Germanische Rest- und Trümmersprachen [Reprint 2012 ed.] 9783110864717, 9783110119480


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German Pages 249 [256] Year 1989

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Table of contents :
Vorwort
Sprachverschiebung und Sprachtod: Funktionelle und strukturelle Aspekte
Zu den Begriffen ,Restsprache‘ und ,Trümmersprache‘
The Death of Norn
Zum Sprachtod einer Restsprache. Zwei ausgestorbene Wörter aus der Lex Baiuvariorum
Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien (Sette comuni e Tredeci comuni)
Die Gallehusinschrift: Trümmer der nordisch-westgermanischen Ursprache
Sprachliche Relikte und Transferenzerscheinungen bei Waisern und Bayern in Oberitalien
Die Bewertung namenkundlicher Zeugnisse für die Verwendung der gotischen Sprache. Methodendiskussion an Hand der Namen der Märtyrer aus der Gothia des 4. Jahrhunderts
Sprache im Umkreis der Matroneninschriften
Die Malbergischen Glossen, eine frühe Überlieferung germanischer Rechtssprache
Das Krimgotische
Zum Langobardischen
Sprachvergleichung und Sprachidentität: methodische Fragen im Zwischenfeld von Keltisch und Germanisch
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Germanische Rest- und Trümmersprachen [Reprint 2012 ed.]
 9783110864717, 9783110119480

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Germanische Rest- und Triimmersprachen

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Herausgegeben von Heinrich Beck, Herbert Jahnkuhn, Reinhard Wenskus Band 3

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G_ Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

Germanische Restund Trümmersprachen Herausgegeben von Heinrich Beck

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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

Gedruckt auf säurefreiem Papier (alterungsbeständig — pH 7, neutral)

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der deutseben

Bibliothek

Reallexikon der germanischen Altertumskunde / begr. von Johannes Hoops. In Zusammenarbeit mit C. J. Becker ... Hrsg. von Heinrich Beck ... — Berlin ; New York : de Gruyter. Bis Bd. 4 hrsg. von Johannes Hoops Ergänzungsbände / hrsg. von Heinrich Beck ... NE: Hoops, Johannes [Begr.]; Beck, Heinrich [Hrsg.] Bd. 3. Germanische Rest- und Trümmersprachen. — 1989 Germanische Rest- und Trümmersprachen / hrsg. von Heinrich Beck. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 (Reallexikon der germanischen Altertumskunde : Ergänzungsbände ; Bd. 3) ISBN 3-11-011948-X NE: Beck, Heinrich [Hrsg.]

© 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin · Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Die Termini Rest- und Trümmersprachen führte Jürgen Untermann in die Diskussion ein. Das Gespräch mit Manfred Mayrhofer bekräftigte die Annahme, daß damit ein linguistisch relevanter Tatbestand erfaßt wurde. J. Untermanns Beitrag in diesem Tagungsband führt die Diskussion weiter. Wenn wir demnach unter Trümmersprachen solche Sprachen verstehen dürfen, die zu ihrer Zeit zwar volle Kommunikationsfunktion erfüllten, die aber nur fragmentarisch,,trümmerhaft' bezeugt sind (das Oskisch- Umbrische und das Venetische im antiken Italien etwa), wenn wir andererseits unter Restsprachen solche begreifen, die in ihrem Geltungsbereich auf bestimmte kommunikative Situationen (der Hausgemeinschaft, des religiösen und rechtlichen Lebens etwa) reduziert sind, dann ergeben sich daraus für die germanischen Sprachen einige Fragen und Folgerungen: 1. Alle germanischen Korpus-Sprachen sind in einem gewissen Sinne trümmersprachlicher Art, d. h. mehr oder weniger gut bezeugt. Das Merkmal (geringerer oder größerer) Repräsentativität charakterisiert eine Korpussprache als Trümmersprache bestimmten Grades. Die sprachlichen Korpora, die in diesem Sinne mit einer deutlichen Negativ-Markierung zu rechnen haben, sind im Germanischen etwa das Langobardische, das Burgundische, das Krimgotische, das Norn — untergegangene germanische Sprachen, die nur schwach bezeugt sind. Von Trümmersprachen wie dem Etruskischen und Iberischen (von .totalen Trümmersprachen' spricht Untermann in diesem Zusammenhang) unterscheiden sich diese germanischen Sprachen dadurch, daß sie in nahen Beziehungen zu besser bezeugten Verwandten stehen: das Langobardische im Spannungsfeld einer ererbten (nordgermanischen?) Sprachtradition und einer sich frühmittelalterlich neu formierenden Sprachgruppierung, das Burgundische und Krimgotische als dem Gotischen bzw. Ostgermanischen im weiteren Sinne nahestehende Dialekte (dies aber nicht zweifelsfrei und unwidersprochen), das Norn als die skandinavische Sprache der Orkneys, Shetlands und der nordschottischen Grafschaft Caithness. Probleme, die diese sprachlichen Korpora im Sinne einer Trümmersprache bieten, behandeln in diesem Band Michael P. Barnes (The Death of Norn), MacDonald Stearns Jr. (Das Krimgotische) und Johannes Tischler (Zum Langobardischen). Eine nordisch-west-ger-

VI

Vorwort

manische Ursprache postuliert Herbert Penzl in seinem Beitrag (Die Gallehusinschrift: Trümmer der nordisch-westgermanischen Ursprache). 2. Wenn Restsprachen auf kommunikative Teilbereiche redu2ierte Sprachen darstellen, fallen gewisse sprachliche Phänomene des Germanischen unter diesen Begriff — oder wecken doch zumindest die Frage, ob sie nicht damit adäquat erfaßt würden: die germanischen Rechtswörter in den leges barbarorum als Indizien einer heimischen Rechtssprache, die Runeninschriften älterer Zeit und die religiösen Namen germanischer Herkunft in keltisch-römischen Kontext als Belege eines auf Handwerk und Religion reduzierten Kommunikationsmittels (auf namenkundliche Zeugnisse reduzierte Sprachreste als extremste Form einer Restsprache). Im Unterschied zu Fachsprachen sind Restsprachen allerdings keine Varietät einer vorhandenen langue sondern Repräsentanten einer auf Sonderfunktionen reduzierten Konkurrenzsprache. Restsprachen setzten also immer Mehrsprachigkeit voraus. Mit Sondersprachen mögen Restsprachen gruppenspezifische Merkmale teilen, herkunftsmäßig stehen Restsprachen aber am Ende eines Reduktionsprozesses, Sondersprachen am Ende eines Spezifizierungsprozesses. Die Frage lautet also, ob Rechtstermini, religiöse Namen, archaische Runeninschriften germanischer Provenienz in gewandelter sprachlicher Umgebung als restsprachliche Phänomene begreifbar und beschreibbar sein könnten. Fragen des Rechtswortschatzes als restsprachlichen Phänomenen sind die Beiträge von Rosemarie Lühr (Zum Sprachtod einer Restsprache. Zwei ausgestorbene Wörter aus der Lex Baiuvariorum) und Ruth Schmidt-Wiegand (Die Malbergischen Glossen, eine frühe Überlieferung germanischer Restsprache) gewidmet. Die Namenproblematik greifen auf: Hermann Reichert (Die Bewertung namenkundlicher Zeugnisse für die Verwendung der gotischen Sprache. Methodendiskussion an Hand der Namen der Märtyrer aus der Gothia des 4. Jahrhunderts), Piergiuseppe Scardigli (Sprache im Umkreis der Matroneninschriften) und Jürgen Untermann (Sprachvergleichung und Sprachidentität: methodische Fragen im Zwischenfeld von Keltisch und Germanisch). 3. Die Begriffe germanische Rest- und Trümmersprachen verbindet der gemeinsame Aspekt der sprachlichen Desintegration, die in dem einen Falle im Gange, im anderen Falle bereits zum Abschluß gekommen ist. Es rücken damit Gesichtspunkte in den Mittelpunkt, die in der jüngeren linguistischen Diskussion unter den Bezeichnungen Sprachverfall, Sprachsterben, Sprachtod behandelt wurden 1 . Für alle germanischen Rest- und

1

Literatur dazu verzeichnet der Beitrag von R. Rindler-Schjerve.

Vorwort

VII

Trümmersprachen gilt, daß sie dem Prozeß des Sprachverfalls ausgesetzt waren oder von ihm bedroht sind. Für die historischen Sprachzustände ergibt sich damit die Chance, den Prozeß des Sprachverfalls am heutigen Beispiel germanischer (und außergermanischer) Restsprachen zu erhellen. Wie vollzieht (bzw. vollzog) sich der sprachliche Verfall, der schließlich in einem Sprachsterben mündet(e)? Ist dieser Prozeß systematisierbar — in dem Sinne, daß der Regelapparat bzw. das Lexikon in bestimmbaren Schritten abgebaut werden? Auf solche Fragen kann am ehesten die heutige Beobachtung sprachlicher Auseinandersetzung in Kontaktgebieten bzw. Insellagen Antwort geben. Die Beiträge von Max Pfister (Sprachliche Relikte und Transferenzerscheinungen bei Waisern und Bayern in Oberitalien) und Klaus Matzel (Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien [Sette comuni e Tredeci comuni]) zu den alemannischen und bairischen Sprachinseln in romanischer Umgebung veranschaulichen modellhaft die Bedingungen, unter welchen kleinräumige Sprachgemeinschaften der sprachlichen Desintegration unterliegen. Wie andere sprachwissenschaftliche Begriffe ist auch die Rede vom Sprachtod und Sprachsterben metaphorischer Art — letztlich gründend in dem Organismusdenken der Romantik und der von ihr ausgehenden Terminologie. Wenn wir vom Leben und Sterben einer Sprache reden, weckt dies die Frage nach der Natur solcher Prozesse — sind sie von ,biologischer' Art, irreversibel oder beeinflußbar, steuerbar? Hat es Sinn, sprachliche Ökologie zu treiben? Die Analysen des Sprachverfalls zeigen, daß soziokulturelle und sprachinterne Faktoren zusammenwirken — zwar stirbt eine Sprache nicht an einem Regelverlust (sondern an der Aufgabe ihrer Sprecher), aber auch das Sprachsystem erfahrt in einem solchen Prozeß Einbußen. Sprachtod und Sprachensterben sind Themen der Soziolinguistik und der systematischen Sprachwissenschaft — und letztlich Aspekte einer allgemeinen Theorie des Sprachwandels, die mit vielen Faktoren und Erscheinungsformen zu rechnen hat. Solche Fragen funktioneller und struktureller Art des Sprachenverfalls erörtert Rosita Rindler-Schjerve in ihrem Beitrag (Sprachverschiebung und Sprachtod: Funktionelle und strukturelle Aspekte). Er soll den Tagungsband eröffnen, gefolgt von Jürgen Untermanns begrifflicher Darlegung zu den Termini Restsprache und Trümmersprache (Zu den Begriffen ,Restsprache' und ,Trümmersprache'). Die weiteren Beiträge sind in der alphabetischen Reihenfolge ihrer Verfasser angeordnet. Die Werner-Reimers-Stiftung ermöglichte es, die Autoren dieses Bandes zu einem Symposium in Bad Homburg zusammenzuführen. Die Ergebnisse der dort vom 14. 10. bis 17. 10.1987 geführten Diskussion legen wir in

Vili

Vorwort

diesem 3. Ergänzungsband des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde vor. Der Werner-Reimers-Stiftung und ihrem Vorstand, Herrn DiplomVolkswirt Konrad von Krosigk, danken wir herzlich für die freundliche Unterstützung, die sie uns bei der Vorbereitung und Durchführung dieses Symposiums zuteil werden ließen. Bonn, Dezember 1988

Heinrich Beck

Inhalt Vorwort

V

ROSITA R I N D L E R - S C H J E R V E

Sprachverschiebung und Sprachtod: Funktionelle und strukturelle Aspekte

1

J Ü R G E N UNTERMANN

Zu den Begriffen ,Restsprache' und ,Trümmersprache'

15

M I C H A E L P. BARNES

The Death of Norn

21

ROSEMARIE L Ü H R

Zum Sprachtod einer Restsprache. Zwei ausgestorbene Wörter aus der Lex Baiuvariorum

45

K L A U S MATZEL

Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien (Sette comuni e Tredeci comuni)

69

HERBERT PENZL

Die Gallehusinschrift: Trümmer der nordisch-westgermanischen Ursprache

87

M A X PFISTER

Sprachliche Relikte und Transferenzerscheinungen bei Waisern und Bayern in Oberitalien

97

HERMANN REICHERT

Die Bewertung namenkundlicher Zeugnisse für die Verwendung der gotischen Sprache. Methodendiskussion an Hand der Namen der Märtyrer aus der Gothia des 4. Jahrhunderts 119 PIERGUISEPPE S C A R D I G L I

Sprache im Umkreis der Matroneninschriften

143

RUTH S C H M I D T - W I E G A N D

Die Malbergischen Glossen, eine frühe Überlieferung germanischer Rechts spräche 157

χ

Inhalt

M A C D O N A L D S STEARNS J R .

Das Krimgotische

175

JOHANN TISCHLER

Zum Langobärdischen JÜRGEN

195

UNTERMANN

Sprachvergleichung und Sprachidentität: methodische Fragen im Zwischenfeld von Keltisch und Germanisch 211

Sprachverschiebung und Sprachtod: Funktionelle und strukturelle Aspekte VON ROSITA RINDLER-SCHJERVE

Einleitung Die Pro2esse der sprachlichen Desintegration bilden seit langer Zeit einen der Forschungsschwerpunkte der historischen Sprachwissenschaft. Und zwar bemühte man sich hier, fragmentarisch dokumentierte Sprachen, die bereits in historischer Vorzeit untergegangen waren, mit Hilfe vergleichender Methoden und unter Heranziehung vorhandener epigraphischer Evidenz zu rekonstruieren. Dabei konnten die Fragen, wie diese Sprachen aus dem Gebrauch verschwunden sind und warum sie von anderen überlagert worden oder untergegangen sind, kaum beantwortet werden. Im Zusammenhang mit der Tatsache, daß Sprachen wie das Cornische oder das Dalmatische erst in den letzten Jahrhunderten ausgestorben sind, hat L E H M A N N (1964: 111) die Bedeutung hervorgehoben, die eine genaue Dokumentation des Verfalls im Erlöschen begriffener Sprachen für die historische Sprachwissenschaft haben kann. Geht man nämlich davon aus, daß es, abgesehen von Unterschieden im zeitlichen Verlauf und im Ausmaß der sprachstrukturellen Veränderungen, gewisse Parallelen zwischen dem Verfall einer Sprache und den Prozessen des Sprachwandels gibt, so verspricht die synchronische Analyse der Desintegration obsoleter Sprachen interessante Rückschlüsse auf allgemeine Entwicklungstendenzen historischer Wandlungsprozesse von Sprachen zu geben. Der synchronische Befund einzelner im Aussterben begriffener Sprachen zeigt uns, daß sich die mit der Rückläufigkeit einhergehende sprachliche Desintegration in verschiedenen Etappen vollzieht, in denen es zu Veränderungen im funktionalen und im strukturalen Bereich der obsoleten Sprache kommt. Die linguistische Evidenz dieser Desintegration, mit der sich neuerlich die Sprachtodforschung beschäftigt (vgl. Kap. 1), legt die Vermutung vergleichbarer Prozeßabläufe bei historischen Sprachvorgängen nahe, die ähnlich unseren sterbenden Sprachen in einer teilweisen oder gar vollständigen kulturellen Auflösung endeten. Die Übernahme von Kenntnissen aus der

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Rosita Rindler-Schjerve

gegenwartsbezogenen Sprachtodforschung kann, so gesehen, also die Rekonstruktion historischer Sprachentwicklungen erleichtern, d. h. sie kann aufgrund der leichter zugänglichen Erforschung der Veränderungen in den bedrohten Gegenwartssprachen zumindest zu einer differenzierteren Sicht der sprachlichen Desintegrationsprozesse beitragen.

1. Soziolinguistische Sprachtodforschung Bemühungen, die lange Zeit ignorierten synchronischen Prozesse des Sprachverfalls in noch lebenden Sprachen in den Mittelpunkt des sprachwissenschaftlichen Forschungsinteresses zu rücken, kommen in den letzten Jahren verstärkt aus der Soziolinguistik, wo mittlerweile unter dem Begriff der Sprachtodforschung beachtliche Ergebnisse in Hinblick auf die Systematisierung sprachlicher Verfallsprozesse erzielt werden konnten. Obwohl die einzelnen Forschungsansätze im wesentlichen induktiv verfahren und man derzeit noch weit davon entfernt ist, von einer Theorie des Sprachtodes zu sprechen, zeigen die Untersuchungsergebnisse, daß es im Verlauf des Sprachverfalls allgemein wiederkehrende Prozesse gibt, die charakteristisch für den Verlauf von Sprachverschiebung und den Untergang einer rezessiven Sprache sind. Es ist kein Zufall, daß sich die Soziolinguistik zu Beginn der 70er Jahre mit den Phänomenen des Sprachwandels auseinanderzusetzen begann. Das Interesse an den Fragen der sprachlichen Minderheiten und die Möglichkeit, die Phänomene des Sprachwandels anhand der generationalen Verteilung der sprachlichen Varianten synchronisch zu beschreiben, gaben den Anstoß, daß man die Prozesse der kontaktbedingten Sprachverschiebung und des damit verbundenen Sprachverfalls systematisch zu erfassen begann. Von „Sprachtod" hatten zwar schon VENDRYES (1933), TERRACINI (1957) und COTEANU (1957) gesprochen. In programmatischer Form wurde der Sprachverfall bereits von SWADESH (1948) behandelt. Anhand empirischer Untersuchungen gelang es aber erst in den letzten Jahren, grundlegende Aspekte der Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Faktoren und den sprachlichen Veränderungen herauszuarbeiten. Mit Hilfe dieser Studien konnte gezeigt werden, daß das Ausmaß der Veränderungen, wie z. B. die Tendenz zur strukturellen Konvergenz mit der Kontaktsprache oder Vereinfachungen und Reduktionen des Formenbestandes oder des Wortschatzes, in einem engen Zusammenhang mit verschiedenen soziokulturellen Faktoren zu sehen sind und daß nur Minderheitensprachen vom Sprachtod bedroht sind. Der Terminus „Sprachtod" impliziert nicht etwa eine Perspektive von Sprache als biologischem Mechanismus, der stirbt (vgl. dazu DRESSLER/

Sprachverschiebung und Sprachtod

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W O D A K - L E O D O L T E R 1977). Als Teilbereich der Soziolinguistik des Sprachwandels konzentriert die Sprachtodforschung ihren Schwerpunkt vielmehr auf die Sprachbenützer, über deren Einstellung und Sprachgebrauch der Prozeß der strukturellen und funktionellen Desintegration synchronisch beschrieben und erklärt werden kann. Die Phänomene eines sich ankündigenden Sprachtodes treten im allgemeinen nur in Sprachkontaktsituationen auf, in denen es aufgrund unterschiedlicher sozialer Bewertungen der Kontaktsprachen zu einer Verschiebung zugunsten der prestigereicheren und sozial dominanten Sprache kommt. Diese Verschiebung geht in der Regel mit einer deutlichen Einschränkung der gesellschaftlichen Funktionen der nicht dominanten Sprache einher, sodaß diese zur Haussprache eingeschränkt, im fortgeschrittenen Stadium der Sprachverschiebung auch da nicht mehr als primär-sozialisierende Sprache von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft wahrgenommen wird. Da eine Sprache in solchen Fällen nicht mehr als Primärsprache erworben wird, erfolgt ihr Erwerb meistens unvollständig. Deshalb kann man auch in Sprachgemeinschaften, deren Sprachen rückläufig sind, Sprecher mit verschiedenen Sprachkompetenzen finden. D. h. also, daß die funktionelle Rückläufigkeit einer Sprache auch mit dem Verlust in der Beherrschung ihrer Regeln einhergeht. D E N I S O N (1977: 21) hebt jedoch in seiner Kritik an der anthropomorphen Metaphorik des Begriffs „Sprachtod" hervor, daß Sprachen nicht vom Verlust an Regeln sterben, sondern vom Verlust an Sprechern. Ausschlaggebend sei hier die Entscheidung der Mitglieder einer solchen Sprachgemeinschaft, ihre Sprache nicht mehr ihren Nachkommen vermitteln zu wollen. Die Gründe für eine derartige Entscheidung — dies zeigen uns die Ergebnisse der Sprachtodforschung — können sehr unterschiedlich sein. Hier ist es wichtig, daß die konkrete Situation, d. h. die sozio-ökonomischen und sozialpsychologischen Zwänge, die die Mitglieder einer ökonomisch schwächeren oder minoritären Sprachgemeinschaft dazu bewegen, ihre Sprache aufzugeben, genau untersucht werden. Wie sehr diese Faktoren die Einstellung zur sozial unterlegenen Sprache und folglich deren Gebrauch und Weitergabe an die Nachkommen beeinflussen, zeigt uns das Beispiel des Albanischen als Minderheitensprache in Griechenland und Italien. Eine äußerst restriktive und fremdenfeindliche Sprachpolitik hat in Griechenland dazu geführt, daß das Arvanitika in bestimmten Gegenden bereits den Status einer obsoleten Sprache eingenommen hat (vgl. T S I T SIPIS 1983a; T R U D G I L L - T Z AVARA S 1977) - während das Arberesh auf süditalienischem Territorium, das dem Druck der dominanten Staatssprache nicht in dem Maße ausgesetzt ist, weiterhin als Haussprache und nunmehr auch als Unterrichtssprache in Funktion ist (vgl. CAMAJ 1975, FAMIG L I E T T I 1980).

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Rosita Rindler-Schjerve

Es ist auch nicht immer so, daß funktionell rückläufige Sprachen tatsächlich untergehen müssen. In manchen Fällen, das zeigen uns Beispiele aus der europäischen Minderheitenbewegung, kann der Wille zur Bewahrung einer rezessiven Sprache politisch und ideologisch gesteuert sein, was dann zu ihrer zumindest vorübergehenden Revitalisierung führen kann. Ich beziehe mich da auf das Walisische, Bretonische, Baskische, Okzitanische, Sardische — um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist deshalb unmöglich, Prognosen zum Sprachtod abzugeben. Derzeit konzentriert sich die Forschung noch weitgehend auf die Aufzählung der verschiedenen Symptome, die die sprachliche Desintegration begünstigen bzw. hemmen. Die unterschiedlichen Gesichtspunkte, unter denen sich der Verfall von rezessiven Sprachen manifestiert, zeigen, daß die Sprachverschiebung, die mit Ausnahme von Situationen wie dem Genozid dem Sprachtod vorausgeht, nicht nur die rein sprachliche, sondern vielmehr die gesamte kommunikative Kompetenz der Sprecher betrifft. Untersuchungen, die die funktionelle Leistung rezessiver Sprachen in verschiedenen Kommunikationssituationen analysieren, weisen darauf hin, daß die Reduktion der sprachlichen Kompetenz bei imperfekten Sprechern einer sterbenden Sprache mit einer Umorganisierung des Sprachverhaltens einhergeht. Diese kann sowohl im funktional-pragmatischen Bereich zum Tragen kommen. Ich verweise hier insbesonders auf die Aspekte der funktionellen Reduktion im Umgang mit bestimmten Textsorten (vgl. dazu TSITSIPIS 1983b). Sie kann aber auch im Strukturbereich der Sprache selbst zum Ausdruck kommen. Da jedoch in Situationen des intensiven Sprachkontakts die funktionelle Sprachbewahrung sehr oft nur um den Preis verstärkter struktureller Veränderungen vor sich geht, — DENISON (1979: 34) spricht in Hinblick auf die romanischen Lehnelemente in der deutschen Mundart von Sauris von systemerhaltender Interferenz (vgl. dazu auch ENNINGERWANDT 1981) — wird von Sprachverfall letztlich nur dort die Rede sein können, wo es sich um irreversible Einbußen und Reduktionen im System und im Gebrauch einer bedrohten Sprache handelt, d. h. also dort, wo der Strukturwandel nicht mehr durch andere Veränderungen im grammatischen System kompensiert wird. Der Informationsverlust in der Grammatik bzw. Lexik einer betroffenen Sprache kann dann seinerseits wieder die kommunikative Performanz ihrer Sprecher einschränken, was den Untergang der Sprache beschleunigt. Ich werde auf diesen Punkt später noch näher eingehen. Die rezenten Untersuchungen zum Sprachtod gründen sich im allgemeinen auf die verschiedenen deskriptiven Ansätze der Soziolinguistik des Sprachwandels sowie der Sprachkontaktforschung, mit deren Hilfe zunächst noch auf induktivem Wege die einzelnen Verfallssymptome ermittelt werden. Die Ergebnisse der neuesten Sprachtodforschung zeigen, daß die Phänomene der

Sprachverschiebung und Sprachtod

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Sprachverschiebung und der Desintegration einer Sprache nur im Rahmen einer breit angelegten Theorie erfaßt werden können, in der alle am Verfall beteiligten Faktoren berücksichtigt werden. Eine derartige Theorie konnte allerdings bislang noch nicht ausgearbeitet werden. Im folgenden möchte ich auf die einzelnen Prozesse eingehen, die in Situationen der Sprachverschiebung das Erlöschen einer Sprache ankündigen. Diese Prozesse sollen im Zusammenhang mit den in unserem Symposium aufgeworfenen Fragestellungen diskutiert werden.

2. Verlauf der sprachlichen Desintegration Die erste Frage, mit der wir uns auseinandersetzen wollen, ist die nach dem Verlauf des Sprachverfalls in Situationen der kulturellen Desintegration. Hier liefern v. a. die Ergebnisse der sprachlichen Minderheitenforschung viele wertvolle Hinweise. Da insbesondere die ethnischen Minderheitensprachen vom Sprachtod bedroht sind, kann das Studium des Verlaufs der kulturellen Desintegration, die im allgemeinen auch mit einer Sprachverschiebung einhergeht, wesentliche Einsichten in die Prozesse der progressiven Rückläufigkeit einer Sprache vermitteln. Aus dem Studium instabiler Sprachkontaktsituationen wissen wir, daß sich die Rückläufigkeit einer sozial unterlegenen Sprache in verschiedenen Etappen des Sprachverlusts vollzieht. Diese können je nach der Intensivität des Kontaktgeschehens unterschiedlich sein: So zeigt sich, daß z. B. Sprachen, wie das Gaelische in Schottland, das schon vor langer Zeit totgesagt wurde, noch immer verwendet werden, wenngleich ihr Gebrauch in bestimmten Gegenden (ich verweise hier auf die umfangreichen Studien von N. DORIAN zum East Sutherland Gaelic) so eingeschränkt ist, daß hier vom Sprachtod die Rede ist. Andererseits wiederum mangelt es nicht an Beispielen, wo sich, bedingt durch die Sprachverschiebung der Untergang einer Sprache im Zeitraum von drei Generationen abzeichnet, — hier liefert u. a. das Albanische in Griechenland ein gutes Beispiel (vgl. TSITSIPIS 1983a,b; 1984). Interessante Beobachtungen lassen sich in diesem Zusammenhang auch dem Studium bestimmter Indianersprachen in Nordamerika entnehmen (vgl. HILL 1973, HILL/HILL 1977, McLENDON 1980). Am Beispiel des Lateinischen läßt sich andererseits sehen, daß es mitunter sehr schwierig ist festzustellen, wann eine Sprache tatsächlich stirbt. Ist z. B. der Übergang vom synthetischen zum analytischen Typus in den romanischen Sprachen ein eindeutiges Zeichen des Sprachverfalls? Hier zeigt sich die Unzulänglichkeit rein linguistischer Interpretationen. Der Grad der Verän-

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Rosita Rindler-Schjerve

derung läßt sich nicht objektiv messen, daher ist es gerade in diesem Zusammenhang besonders wichtig, außersprachliche soziolinguistische und sozialhistorische Kriterien in die Untersuchung miteinzubeziehen.

2.1. Aspekte des Funktionsverlusts Die Rückläufigkeit einer Sprache manifestiert sich am augenfälligsten im funktionalen Bereich, d. h. im Gebrauch, den die Sprachgemeinschaft von dieser Sprache macht. Und zwar zeigen sich hier die Verfallstendenzen nicht nur im gesellschaftlichen Bereich, wo die Sprache ihre Funktion als Verkehrssprache einbüßt und auf die Interaktionsdomäne der Familie abgedrängt wird, um selbst da von der anderen Sprache ersetzt zu werden: Der Verfall zeigt sich auch in der Verwendung der Sprache selbst, im Umgang mit ihrer Grammatik und ihren lexikalischen Ressourcen. So kann man in Sprachkontaktsituationen, in denen der Prozeß der Sprachverschiebung bereits die Sprachpraxis in der Familie erfaßt hat und wo der Vollzug des Sprachenwechsels in einem zeitlich überschaubaren Rahmen vor sich geht (hier war bereits die Rede von drei Generationen), oft Sprecher mit unterschiedlichen Graden der Sprachkompetenz finden. So unterscheidet z. B. DORIAN (1977) in ihrer Analyse des East Sutherland Gaelic zwischen drei Sprechergruppen: ältere perfekte Sprecher, jüngere Sprecher, die fließend sprechen, und die sogenannten „semi-speakers" (Halbsprecher). In ihren Studien weisen auch DRESSLER (1981) bezüglich des Bretonischen, SCHLIEBEN-LANGE (1976) bezüglich des Okzitanischen und TSITSIPIS (1983b, 1984) bezüglich des Albanischen auf ähnliche Abstufungen der Sprecherkompetenz hin. Die Annahme, daß Sprachen, die nur mehr von einer begrenzten Zahl der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft gesprochen werden, auch in ihrem Formenbestand reduziert werden, besteht zwar schon lange. Sie läßt sich auch in verschiedenen Untersuchungen von Sprachkontaktsituationen, in denen eine Sprache von Generation zu Generation progressiv durch eine andere ersetzt wird, empirisch belegen. Es herrscht allerdings Unklarheit darüber, ob der Strukturverfall, der in der reduzierten Kompetenz der letzten aktiven Benutzer einer sterbenden Sprache, der Halbsprecher, zum Ausdruck kommt, ein universelles Merkmal im Prozeß einer sterbenden Sprache ist? Im Moment verfügen wir noch nicht über genügend empirische Belege, die eine solche Hypothese bestätigen ließen. Trifft sie allerdings zu, so knüpft sich an diese Perspektive des Sprachverfalls eine weitere Frage, die v. a. im Hinblick auf die Rekonstruktion fragmentarisch dokumentierter Sprachen von Interesse sein kann: Wie läßt sich denn anhand von Belegen, die das Stadium der fortgeschrittenen Desintegration einer Sprache dokumentieren,

Sprachverschiebung und Sprachtod

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die Sprache in ihrer intakten Form rekonstruieren? Die Evidenz der sogenannten Halbsprecher, auf die viele Studien in Situationen des Sprachverfalls in bedrohten Gegenwartssprachen hinweisen, legt gewisse Parallelen des Verlaufs der Desintegration in historischen Situationen des Sprachverfalls nahe. Daraus ergibt sich für die Erforschung dieser historischen Prozesse die Notwendigkeit festzustellen, ob die überlieferten Belege sozusagen noch intakt sind oder bereits Merkmale des Verfalls aufweisen. Um diese Frage zu klären, müßten nach Maßgabe der vorhandenen linguistischen und kulturhistorischen Belege jeweils vergleichende, typologische oder systeminterne Kriterien der Rekonstruktion herangezogen werden (auf die Charakteristik des sprachlichen Strukturverfalls werde ich anschließend noch näher eingehen, vgl. Kap. 2.2.). Des weiteren stellt sich auch die Frage, ob die Sprecher einer im Erlöschen begriffenen Sprachgemeinschaft den Verfall ihrer Sprache bewußt erlebten und diesen zensurierten? Man denke nur, welche wichtigen Hinweise sich ζ. B. für den Romanisten aus Belegen wie der Appendix Probi bezüglich der Rekonstruktion der Vulgärphase des Latein ergeben. Natürlich muß man hier unterscheiden zwischen Sprachen, die wie das Latein über eine Schriftnorm verfügten und solchen, die reine Sprechsprachen waren. Allerdings zeigt hier der empirische Befund der soziolinguistischen Sprachtodforschung, daß Korrekturmechanismen mitunter auch in den nur gesprochenen Sprachen manifest sein können. So vermerkt z. B. DORIAN (1981) zwar nur mehr schwache normative Zugriffe von Seiten der älteren Sprecher auf die jüngeren, was sie als Zeichen des fortgeschrittenen Verfalls wertet, während SCHMIDT (1985) in ihrer Arbeit zum Dyirbal, einer sterbenden Aboriginee-Sprache, in einer ebenfalls fortgeschrittenen Phase des Sprachverfalls von sehr ausgeprägten puristischen Reaktionen älterer Dyirbal-Sprecher zu berichten weiß. Laut der Studien von HORNUNG (1981) und DENISON (1982) scheinen die Sprecher in den deutschen Sprachinseln von SAURIS und PLADEN hingegen solcher normativer Korrektive zu entbehren. Mit der Reduktion des Gebrauchs einer Sprache geht allgemein auch eine Reduktion ihres Stilrepertoires einher, da vormals differenzierte Stilregister zusammenfallen. In der Literatur zum Sprachtod wird dieser Prozeß häufig als Tendenz zum Monostilismus angeführt (vgl. DRESSLER 1972, 1986, 1987; DRESSLER/WODAK 1977; GIACALONE-RAMAT 1983; SCHLIEBEN-LANGE 1976). Hier stellt sich daher die Frage, inwieweit pragmatische Aspekte die kernlinguistische Entwicklung affizieren können? In seinen Arbeiten zum Sprachtod des Arvantika konnte TSITSIPIS (1984) nachweisen, daß die Einschränkung des Stilrepertoires in einem direkten Zusammenhang mit dem sprachlichen Strukturverfall zu sehen ist. So erklärt sich z. B. der Verfall bzw. Schwund des Gerundiums in dieser Sprache aus der Tatsache,

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Rosita Rindler-Schjerve

daß die Erzählsequenzen im Arvantika-Diskurs selten geworden sind, bzw. sich auf die Diskurse unter älteren Leuten beschränken. Da junge Sprecher auf Griechisch erzogen werden, sehen Großeltern keinen Sinn mehr darin, ihren Enkeln Geschichten auf Arvantika zu erzählen. Junge Sprecher hören also keine Geschichten mehr, die sie nacherzählen könnten, und haben dadurch auch keine Möglichkeit, komplexe grammatische Strukturen durch die Repetition und Einübung solcher Texttypen zu erwerben. Auch H I L L (1973) kommt zu einem ähnlichen Schluß, indem sie den Verlust der syntaktischen Subordination auf die Reduktion prestigereicher Stile im kalifornischen Cupeño und Luiseño zurückführt. In derselben Weise sieht auch E L M E N D O R F (1981) eine Beziehung zwischen dem Verlust komplexer grammatischer Affixe und dem Schwund formaler Register im kalifornischen Yuki und Wappo. Interessant sind in diesem Zusammenhang v. a. die Hinweise, daß die Einschränkung des Stilrepertoires mit der Einschränkung der linguistischen Kompetenz einhergeht, die dann ihrerseits wieder Auswirkungen auf die gesamte kommunikative Kompetenz und das Sprachverhalten hat. So versuchen z. B. imperfekte Sprecher in Diskurssituationen ihre lückenhafte Sprachkompetenz dadurch zu kompensieren, daß sie ihre Redebeiträge kurzhalten und dabei häufig formelhafte Ausdrücke benutzen (vgl. D O R I A N 1982). Die Asymmetrie einer solchen Interaktionsart fallt dabei nicht weiter auf, da es sich in diesen Fällen immer um junge Sprecher handelt, die der Interaktion älterer Leute beiwohnen, in der sie sowieso nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (vgl. D O R I A N 1982a: 33).

2.2. Strukturverfall Der gegenwärtige Befund der Sprachtodforschung bestärkt die Annahme, daß die sprachliche Desintegration in Phasen vor sich geht, in denen sich die Verschiebung des Gebrauchs von einer zu einer anderen Sprache vollzieht. Die Sprachverschiebung ist somit eine Vorstufe des Sprachtodes. Sie manifestiert sich nicht nur in der progressiven Reduktion der sozialen Funktionen der Sprache, sondern äußert sich auch in der zunehmenden Reduktion der Sprachkompetenz ihrer Sprecher. Diese haben im Zuge der fortschreitenden Unilingualisierung eine höhere Kompetenz in der anderen Sprache erworben. Die fortschreitende Reduktion der Kompetenz beschreibt D O R I A N in ihrer Langzeitstudie des Sprachverfalls im Gaelischen so, daß sogenannte Fehler, die gelegentlich bei älteren Sprechern auftauchen, mehr systematische Verwendung bei jüngeren und dann System bei den jüngsten zeigen (DORIAN 1973: 415).

Sprachverschiebung und Sprachtod

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Die verschiedenen Ergebnisse der Erforschung der Sprachverschiebung in noch nicht obsoleten Sprachgemeinschaften weisen darauf hin, daß die funktionale Verschiebung einer Sprache auch mit Veränderungen in ihrem Strukturbereich einhergeht. Diese äußern sich sehr augenfällig im Bereich der Lexik, wo durch die Aufnahme von neuen Kulturmodellen und -gütern, viele Bezeichnungen aus der anderen Sprache übernommen werden. Sie äußern sich weniger stark in der Grammatik, wo der Einfluß der anderen Sprache in Form von Interferenzen zum Tragen kommt, ζ. B. in Analogiebildungen und in der Anpassung gewisser grammatischer Paradigmen nach dem fremden Muster. Der Unterschied zum Sprachverfall, der einer solchen beginnenden Desintegration folgen kann, liegt nun darin, daß die Entlehnungen sowohl im Wortschatz als auch in der Grammatik immer wieder den Strukturgegebenheiten der entlehnenden Sprache angepaßt werden, d. h. sowohl phonologisch, morphologisch, syntaktisch als auch semantisch. Solange also solche Veränderungen nur eine Umstrukturierung des entlehnenden Systems bewirken und strukturelle Vereinfachungen, die an einer Stelle auftreten, durch Verdichtung oder Elaboration an einer anderen Stelle des Systems kompensiert werden, kann nicht von Sprachverfall die Rede sein. Die Perspektive des Sprachverfalls, der als Zeichen des drohenden Untergangs einer Sprache zu werten ist, legt sich nur dort nahe, wo es auf der Strukturebene zu irreversiblen Einbußen gekommen ist. Da sich also der Prozeß der sprachlichen Desintegration in Phasen vollzieht, die mit einer progressiven Reduktion der linguistischen Kompetenz einhergehen, kann man sich die Frage stellen, ob es so etwas wie eine Verfallshierarchie gibt, derzufolge gewisse Strukturbereiche eher als andere dem Verfall anheimfallen? Auch entsteht hier die Frage, ob der Verlust von Strukturen einem bestimmten Muster folgt, das sich aus der Komplexität oder Frequenz dieser Strukturen erklären läßt? Fragen dieser Art sind ja bekanntlich nicht neu, denn mit ihnen beschäftigt sich seit langer Zeit und mit recht unterschiedlichen Ergebnissen die Erforschung des Sprachwandels. In der soziolinguistischen und sozialhistorischen Sprachtodforschung gibt es dazu Hinweise, allerdings reicht die empirische Belegsituation derzeit nicht aus, um diese Fragen schlüssig zu beantworten. Der Forschungsstand ist allerdings so weit gediehen, daß man annehmen kann, daß es keine sprachlichen Strukturbereiche gibt, die gegen Veränderungen resistent sind. Die empirische Evidenz der Sprachtodforschung legt die Vermutung nahe, daß v. a. jüngere Sprecher in Situationen des Sprach Verfalls dazu neigen, Unregelmäßigkeiten und Komplexitäten des grammatischen Formenbestandes auszugleichen (vgl. SCHMIDT 1985). Allerdings sind auch hier die Untersuchungsergebnisse recht unterschiedlich. Während DRESSLER (1972) dar-

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auf hinweist, daß im Bretonischen wichtige Anlautmutationen bei jungen Sprechern verloren gehen, betont DORIAN (1972) hinsichtlich der Veränderungen im Mutationssystem des East Sutherland Gaelic, daß Mutationen mit großen funktionalem Gewicht im grammatischen System beibehalten werden, hingegen die mit geringerer Funktionsbelastung aufgegeben werden (z. B. beim Vokativ, wo die Mutation wegfallt im Gegensatz zur Vergangenheitsmarkierung, wo sie beibehalten wird). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis, daß Mutationen dann eher beibehalten werden, wenn sie in der dominanten Sprache eine morphologische Entsprechung haben (DORIAN 1972: 100). Dieser Hinweis unterstreicht die Bedeutung der Struktur der dominanten Sprache, die natürlich eine nicht zu übersehende Einflußvariable ist. Am deutlichsten — dies zeigen alle Studien des Sprachverfalls — kommt dieser Einfluß im lexikalischen Bereich zum Tragen. Hier kommt es allgemein zu einer übermäßigen Entlehnung aus der anderen Sprache. Da die entlehnten Elemente nicht mehr phonologisch und morphologisch an die Strukturgegebenheiten der rezessiven Sprache angepaßt bzw. integriert werden, führt dies zu einer sukzessiven Relexifizierung des einheimischen Wortschatzes, der von den fremden Elementen fortschreitend substituiert wird (vgl. dazu HILL/ HILL 1977). Die Frage nach der Anfälligkeit bestimmter Wortarten in diesem Substitutionsprozeß läßt sich nicht eindeutig beantworten. Es scheint hier aber so zu sein, daß in solchen Situationen nicht die Struktur der Kontaktsprachen maßgeblich für die Entlehnung ist, sondern mehr die Art des soziokulturellen Kontakts. So vermerkt KIEFFER (1977) bezüglich des sterbenden Ormuri in Afghanistan, daß die Resistenz der Lexik gegen Überfremdung v. a. bei den Ordinalzahlen, bestimmten Verben mit den entsprechenden Kausativen, bei grammatischen Morphemen (Präpositionen, Partikeln), bei Pronomina, Artikel und bei Lexeminseln, die sich auf bestimmte Lebensbereiche beziehen, am größten ist. SCHMIDT (1985) weist bezüglich des Dyirbal darauf hin, daß lexikalisch resistent v. a. Nomina mit Welt-Referenz sind, während der Verlust am größten bei Bezeichnungen von Kulturspeziflka, Tieren, Pflanzen, abstrakten Dingen und Verwandtschaftsbezeichnungen ist. Die lexikalische Verarmung in rezessiven Sprachen, die immer wieder als Begleiterscheinung des Sprachverfalls genannt wird, wird aber nicht allein durch die Relexifizierung des Wortschatzes, sondern auch durch das Fehlen einer funktionierenden Wortbildung bedingt. Die Sprache hat hier aufgehört, eine Quelle der Erneuerung zu sein. Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß in Zeiten des Sprachverfalls die vormals produktiven Wortbildungsregeln nicht mehr wirksam sind. Sprecher verstehen die derivationsmorphologischen Mittel ihrer Sprache nicht mehr zu nützen, weil sie ihrer nicht mehr mächtig

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sind (vgl. SALA 1962; SCHLIEBEN-LANGE 1976; DRESSLER 1977, 1987). Verfallsverdächtig erscheint des weiteren der Abbau flexionsmorphologischer Kategorien (vgl. DORIAN 1972, 1978, 1981, 1982a,b; DRESSLER 1981, 1986, 1987; HILL/HILL 1977; TRUDGILL 1976). So geben 2. B. im Dyirbal die Sprecher das Kasussystem auf und wechseln zur Wortstellung nach englischem Vorbild über (vgl. SCHMIDT 1985). An solchen Beispielen zeigt sich, daß die Flexionsmorphologie Veränderungen gegenüber bei weitem nicht so resistent ist, wie dies manchmal behauptet wurde (vgl. auch BYNON 1977: 253). So hatte z. B. MEILLET (1921) noch die Ansicht vertreten, daß die Grammatiken zweier Sprachen gegenseitig undurchlässig seien. Auffallig sind vielfach auch Tendenzen, wo sich das Uberhandnehmen analytischer Formen abzeichnet (DORIAN 1973). Auch in der Syntax läßt sich in Sprachverfallssituationen häufig der Abbau von Nebensätzen beobachten. Die Sprecher sind oft nicht mehr in der Lage, die Subordination korrekt zu bilden. Beispiele liefern dazu HILL (1973) für das sterbende Cupeño und Luiseño; VOEGLIN/VOEGLIN (1977) für das Tübatulabal; DORIAN (1982a) für das East Sutherland Gaelic, wo die Subordination nur mehr in 40% der Fälle erfolgreich vorgenommen wurde. Bezüglich der Entwicklung im Lautbereich läßt sich noch kurz sagen, daß der Sprachverfall hier oft durch eine übergroße Variation gekennzeichnet ist, die im Auftreten neuer, freier phonetischer Varianten von Phonemen beobachtet werden kann (vgl. dazu DRESSLER 1972; DRESSLER/WODAK 1977; KIEFFER 1977; DENISON 1979; DORIAN 1982a,b; GIACALONERAMAT 1983). DRESSLER (1986) erklärt diese Entwicklung v. a. mit dem Prozeß der Aufweichung der sprachlichen Normen, die für den Sprachverfall typisch ist.

Schlußbemerkungen An den angeführten Beispielen zeigt sich, daß der Sprachverfall eine Entwicklung ist, die den gesamten Bereich der Sprache erfaßt, und zwar sowohl in struktureller als auch sozialer Hinsicht. Die Entwicklung des Sprachverfalls, die hier als Vorzeichen des drohenden Untergangs einer Sprache definiert wurde, ist — das läßt sich dieser multifaktoriellen Zusammenschau entnehmen — ein sehr komplexer Prozeß, zu dessen Beschreibung und Erklärung interne und externe Einflußfaktoren herangezogen werden müssen. Obwohl wir derzeit noch weit davon entfernt sind, von einer expliziten Theorie des Sprachtods sprechen zu können, legen die verschiedenen Prozesse, die sich im Verlauf des Verfalls in obsoleten Gegenwartssprachen beobachten lassen,

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die Vermutung nahe, daß die sprachliche Desintegration in ζ. T. zeitlich unterschiedlichen, aber in der Verfallssymptomatik ähnlichen Entwicklungsprozessen vor sich geht. Diese betreffen sowohl den Strukturverfall des sprachlichen Systems, der nicht mehr kompensiert wird, als auch die Funktionseinschränkung der Sprache im sozialen Bereich und nicht zuletzt den Normenverlust bei den Sprechern. Da es sich hier also um eher allgemeine Prozesse handeln dürfte, die überall dort auftreten, wo Sprachen sich in Auflösung befinden — der Stellenwert dieser Phänomene wird in einer allgemeinen Theorie des Sprachtods noch zu definieren sein — können sich daraus auch Rückschlüsse auf ähnlich desintegrative Sprachzustände in der Vergangenheit ziehen lassen. Diese werden natürlich in erster Linie dort möglich sein, wo die historischen Belege eine Rekonstruktion des Verfalls erlauben. Aber auch in jenen Fällen, wo die Rekonstruktion aufgrund von Beleglücken eingeschränkt ist, erweist sich ein Blick in die Sprachtodforschung u. U. als hilfreich: Und zwar' können die Kenntnisse, die bzgl. des Verfalls von kulturell rückläufigen Sprachen gewonnen wurden, dazu beitragen, die historische Rekonstruktion mittels deduktiv gewonnener Hypothesen an jenen Stellen abzustützen, wo ihrer induktiven Erschließung in Ermangelung beweisführender Belege Grenzen gesetzt sind. Und in diesem Sinne versteht sich auch dieser Beitrag über „Spracljrod", mit dem wir die erste Diskussionsrunde dieses Symposiums eröffnet haben.

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Zu den Begriffen ,Restsprache' und ,Trümmersprache' VON JÜRGEN UNTERMANN

Als sich zwischen Manfred Mayrhofer und mir vor einigen Jahren eine Diskussion darüber entspann, wie der Grad der Verfügbarkeit .toter' Sprachen (im Gegensatz zu lebenden Sprachen, sogenannten ,Informanten-Sprachen') in brauchbare Termini zu fassen wäre, haben wir nicht vorhergesehen, wieviel Einzelprobleme sich bei der Anwendung unserer offenbar so griffigen Zweiteilung der lückenhaft verfügbaren Sprachen in ,Trümmersprachen' und ,Restsprachen' einstellen würden. Die Homburger Tagung über .Germanische Rest- und Trümmersprachen' machte nicht nur diese Probleme erkennbar, sie lieferte auch eine Fülle von Testfallen, an denen sich unsere vielleicht etwas allzu leichtfertig kreierten Schlagwörter zu bewähren hatten.1 Das Problem besteht darin, daß zwei im Prinzip völlig unterschiedliche Befunde zueinander in Bezug gebracht werden müssen: 1. Die Quellen, aus denen wir eine Sprache kennenlernen und beschreiben können; 2. die Funktion, die eine Sprache im sozialen und kulturellen Kontext ihrer Sprecher wahrnimmt.

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Zunächst ein Blick auf die Fragen, die sich aus der Quellensituation ergeben können. Quellen können so reichlich vorhanden sein, daß wir von einer Corpus-Sprache sprechen können — von einer ,Groß-Corpus-Sprache' wie dem Sanskrit, dem Lateinischen, dem Altgriechischen oder dem Altwestnordischen, oder von einer ,Klein-Corpus-Sprache' wie dem Bibelgotischen oder 1

Für die erste Formulierung und Erprobung der hier behandelten Termini vgl. Manfred Mayrhofer, Zur Gestaltung des etymologischen Wörterbuchs einer „Großcorpus-Sprache". Österr. Akademie der Wissenschaften. Phil.-Hist. Klasse. Sitzungsberichte. Band 368, Heft 11. Wien 1980, bes. S. 17 f. (zu .Groß-' und .Klein-Corpussprachen'). Jürgen Untermann, in: Le lingue indoeuropee di frammentaria attestazione (Convegno Udine 1981). Atti, Hg. v. E. Vineis. Pisa 1983, bes. S. 12—14 (zu .Rest- und Trümmersprachen').

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dem Altsächsischen. Sie können so spärlich sein, daß wir sie als .Trümmer' bezeichnen müssen, und damit die Sprache, die wir durch sie kennenlernen, als , T r ü m m e r s p r a c h e ' : das Oskisch-Umbrische oder das Venetische im antiken Italien, das Keltische in Oberitalien, Frankreich und in der Pyrenäenhalbinsel, die Sprache der Runeninschriften Norddeutschlands und Jütlands in vormittelalterlicher Zeit. Worin die Trümmer bestehen, ist für die Definition einer Sprache als ,Trümmersprache' zunächst belanglos: Es können kurze literarisch überlieferte Texte sein, es können Inschriften auf Bodenfunden sein, es können Namen von Personen, Orten und Völkern sein, die uns durch die Vermittlung von in anderen Sprachen geschriebenen Kontexten zugänglich werden. Belangvoll wird die Art der Überlieferung erstens, wenn wir nach der Identität und damit nach dem ,Namen' einer Sprache fragen, und zweitens, wenn wir sie qua Sprache beschreiben wollen. Wenn es um die Identität und den Namen einer Sprache geht, ist man im allgemeinen zufrieden, sobald man ein literarisch überliefertes Sprachfragment mit einem Volksnamen verbunden findet, auch dann, wenn der Volksname so inhaltsleer oder so unpräzise ist, daß man fragen muß, wer nun eigentlich wen zur Definition braucht, — der Volksname das Sprachfragment oder das Sprachfragment den Volksnamen: Die ,Illyriologie' darf wohl als bestes Beispiel einer solchen zirkulären Definitionskatastrophe gelten. Ebenso zufrieden ist man, wenn archäologisch faßbare Sprachzeugnisse, also Inschriften mit bestimmten klassifizierenden Merkmalen auf Bodenfunden, in einem Gebiet zutage kommen, für das historische oder ethnographische Autoren die Anwesenheit eines Volkes — was immer diese Autoren unter einem Volk verstehen mögen — bezeugen: so in Oberitalien die ,venetischen' Inschriften im Gebiet der Veneter (die historisch immerhin recht gut profiliert sind), die ,lepontischen' Inschriften dort, wo ein paar kärgliche Ethographennotizen einen Volksnamen Lepontii registrieren. Verboten ist ein solches Verfahren der Namengebung gewiß nicht, aber für eine sprachliche Identifikation ist damit noch nichts gewonnen. ' Die Identifikation wird erst dann möglich, wenn wir die Sprache grammatisch beschreiben und in irgendeinem noch so bescheidenen Grade gegen andere Sprachen abgrenzen können — durch grammatische Merkmale, wie Lauterscheinungen, morphologische Ausdrucksmittel oder Eigenheiten des Lexikons. Ob eine solche Beschreibung gelingt, hängt nun ganz von den Zufälligkeiten der Belege ab: Im Venetischen haben wir kontextuell plausibel bezeugte Verbalformen wie donaste, vhagsto, tolar oder doto, die der Indogermanist sofort zu einer sprachvergleichenden Einordnung auswerten kann. Um Verbalformen auf lepontischen Inschriften wie tetu, kalite und karite glaubhaft zu machen, bedarf es schon recht raffinierter Hypothesen, und von

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einer überzeugenden komparatistischen Beurteilung dieser Formen ist man dann noch immer weit entfernt. In vielen Fällen bleibt es bei einem — gemessen an dem, was eine Sprache insgesamt an Merkmalen besitzt — äußerst kümmerlichen Rekurs auf ein paar lautliche Kriterien: ob es in den betreffenden Texten Spiranten gibt, ob es p im Wortanlaut vor Vokal gibt, und dergleichen mehr. Die Sprachvergleichung bringt aber auch eine neue Schwierigkeit in die Definition von Trümmersprachen hinein: Sie zwingt uns zu unterscheiden zwischen 1. .totalen Trümmersprachen', die wir nur durch die gegebenen Sprachtrümmer kennen und nicht in genetische Zusammenhänge einordnen können, wie das Etruskische und das Iberische; 2. Trümmersprachen, die sich mit anderen Sprachen einer (genetisch definierten) Sprachfamilie vergleichen lassen und dort für einen Teil ihrer Elemente eine grammatische ,Erklärung' finden, ζ. B. die venetischen oder die libyschen Inschriften; 3. Trümmersprachen, die einer bekannten Corpus-Sprache so ähnlich sind, daß ein diachronischer Bezug herstellbar ist, der sich nicht mehr wesentlich von demjenigen unterscheidet, der zwischen Phasen einer Sprachtradition besteht: ζ. B. das Festlandkeltische neben dem Irischen, das Lykische neben dem Hethitischen. 4. Sprachtrümmer, die sich der Phase einer Corpus-Sprache zuweisen lassen, in den meisten Fällen einer frühen Phase, wie die Ogam-Inschriften dem Irischen oder die Runentexte den mittelalterlichen ,Klein-Corpora' germanischer Sprachen, gelegentlich auch einmal einer späteren Phase, — bestes Beispiel: das Krimgotische. Für die meisten der Abgrenzungsschwierigkeiten, die sich bei den hier skizzierten Typen von Gegebenheiten einstellen, wage ich keine Lösung anzubieten, — nur auf z w e i Kriterien möchte ich hinweisen: (1) auf das der Integration in die grammatische Beschreibung besser bekannter Sprachen, das die soeben unter 4. beschriebenen Trümmer aus der Klasse der Trümmersprachen in die Klasse der marginalen Zeugnisse für Corpus-Sprachen hinüberrettet, und (2) auf das der Verständlichkeit, das eine einigermaßen brauchbare Unterscheidung zwischen Trümmersprachen und ,Klein-CorpusSprachen' erlaubt: Vom Altpreußischen haben wir kaum mehr Zeugnisse als vom Umbrischen, Etruskischen oder Iberischen. Aber die altpreußischen Texte sind als Übersetzungen bekannter deutscher Texte (Bibel, Katechismus) voll verständlich und damit als Basis für eine Grammatik im vollen Sinne des Wortes brauchbar (in der durchaus einige Kapitel und einige Eintragungen in den Paradigmen fehlen können), und deshalb ist das Altpreußische unter

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die ,Klein-Corpus-Sprachen' einzureihen; die umbrischen, etruskischen und iberischen Texte verstehen wir — trotz ihres Umfangs — zu einem so geringen Prozentsatz, daß ihre Elemente nur zu einem minimalen Teil in eine grammatische Beschreibung integriert werden können: sie sind deshalb eindeutig als ,Trümmersprachen' zu bezeichnen.

2.

Nur wenn man die Funktion und die Geschichte einer Sprache kennt, weiß man, ob man es mit einer , R e s t s p r a c h e ' zu tun hat oder nicht. Eine Restsprache ist zunächst einmal nichts anderes als eine Sondersprache: Sie setzt Zweisprachigkeit voraus und hat einen beschränkten Geltungsbereich innerhalb einer gegebenen Sprachgemeinschaft: Sprache der Familie, der Frauen, der Religion, einer Handwerkergemeinschaft. Die diachronische Konnotation des Terminus ,Restsprache' impliziert, daß sich dieser Geltungsbereich erst im Laufe der Zeit auf den Umfang zurückgezogen hat, in dem wir ihn in seinen Zeugnissen antreffen — das Lateinische im Vatikan, das Bretonische im häuslichen Leben einiger Dorfgemeinschaften der Bretagne und viele ähnliche Fälle mehr, in denen uns unsere historischen Kenntnisse erlauben zu sagen, daß eine Sondersprache ursprünglich einmal keine Sondersprache war, sondern einer Sprachgemeinschaft zur Kommunikation in allen Bereichen gedient hat. Sobald wir mit trümmerhaften Sprachzeugnissen konfrontiert werden, wird die Frage, ob diese nur eine ,Trümmersprache' (im oben unter 1. beschriebenen Sinne) oder außerdem auch eine Restsprache bezeugen, rasch zirkulär: Die archäologischen Umstände können es ζ. B. mit sich bringen, daß wir eine bestimmte Sprache nur durch Grabdenkmäler bezeugt finden: Wurde diese Sprache nur als Sondersprache für diesen einen Bereich, also nur als ,Grabsteinsprache' gebraucht, oder ist sie uns (zufallig) nur durch Grabsteine bekannt? Haben die Lusitaner, die sich ihre religiösen und juristischen Dokumente von lateinischen Schreibern schreiben ließen, im Alltagsleben lusitanisch oder lateinisch gesprochen? Fragen dieser Art wird man bei jedem fragmentarischen Quellenkorpus stellen und jeweils den besonderen Gegebenheiten entsprechend beantworten (oder offen lassen) müssen. Ein Fall, der an die Grenzen des Definierbaren führt, ist das, was man ,Eigennamenrestsprachen' und ,Lehnwortrestsprachen' nennen könnte: Sie begegnen in Sprachgemeinschaften, die zwar ihre Sprache zugunsten einer anderen aufgegeben haben, aber ihre Personen- und/oder Ortsnamen und/ oder Bezeichnungen für bestimmte Gegenstände — gegen die Norm der übernommenen Sprache — beibehalten. Aufgrund solcher Relikte hat man

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bekanntlich — mit mehr oder minder überzeugendem Erfolg — Sprachen wie das Illyrische in Jugoslavien oder das Pelasgische in Griechenland zu identifizieren versucht. Aber können solche lexikalische Restcorpora noch als .Sprache' bezeichnet werden? Sind dann die französischen Termini beim deutschen Militär — Grenadier, Leutnant, General, Bombe, Kanone, Bajonett — oder die biblischen Namen im deutschen Vornamenschatz ,Restsprachen'? Sobald man die Sprache durch ein mit Lexikon, Morphologie und Syntax funktionierendes Kommunikationsmittel definiert, muß man diese Frage zunächst einmal mit ,nein' beantworten. In allen genannten Fällen wird man aber ermitteln müssen, wie weit die Einführung dieser , Sprachreste' in unser Lexikon dem zeitweiligen, jetzt untergegangenen Gebrauch einer Sondersprache — beim Militär oder in der Kirche — zuzuschreiben ist: wenn ja, haben wir in den beschriebenen Wortschatzelementen die allerletzten Reste von Restsprachen vor uns, wenn nein, sollten wir lieber den Terminus .Lehnwort' verwenden.

The Death of Norn B Y M I C H A E L P. BARNES

1. Scandinavian in the British Isles and the term Norn Norn is a term that has been used to denote the languages of Scandinavianspeaking communities that once existed in the Northern and Western Isles of Britain and in Caithness. It is first attested in 1485 or shortly thereafter. Appended to a Norwegian document dealing with a Shetland matter issued in Bergen on 8 August 1485 is an apparently contemporary endorsement in Scots, which begins: "This lettir in Nornn ..." (Johnston, Johnston and Jón Stefánsson 1907 — 42, 1 no. 33). Some sixty years later, Donald Monro, "High Dean of the Isles", uses the phrase in nom leid 'in Norn language' in the course of a brief discussion of the etymology of the island-name Jura ( < Dyrey; Munro 1961, 50). In the succeeding centuries Norn was used by many writers to describe Scandinavian speech in Orkney and Shetland, and modern scholars have also applied the term to the Scandinavian at one time spoken in Caithness, as well as coining the phrase Sudrey-norn to denote the Hebridean variety. I am not aware that Norn has been used about Scandinavian speech or writing elsewhere in the British Isles in any serious way, although of course we have very few early sources that could indicate whether this was once the case. The etymology of Norn is fortunately in no doubt. It is used as both noun and adjective and is clearly a reflex of ON norrann 'of northern origin, Norse', norrana 'Northern language, Norse language'. In most nineteenth and twentieth-century scholarship, Norn, when used without qualification, denotes the Scandinavian spoken in Orkney and Shetland. Spoken Scandinavian from elsewhere in the northern part of Britain is usually more closely defined (e. g., Caithness Norn), while written Scandinavian, which, runic inscriptions apart, comes almost exclusively from Orkney and Shetland, is variously described as (Old) Norse, Norwegian, Danish or Scandinavian — rarely as Norn. This terminology reflects two basic facts that are of importance for the subject of the present paper. First: Except from Orkney and Shetland, we have virtually no reports on the fate of spoken Scandinavian in Britain or Ireland. We do not know for sure how long it survived in the different places where it was used, or much,

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if anything, about the steps that led to its extinction. It seems clear that it perished in competition with English in the Danelaw and with Irish or Gaelic in Ireland, the Hebrides and the western mainland of Scotland, but there is less certainty about Man and eastern Caithness. In Man there is evidence that some Scandinavian place-names were anglicised without having first been gaelicised (Rhys in Moore 1890, v-viii, cf. also Moore 1890, 287), and in eastern Caithness few if any of the Scandinavian words (some 200, according to Thorsen 1954, 238) and place-names that have survived bear traces of having passed into Scots through Gaelic. Scandinavian in these areas may therefore have succumbed in part or almost entirely to varieties of English. Odd clues of this type that may be found among the dying embers of the British and Irish outposts of the Scandinavian-speaking world represent virtually our only source of information on their fate outside the Northern Isles. But such clues alone are clearly insufficient to allow us to reconstruct in even the barest outlines the history of any of these forms of speech. Second: The written Scandinavian in documents from or concerning Orkney and Shetland does not differ at all from that of contemporary Norwegian documents. The development that can be seen in Norway from Old Norwegian through an increasingly Swedish and then Danish-influenced Middle Norwegian to pure Danish, with its analytical structure and its abundance of Low German loan-words, is faithfully mirrored in Orkney and Shetland (cf., for example, DN II no. 168 (1329), II no. 691 (c. 1425) from Orkney, I no. 89 (1299), II no. 859 (1465) and Johnston, Johnston and Jón Stefánsson 1907—42, 1 no. 51 (1597) from Shetland). But this development in the written form clearly did not spring from changes in the spoken language of the Northern Isles. In Norway itself the written language diverged more and more from everyday speech, and this was obviously also the case in Orkney and Shetland. Indeed the gap there is likely to have been even wider since scribal practices, as far as we can see, took no account whatsoever of retentions or innovations in the speech of the islanders. Orkney and Shetland documents in Scandinavian thus tell us little or nothing about the development of the spoken language, and it is misleading, as is occasionally done (cf., for example, Marwick 1929, 218), to describe as Norn what is in fact the changing written idiom of Norway. It is thus clear why Norn nowadays is used mainly to denote the spoken Scandinavian of Orkney and Shetland. More importantly from our point of view, we also see why it is those linguistic varieties we must concentrate on if we wish to study Scandinavian in the British Isles in the context of "Restund Trümmersprachen" and the related concept of language death. Outside Orkney and Shetland the remnants are too few and our knowledge is too

The Death of Norn

Reprinted by permission from and published by Frank Cass and Co. Ltd., 11 Gainsborough Road, London E l l 1RS.

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SHETLAND

Northmavine Ronas Voe

FETLAR

O l n a Firth PAPA

STOURCI

MAINLAND

Tingwall Grimista BRESSAY s und -en- > i vor Spirans) und damit eine Verbindung mit dem Wort Linde näher (Martin Edward Huld, An Etymological Glossary of Selected Albanian Items, Phil. Diss. University of California, Los Angeles 1979, S. 138 f.). Zu einem derartigen Bedeutungsansatz stimmen auch sachliche Erwägungen. Wegen der früher noch „wechselnden Ortsfestigkeit der Siedlungen" ist anzunehmen, daß es Gemeinbesitz gegeben hat (Hinweis von Prof. Dr. Heiko Steuer). Siehe Archäologische und naturwissenschaftliche Untersuchungen an ländlichen und frühstädtischen Siedlungen im deutschen Küstengebiet vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 11. Jahrhundert n. Chr., 1: Ländliche

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Bedeutungsentwicklung einer Ableitung von dem Verb lassen möglich ist, zeigt die Bedeutung .Einwohner, dem ein Stück Land überlassen ist' von mhd. läsge.56 Gesetzt nun den Fall, daß die Vorform von -läsn- in calasneo wie die von ae. läs ,Weide' ebenso eine Bedeutungsentwicklung von ,Überlassenes' zu ,Stück Land' mitgemacht hat, so kann auch die Basis von calasneo mit der Wurzel urgerm. *lët- ,lassen' verbunden werden, calasneo müßte dann denjenigen bezeichnet haben, mit dem man ein Stück Land gemeinsam hat, also den ,Mitnutznießer eines Stück Landes', eine Bedeutung, die zu der von commarcanus ,Mitnutznießer einer Holzmark' paßt. Was die von dem mstämmigen ae. läs abweichende Suffixverbindung -sn- in -läsn- betrifft, so begegnen bei Wurzeln, die auf */ auslauten, auch sonst Ableitungen mit -sn-; man vergleiche as. ambusni .Gebote' < *anahudsni —, eine Ableitung von dem Verb bieten.51 Gegenüber dem femininen »o-Stamm ae. läs handelt es sich bei den Bildungen auf -sn- um feminine /-Stämme, weshalb man für das Althochdeutsche einen femininen /-Stamm *läsn .Stück Land' anzusetzen hätte. Bei der vorgeschlagenen Deutung des Bestandteils -läsn- wären also die Vorformen von ae. läs und ahd. *läsn, *lêsw5 und *lêsni-, zwei unabhängig voneinander entstandene Ableitungen von der Wurzel urgerm. *lêt- ,lassen',

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Siedlungen, hg. v. Georg Kossack/Karl-Ernst Behre/Peter Schmid, Weinheim 1984, S. 379; Helmut Bernhard, Die frühmittelalterliche Siedlung Speyer „Vogelsang", Offa 39 (1982) S. 229; und demnächst Heiko Steuer, Standortverschiebungen früher Siedlungen — Von der vorrömischen Eisenzeit bis zum frühen Mittelalter, in: Festschrift für Karl Schmid. Man vergleiche ferner Erich Sachers, Handbuch [A. 21] I, Sp. 107: „Das Ackerland und die Wiesen waren ... zunächst lange Zeit allen Siedlern gemeinsam"; Karl Siegfried Bader, Studien zur Rechtsgeschichte des mittelalterlichen Dorfes I: Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, Weimar 1975, S. 5: „Nach der modernen Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte ... waren [zunächst] irgendwie geartete Siedelgemeinschaften da, Sippen oder Nachbarschaften, die erst einmal den ihnen nächstliegenden, leicht zugänglichen und bebaubaren Boden bewirtschafteten, ehe man, in einer zweiten und dritten Phase des Siedlungs- und Ausbauvorgangs, die schwer zu erschließenden Waldgebiete für intensive Nutzung angehen konnte." Zu den Lassbauern, Lassiten, bei denen eine Form der bäuerlichen Leihe, besonders in den Neusiedlungsgebieten Nord- und Ostdeutschlands, vorliegt, siehe Erler, Handwörterbuch [A. 21] Sp. 1627. Meid [A. 33] S. 118 f. Das s markiert in dem Suffix *-sni- die Wortbildungsfuge. Da Meid Belege für das Suffix -sm- nur aus dem Gotischen, Altnordischen, Altenglischen und Altsächsischen und nicht aus dem Althochdeutschen anfuhrt, könnte dies darauf hindeuten, daß die Kontinuante des Suffixes *-mi- im Althochdeutschen etwas Altertümliches darstellt. In dem postulierten ahd. *!äsn läge demnach eine alte Wortbildung vor. — Bereits Rudolph Much bei von Kralik [A. 13] S. 425, hat für ahd. *läsn auf die Möglichkeit einer sn-Ableitung von der Wurzel *lêt- ,lassen' hingewiesen. Doch muß bei dieser Analyse die Verbindung mit ahd. -lâri, gilâri, worauf einige Varianten in den Handschriften weisen könnten (siehe [A. 28]), aufgegeben werden. — Von Grienberger [A. 51] S. 156, versucht den Stamm von ae. läs und den Stamm von ahd. *läsn unter einer Vorform „*läsunio" zu vereinen. Doch bleibt unklar, wie aus einer solchen Vorform ein swö- und ein /«/-Stamm hervorgehen sollen.

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die beide zunächst .Überlassenes', dann ,an Grund und Boden Überlassenes' bedeutet und schließlich ein bestimmtes Stück Land bezeichnet hätten. Was die Bedeutung ,Stück Land' des postulierten ahd. *läsn betrifft, so paßt diese Bedeutung auch zu der Sachbezeichnung calasnis in der Freisinger Urkunde. Dem latinisierten Dativ Plural dürfte eine ya-stämmige Kollektivbildung caläsni ,Ländereien' zugrunde gelegen haben. 58 Wir haben nun die für die etymologische Deutung von calasneo wesentlichen Punkte besprochen und fassen unsere Ergebnisse zusammen: Wie das latinisierte commarcanus dürfte das volkssprachige calasneo denjenigen bezeichnet haben, der mit jemand ein Stück Land gemeinsam nutzt, an unserer Stelle die Holzmark. Bei calasneo handelt es sich um eine ya»-stämmige Possessivbildung mit dem Präfixga-, Die Basis bildet ein erschlossener althochdeutscher /-Stamm *läsn. Eine vergleichbare Bildung liegt in ae. las ,Weide' aus *leswö vor. Beide Bildungen sind von der Wurzel *let- ,lassen' mit einer j-haltigen Suffixverbindung abgeleitet, und zwar ahd. läsn mittels -sni- und ae. lœs mittels - M Die Grundbedeutung .Überlassenes' im Sinne von ,an Grund und Boden Überlassenes' der Vorformen *lesni- und *lesn>ö hat sich zu ,Stück Land' beziehungsweise ,Weide' entwickelt. Eine Kollektivbildung caläsni .Ländereien' ist für den in einer Freisinger Urkunde belegten Dat. PI calasnis anzusetzen. Es stellt sich nun die Frage, wieso das Legeswort calasneo ausgestorben ist. Zur Beantwortung dieser Frage sind Bedeutung und Beleglage des glossierten commarcanus und seiner volkssprachigen Entsprechung zu betrachten. Es wurde schon gesagt, daß commarcanus in der Lex Baiuvariorum neben der Bedeutung ,Mitnutznießer einer Holzmark' die Bedeutung ,Grenznachbar' hat. Auch in zwei Freisinger Urkunden vom Jahre 791 und 821 steht das latinisierte commarcanus für ,Grenznachbar'. 59 Das volkssprachige gimarceo bedeutet ebenfalls ,Grenznachbar' und ist seit dem 8. Jahrhundert fast ausschließlich in oberdeutschen Glossenhandschriften belegt. 60 Aufgrund dieser Beleglage kommt von Olberg 61 zu dem Schluß, daß es sich bei commarcanus und seiner volkssprachigen Entsprechung gimarceo um ein im Bairischen 58

Die Übersetzung der Textstelle [A. 30] lautet: ,und an diesen oben genannten Örtlichkeiten, w a s auch i m m e r ich darin an Eigentum zu haben schien, an Wäldern, an Wiesen, an Feldern, an Ä c k e r n , an Weiden, an Weinbergen, an Wasserläufen, an allen Länderein, und an Grenzen, w i e es meine V o r f a h r e n besaßen und mein Vater und meine Mutter mir hinterlassen haben ..." calasnis ist eine zusammenfassende Bezeichnung f ü r die v o r h e r genannten Grundstücke.

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Die Traditionen I, Nr. 142, Nr. 4 4 6 ; siehe dazu v o n Olberg [A. 1 7 ] S. 223. Eine A u s n a h m e bildet nur das alemannisch-fränkische Bibelglossar des K a r l s r u h e r Codex BLB. A u g . IC 22. Im 9. J h . erscheint commarcanus in der Bedeutung ,der B e w o h n e r eines Grenzgebietes, incola confinii' in der Historia L a n g o b a r d o r u m des Erchembert v o n M o n t e Cassino. Z u den einzelnen Belegen und ihren Nachweisen siehe v o n Olberg [A. 17] S. 2 2 2 f.

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[A. 1 7 ] S. 223.

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einheimisches Wort handelt. Doch ist die Sachlage komplizierter. Denn, wie ausgeführt, wurde ja das Legeswort commarcanus in der Bedeutung .Mitnutznießer einer Holzmark' durch calasneo glossiert. Zumindest in der Bedeutung ,Mitnutznießer einer Holzmark' war commarcanus also im Bairischen fremd. Was nun die Bedeutung .Grenznachbar' von commarcanus und gimarceo angeht, so gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten für das Vorhandensein dieser Bedeutung im Bairischen. Entweder wurde, wie es von Kralik 62 erwägt, das ganze Wort gimarceo ins Bairische übernommen — und zwar wohl aus der fränkischen Rechtssprache —63, oder das Bairische besaß gimarceo schon64, aber allein in der Bedeutung ,Grenznachbar'. Für die zweite Möglichkeit könnten die überwiegend bairischen Belege von gimarceo sprechen. Trifft die zweite Möglichkeit zu, war also gimarceo in der Bedeutung ,Grenznachbar' wirklich ein einheimisches bairisches Wort, dann müssen für das Absterben des ebenfalls einheimischen Wortes calasneo folgende Schritte rekonstruiert werden: Da commarcanus in der Rechtssprache .Mitnutznießer einer Mark' bedeutet, nahm das volkssprachige gimarceo diese Bedeutung neben der Bedeutung .Grenznachbar' an. Eine Zeitlang existierten also im Bairischen ein gimarceo in den Bedeutungen .Grenznachbar' und .Mitnutznießer einer Mark' und ein calasneo .Mitnutznießer eines Stück Landes' nebeneinander. In der Bedeutung .Mitnutznießer einer Mark' wurde calasneo allmählich von gimarceo verdrängt, da gimarceo auf das Simplex marca .Grenze, Gebiet'65 oder die Präfixbildung gimarci,Grenze' — Wörter, die ebenfalls im Bairischen auftreten66 — beziehbar und so durchsichtig war. Die Bedeutung ,Mitnutznießer einer Mark' von

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[A. 13] S. 45. Schmidt-Wiegand, Marca [Α. 16] S. 83; zum Einfluß der fränkischen Gesetzgebung siehe auch Reindel [A. 20] S. 133. Von Schwind [A. 22] S. 486, zählt commarcanus wie calasneo zu den verba vemacula. Dazu bemerkt Karg-Gasterstädt [A. 5] S. 265, daß „das ... vielleicht für das bairische berechtigt sein [mag], obgleich es uns heutigen mit unsern spärlichen kenntnissen vom Wortschatz des 8. jh.s kaum möglich sein dürfte, zu entscheiden, was das Sprachgefühl damals als fremd empfand oder nicht." Dazu siehe Tiefenbach [A. 46] S. 77; weiterhin Peter von Polenz, Landschafts- und Bezirksnamen im frühmittelalterlichen Deutschland, 1, Marburg 1961, S. 226ff. (S. 228: „Der politische Charakter aller [der] mit marc(b)a benannten Bezirke ist ebenso verschiedenartig und z.T. undurchsichtig wie ihre Größenverhältnisse.") Grenzen bestanden in der germanischen und fränkischen Zeit nicht aus einer Linie, sondern aus einem mehr oder weniger breiten Saum unbebauten Landes, häufig aus einem Wald (Hoke, Handwörterbuch [A. 21] I, Sp. 1802). Von Olberg [A. 17] S. 223 ff. Zu den bairischen Glossenbelegen von marca siehe auch Karl Lippe, Die Vertretungen der urgermanischen Lautfolgen Liquida und Nasal plus \k\ in den oberdeutschen Dialekten des Althochdeutschen, Münchener Studien zur Sprachwissenschaft 42 (1983) S. 143 A. 63.

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gimarceo verblaßte allmählich und verschwand schließlich. Von Lautform und Bedeutung des Legeswortes ist so keine Spur mehr vorhanden. Man hätte also bei dem Schwund von calasneo zunächst eine Rückwirkung der Legessprache auf die Volkssprache 67 in Form einer semantischen Analogie 68 anzunehmen. Nach dem Vorbild der Bedeutungen ,Grenznachbar' und ,Mitnutznießer einer Mark' bei dem fremden Rechtswort commarcanus trat zu der Bedeutung ,Grenznachbar' bei dem volkssprachigen gimarceo die Lehnbedeutung .Mitnutznießer einer Mark'. Aufgrund der Transparenz des zum Synonym gewordenen gimarceo ging calasneo unter. B.2. Nun zu unserem zweiten Wort, zu aworsan. Der Kontext lautet: Titulus XIV § 4 Si autem statim mortuum non fuerit, sed vulneratum evaderit ad domum domini sui, et dominus animalis hoc cognoverit et dicit ad illum reum qui ipsum animal conpellebat in mortem: recipe animal quod ledisti, quod nos auursam vocamus. ,Wenn aber das Tier nicht sofort tot sein sollte, sondern verwundet zum Haus seines Herrn entkommt und der Herr des Tiers es als sein Eigentum anerkennt, so sage er zu jenem Angeklagten, der das Tier in den Tod getrieben hat: nimm das Tier, das du verletzt hast, welches

wir auursam nennen'.69 Der Vergleich mit den handschriftlichen Varianten macht deutlich, daß für das Bairische von der Form aworsan70 auszugehen ist. Gegenüber dem behan67

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Schmidt-Wiegand, Die volkssprachigen Wörter [A. 1] S. 68, bringt weitere Beispiele dafür, daß „ein altes, heimisches Rechtswort eine zusätzliche Bedeutung, eine Lehnbedeutung, erhalten" [kann]. Zu weiteren Einflüssen auf die deutsche Rechtssprache siehe SchmidtWiegand, Fremdeinflüsse auf die deutsche Rechtssprache, in: Sprachliche Interferenz: Festschrift für Werner Betz zum 65. Geburtstag, hg. v. Herbert Kolb—Hartmut Lauffer, Tübingen 1977, S. 227 ff. Zu semantischen Analogien der Art rechtssprachliches commarcanus .Grenznachbar': ,Mitnutznießer einer Mark' = volkssprachiges gimarceo .Grenznachbar': X; X = .Mitnutznießer einer Mark' siehe Samuel H. Kroesch, Analogy as a Factor in Semantic Change, Language 2 (1926) S. 35 ff.; The Semantic Development of Old English ,craft', MPh. 26 (1929) S. 433; Change of Meaning by Analogy, in: Studies in Honor of Hermann Collitz, Baltimore 1930, S. 176 ff.; Gustaf Stern, Meaning and Change of Meaning. With Special Reference to the English Language, Göteborg 1931, S. 220 ff.; Otto Springer, Probleme der Bedeutungslehre, The Germanie Review 13 (1938) S. 164 ff.; Leonard Bloomfield, Language, 3. Α., London 1950, S. 441 ff.; Weiteres bei Ulimann [A. 6] S. 209 ff. Anders Konrad Beyerle [A. 23] S. 140: ... et dominus animalis hoc rescierit ... ,und der Herr des Tieres dies erfahrt ...' Die Varianten lauten: auursan 11. Jahrhundert Ad, 12. Jahrhundert Bb, 9. Jahrhundert H. 8./ 9. Jahrhundert J; auuarsan 13. Jahrhundert Aid, 15. Jahrhundert Jlz, 12. Jahrhundert T l , 11. Jahrhundert T2; amrsam Her; auursum P6; auuarsan 10. Jahrhundert Alt; auuarsan vel auuasel 12. Jahrhundert Gw; amorsam 9. Jahrhundert L; aworsen Bos, 12. Jahrhundert CH; aborsum 10. Jahrhundert P4; auuosan 10. Jahrhundert Ep; auortis 11. Jahrhundert Mg, 10. Jahrhundert, vor 991 Mt; abiussam 10. Jahrhundert Ag (von Schwind [A. 22] S. 182 ff.). Wie von Kralik [A. 13] S. 415 f., ausführt, hat in der Folge i u u ) das erste u die Geltung eines w und das zweite u die Geltung eines ». Die lautgesetzliche Form ist jedoch nicht arvursan, sondern

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delten calasneo, das nur in der Lex Baiuvariorum vorkommt, hat aworsan im Mittelhochdeutschen Verwandte. Für ,iumentum mortuum' oder .cadaver bovis' erscheinen bei Berthold von Regensburg die Formen diu äwürsenlx, der ârvors.72 Anklingende Varianten begegnen vor allem im Schwabenspiegel, wie der abasel, der awesen neben sein tod vich.73 Von den Formen des Schwabenspiegels hat abasel74 bereits eine Entsprechung in einer Handschrift der Lex Baiuvariorum aus dem 12. Jahrhundert, und zwar in der Verbindung auuarsan vel auuasel.75 Als weitere Formen tauchen ferner bei Berthold fünfmal awehsel16 und im Kulmischen Recht ein awarsil77 auf. Ähnlich klingt schließlich noch äweiso ,Leichnam' bei Notker. 7 8 Soweit ich sehe, hat sich in neuerer Zeit niemand mehr an die Deutung der schwierigen Wörter gewagt. 7 9 Ich gebe nun von Kraliks Erklärung. 80 Die r-losen Formen führt von Kralik auf ein stammhaftes awes-, awas- zurück. In dem anlautenden a- sieht er das Privativpräfix ahd. ä- ,weg, verkehrt' 81 und in dem zweiten Bestandteil die gleiche Wurzel, die in ahd. wesan ,sein'

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aworsan mit a-, e-, o-Umlaut von *». Demgegenüber stellt das zweite a von auuarsan eine Verschreibung dar. Was die Endungen auf -m betrifft, so liegen hier Latinisierungstendenzen vor: nach von Kralik haben die Schreiber an lat. abortus ,Früh-, Fehlgeburt', avortus (für abortus) zu abortare, avortare .abortum edere' (Charles D. DuCange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, 1, Niort 1883, S. 483) gedacht. I 135, 17; daneben I 134, 33. 35 âwiibrsen (Berthold von Regensburg. Vollständige Ausgabe seiner Predigten, hg. v. Franz Pfeiffer [mit einem Vorwort von Kurt Ruh], 1, Wien 1862; 2, hg. v. Joseph Strobl, Wien 1880 [1965]). II 231, 7. 15, mit den Varianten abaers, abars, aborse (II 650); man vergleiche Hohenfurter Benediktinerregel awersne (Fedor Bech, Spenden zur Altersbestimmung neuhochdeutscher Wortformen, Germania 18 (1873) S. 257). — Das Verhältnis von diu âwiirsen zu der âwors beurteilt von Kralik [A. 13] zu Recht wie das Nebeneinander von ahd. eselin neben ahd. esel (zu derartigen Motionsfeminina siehe Meid [A. 33] S. 120). Der Schwabenspiegel oder Schwäbisches Land- und Lehen-Rechtbuch, nach einer Handschrift vom Jahr 1287, hg. v. F. L. A. Freiherrn von Lassberg, 1840 [1961], Nr. 201, 213. Daneben erscheinen: awasel, da\ awe\, das awess, der anwese, ienes vihe, unfiche. Der Kölner Druck des Sachsenspiegels von 1480 bietet in einem Zusatz zu II 54, 5 dei afwessel (Carl G. Homeyer, Des Sachsenspiegels erster Theil, Berlin 1842, S. 283). Im Augsburger Stadtbuch 35 und im Roten Buch von Rottweil ist belegt: der awasel (Hermann Fischer, Schwäbisches Wörterbuch, 1, Tübingen 1904, S. 546); man vergleiche ferner das in der Steiermark gebrauchte awasel,geistiger und leiblicher Krüppel, Kretin' (von Kralik [A. 13] S. 417). Auch im Schwäbischen kommt die Schreibung für /»/ vor (Friedrich Kauffmann, Geschichte der schwäbischen Mundart, Straßburg 1890, S. 174 ff.). Siehe A. 70. I 287, 4. 7. 23; 256, 35; 257, 3. 8 (mit der Variante (daZ) afraç (afraçj; II 354). Das alte Kulmische Recht. Mit einem Wörterbuch hg. v. Christian Karl Leman, Berlin 1838 [1969], S. 254. Leman führt ferner die Lautungen warsei, awasel, awesel, auwarsil, warsil ,das todte Thier' auf. Schützeichel [A. 25] S. 11. Eine nicht mit von Kraliks Erklärungsversuch übereinstimmende Deutung hat von Grienberger [A. 51] S. 154 ff., vorgelegt (dazu A. 103). Von Kralik [A. 17] S. 418 f. Ebenso Fischer [A. 73] S. 546.

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und ahd. wasan .poliere' vorliegt. Neben was-, ms- mit ehemaliger Stammsilbenbetonung sei auch ablautendes suffixbetontes wur- denkbar. Durch Antritt des Suffixes -sn- habe sich das Legeswort aworsan entwickelt. Die Grundbedeutung sei in allen Fällen .kraftloses Wesen'. Nun zur Beurteilung dieser etymologischen Deutung: 1. Ein ahd. wasan .poliere' existiert nicht; es ist eine Nebenform von ahd. wabsan.82 2. Nach dem germanischen Ablautschema kann zu einer Wurzel *ues- keine Variante mit einem »-Vokal gebildet werden. Ein ahd. wur- muß auf eine Vollstufe urgerm. *uer- und nicht auf ein *ues- bezogen werden. Damit ist von Kraliks Versuch aworsan und alle übrigen Varianten auf eine gemeinsame Wurzelform zurückzuführen, hinfallig. 3. Auch die Bedeutung von aworsan und der anklingenden Formen spricht gegen eine gemeinsame Grundbedeutung. In der Lex Baiuvariorum ist das Tier des Eigentümers nicht tot, sondern nur verletzt.83 Es liegt der Tatbestand der Beschädigung einer fremden Sache vor. aworsan dürfte so .Beschädigtes' bedeutet haben. Dagegen bezeichnen die zu aworsan gehörigen Wörter mhd. äwürsen, âwors wie auch alle übrigen anklingenden Lautungen eindeutig das tote Tier. Daß aworsan später ebenso als Bezeichnung für ein totes Tier aufgefaßt wurde, zeigt die schon erwähnte Verbindung aunarsan vel auuasel der aus dem 12. Jahrhundert stammenden Legeshandschrift. Unter dem Einfluß des ähnlich klingenden awasel konnte die Bedeutung ,totes Tier' auch auf aworsan und die verwandten Bildungen übergehen. Der Bedeutung ,Beschädigtes' steht also die Bedeutung .Totes' gegenüber. Dieser Unterschied ist bei der etymologischen Deutung von aworsan und der Varianten zu berücksichtigen. Suchen wir nun nach Anhaltspunkten, wie die Wörter für .Totes' und .Beschädigtes' etymologisch gedeutet werden können, so ordnen wir die Hauptformen awesan, awehsel, äweiso, awarsil, awasel und aworsan nach dem Grade ihrer Durchschaubarkeit in Bildeweise und Bedeutung, also nach dem Grade ihrer Motiviertheit. Es ist selbstverständlich, daß wir auch die Varianten von aworsan besprechen müssen, wenn wir wissen wollen, warum dieses Wort untergegangen ist. Am Anfang steht mhd. äwesen. Mhd. äwesen erklärt sich schlicht als Präfixbildung aus dem Präfix ä- .weg' und dem substantivierten Infinitiv mhd. wesen, hier in der Bedeutung .Leben'. 84 Es handelt sich um eine possessive 82

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Schützeichel [A. 25] S. 219, gibt mâsan mit langem a an. Siehe auch Braune [A. 33] § 154 A. 5. Man vergleiche von Grienberger [79] S. 155: .animal vulneratum, laesum'; ebenso Konrad Beyerle [A. 23] S. 212. Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 1 - 3 , Leipzig 1872. 1876. 1878 [1979], III, Sp. 801.

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Bildung mit der Bedeutung ,etwas, das ohne Leben ist', 85 ,Totes'. Da die Bildeweise zum Beispiel in mhd. ästiure ,ohne Leitung' 86 eine Parallele hat, ist äwesen vom Mittelhochdeutschen aus gesehen eine vollmotivierte Bildung. Doch begegnet dieses Wort nur als handschriftliche Variante. Es dürfte eine volksetymologische Umgestaltung vorliegen. Nun zu mhd. ämhsel\ Gegenüber mhd. ämsen stellt äwehsel eine teilmotivierte Bildung dar. Die Bestandteile ä- ,weg' und wehsei .Wechsel, Tausch' sind zwar deutlich erkennbar, doch gibt ihre Verbindung keinen Sinn. Keine Bedeutung des Wortes Wechsel weder aus der mittelhochdeutschen noch aus früherer oder späterer Zeit paßt für eine Bedeutung wie ,totes Tier', äwehsel ist so wohl eine Umgestaltung von äwasel. Als drittes Wort behandeln wir ahd. äweiso. Betrachtet man nicht, wie von Kralik, die belegte Kasusform auueisin als Entstellung aus auuesin, so liegt ebenfalls eine teilmotivierte Bildung vor. Vom Standpunkt des Althochdeutschen aus ist äweiso als Verbindung des Präfixes ä- mit weiso ,Waise, elternloses Kind' 87 interpretierbar. Als Bezeichnung eines toten Tieres ist die Verbindung jedoch sinnlos. Versucht man das Wort in der Form, wie es überliefert ist, etymologisch zu deuten, so ergibt sich folgendes: Der zweite Bestandteil weiso könnte zu mhd. weise in den Bedeutungen ,beraubt, entblößt'88 gestellt werden, und weiterhin zu dem Partizip Präteritum mhd. entwisen ,verlassen, leer von' 89 , das zu dem starken Verb ahd. wïsan .vermeiden'90 gehört. Trifft dieser Anschluß zu91, so hätte weiso neben der sonstigen Bedeutung ,Waise, der Eltern beraubtes Kind' auch ,des Lebens beraubtes Wesen' bedeutet. Wie bei Waise der Begriff, wovon jemand beraubt ist, ergänzt werden muß, wäre auch bei der Bezeichnung ,des Lebens beraubtes Wesen' dieser Begriff hinzugedacht worden. Wenn aber weiso in dem Wort äweiso tatsächlich bereits die Vorstellung des Beraubtseins oder Fehlens bezeichnet, dann liegt der Begriff des Fehlens im zweiten Bestandteil weiso von äweiso und nicht in dem Privativpräfix ä-. Dies hätte für die Bedeutungsbestimmung von ä- die Folge, daß ä- als ein den Begriff des Negativen verstärkendes Präfix aufgefaßt werden müßte.92 Eine solche Bedeutungsbestimmung des Präfixes ä- wäre möglich, wie ahd. äbulgi ,Zorn', das zu ahd. belgan .zürnen' gehört, oder mhd. älaster 85 86 87 88 89 90 91 92

Zu solchen Bildungen siehe Meid [A. 33] S. 44. Lexer [Α. 84] I, Sp. 102. Schützeichel [Α. 25] S. 226. Lexer [Α. 84] III, Sp. 745 f. Lexer [Α. 84] I, Sp. 600. Schützeichel [Α. 25] S. 238. Zu dem gleichen Anschluß ist auch von Grienberger [A. 51] S. 155, gekommen. In äweiso ,Leichnam' könnte das Präfix à zur Unterscheidung von weiso .Waise' eingeführt sein (Hinweis von Prof. Heinrich Tiefenbach).

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.Schmähung, Schimpf, mhd. ägetroc .Blendwerk des Teufels' zeigen.93 Als Grundbedeutung von äweiso ergäbe sich somit die Bedeutung ,was gänzlich ohne Leben ist', ,Totes', eine Bedeutung, die zweifellos zu der Bedeutung .Leichnam' paßt. Zu den Wörtern, bei denen nur der Bestandteil ä- identifizierbar ist, gehört als erstes mhd. awarsil. Es dürfte sich um eine Kontaminationsbildung aus aworsan und äwasel handeln. Das nächste Wort mit einem undurchschaubaren zweiten Bestandteil ist äwasel. Eine etymologische Deutung dieses Wortes steht noch aus. Die von von Kralik vorgenommene Verbindung mit mhd. wesel ,mürbe, schwach'94 befriedigt aus folgenden Gründen nicht: Mhd. wesel geht auf eine /-haltige Wurzel, also auf eine Vorform *uisala- zurück — es gehört zu aisl. visinn ,welk'. 95 Dagegen zeigt der zweite Bestandteil wasel von äwasel ein a als Wurzelvokal. Bei einem Wort mit der Bedeutung ,schwach' aber ist die Annahme eines i-\a-Ablauts der Wurzel unwahrscheinlich.96 Es muß also nach einem Wort mit Wurzelvokal a als Vergleichsform gesucht werden. Soweit ich sehe, liegt das einzige von Lautung und Bedeutung hierher passende Wort in dem mundartlichen, auch bairischen wasen ,Platz, wo der Abdecker oder Schinder sein Geschäft ausführt'97 vor, worauf bereits Johann Andreas Schmeller98 hingewiesen hat. Doch wäre ein Anschluß von mhd. äwasel .totes Tier' an wasen .Schindanger' mit folgenden Problemen belastet: Die fachsprachliche Bedeutung .Schindanger' ist bei ahd. waso", mhd. wase ,Rasen'100 nicht nachweisbar. Bleibt man bei der Verbindung mit diesem Wort, so wäre also 1. die Bedeutung ,Schindanger' auch für die frühere Zeit zu postulieren. 2. Die Bedeutung ,totes Tier' im Sinne von ,durch den Schinder bearbeitetes, verendetes Tier' läßt sich nur über die Bedeutung .Schindanger' gewinnen. Das heißt, man müßte eine Bezeichnungsübertra93

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Wilhelm Wilmanns, Deutsche Grammatik: Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch, 2: Wortbildung, 2. Α., Berlin-Leipzig 1922, S. 572. Fischer [A. 73] S. 546. Die Verbindung mit dem Wort Aas (Jacob Grimm—Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 1, Leipzig 1854, Sp. 1046) ist dagegen von vornherein unhaltbar (von Kralik [A. 13] S. 418). Jan de Vries, Altnordisches etymologisches Wörterbuch, 2. Α., Leiden 1977, S. 657; man vergleiche an. pesai/ ,arm, elend'. Dazu siehe Rosemarie Lühr, Studien zur Sprache des Hildebrandliedes, 2: Kommentar, Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft B: Untersuchungen 22, Frankfurt am Main 1982, S. 663. Jacob Grimm-Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 13, Leipzig 1922, Sp. 2284. [A. 26] II/2, Sp. 1019. Taylor Starck—J. C. Wells, Althochdeutsches GlossenWörterbuch (mit Stellennachweis zu sämtlichen gedruckten althochdeutschen und verwandten Glossen), Lfg. 9, Heidelberg 1983, S. 699. Lexer [Α. 84] III, Sp. 702.

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Rosemarie Lühr

gung in der Art annehmen, daß eine Bezeichnung einer Örtlichkeit in eine Bezeichnung des Gegenstandes, der an diesem O r t bearbeitet wird, übergegangen ist. Daß derartige Metonymien möglich sind, zeigt die Verwendung des Wortes Wasen als Schimpfwort im Elsässischen. Wasen wird hier wie das Wort Aas gebraucht. 1 0 1 3. Hat Wasen neben .Schindanger' auch .verendetes Tier' bedeutet, so ist in Anbetracht des /-Suffixes von äwasel nach einem zugehörigen Wort mit /-Suffix Ausschau zu halten. Ein solches ist tatsächlich bezeugt, und zwar in ahd. wasal .feuchte Erde' 1 0 2 , das ohne Zweifel zu ahd. waso gehört. Hätte dieses Wort also tatsächlich etwas mit äwasel zu tun, so müßte folgende Entwicklung angenommen werden: Ahd. wasal hat wie mundartliches wasen neben ,feuchte Erde' .Schindanger' bedeutet, wasal .Schindanger' wurde auch zur Bezeichnung des verendeten Tieres verwendet. Schließlich ist ä- als Intensivierungspräfix hinzugefügt worden, möglicherweise nach dem Vorbild von aworsan oder äweiso. Die Bildung äwasel wurde unverständlich, weil das Wort wasal ,feuchte Erde' durch waso verdrängt wurde. N u n zum letzten Wort, zu aworsan. Wie im Falle von äwasel ist die Bildung, von dem Präfix ä- abgesehen, unmotiviert. Da, wie schon gesagt, hier eine Bezeichnung für ein beschädigtes Tier vorliegt, ist bei der etymologischen Deutung dieses Wortes nach einem Wort für .beschädigen' zu suchen. Versteht man ,beschädigen' im Sinne von ,schlecht machen', so stößt man unweigerlich auf den Komparativ ahd. wirs .schlechter', got. wairs, engl, worse103, der auf eine Wurzel *uers- weist. 104 Eine Verbindung von äworsan mit der Vorform *uersi!ζ des Komparativs könnte man am einfachsten auf die Weise herstellen, daß man äworsan als Partizip Präteritum eines sonst nicht bezeugten starken

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Ernst Martin—Hans Lienhart, Wörterbuch der elsässischen Mundarten, 2, Straßburg 1907, Sp. 863a (.schlechter Mensch'). Ahd. wasal ist im Muspilli belegt (Schützeichel [A. 25] S. 223). In den Glossen erscheint wasal einmal in der Bedeutung .Regen' (Starck-Wells [A. 99] S. 699). — Eine andere Deutung findet sich bei von Grienberger [A. 51] S. 155. Seiner Meinung nach ist mhd. awasel eine Umbildung im Stile mittelhochdeutscher Nomina auf -el, wie dörpel, kegel. So bereits DuCange [A. 70] I, S. 496; ebenso v o n Grienberger [A. 51] S. 155 (Konrad Beyerle [A. 23] S. 212, als Alternative), nach dem ein endungsloser N o m . Sg. *awursin anzusetzen ist. Es handle sich um eine feminine »e-Ableitung aus einem /-Stamm (man vergleiche etwa ahd. alansa .subula, Ahle') auf der Grundlage von ahd. wirs .deterior'. Der Stammvokal sei dabei an das vorhergehende w zu », o assimiliert, wie auch in gelegentlichem mhd. »urs, wiirse ,res deteriorata'. Gegenüber *awursin stelle awors eine kürzere Form dar, die v o m einfachen Komparativ wirs ausgegangen sei. Von Grienbergers Erklärungsversuch ist jedoch nicht überzeugend. Wäre der Komparativ ahd. wirs wirklich die Basis der Ableitungen, so würde man unter den Varianten v o n aworsan Schreibungen mit Stammvokal i erwarten (siehe [A. 70]). Falk-Torp [A. 50] S. 398 f. Die Vorform des Komparativs ist urgerm. *uers-iDie Kontinuante des Komparativmorphems zeigt sich zum Beispiel in dem Adjektiv ahd. wirsiro .schlechter'.

Zum Sprachtod einer Restsprache

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Verbs ,schlecht machen, beschädigen' auffaßt. Sowohl die schwundstufige Wurzelform *uurs- als auch die Stammsilbe -an sprechen für eine Partizipialbildung. Eine Partizipialbildung hat auch von Kralik 105 zunächst erwogen, dann aber verwarf er diese Erklärung wieder, weil das Präfix ä- nur mit Nominalformen verbunden werde. Doch wurde im Althochdeutschen das Präfix ä- auch präverbal verwendet, wie äwartön ,nicht beachten, übersehen' bei Notker 106 zeigt. Darf man also für das Althochdeutsche ein präverbales ä- annehmen, so hätte das Präfix in dem postulierten Verb ahd. *ämrsan ,beschädigen' die gleiche Funktion wie in ae. äwierdan .beschädigen'. 107 Was das Nichteintreten des Vernerschen Gesetzes in der als Partizip Präteritum deutbaren Form äworsan beträfe, so fanden sich bei den Verben der dritten starken Klasse im Althochdeutschen auch sonst Spuren eines Ausgleichs zugunsten der Fortsetzung des stimmlosen Reibelauts. 108 Im Falle von äworsan könnte zudem deswegen zugunsten von s ausgeglichen sein, weil auf diese Weise ein Zusammenfall mit dem Partizip Präteritum von dem starken Verb ahd. werran ,in Aufruhr bringen' 109 vermieden wurde. Wir sind am Ende unserer etymologischen Betrachtung des Legeswortes aworsan und der Varianten angelangt und fassen unsere Ergebnisse zusammen: Der vollmotivierten Bildung mhd. äwesen ,etwas, das ohne Leben ist' stehen zwei teilmotivierte und drei — bis auf das Präfix — unmotivierte Bildungen gegenüber. Von den beiden teilmotivierten Bildungen ergab sich für äwehsel keine etymologische Deutung, äwehsel dürfte aus äwasel umgestaltet sein. Demgegenüber könnte ahd. äweiso ,Leichnam' ursprünglich ,was gänzlich ohne Leben ist' bedeutet haben. Unter den Bildungen mit unmotiviertem zweiten Bestandteil ist awarsil eine Kreuzung aus äworsan und äwasel. Hat die unmotivierte Bildung äwasel tatsächlich ,vom Schinder bearbeitetes, verendetes Tier' bedeutet, so ist dieses Wort nur mit einer Reihe von nicht weiter beweisbaren Annahmen mit dem einzigen Anknüpfungspunkt, dem mundartlichen wasen .Schindanger', verbindbar. Das Legeswort aworsan schließlich ist möglicherweise ein Partizip Präteritum eines sonst nicht bezeugten starken

105 106 107

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[A. 13] S. 416. Schützeichel [A. 25] S. 11. Elmar Seebold, Vergleichendes Wörterbuch der germanischen starken Verben, Janua linguarum, series practica 85, The Hague-Paris 1970, S. 560. Stimmlose Reibelaute nach Konsonant sind verallgemeinert worden im Falle von dinsan (noch nhd. gedunsen); Isidor chihwurfi (dazu Klaus Matzel, Untersuchungen zur Verfasserschaft, Sprache und Herkunft der althochdeutschen Übersetzungen der Isidor-Sippe, Rheinisches Archiv 75, Bonn 1970, S. 191); felhan, bi-felhan (Braune [A. 33] § 336 A. 1; § 337 A. 3. 4). Daß die Kontinuante von vorurgerm. *rs vor dem Akzent zu urgerm. *r\ ( > westgerm. *rr) hätte werden müssen, belegt zum Beispiel ahd. far (Gen. fanes), ae. fearr ,junger Stier' < *porso- neben mhd. verse .junge Kuh' < *porsi, -¿ä (Meid [A. 33] S. 135). Schützeichel [A. 25] S. 232.

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Rosemarie Lühr

Verbs ahd. äwersan ,beschädigen', dessen Wurzel *uers- in dem Komparativ ahd. wirs vorliegt. Wir gehen nun zu der Frage über, wieso aworsan im Mittelhochdeutschen ausgestorben ist. Durch die Bedeutungsentwicklung von .beschädigtes Tier' zu ,totes Tier' haben die mittelhochdeutsche Fortsetzung und die verwandten Formen Anschluß an die Bezeichnungen für ,totes Tier' gefunden. Von diesen Bezeichnungen ist äwasel sicher und ämiso möglicherweise eine alte Bildung. Mit Ausnahme des Präfixes ä- war im Mittelhochdeutschen keine der alten Bezeichnungen für .totes Tier', nämlich äwürsen, äwors und äwasel, durchschaubar. Zu der mangelnden Motiviertheit kam die Ähnlichkeit im Lautkörper hinzu, so daß mhd. äwürsen, äwors und äwasel als Varianten voneinander empfunden werden konnten. Die aus äworsan und äwasel kontaminierte Form äwarsil zeigt dabei, daß die r- und die /-haltigen Lautungen tatsächlich nebeneinander vorkamen. Ein als unmotiviert und vor allem als unfest empfundener Lautkörper eines Wortes kann nun beim Sprecher das Gefühl der Unsicherheit, welche Form die richtige ist, auslösen. Die Folge davon ist, daß er dem Wort eine feste Gestalt zu geben versucht und gegebenenfalls zu einer sinnvollen Form umbildet.110 Wird, wie im Falle von mhd. äwehsel der zweite Bestandteil einem ähnlich klingenden, im Wortschatz des Sprechers lebendig vorhandenen Wort angeglichen, ohne daß sich ein Sinn der gesamten Bildung ergibt, so liegt ein lediglich ausdrucksseitiger Anschluß an den Wortschatz des Sprechers vor.111 Dagegen ist bei der Umformung zu mhd. äwesen eine sinnvolle Umgestaltung eingetreten. Doch zeigt die Überlieferung, daß die Umbildungen äwesen und äwehsel mehr oder weniger „Eintagsfliegen" waren; sie haben sich nicht durchsetzen können, sondern die Formenvielfalt der Bezeichnungen für ,totes Tier' nur noch vermehrt. Am Ende dieser Entwicklung steht, daß alle diese Formen zugunsten von mhd. äs ,Kadaver' aufgegeben werden. So verwendet Luther an der Bibelstelle, an der Berthold die Wörter äwürsen und äwehsel gebraucht, das Wort ass.112 Dieses Wort ist zwar für den heutigen wie für den früheren Sprachteilhaber ebenfalls unmotiviert, doch hat es eine feste einfache Lautgestalt und sich in seiner Bedeutung fest etabliert. C. Im Vorhergehenden wurde anhand zweier Wörter aus der Lex Baiuvariorum gezeigt, auf welche Weise Wortschatzreste einer alten Fachsprache untergegangen sein können. Im Falle von calasneo ,Mitnutznießer eines Stück 110 1.1

1.2

Dazu siehe Max Koch, Volksetymologie und ihre Zusammenhänge, BNF. 14 (1963) S. 163 ff. Zu solchen Anschlüssen siehe Rosemarie Lühr, Sekundäre Motivation. Dargestellt an bayrischen Ortsnamen auf -kofen und -kam, BNF. NF. 22 (1987) S. 287 ff. G r i m m - G r i m m [A. 97] I, Sp. 1046.

Zum Sprachtod einer Restsprache

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Landes' dürfte das Aussterben dieses Wortes letztlich auf eine zu geringe Transparenz gegenüber dem konkurrierenden Synonym gimarceo zurückzuführen sein. Die Synonymie wurde durch eine semantische Analogie verursacht. Der Faktor, der hierfür ausschlaggebend war, bestand in einer Beeinflussung eines volkssprachigen Wortes durch einen fremden Rechtsterminus. Es kam zu einer Art Interferenz. Während also beim Schwund des ersten Wortes eine Rückwirkung der Rechtssprache auf die Volkssprache mit im Spiel war, verhält es sich beim zweiten besprochenen Wort anders, aworsan geschädigtes Tier' steht kein lateinischer oder latinisierter Rechtsterminus gegenüber, der am Schwund von aworsan beteiligt gewesen sein könnte. Der Grund für das Aussterben liegt hier auch weniger in der Unmotiviertheit der Bildung in späterer mittelhochdeutscher Zeit als in Konkurrenzformen, die eine ähnliche Lautgestalt wie die mittelhochdeutschen Verwandten haben. Der als unfest empfundene Lautkörper war die Ursache für das Aussterben113 nicht nur von aworsan, sondern auch für die anklingenden Lautformen. Da also ganz unterschiedliche Konstellationen für den Schwund von Wörtern verantwortlich sein können, ergibt sich als wichtigste Folgerung aus meiner Untersuchung: Will man über die Gründe für den Sprachentod im kleinen, also etwa über das Aussterben von Wörtern, Aussagen machen, so ist es nötig, zunächst jeden Einzelfall gesondert zu beurteilen. Erst wenn bei einer Menge von Wörtern die Ursachen für das Aussterben aufgedeckt sind, lassen sich Verallgemeinerungen vornehmen. Daß die Auseinandersetzung mit den Überbleibseln einer Restsprache wie der Fachsprache der bairischen Rechtssprechung dabei eine Fülle von Schwierigkeiten bieten kann, dürfte an den vorhergehenden Ausführungen deutlich geworden sein.

113

Man vergleiche Dauzat [A. 10], nach dem, wie erwähnt, vom Aussterben unter anderem „les mots dont le relief s'est effacé" betroffen sind.

Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien (Sette comuni e Tredeci comuni) VON KLAUS MATZEL

Einleitung Gegenstand der folgenden Betrachtungen bilden zwei deutsche Sprachinseln, nämlich die ältesten bairischen Außenmundarten am Südrand der Alpen: die Sprachinselmundarten der Sette comuni, der Siben komoin .Sieben Gemeinden' auf der Hochebene von Asiago in der Provinz Vicenza und der Tredeci comuni, der .Dreizehn Gemeinden' in den lessinischen Alpen in der Provinz Verona. Von beiden Sprachinselmundarten existieren nur noch kümmerliche Reste. Anders und besser steht es um die Mundart der Gemeinde Lusern (Luserna), die heute noch sehr lebendig ist. Lusern, nordwestlich von Asiago in den Bergen gelegen, gehört aber nicht zu den Sieben Gemeinden, sondern ist eine jüngere Gründung, auf deren Geschick und Sprache nur beiläufig einzugehen ist. Wir haben die Außenmundarten der Sieben und Dreizehn Gemeinden deshalb ausgewählt, weil sich, überblickt man ihre sprachgeschichtliche Entwicklung, auf die Frage „Wie verläuft im Zuge einer kulturellen D e s i n t e g r a t i o n der Untergang einer Sprache?" einige Antworten geben lassen. Zudem sind weiterführende Fragen anzuschließen. Die ins Auge gefaßten Sprachinselmundarten sind nämlich, um es vorwegnehmend zu sagen, im Verlaufe eines Jahrhunderte währenden Prozesses der politischen und kulturellen I n t e g r a t i o n zugunsten des Italienischen aufgegeben worden und damit, bis auf geringe Reste, als Außenmundarten des Deutschen von der Landkarte verschwunden. Wie ist es dazu gekommen? Unter welchen Bedingungen sind die Sprachinselmundarten aufgegeben worden? Und wie haben sich die Sprachinselmundarten, die sich gehalten, beziehungsweise solange sie sich gehalten haben — losgelöst vom zusammenhängenden deutschen Sprachgebiet, in fremder italienischsprachiger Umgebung — bewahrt, entwickelt, verändert? Um auf diese Fragen Antworten geben zu können, ist es notwendig, zunächst knapp das Wichtigste zusammenzufassen, das wir über die Geschichte der Sprach-

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Klaus Matzel

inseln wissen, insbesondere über die Herkunft der Sprachinselbewohner und die Entstehung der Sprachinseln im 11. und 12. Jahrhundert, d. h. in frühmittelhochdeutscher Zeit, und über die Geschichte der Sprachinseln seit jener Zeit (A.I.). Sodann ist auf die Quellen der Sprachinselmundarten — des sog. „Zimbrischen" — und auf ihre Erforschung einzugehen (A.2.). Daran schließen sich Ausführungen über die Sprache der Sprachinselbewohner, wie sie heute ist und wie sie uns seit dem Jahre 1602 in schriftlichen und in gedruckten Zeugnissen entgegentritt: Bewahrung und Wandlungen in den Sprachinselmundarten (B.I. — B.3.). Abschließend kommen wir zurück auf die eingangs gestellte Frage „Wie verläuft im Zuge einer kulturellen D e s i n t e g r a t i o n der Untergang einer Sprache?" (C).

A.l. Zur Geschichte der Sprachinseln Wir werfen zunächst einen Blick auf die „Karte des ,zimbrischen' Sprachgebietes" von E. Kranzmayer und M. Hornung. 1 Sie umfaßt das Gebiet zwischen den Flüssen Etsch und Brenta mit den Städten Trient im Nordwesten, Verona im Südwesten und Bassano di Grappa an der Brenta im Osten. Ein großer Teil dieses Gebietes, dazu das obere Fersental nordöstlich von Pergine, war einmal von Deutschen besiedelt. Die mutmaßliche deutsch-wälsche Sprachgrenze um das Jahr 1600 ist eingezeichnet. Kerngebiete, in denen die Sprachinselmundarten in den Jahren des 1. Weltkrieges, als Kranzmayer seine Informanten befragte 2 , noch gesprochen wurden, sind die Sieben Gemeinden und die Dreizehn Gemeinden, außerhalb dieser einige Ortsmundarten im Hochgebirge nordwestlich der Sieben Gemeinden, zu denen die bereits erwähnte von Lusern und die von Folgaria/Filgreit zählen, sowie vier Ortsmundarten auf der Ostseite des Fersentals.3 ' Eberhard Kranzmayer: Laut- und Flexionslehre der deutschen zimbrischen Mundart, hg. v. Maria Hornung (Beiträge zur Sprachinselforschung Bd. 1), Wien 1981; die Karte im Anhang. — Dazu Eberhard Kranzmayer: Glossar zur Laut- und Flexionslehre der deutschen zimbrischen Mundart, hg. v. Maria Hornung (Beiträge zur Sprachinselforschung, Bd. 1, Teil 2), Wien 1985. 2 E. Kranzmayer [vgl. Anm. 1], S. 25; vgl. S. X. 3 Die Ortsmundarten des Fersentals sind von E. Kranzmayer nicht berücksichtigt worden. Zu deren Lautlehre, Grammatik und Wortschatz siehe Anthony R. Rowley: Fersental (Val Fersina bei Trient/Oberitalien) — Untersuchung einer Sprachinselmundart (Phonai. Lautbibliothek der deutschen Sprache, Bd. 31), Tübingen 1986; derselbe: Fersentaler Wörterbuch. Fersentaler Dialekt — Deutsch—Italienisch (Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft. Dialektologie 2), Hamburg 1982.

Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien

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Aus Urkunden wissen wir, daß die Besiedlung der Dreizehn Gemeinden vom Kloster Benediktbeuern aus in der Mitte des 11. Jahrhunderts durch Bauern aus dem westlichen Oberbayern, Untertanen des Klosters, einsetzte. Im Falle der Sieben Gemeinden haben wir keine so frühen urkundlichen Zeugnisse. Doch darf damit gerechnet werden, daß die Besiedlung der Hochebene von Asiago kaum später erfolgte; dabei wurden die vorhandenen romanischen Ortsnamen übernommen, beziehungsweise verdeutscht. Die im Jahre 1036 von Deutschland nach Italien übergesiedelten Ezzelini wurden von Kaiser Konrad II. mit Gütern am Ostrand der Sieben Gemeinden belehnt. Der Zuzug deutscher Siedler in die Sieben und Dreizehn Gemeinden hielt in den nachfolgenden Jahrhunderten an. 4 Die Siedler kamen, wie zuerst Caspar Graf von Sternberg und J. A. Schmeller erkannt haben5, aus Bayern. Es handelt sich nicht, wie die Bezeichnungen „Zimbern" und „zimbrisch" für die Sprachinselbewohner und deren Sprache vermuten lassen könnten, um Nachfahren der von Gaius Marius geschlagenen Cimbern. Das hatten, schon vor J. A. Schmeller, italienische Gelehrte herausgefunden.6 E. Kranzmayer hat später, gestützt vor allem auf lautliche Indizien, die Sprache der Bewohner der „zimbrischen" Sprachinseln auf einen „westtiroler Dialekt aus dem Gebiete des Oberinntals, des Ötztals, des Außferns, des Loisachtals mit Übergreifen auf das heutige Bayern" 7 zurückgeführt. Die Spuren alemannischer Beimischungen, die auf einen Zuzug von Siedlern aus westlicher gelegenen Gebieten (aus Vorarlberg, Appenzell?) weisen, sind bisher nur wenig beachtet worden; sie sind aber unübersehbar.8 Nichtsdestoweniger: Die bairischen Merkmale dominieren eindeutig 4

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Dazu zuletzt Wilhelm Baum: Geschichte der Zimbern. Gründung, Sprache und Entwicklung der südbairischen Siedlungen in den VII und XIII Gemeinden in Oberitalien. Curatorium Cimbricum Bavarense, Landshut 1983, S. 7—28; zu diesem Buch die Besprechung von Klaus Matzel, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 49 (1986), S. 208 — 210. Caspar Graf von Sternberg: Reise durch Tyrol in die österreichischen Provinzen Italiens im Frühjahr 1804, Regensburg 1806, S. 147; Johann Andreas Schmeller, Deutsche Kolonien im südlichen Tirol und im obern Italien. Kaiserlich-Königlich privilegierter Bothe von und für Tirol und Vorarlberg, 1821, S. 216; dieser Artikel wurde leider in den vom Curatorium Cimbricum Bavarense zusammengestellten Sammelband Johann Andreas Schmeller: Die Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache, Landshut 1984, nicht aufgenommen. Zu Gaetana Macca und D. Agostino dal Pozzo (Prunner) siehe J. A. Schmeller: Ueber die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache [vgl. Anm. 5], S. 26 — 30 [ = 572—576], zu Modestus Bonata siehe Hans Geiselbrechtinger und Hugo Resch: Die Cimbern — ein Stück lebendiger Sprachgeschichte, in: Schulreport, hg. vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Heft 1 (1984), S. 20. E. Kranzmayer [vgl. Anm. 1], S. 10 — Die Formulierung nach Maria Hornung in der Einladung zur Subskription von E. Kranzmayers Laut- und Flexionslehre. Zu diesen Klaus Matzel: Zu einigen älteren Quellen des „Zimbrischen", in : ZfdA 111 (1982), S. 1 0 0 - 1 0 2 .

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Klaus Matzel

im Laut- und Formenbestand der Sprachinselmundarten, und auch im Wortschatz finden wir viel typisch Bairisches, nicht zuletzt auch die „Baltischen Kennwörter". Daß sich gerade die Sprachinselmundarten der Sieben und Dreizehn Gemeinden über die Jahrhunderte hin bis in unsere Zeit hin gehalten haben — man kann sie heute noch in Roana (Robáan), Mezzaselva (Mitterballe) und Rotzo (Rotz) in den Sieben Gemeinden und in Giazza (Ljetzan) hoch im Illasi-Tal in den Dreizehn Gemeinden hören, wenn sie von alten Bewohnern der Dörfer und Außenhöfe als Haussprache verwendet werden — hat seinen Grund darin, daß die Siben alte kotnoin auf der Hochebene und die Drait^en kamaun 'un Beam vom Jahre 1310 an fast fünf Jahrhunderte unter dem Schutz der Republik Venedig standen und ihnen das Privileg einer eigenen Regentschaft zugestanden war. Im Jahre 1807 hob Napoleon die Sonderrechte der Gemeinden auf; sie wurden dem Königreich Italien einverleibt. Nach dem Wiener Kongreß (1815) kamen sie an die Österreich-Ungarische Monarchie, die eine Wiederherstellung der alten Privilegien der Sieben und Dreizehn Gemeinden ablehnte. Im Jahre 1866 wurden sie dem Lombardo-Venetianischen Königreich angeschlossen. Die politische Grenze gegen das österreichische Tirol, das über Trient und Rovereto hinaus fast bis zum Gardasee reichte, verlief westlich von Asiago im Astico-Tal und westlich von Borgo in der Valsugana. Die Sprachinselbewohner betrachteten sich seitdem als italienische Staatsbürger, und sie kämpften, als Italien 1915 in den Krieg gegen die Mittelmächte eintrat, auf Seiten Italiens. Besonders schlimm wirkte sich der Krieg auf der Hochebene von Asiago, dem Gebiet der Sieben Gemeinden, aus, weil dort die Frontlinie, markiert durch das tiefe Tal der Assa, so verlief, daß das Gebiet geteilt wurde. Hinzu kam, daß von den Österreichern die Bewohner der westlich des Tals gelegenen Gemeinden Roana und Rotzo nach Böhmen, die Bewohner der östlich des Tals gelegenen Gemeinden (Asiago, Gallio, Foza und Enego) von den Italienern bis nach Sizilien deportiert wurden; sie galten den Italienern, nicht zuletzt wohl, weil sie ein Idiom sprachen, das dem des Feindes nahekam, als unsichere Kandidaten. Die Ereignisse des ersten Weltkriegs haben bewirkt, daß östlich der Assa — bis auf wenige Contraden um Asiago — das Zimbrische nicht mehr existiert. Gehalten hat es sich dagegen mehr oder weniger unter den Bewohnern Roanas, Mezzaselvas und Rotzos, die nach dem ersten Weltkrieg in ihre Dörfer zurückkehrten. Die Bewohner der Sprachinsel Lusern wurden später, im zweiten Weltkrieg, expatriiert. Diese Sprachinsel, gegründet im 16. Jahrhundert von Lavarone/Lafraun aus, kam im Jahre 1921 mit Südtirol an Italien. Im Jahre 1942 wurden die Bewohner der Sprachinsel — das war das Ergebnis eines

Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien

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Abkommens zwischen Hitler und Mussolini — in das damalige Protektorat Böhmen —Mähren ausgesiedelt. Nach Kriegsende kehrten sie zurück und bauten ihr Dorf, das teils geplündert, teils zerstört war, wieder auf. A.2. Die Quellen des „Zimbrischen" und die Erforschung des „Zimbrischen" Das älteste gedruckte Sprachdenkmal des „Zimbrischen" ist die Ubersetzung des Katechismus vom Jahre 1602. Diese Übersetzung wurde auf Geheiß des Bischofs von Padua, Marco Conaro, von mehreren Übersetzern geschaffen. Der Bischof gibt selbst in der Vorrede an, zu welchem Zwecke die Übersetzung dienen solle: „Da sich in unserer Diözese die Sieben Gemeinden und andere umliegende Weiler befinden, deren Bewohner die deutsche Sprache ila lingua Thedesca) sprechen, dergestalt, daß die Frauen, die Kinder und viele Männer überhaupt noch keine Kenntnis der italienischen Sprache haben (ancora non hanno punto dì cognitione del parlare Italiano) [...], haben wir beschlossen, diese Glaubenslehre von frommen, in ihrer angestammten deutschen Sprache verständigen Personen wortgetreu übersetzen zu lassen"9 — dies zu dem Zwecke, die nichtitalienisch sprechenden Pfarrkinder im Glauben zu unterweisen. Die Übersetzung des Katechismus vom Jahre 1602, die von der früheren Forschung zwar zur Kenntnis genommen worden ist (unter anderem von E. Kranzmayer), wegen ihrer starken Abhängigkeit von der italienischen Vorlage aber nicht sonderlich geschätzt war, ist uns neuerdings durch die kommentierte, neue Einsichten und eine angemessenere Bewertung ermöglichende Neuausgabe von Wolfgang Meid erschlossen worden. 10 Von W. Meid stammt auch die kritische Neuausgabe des zweiten zimbrischen Katechismus, der im Jahre 1813 in Padua erschienen ist und in leicht revidierter Form im Jahre 1842 wiederaufgelegt wurde. 11 9

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Wolfgang Meid: Der erste zimbrische Katechismus. CHRISTLIKE UNT KORZE DOTTRINA. Die zimbrische Version aus dem Jahre 1602 der DOTTRINA CHRISTIANA BREVE des Kardinals Bellarmin in kritischer Ausgabe (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Bd. 47), Innsbruck 1985, S. 149. Vgl. Anm. 9. Dazu: Wolfgang Meid: Der Katechismus von 1602 und die sprachliche Situation des Zimbrischen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Sprachkontakt als Ursache von Veränderungen der Sprach- und Bewußtseinsstruktur, hg. v. Wolfgang Meid und Karin Heller, Innsbruck 1981, S. 1 4 9 - 1 8 0 . Der zweite zimbrische Katechismus. DAR K L Ó A N E CATECHISMO VOR DEZ BÉLOSELAND. Die zimbrische Version aus dem Jahre 1813 und 1842 des PICCOLO CATECHISMO A D USO DEL REGNO D'ITALIA von 1807 in kritischer Ausgabe (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft, Bd. 48), Innsbruck 1985; dazu Wolfgang Meid: Der zweite zimbrische Katechismus von 1813 — 1842. Sein sprachlicher Charakter und sein Verhältnis zur italienischen Vorlage, in: Corona Alpium. Miscellanea di studi in onore del Prof. C. Α. Mastrelli, Firenze 1984, S. 3 2 1 - 3 2 6 .

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Für das 17. Jahrhundert und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts herrscht Fundstille. Etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts aber setzen grammatische und lexikalische Studien ein. Gelehrte, die aus den Sieben und Dreizehn Gemeinden stammen, nehmen sich ihrer angestammten Sprache an, so der Arzt Girardo Slaviero aus Rotzo (1679 — 1753), der eine stark an der Grammatik des Hochdeutschen orientierte .Grammatica della lingua tedesca dei VII Comuni' verfaßt, so Marco Pezzo aus Grietz, der ein Wörterbuch zusammenstellt (1763), so der Advokat Simon Peter Bartolomei aus Pergine (1709 — 1763), in dessen mehrsprachigem Vocabular — dem .Catalogus' — auch der Wortschatz der Septem Pagenses berücksichtigt wird, so Piermodesto Dalla Costa, von dem im Jahre 1763 in Padua eine Sammlung von Wörtern und Wendungen — earst in Belos, un denne in Cimbro — zu Druck gebracht wird, und andere mehr.12 Es ist diesen ersten Forschungsarbeiten zur Sprache der „Zimbern", die auch im nachfolgenden Jahrhundert ihre Fortsetzung finden und die durch Gedichte in „zimbrischer" Sprache, durch Übersetzungen ins „Zimbrische" und durch Arbeiten zur Geschichte der Sprachinselbewohner (z. B. die historischen Werke des Agostino dal Pozzo14) ergänzt werden, zu entnehmen, daß sie in einer Zeit verfaßt worden sind, in der man den Rückgang und Verlust der ererbten eigenen, der italienischen Umgebung fremden Sprache wahrnahm und, damit verbunden, wohl auch die eigene sprachliche und geschichtliche Vergangenheit als etwas Fremdes zu empfinden begann. Schon für das 18. Jahrhundert ist der Untergang eines Teils der „zimbrischen" Ortsmundarten bezeugt. 13 Die Sammlungen von Wörtern und von poetischen Texten in „zimbrischer" Sprache wurden bald in Deutschland bekannt. Schon im Jahre 1771 hat Ernst Friedrich Sigmund Klinge das italienisch-zimbrische Wörterbuch von Marco Pezzo (f 1785) zusammen mit dessen Abhandlung über die „Zimbern" übersetzt.14 Auf diesem Wege ist auch Johann Andreas Schmeller auf die Außenmundarten in Norditalien geführt worden. 15 Mit J. A. Schmeller setzt auf deutscher Seite die wissenschaftliche Erforschung der Sprache der Sprachinseln (Grammatik und Wortschatz) ein. Sie wird fortgeführt durch Joseph Bergmann, der selbst im Jahre 1847, vierzehn Jahre nach J. A. Schmellers erster Kundfahrt, ins Zimbernland reiste und der nach Schmellers

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Dazu K. Matzel [vgl. Anm. 8], S. 8 8 - 9 3 . So von Marco Pezzo aus Grietz; siehe dazu Johann Andreas Schmeller, Die Teutschen um Verona und Vicenza, in: Zschockes Miszellen für die Neueste Weltkunde, Nro. 92 vom 16. November 1811, S. 366. Von den Veronesischen und Vicentinischen Cimbern zwey Bücher von Marko Pezzo [...] Aus dem Italiänischen übersetzt von E. F. S. Klinge, in: Magazin für die neue Historie und Geographie (angelegt von D. A. F. Büsching). 6. Theil, Hamburg 1771, S. 44—100. Die Teutschen um Verona und Vicenza [vgl. Anm. 13], S. 365 f.

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Tod (1852) dessen ,Sogenanntes Cimbrisches Wörterbuch' herausgegeben hat. 16 In Österreich fand die Forschung ihre Fortsetzung. Schon Schmeller und Bergmann hatten ihre Aufmerksamkeit auf die gesprochene Sprache gerichtet. In der österreichischen Schule trat das gesprochene Zimbrisch, dessen Geltungsbereich sich zunehmend verengte, eindeutig in den Vordergrund. Anton Pfalz nahm vor dem ersten Weltkrieg die ersten Phonogramme auf, Eberhard Kranzmayer promovierte im Jahre 1925 mit seiner grundlegenden Dissertation. 17 In neuerer Zeit setzen in Wien Maria Hornung und in Innsbruck Karin Heller und Wolfgang Meid die Arbeit mit Untersuchungen zu sprachlichen Problemen, vor allem zu solchen der Zweisprachigkeit, und mit der Edition „zimbrischer" Texte fort. Auf deutscher Seite ist Bruno Schweizer zu nennen. Er gab die ,Zimbrischen Sprachreste I: Texte aus Giazza' heraus.18 Seine fünfbändige ,Zimbrische Gesamtgrammatik' wird im Deutschen Spracharchiv, Marburg, verwahrt. 19 B. Schweizer hat auch ein Lehrbuch verfaßt: ,Tauts. Puox tze Lirnan, Reidan un Scraiban iz Gareida on Ljetzan'. 20 Mit diesem Sprachlehrbuch wollte er den „Zimbern" in Giazza die Elementarkünste der Grammatik beibringen. Er ging von der zutreffenden Erkenntnis aus, daß sich auf den Sprachinseln keine Konventionen und Regeln für die Aufzeichnung der „zimbrischen" Sprache herausgebildet haben. Überdeutlich formuliert: Jeder, der schrieb, hatte seine eigene Orthographie; aber immer war diese von den Graphien des Italienischen her beeinflußt. Das können wir vom ersten zimbrischen Katechismus an beobachten bis hin zu dem in seiner Orthographie stark von den Schreibkonventionen des Italienischen bestimmten Wörterbuch des „Zimbrischen" der Sieben Gemeinden, welches Umberto Martello Martalar verfaßt hat: .Dizionario della lingua CIMBRA dei Sette Comuni vincentini, un idioma antico, non trascurabile componente del quadro linguistico italiano'. 21 B. Schweizers wohlgemeinter Versuch, die Leute von Giazza Grammatik, d. h. richtig zu reden und zu schreiben, zu lehren, trug der Realität kaum

16

17 18 15

20 21

Johann Andreas Schmeller's sogenanntes Cimbrisches Wörterbuch. Das ist deutsches Idiotikon der VII. und XIII. Comuni in den venetianischen Alpen. Mit Einleitung und Zusätzen im Auftrage der Kais. Akademie der Wissenschaften hg. v. Joseph Bergmann, Wien 1855 [Abdruck in dem Anm. 5 genannten Sammelband, S. 181—394], Diese erschien erst im Jahre 1981 im Druck; siehe oben Anm. 1. Halle 1939. Lexikon der Germanistischen Linguistik, hg. v. H. P. Althaus, H. Henne, H. E. Wiegand, 2. Aufl., Tübingen 1980, S. 4 9 6 - 4 9 8 . Bolzano 1942, recte: 1944. A cura dell'istituto di Ricerca „A. Dal Pozzo" di Roana [1974]; ders., Dizionario della lingua CIMBRA dei Sette Comuni vicentini. Seconda parte. Istituto di Cultura Cimbra A. Dal Pozzo, Roana (Vicenza) [1985],

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Rechnung: Wer etwas lesen und schreiben wollte und konnte — und die meisten Bewohner von Giazza konnten lesen und schreiben, denn ganz ohne Lesen und Schreiben ging es schon damals in ihrer Welt nicht mehr, — der bediente sich des Italienischen, mit dem er spätestens von der Schulzeit an aufgewachsen war. Es ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, daß sich in den letzten zwanzig Jahren das Interesse an der kulturellen Vergangenheit und an der Sprache der „Zimbern" verstärkt hat. Im Jahre 1968 wurde in München ein ZimbernCuratorium ins Leben gerufen. In Wien besteht seit dem Jahre 1972 ein „Verein der Sprachinselfreunde", der die „im Mittelalter von Österreich aus besiedelten Sprachinseln" betreut. 22 In den Sieben Gemeinden — in Roana — wurde ein Zimbrisches Kulturinstitut gegründet, in Lusern zwei Kulturvereine. Ziel ist die Erhaltung von Sprache und Kultur. Junge Lehrer, die die alte Mundart gar nicht mehr als Haussprache gehört und gelernt haben, bemühen sich, sie den Älteren abzulauschen und im Schulunterricht der folgenden Generation weiterzugeben. Ob das Erfolg haben, d. h. zu einer Wiederbelebung führen wird, erscheint, soweit es die Sieben Gemeinden betrifft, fraglich. Der Spracherwerb beginnt schließlich im Elternhaus. 23

B. Bewahrung und Wandlungen in den Sprachinselmundarten B.l. Vorbemerkungen zur Gliederung Wir kommen zurück auf die eingangs aufgeworfene Frage: „Wie haben sich die Sprachinselmundarten der Sieben und Dreizehn Gemeinden, die sich gehalten, bzw. solange sie sich gehalten haben — losgelöst vom zusammenhängenden deutschen Sprachgebiet, in fremder Umgebung — bewahrt, entwickelt, verändert?" Dieser Frage liegt eine Gliederung zugrunde, nach 22

Siehe die von diesem Verein hg. Schrift: Alt-Österreichische Sprachinseln in den Südalpen. Begleitheft einer Ausstellung, Wien 1980, und Maria und Herwig Hornung: Deutsche Sprachinseln aus Altösterreich. Ein Wegweiser. 2. Aufl., Wien 1986, S. 4—12. — Zu diesen Aktivitäten und auch den im folgenden genannten Aktivitäten ausfuhrlicher in: Ein „zimbrisches" Sprachdenkmal vom Südrand der Alpen. Die Erinnerungen der Constantina Zotti (1904—1980) aus Toballe in den Sieben Gemeinden. Zimbrischer Text mit neuhochdeutscher Übersetzung. Etschlandbücher. Veröffentlichungen des Landesverbandes für Heimatpflege in Südtirol. Band 8, Bozen 1986, S. 1 1 1 - 1 1 2 .

23

Anders ist die Lage in Lusern, wo der weitaus größere Teil der Einwohner die Ortsmundart immer noch spricht; diese ist jedoch partiell vom Schweizerdeutschen und Südtirolischen her gefärbt und zudem von italienischen Lehnwörtern stark durchsetzt; siehe dazu Josef Bacher: Die deutsche Sprachinsel Lusern, Innsbruck 1905, unveränderter Nachdruck mit einem Vorwort von Maria Hornung, Wien 1976; Ernst Gamillscheg: Die romanischen Elemente in der deutschen Mundart von Lusern, Halle 1912.

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welcher die Antworten zu geben sind. Die Antworten müssen die Geschichte, d. h. die sprachhistorische Entwicklung der Sprachinselmundarten seit dem ersten zimbrischen Katechismus vom Jahre 1602 bis hin in unsere Zeit, berücksichtigen; wir können sogar die sprachlichen Wandlungen der neueren Zeit in den Sieben Gemeinden beobachten, wenn wir die Befunde der „Lautund Flexionslehre" von E. Kranzmayer mitsamt dem dazugehörigen Glossar24 mit den Wörtern und Wendungen in dem etwa fünfzig Jahre jüngeren .Dizionario' des Umberto Martello Martalar vom Jahre 197425 vergleichen. Die Gliederung, die der Frage zugrunde liegt, setzt voraus, daß erstens sich die Sprachinselmundarten nach ihrer Absonderung vom Ausgangsgebiet in Isolation und Abgeschiedenheit bewahren konnten, und das bedeutet, daß sie die Sprache in dem für die Ausgangsdialekte vorauszusetzenden Zustand konserviert haben. Stichwort: Archaismen. Die Gliederung setzt zweitens voraus, daß die Sprachinselmundarten sich entwickelt und verändert haben. Dabei sind drei verschiedene Entwicklungsrichtungen und Veränderungsprozesse zu unterscheiden: 1. Die Prozesse können sich in Übereinstimmung und im Gleichlauf mit solchen in den Ausgangsdialekten vollziehen (E. Kranzmayer: „Monogenese"). 2. Die Sprachinselmundarten können aber auch Entwicklungsrichtungen nehmen, die nicht in Übereinstimmung mit solchen der Ausgangsdialekte stehen. Mit anderen Worten: Sie entwickeln sich in eine nur ihnen eigene Richtung, wobei ein Einfluß von Kontaktsprachen (in unserem Falle: der lokalen italienischen Nachbarmundarten, der italienischen Umgangs- und Hochsprache) nicht anzunehmen oder nicht nachzuweisen ist. Stichwort: Eigenentwicklung (E. Kranzmayer: „Eigenmächtigkeit der Außenmundart"). 3. Die deutschen Sprachinselmundarten liegen auf dem Gebiet italienischer Dialekte und der italienischen Hochsprache. Sie werden von italienischen Dialekten eingeschlossen, und ihre Träger sind zudem in vielen Lebensfragen auf das Italienische angewiesen. Es besteht Sprachkontakt, zumeist auch Zweisprachigkeit, und diese gewiß schon seit längerer Zeit. Denn dem ersten zimbrischen Katechismus ist — wie wir hörten — bereits zu entnehmen, daß zwar die Frauen und Kinder der Bewohner der Sieben Gemeinden nur die deutsche Sprache sprachen, was im Falle der Männer offenbar nicht zutraf (siehe oben A.2.). Im Nachwort eben dieses Katechismus wird zudem die Sprache, in welche übersetzt worden ist, als lingua Thedesca bastarda bezeichnet; das Adjektiv bastarda weist auf „die (durch die italienische Beimischung) 24 25

Siehe oben Anm. 1. Siehe oben Anm. 21.

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korrumpierte" Sprache der Sprachinselbewohner, welche sich offenbar vom nicht korrumpierten Deutsch unterschied.26 Die Sprachinselmundarten standen also und ihre Reste stehen auch heute unter dem Einfluß des Italienischen, das der leistungsstärkere Kontaktpartner von großer Reichweite war und bleibt. In den ländlichen Mundarten der Sprachinseln wirken sich die Einflüsse der Kontaktsprache aus auf dem Wege der Sprachberührung („Languages in Contact") und in der Situation der Zweisprachigkeit. Es kommt zu Interferenzen, Unterwanderungen, konvergenten Entwicklungen. Die Sprachinselmundarten sind der nehmende Teil.

B.2. Zur Forschungsgeschichte und zur Charakteristik der Sprachinselmundarten Die Gliederung und die Gesichtspunkte, unter denen Beharrlichkeit und Wandel in den „zimbrischen" Sprachinselmundarten zu erfassen sind, sind nicht neu. Sie gehen auf E. Kranzmayer zurück 27 , und sie sind von der nachfolgenden Forschung aufgegriffen, auf andere Bereiche als den des Lautlichen ausgeweitet und auch in ihrer Anordnung verändert worden, so in den Arbeiten von M. Hornung und K. Heller, so in einem gedrängten, an Informationen reichen Artikel über „Deutsche Sprachinseln" von Peter Wiesinger28, so auch von mir.29 Im folgenden soll knapp auf die vom Betrachtungsgegenstand her bestimmten Gesichtspunkte in der Weise eingegangen werden, daß berichtet wird, zu welchen Befunden man gelangt ist und was der Forschung noch zu tun bleibt.

B.3. Die Befunde B.3.1. Archaismen: Seit den ersten Nachrichten über die Sprache der „Zimbern" in deutschen Zeitschriften und Reiseberichten, als Wortschatzsammlungen und Textproben der „zimbrischen" Sprache bekannt wurden, haben die altertümlichen Züge im Lautstand und im Wortbestand Aufsehen erregt. Ihnen galt das Hauptinteresse, auch das J. A. Schmellers und J. Bergmanns. 26 27

28 29

W. Meid, Der erste zimbrische Katechismus [wie Anm. 9], S. 212. Monogenetische Lautentfaltung und ihre Störungen in den bairischen Bauernsprachinseln und in deren Heimatmundarten, in: PBB 85 (Tübingen 1963), S. 155 — 205. Lexikon der Germanistischen Linguistik [wie Anm. 19], S. 491—500. Wie Anm. 8, S. 8 1 - 1 0 2 (passim).

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Altertümlicher Wortschatz, der ζ. T. nur noch im Altnordischen Parallelen hat, und altertümliche Ortlichkeitsbezeichnungen mit Entsprechungen im Bairischen sind von E. Kranzmayer 30 und anderen erfaßt worden; Kranzmayer konstatierte auch — was vor ihm schon bemerkt worden war —, daß in „der Flexionslehre [...] sich das wälsche stärker geltend" mache 31 , d. h., daß diese weniger Altertümliches bewahre. Die Archaismen im Lautlichen — Bewahrung des unverdumpften, neutralen a, ä {habaro ,Hafer', mäno ,Mond'), der Umlautrundung (bütta ,Hütte', rökche ,Röcke'), der Kürze in offener Silbe (legan ,legen'), ungeschwächter, unbetonter auslautender Vokale (z. B. hano ,Hahn', tsunga ,Zunge', piorno ,Besen'), der Auslautverhärtung (takx: deme tage), der alveopalatalen Artikulation des ererbten mhd. s gegenüber der alveolaren des mhd. j (aus vorahd. */) in hatfs ,Haus' und αψ ,aus', des anlautenden mhd. s vor l, m, n, w, p, t {p^läfan ,schlafen', %mit,Schmied', spçkx ,Speck', stai,Stall'), des stimmhaften anlautenden mhd. v- (vuks ,Fuchs') und anderer Lautungen, die in den Ausgangsmundarten nicht mehr nachweisbar sind — hat vor allem Kranzmayer systematisch erfaßt. 32 Auf die Frage „Ist die ,zimbrische' Mundart der Sieben Gemeinden" — sie bewahrt die altertümlicheren Lautungen — „althochdeutsch?" hat M. Hornung unlängst eine differenzierende Antwort gegeben. 33 Der Lautstand der Mundart weist zwar Qualitäten und Quantitäten auf, die teils althochdeutsche, teils spätmittelhochdeutsche Entsprechungen haben. Diesen stehen indes Neuerungen gegenüber, die sich unter dem Einfluß des Italienischen vollzogen haben, so ζ. B. die Ersetzung der Affrikaten pf und tß durch f und β erst in jüngster Zeit: finchèsten .Pfingsten' tritt anstelle von pfiqkosten,ßimbro anstelle von tßimbro (ital. cimbro). Anders verhält es sich mit den lexikalischen Altertümlichkeiten, die in modernerem Lautgewand erscheinen können. In neuerer Zeit hat Marco Scovazzi einige von ihnen aufgegriffen, um ihr hohes Alter zu erweisen; er hat dabei aber mitunter daneben gegriffen. 34 Karin Heller hat mehrere Studien zu den „zimbrischen" Archaismen, zudem auch zu Fragen der inneren Erneuerung des „Zimbrischen" und zu äußeren Einflüssen auf den Wortschatz, vorgelegt. 35 W. Meid hat gezeigt, daß die Übersetzung des ersten zimbrischen 30 31 32 33

34 35

Wie Anm. 1, S. 7 ff. Wie Anm. 1, S. 23. Auch in seiner Historischen Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes, Wien 1956. Ist die „zimbrische" Mundart der Sieben Gemeinden althochdeutsch? In: Althochdeutsch. Bd. 1: Grammatik, Glossen und Texte, hg. v. R. Bergmann, H. Tiefenbach, L. Voetz, Heidelberg 1987, S. 9 3 - 1 0 1 . Dazu wie Anm. 8, S. 87, 99. Archaismus, innere Erneuerung und äußerer Einfluß im Wortschatz des Zimbrischen, in: Grazer Linguistische Studien 2 (1975), S. 99 — 104; Bemerkungen zu zimbrischen Archaismen, in: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 2 (1976), Heft 2, S. 33 — 40; Über Gegensinn

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Katechismus „gerade in den stilistisch freieren Passagen" lexikalische Archaismen, auch im religiösen Wortschatz (z. B. ghedingo .Hoffnung', ghedingen ,hoffen'), aufweist. 36 Mir selbst erscheint es zweckmäßig, den lautlich und inhaltlich weiterentwickelten Wortschatz aus spätahd.-frühmhd. Zeit genauer zu betrachten, dies u. a. mit dem Ziel, zusätzlichen sprachlichen Aufschluß über die Herkunft der Siedler und die Zeit ihrer Auswanderung zu gewinnen: Für eine alemannische Komponente unter den Siedlern sprechen z. B. Alemannismen wie das Kennwort klain mit Diphthong -ai- aus -/-, vgl. alem. klirr, der Schwund des Nasals vor Reibelauten in Wörtern wie f ú f ,5', üs ,uns', fistach (bair. Kennwort in alem. Lautung) ,Pfinztag' und sastach ,Samstag'. 37 Eine zimbrische Besonderheit der Sieben Gemeinden ist das Fragewort bittan aus dem selten belegbaren mhd. wietän, nach der Qualität (,was für ein') fragend (mit korrespondierendem söttan < mhd. sötäri), das neben beider ,welcher' aus mhd. weler (nicht: welcher) tritt. Im Falle des Wortes knoveloch (VII Gemeinden) zeigt sich die Dissimilation kl- zu kn-, die in bairischen Glossen des 12. Jahrhunderts faßbar wird. 38 Das „zimbrische" Wort knoveloch weist mithin auf die bisher für die Auswanderung der Siedler angenommene Zeit, d. h. das 12. Jahrhundert. Anders wiederum verhält es sich mit bisher nicht genügend befragtem oder nicht erschöpfend ausgewertetem archaischem Wortmaterial. Dafür drei Beispiele: Man hat zwar gesehen, daß in den VII Gemeinden schöön, in Giazza und Lusern aber schùan ,schön' gesagt wird; schùan bewahrt den Diphthong ahd. uo und geht auf eine archaische Nebenform des Adjektivs ahd. sköni ( < germ.

in zwischensprachlichen Beziehungen, in: Opuscula Slavica et Linguistica. Festschrift für Alexander Issatschenko, hg. v. H. D. Pohl und N. Salnikov. Klagenfurt 1976, S. 2 1 1 - 2 1 5 ; Sprachliche Interferenzerscheinungen: Zimbrisch—Deutsch—Italienisch, in: Klagenfurter Beiträge zur Sprachwissenschaft 4 (1978), Heft 1/2, S. 45—49; Interferenz und Konvergenz Deutsch (Zimbrisch), Italienisch und Rätoromanisch, in: Grazer Linguistische Studien 9 (1979), S. 48—57; Gemischter Sprachausdruck bedingt durch Sprachkontakt, in: Sprachkontakt [wie Anm. 10], s. 115 — 119; Bortar gaselje un ungaselje. Synonyme und Antonyme im Zimbrischen, in: Sprachwissenschaft in Innsbruck, hg. v. W. Meid, H. Ölberg und H. Schmeja, Innsbruck 1982, S. 77—83; ferner: Maria Hornung: Der wechselweise Gebrauch deutscher und romanischer Synonyma in den Sprachinselmundarten des östlichen Oberitaliens als Ausdruck einer Bewußtseinsverschiebung, in: Sprachkontakt [wie Anm. 10], S. 121 — 128; dieselbe: Alte Gemeinsamkeiten im speziellen Wortschatz südbairischer Sprachinseln, in: Studia Linguistica et Philologica. Festschrift für Klaus Matzel [...], hg. v. H.-W. Eroms, B. Gajek, H. Kolb, Heidelberg 1984, S. 3 2 5 - 3 3 2 . 36 37 39

Der erste zimbrische Katechismus [wie Anm. 9], S. 26. Wie Anm. 8, S. 1 0 0 - 1 0 2 . Der früheste Beleg Ahd. Gl. 4,237,4 cnufloch ist eindeutig mittelfränkisch.

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*skauni-) zurück, nämlich ahd. *skuom; diese Nebenform ist aus der Adjektivableitung ahd. (Is) scuonïn ,decus' zu erschließen. 39

Das Adj. biige, büüche ,fett (von Speisen und Saaten)' hat in bair. wieche

und

mhd. wüech (Kärnten) Entsprechungen. Es handelt sich um ein hocharchaisches, im Althochdeutschen nicht belegtes Adjektiv, das auf ein germ. Verbaladjektiv *wökija- zurückzuführen und zu dem zu erschließenden starken Präteritum der 6. Klasse germ. *wôk ,ist erwacht' 40 , eigentlich: ,ist stark/ lebendig geworden', zu stellen ist. Ein in gleicher Weise gebildetes Verbaladjektiv liegt vor in begur, begurst, Steigerungsformen zu gut (neben pe^or, pest)41, die sich nur in den XIII Gemeinden (Schweizer) finden und zu mhd. weehe, ahd. wähi ,schön, schmuck, zierlich' zu stellen sind. Sie führen auf eine Ableitung germ. *ινβχί]α- von einem nicht bewahrten starken Verb der 5. Klasse zurück. Wortschatzauswertungen dieser Art wird man dann besser durchführen können, wenn ein seit langem angekündigtes .Vergleichendes Wörterbuch des Zimbrischen', das „nahezu 70000 Vokabeln" umfassen soll 42 , vorliegt.

B.3.2. Autochthone Entwicklungen, die den gleichen Verlauf nahmen wie in den Muttermundarten Wir beschränken uns auf zwei Beispiele aus dem lautlichen Bereich: Die Diphthongierung von mhd. t, u, ü beginnt im Bairischen in bescheidenem Umfange im 12. Jahrhundert (in Südtirol um das Jahr 1100, in Kärntener Urkunden in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts). Sie hat ihre Entsprechung in den VII Gemeinden, wo es waip ,Weib', hauß ,Haus', mäü^e ,Mäuse', und in den XIII Gemeinden, wo es knmáun .Gemeinde' ( < ital. comüri) heißt. Desgleichen nimmt das Zimbrische (VII Gemeinden) an dem Wandel von mhd. bair. ai über qi zu on teil: prait,breit' > pront (später z. T. monophthongiert: pröt oder vor Nasal zu uu weiterentwickelt: huä ,heim', kluonarn .verkleinern' (Giazza)). Das Lehnwort plqnde .Rechtsstreit' geht entsprechend über plqide (so in Foze bezeugt) auf altvenezianisch plaido zurück. Ausgenommen sind, unter dem Einfluß deutscher hochsprachlicher Lautungen, im ersten

39

40

41

42

Zu diesem Wort und zu dem Adjektiv mhd. schüene siehe Klaus Matzel: Untersuchungen zur Verfasserschaft, Sprache und Herkunft der althochdeutschen Übersetzungen der Isidor-Sippe, Bonn 1970, S. 458 f. Zu diesem Verb siehe Elmar Seebold: Vergleichendes und etymologisches Wörterbuch der germanischen starken Verben. The Hague/Paris 1970, S. 535 s. v. WAK-NA. Zu diesen Steigerungsformen siehe Κ. Heller, Über Gegensinn [wie Anm. 35], S. 213, und Bortar gaselje [wie Anm. 35], S. 80 f. H. Geiselbrechtinger und H. Resch [wie Anm. 6], S. 22.

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zimbrischen Katechismus die Kirchenwörter Gaist,flaisch, hailegh- (im zweiten zimbrischen Katechismus: vloasch, aber dar Halge Spirito).43 Aus dem Bereiche der Morphologie ist in erster Linie zu nennen der sog. süddeutsche Präteritalschwund, an dem die Sprachinseln teilhaben. Zwar werden von den Grammatikern wiederholt Formen des Indikativs des stark gebildeten Präteritums und zudem nach dem Muster des schwachen Dentalpräteritums gebildete Mischformen starker Verben (wie kyotte ,sagte' statt *kypt, zu kyödan ( < ahd. quedan)) registriert. 44 Aber wenn man die Leute in Roana heute erzählen hört, dann verwenden sie umschreibende Perfektformen vom Typ dar i^-gnstorpt ,er starb', war haweq-garwetet ,wir arbeiteten', bar ^aiti o^-gnpaixtet ,noi ci siamo confessati'. Es hat sich auch ein dem Bairischen entsprechendes neues Plusquamperfekt herausgebildet: ίχ haq-gnhat gnsriwet ,ich habe geschrieben gehabt' neben ίχ hatte gnsriwet.45 Das „einfache Präteritum der Indicativform" ist, wie schon J. A. Schmeller konstatiert hat 46 , „diesem Dialekt wie allen süddeutschen ausgegangen". Auf weitere morphologische Veränderungen im Verbalsystem (siehe oben gnstorpt, neben dem ein neues Part. Prät. gnstirbat steht), ist sogleich zurückzukommen. Einen weiteren parallelen Gleichlauf in der Morphologie zeigt das Umsichgreifen des Pluralmorphems -ar, ursprünglich auf wenige Neutra beschränkt: lamp .Lamm': lémpar .Lämmer'. Das Morphem -ar greift nicht nur auf weitere Neutra (s'baip .das Weib': de bàibar .die Weiber') und wie in den Ausgangsdialekten auch auf das Maskulinum {dar bait .der Wald': de bèllar .die Wälder') über. Darüber hinaus erfaßt das Pluralmorphem -ar auch mehrsilbige Neutra (wasgar .Wasser': wa^ardar .Wasser', mestar,Messer': meagardar .Messer') und sogar Feminina {de baut .parete': de bèntar .die (Fels-) Wände', de stat .die Stadt': de stétar ,die Städte'), wobei Umlaut der Stammsilbe erfolgt. Wir sind mit diesem Übergreifen schon bei dem nächsten Punkt:

B.3.3. Eigenentwicklung (Kranzmayer: „Eigenmächtigkeit der Außenmundart") Dafür seien nur zwei Beispiele der Formenbildung angeführt: Das eine ist die bereits genannte Umgestaltung des Suppletivwesens durch neue Lexeme 43

44

45 46

Weiteres zum Lautlichen siehe E. Kranzmayer: Monogenetische Lautentfaltung [wie Anm. 27], S. 173 f. E. Kranzmayer [wie Anm. 1], S. 277 f.; zum starken Präteritum siehe W. Meid: Der erste zimbrische Katechismus [wie Anm. 9], S. 36; K. Matzel [wie Anm. 8], S. 95 ff. E. Kranzmayer [wie Anm. 1], s. 293. Über die sogenannten Cimbern der VII und XIII Communen auf den Venedischen Alpen und ihre Sprache. Abhandlungen der philos.-philol. Classe der Kgl. Bayerischen Akad. d. Wissenschaften. 2. Bd., 3. Abt., München 1838, S. 688 [Abdruck in dem Anm. 5 genannten Sammelband, S. 142].

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in den unregelmäßigen Steigerungen (begur .besser' und begurst ,best-' in Giazza). Das andere ist das nach Art der schwachen Verben gebildete Partizip des Perfekts ehemals starker Verben: Neben gnstorpt (für älteres gastorbm ,gestorben') und neben stark gebildetes k/én .gekommen' treten gnstirbat und kxent. Bei diesem Umstrukturierungsprozeß handelt es sich wahrscheinlich um eine sog. „Regelvereinfachung", d. h. um eine — sich vermutlich im Spracherwerbsprozeß vollziehende — Verallgemeinerung der Form des schwach gebildeten Partizips des Präteritums, die zuerst erlernt wird und am häufigsten vorkommt. Es ist nicht sicher zu entscheiden und daher noch zu untersuchen, ob diese „Regelvereinfachung" unter Einwirkung entsprechender Prozesse in der italienischen Kontaktsprache, wie ich das in Erwägung gezogen habe47, erfolgt ist. B.3.4. Beeinflussungen von selten des Italienischen: Interferenzen und Konvergenzen Die Folgen jahrhundertlangen Sprachkontaktes mit den italienischen Nachbarn haben sich auf allen Ebenen der Grammatik und im Wortschatz des „Zimbrischen" nachhaltig ausgewirkt. Wir können, wenn wir das „Zimbrische" gesprochen hören und den syntaktischen Konstruktionen und den die Satzbildung ermöglichenden morphologischen Inventaren nachspüren, den Eindruck gewinnen, es werde Italienisch in tautfem (d. h. „zimbrischem") Lautgewande gesprochen. Es haben sich analytische Formen in der Flexion des Substantivs und des Verbs (anstelle synthetischer Flexionsformen), tempus- und modusbildende Kategorien (Futur und Konditionalis), reflexive Konjugationsklassen, Infinitivkonstruktionen (finalen Sinnes), Partizipialund Gerundialkonstruktionen und vor allem Serialisierungsmuster (d. h. Muster der linearen Anordnung der Satzglieder), auf die schon F. Maurer aufmerksam gemacht hat48, herausgebildet, die — mit K. Heller49 — als Angleichung an die „innere Sprachform" des Italienischen zu verstehen sind. In der Lautentwicklung haben sich übereinstimmend mit dem Italienischen Wandlungen vollzogen (z. B. Entpalatalisierung von « zu « in Giazza). Die Untersuchungen der .Italienischen Interferenzen in der lautlichen Struktur des Zimbrischen' von Wolfgang Meid und Karin Heller haben „z.T. mit unumstößlicher Sicherheit, z. T. mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit, insgesamt jedoch mit hinlänglicher Evidenz, den Nachweis erbracht, 47 48 49

Wie Anm. 8, S. 95. Untersuchung über die deutsche Verbstellung, Heidelberg 1926, S. 81 ff. Syntaktische Einflüsse des Italienischen im Zimbrischen, in: Incontri linguistici 2 (1975), S. 176.

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daß d a s Z i m b r i s c h e in l a u t l i c h e r H i n s i c h t v o m I t a l i e n i s c h e n b e e i n f l u ß t i s t " . 5 0 Vorausgegangen war diesen beiden Forschern schon zu Beginn dieses Jahrhunderts Ernst Gamillscheg, der ,Die romanischen Elemente in der deutschen Mundart von Lusern' untersucht und gezeigt hat, daß und wie „aus einer bayerischen Mundart eine deutsch-romanische Mischsprache" geworden ist. „Fremde Sprachgewohnheit wird in die eigene Mundart übernommen; und wo das ererbte Sprachmaterial der fremden Ausdrucksweise widerstrebt, wird diese in Bausch und Bogen beibehalten." Gamillschegs Prognose „Man braucht kein Prophet zu sein, um zu erkennen, daß diese" [ = die italienische Sprache] „gar bald die einzige Ausdrucksweise sein wird" 51 , hat sich im Falle Luserns allerdings bis heute nicht erfüllt. Zu den Interferenzerscheinungen in der Morphologie und in der Wortbildung, zu den aus geistiger Anpassung an die Kontaktsprache resultierenden Veränderungen der Bedeutungen „zimbrischer" Wörter, zu Lehnübersetzungen nach italienischen Vorbildern und zu den Anpassungserscheinungen in der Syntax (Lehnsyntax) hat seit dem Jahre 1975 vor allem Karin Heller eine Reihe von Studien vorgelegt. 52

C. Abschließendes Wir greifen die an uns gestellte Frage „Wie verläuft im Zuge einer kulturellen D e s i n t e g r a t i o n der Untergang einer Sprache?" auf. Die Sprache der deutschen Sprachinseln in Norditalien, der Sette e Tredeci comuni, ist noch nicht untergegangen. Noch existiert sie, wenn auch resthaft und nostalgisch wiederbelebt. Wir können ihren Rückgang z. T. anhand historischer Zeugnisse, z. T. anhand von Bestandsaufnahmen verfolgen. Der baldige Tod der Sprachinseln ist wiederholt vorausgesagt worden, aber Reste leben noch. Wie lange? Ich meine, daß sie über kurz oder lang nicht mehr sein werden. Der Grund für meine Ansicht: Die meisten der ehemaligen Sprachinselbewohner sind schon — in stärkerem Maße seit dem 18. Jahrhundert 53 — im Verlaufe eines Integrationsprozesses — politisch, rechtlich und kulturell — zu Italienern geworden. Dieser Prozeß wurde durch Aufgabe der Dorf- und Haussprache und durch Übertritt ins romanische Medium besiegelt. Der Übertritt brachte Vorteile mit sich — die Teilhabe an einer Schrift, die man erlernen konnte, und an einer Schriftkultur mit langer Tradition. 50

51 52 53

Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philos.-hist. Klasse. Sitzungsberichte, 353 Bd., Wien 1979, S. 69. Wie Anm. 23, S. 14. Siehe Anm. 35 und 49! Ein Zeugnis dafür findet sich bei Marco Pezzo; vgl. J. A. Schmeller [wie Anm. 13], S. 366.

Der Untergang deutscher Sprachinseln in Norditalien

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Verschiedenartige Faktoren haben in ihrem Zusammenwirken zum Untergang der Sprache in den abgelegenen, zunächst isolierten Sprachinseln beigetragen: Beseitigung der Isolation durch die Verbesserung der Verkehrsmittel, stärkere Mobilität durch auswärtige Beschäftigung (Pendler, Saisonund Gastarbeiter, zu J. Bergmanns Zeiten war es noch die „Überwinterung mit den Heerden auf der italienischen Ebene" 54 ), die Aufgabe der Selbstversorgungswirtschaft, Bevölkerungsrückgang durch Abwanderung der Jüngeren, Geburtenrückgang, Fremdheiraten nach Abschaffung der Sbarra ,Schranke', die solche bei Strafe verbot, schließlich auch die Unterdrückung und die zeitweise Bekämpfung der deutschen Mundarten durch den Nationalismus der Italiener. 55 Wir wollen von diesen Faktoren und der im Verein mit ihnen sich auswirkenden, zunehmenden Integration in die verschiedenen Bereiche des Lebens und der Kultur der Italiener keineswegs absehen. Es kam im Vorhergehenden aber mehr darauf an zu zeigen, w i e sich die Sprachinselmundarten in der fremden Umgebung bewahrt, entwickelt und verändert haben. W. Meid hat die Ansicht geäußert, daß die Beschäftigung mit den lautlichen Interferenzvorgängen im „Zimbrischen" einen „paradigmatischen Wert" habe. Er sagt: „Was hier im kleinen und auf engem Raum gleichsam in konzentrierter Form geschieht, vollzieht sich in ähnlicher Weise auch in größeren Raum- und Zeitmaßen, ist hier aber weniger scharf zu fassen. Das Schicksal einer Sprachinsel ist somit ein Modell im kleinen für das, was sich in sprachlichen Großräumen über einen langen Zeitraum hin vollzogen hat". 56 Der Anspruch W. Meids ist gewiß gerechtfertigt, versteht man „Modell" im Sinne eines Modells der vielfaltigen Einflußarten und -möglichkeiten, in unserem Falle solcher, die einem Sprachentod vorausgehen können. Der Tod einer Sprache selbst dagegen bleibt in seinem Verlauf und in den Konstellationen, die ihn bedingen, immer ein einmaliger Akt.

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Wie Anm. 16, S. 100. Der Katalog der Faktoren z.T. im Anschluß an P. Wiesinger [wie Anm. 19], S. 496; man vergleiche J. Bergmanns Zusammenstellung der „Ursachen der Verwelschung" [wie Anm. 16], S. 1 0 0 - 1 0 2 . Italienische Interferenzen [wie Anm. 50], S. 5; ähnlich K. Heller: Sprachinselforschung aus der Sicht der allgemeinen Sprachwissenschaft — am Beispiel des Zimbrischen, in: Akten der 1. Salzburger Frühlingstagung für Linguistik, hg. v. G. Drachmann (Salzburger Beiträge zur Linguistik 1), Tübingen 1975, S. 33.

Die Gallehusinschrift: Trümmer der nordischwestgermanischen Ursprache VON HERBERT PENZL

1. Die Horner von Gallehus

Diese Inschrift fand sich auf dem kürzeren von zwei Goldhörnern, die 1639 bzw. 1734 bei Gallehus in Nordschleswig gefunden wurden. Das größere, zuerst gefundene Horn enthält Figuren- und Zeichenreihen, die Willy Hartner (1969) Runen gleichgesetzt und sprachlich zu deuten versucht hat. Die obige Inschrift im älteren Fu]jark wird so transliteriert: EKHLEWAGASTIZ : HOLTIJAZ : H O R N A : TAWIDO. Die Hörner wurden 1802 aus einem Museumssaal in Kopenhagen gestohlen und eingeschmolzen, doch schon zur Zeit des Fundes waren sie mit Dekoration und Inschrift nachgebildet und nachgezeichnet worden. Als Übersetzung wird ζ. B. angegeben: „Ich Hlewagast, der Hölting, verfertigte das Horn." (siehe 2,2 unten) Der Satz stellt eine poetische Langzeile mit regelrechter Alliteration dar. Von seinen fünf Worten soll noch ausführlich die Rede sein, denn wir halten die Sprache der Inschrift für die Gruppierung der germanischen Sprachen von besonderer Bedeutung. Als Datum der Herstellung hat man aufgrund der künstlerischen Dekoration 350 bis 450 n. Chr. angenommen. Heinz Klingenberg (1973) sah Zahlenmystik in der Inschrift. Die Literatur ist umfangreich (Antonsen 1975, S. 41), die Forschungsgeschichte (Jacobsen-Moltke 1942, S. 24—37) zeigt manchen Irrweg.

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Herbert Perizi

2. Grammatik der Gallehussprache 2.1 Syntaktisches Die Inschrift hat die Wortstellung S O V : Subjektgruppe—Objekt—Verb. Die gleiche Wortstellung finden wir in den meisten frühen Runeninschriften, auch z. B. bei denen von Einang, Garbolle, Tune; die Spange von Freilaubersheim zeigt Mittelstellung des Verbs (siehe Anhang). Die Langzeile von Gallehus mit den zwei alliterierenden Namensformen H L E W A G A S T I Z und H O L T I J A Z im ersten Halbvers verlangt den Hauptstab auf der ersten akzentuierten Silbe nach der Zäsur: HORNA muß dem Verb vorangehen. Die indogermanischen Kongruenzregeln nach Person und Zahl sind in Kraft: E K . . TAWIDO (1. Person Sing.). In der Wortgruppe des Subjekts stimmen Numerus, Genus, Kasus überein: E K H L E W A G A S T I Z HOLTIJ A Z (Sing., mask., Nominativ). Ich habe die Satzstruktur des Textes in einem generativistischen Baum festgehalten (Penzl 1972, S. 63 f.).

2.2 Lexikalisches Bei einmaligen Belegen ist die lexikalische Bedeutung kaum je eindeutig erfaßbar. Die vergleichende Methode gibt für den ersten Teil der Namensform H L E W A G A S T I Z zwei Möglichkeiten: eine Beziehung zu urg. *¡hkiva-l ,Schutz' oder zu idg. *\klewo-\ ,Ruhm'. Also ist H L E W A G A S T I Z entweder der .geschützte' oder der .berühmte Gast' (Antonson 1975). H O L T I J A Z als Teil des Namens (vgl. Sorensen 1984) hat man als patronymisch angesehen (,Sohn des Holte', ,Sohn des Holtagastiz') oder als Geschlechtsbezeichnung (,aus dem Geschlecht der Holte', .Hölting'), aber auch als Ableitung von einer spezifischen (,aus Holte') oder generischen (,aus dem Walde') Ortsbezeichnung. Die Möglichkeit einer Berufsbezeichnung .Holzarbeiter', .Holzschnitzer' scheint durch parallele Wortgruppen in Runeninschriften mit E R ILAZ .Runenmagier' (?) unterstützt. Für eine Ableitung aus einer spezifischen Namensform spricht das unveränderte O (statt U) vor dem Suffix -IJ-. E. Rooth (1984) nahm für das Präteritum TAWIDO die Bedeutung .setzte (wieder) instand, reparierte' an. Schon Vilhelm Thomsen hatte 1899 für TAWIDO auch wegen des belegten ahd. £ouuitun ([ferrum] exercebant) die Bedeutung ,(cornu) paravi' oder .instruxi', nicht ,feci' angenommen. Aber Garbolles T A W I D E läßt nur die Bedeutung .machte' zu.

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Die Gallehusinschrift

2.3 Morphologisches Die Nominativendungen der Substantive -IZ, -AZ ohne jede Einwirkung der Auslautgesetze aus idg. *-is (lat. hostis), -*os (griech., altlat. -os) sind keine Formen des 4., 5. Jahrhunderts, sondern mit den urgermanischen Endungen gleichzusetzen (Penzl 1986, § 156, 158). -A in HORN A hat man als Entsprechung von urgerm. *-an, idg. *-om (Akk. Sing, neutr.) angenommen. Das ist das Wahrscheinlichste, wenn auch der Kontext Plural oder Dual zuließe. Die einsilbige Form EK ,ich' des Personalpronomens (lat. ego) könnte eine aus Platzgründen verkürzte Schreibung oder als Teil einer Wortgruppe zu erklären sein. /«/ statt /// geht auf die akzentuierte Form zurück (Penzl 1986, § 170(1)), ist übrigens nicht nur nordisch, auch westgermanisch belegt.

2.4 Die Phoneme Belegt sind die Vokalzeichen ( I E A O ) . Für das Vokalsystem der Periode habe ich palatale Variation sämtlicher Hintervokale vor /-Lauten angenommen (Penzl 1975, S. 74). Ob wir die gleichen Umlautwerte wie im Nhd dafür ansetzen können, scheint nicht ganz sicher. Aber für { A ) in GASTIZ, TAWIDO und für in HOLTIJAZ ist jedenfalls eine palatale Umlautaussprache anzunehmen, die wir ungefähr mit den phonetischen Zeichen [