und Hoffnungen des Menschen sich durch menschliche Aktivitäten, die einem rationalen Tier natürlich sind, nicht befriedigen lassen – noch nicht einmal durch die höchsten philosophischen Aktivitäten. Menschen können nur dann vollkommen glücklich sein, wenn sie an den übermenschlichen Aktivitäten des Göttlichen teilhaben, und dazu benötigen sie den übernatürlichen Beistand der göttlichen Gnade. Statt über eine natürliche Fähigkeit zu höchstem Glück zu verfügen, haben Menschen einen freien Willen, mit dem sie sich Gott, der allein sie glücklich machen kann, zuwenden können. Das Wesen und der Zweck jeder einzelnen Tugend müssen im Licht dieses übergreifenden Ziels der menschlichen Existenz gesehen werden. Da es sich hierbei um ein übernatürliches Ziel handelt, benötigen wir außer den moralischen Tugenden wie Tapferkeit und Mäßigung und außer den intellektuellen Tugenden wie Weisheit und Einsicht die theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Nur diejenigen, die Thomas’ Glauben an die beglückende Gottesschau als höchsten Punkt eines tugendhaften Lebens teilen, können das von ihm vorgestellte Moralsystem vollständig übernehmen. Doch da sein moralisches Denken so stark durch Aristoteles’ Auffassungen untermauert ist, können seine Auffassungen zu einzelnen moralischen Themen auch für einen säkularen Philosophen höchst aufschlussreich sein. Thomas versucht, die aristotelische und biblische Ethik auf folgende Weise in Einklang zu bringen. Bei Aristoteles ist es die Vernunft, die das Ziel einer Handlung vorgibt und den Maßstab liefert, nach dem wir Handlungen als tugendhaft oder boshaft beurteilen. In der Bibel wird der Maßstab durch ein Gesetzbuch vorgegeben. Thomas zufolge besteht zwischen diesen beiden Auffassungen kein Konflikt, weil das Gesetz ein Produkt der Vernunft ist. Die Reflexion über das Wesen der menschlichen Handlung und Wahlentscheidung, wie sie von Aristoteles beschrieben werden, führt zur Formulierung einer Reihe letzter praktischer Prinzipien, die der Ausübung der Tugend, in der ein gelungenes menschliches Leben besteht, die Richtung geben. Zu diesen letzten Prinzipien gehört auch die biblische Aufforderung, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst: ein Prinzip, das Thomas als das erste und allgemeine Gebot der menschlichen Natur und als für die menschliche Vernunft evident ansah. 5 Menschliche Gesetzgeber, die politische Gemeinschaft oder ihre Delegierten, verwenden ihre Vernunft, um Gesetze für das allgemeine Gute bestimmter Staaten zu erlassen. Doch die Welt insgesamt wird durch die Vernunft Gottes regiert. Der ewige Plan der providenziellen Leitung, der in Gott als Regierer des Universums existiert, ist ein Gesetz im wahrsten Sinne. Es ist ein natürliches Gesetz, das allen vernünftigen Geschöpfen in Form einer natürlichen Tendenz, das ihnen gemäße Verhalten und die ihnen entsprechenden Ziele zu verfolgen, angeboren ist. Es ist diese Tendenz, die in 5

All dies ist hervorragend erläutert in J. Finnis, Aquinas: Moral, Political, and Legal Theory (Oxford: Oxford University Press, 1998).

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den letzten Prinzipien der praktischen Vernunft zum Ausdruck kommt. Dieses natürliche Gesetz ist nichts anderes als die Teilhabe der vernünftigen Geschöpfe am ewigen Gesetz Gottes. Es verpflichtet uns, Gott und unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben. Durch die Anwendung dieses Prinzips gelangen wir zu besonderen moralischen Regeln, die dann auf moralische Fragen anwendbar sind, die mit der Tötung von Menschen, mit ihrem Sexualverhalten und dem Besitz von Privateigentum in Zusammenhang stehen.

Thomas von Aquin als Moralist In jedem der angegebenen drei Bereiche hat Thomas Normen vorgegeben, die Gegenstand gegenwärtiger Kontroversen sind. Um seinen Umgang mit ethischen Problemen zu veranschaulichen, wollen wir der Reihe nach einige Beispiele betrachten. Im Zusammenhang mit der Führung von Kriegen stellt sich Thomas die Frage: „Ist die Teilnahme an Kriegen in jedem Fall eine Sünde?“ (2a 2ae 40. 1) Augustinus 6 folgend verneint Thomas diese Frage. Allerdings legt er bestimmte Bedingungen fest, die erfüllt sein müssen, damit ein Krieg rechtmäßig geführt werden kann (2a 2ae 40. 1). Die erste hat mit der Vollmacht zu tun: Nur ein Fürst ist befugt, Krieg zu führen. Ein Privatmann sollte seine Beschwerden vor ein Gericht bringen. Zweitens muss es um eine gerechte Sache gehen: Der Feind muss sich eines Vergehens schuldig gemacht haben. Hierbei muss es sich nicht unbedingt um militärische Aggression handeln, sondern um irgendeine Verletzung der Rechte der eigenen Gemeinschaft oder derjenigen der eigenen Verbündeten. Drittens muss der Krieg mit der rechten Absicht geführt werden: um das Gute zu befördern oder um ein Übel abzuwenden. Dies scheint zu bedeuten, dass durch die gewaltsame Behebung eines Schadens nicht mehr Leid entstehen darf, als sich ergäbe, wenn der Schaden nicht wiedergutgemacht würde. Die Theorie des gerechten Krieges, die von späteren Denkern, insbesondere von Grotius, weiterentwickelt wurde, ist sowohl in theoretischen als auch praktischen internationalen Diskussionen nach wie vor einflussreich. Thomas akzeptierte die Berechtigung der durch eine rechtmäßige Obrigkeit verhängten Todesstrafe. Dies ist eine Auffassung, die selbst die meisten seiner treuen Anhänger schwer akzeptieren können, da es sich hierbei um eine Verletzung des Prinzips handele, dass man nichts Böses tun darf, damit Gutes daraus entsteht. Doch jeder, der kein Pazifist ist, muss anerkennen, dass die absichtliche Tötung von Menschen manchmal erlaubt sein kann. Wenn eine nationale Gemeinschaft in einem gerechten Krieg Bürger anderer Staaten töten darf, ist nur schwer zu begreifen, warum es ihr absolut verboten seien soll, einem der Bürger des eigenen Staates das Leben zu nehmen. 6

Und Alexander von Hales, einem der ausführlichsten Theoretiker des gerechten Krieges im frühen Mittelalter. Vgl. J. Barnes, „The Just War“, in CHLMP, 771–84.

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Wenden wir uns der Sexualethik zu, so stellen wir fest, dass Thomas’ Denken stark durch die aristotelische Biologie beeinflusst war, die er als wahr akzeptierte. Er war sehr lange der Überzeugung, dass bei der biologischen Erzeugung der weibliche Teil lediglich Nahrung für ein aktives Prinzip bereitstellt, das vom männlichen Teil stammt. Da Gleiches von Gleichem gezeugt wird, ist ein weibliches Wesen nach dieser Ansicht ein anomales oder defektes männliches Wesen. Thomas kombinierte seine Theorie der Übertragung der menschlichen Natur mit der biblischen Erzählung von der Erschaffung des ersten Menschenpaares, um der Unterordnung der Frauen in der mittelalterlichen christlichen Gesellschaft eine Grundlage zu geben. Aus dem folgenden Text geht hervor, was er über die Ordination von Frauen gedacht haben würde: „Paulus sagt, dass Frauen vor der versammelten Kirche nicht öffentlich reden sollen. Zum Teil, weil das weibliche Geschlecht als dem männlichen unterwürfig geschaffen wurde, wie es im Buch Genesis heißt, und weil die öffentliche Unterweisung und Überredung eine Sache für leitende Personen und nicht für Untertanen ist. Zum Teil auch, damit das sexuelle Begehren der Männer nicht erregt wird, und zum Teil, weil Frauen im Allgemeinen nicht über die Fülle der Weisheit verfügen, die für die öffentliche Unterweisung erforderlich ist. Die Gnade der Prophetie erleuchtet den Geist, und sie macht keinen Unterschied zwischen Mann und Frau, wie Paulus sagt. Doch die Rede betrifft die öffentliche Unterweisung anderer, und da spielt das Geschlecht eine Rolle. Frauen sollen die ihnen zuteilgewordene Weisheit und ihr Wissen in der privaten Unterweisung ihrer Kinder weitergeben, nicht im öffentlichen Unterricht.“

In der gegenwärtigen Diskussion über die Ethik der Empfängnisverhütung und des Schwangerschaftsabbruchs beruft man sich auch auf Thomas von Aquin. Tatsächlich hatte er über beide Themen nur wenig zu sagen. Empfängnisverhütung wird, zusammen mit Selbstbefriedigung, in einer Frage der Summa contra Gentiles erörtert, in der es um die „ungeordnete Emission der Samenflüssigkeit“ geht. Thomas sagt, dies sei ein Verbrechen gegen die Menschheit. Nur die Tötung eines Menschen sei schwerwiegender. Diese Behauptung beruht auf der Annahme, dass allein der Mann das aktive Element zur Empfängnis beisteuert, sodass sich die individuelle Geschichte des Samens in derjenigen des Embryos, Fötus und Kleinkindes kontinuierlich fortsetzt. Tatsächlich tragen natürlich die männlichen und weiblichen Gameten zur genetischen Konstitution des entstehenden Menschen in gleicher Weise bei. Ein Embryo ist, im Gegensatz zum Samen seines Vaters, derselbe Einzelorganismus wie das Kind zum Zeitpunkt der Geburt. Für Thomas ist die Emission von Samenflüssigkeit in Situationen, in denen es zu keiner Empfängnis kommen kann, im Prinzip dasselbe – wenn natürlich auch in kleinerem Maßstab –, als wenn man ein Kind dem Tod durch Erfrieren oder Verhungern aussetzt. Deshalb sah er die Masturbation als eine Form von Tötung an. 7 7

In ST 1a 118 f. gibt Thomas eine kompliziertere Beschreibung der Entwicklung des Fötus,

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Über das Thema der Abtreibung hat Thomas erstaunlich wenig direkt zu sagen. Er erwähnt es in seinem riesigen Corpus höchstens an drei Stellen. Doch die Relevanz seiner Lehre für die gegenwärtige Diskussion beruht hauptsächlich auf seiner Auffassung bezüglich des Anfangs von menschlichem Leben. Er ist kein Verbündeter derjenigen, die gegenwärtig behaupten, das menschliche Leben beginne mit der Empfängnis. Der sich entwickelnde menschliche Fötus wird erst dann zum menschlichen Wesen, wenn er eine menschliche Seele besitzt, und dies ist zum Zeitpunkt der Empfängnis nicht der Fall. Hierzu kommt es erst, wenn sich die Schwangerschaft in einem fortgeschrittenen Stadium befindet. Für Thomas ist die erste von der Mutter unabhängige Substanz der Embryo, der mit einer vegetativen Seele ein pflanzenähnliches Leben führt. Diese Substanz verschwindet und an sie schließt sich eine Substanz mit einer empfindenden Seele an, die sich ernähren und empfinden kann. Erst in einem späteren Stadium wird die vernünftige Seele von Gott eingegossen, wodurch die belebte Substanz zu einem menschlichen Wesen wird. Es ist klar, dass Thomas glaubte, eine späte Abtreibung (selbst wenn sie unabsichtlich verursacht wurde) sei mit der Tötung eines Menschen identisch (ST 1a 2ae 64. 8). Doch in einem früheren Stadium ist ein Schwangerschaftsabbruch Thomas zufolge zwar unmoralisch, jedoch nur aus dem gleichen Grund, aus dem Masturbation und Empfängnisverhütung unmoralisch sind: Es ist die Zerstörung eines Einzelwesens, dass der Möglichkeit nach ein Mensch ist. Die Theorie von drei in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft nacheinander existierenden Entitäten scheint kaum den Anspruch erheben zu können, von uns respektiert zu werden. Sie ist zu eng mit den Auffassungen verbunden, dass nur der Mann eine aktive Rolle bei der Fortpflanzung des Menschen spielt und die intellektuelle Seele immateriell ist und daher von Gott eingegossen werden muss. Die Theorie verdunkelt die Tatsache, dass es eine ununterbrochene Geschichte der Entwicklung gibt, die die Empfängnis mit dem Leben des schließlich ausgewachsenen Menschen verbindet. Es gibt jedoch noch andere als die von Thomas angegebenen Gründe, aus denen man bestreiten kann, dass das Leben jedes einzelnen Menschen mit der Empfängnis beginnt. Die Entwicklungslinie von der Empfängnis bis zum Leben des Fötus ist nicht die ununterbrochene Geschichte eines Individuums. Im frühen Stadium ihrer Entwicklung kann sich eine einzelne Zygote zu etwas entwickeln, bei dem es sich nicht um ein menschliches Wesen handelt, oder zu etwas, das ein menschliches Wesen ist, oder zu zwei oder mehr menschlichen Wesen. Fötus, Kind und Erwachsener haben eine kontinuierliche individuelle Entwicklung, die den Gameten und der Zygote fehlt. Wenn dies zutrifft, ist die Zerstörung eines Embryos in einem frühen Stadium nicht notwendigerweise die Tötung eines Menschen. Es ist schwer zu entscheiden, nach der die Mutter die vegetative Seele erzeugt, der Vater die empfindende Seele und Gott die verständige Seele erschafft. Doch scheint er dieses Schema nicht auf die Ethik der Fortpflanzung angewendet zu haben.

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wann genau ein Embryo zu einem menschlichen Wesen wird, und es kann hier nicht versucht werden, dieses schwierige Problem zu lösen. Es scheint allerdings klar, dass viele Schwangerschaftsabbrüche zu einem Zeitpunkt erfolgen, nach dem dieses Stadium erreicht wurde, und dass sie daher – im Gegensatz zur Empfängnisverhütung – die Vernichtung eines einzelnen menschlichen Wesens bedeuten. Thomas’ veraltete Biologie ist einer der Vorläufer der weitverbreiteten modernen Auffassung, die Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch moralisch auf eine Ebene stellt. Dies ist ein Irrtum: ob er nun zur Anprangerung der Empfängnisverhütung ebenso wie der Abtreibung als schwerer Sünde, oder ob er zur Verteidigung der Abtreibung ebenso wie der Empfängnisverhütung als Grundrecht der Frau führt. Obwohl er Mitglied eines Ordens war, in dem Gütergemeinschaft herrschte, glaubte Thomas nicht an einen Kommunismus außerhalb religiöser Gemeinschaften. Keineswegs war Eigentum also Diebstahl, sondern der Diebstahl des Eigentums anderer war im Gegenteil eine schwere Sünde. Außerdem ist moralisch nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand Geschäfte in der Absicht macht, einen Profit zu erlangen, solange er den gewonnenen Profit zu guten Zwecken einsetzt (ST 2a 2ae 77. 4). Dennoch kann man Thomas nicht als enthusiastischen Anhänger des Kapitalismus ansehen: Das Recht, Privateigentum zu erwerben und zu behalten, ist bei ihm stark eingeschränkt, und der Gelderwerb unterliegt strengen Regeln. Erstens ist es sündhaft, mehr Eigentum anzuhäufen, als man angesichts der eigenen Lebenssituation und der Zahl anderer Menschen, die man zu versorgen hat, zur Absicherung benötigt. Zweitens hat man die Pflicht – um der natürlichen Gerechtigkeit, nicht der Wohltätigkeit willen –, anderen in Not Almosen zu geben, wenn man mehr Geld hat, als man braucht. Drittens sind die Armen, versagt jemand ihnen die Hilfe, in großer Not berechtigt, dessen Eigentum ohne Erlaubnis an sich zu nehmen. „Im Falle der Not sind alle Dinge gemeinsame Güter. Daher scheint es keine Sünde zu sein, wenn jemand das Eigentum von jemand anderem an sich nimmt, denn es wurde aufgrund der Not zum Allgemeingut.“ (ST 2a 2ae 66. 7) Thomas fügt noch eine „Robin-Hood-Klausel“ hinzu: In ähnlichen Fällen ist man berechtigt, das Eigentum von jemand anderem an sich zu nehmen, um eine notleidende dritte Person damit zu unterstützen (ST 2a 2ae 66. 7, ad 3). Jegliche Form von Wucher, d. h. der Berechnung von Zinsen, und seien sie auch noch so gering, lehnte Thomas ausdrücklich ab. Er begründete seine negative Haltung sowohl mit Texten des Alten Testaments als auch mit aristotelischen Prinzipien. Er erläutert sie folgendermaßen: Einige Dinge werden aufgebraucht, wenn man sie verwendet: Die Verwendung von Wein besteht darin, ihn zu trinken, und wenn er getrunken wurde, existiert er nicht mehr. Andere Dinge können verwendet werden, ohne dass man sie verbraucht: Man kann in einem Haus wohnen, ohne es zu zerstören. Wenn man versuchen würde, sich für den Wein und separat für seine Verwendung bezahlen zu lassen, würde man dasselbe zweimal verkaufen. Ein Haus zu vermieten, ohne es selbst zu verkaufen, ist allerdings möglich. Doch weil Geld verwendet wird, indem man es ausgibt, gleicht es dem Wein, nicht einem Haus. Gibt einem

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Psalm 15 spricht den selig, der „sein Geld nicht auf Zinsen gibt“. Dieses Manuskript des Psalters zeigt, dass der gute Mann sein überschüssiges Geld stattdessen Christus gibt.

daher jemand eine Geldsumme zurück, die man ihm geliehen hat, kann man sich nicht von ihm dafür bezahlen lassen, dass er das Geld in der Zwischenzeit verwenden konnte (ST 2a 2ae 78). Nach Thomas muss der Profit des Zinswuchers denjenigen zurückgezahlt werden, denen man dieses Geld unrechtmäßigerweise weggenommen hat. Die Herzogin von Brabant fragte ihn, ob es rechtmäßig sei, von den Juden in ihrem Herrschaftsgebiet sämtliches Geld zu konfiszieren, das sie durch die Erhebung von Zinsen verdient hatten. Gewiss, antwortet Thomas: Doch im Stil von Portia 8 fügt er hinzu, dass ihr Verhalten ebenso falsch wäre wie das der Juden, wenn sie dieses auf unmoralische Weise verdiente Geld für sich behielte. Sie solle versuchen, die bedauernswerten Personen ausfindig zu machen, die in die Hände von Geldverleihern gefallen waren, und ihnen die Zinsen, die sie gezahlt hatten, zurückgeben (DRI 1. 278).

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Anm. d. Übers.: Eine Heldin in William Shakespeares Stück Der Kaufmann von Venedig.

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Scotus über göttliches Recht Mord, Abtreibung und Zinswucher waren für Thomas Verletzungen des natürlichen Gesetzes Gottes. Doch er errichtete sein ethisches System nicht um den Begriff des Gesetzes, sondern um den Begriff der Tugend als Weg zur Selbsterfüllung im Glück. Es war Duns Scotus, der der Theorie des göttlichen Rechts den zentralen Platz zuwies, den er in der Folgezeit im Denken der christlichen Moralisten einnehmen sollte. Scotus stimmt Aristoteles und Thomas darin zu, dass der Mensch die natürliche Tendenz hat, sein Glück zu verfolgen (die er als affectio commodi bezeichnet). Zusätzlich postuliert er jedoch eine natürliche Tendenz, die Gerechtigkeit zu verfolgen (eine affectio iustitiae). Das natürliche Verlangen nach Gerechtigkeit ist eine Tendenz, dem moralischen Gesetz unabhängig davon zu gehorchen, welche Konsequenzen sich für das eigene Wohlergehen ergeben. Die menschliche Freiheit besteht in der Fähigkeit, das Gleichgewicht zwischen den widerstreitenden Forderungen der Moralität und des Glückes zu finden. 9 Indem er bestreitet, dass Menschen bei allen ihren Entscheidungen das Glück verfolgen, wendet sich Scotus nicht nur gegen Thomas von Aquin, sondern auch gegen eine lange Tradition der eudämonistischen Ethik, deren Ursprünge bis zu Platon und Aristoteles zurückreichen. Scotus hat sicher Recht, wenn er behauptet, dass das eigene Glück nicht das einzig mögliche Lebensziel ist. Ein Mensch kann sein Leben in den Dienst des Glücks eines anderen stellen oder der Beförderung einer Sache widmen, die zu seinen Lebzeiten wahrscheinlich nicht von Erfolg gekrönt sein wird. Eine Tochter kann auf die Chance einer Ehe, einer wesensverwandten Gemeinschaft und einer kreativen Karriere verzichten, um einen an das Bett gefesselten Elternteil zu pflegen. Es ist wenig überzeugend zu behaupten, dass solche Menschen insofern ihr eigenes Glück verfolgen, als sie tun, was sie tun wollen. In der eudämonistischen Tradition wird Freiheit als die Fähigkeit verstanden, zwischen verschiedenen möglichen Wegen zum Glück zu wählen. Fehlverhalten wird als das Ergebnis eines Irrtums beim Ergreifen der angemessenen Mittel dargestellt. Für Scotus erstreckt sich die Freiheit nicht lediglich auf die Wahl der zu einem vorgegebenen Zweck verwendeten Mittel, sondern auch die Wahl zwischen unabhängigen und möglicherweise miteinander konkurrierenden letzten Zielen. Die Schuld für Fehlverhalten wird weniger einer unzureichenden Einsicht als der launenhaften Unberechenbarkeit eines autonomen Willens zugeschrieben. Die Richtigkeit oder Verkehrtheit der Willensentscheidung bestimmt sich danach, ob sie mit dem göttlichen Gesetz übereinstimmt oder nicht. Alle mittelalterlichen Denker sahen moralisches Fehlverhalten als eine Verletzung des göttlichen Gesetzes an, doch ist für Scotus die Beziehung zwischen der Moralität einer Handlung und dem Inhalt der göttlichen Gebote wesentlich direkter als dies bei seinen Vorgängern der Fall war. Den Theologen der eudämonistischen Tradition zufolge waren 9

Vgl. R. Cross, Duns Scotus (Oxford: Oxford University Press, 1999), 88.

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bestimmte Handlungen falsch, weil sie mit den notwendigen Bedingungen für das recht verstandene menschliche Glück in Konflikt standen, und es war aus diesem Grund – weil sie Hindernisse auf dem Weg zum Glück waren –, dass Gott sie verboten hatte. Für Scotus war eine Handlung hingegen einfach deshalb moralisch falsch, weil Gott sie verboten hatte, unabhängig davon, ob sie irgendeine Relevanz für die Verwirklichung der wesentlichen Natur des Menschen hatte oder nicht. Ebenso wie Scotus den Grad der Wahlfreiheit erweiterte, der dem – dem göttlichen Gesetz unterworfenen – Willen des Menschen zur Verfügung stand, so erweiterte er auch den Grad der Freiheit Gottes bei der Ausgabe von Befehlen an den Willen des Menschen. Scotus untersucht dieses Thema bei der Behandlung der Beziehung zwischen dem Naturrecht und den explizit formulierten Geboten des Dekalogs (Ord. 3. d 37). Thomas von Aquin hatte die Auffassung vertreten, dass die Zehn Gebote zum Naturrecht gehörten: Hieraus folgte, dass Gott niemand von ihnen dispensieren, Menschen nicht die Erlaubnis geben konnte, gegen sie zu handeln. Scotus stimmte ihm darin zu, dass die zum Naturrecht gehörenden Gebote keine Ausnahmen zuließen, doch er widersprach der Auffassung, dass alle Zehn Gebote Teil dieses Rechts waren. Es gibt tatsächlich einige Befehle, die Gott nicht geben könnte: Er könnte zum Beispiel niemandem befehlen, ihn zu hassen oder gotteslästerlich gegen ihn zu handeln. Wahrheiten wie „Gott muss über alle Dinge geliebt werden“ sind notwendigerweise wahr, vor jeder Entscheidung von Gottes Willen. Gott kann niemanden von solchen Gesetzen ausnehmen, und Gesetze dieser Art sind der Kern der Moral, des wahren Naturrechts. Durch diese Behauptung beweist Scotus, dass er nicht akzeptierte, was manchmal als Moraltheorie des göttlichen Gebotes bezeichnet wird, nach der der moralische Wert einer jeden Handlung in nichts anderem besteht als darin, dass sie von Gott vorgeschrieben oder verboten ist. Es sind lediglich Gebote, die Gott selbst zum Gegenstand haben, die streng genommen zum natürlichen Recht gehören. Für eine begrenzte Anzahl von Fällen akzeptiert Scotus jedoch tatsächlich die Theorie des göttlichen Gebotes. Jenseits der Vorkehrungen des grundsätzlichen natürlichen Rechts ist Gottes Freiheit zu befehlen absolut. Er kann vom Gesetz gegen die Tötung von Menschen dispensieren: Als er Abraham befahl Isaak zu opfern, ersetzte er das ursprüngliche allgemeine Verbot durch eine neue speziellere Regel. Außerdem stand es Gott im Prinzip frei, das Gebot „Du sollst nicht töten“ nicht aufzustellen. Außerdem kann Gott Befehle geben, wie zum Beispiel das Verbot von den Früchten des Baumes im Paradies zu essen, wobei die befohlene oder verbotene Handlung keine intrinsische Richtigkeit oder Verkehrtheit hat. In solchen Fällen besteht der moralische Wert der Handlung in nichts anderem als in ihrer Beziehung zum Inhalt des göttlichen Befehls. Die Gesetze des zweiten Teils der Zehn Gebote fallen für Scotus zwischen diese willkürlichen Befehle und die Befehle, die Teil des grundlegenden natürlichen Rechts sind. Es ist zwar wahr, dass Mord – unabhängig von jeglichem göttlichen Befehl – eine moralisch verwerfliche Handlung ist, doch ist dies eine zufällige, keine notwen-

Die Ethik Ockhams

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dige Wahrheit. Von den Prinzipien, die in den späteren Geboten zum Ausdruck kommen, kann nur in einem erweiterten Sinne behauptet werden, dass sie zum Gesetz der Natur gehören. Indem er diese Gebote aufstellt, zeigt Gott seinen Kreaturen gegenüber Gerechtigkeit, doch er kann sie bei Bedarf im Interesse einer höheren Gerechtigkeit außer Kraft setzen – zum Beispiel als er den Patriarchen des Alten Testaments die Polygamie erlaubte. Ferner ist es für Gott nicht notwendig, seine Geschöpfe überhaupt gerecht zu behandeln: Der Unendliche ist dem Endlichen gegenüber zu nichts verpflichtet. Der in seinen Befehlen ausgedrückte Wille ist ein freier Wille. Ohne jeden Widerspruch könnte er Mord, Ehebruch, Diebstahl und Lügen befehlen (Oxon. 4. 4. 6. 1). Die einzige Grenze seiner Befehlsgewalt wird durch das Prinzip vom verbotenen Widerspruch gezogen: Selbst göttliche Befehle müssen miteinander konsistent sein. Die Gesamtheit der gültigen Befehle muss ein zusammenhängendes System ausmachen. Aus Scotus’ ethischer Theorie ergeben sich zwei wichtige Konsequenzen. Die erste ist eine Begrenzung der menschlichen Fähigkeit der moralischen Argumentation. Die zweite ist eine Externalisierung des Begriffs der Sünde. Das natürliche Gesetz ist das moralische Gesetz, das durch die natürliche Vernunft gefunden werden kann: Doch wenn solche Prinzipien, die die Beziehungen der Menschen untereinander betreffen, nicht Teil des natürlichen Gesetzes sind, dann können wir uns ihrer nur dank der Offenbarung sicher sein, unabhängig davon, wie überzeugend man für sie argumentieren kann. Eine Handlung, die das göttliche Gesetz verletzt, versetzt einen in einen Zustand der Sünde, doch Scotus zufolge bewirkt dies keine innere Veränderung des Sünders. Schuld ist keine intrinsische Eigenschaft des menschlichen Rechtsverletzers: Es ist lediglich die externe Tatsache, dass Gott entschieden hat zu strafen. Diese beiden Thesen von Scotus sollten zur Zeit der Reformation zu grundlegenden Streitfragen werden.

Die Ethik Ockhams Ockhams Moraltheorie ist derjenigen von Scotus sehr ähnlich, trotz der Meinungsverschiedenheiten der beiden Philosophen in Fragen der Metaphysik. Obwohl sich seine Analyse der Freiheit des Menschen von derjenigen von Scotus unterschied, stimmt Ockham Scotus darin zu, dass die Freiheit die grundlegende Eigenschaft des Menschen ist und dass der Wille von der Vernunft unabhängig ist. „Jeder Mensch erfährt, dass unabhängig davon, wie sehr die Vernunft etwas befehlen mag, der Wille es entweder wollen oder nicht wollen oder das Gegenteil wollen kann.“ (OTh. 9. 88) Selbst die Wahl des letzten Zwecks steht dem Menschen frei. Er kann sich weigern, das Glück zu seinem Ziel zu machen, in der Überzeugung, dass es ein Zustand ist, der von der Art von menschlichen Wesen, als die wir uns vorfinden, nicht erreichbar ist (OTh. 1. 443). Wie Scotus stellt Ockham das Gesetz, nicht die Tugend ins Zentrum seiner

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Moraltheorie. In der Betonung der absoluten Freiheit Gottes bei der Aufstellung des göttlichen Gesetzes geht er jedoch über Scotus hinaus. Während Scotus akzeptierte, dass einige Gebote (zum Beispiel das Gebot, Gott zu lieben) Teil eines natürlichen Gesetzes waren und dass sie ihre Verbindlichkeit nicht einer freien Entscheidung Gottes verdanken, sondern sich aus seinem eigenen Wesen ergaben, lehrte Ockham, dass sich der moralische Wert menschlicher Handlungen allein aus Gottes souveränem, in keiner Weise eingeschränktem Willen ergibt. Gott könnte in seiner absoluten Macht Ehebruch und Diebstahl befehlen, und wenn er es täte, würden solche Handlungen nicht nur aufhören sündhaft zu sein, sondern sie würden zur Pflicht (II Sent. 15. 353). Verpflichtung ist der zentrale ethische Begriff für Ockham. Das Böse ist definiert als eine Handlung, die durchgeführt wird, während die Verpflichtung besteht, das Gegenteil von dem zu tun, was tatsächlich getan wird. Menschen sind durch die göttlichen Gebote verpflichtet, doch Gott hat den Menschen gegenüber keine Verpflichtungen. Gott würde keine Verpflichtung verletzen, wenn er einem Menschen befehlen würde, ihn selbst zu hassen. Allein die Tatsache, dass Gott etwas will, macht es zu etwas, das gerechterweise getan werden kann. Er würde auch dann nichts Falsches tun, wenn er einen solchen Hass im Willen eines Menschen direkt herbeiführte. Weder Gott noch die menschliche Person würden in diesem Fall sündigen: Gott nicht, weil er keiner Verpflichtung unterliegt, und der Mensch nicht, weil dieser Hass keine freie Handlung wäre und nur durch freie Handlungen eine Schuld entstehen kann (IV Sent. 9). Ockham sagt von Zeit zu Zeit, wie seine aristotelischen Vorgänger, dass dasjenige, was eine Handlung tugendhaft macht, Folgendes ist: dass sie in Übereinstimmung mit einem richtigen vernünftigen Urteil erfolgt und genau aus diesem Grund durchgeführt wird. Er folgt auch darin der Tradition, dass er behauptet, eine Person müsse in Übereinstimmung mit ihrem Gewissen handeln (d. h. ihrem vernünftigen, moralischen Urteil), selbst wenn es sich im Irrtum befindet. Doch diese aristotelischen Bemerkungen stehen nicht im Konflikt mit der grundsätzlich autoritären Natur seiner Ethik. Wenn wir der Vernunft und dem Gewissen folgen, so tun wir dies, weil Gott es uns befohlen hat (III Sent. 13). Vermutlich könnte Gott in seiner absoluten Macht uns befehlen, gegen unser Gewissen zu handeln, ebenso wie er uns befehlen kann, die göttliche Güte zu hassen. Wenn Gottes Befehle willkürlich sind, ist es dann möglich, den Inhalt des göttlichen Gesetzes ohne Offenbarung zu kennen? Ockham wirft die Frage auf, ob es in moralischen Angelegenheiten eine beweisende Wissenschaft geben könne. In seiner Antwort trifft er eine Unterscheidung zwischen zwei Arten von moralischer Unterweisung. Es gibt eine positive Moraltheorie, die göttliche und menschliche Gesetze enthält, die sich auf Handlungen beziehen, die nur deshalb gut oder schlecht sind, weil sie durch den relevanten Gesetzgeber befohlen oder verboten werden. Doch es gibt auch noch eine andere Art von Moraltheorie – die Art von Theorie, von der Aristoteles spricht –, die sich mit ethischen Prinzipien befasst. Die positive Moral-

Die Ethik Ockhams

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theorie ist Ockham zufolge nicht deduktiv, während die Schlussfolgerungen der anderen Art von Moraltheorie beweisbar sind (OTh. 9. 176 f.). Man mag sich angesichts von Ockhams allgemeiner Theorie fragen, ob sich irgendeine besondere Schlussfolgerung ziehen ließe, die über die Anweisung „Gehorche Gottes Geboten“ hinausgeht. Doch er sagt uns, dass es Prinzipien gibt, die bestimmte Arten von Handlungen verbieten (II. Sent. 15. 352). Mord, Diebstahl und Ehebruch, sagt er uns, dürfen per definitionem nicht verübt werden. „Mord“ bezeichnet eine Tötung, wobei impliziert ist, dass der Tötende durch das göttliche Gebot verpflichtet ist, das Gegenteil zu tun. Dies mag es einem ermöglichen, den Schluss zu ziehen, dass Mord verwerflich ist. Doch es erlaubt einem, ohne Offenbarung, nicht zu sagen, ob eine besondere Tötung – zum Beispiel die Tötung von Abel durch Kain – ein Mord war oder nicht. Es zeigt sich jedoch, dass das wahre Thema der Ethik für Ockham nicht öffentliche Handlungen wie Mord und Ehebruch, sondern private, innere Willensakte sind. Keine äußere Handlung kann, rein für sich genommen, einen moralischen Wert haben, da jede äußere Handlung von einem Wahnsinnigen durchgeführt werden kann, der moralischer Handlungen fähig ist. Eine in Übereinstimmung mit einem tugendhaften Willen durchgeführte Handlung hat keinen moralischen Wert, der zu dem moralischen Wert der Willensentscheidung hinzukäme. Derselbe Gang in die Kirche ist tugendhaft, wenn er aus Frömmigkeit, und boshaft, wenn er aus Prahlerei geschieht. Ein Selbstmörder, der von einer Klippe springt, doch seine Handlung bereut, während er fällt, geht von einem bösen in einen tugendhaften Zustand über, ohne eine Änderung seines äußeren Verhaltens. In Abelards Morallehre sind wir bereits einer ähnlichen Bevorzugung der inneren im Gegensatz zu den äußeren Handlungen begegnet. Im Falle von Ockham ist jedoch bemerkenswert, wie vollständig er zwischen dem inneren und äußeren Leben trennt. Der Willensakt eines Menschen, eine bestimmte Handlung durchzuführen, ist eine unabhängige Tat, die nur zufällig mit der tatsächlichen Ausführung dieser Handlung verbunden ist. Natürlich kann eine meiner äußeren Handlungen meinem Willen entsprechen oder nicht – doch ebenso können es die Wirkungen von Ursachen sein, die meiner Kontrolle entzogen sind. Mein Wille kann ebenso wohl „befehlen“, dass in der Kirche eine Kerze brennen oder ein Esel scheißen soll (OTh. 9. 102).

9

Gott

Augustinus’ Gott Im zweiten Buch seiner Schrift Über den freien Willen stellt Augustinus die Frage „Woher wissen wir, dass wir unseren Ursprung in Gott haben?“, und er beantwortet sie, indem er in mehreren Schritten ein Argument für die Existenz Gottes entwickelt. Sein Gesprächspartner in diesem in Dialogform verfassten Text, Evodius, beginnt mit der Position eines einfachen Gläubigen, der die Existenz Gottes so akzeptiert, wie sie die Bibel lehrt. Augustinus möchte diese Position des bloßen Glaubens in eine Position des Wissens verwandeln (DLA 2. 1. 5). Seine Strategie besteht darin, eine Hierarchie von Wesen unterschiedlicher Art aufzubauen. Wir können die uns in der Welt begegnenden Dinge in drei Klassen einteilen: leblose Dinge, die lediglich existieren, wie zum Beispiel Stöcke und Steine, lebende Wesen, die über Empfindung, aber keine Intelligenz verfügen, wie die vernunftlosen Tiere, und Wesen, die über Existenz, Empfindung und Intelligenz verfügen, wie die vernunftbegabten menschlichen Wesen. Mit den Tieren haben wir die äußeren fünf Sinne gemeinsam, ebenso wie einen inneren Sinn. Mithilfe dieses Sinnes sind sich die Tiere der Funktion der anderen Sinne bewusst und empfinden Lust und Schmerz. Das Höchste in uns ist „eine Art Kopf oder Auge der Seele“. Wir ordnen diese verschiedenen Fähigkeiten in einer Hierarchie an – der innere Sinn steht höher als die äußeren Sinne, die Vernunft höher als der innere Sinn –, und zwar aus folgendem Grund: Wenn A über B urteilt, ist A B überlegen. Es gibt in uns nichts, was der Vernunft überlegen wäre. Doch Augustinus fragt: Wenn wir etwas außerhalb von uns finden, dass der Vernunft überlegen ist, sollen wir das Gott nennen? Um Gott zu sein, antwortet Evodius, genügt es nicht, der menschlichen Vernunft überlegen zu sein. Gott ist vielmehr dasjenige, dem nichts überlegen ist (DLA 2. 6. 14). Zu den höchsten Elementen im Geist des Menschen gehören das Wissen von Zahlen und Urteile über Werte. Die Wahrheiten der Arithmetik sind, im Gegensatz zu den zerbrechlichen Körpern der Menschen, unveränderlich, und sie sind, anders als die Gegenstände der Empfindung des Einzelnen, allen gebildeten Menschen bekannt. Sieben plus drei ergibt zehn: immer und für jeden. Unser arithmetisches Wissen ist nicht aus der Erfahrung des Zählens abgeleitet. Im Gegenteil: Wir verwenden die Regeln der Addition und Subtraktion, um jemanden darauf hinzuweisen, dass er sich verzählt hat. Wir sind uns der Regeln bewusst, die auf die unendliche Reihe der Zahlen anwendbar sind, eine Reihe, die umfassender ist als alles, dem wir in der Erfahrung begegnen könnten (DLA 2. 8. 22–4).

Augustinus’ Gott

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Neben den arithmetischen Wahrheiten gibt es moralische Wahrheiten, die zum Allgemeinbesitz aller Menschen gehören. Weisheit ist Erkenntnis des höchsten Gutes: Jeder möchte glücklich sein, und daher wünscht sich jeder, weise zu sein, da dies für das Glück unerlässlich ist. Obwohl die Menschen bezüglich des höchsten Gutes anderer Meinung sein können, stimmen sie alle in Urteilen wie etwa dem überein, dass wir gerecht leben sollten, dass der Schlechtere dem Besseren unterworfen werden und jeder bekommen sollte, was ihm geschuldet wird (DLA 2. 10. 28). Augustinus behauptet, dass diese „Richtlinien und Leitsterne der Tugend“ wahr und unwandelbar und dem allgemeinen Nachdenken jedes vernünftigen Geistes zugänglich sind. Was verbindet Arithmetik und Weisheit? Schließlich sind einige Mathematiker alles andere als weise, und einige weise Männer wissen über Mathematik sehr wenig. Augustinus’ Antwort ist überraschend. „Es liegt mir fern zu behaupten, dass die Weisheit im Vergleich mit Zahlen minderwertiger ist. Bei beiden handelt es sich um dieselbe Sache, nur erfordert die Weisheit ein Auge, das sie sehen kann. Von einem Feuer werden Licht und Wärme empfunden, als wären sie sozusagen eines Wesens. Das eine kann vom anderen nicht getrennt werden. Und dennoch erreicht die Wärme nur solche Dinge, die in die Nähe des Feuers gebracht werden, während das Licht in große Entfernung zerstreut wird. Auf diese Weise erwärmt die Kraft des Intellekts, die in der Weisheit wohnt, Dinge in ihrer Nähe, wie zum Beispiel vernünftige Seelen. Auf weiter entfernte Dinge, wie etwa Körper, wirkt sie mit der Wärme der Weisheit nicht ein, sondern übergießt sie mit dem Licht der Zahlen.“ (DLA 2. 11. 32)

Was Arithmetik und Weisheit gemeinsam haben ist, dass beide wahr und unveränderlich wahr und in einer einzigen unveränderlichen Wahrheit enthalten sind. Diese Wahrheit ist nicht der Besitz irgendeines einzelnen Menschen: Sie kann von jedermann geteilt werden. Ist diese Wahrheit nun unserem Geist überlegen, ihm ebenbürtig oder unterlegen? Wäre sie unserem Geist unterlegen, würden wir über sie ein Urteil fällen, so wie wir etwa urteilen können, dass eine Wand nicht so weiß ist, wie sie sein sollte, oder eine Kiste nicht so quadratisch, wie sie sein sollte. Wäre sie unserem Geist ebenbürtig, würden wir ebenfalls ein Urteil über sie fällen. Wir sagen beispielsweise, dass wir weniger verstehen, als wir sollten. Doch wir fällen über die Regeln der Tugend oder die Wahrheiten der Arithmetik kein Urteil. Wir behaupten, dass das Ewige dem Zeitlichen überlegen ist, und dass sieben plus drei zehn ergibt. Wir sagen nicht, dass die Dinge so sein sollten. Die unwandelbare Wahrheit ist daher unserem Geist nicht unterlegen oder ebenbürtig: Sie ist ihm überlegen und gibt den Maßstab vor, nach dem wir ihn beurteilen (DLA 2. 12. 34). Wir haben also etwas gefunden, was dem menschlichen Geist und der Vernunft überlegen ist. Ist es Gott? Nur wenn es nichts gibt, was ihm überlegen ist. Wenn es etwas gibt, das großartiger als die Wahrheit ist, dann ist dieses Gott; wenn nicht, so ist Gott die Wahrheit selbst. Ob es so etwas gibt oder nicht: Wir müssen in jedem Fall

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9 Gott

zustimmen, dass Gott existiert (DLA 2. 15. 39). Und so haben wir unseren anfänglichen Glauben an Gott in eine Form der Erkenntnis seiner Existenz verwandelt, wie schwach sie auch sein mag. Kann uns die Philosophie mehr über seine Natur sagen? Eines der wichtigsten Dinge, die wir nach Augustinus von Gott wissen können, ist, dass Gott einfach ist. In einem Abschnitt des Gottesstaates erläutert er, was er damit meint. „Demnach also bezeichnet man als einfach ein Wesen, dem es nicht eigen ist, etwas zu haben, was es verlieren könnte, oder bei dem der Inhaber nicht etwas anderes ist als der Gegenstand der Inhabung, wie das Gefäß etwas anderes ist als die Flüssigkeit darin, der Körper etwas anderes als seine Farbe, die Luft etwas anderes als Licht oder Wärme in ihr, die Seele etwas anderes als die ihr innewohnende Weisheit. Nichts von all dem ist das, was es hat; das Gefäß ist nicht die Flüssigkeit, der Körper nicht die Farbe, die Luft nicht das Licht oder die Wärme, die Seele nicht die Weisheit. Darum können diese Dinge auch dessen verlustig gehen, was sie haben, und können in andere Zustände oder Beschaffenheiten übergehen und sich verändern; ein Gefäß kann seines Inhaltes entleert werden, ein Körper seine Farbe verlieren, die Luft finster und kalt werden, die Seele um ihre Weisheit kommen.“ (DCD XI. 10)

Wenn ein Wesen einfach ist, so ist das, was zu irgendeiner Zeit an Wahrem davon ausgesagt werden kann, zu jeder Zeit wahr. Doch für vollkommene Einfachheit reicht Unveränderlichkeit nicht aus. Ein einfaches Wesen muss nicht nur von jeder Veränderung ausgenommen sein, sondern es darf auch keine gleichzeitig existierenden Teile haben. Als junger Mann hatte Augustinus geglaubt, Gott sei körperlich: Er stellte ihn sich als einen grenzenlosen Ozean vor, der die geschaffene Welt durchdringt, als sei sie ein Schwamm (Conf. VII. 5. 7). Doch alles Körperliche ist ausgedehnt, da es aus Teilen besteht, die räumlich voneinander verschieden sind. Der eine einfache Gott kann nicht körperlich, nicht im Raum ausgedehnt sein. Wir können noch einen Schritt weiter gehen. Etwas kann unveränderlich und ohne Ausdehnung und dennoch nicht einfach sein: wenn es mehrere, voneinander verschiedene ewige Eigenschaften hat. Augustinus glaubte, dass in Gott sämtliche göttlichen Attribute auf irgendeine Weise miteinander und mit der göttlichen Substanz, der sie inhärieren, identisch sind (DCD XI. 10). Was ist dann die göttliche Substanz oder das göttliche Wesen? Augustinus greift einen Text aus dem zweiten Buch Mose (Exodus 3:14) auf: Gottes Mitteilung durch Moses: „Ich bin, der ich bin“, um die platonische Metaphysik mit der Lehre der Bibel in Einklang zu bringen. Gott ist derjenige, der ist, d. h.: Er ist das höchste Wesen, er ist im höchsten Sinne. „Er gab den Dingen, die er aus nichts erschaffen hat, das Sein, jedoch nicht das Sein auf höchste Weise, wie er es selbst ist; und zwar gab er den einen mehr davon, den andern weniger und ordnete so stufenweise die Naturen der Wesen wie sich nämlich von weise

Augustinus’ Gott

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sein das Wort Weisheit ableitet, so vom Zeitwort sein [esse] das Hauptwort Wesen [essentia].“ (DCD XII. 2)

Augustinus sagt uns, dass essentia ein neues lateinisches Wort ist, das erst vor Kurzem geprägt wurde, um dem griechischen Wort ousia zu entsprechen. Gottes Wesen ist mit seinen Eigenschaften identisch, und eine seiner wichtigsten Eigenschaften ist sein Gutsein. Genauso wie Gott seinen Geschöpfen das Sein verleiht, so gibt er ihnen auch ihr Gutsein. Alles von ihm Geschaffene ist seiner Natur nach gut. Woher kommt dann das Böse? In seiner Jugend teilte Augustinus die Auffassung der Manichäer, der zufolge das Universum von zwei höchsten Prinzipien regiert wurde, von denen das eine gut und das andere böse war und die miteinander in Konflikt standen. Als Christ gab er den Glauben an ein böses Prinzip auf, doch dies bedeutete nicht, dass er nun glaubte, der gute Gott sei die Ursache des Bösen. Das Böse ist nur ein Mangel an Gutem, es ist keine positive Wirklichkeit und bedarf keines Prinzips seiner Verursachung. Alles Böse in den Geschöpfen ist einfach ein Verlust von etwas Gutem – von Unversehrtheit, Schönheit, Gesundheit oder Tugend (DCD XII. 3). Gott erschafft nichts Böses, aber er erschafft einige gute Dinge, die besser sind als andere gute Dinge, und sie bleiben auch dann besser als andere Dinge, wenn sie mit Mängeln behaftet sind. Daher ist ein entlaufenes Pferd besser als ein an seinem Ort bleibender Stein, und ein Betrunkener besser als der gute Wein, den er trinkt (DLA 3. 2. 15). Es ist nichts Bedauerliches an der Tatsache, dass ein Geschöpf weniger gut ausgestattet ist als ein anderes: Die Vielfalt der geschöpflichen Gaben trägt zur Schönheit des Universums bei, und Gott ist niemandem irgendetwas schuldig (DLA 3. 15. 45). Doch wie steht es um das Übel eines bösen Willens? Wie wir bei der Erörterung der Natur des Geistes gesehen haben, 1 glaubt Augustinus, dass eine böse Wahlentscheidung des Menschen keine Ursache hat. Die Freiheit des Willens ist natürlich eine Gabe Gottes, und sie bringt die Möglichkeit mit sich, dass diese Freiheit missbraucht wird. Doch in keinem einzelnen Fall eines solchen Missbrauchs liegt irgendein Zwang oder eine Notwendigkeit vor. Zumindest traf dies auf die menschliche Natur zu, wie sie von Gott ursprünglich geschaffen wurde. Vor dem Sündenfall war die menschliche Freiheit ungehindert wirksam: Das ist ein Grund dafür, warum die Sünde Adams so schwer wiegt. Doch als Adam der Sünde verfiel, brachte dies nicht nur die Anfälligkeit für Tod, Krankheit und Schmerz mit sich, sondern es führte außerdem zu einer massiven moralischen Schwächung. Wir Kinder Adams haben nicht nur die Sterblichkeit, sondern auch die Sündhaftigkeit geerbt. Lasterhafte, durch die Erbsünde verdorbene Menschen haben nicht die Freiheit, ohne Hilfe gut zu leben: Jeder Versuchung, die uns begegnet, können wir vielleicht zunächst frei widerstehen, doch kann unser Widerstand nicht von Tag zu Tag verlängert werden. Wir sind auf Gottes Gnade nicht nur angewiesen, um den 1

Vgl. Kapitel 7.

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Himmel zu erwerben, sondern auch, um einem Leben in ständiger Sünde zu entkommen (DCG 7). Die Gnade, die es einigen Menschen ermöglicht, die Sünde zu meiden, wird nicht deshalb einigen Menschen eher als anderen zuteil, weil sie es durch ihr tatsächliches oder vorausgesehenes Verhalten verdient hätten. Sie wird vielmehr einfach deshalb vergeben, weil es Gott in seinem unerforschlichen Ratschluss so gefällt. Niemand kann errettet werden, ohne dazu vorherbestimmt zu sein. Die Auswahl derer, die gerettet und damit auch derjenigen, die verdammt werden, wurde von Gott getroffen, lange bevor sie existierten oder irgendwelche guten oder bösen Taten begangen hatten. Die Beziehung zwischen der göttlichen Vorherbestimmung und den Tugenden und Lastern der Menschen war ein Thema, mit dem sich Augustinus in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte. Ein britischer Asket namens Pelagius, der zunächst nach Rom und nach der Plünderung der Stadt weiter nach Afrika ging, predigte eine Sicht der menschlichen Freiheit, die mit derjenigen von Augustinus in direktem Konflikt stand. Er lehrte, dass die Sünde Adams seine Erben nur dadurch geschädigt hatte, dass er ihnen ein schlechtes Beispiel gab. Die Menschen hätten sich während ihrer gesamten Geschichte die vollständige Freiheit des Willens bewahrt. Der Tod war keine Strafe für die Sünde, sondern eine natürliche Notwendigkeit, und selbst Heiden, die ein tugendhaftes Leben geführt hatten, erfreuten sich eines glücklichen Lebens nach dem Tode. Christen hatten die besondere Gnade der Taufe empfangen, die sie im Himmel zu einer höheren Glückseligkeit berechtigte. Solche besonderen Gnaden wurden von Gott denjenigen erwiesen, von denen er vorhersah, dass sie ihrer würdig sein würden. Augustinus konnte auf einem Konzil in Karthago im Jahre 418 die Verurteilung von Pelagius erwirken (DB 101–8), doch damit war die Sache nicht zu Ende. Fromme Asketen in Klöstern in Afrika und in Frankreich beklagten, dass Ermahnungen und Tadel vergeblich waren und die gesamte klösterliche Disziplin zwecklos, wenn Augustinus’ Ansichten über die Freiheit der Wahrheit entsprachen. Warum sollte ein Abt einen sündigenden Mönch zurechtweisen? Wenn der Mönch dazu vorherbestimmt war, besser zu sein, dann würde Gott ihn besser machen; wenn nicht, würde der Mönch weiterhin sündigen, unabhängig davon, was der Abt ihm sagt. In seiner Antwort bestand Augustinus darauf, dass nicht nur die anfängliche Berufung zum Christentum, die erste Regung des Glaubens, sondern auch die Beharrlichkeit in der Tugend selbst des frömmsten, sich seinem Tode nähernden Christen eine Sache purer Gnade sei (DCG 7; DDP). Wenn die Gnade für die Erlösung notwendig war, reichte sie auch dazu aus? Wenn einem Gnade angeboten wird, kann man ihr widerstehen? Wenn ja, dann würde es im menschlichen Schicksal einen gewissen Raum für Freiheit geben. Während einige in der Hölle enden würden, weil ihnen niemals Gnade angeboten wurde, würden sich in der Hölle auch diejenigen wieder finden, die die ihnen angebotene Gnade zurückgewiesen hatten. Im Laufe der Auseinandersetzung verhärtete sich Augustinus’

Boethius über göttliche Voraussicht

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Position zunehmend, und zum Schluss bestritt er selbst diesen Rest menschlicher Wahlfreiheit: Gnade kann nicht zurückgewiesen werden, sie lässt sich nicht bezwingen. Es gibt nur zwei Klassen von Menschen: diejenigen, denen Gnade zuteilgeworden ist, und diejenigen, denen sie nicht zuteilgeworden ist – die Prädestinierten und die Verdammten. Dafür, warum ein einzelner Mensch in die eine statt in die andere Klasse fällt, können wir keinen Grund angeben. „Wenn wir zwei Neugeborene nehmen, beide auf gleiche Weise in den Fesseln der Erbsünde, und uns fragen, warum das eine stirbt und das andere weiterlebt; wenn wir zwei sündige Erwachsene nehmen und uns fragen, warum der eine gerufen wird und der andere nicht: In jedem Fall ist das Urteil Gottes unerforschlich. Wenn wir zwei heilige Männer nehmen und uns fragen, warum dem einen die Gabe der Beharrlichkeit bis ans Ende zuteil wurde und dem anderen nicht, so sind die Urteile Gottes sogar noch unerforschlicher.“ (DDP 66)

Der mürrische Kreuzzügler für die Prädestination im Kloster von Hippo ist sehr verschieden vom jugendlichen Verteidiger der menschlichen Freiheit in den Gärten von Cassiciacum. Es war Ersterer, nicht der Zweite, der nach seinem Tode einen mächtigen Einfluss ausübte und über viele kommende Jahrhunderte einen Schatten warf.

Boethius über göttliche Voraussicht Das Problem, mit dem sich Augustinus bei dem Versuch konfrontiert sah, die Freiheit des Menschen mit der Macht Gottes in Einklang zu bringen, lässt sich lösen, wenn man bereit ist, die Lehre von der Prädestination aufzugeben. Doch für all diejenigen, die glauben, dass Gott allwissend ist, bleibt ein Problem bezüglich der göttlichen Voraussicht bestehen: Es betrifft nicht Gottes Wille, dass sich Menschen tugendhaft verhalten und gerettet werden, sondern einfach Gottes Wissen über das, was Menschen tun oder nicht tun werden. Dieses Problem wird von Boethius auf klare und lebhafte Weise im fünften Buch seines Trostes der Philosophie erörtert. Das Buch geht auf die Frage ein, ob es in einer von der göttlichen Vorsehung regierten Welt so etwas wie Glück oder Zufall geben kann. Die Dame Philosophie antwortet: Wenn wir unter Zufall ein Ereignis verstehen, das durch eine Zufallsbewegung ohne jede Ursachenkette hervorgerufen wurde, dann gibt es so etwas wie Zufall nicht. Die einzige Art von Zufall ist diejenige, die Aristoteles als die unerwartete Wirkung zusammentreffender Ursachen definiert hat (DCP 5. 1). Lässt in diesem Fall, fragt Boethius, das Netz der Ursachen irgendwelchen Platz für freie menschliche Entscheidungen, oder gilt die Fügung des Schicksals selbst für die Bewegungen unseres Geistes? Die Schwierigkeit ist folgende: Wenn Gott alles voraussieht und sich nicht irren kann, dann muss, was er voraussieht, mit Notwendigkeit eintreten. Denn wenn

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es möglich ist, dass unsere Handlungen und Wünsche sich anders ergeben, als Gott es vorausgesehen hat, dann ist es möglich, dass Gott sich im Irrtum befindet. Selbst wenn alles sich so ereignet, wie er es vorausgesehen hat, wäre seine Voraussicht lediglich eine Vermutung und kein wirkliches Wissen. Boethius gibt zu, dass Wissen – für sich genommen – nicht verursacht, was gewusst wird. Jemand mag wissen, dass ich sitze, doch es ist mein Sitzen, was der Grund seines Wissens ist, sein Wissen ist nicht der Grund, weshalb ich sitze. Doch Notwendigkeit ist von Kausalität verschieden, und „Wenn jemand weiß, dass ich sitze, dann sitze ich“ ist eine notwendige Wahrheit. Auch der Satz „Wenn Gott weiß, dass ich sündigen werde, werde ich sündigen“ ist eine notwendige Wahrheit. Das reicht gewiss aus, um die Freiheit unseres Willens zu zerstören und damit jegliche Rechtfertigung für die Belohnung oder Bestrafung menschlicher Handlungen. Wenn es andererseits dennoch möglich ist, dass ich nicht sündige und Gott denkt, dass ich unausweichlich sündigen werde, dann irrt er sich – welch ein gotteslästerlicher Vorschlag! Die Dame Philosophie akzeptiert, dass wahrhaft freie Handlungen nicht mit Sicherheit vorhergesehen werden können. Doch wir können, ohne jeden Raum für Zweifel, etwas beobachten, das sich in der Gegenwart zuträgt. Wenn wir zuschauen, wie ein Wagenlenker seine Pferde um die Rennbahn steuert, macht weder unser Blick noch irgendetwas sonst seine geschickte Führung des Gespanns notwendig. Gottes Wissen über unsere künftigen Handlungen gleicht unserem Wissen über die gegenwärtigen Handlungen anderer: Er befindet sich außerhalb der Zeit, und sein Sehen ist nicht wirklich eine Voraussicht. „Dasselbe Zukünftige scheint, wenn man es zu der göttlichen Erkenntnis in Beziehung setzt, notwendig, wenn es aber in seinem eigenen Wesen erwogen wird, gänzlich frei und unabhängig. […] Gott aber schaut das Zukünftige, was aus Willensfreiheit geschieht, als Gegenwärtiges“ (DCP 5. 6). Es gibt zwei Arten von Notwendigkeit: eine einfache direkte Notwendigkeit, wie sie etwa in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Notwendigerweise sind alle Menschen sterblich“, und eine bedingte Notwendigkeit, wie in dem Satz: „Notwendigerweise: Wenn jemand weiß, dass ich gehe, dann gehe ich.“ Bedingte Notwendigkeit impliziert keine einfache Notwendigkeit. Der Schluss „Wenn jemand weiß, dass ich gehe, gehe ich notwendigerweise“ ist ungültig. Daher sind die zukünftigen Ereignisse, die Gott als gegenwärtig schaut, bedingt notwendig, doch sie sind nicht notwendig in dem direkten Sinn, auf den es ankommt, wenn wir von der Freiheit des Willens reden (DCP 5. 6). Als er erklärte, dass Gott sich außerhalb der Zeit befinde, gab Boethius eine Definition der Ewigkeit, die kanonisch wurde. „Ewigkeit ist der ganze und zugleich vollkommene Besitz eines unbegrenzbaren Lebens.“ (DCP 5. 6) Wir in der Zeit Lebenden gehen von der Vergangenheit in die Zukunft, wir haben gestern schon verloren und morgen noch nicht erreicht. Doch Gott besitzt das Ganze seines Lebens gleichzeitig. Kein Teil von ihm ist vergangen und keiner steht ihm noch bevor. Boethius’ Behandlung von Freiheit, Voraussicht und Ewigkeit war über weite Strecken des Mittelalters die klassische Darstellung. Doch bei seiner Lösung des

Die negative Theologie von Eriugena

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Dilemmas, das er mit so unvergleichlicher Klarheit formulierte, bleiben Probleme bestehen. Gewiss verhalten sich die Dinge so, wie Gott sie sieht. Sieht Gott also die morgige Seeschlacht als Gegenwart, dann ist sie wirklich bereits gegenwärtig. Auch der Begriff der Ewigkeit wirft mehr Probleme auf, als er löst. Wenn Boethius’ Gefangenschaft mit Gottes Ewigkeit gleichzeitig ist und Gottes Ewigkeit mit der Eroberung von Troja: Bedeutet dies dann nicht, dass Boethius sich in seinem Kerker befand, während Troja brannte? Wir können nicht behaupten, dass die Gefangenschaft mit einem Teil der Ewigkeit gleichzeitig ist und die Eroberung mit einem anderen, weil die Ewigkeit keine Teile hat, sondern – nach der Darstellung der Dame Philosophie – alles in ihr auf einmal geschieht. 2

Die negative Theologie von Eriugena Zwei Jahrhunderte später beschäftigte sich Scotus Eriugena erneut mit Augustinus’ Problem der Prädestination. 3 Sein Hauptbeitrag zur philosophischen Theologie liegt allerdings in der extremen Einschränkung, die er für die Verwendung der Sprache über Gott vornimmt. Gott fällt unter keine der Kategorien von Aristoteles. Alles, was ist, kann daher von ihm verneint werden: Dies ist negative („apophatische“) Theologie. Andererseits ist Gott die Ursache aller seienden Dinge, sodass sie alle von ihm ausgesagt werden können: Wir können sagen, dass Gott Güte, Licht etc. ist: Dies ist positive („kataphatische“) Theologie. Doch alle Begriffe, die wir auf Gott anwenden, werden nur in einem uneigentlichen und metaphorischen Sinn auf ihn angewendet. Dies gilt für Wörter wie „gut“ und „gerecht“ ebenso wie für offensichtlich metaphorische Beschreibungen Gottes als ein Fels oder Löwe. Wir können dies einsehen, wenn wir darüber nachdenken, dass solche Prädikate ein Gegenteil haben, Gott selbst jedoch nicht. Da affirmative Theologie lediglich metaphorisch ist, steht sie mit negativer Theologie, die im wörtlichen Sinne wahr ist, nicht in Konflikt. Eriugena zufolge ist Gott nicht gut, sondern mehr als gut, nicht weise, sondern mehr als weise, nicht ewig, sondern mehr als ewig. Diese Sprache fügt natürlich der Leugnung, dass diese Prädikate im wörtlichen Sinne auf Gott zutreffen, außer einem Ton der Ehrfurcht, nichts hinzu. Eriugena geht sogar so weit zu behaupten, dass Gott nicht Gott ist, sondern mehr als Gott. Dasselbe gilt für die einzelnen Personen der Trinität: Der Vater ist nur im metaphorischen Sinne ein Vater. Zu den aristotelischen Kategorien, deren Anwendung auf Gott nach Eriugena zu bestreiten ist, gehören auch diejenigen von Handlung und Leiden. Gott handelt weder, noch wird an ihm gehandelt, es sei denn in einem metaphorischen Sinne: Streng genommen bewegt er sich weder, noch wird er bewegt; weder liebt er, noch wird er geliebt. Die Bibel sagt uns zwar, dass Gott liebt und geliebt wird, doch muss dies im 2 3

Vgl. A. Kenny, The God of the Philosophers (Oxford: Clarendon Press, 1979), 38 ff. Ebd., 282.

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Johannes Scotus Eriugena (rechts) im Streitgespräch mit einem griechischen Abt namens Theodorus.

Islamische Argumente für die Existenz Gottes

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Lichte der Vernunft interpretiert werden. Die Vernunft ist der Autorität überlegen. Autorität wird von der Vernunft abgeleitet, nicht umgekehrt. Die Vernunft benötigt keine Bestätigung durch Autorität. Die Vernunft sagt uns, dass die Bibel Nomen und Verben nicht in ihrem eigentlichen Sinne verwendet, sondern sie verwendet Allegorien und Metaphern, um unserer kindlichen Intelligenz entgegenzukommen. „Nichts kann über Gott in der richtigen Weise ausgesagt werden, da er jeden Intellekt übersteigt. Er wird durch Nichtwissen besser erkannt, Nichtwissen ist die wahre Erkenntnis von ihm. Er lässt sich in jeder Hinsicht auf wahrere und angemessenere Weise verneinen als bejahen.“ (Periph. 1) Unsere Erkenntnis Gottes, soweit wir davon reden können, stammt aus den metaphorischen Aussagen der Theologie und aus „Theophanien“, oder Selbstbekundungen Gottes vor bestimmten Personen, zum Beispiel in den Visionen der Propheten. Das Wesen Gottes ist Menschen und Kindern unbekannt: Ja, Gottes Wesen ist sogar ihm selbst unbekannt. Ebenso wie ich, als menschliches Wesen, zwar weiß, dass ich bin, aber nicht, was ich bin, weiß auch Gott nicht, was er ist. Wenn er es wüsste, könnte er sich selbst definieren. Doch das Unendliche kann nicht definiert werden. Es ist keine Beleidigung Gottes, wenn man behauptet, dass er nicht weiß, was er ist, denn er ist kein Was (Periph. 2). Bei seiner Beschreibung der Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen verwendet Eriugena eine Sprache, die leicht als Form des Pantheismus verstanden werden kann, und dies war auch der Grund, warum er dreieinhalb Jahrhunderte später durch einen Papst verdammt wurde. Von Gott, so behauptete er, könne man sagen, dass er in den Geschöpfen geschaffen, in den von ihm hervorgebrachten Dingen selbst hervorgebracht wird, und dass er in den Dingen, die zu sein beginnen, selbst beginnt zu sein (Periph. 1. 12). Ebenso wie unser Intellekt sein eigenes Leben erschafft, indem er Konkretes bedenkt, so erschafft auch Gott, indem er Geschöpfen das Leben gibt, ein Leben für sich selbst. Denjenigen, die solche Aussagen für schlichtweg unvereinbar mit dem rechten christlichen Glauben hielten, könnte Eriugena zweifellos geantwortet haben, dass sie – wie alle Aussagen über Gott – nur Metaphern waren. Eriugena übernahm seine Ideen über negative und positive Theologie von Pseudo-Dionysios, doch entwickelte er sie auf neue und gewagte Weise weiter. Sein Werk erreichte einen Grad von Agnostizismus, der unter christlichen Philosophen über viele Jahrhunderte ohne Parallele war. Seiner Art des Zugangs zum Bereich religiöser Geheimnisse werden wir in der Geschichte der Philosophie erst wiederbegegnen, wenn wir im 12. Jahrhundert auf Nikolaus von Kues treffen.

Islamische Argumente für die Existenz Gottes Zwischenzeitlich nahmen Philosophen in der islamischen Welt der natürlichen Theologie gegenüber eine robustere Haltung ein. Eriugenas Zeitgenosse al-Kindi war be-

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reit, eine Reihe komplizierter und systematischer Beweise für die Existenz Gottes vorzulegen, die auf dem Beweis der endlichen Natur der Welt, in der wir leben, beruhten. In seiner Ersten Philosophie, in der er sich auf einige der Argumente von Johannes Philoponos – der den Arabern als Yahya al-Nahwi bekannt war – stützt, trägt er folgende Argumente vor: Angenommen, die physikalische Welt hätte eine unendliche Größe. Wenn wir eine endliche Größe daraus entfernen: Ist dann das, was zurückbleibt, endlich oder unendlich? Wenn es endlich ist, erhalten wir, wenn wir die weggenommene Größe wieder zurückgeben, eine endliche Größe, da die Addition von zwei endlichen Größen keine unendliche Größe ergeben kann. Wenn es unendlich ist, dann erhalten wir, wenn wir das Weggenommene zurückgeben, zwei unendliche Körper, von denen der eine (ursprüngliche) kleiner als der andere (das wiederhergestellte Ganze) ist. Doch dies ist absurd. Daher muss das Universum im Raum von endlicher Größe sein. Ähnliche Überlegungen beweisen, dass das Universum in der Zeit endlich ist. Zeit ist quantitativ, und eine aktual unendliche Größe kann nicht existieren. Wenn die Zeit unendlich wäre, müsste dem gegenwärtigen Moment eine unendliche Zahl früherer Zeiten vorausgegangen sein. Doch eine unendliche Zahl kann nicht durchschritten werden. Wäre die Zeit daher unendlich, hätten wir den gegenwärtigen Moment niemals erreichen können, was absurd ist. Wenn die Zeit endlich ist, dann muss das Universum einen Anfang in der Zeit gehabt haben, denn das Universum kann ohne Zeit nicht existieren. Wenn das Universum jedoch einen Anfang hatte, dann muss es eine von sich selbst verschiedene Ursache gehabt haben. Diese Ursache muss die Ursache der Vielfalt sein, der wir im Universum begegnen, und al-Kindi nennt sie den Einen Wahren. Er sagt uns, dass er die Ursache des Anfangs der Entstehung im Universum und der Einheit ist, die jedes Geschöpf zusammenhält. „Der Eine Wahre ist daher der Erste, der Schöpfer, der alles, was er geschaffen hat, hält, und was immer von diesem Halt und dieser Kraft freigesetzt wird, fällt zurück und geht zugrunde.“ 4 Christen und Muslime fanden es dienlich, dass für die Schöpfung der Welt in der Zeit philosophische Argumente vorgebracht werden konnten, damit der Glaubende dies nicht einfach als Glaubenssatz aufgrund der Autorität der Bibel oder des Korans hinnehmen musste. Die Argumente von Philoponos, die durch al-Kindi in den Islam gebracht wurden, kehrten im Hochmittelalter in die christliche Welt zurück, und ihre Gültigkeit wurde, wie wir noch sehen werden, ein Streitpunkt zwischen Hauptvertretern der Scholastik. Nicht alle muslimischen Philosophen stimmten dem Satz zu, dass die Welt in der Zeit erschaffen wurde. Avicenna glaubte, dass Gott die Welt aus Notwendigkeit erschuf: Er ist absolute Güte, und Güte strahlt wesensmäßig nach außen. Doch wenn Gott notwendigerweise ein Schöpfer ist, dann muss die Schöpfung ebenso ewig sein 4

Vgl. W. L. Craig, The Kalam Cosmological Argument (London: Macmillan, 1979), 19–36.

Islamische Argumente für die Existenz Gottes

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wie Gott selbst. Doch obwohl die materielle Welt von gleicher Ewigkeit ist wie Gott, ist sie dennoch von Gott verursacht – nicht direkt, sondern durch die sukzessive Emanation von Intelligenzen, die in der zehnten Intelligenz, dem Schöpfer der Materie und Geber der Formen, ihren Höhepunkt erreicht. 5 Obwohl die Welt ewig ist, ist es dennoch möglich, die Existenz Gottes zu beweisen, und zwar anhand von Überlegungen über Kontingenz und Notwendigkeit. Für Avicenna sind in gewissem Sinne alle Dinge notwendig, da alles eine notwendige Schöpfung eines ewigen Gottes ist. Doch zwischen den Dingen, die von sich aus notwendigerweise existieren, und denen, die für sich betrachtet zufällig sind, muss ein wichtiger Unterschied gemacht werden. Beginnend mit dieser Unterscheidung legt Avicenna einen Beweis dafür vor, dass es mindestens ein Ding geben muss, das von sich aus notwendigerweise existiert. Beginnen wir mit einer beliebig ausgewählten Entität – dabei kann es sich um irgendetwas im Himmel oder auf der Erde handeln. Wenn es von sich aus notwendigerweise existiert, dann ist unsere Behauptung bewiesen. Wenn es von sich aus zufälligerweise existiert, dann existiert es notwendigerweise durch etwas anderes. Diese zweite Entität existiert entweder notwendigerweise durch sich selbst oder durch etwas anderes. Existiert sie durch etwas anderes, so gibt es eine dritte Entität usw. Wie lange diese Reihe auch sein mag: Sie kann nicht mit etwas enden, dass selbst zufällig ist, denn dieses, und damit die ganze Reihe, würde eine Ursache benötigen, die ihre Existenz erklärt. Selbst wenn die gesamte Kausalreihe unendlich ist, muss sie mindestens eine Ursache enthalten, die von sich aus notwendigerweise existiert, denn wenn sie nur kontingente Ursachen enthielte, bedürfte sie einer externen Ursache und würde damit unvollständig sein. Um zu beweisen, dass ein notwendigerweise existierendes Wesen Gott ist, muss Avicenna beweisen, dass solch ein Wesen (das er ab jetzt abgekürzt als „notwendiges Wesen“ bezeichnet) über diejenigen Eigenschaften verfügt, die seine Gottheit definieren. Im siebten Abschnitt des ersten Traktats seiner Metaphysik argumentiert Avicenna, dass es höchstens ein notwendiges Wesen geben kann. Im achten Traktat entwickelt er die anderen Eigenschaften des einzigartigen notwendigen Wesens: Es ist vollkommen, es ist reine Güte, es ist Wahrheit, es ist reine Intelligenz, es ist die Ursache der Schönheit und Pracht von allem anderen (Metaph. 8. 368). Das wichtigste Merkmal des notwendigen Wesens ist, dass es über kein Wesen verfügt, das von seiner Existenz verschieden ist. 6 Wenn es ein Wesen hätte, müsste es eine Ursache geben, die das Wesen mit der Existenz vereinigt, und das notwendige Wesen würde nicht notwendig, sondern verursacht sein. Da es kein anderes Wesen als 5 6

Siehe oben, 224. Das arabische Wort für Existenz, „anniya“, wird als anitas ins Lateinische übersetzt. Es ist dasjenige, was auf die Frage antwortet „An est“ = „Gibt es ein … ?“, ebenso wie die Quiddität dasjenige ist, was auf die Frage antwortet „Quid est“ = „Was ist ein … ?“. „Anität“ hat sich niemals auf gleiche Weise durchgesetzt wie „Quiddität“. Wenn man ein Wort dafür prägen wollte, müsste es „Obheit“ sein – was uns sagt, ob es einen Gott gibt.

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seine Existenz hat, können wir sagen, dass es über gar kein Wesen verfügt, sondern reines Sein ist. Verfügt es über kein Wesen, dann gehört es zu keiner Art. Gott und die Geschöpfe haben nichts gemeinsam, und „seiend“ kann auf notwendig und zufällig Existierendes nicht auf die gleiche Weise angewendet werden. Da Wesen und Quiddität identisch sind, besitzt das höchste Wesen keine Quiddität, gibt es keine Antwort auf die Frage: „Was ist Gott?“ (Metaph. 8. 344 ff.).

Anselms Gottesbeweis Avicennas natürliche Theologie war äußerst fruchtbar: Von Theorien, die man in den folgenden zehn Jahrhunderten in Religionsphilosophien finden kann, lässt sich häufig zeigen, dass es sich bei ihnen (oft ohne Wissen des Autors) um die Entwicklung von Ideen handelt, die in Avicennas Schriften zum ersten Mal auftauchen. Doch ein Theologe, dessen Ideen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu seinen Auffassungen hat, hat ihn mit Sicherheit nie gelesen. Dies war Anselm, der vier Jahre nach Avicennas Tod geboren wurde, und nach dessen eigenem Tod es noch 40 Jahre dauern sollte, bis man Avicennas Werke ins Lateinische übersetzte. Zunächst hat es den Anschein, dass Avicennas Beweis der Existenz eines notwendigen Wesens und Anselms „ontologisches“ Argument für die Existenz Gottes sich sehr voneinander unterscheiden. Doch aus philosophischer Perspektive haben sie eine gemeinsame Struktur: d. h., sie gehen so vor, dass sie eine Brücke zwischen der Welt, in der wir leben, und einer anderen Welt herstellen. Avicenna argumentiert mit Überlegungen über mögliche Welten und behauptet, dass Gott in der wirklichen Welt existieren muss, während Anselm mit Überlegungen über gedachte Welten beginnt und behauptet, dass Gott in der realen Welt existieren muss. Beide nehmen an, dass eine Entität unabhängig davon als ein und dieselbe identifiziert werden kann, ob sie tatsächlich existiert oder nicht. Sie glauben an etwas, das man Jahrhunderte später als Identität in verschiedenen Welten bezeichnen sollte. Beide verletzen daher das Prinzip, dass es keine Individuation ohne Verwirklichung geben kann. Das ontologische Argument wird von Anselm folgendermaßen formuliert: „Wir glauben, daß Du etwas bist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann. Gibt es also ein solches Wesen nicht, weil ‚der Tor in seinem Herzen gesprochen hat: es ist kein Gott‘ ? Aber sicherlich, wenn dieser Tor eben das hört, was ich sage: ‚etwas, über dem nichts Größeres gedacht werden kann‘, versteht er, was er hört; und was er versteht, ist in seinem Verstande, auch wenn er nicht einsieht, daß dies existiert. Denn ein anderes ist es, daß ein Ding im Verstande ist, ein anderes, einzusehen, daß das Ding existiert. […] So wird also auch der Tor überführt, daß wenigstens im Verstande etwas ist, über dem nichts Größeres gedacht werden kann, weil er das versteht, wenn er es hört, und was immer verstanden wird, ist im Verstande. Und sicherlich kann ‚das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘, nicht im Verstande allein sein. Denn wenn

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Ein Manuskript von Anselms Proslogion.

es wenigstens im Verstande allein ist, kann gedacht werden, daß es auch in Wirklichkeit existiere – was größer ist. Doch wenn also ‚das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘, im Verstand allein ist, so ist eben ‚das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘ etwas, über dem Größeres gedacht werden kann. Das aber kann gewiß

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nicht sein. Es existiert also ohne Zweifel ‚etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘, sowohl im Verstande als auch in Wirklichkeit.“ (Proslogion, Kap. 2) 7

Anselm sagt, dass er diese Darstellung seines Arguments derjenigen vorzieht, die er früher in seinem Monologion vorgelegt hatte, da sie wesentlich direkter sei. Sein früheres Argument – dass Seiendes, das von einem anderen Seienden abhängt, letztlich von einem einzigen unabhängigen Wesen abhängen muss – wies eine gewisse Ähnlichkeit mit Avicennas Argument im Ausgang von Zufälligkeit und Notwendigkeit auf. Doch das Argument des Proslogion stellt im Vergleich zu Avicennas natürlicher Theologie einen Fortschritt dar. Während Avicenna gesagt hatte, dass Gottes Wesen seine Existenz beinhaltet, behauptet Anselm, dass der bloße Begriff von Gott beweist, dass er existiert. Ein Gegner von Avicenna kann die Wirklichkeit von Gott und von Gottes Wesen bestreiten, doch jemand, der die Existenz von Anselms Gott leugnet, befindet sich offensichtlich in einem Zustand der Verwirrung. Wenn er nicht über den Begriff Gottes verfügt, weiß er nicht, was er leugnet. Verfügt er jedoch über den Begriff Gottes, dann widerspricht er sich selbst. Seit den Tagen Anselms bis in unsere Gegenwart haben Leser darüber diskutiert, ob das im Proslogion dargelegte Argument gültig ist, und hochintelligente Philosophen fanden es schwierig, in dieser Frage eine Position zu beziehen. Bertrand Russell berichtet in seiner Autobiografie, dass ihn die Überzeugung von der Gültigkeit des ontologischen Arguments mit solcher Intensität überkam, dass er fast vom Fahrrad gefallen wäre, mit dem er in diesem Moment fuhr. Später führte Russell die Widerlegung des ontologischen Arguments als einen der wenigen unstrittigen Fälle von philosophischem Fortschritt an. „Dieses Argument wurde von Anselm aufgestellt, von Thomas von Aquin verworfen, von Descartes akzeptiert, von Kant widerlegt und von Hegel erneut eingeführt. Ich glaube, es lässt sich mit großer Bestimmtheit sagen, dass die moderne Logik, als Ergebnis der Analyse des Begriffs ‚Existenz‘, dieses Argument als ungültig erwiesen hat.“ 8 Doch über das Argument wurde nicht so definitiv entschieden, wie Russell annahm. Als eine spätere Generation von Logikern die Modallogik der möglichen Welten entwickelte, verwendeten theistische Philosophen diese Logik, um das ontologische Argument damit erneut aufleben zu lassen. 9 Die Kritik an Anselms Beweis begann zu seinen Lebzeiten. Ein Mönch namens Gaunilo aus einem benachbarten Kloster meinte: Wenn das Argument gültig sei, dann könne man auf demselben Wege beweisen, dass die allerschönste Insel existieren muss, da man sich ansonsten eine noch schönere Insel vorstellen könnte. Anselm hielt ihm entgegen, die beiden Fälle seien nicht vergleichbar. Von der denkbar schönsten Insel kann man sich vorstellen, dass sie nicht existiert, die Vorstellung, dass sie auf7 8 9

Zitiert nach: Anselm von Canterbury, Proslogion, herausgegeben von F. S. Schmitt O.S.B. (Stuttgart: frommann-holzboog, 1995). B. Russell, History of Western Philosophy (London: Allen & Unwin, 1961), 752. Vgl. A. Plantinga, The Nature of Necessity (Oxford: Oxford University Press, 1974).

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hört zu existieren, beinhaltet keinen Widerspruch. Doch Gottes Nichtexistenz ist nicht auf dieselbe Weise vorstellbar: Irgendetwas, wie groß und erhaben es auch sei, das aufhörte zu existieren, wäre nicht Gott. Der Schwachpunkt von Anselms Argument ist derjenige, der am harmlosesten aussieht: seine Definition Gottes. Woher weiß er, dass die Definition „etwas, über dem Größeres nicht gedacht werden kann“ überhaupt einen widerspruchsfreien Begriff bezeichnet? Könnte es nicht sein, dass der Ausdruck ebenso fehlerhaft konzipiert ist wie „eine natürliche Zahl, zu der keine größere gefunden werden kann“? Wir verstehen natürlich jedes einzelne Wort, das in seiner Definition vorkommt, und seine Syntax scheint ebenfalls korrekt zu sein. Doch das allein garantiert noch nicht, dass die Beschreibung einen nachvollziehbaren Gedanken ausdrückt. Philosophen des 20. Jahrhunderts haben folgenden Ausdruck diskutiert: „die kleinste natürliche Zahl, die in weniger als 28 Silben nicht genannt werden kann“. Dies klingt wie die leicht nachvollziehbare Beschreibung einer Zahl – bis uns das Paradox aufgeht, dass der Ausdruck selbst die Zahl in 26 Silben beschreibt. Anselm scheint selbst gemerkt zu haben, dass sich hier ein Problem verbirgt. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass aus seiner Definition nicht folgt, dass Gott das größte vorstellbare Ding ist. Tatsächlich ist Gott überhaupt nicht vorstellbar: Er ist größer als alles, was sich vorstellen lässt. So weit, so gut: Es ist nichts Widersprüchliches an der Behauptung, dass „über dem Größeres nicht gedacht werden kann“ selbst zu groß ist, um vorstellbar zu sein. Eine Boeing 747 ist so groß, dass nichts Größeres in meine Garage passt. Das bedeutet aber nicht, dass eine Boeing 747 in meine Garage passt – sie ist dafür viel zu groß. Das wirkliche Problem besteht für Anselm darin zu erklären, wie etwas, das nicht vorstellbar ist, sich überhaupt im Verstande befinden kann. Als Antwort auf diese Schwierigkeit unterscheidet er in Kapitel 4 des Proslogion unterschiedliche Arten, auf die wir an etwas denken oder es uns vorstellen. Wir denken an etwas auf eine Weise, wenn wir an einen Ausdruck denken, der es bezeichnet, wir denken auf eine andere Weise daran, wenn wir verstehen, was das Ding für sich genommen in Wirklichkeit ist. Der Tor, so impliziert er, denkt nur an die Worte; der Glaubende denkt an Gott selbst. Doch das ist nicht sein letztes Wort, denn er sagt weiterhin, dass nicht nur der Tor, sondern jeder Mensch unfähig ist, die Wirklichkeit zu begreifen, die hinter den Worten steht „über dem Größeres nicht gedacht werden kann“. Anselms letztes Wort zu dieser Frage findet sich im neunten Kapitel der Antwort, die er auf Gaunilos Einwand schrieb: „Selbst wenn es wahr wäre, dass das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann, selbst nicht vorgestellt oder verstanden werden kann, so würde daraus nicht folgen, dass es falsch wäre, dass ‚das, über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘ gedacht und verstanden werden kann. Nichts hindert, dass etwas als unsagbar bezeichnet wird, obwohl das, was unsagbar ist, selbst nicht gesagt werden kann; und auf gleiche Weise kann das Undenkbare gedacht werden, obwohl das, was zu Recht als undenkbar be-

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zeichnet wird, nicht gedacht werden kann. Wenn daher von dem, ‚über dem Größeres nicht gedacht werden kann‘ gesprochen wird, so besteht kein Zweifel daran, dass das Gehörte vorgestellt und verstanden werden kann, obwohl die Sache selbst, über die Größeres nicht gedacht werden kann, nicht vorgestellt oder verstanden werden kann.“

So subtil diese Verteidigung auch ist: Sie kommt im Grunde einer Kapitulation gleich. Die Grundprämisse des ontologischen Arguments bestand darin, dass Gott selbst im Verstand des Toren existiert. Doch wenn, wie wir jetzt erfahren, sich im Verstande des Toren (oder eines jeden von uns) lediglich eine Reihe von Wörtern befindet, dann kann das Argument nicht einmal beginnen.

Allmacht bei Damiani und Abelard Ein Thema, das die Philosophen und Theologen im elften und zwölften Jahrhundert beschäftigte, war die Natur der göttlichen Allmacht. Auf den ersten Blick scheint es einfach genug zu definieren, was damit gemeint ist, wenn man sagt, dass Gott allmächtig ist: Es bedeutet, dass er alles tun kann. Doch ergeben sich sehr schnell Schwierigkeiten. Kann er sündigen? Ist es ihm möglich, Widersprüchliches gleichzeitig wahr zu machen? Kann er die Vergangenheit ungeschehen machen? Die Diskussion bewegte sich zwischen Extremen. Peter Damiani dehnte im elften Jahrhundert die Allmacht so weit wie möglich aus, während Abelard sie im zwölften Jahrhundert sehr eng definierte. Der heilige Jerome schrieb einmal einer Nonne in Eustochium: „Gott, der alles kann, kann eine verlorene Jungfräulichkeit nicht wiederherstellen.“ In seiner Abhandlung Über die göttliche Allmacht widerspricht Damiani dieser Behauptung. Er erzählt uns, dass sein Freund Desiderio von Cassino Jerome in einem Gespräch während eines Abendessens verteidigt habe. Er habe gesagt, der einzige Grund, warum Gott eine Jungfräulichkeit nicht wiederherstellen könne, sei der, dass er dies nicht wolle. Damiani sagte, diese Antwort sei unakzeptabel. „Wenn Gott irgendwelche von den Dingen, die er nicht tun will, nicht tun kann, da er niemals etwas anderes tut als das, was er will, dann folgt daraus, das er nichts anderes tun kann als das, was er tut. Hieraus ergibt sich, dass wir offen zugeben müssen, dass Gott es heute nicht regnen lässt, weil er es nicht kann.“ Gott kann keine bösen Dinge tun, wie etwa lügen. Doch eine Jungfrau aus einer Frau zu machen, die keine mehr ist, ist nichts Schlechtes. Es gibt daher keinen Grund, warum Gott dies nicht tun kann. Viele nahmen an, dass Damiani behaupte, Gott könne die Vergangenheit ändern, um es beispielsweise wahr zu machen, dass Rom niemals erbaut wurde. Dem hielt man entgegen, dass hierdurch Gott die Fähigkeit zugeschrieben würde, Widersprüchliches gleichzeitig wahr zu machen: Rom wurde erbaut und Rom wurde nicht erbaut. Es ist allerdings möglich, dass Damiani, als er Gott die Macht zuschrieb, eine verlorene Jungfräulichkeit wiederherzustellen, eher an eine physische Änderung als an

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eine echte Aufhebung der Vergangenheit gedacht hat. Der Grund, warum Gott die Zeichen der Jungfräulichkeit denen, die sie verloren haben, nicht zurückgibt, bestand nach seiner Meinung darin, dass dadurch lüsterne junge Männer und Frauen abgeschreckt werden sollten, da ihre Sünden so leicht erkannt werden können. Er verwirft die Vorstellung, dass Gottes Macht so weit reicht, dass er Widersprüchliches gleichzeitig wahr machen kann. „Nichts kann zugleich sein und nicht sein; aber was nicht in der Natur der Dinge liegt, ist zweifellos nichts: Du bist ein strenger Herr, wenn Du versuchst, Gott etwas herbeiführen zu lassen, das nicht das Seine ist, nämlich nichts.“ Doch obwohl Gott die Vergangenheit nicht ändern kann, kann er sie herbeiführen. Er kann auch die Gegenwart und die Zukunft nicht ändern: Was ist, ist, und was sein wird, wird sein. Das verhindert nicht, dass viele Dinge zufällig sind, wie zum Beispiel die Tatsache, dass das Wetter heute sonnig oder regnerisch sein wird (PL 145, 595 ff.). Abelard verfolgte das Thema weiter. Er warf die Frage auf, ob Gott mehr oder bessere Dinge schaffen kann, als die Dinge, die er erschaffen hat, und ob er es unterlassen kann, so zu handeln, wie er es tut. Er meinte, diese Frage schiene nur schwer mit Ja oder Nein beantwortbar zu sein. Wenn Gott mehr oder bessere Dinge erschaffen kann, als er erschaffen hat: Ist es dann nicht geizig von ihm, dies nicht zu tun? Schließlich kostete es ihn keine Mühe. Was immer er tut oder zu tun unterlässt, wird aus den besten aller möglichen Gründe getan oder nicht getan, wie verborgen sie uns auch sein mögen. Es scheint also, dass Gott nicht anders handeln kann, als er tatsächlich handelt. Wenn wir uns andererseits einen beliebigen Sünder auf seinem Weg in die Verdammnis anschauen, so ist klar, dass er besser sein könnte, als er ist; denn ansonsten verdient er für seine Sünden keinen Tadel, noch weniger verdammt zu werden. Doch wenn er besser sein könnte, dann könnte Gott ihn besser machen; ebenso wie etwas, das Gott besser machen könnte, als er es gemacht hat (Theologia Scholarium, 516). Abelard votiert für die eine Seite des Dilemmas. Angenommen, es regnet jetzt nicht: Dies muss der Fall sein, weil Gott es will. Dies muss bedeuten, dass jetzt keine gute Zeit für Regen ist. Wenn wir also sagen, dass Gott es regnen lassen könnte, schreiben wir Gott die Macht zu, etwas Törichtes zu tun. Was immer Gott tun will, kann er tun; wenn er es aber nicht will, dann kann er es nicht. Es ist wahr, dass wir armen Wesen anders handeln können, als wir handeln. Doch dies ist nichts, worauf man stolz sein könnte, es ist ein Zeichen unserer Schwäche, wie unsere Fähigkeit zu gehen, zu essen und zu sündigen. Es wäre besser für uns, wenn wir die Fähigkeit zu tun, was wir nicht tun sollen, nicht hätten. Als Antwort auf das Argument, dass es Sündern möglich sein muss, gerettet zu werden, wenn es möglich sein soll, sie gerechterweise zu bestrafen, verwirft Abelard den Schritt von „Der Sünder kann von Gott gerettet werden“ zu „Gott kann den Sünder retten“. Er behauptet, das zugrunde liegende logische Prinzip – aus „p genau dann, wenn q“ folgt „möglicherweise p genau dann, wenn möglicherweise q“ – sei ungültig, und es ließen sich mehrere Gegenbeispiele dafür anführen. Ein Geräusch wird genau dann gehört, wenn jemand es hört. Doch ein Geräusch kann hörbar sein,

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ohne dass es jemanden gibt, der in der Lage ist, es zu hören. Man könnte dem entgegenhalten, dass Gott keine Dankbarkeit von Menschen verdiente, wenn er nicht anders handeln kann, als er handelt. Doch Abelard hat eine Antwort hierauf. Gott handelt nicht unter Zwang: Sein Wille ist mit der Güte identisch, die es notwendig macht, dass er handelt, wie er handelt. Abelards Erörterung – die hier nur kurz zusammengefasst ist – ist ein bemerkenswertes Beispiel meisterhafter Dialektik, indem er eine Reihe von Unterscheidungen, die in zahlreichen modallogischen Zusammenhängen von Bedeutung sind, einführt oder neu erfindet. Man wird allerdings nicht sagen können, dass es ihm damit gelingt, eine überzeugende Analyse oder Verteidigung des Begriffs der Allmacht zu liefern. Seine Zeitgenossen hat er damit gewiss nicht zufriedengestellt, insbesondere den heiligen Bernhard nicht. Eine der in Sens verworfenen Aussagen lautete: Gott kann nur auf die Weise und zu der Zeit handeln oder es unterlassen zu handeln, zu der er tatsächlich handelt oder es unterlässt zu handeln, und auf keine andere Weise (DB 374).

Grosseteste über Allwissenheit Im 13. Jahrhundert kam es zu einer Verschiebung des philosophischen Interesses: Statt mit dem Problem der göttlichen Allmacht beschäftigte man sich nunmehr mit der Frage der göttlichen Allwissenheit. Robert Grosseteste schrieb eine kurze, aber scharfsinnige Abhandlung über die Freiheit des Willens, De Libero Arbitrio, in der zu Beginn das folgende Problem aufgeworfen wird. Betrachten wir das folgende Argument: „Was immer von Gott gewusst wird, ist entweder, oder es war oder es wird sein. A (eine kontingente Tatsache der Zukunft) wird von Gott gewusst. Daher ist A entweder oder es war oder es wird sein. Doch es ist nicht und es war nicht, daher wird es sein.“ Beide Prämissen sind notwendig; daher ist die Schlussfolgerung notwendig, weil ein Satz, der aus notwendigen Prämisen folgt, selbst notwendig ist. Also muss A selbst notwendig sein, und es gibt keine reale Kontingenz in der Welt. Was sollen wir zu diesem Argument sagen? Nach Grosseteste ist die Hauptprämisse zweifellos notwendig. Doch ist der Untersatz eine notwendige Wahrheit? Einige haben behauptet, dass er falsch ist, da Gott nur Universalien kennt. Doch dies ist eine gottlose Annahme. Andere haben argumentiert, dass er falsch ist, da es Wissen nur von dem geben kann, was es gibt, doch kontingente Tatsachen der Zukunft gehören nicht zu dem, was es gibt, und können nicht gewusst werden. Hierdurch würde Gottes Wissen jedoch der Veränderung unterliegen: Es wird Dinge geben, die er jetzt noch nicht weiß, aber später wissen wird. Sollen wir dann sagen, dass der Untersatz wahr, aber kontingent ist? Wenn dies zutrifft, dann wird es einen Fall geben, in dem Gott weiß, dass p, aber in dem es möglich ist, dass er nicht weiß, dass p. Auch hier gilt: Wenn Gott von einem Zustand, in dem er weiß, dass p, in einen Zustand übergehen könnte, in dem er nicht weiß, dass p, dann würde sein Wissen der Veränderung

Grosseteste über Allwissenheit

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Grossetestes sorgfältiges Studium zeigt sich in diesen handschriftlichen Randnotizen zum Manuskript eines theologischen Textes.

unterliegen. Man könnte behaupten, dass es tatsächlich veränderlich ist, und zwar auf folgende Weise: „Gott weiß, dass ich sitzen werde. Wenn ich gesessen haben werde, weiß er nicht mehr, dass ich sitze, sondern dass ich gesessen habe. Also weiß er jetzt etwas, das er später nicht mehr wissen wird.“ (De Lib. Arb. 160) Grosseteste verwirft diesen Trugschluss. Er beweist nicht, dass sich Gottes Wissen im Verhältnis zum Wesen der Dinge selbst ändert. Er zeigt lediglich die Verwirrungen der menschlichen Zeitstufen. Wir müssen sagen, dass was immer Gott jetzt weiß, später nicht von ihm nicht gewusst werden kann, und dies gilt unabhängig davon, ob der Gegenstand seines Wissens jetzt existiert oder nicht. Weder der Satz „Der Antichrist wird kommen“ noch „Gott weiß, dass der Antichrist kommen wird“ kann seinen Wahrheitswert von wahr zu falsch ändern. Angenommen der Satz „Der Antichrist wird kommen“ ändere jetzt seinen Wahrheitswert von wahr zu falsch. Wenn er jetzt falsch ist, muss er immer falsch gewesen sein, was der Hypothese widerspricht, dass er seinen Wahrheitswert geändert hat. Daher kann er sich auf keine andere Weise ändern als dadurch, dass er wahr wird; und dasselbe gilt für den Satz „Gott weiß, dass der Antichrist kommen wird“ (De Lib. Arb. 165).

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Bezüglich derselben Frage, ob Gott immer weiß, was er jemals weiß, gibt Petrus Lombardus in seinen Sentenzen eine ähnliche Antwort. Die Propheten, die die Geburt Christi vorhersagten, und die Christen, die die Tatsache seiner Geburt jetzt feiern, haben es seiner Meinung nach mit derselben Wahrheit zu tun. „Was damals zukünftig war, ist jetzt vergangen, sodass die Worte, die zu seiner Bezeichnung verwendet werden, verändert werden müssen, ebenso wie wir zu verschiedenen Zeiten, wenn wir von ein und demselben Tag reden, ihn mit ‚morgen‘ bezeichnen, wenn er noch in der Zukunft liegt, mit ‚heute‘, wenn er gegenwärtig ist, und mit ‚gestern‘, wenn er in der Vergangenheit liegt […] Wie Augustinus sagt, haben sich die Zeiten geändert und mit ihnen die Worte, doch nicht unser Glaube.“ (I Sent. 41. 3)

Dies lässt jedoch Grossetestes anfängliches Problem ungelöst. Im alten Israel hätte beispielsweise jemand behaupten können: „Jesaja hat die Gefangenschaft der Juden vorausgesehen. Daher kann er die Gefangenschaft der Juden nicht nicht vorausgesehen haben. Daher kann sich die Gefangenschaft der Juden nicht nicht ereignen.“ Müssen wir daher entweder sagen, dass alles mit Notwendigkeit geschieht, oder dass dasjenige, was von notwendigen Wahrheiten notwendig impliziert wird, selbst lediglich kontingent ist? Die Lösung besteht für Grosseteste darin, dass er zwischen zwei Arten von Notwendigkeit unterscheidet. Es ist streng notwendig, dass p, wenn es nicht möglich ist, dass es jemals der Fall gewesen sein könnte, dass nicht-p. Es ist schwach notwendig, dass p, wenn es nicht möglich ist, dass es ab jetzt der Fall sein könnte, dass nicht-p. In unserem Argument haben der Untersatz und die Schlussfolgerung nur eine schwache, keine strenge Notwendigkeit. Schwache Notwendigkeit ist mit Freiheit vereinbar, sodass das Argument die Freiheit des Willens nicht untergräbt. Andererseits bewahren wir das Prinzip, dass dasjenige, was aus Notwendigem folgt, selbst notwendig ist, jedoch nur in dem Sinne notwendig, wie es seine Prämissen sind (De Lib. Arb. 168).

Thomas von Aquin über Gottes ewiges Wissen und seine Macht So subtil sie auch war: Die späteren mittelalterlichen Philosophen stellte Grossetestes Lösung nicht zufrieden. Thomas von Aquin verwarf die Ansicht, die Grosseteste mit Petrus Lombardus teilte, dass „Christus wird geboren werden“ und „Christus ist geboren worden“ ein und dieselbe Aussage sind. Er bezeichnete die Vertreter dieser Ansicht als „alte Nominalisten“. „Die alten Nominalisten sagten, dass ‚Christus wird geboren‘, ‚Christus wird geboren werden‘ und ‚Christus wurde geboren‘ ein und dieselbe Aussage sind, da durch alle drei dieselbe Wirklichkeit bezeichnet wird, nämlich die Geburt Christi. Daraus schlossen sie, dass Gott jetzt weiß, was immer er gewusst hat, denn er weiß jetzt, dass Christus

Thomas von Aquin über Gottes ewiges Wissen und seine Macht

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geboren wurde, was dieselbe Bedeutung hat wie der Satz ‚Christus wird geboren werden‘. Doch diese Ansicht ist aus zwei Gründen falsch. Erstens deshalb, weil eine Aussage, wenn sich die Redeteile in einem Satz unterscheiden, sich ebenfalls ändert. Zweitens würde daraus folgen, dass jede Aussage, die einmal wahr gewesen ist, immer wahr ist, was Aristoteles’ Feststellung widerspricht, dass derselbe Satz ‚Sokrates sitzt‘ wahr ist, wenn er sitzt, und falsch, wenn er aufsteht.“ (ST 1a 14. 15)

Wenn der Gegenstand von Gottes Wissen daher die Form von Aussagen hat, so trifft es nicht zu, dass Gott, was immer er einmal wusste, jetzt weiß. Doch dies bedeutet nicht, dass Gottes Wissen unbeständig ist: Es besagt nur, dass sein Wissen sich im Gegensatz zu unserem nicht in Aussagen ausdrückt. Seine eigene Lösung des Problems, wie die göttliche Voraussicht mit der Kontingenz in Einklang zu bringen ist, stellt Thomas in zwei Stadien vor. Das erste Stadium, mit dem seit Boethius jedermann vertraut war, beruft sich auf zwei unterschiedliche Weisen, auf die Modalaussagen analysiert werden können. 10 Die Aussage „Was immer von Gott gewusst wird, ist notwendigerweise wahr“ ist doppeldeutig: Sie kann (A) oder (B) bedeuten: (A) „Was immer von Gott gewusst wird, ist wahr“ ist eine notwendige Wahrheit. (B) Was immer von Gott gewusst wird, ist eine notwendige Wahrheit.

(A) ist in der Terminologie des Aquinaten eine Aussage de dicto: Sie nimmt die ursprüngliche Aussage als eine Meta-Aussage über den Status der Aussage in Anführungsstrichen. (B) ist hingegen eine Aussage de re, eine Aussage erster Ordnung. Thomas zufolge ist (A) wahr und (B) falsch; doch nur (B) ist mit Gottes Wissen von kontingenten Wahrheiten unvereinbar. So weit, so gut. Doch Thomas erkennt, dass er sich bei dem Versuch, die göttliche Voraussicht mit der Zufälligkeit in der Welt in Einklang zu bringen, mit einer größeren Schwierigkeit konfrontiert sieht. Für jeden wahren Bedingungssatz gilt: Wenn der Vorsatz notwendigerweise wahr ist, dann ist auch der Folgesatz notwendigerweise wahr. „Wenn Gott erkannt hat, dass etwas Bestimmtes geschehen wird, dann wird dies geschehen“ ist eine notwendige Wahrheit. Der Vordersatz, wenn er wahr ist, ist notwendigerweise wahr, denn er ist in der Vergangenheitsform, und was vergangen ist, kann nicht geändert werden. Daher ist auch der Folgesatz eine notwendige Wahrheit. Das Zukünftige, was immer es sei, wird mit Notwendigkeit eintreten. Thomas’ Lösung dieser Schwierigkeit hängt von seiner These ab, dass Gott sich außerhalb der Zeit befindet: Sein Leben wird nicht nach der Zeit, sondern nach der Ewigkeit gemessen. Die Ewigkeit, die keine Teile hat, übergreift alle Zeit. Daher sind alle Dinge, die zu verschiedenen Zeiten geschehen, Gott gemeinsam gegenwärtig. Ein Ereignis wird nur dann als ein zukünftiges erkannt, wenn es ein Verhältnis von Zu10 Vgl. die Ausführungen zu Abelard auf Seite 135.

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kunft und Vergangenheit zwischen dem Wissen des Erkennenden und dem Eintreten des Ereignisses gibt. Doch das Verhältnis zwischen Gottes Wissen und irgendeinem Ereignis in der Zeit ist immer ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit. Ein zufälliges Ereignis, das von Gott erkannt wird, ist nicht zukünftig, sondern gegenwärtig; und als gegenwärtiges ist es notwendig. Denn was der Fall ist, ist der Fall, und niemand hat die Macht, es zu verändern (ST 1a 14. 13). Thomas’ Lösung entspricht im Wesentlichen derjenigen von Boethius, und er verwendet dasselbe Beispiel, um zu erklären, wie Gottes Wissen außerhalb der Zeit sein kann. „Ein Mann, der eine Straße entlang läuft, kann diejenigen nicht sehen, die nach ihm kommen. Doch ein Mann, der von einem Berg aus die ganze Länge der Straße überschaut, kann mit einem Blick gleichzeitig all diejenigen sehen, die sie entlang gehen.“ Thomas’ Lösung ist demselben Einwand ausgesetzt wie diejenige von Boethius: Die Vorstellung der Ewigkeit als gleichzeitig mit jedem Punkt der Zeit führte zum Zusammenbruch zeitlicher Unterscheidungen sowohl auf der Erde als auch im Himmel und machte die Zeit zu etwas Unwirklichem. Man wird daher nicht sagen können, dass es Thomas gelungen ist, kontingente Ereignisse, und insbesondere die Freiheit des Menschen, mit der göttlichen Allwissenheit in Einklang gebracht zu haben. Mehr Erfolg hatte Thomas bei der Verteidigung der Widerspruchsfreiheit einer anderen göttlichen Eigenschaft: der Allmacht. Sein erster Definitionsversuch besteht darin, zu sagen, dass Gott allmächtig ist, weil er alles tun kann, das logisch möglich ist. Diese Definition kann nicht akzeptiert werden, da es viele Gegenbeispiele dazu gibt, die Thomas selbst akzeptiert haben würde. Es ist logisch möglich, dass Troja nicht fiel, doch Thomas glaubte (im Gegensatz zu Grosseteste) nicht, dass Gott die Vergangenheit in irgendeinem Sinne ändern könnte. Tatsächlich zog Thomas den Satz „Gottes Macht ist unendlich“ der Formulierung „Gott ist allmächtig“ vor. Der Satz „Gott besitzt jede logisch mögliche Macht“ ist kohärenter als die frühere Formulierung, doch es ist immer noch lediglich eine Annäherung an eine korrekte Definition, da einige logisch mögliche Vermögen – wie etwa das Vermögen schwächer und kränker zu werden und zu sterben – mit anderen göttlichen Eigenschaften in Konflikt stehen. Kann Gott Böses tun? Kann Gott besser handeln, als er handelt? Thomas’ Antworten lauten, dass Gott nur tun kann, was gebührend und recht ist. Doch aufgrund der Verurteilung von Abelard muss er akzeptieren, dass Gott anderes tun kann als das, was er tatsächlich tut. Er erklärt, wie die beiden Sätze miteinander in Einklang gebracht werden können. „Die Wörter ‚gebührend und recht‘ können auf zweierlei Weise verstanden werden. Auf die eine Weise verstanden wird ‚gebührend und recht‘ primär in Verbindung mit dem Wort ‚ist‘ verstanden und auf diese Weise wird sein Bezug auf das eingeschränkt, was gegenwärtig der Fall ist und Gottes Macht in diesem eingeschränkten Sinne zugewiesen. Auf diese Weise eingeschränkt ist die Aussage falsch, denn ihr Sinn ist folgender:

Thomas von Aquins Beweise für die Existenz Gottes

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‚Gott kann nur tun, was unter den gegebenen Umständen gebührend und recht ist‘. Doch wenn ‚gebührend und recht‘ primär in Verbindung mit dem Wort ‚kann‘, das eine erweiternde Bedeutung hat, verstanden wird, und erst danach mit dem Wort ‚ist‘, dann geht der Bezug auf eine unbestimmte Gegenwart und die Aussage wird, verstanden im folgenden Sinne, wahr sein: ‚Gott kann nur tun, was, wenn Er es täte, gebührend und recht wäre‘.“ (ST 1a 25. 5. 2)

Wenn wir diejenige Ausdrucksweise, die sich des Begriffs der möglichen Welten bedient, derjenigen vorziehen, die von Vermögen oder Kräften spricht, könnten wir das von Thomas Gemeinte folgendermaßen formulieren: In jeder möglichen Welt ist das, was Gott tut, gebührend und recht. Daraus folgt jedoch nicht, noch ist es wahr, dass, was immer Gott tut, etwas ist, das in jeder möglichen Welt gebührend und recht ist. Hätte Gott die Welt besser erschaffen können? Er hätte sie durch keine bessere als die von ihm verwendete Methode erschaffen können. Er erschuf sie auf die weiseste und bestmögliche Weise. Hätte er den Menschen besser erschaffen können? Er hätte die menschliche Natur nicht besser erschaffen können, als sie ist. Geschöpfe, die von Natur besser wären als wir, wären überhaupt keine Menschen. Doch von jedem einzelnen Menschen lässt sich wahr behaupten, dass Gott ihn hätte besser erschaffen können; und von jeder wirklichen Kreatur, wie erhaben sie auch sei, kann man sagen, dass es in Gottes Macht steht, eine bessere zu erschaffen. So etwas wie das beste aller möglichen Geschöpfe gibt es nicht, geschweige denn, die beste aller möglichen Welten.

Thomas von Aquins Beweise für die Existenz Gottes In der philosophischen Theologie erinnert man sich an Thomas von Aquin meistens nicht wegen seiner Behandlung der göttlichen Eigenschaften wie Allwissenheit und Allmacht, sondern weil er versucht hat, mit rein philosophischen Methoden, das Dasein Gottes zu beweisen. Beweise für die Existenz Gottes findet man an vielen Stellen seiner Werke: In De Potentia dient als Ausgangspunkt seines Beweises zum Beispiel der Geschmack von Pfeffer und Ingwer. Wo immer Ursachen, deren eigentümliche Wirkungen verschieden sind, außerdem eine gemeinsame Wirkung erzeugen, muss diese zusätzliche gemeinsame Wirkung von einer höheren Ursache hervorgerufen werden, deren eigentümliche Wirkung sie ist. So haben es zum Beispiel Pfeffer und Ingwer – außer dass sie ihre eigenen eigentümlichen Wirkungen haben – gemeinsam, dass sie Wärme erzeugen. Sie tun dies aufgrund der Kausalität von Feuer, dessen eigentümliche Wirkung die Wärme ist. „Allen geschaffenen Ursachen, während sie die ihnen eigentümlichen Wirkungen haben, die sie voneinander unterscheiden, ist auch eine einzige Wirkung gemeinsam, und diese ist ein Sein. Die Wärme bewirkt, dass Dinge warm sind, und ein Baumeister be-

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wirkt, dass ein Haus zu sein beginnt. Es ist ihnen daher gemeinsam, dass sie ein Sein bewirken, und sie unterscheiden sich darin, dass Feuer Feuer bewirkt und der Baumeister ein Haus. Es muss daher eine höhere Ursache geben, deren eigentümliche Wirkung das Sein ist und kraft deren alles anderes Sein bewirkt. Und diese Ursache ist Gott.“ (DP 7. 2c)

Bekannter sind die Fünf Wege gleich in der zweiten Untersuchung der Summa Theologiae: (1) Bewegung in der Welt ist nur erklärbar, wenn es einen ersten unbewegten Beweger gibt; (2) die Reihe der Wirkursachen in der Welt muss auf eine unverursachte Ursache führen; (3) zufällige und vergängliche Wesen müssen von einem unabhängigen und unvergänglichen Wesen abhängen; (4) die unterschiedlichen Grade der Wirklichkeit und Güte in der Welt müssen Annäherungen an ein tatsächlich existierendes Maximum und Wirklichkeit und Güte sein; und (5) die gewöhnliche Hinordnung unbewusst wirkender Dinge auf ein Ziel impliziert die Existenz eines intelligenten allgemeinen Ordners.11 Keinem der Fünf Wege gelingt es, die Existenz Gottes zu beweisen: Jeder von ihnen enthält entweder einen Fehlschluss oder eine falsche oder fragliche Prämisse. Der erste Weg hängt von der Prämisse ab, dass alles, was sich in Bewegung befindet, von etwas anderem bewegt wird: Diese Prämisse wird seit Newton allgemein verworfen. Die im zweiten Weg angeführte Reihe ist keine Reihe zeitlicher Ursachen (von der Thomas selbst zugibt, dass sie sich unendlich weit in die Vergangenheit erstrecken könnte), sondern eine Reihe gleichzeitiger Ursachen, die zum Beispiel vorliegt, wenn ein Mann einen Stein mit einem Stemmeisen bewegt. Es gibt keinen Grund, warum die erste Ursache in einer solchen Reihe statt eines gewöhnlichen Menschen Gott sein sollte. Der dritte Weg enthält einen Fehlschluss von dem Satz „Für jedes Ding gibt es eine Zeit, zu der es nicht existiert“ auf den Satz „Es gibt eine Zeit, zu der nichts existiert“. Der vierte Weg hängt von einem platonischen und letztlich widersprüchlichen Seinsbegriff ab. Der fünfte Weg ist das überzeugendste der Argumente, doch seine Hauptprämisse „Dinge, denen es an Bewusstsein fehlt, tendieren nur dann auf ein Ziel hin, wenn sie von etwas mit Bewusstsein und Intelligenz gelenkt werden, wie ein Pfeil von einem Schützen“ erfordert zu seiner Unterstützung seit Darwin mehr Argumente, als uns gegeben werden. Man hat zahlreiche Versuche unternommen, und wird zweifellos zahlreiche weitere unternehmen, um die Fünf Wege auf eine Weise zu formulieren, die falsche Prämissen und Fehlschlüsse eliminiert. Einer der vielversprechendsten neueren Versuche, Thomas’ Beweise für die Existenz Gottes eine neue Formulierung zu geben, nimmt seinen Ausgang jedoch nicht von der Summa Theologiae, sondern von der Summa contra Gentiles. 12 11 Eine detaillierte Erörterung der Fünf Wege findet der Leser in: A. Kenny, The Five Ways (London: Routledge, 1969). 12 Vgl. N. Kretzmann, The Metaphysics of Creation (Oxford: Clarendon Press, 1999), 84–138.

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Das Argument lautet folgendermaßen: Jedes existierende Ding hat einen Grund für seine Existenz: entweder in der Notwendigkeit seiner eigenen Natur oder in der kausalen Wirkung irgendwelcher anderen Dinge. Wir sollten im Falle eines gewöhnlichen existierenden Dinges niemals die unbekümmerte Aussage tolerieren, für seine Existenz gebe es schlichtweg keinen Grund, und es ist irrational, dieses Prinzip aufzugeben, wenn das fragliche existierende Ding allumfassend ist wie das Universum. Angenommen A ist ein existierendes natürliches Ding, ein Teil einer (vielleicht anfangslosen) Reihe von Ursachen und Wirkungen, die ihrem eigenen Wesen nach weder die Tendenz hat zu existieren, noch nicht zu existieren. Der Grund für die Existenz von A muss in der kausalen Wirksamkeit anderer existierender Dinge liegen. Wie viele existierende Dinge zur gegenwärtigen Existenz von A auch beitragen mögen: Sie können nicht der Grund für A sein, wenn es nicht irgendeine erste Ursache am Beginn der Reihe gäbe – etwas, das so beschaffen ist, dass alles andere, von ihm Verschiedene, darauf als die Ursache seines Seins zurückgeführt werden muss. So überzeugend es auch ist: Dieses Argument enthält eine entscheidende Schwäche. Was ist mit dem Ausdruck „dem eigenen Wesen nach weder die Tendenz hat zu existieren, noch nicht zu existieren“ gemeint? Wenn es bedeutet „weder die Tendenz hat weiterzuexistieren noch nicht weiterzuexistieren“, dann passt dieser Ausdruck nicht auf die kontingenten Dinge der alltäglichen Welt, von denen das Argument seinen Ausgang nimmt. Kontingente Dinge sind ihrem Wesen nach nicht auf gleiche Weise disponiert zu existieren oder nicht. Im Gegenteil: Die meisten Dinge zeigen die natürliche Tendenz ihre Existenz fortzusetzen. Bedeutet es andererseits: „weder die Tendenz hat zu existieren zu beginnen noch nicht zu existieren“, dann verfallen wir in Absurdität. Bevor A existiert, gibt es nicht so etwas wie das nichtexistierende A, das die Tendenz hat zu existieren zu beginnen oder dem diese Tendenz fehlt.

Duns Scotus’ metaphysischer Beweis eines unendlichen Wesens Auf Schwachstellen in Thomas’ Gottesbeweisen wurde bereits kurz nach seinem Tode hingewiesen. Zu seinen Kritikern gehörte auch Duns Scotus, der stattdessen seine eigenen Beweise vorlegte. Derjenige seiner Beweise, der dem Argument in der Summa contra Gentiles am nächsten kommt, verwendet den Begriff der Kausalität, um die Existenz einer ersten Ursache zu beweisen. Angenommen, es gibt etwas, das erschaffen werden kann. Was könnte ihm zur Existenz verhelfen? Es muss etwas sein, denn nichts kann nichts bewirken. Es muss etwas anderes als es selbst sein, denn nichts kann sich selbst verursachen. Nennen wir dieses andere A. Ist A selbst verursacht? Wenn nicht, ist es eine erste Ursache, also dasjenige, was wir gesucht haben. Wenn es verursacht ist, nennen wir seine Ursache B. Wir können dasselbe Argument mit B wiederholen. Dann fahren wir entweder ewig mit dem Argument fort, was unmöglich ist, oder wir erreichen eine erste absolute Ursache. Wie Thomas unterscheidet Scotus zwei Arten von Kausalreihen. Eine von ihnen

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bezeichnet er als „wesentlich geordnet“ und die andere als „zufällig geordnet“. Er bestreitet nicht die Möglichkeit einer unendlichen Reihe zufällig geordneter Ursachen, wie etwa der Reihe der Menschen, von denen jeder von einem früheren gezeugt wurde. Solch eine Reihe ist nur zufällig geordnet. Ein Vater mag die Ursache seines Sohnes sein, aber er ist nicht die Ursache der Zeugung seines Enkels durch seinen Sohn. Bei einer wesentlich geordneten Reihe ist A nicht nur die Ursache von B, das die Ursache von C ist, sondern die Ursache dafür, dass B die Ursache von C ist. Ein Rückgang ins Unendliche ist nur im Fall einer wesentlich geordneten Reihe ausgeschlossen, die zum Beispiel vorliegt, wenn ein Gärtner Erde bewegt, indem er einen Spaten bewegt. Eine zufällig geordnete Reihe ist sozusagen eine horizontale Reihe von Ursachen; eine wesentlich geordnete Reihe eine vertikale Hierarchie von Ursachen, und Scotus sagt uns, „Unendlichkeit in einer aufsteigenden Reihe“ sei unmöglich (DPP 4, 22). Selbst nachdem diese beiden Arten von Reihen unterschieden sind, finden sich verschiedene Schwächen in Scotus’ Argument, die es als Gottesbeweis mangelhaft erscheinen lassen. Erstens scheint es, wie der auf eine bestimmte Weise interpretierte Beweis in der Summa contra Gentiles, anzunehmen, es sei sinnvoll, davon zu reden, etwas Nichtexistierendes habe die Kraft bzw. ermangle ihrer zur Existenz zu gelangen. 13 Zweitens ist nicht klar, warum das Argument, statt auf eine einfache unendliche erste Ursache zu führen, nicht auf eine Reihe endlicher erster Ursachen führt. Tatsächlich gibt Scotus zu, dass er keinen Gottesbeweis erbracht hat, aber der dafür angegebene Grund unterscheidet sich von den beiden oben genannten. Im Gegensatz zu Thomas, der von der tatsächlichen Existenz von Kausalreihen in der Welt ausging, begann Scotus lediglich mit der bloßen Möglichkeit von Kausalität. Er tat dies absichtlich, denn er zog es vor, seinen Beweis statt auf zufällige Tatsachen der Natur auf rein abstrakte Möglichkeiten zu gründen. Er war der Überzeugung, dass man – nahm man als seinen Ausgangspunkt bloße Physik – niemals über den endlichen Kosmos hinausgelange. Dies hat jedoch zur Folge, dass das Argument bis zu diesem Punkt lediglich die Möglichkeit einer ersten Ursache bewiesen hat: Wir müssen noch immer beweisen, dass sie tatsächlich existiert. Scotus geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er beweist, dass sie existieren muss. Eine erste Ursache kann gemäß ihrer Definition ihre Existenz nichts anderem verdanken. Sie existiert also entweder oder sie existiert nicht. Wenn sie nicht existiert: Warum existiert sie nicht? Wenn ihre Existenz überhaupt möglich ist, gibt es nichts, was die Ursache ihrer Nichtexistenz sein könnte. Doch wir haben bewiesen, dass sie möglich ist; daher muss sie existieren. Außerdem muss sie unendlich sein, denn es kann nichts geben, was ihre Macht einschränken könnte. Scotus akzeptiert, dass es ein unendliches Wesen nur geben kann, wenn der Begriff einer solchen Wirklichkeit keinen Selbstwiderspruch enthält. Es ist seiner Meinung nach eine Schwäche von Anselms Argument, dass er nicht beweist, dass „das, über 13 Siehe die Erläuterungen über objektive Möglichkeit auf Seite 208.

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dem Größeres nicht gedacht werden kann“ ein kohärenter Begriff ist. Doch wenn es irgendeine Inkohärenz zwischen den Begriffen Sein und Unendlichkeit gäbe, so behauptet Scotus, wäre sie schon vor langer Zeit entdeckt worden. Das Ohr kann einen Missklang schnell heraushören, der Verstand Inkohärenzen noch viel leichter auffinden (Ord. 4. 162 f.). Doch selbst wenn wir Scotus einräumen, dass der Begriff von Gott keinen Selbstwiderspruch enthält, scheint sein Argument zu scheitern, da er verschiedene Bedeutungen von „möglich“ zugrunde legt: logische, epistemische und reale Möglichkeit. Aus der bloß logischen Möglichkeit von Gottes Existenz folgt nichts bezüglich seiner wirklichen Existenz. Ein Agnostiker kann zugeben, dass es, nach allem was wir wissen, möglich ist, dass es einen Gott gibt: Dies ist, was mit der ‚epistemischen Möglichkeit‘ gemeint ist. Aus der logischen und epistemischen Möglichkeit folgt jedoch nichts bezüglich der realen Möglichkeit, geschweige denn bezüglich der Wirklichkeit. „Es ist möglich, dass es einen Gott gibt“ ist nicht dasselbe wie „Es ist für Gott möglich, ins Sein zu kommen“. 14 Da zum Begriff der Gottheit ewige Existenz gehört, hat nichts die Macht, einen Gott ins Sein zu rufen. Wenn Gott existiert, muss es ihn immer gegeben haben. Ebensowenig hat irgendetwas die Macht, die Existenz eines Gottes zu verhindern oder zu beenden. Sämtliche derartigen Vermögen sind aufgrund der Natur des Gottesbegriffs begrifflich unmöglich. Doch das Fehlen solcher Vermögen beweist rein gar nichts darüber, ob der Begriff realisiert ist oder nicht. Das wichtigste Element im Gottesbegriff ist für Scotus die Unendlichkeit. Der Begriff der Unendlichkeit ist einfacher und grundlegender als andere Begriffe, wie zum Beispiel der Begriff der Güte: Er ist für das göttliche Wesen konstitutiv, nicht nur eine der göttlichen Eigenschaften. Unendlichkeit ist das charakteristische Merkmal aller göttlichen Eigenschaften: Göttliche Güte ist unendliche Güte, göttliche Wahrheit ist unendliche Wahrheit usw. Jede göttliche Vollkommenheit „verdankt ihre formale Vollkommenheit der Unendlichkeit des Wesens als ihrer Wurzel und Grundlage“ (Oxon. 4. 3. 1. 32). Scotus beweist die Existenz Gottes, indem er die Existenz eines unendlichen ersten Prinzips beweist. Erst nachdem er die Unendlichkeit Gottes bewiesen hat, geht er dazu über, andere göttliche Eigenschaften abzuleiten, wie zum Beispiel Gottes Einzigartigkeit und seine Einfachheit. Scotus glaubte nicht, dass sich alle Eigenschaften Gottes durch natürliche Vernunft beweisen ließen. Die Vernunft konnte beweisen, dass Gott unendlich, einzigartig, einfach, großartig und vollkommen ist. Sie konnte jedoch nicht beweisen, dass Gott allmächtig ist, da die Offenbarung gezeigt hat, dass Gott die Macht hat, Dinge zu tun, die die Vernunft niemals erraten hätte (zum Beispiel einen Sohn hervorzubringen). Die Vernunft konnte jedoch sehr wohl beweisen, dass Gott die Macht hatte, eine Welt aus dem Nichts zu schaffen, und dass er bei dieser Schöpfung absolut frei war. Der unendliche Gott, indem er über sein eigenes Wesen nachsinnt, erkennt, dass 14 Der Unterschied zwischen diesen beiden Aussagen ist im Deutschen wesentlich offensichtlicher als im Fall der entsprechenden Sätze im mittelalterlichen Latein.

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es auf mehrere mögliche Weisen teilweise reproduziert und nachgeahmt werden kann: Hieraus geht, vor aller Schöpfung, das Wesen der Dinge hervor, das in Form göttlicher Ideen existiert. Diese Reflexion ist eine Ausübung des göttlichen Verstandes. Sie ist keine freie Handlung des göttlichen Willens. „Der göttliche Verstand als, auf gewisse Weise, logisch früher als der Akt des göttlichen Willens bringt jene Objekte in ihrem intelligenten Sein hervor, weshalb er in Bezug auf sie lediglich eine natürliche Ursache zu sein scheint, da Gott nicht in jeder Beziehung eine freie Ursache ist, sondern nur in derjenigen, die auf irgendeine Weise seinen Willen oder einen Akt seines Willens voraussetzt.“ (Ord. 1. 163)

Die Wesenheiten im göttlichen Geiste, wie Scotus ihn sich vorstellt, sind für sich selbst weder einfach noch mannigfaltig, weder allgemein noch besonders. Sie gleichen – und nicht durch Zufall – Avicennas Idee der Pferdheit, die weder mit irgendeinem der vielen einzelnen Pferde noch mit dem allgemeinen Begriff des Pferdes im Geist der Menschen identisch ist. Durch einen souveränen und unerklärlichen Akt des Willens verfügt Gott, dass einige dieser Wesen realisiert werden sollen, und so kommt es zur Schöpfung der Welt. Die Verfügung seines Willens ist ewig und unwandelbar, doch seine Realisierung vollzieht sich in der Zeit (Ord. 1. 566). Wir können nicht nach Gründen für Gottes schöpferische Verfügung suchen: Er schafft nicht um irgendeines Gutes willen, da alles, was in den Geschöpfen gut ist, die Folge seiner Schöpfung ist.

Scotus, Ockham und Valla über göttliche Voraussicht Gottes Wissen von dem, was möglich ist, geht – wie wir soeben gesehen haben – dem Willensakt voraus, durch den er ausgewählten möglichen Entitäten Existenz verleiht. Sein Wissen von dem, was wirklich ist, hängt allein von seiner Kenntnis seines eigenen Willens ab. Scotus verwirft Thomas’ Ansicht, dass Gott allwissend ist, da er das Ganze der Zeit als ihm gegenwärtig gleichzeitig überschaut. Alles, was Gott gegenwärtig ist, behauptet Scotus, kann nicht wahrhaft vergangen oder zukünftig sein. So wie die Dinge Gott erscheinen, verhalten sie sich in Wirklichkeit. Für Scotus weiß Gott, was war, was ist und was sein wird, da er sich seines eigenen Entschlusses, der festlegt, was war, ist und sein wird, bewusst ist. Die Meinung, dass eine solche Erklärung der göttlichen Allwissenheit, und insbesondere der göttlichen Voraussicht, keinen Raum für freie Willensentschlüsse des Menschen lässt, ist durchaus berechtigt. Scotus nimmt diesen Einwand sehr ernst, doch letztlich verwirft er ihn. Er fordert uns auf, folgendes Argument zu betrachten: „Gott glaubt, dass ich morgen sitzen werde. Aber ich werde morgen nicht sitzen. Daher ist Gott im Irrtum.“ Daher müssen wir gewiss auch sagen, dass folgende Abwandlung dieses Arguments gültig ist: „Gott glaubt, dass ich morgen sitzen werde. Doch es ist möglich, dass ich

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morgen nicht sitzen werde. Daher kann Gott im Irrtum sein.“ Wir machen einfach von folgendem Schema Gebrauch: Wenn p und q r implizieren, dann implizieren p und möglicherweise q möglicherweise r. Da Gott sich nicht im Irrtum befinden kann, scheint das Argument zu beweisen, dass es mir unmöglich ist, irgendetwas anderes als das zu tun, von dem Gott voraussieht, dass ich es de facto tun werde. Scotus’ Lösung dieses Problems besteht darin, die Gültigkeit des betreffenden Schemas zu bestreiten. Er führt ein Gegenbeispiel an, das folgendermaßen wiedergegeben werden kann: Angenommen, es gibt zwei Koffer A und B, die ich beide tragen kann. Nehmen wir weiterhin an, ich trage meinen Koffer A. In diesem Fall müsste ich, um den Koffer B von jemand anderem zu tragen, Koffer A und B tragen, was meine Kräfte übersteigt. „Ich trage A und ich trage B“ impliziert offensichtlich „Ich trage A und B“. „Ich trage A“ und „Ich kann B tragen“ implizieren gemeinsam jedoch nicht „Ich kann A und B tragen“ (Lect. 17. 509). Scotus’ Antwort ist effektiv und lässt sich außer in diesem theologischen in vielen anderen Zusammenhängen anwenden. Es gibt viele Fälle, in denen ich eine bestimmte Handlung X ausführen kann, es aber nicht tun werde. In solchen Fällen wird es Beschreibungen der Ausführung von X geben, die sie unter Bezug auf die Tatsache beschreiben, dass ich X de facto nicht tun werde. Nehmen wir also an, dass ich meinen Kuchen essen werde. Ich kann, wenn ich will, meinen Kuchen behalten; doch ich werde ihn nicht behalten, sondern ich werde ihn essen. Angesichts dieser Tatsachen würde, meinen Kuchen zu behalten, bedeuten, ihn zu behalten und ihn auch zu essen. Doch ich kann ihn, wenn ich will, behalten. Wenn das Prinzip daher gültig wäre, könnte ich meinen Kuchen behalten und ihn auch essen. Indem Scotus dieses Prinzip umstößt, um zu zeigen, dass menschliche Freiheit mit göttlichen Verfügungen kompatibel ist, stellt er die wesentliche Grundlage für jegliche Form des Kompatibilismus bereit, d. h. für den Versuch zu zeigen, dass Freiheit und Determinismus nicht die kontradiktorischen Gegenteile sind, die sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Ockham verwirft Scotus’ Methode, die göttliche Voraussicht mit der menschlichen Freiheit in Einklang zu bringen, ebenso wie Scotus Thomas von Aquins Methode verworfen hatte. Nach Scotus sieht Gott künftige Ereignisse dadurch vorher, dass er sich seiner Absichten bewusst ist, und zukünftige Ereignisse sind zufällig, nicht notwendig, da Gottes Verfügungen über die Welt selbst zufällig sind. Nach Ockham mag dies ausreichen, um die Kontingenz zu wahren; um die Entscheidungen von Geschöpfen frei sein zu lassen und gleichzeitig eine Grundlage für ihre Voraussehbarkeit zu legen, reicht es jedoch nicht aus. 15 Ockhams Kritik von Scotus’ Position ist zwar überzeugend, doch bietet er an ihrer Stelle keine eigene Lösung des Problems der Vereinbarkeit von göttlicher Voraussicht und menschlicher Freiheit an. Er macht deutlich, dass er sogar mit der Position sympathisiert (die er fälschlicherweise Aristoteles zuschreibt), dass Aussagen über kontingente Tatsachen der Zukunft keinen Wahrheitswert haben. Doch sofern 15 Ockham verwirft auch Scotus’ nichtmanifestierte Kräfte. Siehe Seite 249.

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sie nicht bereits wahr sind, kann es von Aussagen über kontingente zukünftige Tatsachen keine Erkenntnis geben, nicht einmal Gott kann etwas über sie wissen. Trotz dieser philosophischen Gründe sind wir nach Ockham zu dem Glauben verpflichtet, dass Gottes Wissen offensichtlich alle kontingenten Tatsachen der Zukunft umfasst. Eine Abhandlung, die ausschließlich diesem Thema gewidmet ist, Tractus de Praedestinatione et de Praescientia, endet mit der Feststellung: „Ich sage, dass es unmöglich ist, die Art und Weise, auf die Gott Wissen über kontingente Ereignisse der Zukunft besitzt, klar zu beschreiben. Es muss jedoch angenommen werden, dass er Wissen von ihnen hat, aber auf kontingente Weise.“ 16 Dies war lediglich ein Beispiel für die Kombination von frommem Fideismus mit philosophischem Agnostizismus, die für Ockhams Theologie charakteristisch ist. Den bei Scotus und Thomas zu findenden Beweisen für die Existenz Gottes steht er kritisch gegenüber. Er stimmt Scotus darin zu, dass es ohne einen univoken Begriff des Seins noch nicht einmal möglich wäre, einen Begriff von Gott zu bilden (III Sent. 9, R), während er Thomas darin zustimmt, dass der primäre Gegenstand des menschlichen Geistes nicht das Sein, sondern die Natur der materiellen Substanzen ist (I Sent. 3. 1d). Mit philosophischen Gründen kann nicht erwiesen werden, dass Gott die erste Wirkursache von allem ist. Es muss eine erste Ursache geben, wenn ein unendlicher Regress vermieden werden soll; doch es muss nicht Gott, es könnte auch ein Himmelskörper oder ein endlicher Geist sein (Quodl. 2, 1; OTh. 6. 108). Doch selbst die Unmöglichkeit eines unendlichen kausalen Regresses ist eine offene Frage: Warum sollte es nicht eine Reihe von Erzeugten und Erzeugern geben, die sich unendlich weit in die Vergangenheit erstreckt? Statt zu fragen, wodurch etwas zur Existenz gelangt, wäre es vielleicht besser zu fragen, was es in der Existenz erhält, und Ockham stimmt der Behauptung zu, dass es eine unplausible Annahme ist zu denken, es gebe eine unendliche Reihe gleichzeitiger Entitäten, die uns im gegenwärtigen Moment in der Existenz erhalten. Er meint, dies könne nicht mit absoluter Gewissheit bewiesen werden, sondern mit Argumenten, die vernünftig genug sind (I Sent. 2. 10). Ockham ist in der Frage der Möglichkeit eines Beweises der Existenz Gottes nicht bereit weiter zu gehen, und selbst dies, behauptet er, reichte nicht aus, um zu beweisen, dass es nur einen Gott gibt. Dass Gott unendlich, ewig, allmächtig und der Schöpfer des Himmels und der Erde ist, lässt sich mit der natürlichen Vernunft erst recht nicht beweisen. Bezüglich des göttlichen Wissens können wir philosophisch nicht beweisen, dass Gott wirkliche, von sich selbst verschiedene Dinge erkennt, geschweige denn ihre zukünftigen freien Handlungen. Alle diese Wahrheiten über Gott müssen als Glaubenssachen akzeptiert werden. Die Versöhnung von Freiheit und Schicksal war ein Problem, das humanistische Denker nicht weniger beschäftigte als Scholastiker. Im Jahre 1439 schrieb Lorenzo 16 Nach der englischen Übersetzung von N. Kretzmann und M. Adams (Chicago: AppletonCentury-Crofts, 1969).

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Valla, der Hofphilologe von Papst Nikolaus V., einen Dialog über den freien Willen, in dem er sich mit Boethius’ Trost der Philosophie kritisch auseinandersetzte. Er beginnt mit einem bekannten Problem: „Wenn Gott voraussieht, dass Judas ein Verräter sein wird, dann ist es ihm nicht möglich, kein Verräter zu werden.“ Fast über seine gesamte Länge folgt der Dialog Argumenten und Gegenargumenten, die aus scholastischen Diskussionen vertraut sind: Er liest sich wie eine für Kinder verfasste Version von Scotus. Doch gegen Ende kommt es zu zwei überraschenden Schritten. Zunächst führt Valla zwei heidnische Götter in die Diskussion ein. Apollon hatte dem römischen König Tarquin vorausgesagt, dass er im Exil sterben würde. Als Antwort auf Tarquins Beschwerde sagte Apollon, er wünsche, er könne ihm ein glücklicheres Geschick prophezeien, doch er sage Tarquins Schicksal lediglich vorher, er bestimme es nicht. Klagen sollten daher nicht an ihn, sondern an Jupiter gerichtet werden. Die Einführung der Götter ist mehr als eine humanistische Verzierung: Sie ermöglicht es Valla, die beiden Eigenschaften der allwissenden Weisheit und des unwiderstehlichen Willens, die in der christlichen Theologie in dem einen Gott untrennbar verbunden sind, voneinander zu scheiden, ohne sich der Blasphemie schuldig zu machen. Die zweite Überraschung ist, dass Valla, wenn es hart auf hart kommt, Zuflucht in Bibelzitaten sucht. Er wendet sich an die Passage von Paulus’ Brief an die Römer über die Prädestination von Jakob und die Verwerfung von Esau: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ (Röm, 11,33) Statt mit einer philosophischen Aussöhnung zwischen göttlicher Vorsehung und menschlicher Freiheit endet Valla mit einem Angriff auf die Philosophen und vor allem auf Aristoteles. Bei der Behandlung dieses zentralen Themas der natürlichen Theologie enden nominalistische Scholastik und humanistische Gelehrsamkeit in derselben Sackgasse.

Die belehrte Unwissenheit Nikolaus’ von Kues In Nikolaus von Kues’ De Docta Ignorantia erreicht das spätmittelalterliche Denken einen agnostischen Höhepunkt. Niemand hatte seit Sokrates so stark betont, dass Weisheit im Bewusstsein der Begrenztheit des eigenen Wissens besteht. Bloßes Nichtwissen ist keine Tugend: Doch der Prozess des Lernens wird von der allmählich zunehmenden Erkenntnis begleitet, wie viel man nicht weiß. Die Wahrheit ist wirklich genug: Wir Menschen können uns ihr jedoch nur asymptotisch annähern. „Denn die Wahrheit ist ein nicht Mehr und nicht Weniger, ein gewisses Unteilbares, was von allem, das nicht die Wahrheit selbst ist, nicht präzis gemessen werden kann, so wenig, was nicht Kreis ist, den Kreis, dessen Sein in einem gewissen Unteilbaren besteht, messen kann. Unser Verstand, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt daher die Wahrheit nie so präzis, daß nicht ein unendlich präziseres Erfassen möglich wäre, er verhält

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sich zur Wahrheit wie das Polygon zum Kreise. Mögen auch der Winkel noch so viele gemacht werden, so wird doch das Polygon nie dem Kreise gleich, bis es sich in die Identität mit demselben auflöst.“ (DDI 1. 3) 17

Was über die Annäherung des Verstandes an die Wahrheit im Allgemeinen gilt, das gilt erst recht für seine Annäherung an die Wahrheit über Gott. Cusanus’ Musterbeispiel der rationalen Forschung ist die Messung: Wir nähern uns dem Unbekannten, indem wir es an dem messen, was wir bereits wissen. Doch wir können nicht hoffen, das Unendliche zu messen, denn es gibt kein Größenverhältnis zwischen dem Unendlichen und irgendeinem endlichen Ding. Jeder von uns unternommene Versuch, mehr über Gott zu erfahren, bringt einen neuen unendlichen Abstand zwischen dem, was wir denken, und dem, was Gott in Wirklichkeit ist, an den Tag. Unser Verstand schreitet, geführt vom Prinzip des verbotenen Widerspruchs, durch Unterscheidungen fort. Wir unterscheiden beispielsweise zwischen Groß und Klein. Doch diese Unterscheidungen helfen bei Nachforschungen über Gott nicht weiter. Wir könnten zum Beispiel meinen, Gott sei das größte aller Dinge, das Maximum. Gewiss: Gott ist etwas, das von nichts übertroffen werden kann. Doch ist Gott, der überhaupt keine Größe hat, auch etwas so Kleines, das nichts kleiner sein kann. Er ist das Minimum und das Maximum. Dies ist lediglich ein Beispiel für ein allgemeines Prinzip: Gott ist die Einheit und das Zusammentreffen der Gegensätze (DDI 1. 4). Eines der Gegensatzpaare, die in Gott zusammentreffen, ist das Paar Sein – Nichtsein. Vom Größten sagt er: „Alles, was es nach unseren Begriffen ist, ist es eben so, als daß es dasselbe auch nicht ist und umgekehrt, es ist in der Weise das Einzelne, daß es zugleich Alles ist, und in der Weise Alles, daß es nichts von Allem ist, und in der Weise am meisten Dieses, daß es Dieses auch am wenigsten ist.“ (DDI 1. 4) Dies alles klingt zweifellos sehr irrational. Cusanus lobt diejenigen Philosophen, die zwischen Verstand und Vernunft unterschieden und Vernunft als ein unendliches Vermögen angesehen haben, das die vom Verstand gefundenen Widersprüche transzendieren kann. Eine nichtmetaphorische Sprache kann das göttliche Geheimnis nicht erfassen: Wir sind auf Metaphern und Symbole angewiesen. Cusanus bevorzugt mathematische Metaphern. Wenn wir einen endlichen Kreis nehmen und seinen Durchmesser allmählich vergrößern, nimmt die Krümmung seines Umfangs ab. Wenn der Durchmesser die Unendlichkeit erreicht, wird der Umfang absolut gerade. So ist eine gerade Linie (das Geradeste, was es gibt) identisch mit einem unendlichen Kreis (dem Minimum von Krümmung). Zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und dem Universum verwendet er andere Metaphern. Alle Geschöpfe sind in Gott eingefaltet (complicata). Gott 17 Zitiert in Anlehnung an: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften, übersetzt von F. A. Scharpff (Freiburg: N. N., 1862), 7 f.

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selbst ist ausgefaltet (explicatus) in allen Kreaturen. Eine Kreatur steht in demselben Verhältnis zu Gott wie mein Bild in einem Spiegel zu mir steht – außer dass es, im Falle Gottes und der Kreaturen, keinen anderen Spiegel als das Bild selbst gibt. Jede Kreatur spiegelt nicht nur Gott wider, sondern ist auch ein Abbild jeder anderen Kreatur. Verschiedene Kreaturen sind Abbilder, die Gott näher oder ferner stehen (DDI 2. 3). Cusanus steht offensichtlich in der Tradition der via negativa, die zurückgeht bis auf Dionysios Areopagita. Doch sein eigener Agnostizismus geht weiter als der seiner Vorgänger, wie zum Beispiel von Scotus Eriugena. Cusanus hält negative Prädikate, wenn sie auf Gott angewendet werden, für ebenso irreführend wie positive. Kein Name passt zu Gott. Wir können ihn noch nicht einmal „den Einen“ nennen, da Einheit für uns Andersheit und Mannigfaltigkeit ausschließt. Wenn wir diesen Ausschluss ausschließen, wenn wir Gott „den Einen“ nennen: Was bleibt uns zurück? Wir sind immer noch unendlich weit entfernt von der Benennung Gottes (DDI 1. 24). Wenn wir uns mit dieser Wirklichkeit ehrlich auseinandersetzen, wird unsere gelehrte Unwissenheit heilige Unwissenheit. Das ist das Beste, worauf wir Menschen in diesem Leben hoffen können.

Zeittafel Einige dieser Daten, besonders in den früheren Jahrhunderten, beruhen auf Mutmaßungen und sind Schätzungen. 387 430 480 525 529 575 781 800 863 980 1077 1140 1155 1179 1188 1190 1215 1225 1248 1253 1266 1274 1277 1300 1307 1308 1318 1324 1347 1360 1415 1439 1440

Augustinus’ Bekehrung zum Christentum Augustinus stirbt Boethius geboren Boethius stirbt Justinian schließt die philosophischen Schulen von Athen Johannes Philoponos stirbt Alkuin trifft Karl den Großen Karl der Große wird in Rom zum Kaiser gekrönt Eriugenas Periphyseon Avicenna geboren Anselms Proslogion Abelard in Sens verurteilt Sentenzen von Petrus Lombardus Averroes’ Harmonie Erste Fakultäten in Oxford Maimonides’ Führer der Unschlüssigen Universität von Paris erhält ihre Statuten Thomas von Aquin geboren Albertus Magnus in Köln Grosseteste stirbt Beginn der Arbeit an der Summa Theologiae Thomas von Aquin und Bonaventura sterben 219 Thesen in Paris verurteilt Duns Scotus lehrt in Oxford Dante Alighieri beginnt die Divina Commedia Duns Scotus stirbt Ockham lehrt in Oxford Marsilius’ Defensor Pacis Pestepidemie; Ockham stirbt Wyclif wird der Master am Balliol College Oxford Konzil von Konstanz verurteilt Wyclif Konzil von Florenz heißt griechische Abgesandte willkommen Nikolaus von Kues’ De Docta Ignorantia

Zeittafel

1469 1474 1513

Ficino beginnt die Theologia Platonica Peter de Rivo von Sixtus IV. verurteilt Laterankonzil verurteilt Pomponazzi

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Siglen und Abkürzungen CCCM CCMP CCSL CHLGP CHLMP CPA CSEL DB IHWP PG PL PMA Sent.

Abelard AE D LI LNPS

Corpus Christianorum, Continuatio Medievalis A. S. McGrade, The Cambridge Companion to Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 2003) Corpus Christianorum, Series Latina A. H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1967) N. Kretzmann, A. Kenny, and J. Pinborg (eds.), The Cambridge History of Later Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1982) Commentary on ‚Posterior Analytics‘ Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum H. Denzinger (ed.), Enchiridion Symbolorum, 33rd edn. (Barcelona: Herder, 1950) A. Kenny (ed.), The Oxford Illustrated History of Western Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1994) Patrologia Graeca Patrologia Latina A. Hyman and J. J. Walsh, Philosophy in the Middle Ages, 2nd edn. (Indianapolis: Hackett, 1973) Commentary on Lombard’s ‚Sentences‘ ; zitiert nach Buch, Unterabschnitt, Artikel und Frage

Abelard, Ethik (Kenne dich selbst) Dialectica (Dialektik) Logica Ingredientibus (beginnt mit den Worten: „An diejenigen, welche beginnen …“) 1 Logica Nostrorum Petitioni Scholarium (beginnt mit den Worten: „Auf Bitten unserer Freunde …“)

Thomas von Aquin DEE De Ente et Essentia (Über das Sein und das Wesen) DP De Potentia (Über das Vermögen) DRI De Regimine Iudaeorum (Über Juden und Regierung); Editione Leonina, Band 42 DV De Veritate (Von der Wahrheit) IBT In Boethium de Trinitate (Über Boethius’ De Trinitate) In I Periherm. In II Libros Peri hermeneias Aristotelis Expositio (Erläuterungen zu zwei Büchern von Aristoteles’ ‚Peri hermeneias‘) ed. R. M. Spiazzi (Turin: Marietti, 1966) ScG Summa contra Gentiles (Über die Wahrheit des katholischen Glaubens); zitiert nach Buch und Kapitel ST Summa Theologiae; zitiert nach Teil, Untersuchung (q.), Artikel und (gegebenenfalls) Einwand und Antwort

1

Anm. d. Übers.: Die den Titel „Logik“ tragenden Abhandlungen von Abelard werden anhand der ersten Wörter ihres lateinischen Textes voneinander unterschieden.

Siglen und Abkürzungen

Aristoteles De An. EE NE

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De Anima (oder Kommentar) Eudemische Ethik Nikomachische Ethik

Augustinus Die Quellenangaben beziehen sich auf Buch, Kapitel und (gegebenenfalls) eine alternative Kapitelnummer. 83Q De Diversis Quaestionibus LXXXIII (83 verschiedene Fragen) CA Contra Academicos (Gegen die Skeptiker) CCA E. Stump and N. Kretzmann (eds.), The Cambridge Companion to Augustine (Cambridge: Cambridge University Press, 2001) Conf. Confessiones (Bekenntnisse) DBC De Bono Conjugali (Über das Gut der Ehe) DCD De Civitate Dei (Der Gottesstaat) DCG De Corruptione et Gratia (Über Verderbtheit und Gnade) DDP De Dono Perseverantiae (Über die Gabe der Beharrlichkeit) DLA De Libero Arbitrio (Über den freien Willen) DM De Mendacio (Über das Lügen) DMg De Magistro (Über den Lehrer) DPS De Praedestinatione Sanctorum (Über die Prädestination der Heiligen) DT De Trinitate (Über die Dreieinigkeit) DUC De Utilitate Credendi (Über den Nutzen des Glaubens) Ep. Epistulae (Briefe) S Soliloquia (Selbstgespräche) Averroes HPR

The Harmony of Philosophy and Religion (Die Harmonie von Philosophie und Religion)

Avicenna Metaph.

Metaphysik

Boethius DCP

De Consolatione Philosophiae (Über den Trost der Philosophie)

Bonaventura Brev. CH De Myst. Trin. Itin.

Breviloquium (Kurzes Wort) 2 Collationes in Hexameron (Das Sechstagewerk) De Mysterio Trinitatis (Über das Geheimnis der Dreifaltigkeit) Itinerarium Mentis in Deum (Pilgerbuch der Seele zu Gott)

Walter Burley PAL

Cusanus DDI

2

The Pure Art of Logic, ed. Philotheus Boehner (St Bonaventure, NY: Franciscan Institute, 1955)

De Docta Ignorantia (Über die belehrte Unwissenheit)

Anm. d. Übers.: Ein Abriss der Theologie.

318 Duns Scotus CCDS DPP Lect. Ord. Oxon. Quodl.

Eriugena Periph.

Siglen und Abkürzungen

T. Williams (ed.), The Cambridge Companion to Duns Scotus (Cambridge: Cambridge University Press, 2003) De Primo Principio (Über das erste Prinzip) Lectura, in Opera Omnia, ed. C. Balic et al. (Vatican City, 1950–), vols. 1–3: Ordinatio 1–2; vols. 16–20: Lectura 1–3; zitiert nach Band und Seite Ordinatio, in Opera Omnia, ed. C. Balic et al. (Vatican City, 1950–), vols. 1–3: Ordinatio 1–2; vols. 16–20: Lectura 1–3; zitiert nach Band und Seite Opus Oxoniense God and Creatures: The Quodlibetical Questions (Princeton: Princeton University Press, 1975)

Periphyseon (Über die Natur). Die Quellenangaben beziehen sich auf Buch und Kapitel.

Robert Grosseteste De Lib. Arb. De Libero Arbitrio, in: Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, herausgegeben von L. Baur, Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 9 (Münster: Aschendorff, 1912) Hex. Hexaemeron (Das Sechstagewerk) William Ockham CCO P. V. Spade (ed.), The Cambridge Companion to Ockham (Cambridge: Cambridge University Press, 1999) OND Opus Nonaginta Dierum (Das Werk von 90 Tagen) OPh. Opera Philosophica; zitiert nach Teil und Kapitel OTh. Opera Theologica; zitiert nach Band und Seite Peter von Spanien SL Tractatus, called afterwards Summule Logicales (Tractatus, später als kleine Summen zur Logik bezeichnet), herausgegeben von L. M. de Rijk (Assen: van Gorcum, 1972) Platon Phaedr. Tim.

Phaedros Timaios

Proclus ET

Elements of Theology (Elemente der Theologie)

Pompanazzi De imm. an.

De immortalitate animae (Über die Unsterblichkeit der Seele)

John Wyclif U

On Universals (Über Universalien); zitiert nach Buch und Zeile

Bibliografie Allgemeine Werke Armstrong, A. H. (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1967). Catto, J. I., The History of the University of Oxford, i: The Early Oxford Schools (Oxford: Oxford University Press, 1984). – and Evans, T. A. R., The History of the University of Oxford, ii: Late Medieval Oxford (Oxford: Oxford University Press, 1992). Copleston, F. C., A History of Philosophy, 9 vols. (London: Burnes Oates, 1947–75). Craig, W. L., The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez (Leiden: E. J. Brill, 1988). Denzinger, H. (ed.), Enchiridion Symbolorum, 33rd edn. (Barcelona: Herder, 1950); trans. The Sources of Catholic Dogma by R. J. DeFerrari (Fitzwilliam, NY: Loreto Publications, 1955). [Texte offizieller Kirchendokumente] Geach, P. T., Reference and Generality: An Examination of Some Medieval and Modern Theories (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1980). Gracia, J. and Noone, T., A Companion to Philosophy in the Middle Ages (Oxford: Blackwell, 2003). Grant, E., God and Reason in the Middle Ages (Cambridge: Cambridge University Press, 2001). Hughes, P., A History of the Church, iii: Aquinas to Luther (London: Sheed & Ward, 1947). Hyman, A. and Walsh, J. J., Philosophy in the Middle Ages, 2nd edn. (Indianapolis: Hackett, 1973). Kenny, A., A Brief History of Western Philosophy (Oxford: Blackwell, 1998). – (ed.), The Oxford Illustrated History of Western Philosophy (Oxford: Oxford University Press, 1994). Kneale, W. and Kneale, M., The Development of Logic (Oxford: Oxford University Press, 1962). Knuutilla, S., Modalities in Medieval Philosophy (London: Routledge, 1993). Kretzmann, N., Kenny, A., and Pinborg, J., The Cambridge History of Later Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1982). – Stump, E. et al., The Cambridge Translations of Medieval Philosophical Texts, i: Logic and the Philosophy of Language; ii: Ethics and Political Philosophy; iii: Mind and Knowledge (Cambridge: Cambridge University Press, 1998–). Leftow, B., Time and Eternity (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1991). Marenbon, J., Later Medieval Philosophy (London: Routledge & Kegan Paul, 1987). – Early Medieval Philosophy, rev. edn. (London: Routledge & Kegan Paul, 1988). – (ed.), Aristotle in Britain during the Middle Ages (Turnhout: Brepols, 1996). – (ed.), Routledge History of Philosophy, iii: Medieval Philosophy (London: Routledge, 1998). McGrade, A. S., The Cambridge Companion to Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 2003). Pasnau, R., Theories of Cognition in the Later Middle Ages (New York: Cambridge University Press, 1997). Schmitt, C. B. and Skinner, Q., The Cambridge History of Renaissance Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1988). Sorabji, R., Time, Creation and the Continuum (London: Duckworth, 1983).

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Augustinus Deutsche Übersetzungen der Hauptwerke von Augustinus finden interessierte Leser in der von der Universität Fribourg im Internet zugänglich gemachten Bibliothek der Kirchenväter unter www.unifr.ch/bkv/. The City of God, trans. H. Bettenson (Harmondsworth: Penguin, 1972). Confessions, trans. H. Chadwick (Oxford: Oxford University Press, 1991). Confessions, text, trans., and comm. J. J. O’Donnell, 3 vols. (Oxford: Clarendon Press, 1992). De Bono Conjugali, CSEL 41 (Vienna: Tempsky, 1900). De Civitate Dei, CCSL 47 f. (Turnhout: Brepols, 1955). De Dialectica, ed. D. Jackson (Dordrecht: Reidel, 1985). De Libero Arbitrio, CCSL 29 (Turnhout: Brepols, 1970). De Trinitate, CCSL 50 (Turnhout: Brepols, 1970). Earlier Writings, trans. J. H. S. Burleigh, Library of Christian Classics (Philadelphia: Westminster Press, 1953). On the Free Choice of the Will, trans. T. Williams (Indianapolis: Hackett, 1993). Soliloquies, text, trans., and comm. G. Watson (Warminster: Aris & Phillips, 1990). Treatises on Marriage and Other Subjects, trans. R. J. Deferrari (New York: Fathers of the Church, 1955). The Trinity, trans. S. McKenna (Washington: CUA Press, 1963). Brown, P., The Body and Society (New York: Columbia University Press, 1988). – Augustine of Hippo: A Biography, rev. edn. (London: Faber & Faber, 2000). Dihle, A., The Theory of the Will in Classical Antiquity (Berkeley: University of California Press, 1982). Jordan, M. D., The Ethics of Sex (Oxford: Blackwell, 2002). Kirwan, C., Augustine (London: Routledge, 1989). Markus, R. A., ‚Augustine‘, in A. H. Armstrong (ed.), The Cambridge History of Later Greek and Early Medieval Philosophy (Cambridge: Cambridge University Press, 1967). Matthews, G. B., The Augustinian Tradition (Berkeley: University of California Press, 1999). Menn, S., Descartes and Augustine (Cambridge: Cambridge University Press, 1998). Sorabji, R., Time, Creation and the Continuum (London: Duckworth, 1983). Stump, E. and Kretzmann, N., The Cambridge Companion to Augustine (Cambridge: Cambridge University Press, 2001). Wills, Garry, St Augustine (London: Weidenfeld & Nicolson, 1999).

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Thomas von Aquin Eine vollständige Ausgabe der Werke Thomas von Aquins im lateinischen Original finden interessierte Leser unter www.corpusthomisticum.org. Die Editione Leonina (Rom, 1882–), die sämtliche Werke von Thomas enthalten wird, ist unvollständig und benutzerunfreundlich. Einfacher zu verwenden und im Allgemeinen auf dem Text der Editione Leonina basierend sind die Marietti-Editionen einzelner Werke, einschließlich der folgenden: In II Libros Perihermeneias Aristotelis Expositio, ed. R. M. Spiazzi (Turin: Marietti, 1966). Quaestiones Disputatae I (De Veritate), ed. R. M. Spiazzi (Turin: Marietti, 1955). Quaestiones Disputatae II (De Potentia, De Malo), ed. R. Pession et al. (Turin: Marietti, 1949). Summa contra Gentiles, ed. C. Pera (Turin: Marietti, 1961). Summa contra Gentiles, trans. as On the Truth of the Catholic Faith A. C. Pegis et al. (Notre Dame, Ind.: Notre Dame University Press, 1975). Summa Theologiae, Blackfriars edn., 61 vols. (London: Eyre & Spottiswoode, 1964–80). Davies, B., OP, The Thought of Thomas Aquinas (Oxford: Clarendon Press, 1992). Finnis, J., Aquinas: Moral, Political, and Legal Theory (Oxford: Oxford University Press, 1998). Geach, P., ‚Aquinas‘, in G. E. M. Anscombe and P. Geach, Three Philosophers (Oxford: Blackwell, 1961). Kenny, A., The Five Ways (London: Routledge, 1969). – The God of the Philosophers (Oxford: Clarendon Press, 1979). – Aquinas (Oxford: Oxford University Press, 1980). – Aquinas on Mind (London: Routledge, 1993). – Aquinas on Being (Oxford: Oxford University Press, 2002). – (ed.), Aquinas: A Collection of Critical Essays (London: Macmillan, 1969). Kretzmann, N., The Metaphysics of Theism (Oxford: Clarendon Press, 1997). – The Metaphysics of Creation (Oxford: Clarendon Press, 1999). Lonergan, B., Verbum: Word and Idea in Aquinas (Notre Dame, Ind.: University of Notre Dame Press, 1967). Pasnau, R., Thomas Aquinas on Human Nature (Cambridge: Cambridge University Press, 2001). Stump, E., Aquinas (London: Routledge, 2003). Torrell, J.-P., Saint Thomas Aquinas: The Person and his Work (Washington: Catholic University of America Press, 1996). Weisheipl, J. A., Friar Thomas d’Aquino (Oxford: Blackwell, 1974).

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Liste der Abbildungen S. 18 S. 27 S. 34

S. 40 S. 41 S. 48 S. 56 S. 59 S. 68

S. 75

S. 86 S. 91 S. 102 S. 110

S. 118

S. 123 S. 128 S. 136 S. 142 S. 152

Der heilige Augustinus, aus der päpstlichen Bibliothek im Lateran, ca. 600. © foto Vasari/Index Massa Damnata, Gottesstaat Bibliothèque nationale de France, Ms 01 Fr. 19 f 38 Boethius mit Symmachos, aus einem Manuskript seiner Abhandlung über Arithmetik (neuntes Jahrhundert) Staatsbibliothek Hamburg Hypatia Charles William Mitchell, Laing Art Gallery (Tyne and Wear Museums) Justinian und sein Hofstaat in einem Mosaik in der Kirche San Vitale in Ravenna Archivi Alinari St. Katherina von Alexandria, Fresko aus dem Appartamento Borgia im Vatikan Archivi Alinari Anselms Turm, Kathedrale von Canterbury Héloïse und Abelard The Art Archive/Dagli Orti Papst Innozenz III., auf einem Fresko in der oberen Kirche des heiligen Franziskus in Assisi Giotto; Archivi Alinari Thomas von Aquin, in einem Fresko der Dominikanerkirche Sta. Maria sopra Minerva in Rom Filippo Lippi; Archivi Alinari Karl von Anjou Archivi Alinari Die Mechanik des Sehens Roger Bacon; British Library, Ms Roy 7 FVIII f54v Papstpalast, Avignon © Angelo Hornak/Corbis John Wyclif, in einer böhmischen Handschrift aus dem Jahre 1472 Nationalbibliothek der Tschechischen Republik, Prag; Wyclifs De Veritate Sacrae Scripturae, 1472 Kardinal Bessarion Gentile Bellini; Kardinal Bessarion und zwei Mitglieder der Scuola della Carità im Gebet Photo © The National Gallery, London Platon und Aristoteles Raphael; Archivi Alinari Boethius Universitätsbibliothek Glasgow, Abteilung für Spezialsammlungen, MS Hunter 374 f 4r Dame Philosophie, Platon und Sokrates Scholastische Vorlesung Archivi Alinari Wilhelm von Ockham, in einer Kritzelei in einem Cambridger Manuskript Der Leiter und die Fellows von Gonville und dem Caius College; Cambridge, MS 464/571

Liste der Abbildungen

S. 162 S. 170 S. 179 S. 189 S. 202 S. 217 S. 227

S. 235 S. 252 S. 261 S. 264

S. 274 S. 288 S. 293 S. 299

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Platina vor Papst Sixtus IV. Gemälde von Melozzo da Forli, Pinakothek des Vatikans; Archivi Alinari Bonaventura, in einem Fresko in der St.-Nikolaus-Kapelle im Vatikan Fra Angelico; Archivi Alinari Duns Scotus (15. Jahrhundert) Polly Buston/Sonia Halliday Photographs Albertus Magnus, aus einer Handschrift in der Universitätsbibliothek von Salzburg Universitätsbibliothek Salzburg, MS M III 36 Ein Manuskript von Thomas von Aquin, aus der Biblioteca Ambrosiana in Mailand. © Biblioteca Ambrosiana, Milan, cod. F. 187 inf (S.P.38) f. 2v Augustinus während eines Diktats, in einem Fresko in der oberen Kirche in Assisi Archivi Alinari Augustinus’ Gottesstaat wird kopiert. Zeichnung auf dem Rand eines böhmischen Manuskripts aus dem zwölften Jahrhundert. Hildebertus und Everwinus aus Augustinus’ Civitatis dei, ca. 1150; Archiv des Prager Schlosses, Metropolitan Chapter Library, A.21/1, f. 153r Averroes mit Porphyrios Nationalbibliothek Frankreich Fünftes Laterankonzil (Sala Sistina der Bibliothek des Vatikans) © Archivio Fotografico Musei Vaticani Augustinus’ Lehre über die Sexualität Held Collection/www.bridgeman.co.uk Miniatur zu Abelards Lehre über Intention, aus einem juristischen Text des zwölften Jahrhunderts Bayerische Staatsbibliothek, München Ms Clm 17161, fol 138r Handschrift des Psalters aus dem neunten Jahrhundert Bildarchiv Foto Marburg/Württemberg. Landesbibliothek Johannes Scotus Eriugena Nationalbibliothek Frankreich, Ms Latin 6734 f 3r Anselms Proslogion, in einem Manuskript aus dem zwölften Jahrhundert Apostolische Bibliothek des Vatikans. Val. Lat. 532 f.219v Grossetestes Randnotizen Bodleian Library, University of Oxford, MS Canon. Gr. 97, fol. 86v

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Register Abbildtheorie 179, 220 Abelard 57–60, 131–135, 141, 263–266, 297, 298 Abraham 200, 265, 276 Absicht 263–266 Abstraktion 236, 237, 240, 241 Abtreibung 272, 273 Adam und Eva 23, 24, 27, 224, 260, 283, 284 Adeodatus 125, 126 Ähnlichkeit, Relation der 215 aktiv vs. kontemplativ 84, 85, 224 aktiver Intellekt 62, 74, 146, 171–173, 228, 229, 230–232, 236, 237, 241 Aktualität vs. Potenzialität 96, 200, 201 siehe auch Wirklichkeit vs. Möglichkeit Akzidenzien 203, 204, 213–215 Albertus Magnus 68, 70, 71, 187, 188, 236 Alexander von Hales 72, 90, 270 al-Farabi 49, 66, 228, 229 al-Ghazali 53, 61, 62, 66 al-Kindi 49, 66, 228, 290 Alkuin 43, 44 allgemein vs. einzeln 198–200, 205, 206 Allmacht Gottes 296–298, 302, 303, 307 Allwissenheit 298–300 Analogie vs. Univozität 96, 147–150, 207 Anführungsstriche 126 angeborene Ideen 171, 241 Anselm von Canterbury 292–296 –, Monologion 54, 294 –, Proslogion 54, 293–296 Antichrist 27, 299 apophatische Theologie 287 Appellation 139–140 Äquivokation 147, 148 Argumente siehe Schlussfolgerungen (nach Abelard) Aristoteles 20, 33, 51, 52, 69, 71, 72–74, 88, 89, 135, 136, 186, 187, 220, 221 Armut 101 Art 128–130, 146, 147, 160 Astrologie 191 Atomismus 193, 194

Attila 32 Auferstehung, körperliche 29, 30 Augustinus 17–31, 124–127, 164–169, 183–185, 219–227, 255–263 –, Bekenntnisse (Confessiones) 19, 124, 125, 165, 183–185, 221, 222, 255 –, De Trinitate (Über die Dreieinigkeit) 164, 219, 220, 222–225 –, Gottesstaat (De Civitate Dei) 19–31, 164, 165, 169 –, Über den Lehrer (De Magistro) 125 –, Über die Freiheit des Willens (De Libero Arbitrio) 18, 221 Ausdrücke 137, 138 Ausdrücke, kategorematische vs. synkategorematische 137, 138 Aussagen 134, 135, 137, 140–143, 300, 301 Averroes 61–63, 187, 188, 234–237 Avicebron 53 Avicenna 15, 44, 50–53, 66, 187, 188, 196–201, 229–234, 290–292 Avignon 101, 102 Babylon 25, 26 Bacon, Roger 89–92 Basel, Konzil von 114 Befehle des Willens 226, 242, 243, 279 Begriffe 133, 134, 145, 147, 153, 173 Behauptung 140–141 Bernard, heiliger 58, 298 Besitz vs. Nutzung 101, 102, 104, 111 Bessarion, Kardinal 115–117 beste aller möglichen Welten 303 Bewegung 186–188 Bezeichnung 134 siehe auch Signifikation Boethius 33–38, 127–131, 285–287 Bologna, Universität von 66, 67 Bonaventura 69, 71–74, 101 Bonifatius VIII., Papst 93 Böses 278, 283, 284 Brabant, Herzogin von 274 Bradwardine, Thomas 107, 108, 193 Brito, Radulphus 150 Brown, Peter 260

330

Register

Buridan, Jean 105 Burley, Walter 106, 107, 158, 159, 194, 195 Chalcedon, Konzil von 32, 42 Chatton, Walter 101 Chaucer, Geoffrey 34 cognitio 176, 180 consequentiae 156–158 Copleston, Frederick 13, 14 Cross, Richard 211 Damiani, Peter 53, 296, 297 Dämonen 21, 22 Dante Alighieri 63, 89, 90, 93 de re vs. de dicto 135, 301 Dekalog (Zehn Gebote) 276, 277 Descartes 87, 106, 164, 168, 219, 230, 294 Determinismus 216–218 Dialektik 131 dictum 134, 141 Dionysios Areopagita 39, 45, 313 siehe auch Pseudo-Dionysios Disposition(en) 201–203 Disputationen 60 Dominikaner 68, 71, 76, 113, 120 dreiwertige Logik 161–163 Duns Scotus siehe Scotus Eckhart, Meister 113 Ehe 260–262 Eigenschaften 214, 215 Eigentum 101, 102, 104, 114 Einbildungskraft 180, 229, 231–240, 249, 251 Einfachheit 282 Einzeldinge 178–180, 213, 241, 246 siehe auch Individuen Emanation 229, 291 Embryo 271–273 Empfängnisverhütung 271–273 Empirismus 172, 181, 182 Engel 22, 70, 204, 205 Enthaltensein, logisches 135 enuntiabile 141, 142 Ephesos, Konzil von 31, 32 Erasmus, Desiderius 114 Erbsünde 283–285 Eriugena 44–47, 287–289, 313 Erkenntnistheorie 97, 101, 105, 172–182, 246 Erleuchtung 73, 74, 97, 167–172, 173, 174, 237, 268 erste Ursache 197, 229, 305, 306, 310

Ethik 255–279 Eugenius IV., Papst 115 evidente Erkenntnis 181, 182 Ewigkeit der Welt 41, 62, 73, 74, 81, 185, 186, 188–191, 290 Existenz 132, 133, 196, 197, 205, 206 Exodus 282 Experiment 92, 177 Fähigkeit vs. Gelegenheit 249 Fähigkeiten, offensichtliche vs. nicht offensichtliche 248 falsafa 48, 49 siehe auch Tahafut al-falasifa Fantasie, Bilder der (phantasmata) 240 Ficino, Marsilio 117 Fideismus 310 Fiktionen 100, 101, 153, 154 Finnis, John 269 Fitzralph, Richard 108 Florenz, Konzil von 115 Folter 259 Form vs. Materie 51, 52, 74, 96, 97, 131, 209, 210 formaler Unterschied 97, 212 Francesco della Rovere 161 Franziskaner 68, 71, 72, 92–99, 101, 102 Frauen 11, 19–30, 47, 52, 224, 256, 257, 259, 260–262, 271 Frege, Gottlob 133 Freiheit des Willens 244 Freiwilligkeit 266 Fronleichnam 77 Führen von Kriegen 270 –, auf Gottes Geheiß 258 Fünf Wege, die 304 Gattungen 129, 130 Gaunilo 294 Geach, Peter 13, 154 Gedächtnis 221–223 Gedanken 154 Gehirn 231, 237 Genesis 25, 70 Genugtuung 55 Georg von Trapezunt 115, 116 Gewissen 265, 267, 278 Gibbon, Edward 33, 38, 40, 41 Glaube 73, 78, 168, 169, 174, 175 Glück 36, 37, 225, 268, 269, 275, 276, 277, 281 siehe auch Glückseligkeit Glück oder Zufall 37, 285

Register

Glückseligkeit 82 siehe auch Glück Gnade 256, 269, 283–285 Gog und Magog 27 Gott(es) –, Existenz 49, 52, 54, 95, 96, 105, 106, 280–313 –, Wesen 45, 46, 52, 54, 64, 70, 97, 145, 168, 289, 291, 292, 294 –, Wille 217, 218 Gottesstaat 19–31 Gott und Zeit 183 göttliche Gebote und Moral 275–277 Gottschalk 44, 45 Gozzoli, Benozzo 115 Grammatik und Logik 49, 55, 131, 132 siehe auch spekulative Grammatiker Gregor von Rimini 105 Grosseteste, Robert 69–70, 298–300 Gut, höchstes 25, 26, 36, 98, 171, 255–257, 281 habitus 201 haecceitas 97, 99, 178, 210, 211, 212, 213, 246 Haftung, verschuldungsunabhängige 265 Hamlet 120 Heidegger, Martin 150 Heiliges Römisches Reich 43, 104 Heinrich von Gent 14, 95, 97, 148 Heinrich von Harclay 14, 193 Heliozentrismus 46 Héloïse 57–60 Heringswunder 85 Himmel 27–30 Hochgemutheit 83 Hölle 28 Hopkins, Gerard Manley 98, 99 Hus, Jan 111, 112 Hylomorphismus 74, 96, 122, 204, 205 Hypatia 39 hypothetischer Syllogismus 130, 131 Ibn Gabirol 53 Ibn Rushd, siehe Averroes Ibn Sina, siehe Avicenna ideale Sprache 153 Ideen, platonische 45, 46, 70, 72, 73, 145, 146, 166, 167 Identität in verschiedenen Welten 292 Impetus, Theorie des 187 Imposition 150, 151 indifferente Handlungen 266

331

Individuationsprinzip 97, 209, 210, 213, 241, 242 Individuen 198–200 siehe auch Einzeldinge Induktion 177, 178 innere Sinne 221, 231, 237, 238, 239, 249, 280 Innozenz III., Papst 68, 119 insolubilia 137 Intellekt 62, 74, 146, 171–173, 175, 228, 229, 234, 240, 249–251 Intentionalität 238, 239, 242 Irrtum über eine Tatsache vs. Irrtum über göttliche Gesetze 267 Islam, Ausbreitung des 43 islamische Philosophie 47–53, 61–63, 66, 187, 188, 196–201, 228, 229, 289–292 Jahrtausend (in der Offenbarung des Johannes) 26 Jakob von Venedig 66 Jerusalem, himmlisches 28, 29 Johannes der Schotte siehe Eriugena Johannes Duns Scotus siehe Scotus Johannes von Mirecourt 105 Johannes XXI., Papst 137 Johannes XXII., Papst 85, 102–104 Johannes Paul II., Papst 87, 94 Jordan, Mark 260 jüdische Philosophie 12, 49, 50, 53, 63–65 Julius II., Papst 121 Jungfräulichkeit 260, 296 Justinian, Kaiser 39–41, 67 Kain und Abel 25, 279 Kajetan 120, 121 kalam 48–50, 188, 290 Kapitalismus 273 Karl der Große 43, 44 Karl der Kahle 44–47 Karl von Anjou 84, 86 kataphatische Theologie 287 Kategorien 100, 127–130, 213, 214 Keuschheit 256, 257 Kilvington, Richard 108, 194 Kneale, William 13, 139, 156 Köln 71, 76, 92, 93, 94, 113 Kommunismus 111, 273 Kompatibilismus 309 Komposition oder Zerlegung 140, 141 siehe auch Zusammenfügung und Trennung Konsequenzen 267 –, gegenwärtige 157

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Register

–, materiale vs. formale 157 Konstanz, Konzil von 112 kontemplativ vs. aktiv 83, 84, 224 Kontingenz 208, 209, 244, 247, 291, 298 Kontinuum 193, 194 kontrakausale Freiheit 226, 227 Körper vs. Seele 23, 24, 46, 52, 74 Körperlichkeit, allgemeine Form der 210 Kretzmann, Norman 14, 15, 194, 304 Lanfranc 54, 55 lateinischer Averroismus 81, 89 Laterankonzil 122 Leo III., Papst 43 Leo X., Papst 121 Leo XIII., Papst 11, 85, 87 Liber de Causis 39, 71 Licht(s) –, Begriff des (nach Bonaventura) 73 –, Theorie des (nach Grosseteste) 70 loci 131 Logik des Abelard 59, 60 logischer Positivismus 106 Lollarden 111 Lombardus, Petrus 67, 120, 300 Lonergan, Bernard 13 Löwen, Universität von 112, 161 Ludwig IX., heiliger 71, 84 Ludwig der Bayer 102 Lügen, das 262, 263 Lust, Begriff der 220, 221 Luther, Martin 98, 114, 121 Lutterell, Thomas 99, 100, 101 Lyon, Konzil von 72, 85 Maimonides (Ben Maimon, Moses) 61, 63–65 Major, John 113 Marcus Aurelius, Kaiser 19 Marsilius von Padua 102–104 Materie vs. Form 53, 74, 96, 97, 209–211 siehe auch Stoff und Form Materie, geistige 53, 74 Mathematik 77, 90, 91, 107, 108, 114, 165, 281, 312 Matthew, Gareth 220 Maximus der Bekenner 42 Medici 117, 120, 121 Metaphern (zur Beschreibung Gottes) 287, 289, 312 Metaphysik 196–218 Michael von Cesena 102

Minimal- und Maximalwerte 107 modi significandi 150, 151 modistische Logik 150, 151 Modus Barbara 143 Modus Baroco 143 Modus Bocardo 143 Modus Celerant 143 mögliche Welten 97, 208, 292 Möglichkeit –, logische vs. reale vs. epistemische 307 –, logische vs. reale vs. synchrone 208 –, subjektive vs. objektive 208, 209 Mohammed 43 Mondfinsternis 69 Monophysitismus 32, 42 Monothelitismus 42 Mord 257, 275, 276, 277, 279 siehe auch Tötungsverbot Natur (gemäß Eriugena) 45–47, 268–270 natürliche(n) Rechte, Ockhams Theorie der 103, 104 natürliches Gesetz/Recht 269, 270, 275–277 Nestorianer 32, 47, 48 Newman, John Henry 109 Nichts 45, 125 Nicolaus von Autrecourt 105, 106 Nikolaus V., Papst 116, 311 Nikolaus von Kues 114, 115, 116, 311–313 Nomen 132–134 Nominalismus 100, 133, 134, 151–154, 160, 213, 214 notwendiges Sein 197 notwendiges Wesen 197, 200, 291, 292 Notwendigkeit 216, 286 ontologisches Argument 169–171, 292–296 Oresme, Nicole 105 Oxford, Universität von 47, 67, 68, 69, 85, 93, 105, 107, 108 Padua, Universität von 112, 120, 121 Pantheismus 289 Paradies 22–24, 260, 276 Paradoxa 137, 184, 185, 295 Paris, Universität von 67, 68, 76, 85, 93, 105 Pasnau, Robert 172 passiver Intellekt 62, 74, 81, 228, 234, 236, 237, 241 Paulus 82, 117, 246, 259, 262, 271, 311 Pelagius 284

Register

Peter von Irland 74 Peter von Maricourt 90 Peter von Rivo 161 Peter von Spanien 137–140, 150, 154, 159 Pferdheit 199, 308 Philipp der Schöne 93 Philoponos, Johannes 39, 41, 42, 50, 105, 186, 187 Pico della Mirandola, Giovanni 117–120 Pius X., Papst 86, 87 Plantinga, Alvin 294 Platon 23, 24, 37, 63, 115, 126, 204 Plethon, Georgios Gemistos 115–120 Plotin 20, 38, 166 Pomponazzi, Pietro 121, 122, 251–254 Porphyrios 128, 129 Prädestination 44, 45, 311 siehe auch Vorherbestimmung Prädikabilien, Theorie der 128, 129 Prädikation 135, 140, 141, 159, 160 Prag, Universität von 112 praktische Überlegung/Schlussfolgerung 243, 244 praktischer Verstandesgebrauch 225, 226 Proklos 38, 39 Prophetie 161, 271, 300 siehe auch Weissagung Pseudo-Dionysios 289 siehe auch Dionysios Areopagita Quantität 214 Quiddität 197 Quodlibets 77 Raphael 122, 123 Rasiermesser, Ockhams 213 Realismus 158–160 Relationen 215, 216 religiöse Orden 11, 68, 69, 83, 84, 92, 93, 101 Restriktion 132 Robin-Hood-Klausel 273 römische Religion 20, 21 Roscelin 56, 57, 133, 134 Russell, Bertrand 86, 87, 108, 133, 294 Ryle, Gilbert 206 Saadiah Gaon 49, 50 Salerno, Universität von 66, 67 sapientia 224 Savonarola 120 Schicksal 37, 38, 285, 286

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Schimären 154 Schlussfolgerungen (nach Abelard) 134, 135 Scholarios, Georgios 116 Scholastik 11–13, 66–114, 207, 208, 310, 311 Schöpfung 46, 50, 64, 73, 81, 183, 185, 186, 204, 210, 290, 307, 308 Scott, Michael 66 Scotus 68, 92–99, 147–150, 178–180, 207–213, 246–248, 275–277, 305–309 –, De Primo Principio 95 –, Lectura 94 –, Ordinatio 95 Seele –, intellektuelle/vernünftige vs. empfindende vs. vegetative 211, 237, 253, 272 –, rationale/vernünftige vs. tierische vs. vegetative 52, 244, 245 –, vs. Körper 23, 24, 29, 46, 52, 74 Sehen, das 219, 220 Sein 96, 196–199 –, mögliches vs. notwendiges 197 Selbstmord 259, 279 Selbstverteidigung 258, 267 selig machende/beglückende Schau Gottes 30, 31, 73, 104, 255, 269 Sens, Konzil von 59, 266 Severinus, heiliger 38 Sexualität 17, 24, 260–262, 271–273 Siger von Brabant 63, 89, 90 Signifikation 137, 138 siehe auch Bezeichnung Simplicius 39–41 Sinne 219–221, 231, 232, 238–240 Sixtus IV., Papst 162, 163 Skeptizismus 101, 106, 177–180 Sklaverei 259, 260 Soissons, Synode von 58 Sonne 191, 192, 198 spekulative Grammatiker 151 siehe auch Grammatik und Logik Sprache des Geistes 101, 151–155, 160 St. Andrews, Universität von 112 St. Viktor, Kloster von 61 Stoff und Form 51, 52 siehe auch Materie vs. Form Stoizismus und Verzicht/Glück 35, 255 Strafe, ewige 13, 14 Stump, Eleonore 88, 177, 182 Substanz 203–205 Supposition 138, 139, 151, 154, 155, 158, 159 Swineshead, Richard 107

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Tahafut al-falasifa 53 siehe auch falsafa Tarquin, König 311 Theoderich, König 33 Theodosius, Kaiser 26, 262 theologische Tugenden 257, 269 Theophanien 289 Thomas von Aquin 10, 11, 12, 13, 14, 68, 71, 74–89, 144–147, 171, 178, 188–191, 201–206, 237–246, 253, 254, 266–274 –, De Ente et Essentia 76, 205 –, De Potentia 302 –, Quaestiones Disputatae 77 –, Sentenzenkommentar 76 –, Summa contra Gentiles 77, 78, 173, 271, 304, 305 –, Summa Theologiae 79–84, 171, 172, 174, 177, 188–193, 201–205, 304 Thomas von Kempen 113 Tiere verfügen über keinen Intellekt 240 Todesstrafe 258, 270 Töten von Christen 265, 266 Tötungsverbot 257–259 siehe auch Mord Transsubstantiation 111, 204 Trient, Konzil von 85 Trinität 42, 57, 58, 225, 287 Trugschlüsse (Sophismen) 108 Tugend 82, 83 Umwandlung (in einen syllogistischen Modus) 143 Unendlichkeit –, Gottes 96 –, vs. Endlichkeit des Universums 290 Universalien 56, 57, 70, 100, 129, 130, 133, 134, 145, 146, 151–153, 154, 159, 160 Univozität vs. Analogie 96, 147–150, 207 Unsterblichkeit der Seele 17, 121, 122, 232, 233, 236, 245, 251–254, 256 Unterscheidungen 312 Unvorstellbarkeit Gottes 295 Urban IV., Papst 77 Ursache, höhere 303, 304 Ursachenreihe 306 Urteil 144, 145 Valla, Lorenzo 38, 310, 311 vegetative Seele 52, 211, 237, 244, 272 Verben 132 Vergangenheit ungeschehen machen 296, 297 Verpflichtung 278 Verstand, unterer vs. oberer Teil 224

Voraussicht, göttliche 285–287, 301, 308–310 Vorherbestimmung 284 siehe auch Prädestination Vorsehung 37, 38, 64, 65, 285 Vos, Antoon 93 Wagenlenker 286 Wahrheit, unveränderliche 281 Wahrheiten, arithmetische und moralische 280, 281 Wahrheitswert 142 Weissagung 233 siehe auch Prophetie Wesen vs. Existenz 52, 62, 199–201, 205, 206, 291, 292 Wiedererinnerung 126 Wiedergeburt 256 Wilhelm von Champeaux 57, 133 Wilhelm von Moerbeke 66, 77 Wilhelm von Ockham 68, 99–107, 151–158, 180–182, 193, 194, 212–216, 249–251, 277–279 Wilhelm von Sherwood 137 Wille 42, 43, 97, 98, 225–227, 242–246, 263, 264 Willensakt 243 wirklich vs. möglich 191–195 Wirklichkeit vs. Möglichkeit 201–206, 228, 229, 230, 231, 246 siehe auch Aktualität vs. Potenzialität Wissen 164–182 –, intuitives vs. abstraktes 101, 180–182 Wissenschaft 69, 70, 90–92, 175–177, 235, 236 Wittgenstein, Ludwig 124, 125, 160, 219, 231 Wodeham, Adam 106 Wyclif, John 11, 68, 69, 109–112, 159, 160, 216–218 Zahlen 47, 165, 192, 280, 281 Zauberei 92, 119 Zeichen –, Allgemeinbegriffe sind 100 –, Wörter sind 126 Zeit 183–186 Zeitlosigkeit 37, 183, 286, 301, 302, 308 Zeitstufen 132, 142, 299 Zeugnis, der Sinne 165, 177 Zinswucher 273, 274 Zusammenfügung und Trennung 144, 145 siehe auch Komposition oder Zerlegung Zustand 134 Zweck 266 Zwei-Namen-Theorie 155, 156