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German Pages 270 Year 2017
Jonas Bens, Olaf Zenker (Hg.) Gerechtigkeitsgefühle
EmotionsKulturen / EmotionCultures | Band / Volume 3
Die Reihe EmotionsKulturen / EmotionCultures versammelt Arbeiten, die sich aktuellen Fragestellungen der Emotionsforschung aus einer innovativen transdisziplinären Perspektive annähern. Im Mittelpunkt stehen vornehmlich empirische Studien aus dem Bereich der Sozial-und Kulturanthropologie, die – in jeweils enger theoretischer und/oder methodischer Verzahnung mit weiteren Disziplinen – Prozesse der sozialen und kulturellen Modellierung von Emotionen und Affekten untersuchen. Zentrale Themenspektren betreffen die Genese emotionaler Ordnungen in ihrem Wechselspiel mit sozio-kulturellen, historischen und politischen Strukturen. Die Reihe spannt dabei den Bogen von der Sozialisation von Emotionen in der Kindheit bis zu deren Transformation im Alter und schließt damit auch konfliktive Rekonfigurationen des Emotionalen vor dem Hintergrund veränderlicher Lebensbedingungen mit ein. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den mit Migrations-, Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen verbundenen emotionalen und affektiven Dynamiken.
The series EmotionCultures is a collection of works centered around current questions raised in interdisciplinary and innovative research on emotions. At the core are empirical studies from Social and Cultural Anthropology that analyze processes of social and cultural modeling of emotions – always in close theoretical as well as methodological connection to various other disciplines. Key topics concern the generation of emotional codes in interaction with socio-cultural, historical, and political structures. Thus, this series ranges from the socialization of emotions in childhood to their transformation with increasing age. It incorporates reconfigurations of emotions against the backdrop of changing life conditions. Furthermore, a particular focus rests upon the emotional dynamics inherent to processes of migration, globalization, and transnationalization.
Die Reihe wird herausgegeben von/is edited by Birgitt Röttger-Rössler & Anita von Poser. Editorial Board: Prof. Dr. Helene Basu, Ethnologie, Universität Münster Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Psychiatrie & Philosophie, Universität Heidelberg Prof. Dr. Douglas Hollan, Social Anthropology, UCLA Prof. Dr. Heidi Keller, Psychologie, Universität Osnabrück Prof. Dr. Christian von Scheve, Soziologie, FU Berlin Dr. Maruška Svašek, Social Anthropology, Queens University Belfast
Jonas Bens, Olaf Zenker (Hg.)
Gerechtigkeitsgefühle Zur affektiven und emotionalen Legitimität von Normen
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - SFB 1171
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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J ONAS B ENS UND O LAF Z ENKER
Was ist gerecht? Wer diese Frage stellt, ahnt schon, dass die Antwort darauf nicht leichtfallen wird. Denn Menschen beantworten diese Frage zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Kontexten, in unterschiedlichen Gefühlslagen, vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sachverhalte, eben höchst unterschiedlich. Warum das so ist, und unter welchen Bedingungen Menschen Gerechtigkeitsbewertungen vornehmen, ist eine wichtige Frage für die empirische Rechtsforschung. Hierzu möchte der vorliegende Band mit einer spezifischen Perspektive beitragen: mit dem Blick auf Gerechtigkeitsgefühle. Wir gehen davon aus, dass Affekte und Emotionen für die Gerechtigkeitsbewertungen von Menschen eine wichtige Rolle spielen. Gerechtigkeitsbewertungen sehen wir in der Nähe des Problems der Legitimität, also der Frage, wann und unter welchen Umständen Menschen rechtliche oder quasi-rechtliche Ordnungen als legitim, d.h. als gerechtfertigt und unterstützenswert wahrnehmen. Gerechtigkeitsgefühle verstehen wir daher als die affektiven und emotionalen Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen. Dieser Band versammelt zwei einordnende und sieben ethnographische Beiträge, die Gerechtigkeitsgefühle, ihre Ursachen und Wirkungen, in verschiedenen kulturellen und rechtlichen Kontexten beschreiben und analysieren. In diesem einleitenden Beitrag gehen wir zunächst auf die Forschungstraditionen zu Affekten, Emotionen und Recht ein, die dieser Band aufgreift und zusammenführt. Anschließend stellen wir unseren Arbeitsbegriff von Gerechtigkeitsgefühlen vor, auf den die anschließenden Beiträge in ihren Fallstudien Bezug nehmen. Schließlich geben wir einen einführenden Überblick über die versammelten ethnographischen Studien. Dass im Recht Gefühle ausgegrenzt werden müssen, damit es effektiv funktioniert und gerechte Ergebnisse zeitigen kann, ist eine weit verbreitetes Ideal,
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und der Versuch es umzusetzen (wie unvollständig auch immer) ist alltägliche rechtliche Praxis. Diese Prämisse, das Recht müsse von Gefühlen freigemacht werden, ist tief in einem spezifischen Rationalitätsparadigma verwurzelt, das bestimmte (nicht zuletzt europäische) kulturelle und historische Wurzeln hat. Dabei geht es in diesem Band nicht einfach darum, diese These umzukehren und nun zu behaupten, es seien die Gefühle, die bei der Gerechtigkeit alles entscheiden. Wir plädieren vielmehr dafür, die Frage, was für Menschen in ihren Gerechtigkeitsbewertungen entscheidend ist, nicht implizit oder explizit bereits im Vorfeld einer Untersuchung festzulegen. Eine empirische Rechtsforschung tut gut daran, dem Untersuchungsfeld und seinen Akteur*innen eine Chance zu geben, „für sich selbst zu sprechen“ (ein Ideal freilich, das es anzustreben gilt, das sich aber nie vollständig umsetzen lässt). Alle Beiträge in diesem Band eint das Bestreben, affektives und emotionales Erleben von Menschen im Kontext der Bewertungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ernst zu nehmen. Anstatt sie voreilig als unwichtig oder fehl am Platze auszugrenzen, sollte man zunächst annehmen, dass es sich um integrale Bestandteile ihrer Gerechtigkeitswahrnehmungen und Bewertungsprozesse handelt. Eine empirische Rechtsforschung, die sich für die Wahrnehmung von Menschen interessiert, sollte sich stets mühen, denjenigen genau zuzuhören, über die man etwas erfahren will. Worauf Menschen ihre Gerechtigkeitserwägungen stützen, ob auf rationale Berechnung, emotionales oder affektives Fühlen, ist eine Frage, die „im Feld“ von den Subjekten der Forschung entschieden wird. Die bewusste Beachtung und Analyse von Affekten und Emotionen bereichert unseres Erachtens die Gerechtigkeits- und Legitimitätsforschung entscheidend. Wir hoffen, dass dieser Band zu einer solchen Bereicherung beiträgt.
Das Forschungsfeld Gefühle und Recht ist breit und es bedarf der Erläuterung, wo sich dieser Band in diesem Feld bewegt. Zunächst gilt es dabei zwischen Affekten und Emotionen zu unterscheiden, zwei wissenschaftlichen Traditionslinien, auf die man Bezug nehmen sollte, wenn man sich sozialwissenschaftlich mit Phänomenen des Fühlens auseinandersetzt (Wetherell 2012). Dabei nehmen wir besonders auf die Traditionen der Sozial- und Kulturanthropologie, unseres eigenen Faches, Bezug. Im Anschluss umreißen wir die Ansätze der Erforschung von Gefühlen im Recht.
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Spätestens seit den 1990er Jahren hat die Emotionsforschung einen stark interdisziplinären Charakter angenommen und ist der alleinigen Hoheit der Psychologie entwachsen. Emotionsforschung wird in den Geschichtswissenschaften (Matt 2011), den Politikwissenschaften (Groenendyk 2011), der Philosophie (Griffiths 2013), der Soziologie (Stets 2012), der Sozial- und Kulturanthropologie (Beatty 2014), und der linguistischen Anthropologie (Wilce 2014) betrieben. Einer im engeren Sinne sozialwissenschaftlicher Erforschung sind Emotionen nur dann zugänglich, wenn man Emotionen in einer Weise konzeptualisiert, die sie nicht als vollständig im Individuum stattfindende biologische oder psychologische Prozesse denkt, die allenfalls aufgrund äußerer Reize ausgelöst werden, sondern zugesteht, dass soziale Relationen einen relevanten, wenn nicht entscheidenden Anteil an der Produktion von Emotionen haben (Burkitt 2014). Die Sozial- und Kulturanthropologie hat sich intensiv mit der Erforschung von Emotionen auseinandergesetzt (siehe Lutz und White 1986, Beatty 2014 für einen Überblick der englischsprachigen Forschung). Eine erste Hochphase erlebte die Emotionsanthropologie in den 1970er und 80er Jahren mit einer Reihe von Ethnographien über Emotionen in verschiedenen lokalen Kontexten, die darauf Wert legten, Emotionsphänomene in ihren kulturellen Konstruktionsprozessen zu beschreiben (Briggs 1970, Rosaldo 1980, Lutz 1988). Dabei war sie von einem neu erwachten Interesse an einer kulturvergleichenden Emotionsforschung in der Psychologie inspiriert (Ekman und Oster 1979, Ekman 1992), von der sie sich dadurch kritisch abzugrenzen versuchte, dass sie den Fokus, ganz im Sinne des kulturkonstruktivistischen Paradigmas, weg von den körperlichen Anteilen des Emotionalen hin zu den sozialrelationalen und diskursiven verschob. Hierbei hat die Emotionsanthropologie allerdings immer wieder betont, dass Emotionsforschung nur betrieben werden kann, wenn kognitive und körperliche Anteile des Emotionalen in ihren sozialrelationalen Entstehungsbedingungen verschränkt gedacht werden, was in Michelle Rosaldos (1984) berühmter Definition von Emotionen als verkörperlichten Gedanken („embodied thoughts“) deutlich wird. In den 1990er Jahren gab es einige, die die Emotionsanthropologie der 1970er und 1980er Jahren dafür kritisierte, dass sie in ihrer Kritik der zu biologisch orientierten Psychologie über das Ziel hinausgeschossen sei und zu stark kulturkonstruktivistisch argumentiert hätte (z.B. Hinton 1993; Lyon 1994; Leavitt 1996). Hieran hat dann ab den frühen 2000er Jahren besonders die in Deutschland betriebene Emotionsanthropologie („Berliner Schule“) angeschlos-
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sen (Röttger-Rössler 2002 2004; Funk, Röttger-Rössler und Scheidecker 2012; Stodulka und Röttger-Rössler 2014, Sakti 2013, 2017; Emde 2014a; Reynaud 2017; Stodulka 2016; Scheidecker 2017; Jung 2009; Thajib 2016). Hierbei hat sich die Vorstellung durchgesetzt, dass Emotionen sowohl eine biologischkörperliche als auch eine kulturelle Komponente haben, also als „bio-kulturelle Prozesse“ aufzufassen sind (Röttger-Rössler und Markowitsch 2009), wobei beide Komponenten innerhalb sozialer Relationen produziert werden. Die sogenannten Affect Studies haben davon abweichende Traditionslinien. Sie haben ihren Ursprung weniger in den Sozialwissenschaften, sondern vielmehr in der Philosophie und den Cultural Studies in der Mitte der 1990er Jahre (Massumi 1995, 2002, Ahmed 2004, Clough und Halley 2007, Gregg und Seigworth 2010, Blackman 2012). Die Affect Studies betonen die Bedeutung von Körpern als Ausgang und Bezugspunkt für Affekte,1 und setzen sich dadurch von diskurstheoretisch orientierten Ansätzen ab, die in der poststrukturalistischen Philosophie von Foucault, Derrida und Butler das Feld der Cultural Studies bis in die späten 1990er Jahre hinaus dominierten und Körper eher als performative Effekte von Diskursformationen thematisieren (Butler 1997).2 Dabei folgen die Affect Studies allerdings im Anschluss an die Philosophie Baruch de Spinozas (dabei stark von Gilles Deleuzes’ Lesart beeinflusst) mehrheitlich einem weiten, nicht-biologischen Körperbegriff. Demnach definieren sich Körper ganz allgemein als diejenigen Einheiten, die affizieren und affiziert werden können (Seyfert 2012).3 Affekte sind mithin das, was sich zwischen Körpern jedweder Art abspielt, sie werden also konsequent als relationale Phänomene verstanden (Slaby 2016).4 Folglich haben die Affect Studies von ihrem
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Der Begriff „Affekt„ ist bereits vorher in der Emotionsforschung verwendet worden, hat dabei aber auf die körperlichen Anteile des Emotionalen verwiesen (RöttgerRössler/Markowitsch 2009). Der in den Affect Studies verwendete Affektbegriff weicht hiervon ab, und meint gerade keine Beschränkung auf das Physiologische (von Scheve 2017).
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Siehe aber Mühlhoff (2016), der an den Dispositivbegriff von Foucault anschließt, ihn aber nicht primär disukurs-, sondern affektheortisch ausgestaltet.
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Welch zentrale Rolle die Hinwendung zu einem solchen „neuen„ Körperbegriff, der auch als „body turn„ bezeichnet worden ist (Gugutzker 2006), für die Affect Studies spielt, zeigt sich etwa darin, dass die Zeitschrift Body and Society zu einem der zentralen Publikationsorte der Affect Studies geworden ist.
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An dieser Stelle zeigt sich bereits auch eine Nähe zu der in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit den späten 1970er Jahren aufkommenden Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die das Soziale als ein Netzwerk menschlicher und nicht-menschlicher Ak-
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Fokus her eine gewisse konzeptuelle Ferne zur Idee der individuellen Innerlichkeit (Blackman 2008). Subjekte geraten insofern erst dadurch in den Blick, dass sie als innerhalb affektiver Prozesse subjektivierte Körper konzeptualisiert werden (Williams 2010, Mühlhoff 2016). Affektive Prozesse sind nicht zuletzt aufgrund des weiten Körperbegriffs und der starken Betonung der Relationalität subtil und lassen sich nicht nach Typen, sondern nach Intensitäten unterscheiden – eine oft gebräuchliche Metapher ist die der Resonanz (Mühlhoff 2015). Teilweise wird auch vertreten, Affekte seien vorsprachliche, prädiskursive Phänomene, über die sich gar nicht, oder jedenfalls nur schwerlich sprechen lasse (Kosofky Sedgwick 2003). Der turn to affect hat auch die Sozial- und Kulturanthropologie erfasst (Rutherford 2016).5 Aufgrund ihres flüchtigen Charakters ist das Problem diskutiert worden, dass Affekte nicht umstandslos ethnographisch erforscht und beschrieben werden können (Rubin 2013). Daher unterscheiden sich manche AffektEthnographien stilistisch mitunter stark von herkömmlichen ethnographischen Texten und setzen weniger auf einen narrativen, sondern eher episodischpoetischen Stil (siehe insbesondere: Steward 2007). Andere Autor*innen haben eher versucht, den Affektbegriff auf klassische Untersuchungsgebiete der Anthropologie anzuwenden: etwa Verwandtschaft (Faier 2009), Religion (Rudnycky 2010), Humanitarismus (Muehlebach 2012), koloniale Herrschaftsformen (Stoller 2007), moderne Staatlichkeit (Navaro-Yashin 2012), oder Tier-MenschBeziehungen (Song 2011). Will man vor dem Hintergrund dieser Forschungstraditionen über Gefühle arbeiten, so scheint es gewinnbringend, sowohl auf Emotionen als auch auf Affekte zu achten, und beide Dimensionen in die Analyse einzubeziehen. 6 Es dürf-
teur*innen zu analysieren sucht (Latour/Woolgar 1979, Crawford 2004, Latour 2005). Latour selbst hat diesen Zusammenhang zwischen seinem Akteursbegriff und dem „neuen„ Körperbegriff der Affect Studies hergestellt (2004). An diesem Punkt schließen die Affect Studies dann auch an den sogenannt ontological turn an (Kohn 2015, Holbraad/Pedersen 2017), der es als einen zu überwindenden Anthropozentrismus ansieht, Epistemologie, also menschliche Sichten auf die Welt, statt die Welt selbst zum Ausgangspunkt ethnographischer Analyse zu machen. Latour sieht auch diese Strömung im Zusammenhang mit seinem Denken (2009). Über den Zusammenhang von ontological turn und dem turn to affect siehe Hemmings (2005). 5
Der turn to affect in der Anthropologie hat auch Kritiker*innen gefunden, siehe Martin (2013).
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Es gibt in der Emotionsforschung unterschiedliche Ansätze, den Begriff „Gefühle„ zu verwenden: entweder als Oberbegriff zu Affekten und Emotionen (z.B. Burkitt 2014)
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te klargeworden sein, dass sich beide Phänomen nicht scharf trennen lassen. Vielmehr wird es oft vorkommen, dass sich bestimmte Erscheinungen sowohl im Vokabular der Emotionsforschung als auch in dem der Affect Studies beschreiben lassen. Statt einer klaren Trennung beider Begriffe dürfte es eher darum gehen, die Untersuchungsdimensionen, die von beiden theoretischen Konzepten für die ethnographische Forschung eröffnet werden, in der Forschungspraxis miteinander zu verbinden.7 Während die Emotionsforschung vorwiegend auf längerfristige Prozesse der Subjektivierung, etwa durch Sozialisation, Lernen und Erinnern, fokussiert, heben die Affect Studies stärker auf Momente der Subjektivierung durch situative Affizierungsgeschehen innerhalb materialisierter Arrangements hervor. Während die Emotionsforschung die Bedeutung von Sprache und Diskurs für die Konstruktionsprozesse individuellen Erlebens herausstellt, interessiert sich die Affekttheorie für subtile Prozesse des Affizierens und Affiziert-Werdens auch und besonders jenseits des Ausgesprochenen. Wo sich die Emotionsforschung tendenziell für kulturelle Variabilität interessiert, weil sie emotionales Erleben im Kontext kulturell grundierter Repertoires konzeptualisiert, neigen die Affect Studies dazu, auf das affektive Erleben jenseits kultureller Codes, also auf das Universale, zu blicken. Während die Emotionsforschung regelmäßig menschliche Akteur*innen als zentral ansieht, propagieren die Affect Studies stärker die Einbeziehung nichtmenschlicher Akteur*innen in die Analyse. Solche Analysedimensionen schließen sich weder aus, noch sollte ein Forschungsdesign auf theoretischer Ebene grundsätzlich entscheiden, welche dieser Blickrichtungen wichtiger oder fruchtbarer sind. Vielmehr ist es angezeigt, diejenigen Analyseansätze zu wählen, die den eigenen Fragestellungen und den untersuchten Phänomenen angemessen erscheinen. Eben diesen Anspruch verfolgt der vorliegende Band in Bezug auf die Rolle der Gefühle zum Recht.
oder als einen Begriff, der auf eine dritte analytische Ebene verweist, nämlich auf die subjektive körperliche Erfahrungsdimension (Röttger-Rössler/Markowitz 2008). Wir begnügen uns an dieser Stelle damit, Gefühle als einen Begriff zu benutzen, der sowohl affektive wie emotionale Prozesse entlang der skizzierten Forschungslinien einschließt. 7
Eben dieses Ziel hat sich der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Sonderforschungsbereich 1171 „Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten„ gesetzt, in dem die Herausgeber mitarbeiten (siehe http://www.sfb-affective-societies.de).
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Beginnend in den 1970er Jahren hat sich insbesondere im englischsprachigen Raum unter dem Label Law and Emotion eine interdisziplinäre Erforschung der Rolle von Emotionen im Recht und im Umfeld des Rechts herausgebildet (Maroney 2006, Abrams/Keren 2009, Bandes/Blumenthal 2012). Die Disziplinen, die sich an diesem Forschungsfeld beteiligen umfassen neben den Rechtswissenschaften, auch die Philosophie, Psychologie und Neurowissenschaften sowie auch – wenngleich in etwas geringerem Maße – die Literatur-, Sozial-, und Kulturwissenschaften. In den 1990er Jahren erlebte Law and Emotion eine Hochphase, wobei Susan Bandes viel zitierter Sammelband The Passions of Law (2001) einen Zwischenstand abbildet. Dass Emotionen im Recht eine wichtige Rolle spielen, das Recht auch von Emotionen Notiz nimmt, ist offensichtlich. Im Strafrecht etwa spielen die Emotionen des Täters für dessen Schuld eine wichtige Rolle. Das Familienrecht sieht explizit seine Aufgabe darin, Liebe und Zuneigung zu bewahren und zu festigen. Schadensrecht erkennt unter bestimmten Umständen emotionales Leiden als ausgleichswürdigen Schaden an. Allen beteiligten Akteur*innen im Recht ist klar, Kläger*innen, Beklagte, Richter*innen und vielen weiteren, dass bei ihnen mitunter starke Gefühle im Spiel sind, während sie ihre Rollen ausfüllen. All dies wird nicht bestritten. Das spannungsgeladene Verhältnis von Recht und Emotionen besteht vielmehr darin, dass modernes Rechtsdenken von einem starken Rationalitätsparadigma bestimmt ist, das davon ausgeht, dass Recht nur effektiv angewandt werden könne, wenn durchgängig die Vernunft regiere, was den konsequenten Ausschluss von Emotionen aus den rechtlichen Verfahren bedinge (Maroney 2006, S. 120). Es ist eben dieses Rationalitätsparadigma, das die Law and Emotion Literatur anzweifelt. Mit Blick auf die oben genannten Traditionslinien der sozialwissenschaftlichen Emotionsforschung bestreitet der Law and Emotion-Ansatz eine strenge Trennung zwischen ratio und emotio, zwischen Denken und Fühlen. Deshalb sei es geboten, die Ausgrenzung der Gefühle aus dem Recht, die schon aus konzeptuellen Gründen niemals gelingen könne, als Rechtsideologie zu hinterfragen, und den Blick vielmehr auf die Rolle der mehr oder weniger unterdrückten Emotionen in rechtlichen Verfahren zu lenken. Klassische Arbeiten aus der Law and Emotion Forschung haben sich in theoretischer Hinsicht der Rolle bestimmter Emotionen im Recht gewidmet, wie etwa dem Ekel, der Scham oder der Angst (Posner 2002, Nussbaum 2004), oder haben die emotionstheoretischen Vorannahmen des Rechts untersucht, und gefragt, wie diese sich auf die Lösung von Rechtsfragen auswirken, etwa bezüglich
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der Abgrenzung der Straftatbestände Totschlag und Mord (Kahan/Nussbaum 1996). Dominiert wird das Feld aber von empirischen Arbeiten, die die Rolle von Emotionen in rechtlichen Verfahren und für rechtliche Akteur*innen bei ihren Entscheidungsprozessen betreffen. Beispiele für die untersuchten Fragestellungen sind etwa der Einfluss von drastischen Bildern auf Geschworene und die Auswirkungen für die Höhe des Strafmaßes (Bright/Goddman-Delahunty 2006, Matsua/Itoh 2015), der Rolle sogenannten victim impact statements im common law Strafprozess (Schuster/Propen 2010), oder Analysen der Rolle von Emotionen in Zeugenaussagen im Bereich der Sexualdelikte (Schuller et al. 2010). Auch Sozial- und Kulturanthropolog*innen haben ethnographische Studien über die Rolle von Emotionen in rechtlichen Verfahren vorgelegt (Ure 2008, Hirsch 2009, Niezen 2013, Reynaud 2014, Emde 2014b), dies aber nur selten explizit als Law and Emotion Forschung gerahmt. Das mag damit zusammenhängen, dass die Law and Emotion Ansätze sich recht explizit als ein Projekt mit dem Ziel verstehen, das rechtliche Feld und seine Akteur*innen von der Bedeutung von Emotionen für ihre Verfahren zu überzeugen. Diesen missionarischen Eifer scheinen die meisten Sozial- und Kulturanthropolog*innen nicht zu teilen – teils aus einer generellen Ferne zum rechtlichen Feld heraus, teils weil die meisten der genannten Studien eher auf explorative Grundlagenforschung als auf Anwendungsorientierung ausgerichtet sind. Das Feld Law and Affect8 ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt keineswegs so etabliert und ausdifferenziert wie Law and Emotion. Der turn to affect hat sich in der empirischen Rechtsforschung noch nicht im selben Ausmaß vollzogen wie in anderen Disziplinen. In jüngerer Zeit hat in der deutschsprachigen Forschung Susanne Krasmann (2015) jedoch Ansätze für eine Affekttheorie im Recht vorgelegt. In der englischsprachigen Literatur untersucht Kamari M. Clarke (2017) als eine der Ersten im Hinblick auf das Internationale Strafrecht die affektiven Strategien, mit denen über die rhetorischen Figuren „des Opfers“, „des Täters“ und „der internationalen Gemeinschaft“ unterschiedliche Versionen dessen mobilisiert werden (sollen), was sie „affective justice“ nennt. Daneben werden Erkenntnisse aus den literaturwissenschaftlichen Affect Studies im Feld von Law
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Der Begriff Affekt wird auch in den Rechtswissenschaften verwendet, etwa bei der Unterscheidung zwischen sthenischen und asthenischen Affekten im Notwehrrecht (Satzger/Beulke: Rn. 667). Darin wird oft einem in der Psychologie verwendeten Affektbegriff gefolgt, der auf die physiologische Dimension von Gefühlen verweist. Affekte werden gesehen als unkontrollierbare biologisch-körperliche Vorgänge. Dieser Affektbegriff ist nicht identisch mit dem der Affect Studies. Siehe auch Fn. 1.
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and Literature für die Analyse rechtlicher und rechtsnaher Texte fruchtbar gemacht (Olson 2016).9 Vereinzelt wird auch versucht, Affekte zusätzlich zu Emotionen in die Analyse von rechtlichen Performances im Gericht einzubeziehen (Dahlberg 2009) oder den Zusammenhang von Affekt und (nicht nur juristischem) Urteil zu beleuchten (Hilgers/Koch/Möllers/Müller-Mall 2015). Hinzu kommt, dass Judith Butler (2015) in jüngerer Zeit affekttheoretische Prämissen in ihre Subjektivierungstheorie einbringt, die im Anschluss an Freud, Althusser und Foucault, die Bedeutung des Rechts für Subjektivierungsprozesse stark macht. Alle diese Ansätze sind vielversprechend und es ist anzunehmen, dass der Korpus der Literatur um Law and Affect in Zukunft anwachsen wird. Wie aus dem gegebenen Literaturüberblick deutlich geworden ist, bezieht sich dieser Band stark auf eine Emotions- und Affektforschung, die in der englischsprachigen Tradition verwurzelt ist. Es wäre allerdings fahrlässig, einen solchen Band zu erstellen, ohne auch den Blick auf die spezifisch deutschsprachigen Traditionslinien zum Rechtsgefühl zu richten, die sich seit dem 18. Jahrhundert auf vielfältige Weise in Ästhetik, Moralphilosophie und dem Recht entfalten und wechselseitig beeinflussen (Köhler/Müller-Mall/Schmidt/Schnädelbach 2017). Daher wird diese Einleitung von einem Überblicksbeitrag von Jan-Christoph Marschelke begleitet, der analysiert, wie das Rechtsgefühl in der deutschsprachigen Rechtssoziologie und Rechtspsychologie des 19. und 20. Jahrhunderts behandelt wird. Das Konzept des Rechtsgefühls oszilliert zwischen intuitivem Wissen um positives Recht einerseits und affektiver Affirmation von Gerechtigkeitsidealen andererseits. Dabei hat das Rechtsgefühl mehrere Subjekte: Kollektiv oder Individuum, Rechtsexpert*in oder Laie*in, empirischer Mensch oder moralische Person. Die Spannweite der dem Rechtsgefühl zugemessenen Bedeutungen reicht von „Säule des Rechtssystems“ bis „egoistisch-irrationaler Störfaktor“, die Einschätzung seiner wissenschaftlichen Fruchtbarkeit von „diffus, unnötig, ideologielastig“ bis „unentbehrlich“. Dieses begriffliche Feld wird in JanChristoph Marschelkes Beitrag ausgelotet.
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Law and Literature ist ein interdisziplinärer Forschungsansatz von Rechtswissenschaften und Literaturwissenschaften, der zum Ziel hat, Texte des Rechts und Texte über das Recht mit literaturwissenschaftlichen Methoden und Theorien zu untersuchen. Als Überblick siehe Brooks and Gewirtz (1996) und Dolin (2007), kritisch: Posner (1988).
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Vor dem Hintergrund dieser Forschungslinien zu Emotionen und Affekten im Recht sieht sich dieser Band als eine Fortsetzung und Weiterentwicklung. Das Konzept von Gerechtigkeitsgefühlen, das wir in diesem Band vorlegen, nimmt die Rolle von Emotionen und Affekten für das Recht ernst, ebenso die Bedeutung dieser Phänomene für rechtliche Akteur*innen und die Arrangements, in denen sie Recht erleben und betreiben. Die Forschung zu Gerechtigkeitsgefühlen hebt sich dadurch ab, sie den Fokus der Untersuchung nicht auf Affekte und Emotionen im Recht oder anlässlich rechtlicher Verfahren liegt, sondern die Gefühle in Bezug auf normativen Ordnungen selbst in den Blick nimmt. Recht und Gerechtigkeit werden in der Rechtsphilosophie oft entlang der Trennlinien Recht vs. Moral (Kervégan 2010, Sandkühler 2010) oder positives Recht vs. Naturrecht (grundlegend für die deutsche Debatte nach 1949: Radbruch 1946) diskutiert. Aus der Perspektive der Rechtsanthropologie haben solche Unterscheidungen zwar Bedeutung, allerdings eher auf empirischer als auf theoretischer Ebene. Im Paradigma des Rechtspluralismus (Griffiths 1986, BendaBeckmann 1994, Michaels 2009) geht die Rechtsanthropologie davon aus, dass Menschen zu allen Zeiten und in allen kulturellen Kontexten mit einer Pluralität normativer Ordnungen konfrontiert sind (Tamanaha 2008). Ob für Menschen geschriebenes Recht, ungeschriebene moralische Vorstellungen oder Naturrecht verbindlich sind, ist eine empirische Frage, keine theoretische Vorentscheidung. Das hat Konsequenzen für die Konzeption von Gerechtigkeit. Denn wenn man Gerechtigkeit schlicht als eine höhere Stufe in der Normenpyramide auffasst, auf die Rechtsbetroffene zurückgreifen, um ungerechtes positives Recht unbeachtet lassen zu können, dann ergibt sich aus der Sicht des Rechtspluralismus überhaupt keine spezifische Gerechtigkeitsforschung. „Gerechtigkeit“ wäre dann lediglich eine Bezeichnung für eine normative Ordnung unter mehreren. Ob sie von Rechtsbetroffenen als verbindlich wahrgenommen wird, ist dann eine empirische Frage. Die sozialwissenschaftlich orientierte Rechtstheorie im 20. Jahrhundert hat deshalb Gerechtigkeitsfragen regelmäßig anders behandelt, nämlich danach gefragt, was bestimmte Rechtsordnungen für Menschen verbindlich macht. Mit anderen Worten: Was ist der Prozess, anhand dessen Menschen bewerten, ob die normative Ordnung, mit der sie konfrontiert sind, gerecht ist? Die Gerechtigkeitsfrage wird damit zur Legitimitätsfrage (Luhmann 1969, Habermas 1992, Derrida 1991).
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Ausgehend von diesen theoretischen Überlegungen hat sich eine sozialwissenschaftliche, insbesondere rechtsoziologische Legitimitätsforschung herausgebildet (Johnson/Dowd/Ridgeway 2006, Tyler 2006). Legitim ist eine normative Ordnung aus Sicht einer solchen Legitimitätsforschung dann, wenn sie von den Rechtsbetroffenen als gerechtfertigt und unterstützenswert wahrgenommen wird – im Englischen ist von perceived legitimacy die Rede. Es ist das Anliegen dieses Buches, an diese Legitimitätsforschung anzuknüpfen, wobei allerdings danach gefragt werden soll, welche Rolle Gefühle für diesen Prozess der Legitimitätsbewertung spielen. Es geht also darum, die mehrheitlich in einem starken Rationalitätsparadigma verortete Legitimitätsforschung mit dem Blick auf Affekte und Emotionen entscheidend zu erweitern (siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Bens in diesem Band). Als Arbeitsbegriff schlagen wir deshalb vor, Gerechtigkeitsgefühle zu definieren als die affektiven und emotionalen Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen. Ausgehend von unserer Definition von Gerechtigkeitsgefühlen, bedarf es einiger Erläuterungen, die dieses Konzept näher konturieren. Zunächst argumentieren wir, dass sich Gerechtigkeitsgefühle innerhalb des Forschungsfeldes Affekte, Emotionen und Recht, das wir oben dargestellt haben, dadurch kennzeichnen, dass sie sich auf die wahrgenommene Legitimität normativer Ordnungen beziehen. Gerechtigkeitsgefühle definieren sich demnach in Bezug auf ihr Referenzobjekt, nämlich die Legitimität einer normativen Ordnung. Damit lassen sich Gerechtigkeitsgefühle von all jenen Emotionen und Affekten abgrenzen, die zwar in rechtlichen Verfahren eine Rolle spielen, die jedoch keine Legitimitätsbewertung enthalten. Das nimmt viele Affekte und Emotionen, die sich die klassische Law and Emotion Literatur zum Gegenstand gemacht hat, von der Forschung aus – nämlich jene, die sich ganz im vorgesehen Rahmen einer normativen Ordnung abspielen, wie etwa Gefühle im Strafprozess bei Zeugenbefragungen, sofern sie bei den Beteiligten nicht in eine Legitimitätsbewertung des normativen Rahmens eingebettet sind. Andererseits sind Gerechtigkeitsgefühle auch keine bestimmten Gefühle, etwa diskrete Emotionen wie Wut, Empörung, oder Scham. Generell können alle Arten von Affekten und Emotionen dann Gerechtigkeitsgefühle sein, wenn sie in Bewertungsprozessen der Legitimität normativer Ordnungen eine Rolle spielen.10
10 Insbesondere ist unser Begriff von Gerechtigkeitsgefühlen auch nicht identisch mit dem der moralischen Emotionen (Haidt 2003, Malti und Latzko 2012, Scheidecker
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Affekt und Emotion verstehen wir wie bereits oben erläutert nicht als Gegensätze, sondern als theoretische Konzepte, die unterschiedliche Analyseebenen aufspannen. Gerechtigkeitsgefühle lassen sich, je nach Kontext, als affektive wie emotionale Phänomene beschreiben und analysieren, wobei beide Dimensionen niemals völlig ineinander aufgehen. Aus diesem Grunde verwenden wir im Rahmen der Gerechtigkeitsgefühle beide Begriffe, um diesen weiten Analyseraum zu erhalten. Mit dem Begriff „normative Ordnung“ wollen wir einen möglichst weiten Begriff von Recht andeuten, wie er in der Forschungstradition der Rechtsanthropologie üblich ist. Insbesondere wollen wir damit nicht nur das staatliche positive Recht einschließen, sondern auch vielfältige andere normative Ordnungen. Normative Ordnungen umfassen zum einen Rechtspluralismus im engeren Sinne: zusätzlich zum nationalen Recht auch internationales und transnationales Recht, in innerstaatlicher Perspektive aber auch religiöses oder „traditionelles“ Recht. Zum anderen zählen aber auch nichtstaatliche oder informelle Regelsysteme unter den Begriff von normativer Ordnung, also auch Gebräuche und Gepflogenheiten (custom), sofern Rechtsbetroffene sie als für sich verbindlich empfinden. Als Subjekte von Gerechtigkeitsgefühlen spielen vielfältig positionierte Akteursgruppen eine Rolle, nicht etwa nur Prozessbeteiligte wie Richter*innen, Anwält*innen oder Zeug*innen. Bei einer Betrachtung von Gerechtigkeitsgefühlen erscheint es nicht sinnvoll, sich im Vorhinein darauf festzulegen, wessen Gefühle eine Rolle spielen und wessen nicht. Gerechtigkeitsgefühle betreffen hingegen nicht nur das individuelle Erleben, sondern sind in vielfältiger Weise in kollektive Subjektivierungsprozesse eingebunden. Das gilt schon allein deshalb, weil Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen nie ohne eine Bezugsgruppe erfolgen. Legitim oder illegitim sind niemals Ereignisse, die außerhalb des personalen Geltungsbereichs einer normativen Ordnung liegen, also außerhalb der Rechtsgemeinschaft oder der moral community (siehe hierzu auch die Beiträge von Scheidecker, Duile und Seidel in diesem Band). Gerechtigkeitsgefühle sind daher eng verknüpft mit Gefühlen der Zugehörigkeit (belonging), also mit Identitätsfragen: wer gehört zur moral community –
2017). Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie in Bezug auf Normverstöße auftreten, etwa als Reaktion auf einen Rechtsbruch. Gerechtigkeitsgefühle werden nach unserer Definition nicht dadurch geweckt, dass als ungerecht empfundene Ereignisse geschehen, sondern spielen dann eine Rolle, wenn die normative Ordnung selbst als (un)gerechtfertigt und (nicht) unterstützenswert erscheint.
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oder einem bestimmten Ausschnitt daraus, für die besondere Regelungen gelten – und wer nicht? (Die relevante Bezugsgruppe kann freilich auch die gesamte Menschheit sein, wie im Falle der universell gedachten Menschenrechte.) Dabei sind im Anschluss an die oben dargestellte Rolle von Affekten und Emotionen für die Produktion individueller und kollektiver Subjekte auch Gerechtigkeitsgefühle an Subjektivierungsprozessen beteiligt.11 Auch die Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft kann gefühlt werden, und ihre Produktion in Prozessen erfolgen, die Affekte und Emotionen einschließen. Damit ist das Konzept der Gerechtigkeitsgefühle zugleich auf der Ebene individuellen Erlebens relevant, wie auch als politische Gefühle, die in großräumige Diskursprozesse eingebunden sind. Gerechtigkeitsgefühle treten niemals nur in Bezug auf eine normative Ordnung auf, sondern stehen immer in einem Spannungsverhältnis mehrerer Ebenen. Zum einen wird eine normative Ordnung immer anhand anderer, konkurrierender Normen gemessen, Gerechtigkeitsgefühle sind also immer in relative und relationale Bewertungsprozesse eingebunden. Zum anderen finden Legitimitätsbewertungen auch immer auf verschiedenen Skalierungsebenen statt. Als legitim oder illegitim können bewertet werden (a) teils großräumige normative Ordnungen, (b) einzelne Verfahren innerhalb dieser normativen Ordnungen und (c) einzelne Ereignisse innerhalb von Verfahren innerhalb normativer Ordnungen. So kann etwa ein bestimmtes Ereignis im Strafprozess, etwa die Zulassung eines bestimmten Beweisstücks als illegitim wahrgenommen werden, ohne dass damit der ganze Prozess als illegitim gelten müsste. Aber auch ein Verfahren, etwa der Strafprozess gegen einen bestimmten Angeklagten, kann als illegitim empfunden werden, ohne dass damit gleich die ganze Strafrechtsordnung in Frage stünde, und auch nicht unbedingt die einzelnen Prozesshandlungen. Es muss also auseinandergehalten werden, was Rechtsbetroffene im Einzelnen für legitim oder illegitim halten, und wie sich die genannten Skalierungsebenen zueinander verhalten. Schließlich haben Gerechtigkeitsgefühle auch eine historische Dimension. Gefühle über die Legitimität normative Ordnungen, Verfahren und Ereignisse können in mehr oder weniger gefestigten kulturell grundierten Emotionsrepertoires codiert sein, die im kommunikativen bzw. kulturellen Gedächtnis gespeichert sind (Assmann 1992). Affektive und emotionale Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen werden also kulturell tradiert und können von Akteur*innen durch historische Verweise und das Erzählen von Geschichten aufge-
11 Arjun Appadurai (1990) hat – allerdings in Bezug auf religiöse Gemeinschaften – in diesem Zusammenhang den Begriff der community of sentiment eingeführt.
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rufen und erinnert werden (siehe hierzu besonders die Beiträge von Duile und Bens in diesem Band). Dieser Band versammelt neben den beiden einordnenden Kapiteln sieben ethnographisch grundierte Studien über Gerechtigkeitsgefühle in verschiedenen kulturellen Kontexten. Gabriel Scheidecker zeigt anhand seiner ethnographischen Studien im südlichen Madagaskar auf, wie unterschiedliche Akteur*innen verschiedene emotionale und affektive Bewertungen von Gendarmen vornehmen. Scheidecker wählt dabei als empirischen Ausgangspunkt eine Analyse von Emotionsnarrativen und Beobachtungen, wonach dörfliche Akteur*innen Gendarmen und ihren Aktivitäten in erster Linie mit Angst begegnen. Das Angstspektrum reicht dabei von einem diffusen Unbehagen aufgrund einer möglichen Begegnung mit Gendarmen über die Sorge um Angehörige, die Besuch von Gendarmen erhalten, bis hin zu Furcht und Schrecken bei einer Verhaftung. Gendarmen werden dabei in den Bereich des zwischen den Verwandtschaftsgruppen geltenden Koordinationsrecht eingeordnet und weniger als staatliche Akteure in einem Subordinationsverhältnis wahrgenommen. Ihre Gewaltanwendung und Willkür wird damit ähnlich beurteilt, wie das Verhalten von Viehdieben: ärgerlich, furchteinflößend, aber nicht zwingend illegitim. Bei formal gebildeten Stadtbewohner*innen fällt die Beurteilung anders aus. Anstatt Angst kommen bei Ihnen Wut und Empörung über die als illegitim empfunden Handlungen auf, betrachten Sie deren Verhalten nämlich mit Bezug auf das staatliche Rechtssystem. Der Beitrag diskutiert auch die Frage, ob und inwiefern Interventionen, in der Regel eine gerichtliche Klage gegen die Gendarmen, zu einer Transformation von Gerechtigkeitsgefühlen auf der Seite der Dorfbewohner führen. Timo Duile widmet sich in seinem Beitrag der Rolle von Gerechtigkeitsgefühlen in juristischen Debatten um die Ausgrenzung des Atheismus aus dem indonesischen Staats- und Rechtsgefüge. Indonesien war nie eine Theokratie, auch wenn es seit der Unabhängigkeit immer wieder Bestrebungen islamistischer Gruppen gab und gibt, islamisches Recht in ganz Indonesiens einzuführen. Andererseits ist Indonesien auch kein säkularer Staat, denn das Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung (ca. 88% der knapp 250 Millionen Einwohner*innen bekennen sich offiziell zum Islam) gründet sich auf dem Glauben an einen Gott (Ketuhanan yang Maha Esa), was sich auch in der Ver-
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fassung, in der Staatsphilosophie Pancasila und in weiteren Gesetzen niederschlägt. Auf der Grundlage des Blasphemie-Gesetzes von 1965, dessen Verfassungskonformität 2009/10 nach einer emotional geführten Verhandlung vor dem obersten Gerichtshof bestätigt wurde, ist es verboten, öffentlich den Atheismus zu propagieren. Auf Basis einer Analyse dieses Prozesses analysiert Duile in seinem Beitrag, wie die rechtliche Ausgrenzung des Atheismus aus dem politischen Diskurs Indonesiens in affektiver und emotionaler Weise als legitim bzw. illegitim bewertet wird, also welche Gerechtigkeitsgefühle im Kontext von Blasphemie-Gesetzen eine Rolle spielen. Spezifisch wird der Frage nachgegangen, welche moralischen und emotionalen Begründungen in juristischen Auseinandersetzungen um Atheismus vorgebracht werden, und wie sich dies in affektiven Situationen umsetzt, mithin wie auf diese Weise Legitimität normativer Ordnungen strategisch erzeugt wird, und gleichzeitig Rechtsgemeinschaften produziert werden. Johanna Mugler untersucht Gerechtigkeitsgefühle, die südafrikanische Staatsanwälte gegenüber ihrem quantitativen Leistungsbemessungssystem entwickeln. Leistungsmessungssysteme haben in den letzten zwei Jahrzehnten in öffentlichen Organisationskontexten weltweit stark zugenommen. Befürworter*innen begrüßen die Einführung von Leistungsindikatoren, -ratings und -rankings als Maßnahmen, die die staatlichen Institutionen „effizienter“, „effektiver“ und „transparenter“ machen. Sozialwissenschaftliche Analysen betonen hingegen vornehmlich die schädlichen Konsequenzen der quantitativen Erfassung komplexer soziale Phänomene wie Gesundheit oder Gerechtigkeit, und heben hervor, dass Betroffene tiefen Unmut, große Skepsis und Angst gegenüber quantitativen Formen der Rechenschaftspflicht hegen. Dieser Beitrag erzählt eine andere Geschichte, nach der die untersuchten Staatsanwälte meistens positive Gefühle gegenüber ihrem Leistungsmessungssystem zum Ausdruck bringen. Angst vor Zahlen, audit mentalities und Zahlenspiele sind nicht charakteristisch für ihre Interaktion mit den numerischen Repräsentationen. Mugler zeigt, dass die positiven Gefühle von Staatsanwälten in Bezug auf die Quantifizierung ihrer Arbeit damit zu erklären ist, dass erstens die Ressourcenverteilung nicht eng mit dem Leistungsmessungssystem verbunden ist und zweitens das südafrikanische Strafrecht, bestimmte Prinzipien der Prozessordung und das Fehlen fortgeschrittener und etablierter Quantifizierungsketten einen Schutzwall gegen das übermäßige Vordringen von numerischen Druck in den Arbeitsbereich von südafrikanischen Staatsanwälten bieten. Martha-Cecilia Dietrich fragt in ihrem Beitrag nach der emotionalen und affektiven Komponente bei der Konstruktion von Feindbildern im Kontext des von terroristischer Gewalt und Gegengewalt geschüttelten Peru der 1980er und
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1990er Jahre. Während heute in Peru öffentliche Debatten zu Erinnerung und gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser umstrittenen Vergangenheit dominieren, scheinen gleichzeitig die Narrative der unterschiedlichen Akteur*innen polarisierter denn je. Dieser Polarisierung liegen neben machtpolitischen Interessen unterschiedliche Wahrnehmungen von Recht und Gerechtigkeit zu Grunde, die nicht nur die Autorität des staatlichen Rechtsapparates in Frage stellen, sondern auch die Menschlichkeit der Personen, die ihr Verständnis von Gerechtigkeit zu legitimieren suchen. Die diskursive Konstruktion von Selbst- und Feindbildern aus der Perspektive unterschiedlicher Akteur*innen (Soldat*innen einer antiterroristischen Spezialeinheit, Rebell*innen im Gefängnis und Familienangehörigen der Desaparecidos, der Verschwundenen) analysiert dieser Beitrag als Artikulationen von Gerechtigkeitsgefühlen bezüglich konfligierender normativer Ordnungen. Dass sich die verschiedenen Akteur*innen dabei auf differente Emotionsrepertoires beziehen, hat unterschiedliche Subjektivierungseffekte zur Folge. Dietrich argumentiert, dass die „Emotionalisierung“ des Diskurses mit der Schwierigkeit im Zusammenhang steht, Bewertungen von der Menschlichkeit des jeweils anderen zu etablieren. Dabei entwickelt sich ein entmenschlichter Diskurs, der greifbare soziale Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen hat. Katrin Seidel widmet sich in ihrem Beitrag divergenten Emotionsrepertoires in Bezug auf Gerechtigkeitsgefühle im Kontext des Verfassungsprozesses im Südsudan und dem Engagement westlicher Jurist*innen. Die derzeitigen politischen und militärischen Verhandlungen über den Modus von Staatlichkeit im Südsudan verdeutlichen, dass weder die top-down Produktion der Übergangsverfassungen (2005 und 2011) noch die derzeitigen Bemühungen um eine permanente Verfassung die staatliche Legitimität und Identität des neuen Staates herstellen bzw. konsolidieren konnten. In der pluralen und segmentierten Bevölkerung des Südsudans gibt es sehr unterschiedliche Ideen über Recht und Gerechtigkeit, Autorität und Loyalität. Damit verbunden sind entsprechend divergente Emotionsrepertoires in Bezug auf das rechtliche Feld. Vor diesem Hintergrund stellt Seidel anhand des Verfassungsgebungsprozesses dar, wie südsudanesisches Verfassungsrecht in transkulturellen, rechtlichen Übersetzungsprozessen produziert wird. Der Beitrag zeigt auf, dass der von (inter-)nationalen Akteur*innen vorformulierte Verfassungsprozess trotz der propagierten umfassenden Beteiligung aller politischen Akteur*innen eher als losgelöst von den Bedürfnissen und Hoffnungen der südsudanesischen Bevölkerung erscheint, eben deshalb, weil es an einer Perspektive auf Gerechtigkeitsgefühle fehlt. Ohne eine Verknüpfung mit den kulturell eingebetteten Emotionsrepertoires der Menschen im Südsudan wird nicht nur die proklamierte Idee zur Farce, dass die Verfassung ihre Autorität aus dem Willen des Volkes ableitet, sondern es erscheint die legitimierende
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Funktion eines so produzierten Rechtsdokuments kaum gegeben. Die Frage schließt sich an: kann gefühlte Legitimität innerhalb der von den (inter-) nationalen Akteur*innen vorgegebenen Verfahren der Verfassungsgebung verfahrensmäßig erzeugt werden? Um der pluralistischen Rechtswirklichkeit Rechnung zu tragen, erscheint es fundamental, dass die zukünftige Verfassung aus einem fruchtbaren Dialog und einer offenen Debatte heraus erwächst, um später von den Normadressat*innen auch akzeptiert zu werden und die Handlungsfähigkeit des öffentlichen Gemeinwesens garantieren zu können. Jonas Bens zeigt die Rolle von Gerechtigkeitsgefühlen für die Legitimität bzw. Illegitimität des Internationalen Strafrechtsgerichtshofs in Norduganda auf. Um der Legitimitätskrise des IStGH in Afrika auf die Schliche zu kommen, scheinen derweil in der rechtssoziologischen Legitimitätsforschung diejenigen Erklärungsansätze zu dominieren, die in verschiedenen Ausprägungen entweder Rational-Choice-Ansätze oder Modelle der Verfahrensgerechtigkeit (Procedural Justice) in den Mittelpunkt rücken. Solche Ansätze stehen allerdings in einem stark rationalistischen Paradigma, und vernachlässigen bisweilen, dass in Bewertungsprozessen der Legitimität einer Pluralität normativer Ordnungen Affekte und Emotionen eine entscheidende Rolle spielen. Anhand von ethnographischem Material aus Norduganda zeigt Bens, wie die Rechtsbetroffenen in Norduganda einen komplexen normativen Pluralismus dadurch navigieren, dass sie historische und biographische Narrative erzählen, die bei ihnen selbst und ihren Zuhörer*innen Affekte und Emotionen aufrufen, mit denen sie ihre Legitimitätsbewertungen rechtfertigen. Der Beitrag plädiert für die konsequente Einbeziehung von Gefühlsäußerungen in die Analyse der Legitimitätsbewertungsprozesse von Rechtsbetroffenen. Sirin Knecht fragt nach Gerechtigkeitsgefühlen im Ausnahmezustand, die sich bei Palästinenser*innen einstellen, die in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes einem komplexen Identitätskartenregime unterworfen sind. Das Identitätskartensystem in Israel und den palästinensischen Gebieten unterteilt die palästinensische Bevölkerung in drei rechtliche Kategorien in Abhängigkeit ihrer geographischen Verortung: (Ost-)Jerusalemer Kommunalgebiet, Westjordanland und Gaza. Das Identitätskartenregime fungiert als „geographisch-paradoxe“ und „ethno-nationale“ Grenze außerhalb tatsächlicher Barrieren und wird in der geound mikropolitischen Mobilität alltäglicher Praktiken sichtbar. Auf Basis ethnographischer Beobachtungen an Grenzübergängen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten untersucht dieser Beitrag das Identitätskartensystem für die Palästinenser*innen als analytisches Instrument zur Interpretation von normativer sozialer Ordnung, Kategorisierung und Überwachung. Dabei werden Grenzübergänge als affektive Arrangements beschrieben, die den Ausnahmezu-
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stand in die Körper der Beteiligten einschreiben, und mithin Gerechtigkeitsgefühle produzieren. Die Identitätskarten wirken dabei als Kristallisationspunkt affektiver und emotionaler Wahrnehmungen von Gerechtigkeit, Gleichheit sowie Legitimität, die weiträumigere Fragen betreffen als allein die alltägliche Mobilitätspraxis. Verhandelt wird vielmehr die affektiv-emotionale Wahrnehmung der Legitimität bzw. Illegitimität der politisch-rechtlichen Ordnung im (mehr oder weniger partiellen) Ausnahmezustand. Im Juli 2015 hat an der Freien Universität Berlin ein neuer DFG-Sonderforschungsbereich „Affective Societies: Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ seine Arbeit aufgenommen. Das Verbundprojekt widmet sich der fundamentalen Bedeutung von Emotionalität und Affektivität für das soziale Zusammenleben. Im Rahmen eines der 16 Teilprojekte mit dem Titel „Gerechtigkeitsgefühle und Transitional Justice: Affektive Transkulturalität in Verfahren des Internationalen Strafgerichtshof“ untersuchen die Herausgeber die Rolle von Gefühlen im Internationalen Strafrecht. Innerhalb des Sonderforschungsbereiches gibt es einen intensiven Austausch über theoretische und methodische Fragen und wir danken allen unseren Kolleg*innen für ihre Hilfe und Anregungen. Dies betrifft insbesondere die SFB-Sprecherin Prof. Dr. Birgitt Röttger-Rössler und die Projektleiterin Dr. Anita von Poser, die als Herausgeberinnen der Reihe EmotionsKulturen / EmotionCultures die Entstehung dieses Bandes sehr unterstützend begleitet haben. Um über die Diskussionen im Sonderforschungsbereich hinaus die Bedeutung von Gerechtigkeitsgefühlen sowohl aus kultur- und sozialtheoretischer als auch aus rechtstheoretischer Perspektive auszuloten, haben die Herausgeber einen Workshop im Rahmen der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) 2015 in Marburg organisiert, deren Beiträge zur Grundlage dieses Bandes wurden. Wir danken den Teilnehmer*innen dieses Panels für ihre produktiven Diskussionsbeiträge, die für die weitere Entwicklung des Bandes sehr hilfreich waren. Schließlich gebührt unserer studentischen Projektmitarbeiterin Leonie Benker besonderer Dank für ihre umfangreiche Mitarbeit an der Redaktion dieses Bandes. Evelin Klein danken wir für ihre freundliche Genehmigung, ihr Werk „Justitia“ als Titelbild auf diesem Band abzudrucken.
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J AN -C HRISTOPH M ARSCHELKE
Allen gehört, was Du denkst, Dein eigen ist nur, was Du fühlst. FRIEDRICH SCHILLER
1806 fand das Rechtsgefühl Eingang in die Literatur (Riezler 1946: 3 f.; Meier 1986: 14).1 Kleist resümierte die tragische Geschichte seines Michael Kohlhaas mit den Worten: „Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ (Kleist 1993: 3). Der Beginn des wissenschaftlichen Diskurses wird in die 1870er Jahre gelegt (vgl. Meier 1986: 11), als G. Rümelin (1948) und Jhering (1965, 1992) darüber stritten, ob das Rechtsgefühl Erkenntnisquelle richtigen Rechts sein könne. Vorübergehend abgebrochen wurde die Diskussion 1986/87: Meier stellte in einer Diskursanalyse fest, man wisse noch immer nicht, was mit „Rechtsgefühl“ gemeint sei (Meier 1986: 12). Gar von „Abgesang“ und „Abschied“ schrieben Rasehorn (1986) und Meyer-Hesemann (1987). Diese zeitliche Einfassung dient mir als erste von zwei Gegenstandsbegrenzungen. Die zweite ist inhaltlich und notwendig ob der enormen Bandbreite des multidisziplinären Rechtsgefühldiskurses. Der Rechtsgefühlsbegriff wird teils de-
1
Laut Riezler (1946: 4) hat A. Feuerbach das Wort bereits früher verwendet.
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skriptiv verwendet, teils normativ. Beide Bestandteile des Begriffs „Rechtsgefühl“ sind präzisierungsbedürftig.2 Recht verlangt nach einer Abgrenzung zu Gewohnheit und Konvention, zu Gerechtigkeit und Moral; das Gefühl insbesondere zur Kognition, zu Denken und Bewusstsein. Eine Fülle weiterer Konzepte könnte man teils gleichsetzen, teils abgrenzen: Gerechtigkeitsgefühl, Rechtsbewusstsein, -akzeptanz, Schuldgefühl, moralisches Urteil, Werturteil, u.v.a. Ziel ist es, den Abgesängen auf das Rechtsgefühl einen Beitrag zur Systematisierung der rechtssoziologischen/-psychologischen Konzeptionen (inhaltliche Einfassung des Gegenstands) aus besagtem Zeitraum entgegenzusetzen. Ich stelle zunächst einige Ansätze vor (II.). Anschließend versuche ich, das Rechtsgefühl vom (kognitiven) Rechtsbewusstsein abgrenzen, damit es wissenschaftlich eigenständig verwendbar bleibt (III.). Abschließend skizziere ich Systematisierungsmöglichkeiten mittels einer jüngeren Emotionstheorie sowie Einflussfaktoren (IV.).
Der unter I. umgrenzte Rechtsgefühlsdiskurs lässt sich in fünf Stationen fassen, von denen hier die zweite und dritte vertieft dargestellt werden. Die erste Station4 ist überwiegend in der Rechtsphilosophie beheimatet und ein Nebenschauplatz der Naturrecht-versus-Positivismus-Debatte.5 Diese lässt sich grob vereinfachend auf zwei Fragen herunterbrechen: Gibt es objektiv richtiges Recht und wenn ja, wie lässt es sich erkennen?6 Naturrechtlich könnte man das Rechtsgefühl als – womöglich gar angeborene – Erkenntnisquelle richtigen
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S. zum Recht z.B. Raiser (2007: 179), zum Gefühl z.B. Kochinka (2004).
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Zur Bibliografie dieses Diskurszeitraums s. v.a. Meier (1986). Überraschenderweise fehlt eine Bezugnahme auf Ehrlich, der Rechtsnormen von anderen Normen durch die Art der Gefühlstöne unterschied, die die Normübertretung auslöst (1913: 132).
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Jüngst differenziert zu wichtigen Autor*innen dieser Station Schnädelbach 2015. Ausführlich Riezler 1946, prägnant Bihler 1979: 1-23.
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Daher kann man die zeitlich später entstandenen, naturrechtlichen Beiträge von Isay (1929) und Hubmann (1954/1956) zu diesem Abschnitt zählen, ebenso den von M. Rümelin (1925), der sich auf das „Volksbewusstsein„ bezieht.
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S. die Kapitel 2-4 aus Kaufmann/Hassemer/Neumann 2011: 26 ff.
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Rechts verstehen: das Recht entspringt dem Rechtsgefühl. Positivisten kehren die Abhängigkeit um: das Rechtsgefühl wird erlernt anhand des jeweils geltenden positiven Rechts. Vier Themen kennzeichnen diese Station: Erstens die Genese des Rechtsgefühls. Zweitens inwieweit das Rechtsgefühl der Bürger*innen bzw. des Volks heilsamen Einfluss auf das positive Recht hat.7 Drittens, wie man dessen syn- wie diachrone Vielfalt und Wandelbarkeit mit der Idee erkennbarer objektiver Gerechtigkeit vereinbaren kann (Naturrechtler*innen) bzw. mit der wechselseitigen Stabilisierung von Rechtsgefühl und positivem Recht (Positivist*innen). Viertens das Verhältnis von Gefühl und Vernunft: Laut Bihler erkaufen sich verschiedene Autor*innen die Kohärenz ihrer Rechtsgefühlkonzeptionen dadurch, dass sie die Vernunft einschleusen (Bihler 1979: 9, 12 ff.).8 Diese Station vernachlässige ich, sie ist schwerpunktlich mit normativen Rechtsgefühlskonzepten befasst. Die zweite Station ist durch dreierlei charakterisiert: erstens wird das Rechtsgefühl als empirisch-deskriptives Konstrukt behandelt, zweitens wendet man sich der noch jungen Psychologie zu. Drittens rückt die Rolle der Richter*in in den Vordergrund. Das Rechtsgefühl wird Teil der Theorie juristischen Entscheidens. Aus dieser Station behandele ich nicht den ersten (Kübl 1913), aber den „umfaßendste[n] Versuch“ (Meier 1986: 145) einer systematischen Abhandlung des Rechtsgefühls: das Buch von Riezler (19469). Die dritte Station – die Dissertation von Bihler (1979) – modernisiert Riezlers Beitrag und verengt ihn. Bei Bihler ist das Rechtsgefühl endgültig kein Gefühl sui generis mehr, sondern eine allgemeine Regung, deren Kennzeichnung als „Rechtsgefühl“ aufgrund der sie auslösenden Situation und der Art ihres Ausdrucks möglich wird. Die vierte Station ist ein Tagungsband (1985). Die Autor*innen weiten den Rechtsgefühlsdiskurs in Richtung Soziobiologie, Entwicklungs- und Sozialpsy-
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Zumindest darin sind sich G. Rümelin und Jhering einig gewesen (Schnädelbach 2015: 53). Bihler weist auf Rümelins ideologisch-politischen Hintergrund hin: sein dem Savignyschen Volksgeist treues Rechtsgefühlkonzept redete dem deutschen Nationalismus das Wort (1979: 2). S. zur Beziehung von Rechtsgefühl und subjektiven Rechten bei Jhering auch Marschelke 2016.
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Das Problem normativer Positionen ist, dass sie entweder das Gefühl für unfehlbar halten müssen, was jegliche rationale Gerechtigkeitsdiskussion verunmöglicht (Bihler 1979: 20). Oder sie integrieren eine rationale Kontrolle in ihre Rechtsgefühlkonzeption. Dann geraten sie leicht ins Fahrwasser des klassischen, rationalistischen rechtsphilosophischen Gerechtigkeitsdiskurses. Das Gefühl droht bedeutungslos zu werden.
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Die dritte Auflage von 1969 ist unverändert.
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chologie, Strafrechtstheorie, Kriminologie10 und Effektivitätsforschung (Rechtssoziologie) aus. Bei näherer Betrachtung fügen sie dem Fundus indes nur punktuell neue Aspekte hinzu. Das Ergebnis kann man ebenso als inspirierendes Kaleidoskop bezeichnen wie als Offenbarungseid (Rasehorn 1986). Diese Vielfalt provozierte Meiers Diskursanalyse (1986), die fünfte Station. Sie ist indes mehr Überblick und Ordnungsaufruf als Weiterentwicklung des Rechtsgefühlkonzepts. Seitdem ist es still um das Rechtsgefühl geworden.11 In den 1990er Jahren wurde zwar einige Energie auf die verwandten Themen Rechtsbewusstsein und akzeptanz verwendet (z.B. Pichler/Giese 1993; Würtenberger 1996; Lampe 1997; Pichler 1998), doch spielt das Rechtsgefühl hier kaum noch eine Rolle. Erst in jüngster Zeit flammt das Interesse wieder auf, wobei wesentliche Impulse aus der Philosophie zu kommen scheinen.12 Riezlers Anliegen ist der Entwurf einer deskriptiven Rechtsgefühlskonzeption, nicht nur, aber vor allem als Teil einer Theorie juristischer Entscheidung. Zu diesem Zweck hat Riezler viele Beiträge der jungen (und noch stark philosophisch gefärbten) Psychologie rund um die vorletzte Jahrhundertwende erfasst (z.B. Riezler 1946: 1, Fn. 1). Wir finden bei ihm hilfreiche Unterscheidungen (a) und grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Emotion und Kognition (b).
Riezler ordnet dem Rechtsgefühlsbegriff drei Erscheinungsformen zu: Zwei affektive und eine nicht-affektive, wobei mit affektiv, die „Repräsentation einer Bewertung“ (gut/schlecht bzw. angenehm/unangenehm) gemeint ist. Erstens der nicht-affektive „sensus iuridicus“, ein intuitives Erfassen dessen, wie man einen
10 Kriminologie und Strafzumessungstheorie sind im Diskurs kaum präsent. Soweit ersichtlich bringt erst Station 4 kriminologische Blickwinkel ein. 11 Ausnahmen: z.B. Zapka 1987; eher philosophisch-theologisch Macke 2004; mit Bezug zur griechisch-römischen Antike: Barta 2010. 12 S. z.B. die Tagung „Gefühl – Recht – Gerechtigkeit„ (Rostock, 2014) der Gesellschaft für Neue Phänomenologie e.V. sowie der Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie zum Thema „Law, Reason and Emotion„ (Washington, USA, 2015).
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Sachverhalt nach geltendem Recht behandeln müsste. Betont wird das intellektuelle Moment des Rechtsgefühls (zum subjektiven Erleben s. b), zumal dieser „juristische Takt“ (Judiz) unabhängig davon ist, ob der/die Akteur*in die intuitiv gewonnene juristische Lösung gutheißt oder nicht. Die zweite – und erste affektive – Form des Rechtsgefühls ist die „gefühlsmäßige Neigung zum Rechtsideal“. Sie beruht letztlich auf der Bewertung positiven Rechts anhand eines Rechtsideals – bei Diskrepanz wird Disharmonie (Missfallen, Unlust) ausgelöst, bei Übereinstimmung Harmonie (Befriedigung, Freude) (ebd.: 16). Mit Rechtsideal sind Moralvorstellungen gemeint, die relativ sind: zum einen kulturrelativ und zum anderen für die/den Einzelne*n von seinen utilitären Präferenzen nicht immer zu unterscheiden (ebd.: 89 ff.). Die dritte Erscheinungsform ist die „Achtung vor der bestehenden Rechtsordnung“ (Rechtssinn) (ebd.: 8, 19). Illegalität löst bei dem/der Akteur*in Disharmonie aus, Legalität Harmonie. Rechtsidealneigung und Rechtssinn können empirisch zusammenfallen, wenn Rechtsideal und -ordnung in Einklang stehen. Analytisch unterscheiden sie sich: der/dem nach Rechtsordnung Strebenden ist bereits „die Aufrechterhaltung der gegebenen Ordnung als solcher ethischer oder politischer Selbstzweck […]“ (ebd.: 21). Alle drei Arten des Rechtsgefühls haben zweierlei gemein. Erstens: „Gemeinsam ist allen Arten des Rechtsgefühls die Vorstellung, dass bestimmte Zustände oder Vorgänge irgendwelche Betrachtung aus rechtlichen Gesichtspunkten ermöglichen oder erfordern, dass also überhaupt die Kategorie des Rechts auf sie anwendbar sei.“ (Ebd.: 9)
Riezler grenzt den Gegenstand in zweierlei Hinsicht ab: erstens rechtliche Situationen von solchen, in denen es um bloße Höflichkeitsfragen geht13, zweitens Recht von Moral. Allerdings hält er letzteres im Gefühl selbst nicht für möglich. „Wenn auch Recht und Moral verschieden sind, so treten die Verschiedenheiten doch […], wo rechtliches und moralisches Bewusstsein in der Gefühlssphäre bleiben, in der Regel nicht deutlich hervor (ebd.: 40). […E]in klarer Gegensatz zwischen Rechtsgefühl und ethischem Bewußtsein [lässt sich] nicht herleiten […]. Denn gerade in die emotionalen Momente der Vorstellung von Recht und Unrecht wird das Bewußtsein jenes Unter-
13 Womöglich nicht zum Rechtsgefühl gehört demnach – Riezler zitiert ein Beispiel von Hoche – die Erregung eines Opernliebhabers über das Knistern des Bonbonpapiers einer Dame (1946: 9, Fn. 25). Unklar bleibt indes, ob das tatsächlich kein Rechtsgefühl ist oder nur ein mangelhaftes (vgl. 1946: 9).
42 schiedes kaum deutlich aufgenommen, das Gefühl ist sogar eher geneigt ihn ganz zu verwischen.“ (Ebd.: 81)
Über den Gegenstand bestimmt Riezler das Gewissen als Unterfall des Rechtsgefühls: Jenes beurteile nur das eigene Verhalten, das Rechtsgefühl auch das anderer (ebd.: 40).14 Die zweite Gemeinsamkeit der Rechtsgefühlarten besteht darin, dass sie sowohl als allgemeine, „gleichsam latente“ (ebd.: 50) Disposition auftreten können als auch als „gegenwärtiger psychischer Zustand“ (ebd. 9 f.). Dieser ist von jener beeinflusst. Die Disposition ist in Abhängigkeit von gemachten Erfahrungen veränderlich (ebd.: 10). Riezler definiert das Rechtsgefühl also durch seinen Gegenstandsbezug und differenziert nach Affektivität (Bewertung) und innerhalb dieser nach dem angelegten Maßstab (Rechtsideal, Einhaltung der Rechtsordnung). Grundsätzlich, so Riezler, seien Rechtsgefühle geistige Gefühle, „bei denen intellektuelle Funktionen wesentlich mitspielen […].“ (Ebd.: 11) Es sei eine Form „emotionalen Denkens“. (Ebd.: 12 ff.)15 Als Unterscheidungsmerkmal zieht Riezler das Ausmaß der Kognitivität heran – zu zweierlei: zum einen um die erste Form des Rechtsgefühls („sensus iuridicus“) von den beiden anderen abzugrenzen; zum anderen um das Rechtsgefühl vom Rechtsbewusstsein zu unterscheiden. Zur rechtsgefühlsinternen Unterscheidung: Beim „sensus iuridicus“ ist der emotionale Anteil bloß „begleitendes Moment“. Er erschöpfe sich in der sogenannten Funktionslust. Der/die Akteur*in verspüre ein „Zusammenfließen“ von „Befriedigung über den leichten, sicheren Ablauf des Denkprozesses“ (Gewahrwerden seiner Fähigkeit) und „Harmoniegefühl“, weil sein Ergebnis mit der Rechtsordnung übereinstimmt. Riezler folgert: „Darum ist auch natürlicherweise das Rechtsgefühl im Sinne der Fähigkeit zu intuitiver Entscheidung von Rechtsfragen nicht beim Kinde und nicht beim ungeschulten Laien son-
14 Weiterer Unterschied: ein übersteigertes Gewissen führe zu Minderwertigkeitsgefühlen, ein übersteigertes Rechtsgefühl zu größerem Selbstbewusstsein. 15 Mit Verweis auf Heinrich Meiers Werk „Psychologie emotionalen Denkens„ von 1908 (s. Riezler 1946: 13, Fn. 33). Das Konzept ist auch noch in heutigen Emotionstheorien zu finden (Senge 2013: 25 m.w.N.).
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dern beim fachmännisch gebildeten Juristen am stärksten, dessen Vorstellungen sich schon unzählige Male auf gleiche oder gleichartigen Bahnen bewegt haben.“ (Ebd.: 14)
Unter Rückgriff auf den reichen Erfahrungsschatz ergänzt das Expert*innenGehirn unvollständige Informationen automatisch um fehlende Elemente.16 Der/die Lai*in indes dürfte eher zum Rechtsideal neigen. Das wertet Riezler nicht negativ. Im Gegenteil: Jurist*innen seien gefährdet, ihre Ideale berufsbedingt zugunsten der Rechtskonformität aufzugeben und unkritisch zu werden. Bei den affektiven Rechtsgefühlsformen ist der emotionale Anteil gewichtiger. Schon bei Riezler finden wir die Auffassung, dass sich Gefühle aus „Komponenten“ zusammensetzen (näher unten IV.1.). Die beiden affektiven Rechtsgefühle weisen drei auf: Wertungs-, Harmonie- und Strebungsgefühl (ebd.: 18, 19). Das Streben führt zugleich zum Ausdruck des Gefühls: Äußerungen oder Betätigungen zur Verwirklichung von Recht oder Rechtsideal (ebd.: 112). Riezler trennt Strebungsgefühl und Ausdruck des Gefühls jedoch nicht eindeutig (vgl. ebd.: 18, 84 ff., 112).17 Den unauflösbaren Zusammenhang von Emotion und Kognition in den affektiven Rechtsgefühlsformen beschreibt Riezler wie folgt: „Das Harmoniegefühl [d.i. Konsonanz von Maßstab und Bewertungsobjekt, JCM] ist hier, wie zumeist, zugleich ein Wertungsgefühl […]. Dieses Gefühl ist aber hervorgerufen durch kognitive Vorstellungen, die ein Werturteil auslösen, von dem sich das Wertgefühl nicht trennen lässt. […]. Auch [das] Strebungsgefühl, das im Rechtsgefühl steckt, beruht auf kognitiver Grundlage, […ist] durch denselben Komplex intellektueller Vorstellungen motiviert wie das Wertungsgefühl.“ (Ebd.: 17)
Die Abgrenzung des Rechtsgefühls vom Rechtsbewusstsein ist nach Riezler eine graduelle (ebd.: 23 f.). Ganz rationalistisch konnotiert er das Gefühl als etwas undeutliches und dunkles, das Bewusstsein hingegen als etwas klares und helles. „Faustregel“ der Abgrenzung: Je stärker kognitive Elemente den psychischen
16 Riezler spricht – in Wundtscher Terminologie – von „Assimilation„, die „besondere Beschleunigung des Prozesses der apperzeptiven Analyse und Synthese„ (1946: 15). Ähnlich charakterisiert Weimar das Judiz unter Rückgriff auf die Gestaltpsychologie als „intuitiver Erkenntnisakt erster Näherung, der trotz fehlender Explizität das Urteil wesentlich erfaßt hat„ (Weimar 1969: 110). Man könnte auch von Schemata oder Frames sprechen. 17 Daher identifiziert Bihler bei Riezler nur zwei Komponenten (rationale plus emotionale) (1979: 16 f.).
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Zustand bestimmten, desto eher dürfte dieser als Rechtsbewusstsein zu bezeichnen sein. Riezler unterscheidet drei Formen des Rechtsgefühls: den kognitiv geprägten „sensus iuridicus“, die affektiveren Rechtsidealneigung und Rechtssinn. Letztere bestehen aus drei Komponenten: Wertungs-, Strebungs-, Harmoniegefühl, wobei die ersten beiden auf kognitiven Vorstellungen (Urteil) beruhen. Ausdruck finden sie in Äußerungen und Taten, die auf Verwirklichung des jeweiligen Wertmaßstabs gerichtet sind. Überwiegen die kognitiven Elemente eines psychischen Zustandes die emotionalen bei Weitem, ist adäquater von Rechtsbewusstsein zu reden. Gefühle lassen sich als Rechtsgefühle durch die Kombination aus Gegenstandsbezug (Sachverhalt mit Bezug zum positiven Recht) und Maßstab bestimmen. Sie liegen entweder als Disposition vor oder als aktueller psychischer Zustand. Riezler sieht zwar die Gefahr, dass Berufsjurist*innen unkritisch werden – ihr Rechtsideal also zugunsten des Rechtssinns verkümmert. Der Rechtsanwendung abträglicher sei es indes, wenn Richter*innen Gesetzeslücken nach ihren Rechtsidealen ausfüllen, die Lücke jedoch – beseelt vom Rechtssinn – nicht bemerken (ebd.: 186). Dieses Zusammenfallen der zwei Rechtsgefühlsarten als Erklärung für unreflektierte Gesetzesanwendung hat Bihler als „bleibende[n] Verdienst“ Riezlers gewürdigt (Bihler 1979: 17). Mag das Rechtsgefühl im Einzelfall befruchtend wirken, droht es im Übrigen, Rationalität und Legitimität des Rechts zugunsten von Willkür oder Faulheit zu schmälern (Riezler 1946: 189 f.). Dass Riezler den so kognitiven „sensus iuridicus“ als Gefühl bezeichnet, ist damals (1946: 16, Fn. 41, 17 m.w.N.) wie heute umstritten. Bewusstsein und Kognition scheint er nicht zu unterscheiden, was ebenfalls streitig ist (z.B. Mees 1991: 176 f.). Bihler baut auf Riezler auf, dessen Konzept aber deutlich um. Riezler orientiere sich bei seiner Dreierkonzeption am „methodischen Ideal des Fühlenden bei der Rechtsfindung“ (Bihler 1979: 21). Das hält Bihler für ein überkommenes Erbe aus Station eins. Er trennt das Gefühl konzeptionell endgültig vom Recht, beseitigt Riezlers Dreidimensionalität, verwirft die Idee eines intellektuellen Gefühls („contradictio in adiectio“) (ebd.: 23) und die Unterscheidung zwischen Disposi-
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tion und aktuellem Zustand. Die Art und Weise, wie Riezler im Rechtsgefühl kognitive und emotionale Elemente als untrennbar miteinander vermischt darstellt, ist Bihler zufolge eine Vermeidungsstrategie, um die gefühlsmäßige Komponente nicht näher zu bestimmen zu müssen. Riezlers undifferenziertes Konstrukt sei für eine empirische Überprüfung nicht verwendbar (ebd.: 17 f., 148). Bihler konzipiert das Rechtsgefühl als Verhalten. Statt drei benennt er vier Komponenten: Erstens den Gefühlsauslöser oder Stimulus (ein juristischer Konflikt), zweitens das „zuständliche Fühlen“ als Reaktion auf diesen Reiz, drittens den Ausdruck dieses Gefühls (Gerechtigkeitsaussage) und viertens die Rationalisierung des Gefühls (Begründung der Gerechtigkeitsaussage). Für Bihler gibt es kein Rechtsgefühl sui generis. Ein Gefühl wird zum Rechtsgefühl durch die Qualifikation seines Stimulus als juristisch und seines Ausdrucks als „gerecht“. Methodologisch bedarf es für die Erforschung des so konzipierten Rechtsgefühls sowohl der „erlebnisdeskriptiven“ Binnenperspektive der/des Fühlenden (für Komponenten eins und zwei) als auch der „verhaltensdeskriptiven“ Außenperspektive einer/eines Beobachter*in (für Komponenten drei und vier). Die Entwicklung seines Rechtsgefühlsbegriffs schließt Bihler mit einer umfassenden Definition ab: „Das Rechtsgefühl ist die spontane Stellungnahme in einem juristischen Konflikt auf der Seite eines oder mehrerer Beteiligter. Es wird […] als Empathie […] wahrgenommen. Die Stellungnahme ist Resultat eines Identifikationsprozesses, der dadurch ausgelöst wird, dass […] der Fall […] Aufforderungscharakter hat. Ein verbaler Ausdruck […] des […] zuständlichen Fühlens ist die Gerechtigkeitsaussage. In ihr wird ein Bezug zwischen eingenommenen Standpunkt und der subjektiven Gerechtigkeitsvorstellung hergestellt, indem ihm das Prädikat ‚gerecht’ zugeschrieben wird. Die Legitimierung der Gerechtigkeitsaussage durch ihre Verbindung mit als evident angesehenen rechtlichen Begründungen stellt eine Rationalisierung des Gefühls dar und ermöglicht die Berufung auf das Gefühl in der öffentlichen Diskussion um die erfolgte Stellungnahme.“ (Ebd.: 59)
Jedes Gefühl ist eine Reaktion auf einen Stimulus. Analytisch sind beide zu trennen, empirisch bilden sie eine kausal verbundene Einheit. Daher hält Bihler es nicht für sinnvoll, ein dispositionelles Rechtsgefühl anzunehmen. Eine solche Disposition wäre nur durch ihre aktuelle Manifestation nachweisbar. Bihler konzipiert die Reaktion als spontane Stellungnahme, als Parteinahme einer/eines Dritten für Beteiligte eines Konflikts. In puncto Anwendungsbezug
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ist seine Theorie für Richter*innen gedacht, sie gilt aber auch für jede*n andere*n Dritte*n. „Es wird bei der Kennzeichnung des Rechtsgefühls als Stellungnahme im Konflikt […] nicht darauf abgestellt, wie die Stellungnahme inhaltlich beschaffen ist, wer sie abgibt und warum gerade so und nicht anders […]“ (ebd.: 27). Die Spontaneität dient dazu, das Rechtsgefühl als unmittelbare Reaktion auf die erste Konfrontation von kognitiven Bezugnahmen zu unterscheiden.18 Sie muss nicht mit der letztlich gefällten Entscheidung identisch sein. Jeder weitere Input im Fallverlauf – z.B. eine Zeug*innenaussage – kann einen erneuten Stimulus darstellen. Erfassbar ist die Reaktion nur mittels Befragung der/des Fühlenden – also auf „erlebnisdeskriptiver“ Ebene. Der Stimulus ist ein juristischer Konflikt mit Aufforderungscharakter. In Bezug auf den „juristischen Konflikt“ sind ein objektiver und ein subjektiver Aspekt zu beachten. Erstens: Ob ein Konflikt juristisch ist, ist „objektiv danach zu bestimmen, ob für eine*n Beteiligte*n ein Justizgewährungsanspruch besteht“ (ebd.: 31). Der Konflikt selbst kann auch ein hypothetischer sein, ein juristischer Lehrbuchfall oder eine Alltagsnarration (vgl. ebd.). Unverrechtlichte Alltagskonflikte schließt er aus dem Gegenstandsbereich des Rechtsgefühls aus. Zweitens: Auslöser für das Gefühl ist nicht das „objektive“ Geschehen, sondern der Bewusstseinsinhalt, der durch subjektive Rezeption des Konflikts entsteht. Methodische Konsequenz ist, dass die Konfliktwahrnehmung als Situationsdefinition mitzuerheben ist.19 Zur spontanen Stellungnahme führen nur Fälle mit „Aufforderungscharakter“. Der ist gegeben, wenn sich die/der Dritte mit der Position einer Konfliktpartei identifiziert. „Entweder der Entscheidende identifiziert sich mit der Position eines der am Konflikt Beteiligten, er nimmt also empathisch Stellung und sein Rechtsgefühl ‚spricht’ oder aber sein Rechtsgefühl ‚schweigt’, da er gefühlsmäßig nicht berührt ist. In diesem Fall muß die erste Stellungnahme – da sie nicht spontan und emotional erfolgt – auf einem rationalen Denkprozeß beruhen.“ (Ebd.: 73)
18 Spontaneität soll auch den Unterschied zum „sensus iuridicus„ ausmachen, der tatsächlich nicht spontan sei, sondern „rechtlich breit ausgetretenen Pfaden„ folge und letztlich rationalen Kriterien gehorche (Bihler 1979: 29). Bei Spontaneität geht es also nicht bloß um den zeitlichen Abstand der Reaktion. 19 Es wäre methodisch unsauber, die Reaktionen verschiedener Personen auf „einen Fall„ im „objektiven„ Sinne zu vergleichen. Vergleichbarkeit des Stimulus ist erst gegeben, wenn ihre den Fall erst konstituierende Wahrnehmung wesentlich gleich ist (s. Bihler 1979: 32).
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Dieser Identifikationsprozess, den Bihler an Freuds Tiefenpsychologie orientiert, erfolgt in vier Stufen (ebd.: 36 f.), die ich vereinfache und auf drei reduziere. Erstens: Die/der Dritte nimmt eine partielle Gemeinsamkeit mit einer Konfliktpartei wahr. Das kann jede beliebige Eigenschaft der Person (Aussehen, Herkunft, Einstellung etc.) sein oder ihre Interessenlage im Konflikt. Zweitens: Diese partielle Gemeinsamkeit bewertet die/der Dritte als für sich (individuell und biografisch) (ebd.: 37, 39, 42) bedeutsam („Bewertung als Sonderbeziehung“). Drittens: Infolge dessen kommt es zu einer (Teil-)Identifikation (Angleichung) mit der Partei. Dieser Prozess, der zumeist und weitgehend unbewusst erfolgt, führt dazu, dass die/der Dritte die auffordernden Eigenschaften der Konfliktpartei in sich aufnimmt: Gewissermaßen wird sie/er selbst Partei (ebd.: 43). Das Gefühl der/des Dritten übernimmt die erste Person: „Ich will nicht, daß ,mir' (d.h. der-/demjenigen, mit der/dem sich die/der Fühlende identifiziert) das geschieht, was ,mein*e' Kontrahent*in will“ (ebd.: 54). Der Identifikationsmaßstab ist eine Black Blox. Das ist beabsichtigt. Ob Stereotyp, eigene Unrechtserfahrung oder nachhallende Buchlektüre – die Identifikation kann von jeder Art vergangenem Erlebnis ausgelöst werden. Aus diesen Erfahrungen sind Wertmaßstäbe entstanden, die Objekt(klass)en „anhaften“ bzw. sie „auszeichnen“. Ein solches Objekt (ggfs. unbewusst) wahrzunehmen, assoziiert den zugehörigen Wertton (näher unten d). Bihler radikalisiert die bei Riezler schon angesprochene Relativität und Subjektivität des Rechtsideals. Das subjektive Erleben dieses Gefühls bezeichnet Bihler als Empathie (Mitund Einfühlung) (ebd.: 53).20 Es bezieht sich auf die Identifikation im konkreten Fall, nicht auf einen Wert namens „Gerechtigkeit“ (ebd.: 54). Daraus folgt für Bihler, dass die Klassifikation von Gefühlen nicht auf Erleben oder zugrunde liegenden Erfahrungen beruht, sondern vom Ausdruck abhängt (vgl. ebd.: 52 f.). Die konstitutive Bedeutung des juristischen Konflikts für das Rechtsgefühlskonzept liegt darin, dass sie den Ausdruckskontext vorgibt. Zum Ausdruck kommt das Rechtsgefühl in der Gerechtigkeitsaussage. Sie ermöglicht erst den Rückschluss, dass ein (Rechts-)Gefühl gewirkt hat (ebd.: 52). Diese Gerechtigkeitsaussage besteht häufig aus Prädikat („gerecht“) und Begründung (ebd.: 53). Durch das das Gefühl ausdrückende Gerechtigkeitsprädikat
20 Allerdings weist er daraufhin, dass das Verhältnis von Identifikation und Einfühlung sowie Mitgefühl bei Freud ungeklärt blieb (1979: 37, Fn. 129).
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entsteht ein Werturteil (ebd.: 36 f.), eine rein subsumtiv gewonnene juristische Entscheidung indes ist für Bihler keines (ebd.: 121). Die Gerechtigkeitsaussage verbindet das Empathiegefühl der Identifikation mit dem Recht, obwohl das Gefühl auf etwas beruhen kann, was mit Konflikt, Recht oder Gerechtigkeit nichts zu tun hat: etwa der (unbewussten) Erinnerung an einen sonnigen Ferientag. „Für den Fühlenden scheint es also nicht der juristische Konflikt mit Aufforderungscharakter zu sein, der das Rechtsgefühl hervorruft und inhaltlich bestimmt, sondern seine Vorstellungen von Gerechtigkeit [...]. Diese legitimieren, soweit die Inhalte dieser Vorstellungen als evident empfunden werden, das Gefühl. (ebd.: 54) […] Damit […ist] das Rechtsgefühl gekennzeichnet als subjektiv und emotional in seiner Genese und objektiv und rational in seinem Anspruch.“ (Ebd.: 101)
Nicht nur sachfremde Empathieauslöser (Ferienerinnerung) kommen in Betracht sondern auch sachnahe (Identifikation mit einer Interessenlage): wenn etwa ein*e Richter*in ebenso Mieter*in ist wie eine der Konfliktparteien in einem Mietrechtsstreit (vgl. ebd.: 45 ff.). Die Identifikation kann auf Assoziationen beruhen, denen moralische Wertungen zugrunde liegen. Bihlers Rechtsgefühl ist also nicht zwingend die Transformation einer sachfremden Idiosynkrasie in Aussagen mit objektivem Gerechtigkeitsanspruch. Die Rationalisierung des Gefühls erfolgt aus zwei Gründen. Erstens haben die meisten Personen internalisiert, dass Gerechtigkeitsaussagen unter Legitimierungsanforderung stehen (ebd.: 55). Zweitens kann es qua Selbst- und/oder Rollenverständnis (insbesondere die des/der Richter*in) verpönt sein, nach Gefühl zu entscheiden. Es gälte als sachfremd oder willkürlich (ebd.: 56 f.; s.a. Lautmann 1985: 293). Der Rationalisierungswunsch ließe sich auch tiefenpsychologisch erklären: als Rückführung von emotionalen Zuständlichkeiten (deren Provenienz nicht erkannt wird) auf rationale Gründe (Bihler 1979: 58). Das ähnelt Riezlers unreflektierter/unreflektiertem Richter*in (s. 2.c.). Eine Spitze Bihlers gegen das „intellektuelle Gefühl“: „Die einmütig vertretene Auffassung, daß es der Verstand sei, der dem Gefühl letztlich seinen Inhalt gebe, mag als ein tiefenpsychologisches Indiz für die Richtigkeit der hier vertretenen Ansicht gewertet werden. Wenn ausschließlich die Meinung vertreten wird, daß es der Verstand sei, der das Gefühl dominiere und domestiziere, so mag dies aus der Abwehr der Erkenntnis resultieren, daß es sich in Wirklichkeit umgekehrt verhält.“ (Ebd.: 58)
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Die Gerechtigkeitsaussage ist ein Werturteil, das auf Empathie beruht. Mit der Rationalisierung möchte er/sie seinem/ihrem Gefühl intersubjektive Anerkennung sichern: „Der Entscheidende appelliert aber mit seinem Werturteil nicht an das Mitgefühl der Öffentlichkeit, sondern an rational begründbare, subjektive Vorstellungen von der Regelungsmöglichkeit des konkreten Falles, die ihm als Emanationen der Gerechtigkeitsidee erscheinen.“ (Ebd.: 131)
Der/die Richter*in sucht also – bewusst oder unbewusst – nach einer rechtssystemkonformen Begründung für sein/ihr Gefühl („finale Subsumtion“) (ebd.: 77 f., 153). In Fällen, wo er/sie einen Interpretations-, einen Ermessensspielraum hat oder eine Gesetzeslücke vorliegt, besteht ein Alternativenkontinuum. Das Gefühl bestimmt die Auswahl.21 Findet er/sie keine systemkonforme Lösung, erlebt er/sie dies als Konflikt. Resigniert muss er/sie eine un- aber normgerechte Entscheidung fällen, die Ratio des Systems kontrolliert also die Emotion (ebd.: 78). Dabei hat auch die Systemseite ein emotionales Pendant. Der/die Richter*in fühlt sich an die Rechtsordnung und ihre Normen gebunden (sogenanntes „Verbindlichkeitsgefühl“) (ebd.: 69 ff.).22 Diese Regung unterscheidet Bihler jedoch ausdrücklich vom „Rechtsgefühl“: Beide können sich widersprechen (ebd.). Das Verbindlichkeitsgefühl entspricht nicht Riezlers Rechtssinn. Denn bei diesem resultiert die Zufriedenheit aus dem Vollzug des positiven Rechts. Bihlers Verbindlichkeitsgefühl ermöglicht nur dann Zufriedenheit, wenn es sich mit dem Rechtsgefühl deckt (ebd.: 77 f.). Das Rechtsgefühl bei Bihler ist also – wenn man diese Unterscheidung treffen möchte – ein „Gerechtigkeitsgefühl“ (ebd.: 131). Ergo: Riezlers Rechtsideal, aber anders konstruiert.
21 Das gilt freilich schon bei der Ermittlung der entscheidungsrelevanten Tatsachen in der Beweisaufnahme. 22 Das scheinen alle Beitragenden der vierten Station des Rechtsgefühlsdiskurses übersehen zu haben.
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Bei Riezler war das Wertgefühl untrennbare Begleitmusik des (kognitiven) Werturteils. Bihler hingegen mahnt eine scharfe analytische Trennung der empirisch verbundenen emotionalen und kognitiven Vorgänge an. Er zerlegt die Wertung in zwei Komponenten: die emotionale Stellungnahme zum Bewertungsobjekt und die Aussage eines Wertbegriffs von ihm. Die Stellungnahme allein sei noch keine Wertung, sondern nur Gefühl(serleben) (ebd.: 142). Erst das reflexive Moment der Prädikation, das denkende Gegenüberstehen (ebd. 121) (kognitive Operation), macht daraus eine Wertung, ihre Aussage ist ein Werturteil. Während bei Riezler das Wertungsgefühl die Wertung begleitet, liegt bei Bihler das Gefühlserleben der Wertung voraus: Es kann ein Werturteil auslösen. Ein Werturteil sei umgekehrt ohne Gefühlserleben möglich (ebd.). Beim Rechtsgefühl ist das Bewertungsobjekt die favorisierte Konfliktlösung. Sie wird als „gerecht“ bewertet. (Ebd.: 144). Dieses Werturteil indes „beruht auf der Identifizierung des Entscheidenden mit einem der Beteiligten“. Bewusst ist ihnen davon lediglich die „subjektive Vorstellung von der konkreten Regelungsmöglichkeit des Konflikts.“ (Ebd.: 122) D.h.: Eigentlich gibt es zwei Wertungsmaßstäbe, einen bewussten (Gerechtigkeit) und einen unbewussten (Identifikation, s.o. „Bewertung als Sonderbeziehung“). Wertungen können laut Bihler aber nicht unbewusst sein. Gemeint ist wohl nur eine Vorstufe. Aufgrund vergangener Wertung haftet der Wahrnehmung der partiellen Gemeinsamkeit ein Wertton an, der sie aus dem Ozean der Wahrnehmungen heraushebt (ebd.: 142). Dass da „etwas Besonderes ist“ bewirkt das Erleben von Empathie, letzteres ist bewusst, steht aber nicht mehr in Verbindung mit der vergangenen Wertung. Bewusst sind also Gefühlserleben und Wertung, nur letztere ist auch kognitiv. Das, was die Gefühlsauslösung bewirkt, ist in Bihlers Konstruktion weder bewusst noch eine kognitive Operation – es sind sedimentierte Wertungsreminiszenzen. Bihlers Rechtsgefühl besteht aus den Komponenten Auslöser, Reaktion, Ausdruck, Rationalisierung. Ein Rechts- oder Gerechtigkeitsgefühl sui generis existiert nicht. Was vor sich geht, ist Identifikation – ein alltäglicher Vorgang, der Empathiegefühle auslöst. Bihlers Rechtsgefühl ist damit unabhängig von einer bestimmten Art von Bewertungsmaßstab. Was unbewusste Identifikation und bewusste Empathie zum Rechtsgefühl macht, sind Stimulus und Gefühlsaus-
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druck (Gerechtigkeitsaussage). Letztere ist ein bewusstes, kognitives Werturteil – das ist ein enger Begriff von Kognition (s. dazu III.2.). Gegenüber Riezler stellt Bihlers Konzept einen Quantensprung im Hinblick auf methodische Überlegungen dar, wenngleich es schwierig sein dürfte, den Identifikationsvorgang zum Ursprung zurück zu verfolgen. Anders als Riezler macht Bihler keine normative Aussage zum Rechtsgefühl der Richter*innen. Es ist eine stets vorhandene Variable im Entscheidungsprozess. Es kann Richter*innen zu kreativem Umgang mit dem System treiben – im guten, wie im schlechten Sinne. In anderen Fällen unterliegt es dem Verbindlichkeitsgefühl, dann erlebt der/die Richter*in seine/ihre Entscheidung als konfliktuös. Bihlers analytische Konstruktion des Verhältnisses zwischen Idiosynkrasie und Systemanforderungen findet durchaus Entsprechung in den Spannungen zwischen informellen und formellen Programmen, die Lautmanns klassische Richter*innenethnographie (1972) beschreibt. Bihler interessiert sich nicht für die Gefühle der Konfliktparteien. Seine Theorie dürfte jedoch auch sie anwendbar sein. Mehrfach wurde ihm nahegelegt, den Identifikationsvorgang lieber mit anderen Denker*innen als Freud zu modellieren, etwa mit Adler (Rehbinder 1985) oder G. H. Mead (Graumann 1985: 325; Lautmann: 1985: 291, 300 En. 7). Seine Ablehnung von Rechtsgefühlsdispositionen teilt im Diskurs niemand mit ihm.
Lampes Sammelband umfasst 19 Beiträge, die Meier mit einer selbstgezeichneten Tabelle zu ordnen versucht hat (Meier 1986: 77). Soweit philosophischnormativ oder soziobiologisch behandele ich sie hier nicht. Die Mehrzahl der übrigen Beiträge befasst sich nicht in spezifischer Weise mit dem Rechtsgefühl. Zumeist werden Studien referiert, die Urteile (Einschätzungen, Meinungen) über Recht und Gerechtigkeit zum Gegenstand haben. Sie sind eher der Forschung zu Rechtsakzeptanz und Rechtsbewusstsein zuzuordnen (dazu unten III.2.,3.). Ins Auge sticht die Ausweitung der Akteur*innenkategorien: Delinquent*innen (Dölling 1985), Frauen und Männer (Lautmann 1985: 296 ff.), Kinder und Jugendliche (Eckensberger 1985; Dölling 1985; s.a. Oestreich 1984). Zu erwähnen ist der Beitrag von Kaufmann (1985). Er zieht Schlüsse für das subjektive Erleben von Recht angesichts zunehmender Verrechtlichung. Die Bürger*innen könnten angesichts eines überkomplexen, bürokratischen und nicht-responsiven Rechts einen kafkaesken Orientierungs- und Vertrauensverlust erleiden. Je weniger Wissen, desto mehr Meinung, so Kaufmann (ebd. 194), und impliziert: desto mehr Gefühl.
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Neue Aspekte kommen durch den von Schwinger und Graumann eingebrachten sozialpsychologischen „Sinn für Gerechtigkeit“ hinzu. Er beruht auf interpersonalen Gerechtigkeitstheorien (Equity-, Kontroll-, Kontrakttheorie). Ihr Blickwinkel ist allgemeiner, betrachtet das soziale Ordnungsverhalten des Menschen letztlich anthropologisch. Deswegen sprechen sich beide Autoren dafür aus, den Sinn für Gerechtigkeit vom Rechtsgefühl abzugrenzen und letzteres auf die Richter*innen zu beschränken. Ausgangspunkt ist ein hedonistisches Individuum (Schwinger 1985: 306). Als soziales Wesen hat es gelernt, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter Ordnungsbedingungen erreichbar ist. Frieden muss herrschen, der Güteraustausch funktionieren. Freundlicher formuliert: Der Mensch hat „einen Sinn dafür entwickelt, in welchen Grenzen die Geregeltheit sozialer Beziehungen für deren Partner allgemein zumutbar, von ihnen allgemein akzeptierbar ist.“ (Graumann 1985: 321). Als inhaltlicher Maßstab dienen – je nach Ansatz mehr oder weniger ausdifferenzierte – Gleichheitserwägungen (Proportionalität, Bedürfnis-, Leistungs-/Beitragsprinzip). Gerechtigkeit ist mal erlerntes Motiv zur sozialen Interessedurchsetzung, mal kognitives Regelmäßigkeitsprinzip. Gerechtigkeitsargumente werden erlernt und vor allem unter situativem Rechtfertigungszwang eingesetzt (Schwinger 1985: 306, 312). Fehlt dieser Zwang – so zeigen es Experimente – handeln sie signifikant egoistischer (ebd.: 308). Parallelen zu Bihlers Rationalisierung sind erkennbar. Die Wahrnehmung einer Verletzung führt zu Verärgerung, Betroffensein, Empörung (Graumann 1985: 320). In Schwingers Worten: „Nimmt nun ein Individuum Unausgewogenheit und damit Ungerechtigkeit in einer eigenen oder in einer fremden Beziehung wahr, so erlebt es aversiven ‚distress’, einen Zustand der Spannung, der zur Wiederherstellung von Ausgewogenheit motiviert. Wie jeweils Ausgewogenheit wiederhergestellt wird, das hängt davon ab, ob durch die zur Verfügung stehenden Mittel diese unter geringen Kosten de facto erreichbar ist. Ist das nicht der Fall, wird durch Uminterpretation von Beiträgen und/oder Erträgen Ausgewogenheit ‚psychologisch’ wiederhergestellt.“ (Schwinger 1985: 307)
Eine Strategie der Uminterpretation kann es sein, Opfern einer Straftat eine Mitschuld zu geben – das tun gerade auch die Opfer selbst (Schwinger 1985: 310). Im Unterschied zu Bihler, so Graumann, gehe es weniger um Identifikation mit jemandem als vielmehr um emotionale Reaktionen gegen Störer*innen (Graumann 1985: 321). Graumann bezieht den Sinn für Gerechtigkeit auf Kollektive: auf soziale Bewegungen und die Masse (z.B. Teilnehmer*innen einer Demonstration). In ihr würden Menschen durch den Sinn für Gerechtigkeit agitiert, die gemeinsame
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körperliche Präsenz verstärkt die Emotion (ebd.: 324), zum Guten wie zum Schlechten: Emanzipation oder Randale. ) &$* '*(#'&,"& &!(%& Der hier umrissene Rechtsgefühlsdiskurs beginnt normativ in Philosophie und Rechtswissenschaft, Akteur*innen sind vor allem die Bürger*innen bzw. „das Volk“. Später verengt sich der Fokus auf den/die Richter*in, der Blickwinkel wird psychologisch, das Konzept deskriptiv. Bei den hier schwerpunktlich behandelten Monographien von Riezler und Bihler finden wir im Ansatz Mehrkomponentenmodelle von Rechtsgefühlen, die an jüngere Emotionstheorien anschlussfähig sind (dazu IV.). Die (Wieder)Ausweitung auf soziale Kategorien und Kollektive bezieht weitere Disziplinen mit ein. Das spezifisch Emotionale am Rechtsgefühl gerät jedoch an den Rand: eine Abgrenzung zu kognitiven Urteilen bzw. zum Einstellungskonzept wird kaum noch versucht (dazu III.). Soweit doch, ist das Hauptkriterium Spontaneität (vgl. z.B: ebd.: 181 f.; Lautmann 1985: 289; Graumann 1985: 323; Lampe 1985: 134).
+ Ab Mitte der 1980er schien man dem Rechtsgefühl keine eigenständige konzeptionelle Funktion mehr zuzutrauen. Für Einstellungen der Lai*innen zum Recht verwendete man das seit den 1970er Jahren zunehmend beachtete Konzept des Rechtsbewusstseins, später das der Rechtsakzeptanz. Subjektive Elemente im richterlichen Handeln hatten ohnehin stets zum Hoheitsgebiet der Juristischen Hermeneutik gehört. Die Existenznöte des Rechtsgefühls haben einerseits wissenschaftstheoretische und methodische Gründe. Dafür steht paradigmatisch die (frühe) Kritik Geigers (1.). Andererseits leidet das Rechtsgefühl konzeptuell unter der Schwierigkeit, Emotion und Kognition sinnvoll voneinander abzugrenzen (2.). Beide Probleme betreffen das Verhältnis des Rechtsgefühls zum Rechtsbewusstsein (3.).
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„Die Einführung eines Begriffs in eine wissenschaftliche Theorie“, schreibt Geiger 1947, „ist stets nur durch seine Erkenntnisfunktion oder seinen Erklärungswert gerechtfertigt.“ (Geiger 1964: 385) Den Erklärungswert von Begriffen wie Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein bezweifelt er. „Sind sie mehr als farbenprächtige Wort-Kulissen für die Illusionsnummern behendiger Gedankenjongleure?“ (Ebd.: 382). „[…D]ass Erlebnisse und Beobachtungen rechtlichen Inhalts von psychischen Vorgängen begleitet“ seien, treffe zwar zu (ebd.). Doch tauge das Rechtsbewusstsein bloß als axiomatische (also nicht zu beweisende) Annahme, als Gegenstand der Forschung sei es ungeeignet weil unzugänglich. Man könne nur die Handlungen (incl. Äußerungen) der Menschen untersuchen. Ausgehend von der Vermutung, dass das Rechtsbewusstsein sich in diesen niederschlägt, ließen sich zwar Rückschlüsse versuchen. Das aber sei aus drei Gründen nicht ratsam: Erstens seien Äußerungen von Personen wenig zuverlässig – aus den sozialempirisch bekannten Gründen (ebd.: 383 f.) Zweitens müsse man davon ausgehen, dass „die für den Inhalt des Rechts-Bewußtseins formativen Faktoren […] mannigfaltig und ihr Zusammenspiel unentwirrbar“ seien (ebd.: 385). Drittens müsse die Erforschung des Rechtsbewusstseins in einer petitio principii enden (ebd.: 393). „Man hat also nichts anderes festgestellt, als daß gewisse positive Rechtsgestaltungen so und so beschaffen sind und dann eine imaginäre Ursache hinzugedichtet. Der Begriff des Rechtsbewußtseins hat hier offenbar keinerlei Erklärungswert sondern täuscht nur durch Psychologisierung beobachteter morphologischer Tatsachen eine Kausalität vor.“ (Ebd.: 387)
Geigers Kritik fällt indes nicht so kategorisch aus, er versteht sie disziplinär. Er gesteht zu, dass die psychischen Vorgänge zwar nicht für Rechtssoziologie und dogmatik von Interesse seien, aber für „Rechts- und Gesellschaftspsychologie“ und Rechtspolitik (ebd.: 397). Seine Kritik richtet sich vor allem gegen die Idee eines „Volksrechtsbewusstseins“ à lá Rümelin. Individuelles Rechtsbewusstsein – die „Gesamtheit von Vorstellungen einer Person […] von Recht und Unrecht“ – hält Geiger für einen „verhältnismäßig realistischen und empirisch verantwortbaren Begriff“ (ebd. 408). Dessen Akkumulation müsse indes berücksichtigen, dass es „innerhalb einer Rechtsgesellschaft ebensoviele Rechtsbewußtseine wie einzelne Mitglieder gebe“ (ebd.: 408).
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„Ein allgemeines, die gesamte Rechtsgemeinschaft umfassendes Rechtsbewußtsein müßte dann also eine irgendwie ermittelte öffentliche Meinung über die rechtlichen Meinungsgegenstände sein, […ermittelt…] als gezählter oder gewogener Durchschnitt, als Kompromiß der Meinungen oder deren Synthese.“ (Ebd.)
Die Rechtsakzeptanz- und Knowledge-and-Opinion-about-Law-Forschung hat auf Geiger gehört und erhebt letztlich Meinungsdurchschnitte. In Bezug auf das Rechtsgefühl indes orientierten sich Rechtssoziolog*innen auch 50 Jahre später noch an Geiger: „Die Begriffe Gefühl und […] Rechtsgefühl liegen der rational konzipierten Rechtswissenschaft ebenso fern wie der empirischen Rechtssoziologie, die davon ausgeht, dass Gefühle als innere Tatbestände einzelner Menschen der soziologischen Forschung nicht zugänglich sind und vollends nicht statistisch erfasst werden können. […].“ (Raiser 1998: 109 f.)
Was ist von Geigers Kritik zu halten? Methodisch wird man konzedieren dürfen, dass die qualitative Sozialforschung seitdem beträchtliche Fortschritte gemacht hat. Wissenschaftstheoretisch scheint Geiger eher einem kausalistischen (und behavioristischen) Ansatz von Handlungserklärung verhaftet zu sein. Aus der Perspektive von Ansätzen interpretativen Verstehens, ist ein Verzicht auf psychische Vorgänge unstatthaft.23 Nicht ob, sondern nur wie sie theoretisch zu integrieren sind, ist nach wie vor umstritten (s. z.B. Reckwitz 2012: 588 ff.). Erklären i.e.S. kann bestenfalls noch die neurophysiologische Emotionsforschung. Gesteht man Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein wissenschaftliche Verwendbarkeit zu, bleibt die Frage nach ihrer Abgrenzbarkeit. Sie ist verknüpft mit dem problematischen Verhältnis von Emotion und Kognition. Es plagt Riezler und Bihler, ebenso die Autor*innen von Station vier (vgl. Lampe 1985: 134 f.). Umstritten ist es auch in Psychologie und Soziologie (Kochinka 2004: 87 ff.; Senge 2013: 22 ff.). Kochinka modelliert drei Begriffe von Kognition, einen weiten (alle Inhalte von Bewusstsein), einen engen (Denken i.e.S., Problemlösen) und einen mittle-
23 Pichler/Giese bedauern, sich unter dem Eindruck von Geigers Kritik bei ihrer Rechtsakzeptanzforschung mit Befragungen zum Thema „Rechtsgefühl„ zu sehr zurückgehalten zu haben (1993: 356).
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ren (Denken i.w.S., Informationsverarbeitung) (Kochinka 2004: 94 ff.). Der weite Begriff verunmöglicht jede nur ansatzweise trennscharfe Bestimmung von Emotion (ebd.: 94). Verwendet man einen engen Begriff, ist man – wie bei Riezlers „sensus iuridicus“ – auf die Funktionsgefühle (Befriedigung bei Gelingen, Frustration bei Misslingen) beschränkt (ebd.: 96); also der mittlere Begriff, der aber auch noch weit genug ist für Lippenbekenntnisse. Es reicht nicht festzustellen „[…] daß Kognitionen und evaluative (affektive) Prozesse in einer Wechselbeziehung zueinander stehen oder daß beide Prozesse „fließend“ ineinandergreifen […].“ (Eckensberger 1985: 95). Darüber hinaus muss eine „isolierte Bestimmung des Einflusses emotionaler Faktoren“ (Bihler 1979: 23) wenigstens versucht werden. Es bieten sich Modelle an wie das von Mees (1991, 2006). Seine Strukturanalyse der Emotionen setzt die kognitive Operation (Bewertungen) analytisch voraus, nicht aber, dass diese auch bewusst erfolgen (Mees 1991: 176 f.; 2006: 116). Mees pointiert – ähnlich wie Kochinka (s. 2004: 136 f.) – die Bedeutung subjektiven Erlebens für das Gefühl (Mees 2006: 116). Bewerten bzw. urteilen kann ich, ohne dass mein subjektives Erleben die Schwelle dessen erreicht, was die Kennzeichnung „Gefühl“ verdient. Das zumindest stimmt mit Bihler überein, der allerdings keine unbewussten Wertungen zulässt (s.o. II.3.b., d.). Ist das Urteil ein gefühlt unsicheres (Ahnung, Intuition), spricht Mees von einem nicht-affektiven Gefühl (Mees 2006: 105). Das wäre der kategorische Stellplatz für den „sensus iuridicus“. Als Emotion (affektives Gefühl) würde Mees ihn wohl nicht bezeichnen. Sie setzt das ausreichend intensive Erleben verschiedener Indikatoren voraus, die man teils durch Befragung, teils durch Beobachtung erheben kann: körperliche Reaktionen, Handlungen und Handlungsbereitschaften, Häufigkeit der gedanklichen Beschäftigung mit dem Bewertungsobjekt u.a. (Mees 2006: 116).24 Es ist vor allem der „sensus iuridicus“, der die Abgrenzung zum Rechtsbewusstsein erschwert. Auf dreierlei Weisen lässt sich mit diesem Problem umgehen. Erstens: Das Rechtsgefühl verschwindet als nicht feststellbarer Bestandteil im Rechtsbewusstsein, so z.B. bei Raiser:
24 Eine Folge dieser Bestimmung ist, dass es für Mees keine unbewussten Gefühle gibt (Mees 1991: 177, 180).
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„[…D]as Rechtsgefühl, verstanden als genetisch vorgegebenes elementares Rechtsempfinden, lässt sich kaum von im Prozeß der individuellen Entwicklung und Sozialisation, also ontogenetisch fixierten Rechtserfahrungen isolieren, denn es ist in solche stets eingegangen, hat sie geformt und wird von ihnen überlagert.“ (Raiser 1998: 111)
Das vermeidet methodische Schwierigkeiten. Es genügt, im Hinblick auf das Forschungsziel „Rechtsbewusstsein/-akzeptanz“ Meinungen (Urteile) über das positive Recht nach Graden von Zustimmung/Ablehnung zu erheben. Auf die Untersuchung emotionaler Ausdrucksformen wird verzichtet. Bewertungsmaßstab (Recht, Moral, Konvention, Interesse) sowie Verhältnis von Kognition und Emotion werden überflüssig. Das Rechtsbewusstsein wird begriffliches Auffangbecken für alle Vorstellungen in Bezug auf das positive Recht (vgl. ebd.: 111 f.). Zweitens: Andere, v.a. Autor*innen von Station vier, setzen Urteil und Gefühl weitgehend gleich – wie manch kognitivistische Emotionstheorie (Senge 2013: 23). In den an der Piaget-Kohlberg-Tradition ausgerichteten Beiträgen wird Rechtsgefühl z.B. als moralisches Urteil gefasst (Eckensberger 1985: 95; Karstadt-Henke 1985: 213). Die Ergebnisse von Döllings (1985) Befragung unter Jugendlichen, welches Strafmaß ihnen für diverse Delikte angemessen scheint, lassen sich am ehesten der Kategorie „‚sensus iuridicus‘ von Lai*innen“ zuordnen. Nimmt man das unter 2. skizzierte Abgrenzungsbestreben ernst, muss die dritte Lösung an Lautmanns Befund anknüpfen: „[…D]er Begriff [Rechtsgefühl, JCM] [zielt] auf das sehr unmittelbare Handeln von Individuen in angebbaren Situationen. In einer sozialen Auseinandersetzung wird mit moralisch-rechtlichem Akzent Stellung bezogen. Je mehr das abgegebene Urteil abstrahiert (z.B.: Rangiert Gleichheit vor Wohlstand? Sollte Schwangerschaftsabbruch strafbar sein?), desto mehr ähnelt ‚Rechtsgefühl’ dem, was in der Soziologie sonst Einstellung, Wertorientierung o. ä. heißt […].“ (Lautmann 1985: 289)
Entsprechend geht bei den meisten Autor*innen dem Rechtsgefühl die Wahrnehmung eines Konflikts bzw. einer Regelverletzung voraus. Eine abstrakte Umfrage ist nicht in der Lage, dasselbe zu bewirken, es sei denn, ein Item wäre mit einer persönlich bedeutsamen Erinnerung (z.B. an einen Konflikt) assoziiert. Daraus folgt: Das Rechtsbewusstsein ist für die (gegebenenfalls auch abstrakten) kognitiven Urteile und Meinungen zu reservieren, die unterhalb der emotionstypischen Erlebnisintensitätsschwelle bleiben. Die Verwendung eines (im Sinne von Mees: nicht-affektiven) Rechtsgefühlsbegriffs ist in solchen Kon-
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texten zwar möglich aber nicht nötig. Infolgedessen gälten auch diejenigen Beiträge nicht als eigenständige Erforschung des (affektiven) Rechtsgefühls, die (z.B. in der Piaget-Kohlberg-Tradition) die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit untersuchen. Zuzugestehen ist ihnen, dass sie einen zentralen Bestandteil des Rechtsgefühls, die Bewertung, verstehen helfen.
( ' Zum Zweck einer andeutungsweisen Systematisierung greife ich auf Strukturanalysen jüngerer Emotionsforschung zurück (1.). Anstelle der früher so zentralen Genese von Rechtsgefühlen tritt ein Überblick über Einflussfaktoren (2.). $#)# " ! $!" &## Wenn wir nicht-affektive Gefühle (s.o. III.2.) wie den „sensus iuridicus“ beiseite lassen, bleiben die affektiven Gefühle. Sie umfassen Emotionen (zuständliche Gefühle, Episoden von kurzer Dauer), Stimmungen und körperliche Empfindungen (Mees 2006: 105, 107).25 Ich behandele nachfolgend nur erstere.26 Zur Emotion: Ähnlich wie ansatzweise schon Riezler und Bihler konzipieren modernere Theorien Emotionen als Prozesse oder flexible Regulationssysteme mit mindestens vier Komponenten (Holodynski 2014: 436 f., 461; Mees 2006: 107 f.): 1) Auslöser und dessen Einschätzung (kognitive oder Bewertungskomponente); 2) Körperreaktion (psychophysiologische Komponente); 3) Ausdruck des Gefühls (Ausdruckskomponente); 4) subjektives Erleben (Erlebniskomponente). Teilweise wird der Ausdruck nach seiner Form subdifferenziert: expressiv (Mimik, Gestik, Sprache) und handlungs- bzw. motivationsbezogen (Handlung, -sbereitschaft). Wahrnehmbare Körperreaktionen und verschiedene Formen des Ausdrucks fungieren zugleich als Indikatoren für das subjektive Erleben (Mees 2006: 116 f.). Mittels dieser Komponenten lässt sich systematisieren. 1), 3), 4) spreche ich im Folgenden an.
25 Zur Abgrenzung von Stimmungen und Emotionen sowie von Empfindungen und der kategorisch querliegenden Unterscheidung von zuständlichen und gegenständlichen Gefühlen, s. Holodynski (2014: 437) und Mees (2006: 107, 111, 120). 26 Das Stimmungskonzept ließe sich mit Graumanns kollektiv wirkendem Sinn für Gerechtigkeit kombinieren. Zu Rechtsgefühlsdispositionen vgl. Mees über dispositionale Gefühle, 2006: 105.
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Im Rechtsgefühlsdiskurs werden eine Vielzahl von Gefühlsnuancen beschrieben, z.B.: Bihler: Empathie; Riezler: (Dis-)Harmonie; Kaufmann: Rechtssicherheitsgefühl, Gerechtigkeitsglauben (1985: 197 En. 4) bzw. deren negative Entsprechung: Vertrauensverlust (ebd. 195). Schwinger: Spannungsgefühl bzw. aversiven Stress, Kontrollverlustgefühle; Graumann: Empörung, Verärgerung. Das Rechtsgefühl ist kein Gefühl sui generis. Wir fühlen nicht „(Un-)Recht“ sondern Zorn über Normbrüche oder Befriedigung über milde Urteile. Anhand welcher Kriterien können wir zuordnen? Ich folge hier Mees´ Strukturanalyse, die Gefühlsarten (in deutscher Semantik) nach der Bewertungskomponente klassifiziert. Art und Grundintensität der Emotion werden davon abhängig gemacht, was wie bewertet wurde (Mees 2006: 108). Ich werde Mees´ Struktur der Bewertungskomponente vorstellen und tentativ die oben genannten Gefühlskennzeichnungen einordnen (aa). Es folgen Überlegungen dazu, wie die Bewertungskomponente des Rechtsgefühls auszugestalten wäre (bb). Mees´ Bewertungskomponente besteht aus Gegenstand und -maßstab. Er bildet drei Hauptklassen von Emotionen (ebd.: 108 ff.). In der ersten werden Ereignisse (Gegenstand) an persönlichen Zielen bzw. Wünschen (Maßstab) gemessen. Je nachdem, ob die Ereignisse erwünscht sind oder nicht, erwartet oder nicht, die Person selbst betreffen oder andere, lassen sich als Subklassen EmpathieEmotionen (Mitfreude, -leid, Neid, Schadenfreude), Erwartungs- (Befriedigung, Erleichterung, Enttäuschung) und Wohlergehens-Emotionen (Freude, Leid) unterscheiden. In der zweiten Hauptklasse (Attributionsemotionen) werden Handlungen (Gegenstand) anhand von Normen und Standards (Maßstab) beurteilt und auf den Urheber bezogen: das sind entweder abermals man selbst (internale: Stolz, Scham) oder andere (externale: Billigung, Zorn). Die dritte Hauptklasse enthält die sogenannten Beziehungsemotionen. Gegenstand sind hier Eigenschaften von Personen oder Objekten, Maßstab die eigenen Präferenzen (Attraktivität: Liebe, Hass) oder (überindividuelle) Werten (Wertschätzung: Bewunderung, Verachtung). Die Subklassen lassen sich untereinander zu komplexen Emotionen verbinden und ergeben dann z.B. Ärger (Verbindung der negativen Wohlergehens-Emotion „Leid“ mit der externalen Attributionsemotion „Neid“). Nach diesem Modell wäre der Zorn über den Bruch einer Rechtsnorm eine externale Attributionsemotion. Betrifft die Tat mich selbst, läge eine ÄrgerEmotion vor, eine Verbindung aus dem Zorn über die Normübertretung und dem
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Leid, das der angerichtete Schaden bei mir auslöst. Ärger, so Mees, ist die „Polizei-Emotion“ (ebd.: 114). Rechtssicherheitsgefühl und Gerechtigkeitsglaube hingegen wären in Mees Struktur wohl keine Emotionen sondern „kognitive, präevaluative Zustände“ (vgl. Mees 1991: 103). Sie begründen situativ Erwartungsemotionen, die befriedigt oder enttäuscht werden können und sich dann mit Attributionsemotionen verbinden: Befriedigung der Erwartung, dass der Rechtsstab normgemäß arbeitet (z.B. Verurteilung eines Straftäters). Die Intensität dieser Erwartung würde durch den Faktor der subjektiven Sicherheitswahrnehmung beeinflusst (Erlebenskomponente, vgl. ebd.: 79). Ähnlich wäre die Kontrollüberzeugung zu modellieren: Eine unsichere Erwartung führt im Zweifel zu einer geringeren Enttäuschung, kann aber im Vorfeld Furcht begründen. Kaufmanns Topos „Entfremdung vom Recht“ ließe sich wie folgt ins Schema übersetzen: Die Erwartungsemotionen in Bezug auf rechtlichen Ereignisse dürften durch die Sicherheitsdimension des subjektiven Erlebens geprägt sein, aus Hoffnung (Zuversicht) wird Furcht (Besorgnis) (vgl. ebd.: 107). Bihlers Identifikation schließlich wäre wohl durch eine Verbindung von Attraktivitäts- und Empathieemotion zu kennzeichnen. Das ließe indes noch nicht das Prädikat Rechtsgefühl zu. Sie kommt bei Bihler erst dadurch zustande, dass das bewertete Ereignis ein juristischer Konflikt ist und eine Gerechtigkeitsaussage provoziert. Diese Abgrenzungsfrage stellt sich letztlich für alle beschriebenen Emotionen. #" Wenn die Bewertungskomponente über die Gefühlsklassifikation entscheidet, nach welchem Kriterium richtet sich, ob wir von Rechtsgefühlen sprechen können? Zwei Möglichkeiten kommen in Betracht: Nach 1) dem Gegenstand, 2) dem Maßstab. Ad 1): Grob vereinfacht können wir im Rechtsgefühlsdiskurs zwei Gegenstände unterscheiden: soziale Konflikte (bzw. ihre Wahrnehmung) mit oder ohne Bezug zum positiven Recht. In Mees´ Struktur wäre der Konflikt auf zweierlei Weise einordnen: zum einen mit Bezug auf die Handlungen, die ihn herbeiführen (Attributionsemotionen), zum anderen mit Bezug auf sein Ergebnis als Ereignis (Empathie-, Erwartungs- und Wohlergehensemotionen) (vgl. Mees 1991: 115). Ein weiter Gegenstand entsteht, wenn man auf den Rechtsbezug der sozialen Konflikte verzichtet. Für Hoche z.B. ist Rechtsgefühl jede Reaktion auf alltägliche Unhöflichkeiten (Hoche 1932: 33), seien das Verspätung, Vordrängelei oder
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der Streit kleiner Kinder um die Größe des Kuchenstücks (ebd: 2 f.). Es kommt nicht einmal darauf an, dass die Akteur*innen das Ereignis als Verletzung des Rechtsgefühls auffassen (ebd.: 33). Das mag demonstrieren, welche strukturellen Ähnlichkeiten zwischen den emotionalen Reaktionen auf die Verletzung nichtrechtlicher wie rechtlicher sozialen Normen bestehen. Die Unterschiede würden indes verschleiert. Zu weit ist auch der Ansatz der interpersonalen Gerechtigkeitstheorien, die sich bestenfalls für Kollektive eignen, innerhalb derer keinerlei formalisierte Rechtsstruktur existiert. Indes geht es zumindest auf der Ausdrucksebene um Gerechtigkeit (s. z.B. Schwinger 1985: 308). Bei Bihler, Karstadt-Henke und Kaufmann ist das positive Recht Teil des Gegenstands – und zwar „objektiv“ (Beobachter*innenperspektive). Riezler ist vorsichtiger und begnügt sich mit der subjektiven „Vorstellung“, das eine rechtliche Betrachtung nötig oder möglich sei (Akteur*innenperspektive). Ähnlich Lautmann, der das Rechtsgefühl als „[s]pontane Beurteilung eines Konfliktes unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten“ definiert, wobei er den Konflikt konkretisiert als „soziale[…] Auseinandersetzung […] mit moralisch-rechtlichem Akzent“ (Lautmann 1985: 289). Welche Variante der/die Sozialwissenschaftler*in wählt, hängt vom Untersuchungsgegenstand ab. Ad 2): Theoretisch ließe sich das Rechtsgefühl auch über den Maßstab bestimmen. Zu unterscheiden wären normbezogene Maßstäbe (subdifferenziert nach rechtlichen und nicht-rechtlichen Normen) und subjektiv-präferentielle. Ich halte diesen Punkt aus zwei Gründen kurz: Erstens kommt es auch hier auf den Untersuchungsgegenstand an. Zweitens verwenden, soweit ersichtlich, alle Autor*innen einen metarechtlichen Maßstab. Das gilt auch für Riezlers Rechtssinn, den er selbst als ethisches Gefühl bezeichnet, weil es das Gemeinschaftsinteresse achte (Riezler 1946: 79). Im Piaget-Kohlbergschen Sinne wohl kein hohes Moralniveau, aber meta-rechtlich. Als Bewertungskomponente für Rechtsgefühle empfiehlt sich im Hinblick auf den Gegenstand also Rechtsbezug. Eine nähere Bestimmung des Maßstabs kann zumeist unterbleiben. Die Art des Gefühls richtet sich nach der Bewertungskomponente, im Übrigen ist die Intensität eine Frage subjektiven Erlebens. Für diese gibt es verschiedene Indikatoren (Mees 1991: 60 ff.). Sie zeigen einerseits an, ob die Erlebensschwelle zum Gefühl überschritten ist, andererseits bestimmen sie die Intensität des Gefühls. Zu ihnen gehört auch der Gefühlsausdruck, z.B. ob bestimmte Handlungen vorgenommen werden.
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Da es kein Rechtsgefühl sui generis gibt, können wir über das subjektive Erleben des Rechtsgefühls zunächst nur sehr allgemeine Feststellungen machen. Etwa: Je gewichtiger der Normverstoß, desto größer der Zorn (vgl. ebd.: 69), je subjektiv bedeutsamer ein verletztes Rechtsgut, desto tiefer das Leid (vgl. ebd.: 68). Eine nähere Bestimmung des Rechtsgefühlserlebens wäre möglich über die Funktion des Rechts, Erwartungen zu schützen. Normen bedeuten kontrafaktisches Festhalten an Erwartungen (Raiser 2007: 171 f.). Die Verletzung von (gelebtem) Recht geht daher mit Enttäuschung einher. Letztere stellt zum einen eine eigene Emotionsklasse (Bewertungskomponente) dar. Diese beruht darauf, dass der Eintritt eines künftigen Ereignisses „aktiv“ erwartet wird (Mees 1991: 104). Zum anderen ist – negativ gewendet – Unerwartetheit eine globale Intensitätsvariable (ebd.: 60). Normen formen Normalität, Abweichungen davon sind unerwartet, kognitiv überraschend. Das verstärkt die Intensität der Emotion. Verdoppelt wird die Unerwartetheit, wenn nicht nur meine verkommenen Mitbürger*innen Normen brechen, sondern hiernach der Rechtsstab untätig bleibt, an den ich – Funktionieren und Akzeptanz vorausgesetzt – erhöhte Konformitätserwartungen stelle. Die Eskalation in Kleists Kohlhaas beginnt dementsprechend auch nicht mit des Junker Wenzel von Tronkas illegaler Pferdevernachlässigung, sondern als der Rechtsschutz hiergegen ausbleibt. Stellt man Erwartung und Enttäuschung als zentrale Elemente gelebten Rechts in den Mittelpunkt einer Rechtsgefühlskonzeption, ist der Anschluss an eine strukturalistische Emotionssoziologie wie die von Turner (vgl. 2007: 82 ff.) ein leichtes. Wenn Rechtsgefühle ein weites Spektrum von Gefühlsarten und -intensitäten abdecken, gibt es entsprechend viele Ausdrucksmöglichkeiten. Wenn wir den Schwerpunkt der Rechtsgefühle im Bereich der Erwartungen (Attributionsemotionen) verorten, wären typische emotionale Reaktionen Handlungsweisen wie Rächen, Vergelten, Strafen, Zwingen zur Wiedergutmachung (vgl. Graumann 1985: 325). Bihler und Schwinger verweisen vor allem auf die sprachliche Inanspruchnahme des Gerechtigkeitsterminus. Er zeigt an: Der/die Akteur*in wertet im Rechts-/Gerechtigkeitsrahmen. Interpretieren können wir das zum einen als Ausdruck eines Rechtsgefühls (doch bedarf es weiterer Indikatoren, um die Schwelle zur Emotion zu überschreiten), zum anderen als Anzeichen eines Rechtsgefühls. Lautmann stellt diese Anforderung nicht, da bisweilen über Recht und Gerechtigkeit gesprochen werde, ohne dass diese Kategorien benutzt würden (1985:
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289 f.). Das hänge etwa von der Konfliktnähe ab: je näher der Konflikt der Lebenswelt des/der Akteur*in, desto konkreter seine/ihre Argumentation; je ferner, desto eher der abstrakte Bezug auf Gerechtigkeitsargumente (1985: 292). Wie entstehen Rechtsgefühle, was beeinflusst sie? Wir können evolutionsbiologische Anlage (Phylogenese) von sozialisatorischer Entwicklung (Ontogenese)27 und situativem Entstehen (Aktualgenese) unterscheiden.
Drei Antworten auf die Genese des Rechtsgefühls hat man diskutiert: angeboren, erlernt und der Form nach angeboren, dem Inhalt nach erlernt, die wohl aktuell vertretene Antwort. Anthropologen gehen davon aus, dass dem Menschen – unfähig die Welt als Chaos zu erleben – die Disposition eignet, „Geltung anzuerkennen“ (Kaufmann 1985: 192). Über den konkreten Inhalt der Ordnung sagt das wenig aus: Ordnung muss sein, welche, bleibt offen. Das emotionale und kognitive Erleben erwachsener Menschen beruht sowohl auf Gen- als auch auf Umwelteinflüssen (vgl. Weimar 1985: 161). Fraglich ist zum einen, wie gut sich beides auseinanderdividieren lässt, zum anderen, ob man den Anlage- oder den Lern-Anteil für entscheidend hält. Raiser (s. III.2.) schien der ersten Variante zuzuneigen: Rechtsgefühl ist die Anlage, durch Sozialisation entsteht daraus Rechtsbewusstsein. Im Rechtsgefühlsdiskurs ist man überwiegend anderer Ansicht. Die Bezeichnung „Rechtsgefühl“ verdient erst das Resultat eines (Teil-)Sozialisationsprozesses, das durch Erlernen der Regeln des Zusammenlebens entsteht und sich fortwährend durch Auseinandersetzung mit Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen und entsprechenden Erlebnissen entwickelt. Wie früh man Kindern zubilligt, über Rechtsgefühle zu verfügen, hängt davon ab, welche Bewertungskomponente man voraussetzt bzw. ob schon die Inanspruchnahme des Gerechtigkeitsterminus (Ausdruckskomponente) ausreicht. Wer Gerechtigkeit – wie Graumann – allgemein als Struktureigenschaft menschlicher Beziehungen bestimmt, kann schon sehr früh entsprechende Beobachtungen machen: Kinder entwickeln im zweiten bzw. dritten Lebensjahr einen Sinn für Eigentum und Verteilungsgerechtigkeit (s. Kreppner 1997: 355 ff., 365).
27 Aktuelle Erkenntnisse und Fragestellungen der Epigenetik ignoriere ich.
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Emotionen beruhen auf Bewertungen. Die Ontogenese moralischer Urteilsbildung (z.B. in der Piaget-Kohlberg-Tradition) ist als Erkenntnisfundus der Rechtsgefühlsentwicklung zu berücksichtigen. Differenzierte Gefühlskategorien sind an die Fähigkeit zur differenzierten Situationsanalyse gebunden (Eckensberger 1985: 97 m.w.N.). Die relevanten Faktoren sind die üblichen Sozialisationsverdächtigen: Das Erlernen von Regeln des Zusammenlebens, Spielens, Kooperierens, der Konfliktregulation in Bezugsgruppen: Familie, Kindergarten, Schule, Freundeskreis etc. Von besonders sensibilisierender Bedeutung sind – so schon Piaget – Ungerechtigkeitserlebnisse (ebd.: 98 m.w.N.). Des Weiteren die Beschäftigung mit sozialen Konflikten, Rechtsfällen, Gerechtigkeitsthemen. Dazu gehören auch Sekundärsozialisationen, also (z.B. juristische) Ausbildungen und Berufstätigkeiten. Die Ontogenese beruht auf der Phylogenese, beides geht in die Aktualgenese ein. In welchem Maße, ist umstritten. Der Entwicklungspsychologe Eckensberger pointiert ontogenetische Einflüsse stärker (Eckensberger 1985: 99), Lautmann aus mikrosoziologischer Perspektive eher die Aktualgenese: „Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein entstehen nicht so sehr aus Faktoren wie Charakter, Sozialisationsverlauf, Bildungsgrad, Klassenlage, Zeitgeist und ähnlichen schicksalhaften Vorgaben. Die bestimmenden Merkmale der sozialen Lage in ihrer Verarbeitung durch das Objekt [gemeint ist wohl Subjekt, JCM] gestalten die Rechtsansichten. Welche Merkmale der sozialen Situation bestimmend sind, unterliegt einem Wandel im Lebensablauf, durch den ständigen Prozeß der Identitätsbildung des Individuums.“ (Lautmann 1985: 288)
Lautmann nennt vier situative Faktoren. Erstens die Art des Konflikts (ebd.: 291). Das entspricht den Differenzierungen, die wir unter 4. teils bei der Bewertungs-, teils bei der Erlebniskomponente vorgenommen haben. Zweitens, ob man selbst Konfliktpartei ist oder Dritte*r (vgl. o. 1.b.). Dritter Faktor: Erlebnisnähe zum Konflikt. Je näher uns biografisch der Konflikt ist, desto stärker aktualisiert dies die Betroffenheit (zum Ausdruck s. 1.c.). Diese Faktoren sind allesamt vom vierten beeinflusst, der sozialen Lage, die durch die Ontogenese (z.B. Schichtzugehörigkeit und Bildungsgrad) mitbestimmt ist. Hierhin gehören systematisch Akteur*innenklassifikationen wie z.B. das Expert*innentum. Soweit das Recht eine unvertraute Größe ist (v.a. bei Lai*innen), wird es eher als kafkaeske Bedrohung empfunden (vgl. Kaufmann
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1985, s.o. II.4.), teilweise aber auch naiv als verlässlicher Schutzmechanismus. Für Expert*innen mag es ein kalkulierbares Instrument der Interessenwahrnehmung darstellen. Das Expert*innentum der Justiz ist für die einen mit feinem Judiz konnotiert, für andere mit der professionell antrainierten Unterdrückung von Rechtsgefühlen, um (Inter-)Rollenkonflikte zu vermeiden (Lautmann 1985: 293).
Das Rechtsgefühl lässt sich schwerlich identifizieren – stattdessen diverse Rechtsgefühle. Sie dienen dazu, Handeln verständlich zu machen. Unterschiede ergeben sich nach Akteur*in und Situation, deren Auswahl vom Untersuchungsgegenstand abhängt. Entsprechend variieren individuelle und soziale Einflussfaktoren auf Rechtsgefühle. Sinnvoll erscheint die Verengung des Rechtsgefühlsbegriffs auf affektive Gefühle. Judiz und Meinung sind keine. Sie beruhen auf ihnen und/oder lösen sie aus. Spontaneität (s. Fn. 18) mag indizieren, dass Affekte am Entstehungsprozess beteiligt sind. Das ist aber weder zwingend, noch allein sehr aussagekräftig. Ich habe tentativ verschiedene im Rechtsgefühlsdiskurs auffindbare Konzepte mit Heuristiken jüngerer Emotionsforschung verbunden. Das ermöglicht, Rechtsgefühle anhand ihrer Komponenten zu analysieren: Bewertung, Erleben, Ausdruck. In puncto Bewertung empfiehlt sich, nicht alle Handlungen zum Bewertungsgegenstand zu machen. Ein Bezug zum Recht sollte vorhanden sein. Was Recht ist, hängt vom Feld ab, es muss nicht staatliches sein. Das ist indes kein Argument gegen eine akteur*inzentrierte Sichtweise, denn die „Verkennung des Herrschaftsbereichs der Rechtsidee“ (Riezler 1946: 9) öffnet der Forschung entweder die Augen für gelebtes Recht oder lässt sich statistisch als individuelle Abirrung wieder aussortieren. Einen besonderen Bewertungsmaßstab anzulegen, scheint heuristisch indes nicht sinnvoll. Folglich macht m.E. die Unterscheidung zwischen Rechts- und Gerechtigkeitsgefühlen wenig Sinn. Rechtsgefühlserleben und -ausdruck sind eng miteinander verknüpft. Jenes dient sowohl der Abgrenzung zu nicht-affektiver Urteilstätigkeit als auch zur Bestimmung emotionaler Intensität. Der Ausdruck ist der entscheidende „verhaltensdeskriptive“ (Bihler) Zugang für den/die Beobachter*in. Zum einen lassen sich Emotionscodes (soziokulturelle wie – falls existent – universelle), insbesondere die Semantik ablesen. Zum anderen werden Gegenstand und Maßstab erst verständlich.
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Wer typisieren möchte, könnte den hier angedeuteten Brückenschlag zu Strukturanalysen wie der von Mees fortführen und Rechtsgefühlsschwerpunkte in bestimmten Kategorien verorten, z.B. bei den Attributionsemotionen. Auch die Erwartungssicherungsfunktion des Rechts und durch Sanktionen ausgelöste Erfahrungen wirken sich auf Emotionen aus (s. z.B. Turners Emotionssoziologie). Ebenfalls lohnen könnte sich ein näherer Blick in Kriminologie und Strafzumessungslehre. Auf kollektiver Ebene ist weniger die Rechtsakzeptanzforschung von Interesse als die Bedeutung von Emotionen für soziale Bewegungen und Massen. Dabei wären auch Stimmungen einzubeziehen. Kein Abgesang oder Abschied also: Rechtsgefühlsforschung lohnt sich. Dreierlei vorausgesetzt: Erstens, dass man „Gefühl“ nicht zu weit fasst. Zweitens muss man rechtsrelevantes Verhalten aus dem rationalistischen Korsett befreien. So wichtig es ist, „gute“ von „schlechten“ Werturteilen zu unterscheiden, es reicht zum Verständnis von Handlungsmotivation nicht hin. Hierfür sind Emotionen (mit)entscheidend. Drittens schließlich wären Kulturspezifika zu berücksichtigen – dieser Aspekt fehlt im hier dargestellten Rechtsgefühlsdiskurs fast vollständig.
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G ABRIEL S CHEIDECKER
Im ländlichen Süden von Madagaskar spielt der Umgang mit Gendarmen1 eine zentrale Rolle für die Ausbildung von Gerechtigkeitsgefühlen, die potentiell auf das staatliche Recht bezogen sind. Für die Bevölkerung der Gemeinde Menamaty-Iloto, die hier im Fokus steht, ist die Auseinandersetzung mit der nationalen Gendarmerie Madagaskars an der Tagesordnung. Überdies kommt sie primär über diese Akteure in Berührung mit dem madagassischen Rechtssystem, da weitere Institutionen dieser normativen Ordnung lediglich eine marginale Rolle in Menamaty-Iloto spielen. Typischerweise stehen Interaktionen mit Gendarmen unter dem Vorzeichen einer vorgeworfenen Rechtsverletzung – meist Viehdiebstahl – und entsprechenden Sanktionsmaßnahmen. Im Fall solcher GendarmenInteraktionen kommt gelegentlich noch eine weitere Akteursgruppe ins Spiel, nämlich in der Stadt lebende Angehörige der Dorfbevölkerung, die unterstützend eingreifen und dabei zugleich neue Bewertungen und Gerechtigkeitsgefühle propagieren. Am Beispiel dieses Kontextes fragt der Beitrag nach der Ausbildung, Stabilisierung und Transformation von Gerechtigkeitsgefühlen im Umgang mit Gendarmen. Gemäß der hier verwendeten Definition von Gerechtigkeitsgefühlen als die „affektiven und emotionalen Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen“ (Bens/Zenker 2017: 9) knüpft dieser Beitrag an die vorwiegend rechtssoziologische Forschung zur perceived legitimacy an. Der darin dominierende An-
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Da in der Forschungsregion sowohl die Gendarmen als auch ihre bevorzugten Interaktionspartner, (vermeintliche) Viehdiebe, ausschließlich dem männlichen Geschlecht angehören, reflektiert dieser Beitrag primär maskuline Perspektiven.
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satz, Legitimität auf Verfahrensgerechtigkeit zurückzuführen (vgl. Tyler 2006), wurde allerdings von Vertretern der noch jungen anthropologischen Police Studies (vgl. Karpiak 2016, Garriott 2013) mehrfach kritisiert: „[T]his suggestion assumes a naturalized triangular relationship among the police, the law, and legitimate authority“ (Jauregui 2013: 548). Stattdessen propagiert Jauregui die Untersuchung variierender und fluktuierender Polizeipraxen der Legitimierung und Delegitimierung in unterschiedlichen, insbesondere postkolonialen Kontexten. Während Tyler das staatliche Recht als Bezugsrahmen von Legitimität voraussetzt, droht mit der Fokussierung der Polizeipraxis allerdings jeglicher normative Bezugsrahmen, der jeder Legitimitätsbewertung unterliegt, aus dem Blick zu geraten. Demgegenüber impliziert die hier gewählte Perspektive der Gerechtigkeitsgefühle weder eine a priori Festlegung auf eine bestimmte Rechtsordnung, noch eine Vernachlässigung der bewertenden Akteure. Vielmehr erlaubt sie zu untersuchen, welche normativen Ordnungen von bestimmten Akteuren in welchen Situationen zur positiven oder negativen Legitimitätsbewertung der Gendarmerie implizit oder explizit herangezogen werden. Auch die für Legitimitätsbewertungen zentrale Frage, welcher moral community (vgl. Hegtvedt/Scheuerman 2010) sich die jeweiligen Akteur*innen zugehörig fühlen und wie die Gendarmen dazu positioniert werden, kommt über eine Analyse von Gerechtigkeitsgefühlen in den Blick. Damit bietet die Untersuchung von Gerechtigkeitsgefühlen nicht zuletzt einen genuinen Zugriff auf den Umstand des Rechtspluralismus (vgl. Griffiths 1986; von Benda-Beckmann 1981; Tamanaha 2008), der im ländlichen Madagaskar, wie in anderen postkolonialen Kontexten, manifest ist und gerade in der Interaktion mit Gendarmen zum Tragen kommt. Für die vorliegende Fallstudie ergibt sich daraus die Anschlussfrage, welche normativen Ordnungen und moralischen Gemeinschaften die beiden Akteursgruppen (Dorfbewohner*innen und städtische Angehörige) im Zuge der emotional-affektiven Bewertungen der Gendarmerie reproduzieren und wie die Favorisierung der einen vor der anderen zu verstehen ist.
Die Gemeinde Menamaty-Iloto befindet sich im zentralen Süden von Madagaskar und gehört zur Region Ihorombe. Ihre circa 6000 Mitglieder, die sich größtenteils zur Gruppe der Bara zählen, verteilen sich auf rund vierzig Dörfer und Weiler, die um das Gemeindezentrum Iloto herumgruppiert sind. Im Fokus die-
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ser Fallstudie steht das Dorf Ranomadio mit rund 400 Einwohner*innen, in dem ich den Großteil meiner insgesamt 15-monatigen Feldforschung im Zeitraum von 2009 bis 2015 durchgeführt habe, sowie die drei bis vier Stunden Fußmarsch entfernt liegenden Nachbardörfer, mit denen regelmäßig Kontakt bestand. Die Bevölkerung dieser Dörfer betreibt vor allem Rinderhaltung und Reisanbau zur Selbstversorgung, Lohnarbeit spielt hingegen keine Rolle. Während Reisanbau in erster Linie der Nahrungsmittelversorgung dient, ist die Rinderhaltung von zentraler sozialer, religiöser und ökonomischer Bedeutung. So bestimmt die Größe des Viehbesitzes maßgeblich den sozialen Status von Personen, Rinder fungieren als Opfertiere im Rahmen religiöser, auf die Ahnengeister bezogener Praktiken und nicht zuletzt als Geldquelle in Zeiten der Not. Die Dorfbevölkerung gliedert sich in Patrilineages (tariky), die intern durch eine strikte, alters- und geschlechtsbedingte soziale Hierarchie gekennzeichnet sind. Überwiegend setzen sich die Dörfer aus mehreren tariky zusammen, die untereinander in einer egalitären Relation stehen, teils durch affinale Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind, teils ein distanziertes oder gar feindschaftliches Verhältnis pflegen. Bis zum Beginn der 20. Jahrhunderts waren die Patrilineages der weiteren Region unter der Führung von Angehörigen des Zafimagnely-Klans in übergeordnete politische Systeme eingebettet, die Huntington (1986: 180) als „loosely organized federations“ bezeichnet (vgl. Kottak 1977: 140). Im Laufe der französischen Herrschaft (1896-1960) verloren diese jedoch rasch an Bedeutung und an ihre Stelle trat, zumindest formal, das koloniale Verwaltungssystem, das mit der Unabhängigkeit wiederum zu weiten Teilen in den madagassischen Nationalstaat überging. So geht auch die Existenz der politischen Gemeinde Menamaty-Iloto mit ihrem Verwaltungszentrum Iloto auf die französische Kolonialherrschaft zurück. Gegenwärtig fungiert Iloto, das von Ranomadio aus in einem circa vierstündigen Fußmarsch zu erreichen ist, als Kontaktraum der Dorfbevölkerung und des urbanen Lebens sowie der staatlichen Institutionen Madagaskars. Hier befinden sich einige kleine Geschäfte, deren Angebot durch einen wöchentlichen Markt erweitert wird, eine Krankenstation, zwei Grundschulen und zwei Kirchengemeinden, wobei weder die Bildungseinrichtungen noch die christlichen Institutionen von der Bevölkerung der umliegenden Dörfer frequentiert werden. Darüber hinaus verfügt Iloto seit 2012 wieder über eine unbefestigte Straßenanbindung, die die von der französischen Kolonialregierung gebaute, seit Jahrzehnten allerdings unpassierbare Straße ersetzte. Damit haben die Menschen aus der Region die Möglichkeit, mit einem einmal wöchentlich verkehrenden Fahrzeug eines Händlers in die 90 Kilometer südlich gelegene Kleinstadt Ranohira zu gelangen
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– eine Möglichkeit, die allerdings nur von wenigen Menschen aus Ranomadio je genutzt wurde. Im Jahr 2012 wurde zudem eine Antenne errichtet, die in Iloto und an einigen exponierten Stellen im Umland ein Mobilfunknetz bereitstellt. Die Staatsgewalt ist in Iloto in Form der Gemeindeverwaltung und eines Postens der nationalen Gendarmerie präsent. Der Einfluss der Gemeindeverwaltung auf den Lebensalltag der Dorfbevölkerung war im Forschungszeitraum allerdings kaum spürbar. Zwar wurde der meist abwesende Bürgermeister in den Dörfern durch einen chef de fokotany vertreten, diese genossen jedoch kaum Autorität unter der Dorfbevölkerung und mischten sich in der Regel auch nicht in die internen Angelegenheiten ein. In Ranomadio hatte dieses Amt ausgerechnet ein vor einigen Jahren zugezogener Mann inne, der aufgrund fehlenden Viehbesitzes zu den ärmsten Dorfbewohnern gezählt wurde und nur wenig Ansehen genoss. Seine Funktion beschränkte sich auf die Aufgaben, den Rinderbesitz zu registrieren oder Impfmittel auszuteilen. Die Dorfbevölkerung, insbesondere junge Männer, suchten das Bürgermeisteramt allenfalls auf, um sich Identitätspapiere ausstellen zu lassen, deren Besitz von den Gendarmen kontrolliert wurde. Ungleich präsenter war hingegen die Gendarmerie im Alltag und in den Erzählungen der Menschen von Ranomadio. Sie kamen wiederholt nach Ranomadio und in andere Dörfer, in denen ich mich gerade aufhielt, nahmen Personen fest oder wurden von diesen zu einer Intervention veranlasst. Auch in Alltagsgesprächen und Erzählungen verschiedener Art nahmen sie eine prominente Rolle ein – so auch in Emotionsnarrativen, die im folgenden Abschnitt als Zugang zu den Gerechtigkeitsgefühlen gegenüber Gendarmen fungieren.
„Wir fürchten uns besonders vor Gendarmen und Viehdieben. Alle Menschen fürchten sich vor diesen beiden. Anders verhält es sich beispielsweise mit Raupen, vor ihnen fürchten sich nur bestimmte Personen.“ Diese hochgradig generalisierende Aussage, wonach Gendarmen – genau wie Viehdiebe, jedoch im Gegensatz zu Raupen – von allen Menschen aus der Gemeinschaft gefürchtet werden, bedarf freilich einer Validierung und Differenzierung durch weitere Stimmen. Hierzu ziehe ich Emotionsnarrative aus einer lexikografischen Erhebung zu rund einhundert Wörtern des lokalen Emotionsvokabulars heran (vgl. Scheidecker 2017). Die Gesprächspartner*innen wurden gebeten, das jeweils vorgegebene Emotionswort zu erläutern und durch eine Episode zu exemplifizieren, in der sie die bezeichnete Emotion erlebt haben oder erleben würden. Von den so
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erfragten, hypothetischen oder erinnerten Emotionsepisoden beziehen sich 15 auf Gendarmen als Gegenstand der emotional-affektiven Bewertung. Bemerkenswert dabei ist: diese Narrative betreffen ausschließlich Emotionen aus dem Angstspektrum. Die Emotion vologny beispielsweise, die mit dem Gefühl des Unheimlichen vergleichbar ist, erläutert ein junger Mann mit einem Szenario, in dem die Möglichkeit besteht, dass er alleine in unübersichtlichem Gelände auf Gendarmen trifft: „Während ich alleine von Ranomadio nach Famofo laufe, ist mir unheimlich zumute, da ich gehört habe, dass Gendarmen auf derselben Strecke unterwegs sind. Deshalb versuche ich, ihnen auszuweichen und nehme einen Umweg.“ Einem Mann mittleren Alters ist nach eigenem Bekunden sogar kontinuierlich unheimlich zumute, „weil die Gendarmen jederzeit im Dorf auftauchen könnten“. Wie sich bald nach diesem Gespräch herausstellte, war dieses Gefühl nicht ganz unbegründet, da einige Wochen später zwei Gendarmen nach Ranomadio kamen und dem Gesprächspartner aufgrund einer fehlenden Lizenz für sein neues Gewehr einen beträchtlichen Geldbetrag abnahmen. Wie von verschiedenen Seiten vermutet wurde, war der relativ wohlhabende Gesprächspartner von einer neidischen Person angezeigt worden. Mitseky, eine weitere diffuse Form der Angst, die sich mit dem Gefühl der Besorgnis vergleichen lässt, wurde ebenfalls wiederholt mit Gendarmen assoziiert: „Die Gendarmen kommen häufig zu mir, um Geld zu fordern. Nachdem sie da waren, bin ich mitseky, weil es gut möglich ist, dass sie bald wiederkommen“ – erklärt ein ebenfalls wohlhabender, älterer Mann. Eine Mutter mittleren Alters schreibt diese emotionale Reaktion gegenüber Gendarmen gleich einem kollektiven Subjekt zu: „Wenn wir davon hören, dass bald Viehdiebe oder Gendarmen zu uns kommen könnten, sind wir alle mitseky und wollen nichts mehr essen.“ Auch solche Emotionen der Angst wurden mit Gendarmen in Verbindung gebracht, die sich auf eine direktere Bedrohung beziehen und mit einer hohen affektiven Intensität einhergehen. Ein junger Mann erzählt, dass er starke Furcht erlebte, als er mit Gendarmen-Besuch und einer Verhaftung rechnen musste: „In Iloto [dem Gemeindezentrum] fragten mich einmal die Gendarmen nach meinem Ausweispapier und ich sagte, dass sich dieses zu Hause befände, obwohl ich noch keines besaß. Die Gendarmen sagten, sie würden am nächsten Tag ins Dorf kommen; ich fürchtete mich sehr (matahotsy be) und versteckte mich, als sie kamen.“ Weitere Narrative deuten darauf hin, dass Gendarmen auch dann intensive Furcht hervorrufen können, wenn das Emotionssubjekt nicht selbst mit einer Verhaftung rechnen muss: „Wenn die Gendarmen ins Dorf kommen und mir jemand mitteilt, dass diese jemanden aus meiner Familie suchen, dreht sich mein
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Herz um (mivadim-po)“, erklärte eine junge Frau. Von einer ähnlichen Situation berichtet ein etwa zehnjähriges Mädchen: „Ich begann aus Angst zu zittern (mangitikitiky) als ich hörte, dass die Gendarmen kommen werden, um meine Eltern zu holen.“ Während in den beiden letzten Episoden die Nachricht, dass Verwandte im Visier der Gendarmen sind, für intensive Angstemotionen sorgt, kann einem jungen Mann zufolge auch eine unerwartete Begegnung mit Gendarmen eine starke Angstreaktion auslösen: „Mein Herz klopfte heftig (mitofotsy fo), als ich auf einmal Gendarmen in der Ferne erblickte.“ Eine weitere Steigerung der affektiven Intensität resultiert den Narrativen zufolge aus einer direkten Interaktion mit den Gendarmen. Davon berichtet ein junger Mann: „Einmal prügelten sich in Ranomadio zwei Männer. Daraufhin kamen die Gendarmen und nahmen irrtümlich mich fest. Im Augenblick der Festnahme erschrak ich heftig (tahitsy).“ Mit einer weiteren GendarmenInteraktion erläutert ein anderer junger Mann mangitikitiky („Angstzittern“): „Als ich mich mit meiner Freundin in ihrem Haus aufhielt, kam ein Gendarm vorbei, hämmerte an die Tür, schoss dann in die Luft und drohte schließlich, das Dach anzuzünden [wenn die Tür nicht geöffnet werde]. Aus Angst zitterte ich heftig.“ Dieses nächtliche Ereignis, das wohl keinem Dorfbewohner verborgen blieb, sorgte am nächsten Tag für einigen Gesprächsstoff. Wie erzählt wurde, war der Gendarm auf der Suche nach einer jungen Frau, mit der er ein Verhältnis hatte. Sie soll sich aus Furcht vor dem angetrunkenen Gendarmen versteckt haben. Inwiefern lässt sich die eingangs zitierte Aussage, die Menschen von Menamaty fürchteten sich generell vor Gendarmen, nun auf der Basis dieser Narrative differenzieren? Zwar erzählten Männer, Frauen und Kinder persönliche Episoden der Gendarmen-Angst, jedoch waren die Männer deutlich überrepräsentiert (9 der 15 Episoden), insbesondere ältere wohlhabende und junge Männer. Während einige der männlichen Erzähler von einer ihnen drohenden Verhaftung berichten, beschreiben alle weiblichen sowie kindlichen Erzähler*innen eine Situation der indirekten Bedrohung – sie ängstigten sich, weil die Gendarmen Familienangehörige aufsuchen. Auch nach meinen eigenen Beobachtungen waren mit einer Ausnahme nur männliche Personen von Festnahmen durch Gendarmen betroffen. Dennoch scheint mir die oben angeführte Aussage berechtigt, dass Gendarmen generell, also unabhängig von einer konkreten Sanktionsgefahr und der sozialen Identität des Emotionssubjekts, als furchteinflößende Akteure wahrgenommen werden. Anlass zu dieser Einschätzung geben zum einen einige Narrative, denen zufolge eine drohende oder tatsächliche Begegnung mit Gendarmen selbst dann Angst auslöst, wenn kein konkreter Grund für eine Verhaftung bekannt ist – zumindest hielten es die entsprechenden Erzähler*innen nicht für er-
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forderlich, ihre Narrative durch die Erwähnung eines solchen Grundes zu plausibilisieren. Zum anderen stütze ich diese Einschätzung auf meine teilnehmende Beobachtung. Die gelegentlichen Gendarmenbesuche während meiner Feldforschung sorgten stets für aufgeregtes Mutmaßen darüber, was die Absicht der Gendarmen sein könnte, wen sie möglicherweise verhaften würden. Die affektive Resonanz eines solchen Besuchs erlebte ich bei meinem letzten Aufenthalt (2015) in einem kleinen Dorf besonders intensiv, da ihr Besuch meiner Gastfamilie galt. Eines Abends befand ich mich mit dem Ehepaar, einigen jungen Männern und zahlreichen Kindern im Haupthaus des Weilers, als uns jemand informierte, dass zwei Gendarmen eingetroffen seien, um die Nacht hier zu verbringen. Unsere lebhafte Unterhaltung verstummte sofort und jemand verriegelte die Tür von innen. Sogleich ließ sich der Hausherr ein Mobiltelefon bringen und rief damit Verwandte in umliegenden Dörfern an, um sie über die Präsenz der Gendarmen in Kenntnis zu setzen. Obwohl die Gendarmen nach eigenem Bekunden lediglich zur Übernachtung vorbeigekommen waren, begannen die Anwesenden leise über die eigentlichen Gründe ihres Erscheinens zu mutmaßen. In Erwägung gezogen wurde etwa, dass sie einen jungen Mann mitnehmen würden, weil er einem anderen Geld schulden sollte. Der Hausherr befürchtete, dass sie ihn selbst im Visier haben könnten, weil er sich bei den letzten Wahlen öffentlich für den Gegenkandidaten des aktuellen Bürgermeisters ausgesprochen hatte. Spätestens als sich die Unterhaltung der Frage zuwandte, wo man die Gendarmen unterbringen solle, und der Vorschlag aufkam, sie in unserem aktuellen Aufenthaltsraum nächtigen zu lassen, verwandelte sich auch meine Anspannung in ein Gefühl der Angst. Denn diese Option hätte zwangsläufig zu einer Begegnung mit den Gendarmen geführt, da der Aufenthaltsraum auch mir und meinem Begleiter, dem Sohn des Hausherrn, als Schlafort diente. Allein die Vorstellung, dass sie hochgradig überrascht sein würden, hier einen Fremden anzutreffen, und mit Misstrauen reagieren könnten, erfüllte mich mit einem bangen Unbehagen. Mein Begleiter fühlte offenbar ähnlich, denn er überredete seinen Vater schließlich, die Gendarmen in der benachbarten Küche unterzubringen. Am nächsten Morgen, nachdem die Gendarmen unverrichteter Dinge weitergezogen waren, klagten mehrere Personen, dass sie kaum geschlafen hätten, ja, dass das ganze Dorf nicht geschlafen habe. Offenbar hatte die Präsenz der Gendarmen für eine allgemeine Atmosphäre der Angst gesorgt. Die Frage nach der Ausbildung, Stabilisierung und Transformation der beschriebenen, auf Gendarmen gerichteten Angstgefühle bedarf zunächst einer Skizzierung des hier angesetzten Emotionsverständnisses. Nach dem disziplinübergreifend angewandten Multikomponentenmodell des Emotionalen (vgl.
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Scherer 1984; Mesquita/Markus 2004; Shweder et al. 2007; Engelen et al. 2009; von Scheve 2011) spielen kognitive Einschätzungsprozesse (appraisal) eine maßgebliche Rolle dabei, ob und auf welche Weise sich Personen von einer bestimmten Situation oder einem Ereignis emotional affizieren lassen. Diese vermittelnde Rolle der Appraisal-Komponente liegt bei jenen präsentierten Narrativen besonders deutlich auf der Hand, denen zufolge sich das Emotionssubjekt vor Gendarmen ängstigt, obwohl diese abwesend sind: Es muss in irgendeiner Weise die Begegnung und deren Folgen kognitiv antizipieren. Selbst die Furcht angesichts einer direkten Begegnung mit Gendarmen setzt gewisse Einschätzungsprozesse voraus – etwa, dass diese Akteure in die Kategorie „Gendarmen“ fallen und diese Kategorie von Menschen eine Bedrohung darstellt. Entscheidend ist also die Frage, wie die Einschätzungsmuster der Gendarmen-Angst sozial und kulturell konstruiert werden. Zunächst liegt es auf der Hand, dass das situative, emotionsauslösende Appraisal durch historisch tradierte und fortwährend interindividuell kommunizierte kulturelle Modelle von Gendarmen mitkonstituiert wird. Ein solches Gendarmen-Image beeinflusst das event coding (Frijda/Mesquita 1994: 53), also das konkrete Appraisal einer Gendarmen-Interaktion. Die Frage ist allerdings, wodurch kulturelle Modelle eine derart starke affektive Potenz entfalten, dass sie bei gegebenem Anlass tatsächlich intensive emotionale Reaktionen auslösen. Im Rückgriff auf emotionsbezogene Lerntheorien aus der kognitiven Anthropologie (Quinn 2005) und der Kognitionspsychologie (Leventhal/Scherer 1987) gehe ich davon aus, dass Individuen aufgrund einer Reihe ähnlicher, affektiv intensiver Erfahrungen relativ stabile kognitive Schemata ausbilden können, die sie über fortlaufende Kommunikationsprozesse mit dem Gendarmen-Image zu AppraisalMustern verflechten. Derart gebildete Appraisal-Muster lassen sich insofern als emotionale Dispositionen verstehen, als sie anlässlich einer (drohenden) Gendarmen-Interaktion die situative Einschätzung mitbestimmen und ihr gleichzeitig eine affektive Potenz verleihen, indem sie die Aktualisierung früherer affektiver Erfahrungen mit Gendarmen ermöglichen. Eine solche Verflechtung aus individuellen, affektiven Erfahrungen und kulturellen Modellen zu spezifischen Appraisal-Mustern fundiert somit ein geteiltes, individuell relevantes Emotionsrepertoire2 – im vorliegenden Fall das der Gendarmen-Angst. Nach Maßgabe dieses Modells werde ich im Folgenden die Prozesse der Ausbildung, Verankerung und Transformation dieses Emotionsrepertoires in den Blick nehmen und dabei drei Aspekte fokussieren: 1. Das Image von Gendarmen, das sich über langfristige historische Tradierungsprozesse ausbildet und fort-
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Zum Begriff des Emotionsrepertoires vgl. Slaby et al. 2016: 79ff.
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setzt. Im Hinblick auf die situativen Einschätzungsprozesse kommt diesem Image eine rahmende Funktion zu, indem es dem Emotionssubjekt eine grundlegende Kategorisierung der Personengruppe, die hier aus etischer Perspektive als Gendarmen bezeichnet werden, nahelegt. Dieser Aspekt der Emotionsdisposition trägt der unter den dörflichen Akteuren geteilten Tendenz Rechnung, Gendarmen generell als furchtbare Akteure anzusehen. 2. Erfahrungen, Beobachtungen und Narrative von einzelnen Gendarmen-Interaktionen, die das Gendarmenimage zu konkreten Einschätzungsmustern verdichten und zugleich affektiv „aufladen“. Dieser Aspekt des Einschätzungsmusters variiert je nach individuellen Erfahrungen und trägt damit der in den Narrativen zum Ausdruck gebrachten interpersonalen Varianz Rechnung. 3. Die Bewertungen und Interventionen städtischer Angehöriger, die eine Transformation der Gendarmen-Angst unter der Dorfbevölkerung propagieren.
Einen ersten Zugang zum Image der Gendarmen bietet ihre Bezeichnung als vazaha. Auch wenn das französische Lehnwort zandary (abgeleitet von gendarme) bekannt ist, war im dörflichen Kontext doch üblicherweise von vazaha die Rede. Diese Begriffsverwendung irritierte mich zunächst, weil ich zu Beginn meiner Feldforschung gelernt hatte, sie auf mich und „Meinesgleichen“ zu beziehen. Dies basierte auf einer Erfahrung, die unter Neuankömmlingen in Madagaskar offenbar verbreitet ist: „Vazaha ist ohne Zweifel eines der ersten Wörter, die jede*r Fremde, die/der gerade in Madagaskar angekommen ist, hört und versteht, weil es häufig verwendet wird, um auf sie/ihn aufmerksam zu machen, mitunter schon beim Verlassen des Flughafens.“3 Nicht nur am Flughafen, auch an vielen anderen Orten, die ich zum ersten Mal oder nur selten besuchte, hörte ich Kinder „Vazaha, vazaha!“ rufen oder vernahm die Begrüßung „Salut vazaha!“. Die Art der Aufmerksamkeit, die mir damit zuteilwurde, wirkte zwar nie unfreundlich, jedoch rief sie mir stets ins Bewusstsein, dass ich als hochgradig fremde Person wahrgenommen wurde. Entsprechend erfüllte es mich mit großer Genugtuung, insbesondere im Hinblick auf meine angestrebte Ethno-
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Übersetzung des Autors aus dem Französischen : „Vazaha est sans doute un des premiers termes que tout étranger nouvellement arrivé à Madagascar entend et comprend puisqu’il se trouve fréquemment employé à son attention et parfois dès sa sortie de l’aéroport.“ (Papinot 1998: 107).
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logenrolle, dass die Menschen von Menamaty-Iloto allmählich davon abließen, mich als vazaha zu bezeichnen. Wörtlich bedeutet vazaha schlicht „Fremdartige*r/fremdartig“ oder „Ausländer*in/ausländisch“, das genaue Gegenwort lautet malagasy/gasy (Madagass*in/madagassisch). Vazaha wird nicht nur zur Bezeichnung fremder Menschen, sondern auch fremdartiger Dinge oder Verhaltensweisen verwendet. Synthetische Medikamente werden etwa mit dem Wort fanafody vazaha benannt – im Gegensatz zu selbst hergestellten Heilmitteln (fanafody gasy). Meine dörflichen Gesprächspartner*innen bezeichneten die Lebensweise von Städter*innen sogar häufig als fomba vazaha, als fremdartige Lebensweise. Die populäre Bezeichnung der Gendarmen als vazaha verweist also darauf, dass sie als Fremde kategorisiert werden, die außerhalb der Gemeinschaft und wohl auch jenseits der lokalen moral community stehen. Diese konzeptuelle Exklusion der Gendarmen tritt im Vergleich zu anderen Personengruppen besonders deutlich hervor. Städtische Madagass*innen werden trotz ihrer fremdartigen Lebensweise genauswenig als vazaha bezeichnet wie befeindete Personen (arahamba) oder Unbekannte, die im Dorf um Unterkunft bitten (vahiny). Neben den Gendarmen (und Richtern) werden einzig Ausländer*innen, insbesondere Europäer*innen, als vazaha bezeichnet. Der Umstand, dass madagassische Akteure (Gendarmen), die in derselben Gemeinde leben, mit einer Bezeichnung versehen werden (vazaha), die ansonsten nur für gänzlich fremdartige, unbekannte Menschen Verwendung findet (unbekannte europäische Ausländer*innen), kann als eine demonstrative Distanzierung gelesen werden, als eine ausdrückliche Verortung der Gendarmen jenseits der eigenen sozialen und moralischen Sphäre. In historischer Perspektive liegt die These auf der Hand, dass die Gendarmen und andere Funktionäre ihre Bezeichnung als vazaha von den französischen Kolonialherren geerbt haben – zumindest wurde dieses Wort für die ausländischen Besatzer benutzt (vgl. Cole/Middleton 2001; Kaufmann 1999). Neben der Positionierung der Gendarmen jenseits des Gemeinwesens verweist die Sprachverwendung auf einen weiteren Aspekt des Gendarmen-Images. Daraufhin wurde ich anlässlich meiner eingangs beschriebenen Begriffsverwirrung beim Gespräch über Gendarmen aufmerksam gemacht. Die Rede sei nicht von einem vazaha mena sofy, einem „rotohrigen Fremden“ wie Meinesgleichen, sondern von den vazaha manam-basy, den „Gewehr besitzenden Fremden“. Diese feststehende, exklusive Bezeichnung für Gendarmen wurde einem älteren Mann zufolge früher speziell für die französischen Kolonialherren benutzt. Bemerkenswert ist, dass sie gegenwärtig gerade zur Abgrenzung von französischen
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und anderen Ausländer*innen dient.4 Die Spezifizierung über den Gewehrbesitz – und nicht etwa über ihre Funktion als Gesetzeshüter oder Sicherheitskräfte – verweist auf ihre Übermacht bzw. auf ihre Fähigkeit zu physischer Gewalt als zentrales Attribut. Zwar besitzen viele der dörflichen Akteure ebenfalls Gewehre, jedoch sind ihre Schrotflinten den halbautomatischen Waffen der Gendarmen deutlich unterlegen. Insgesamt transportiert die Bezeichnung vazaha manam-basy also ein Image, das auf der Kombination zweier prominenter Attribute beruht. Aufgrund ihrer Waffen verfügen Gendarmen über ein überlegenes physisches Gewaltpotenzial, durch ihre Positionierung außerhalb der moral community erscheinen sie nicht an gemeinsame Normen gebunden und somit unberechenbar. Das Image der Gendarmen als besonders gewaltfähige und zugleich moralisch ungebundene Akteure ist als zentrale Voraussetzung für ihre Kategorisierung als bedrohliche Personengruppe zu sehen. Indes macht das an die Bezeichnung vazaha manam-basy geknüpfte Image für sich genommen die Gendarmen noch nicht zu einer konkreten Gefahrenquelle für die Dorfbevölkerung. Dass das Gendarmen-Image dennoch diesen Aspekt umfasst, legt eine weitere Bezeichnung nahe: dahalo ambony latabatsy – „Viehdiebe am Tisch“. Damit wird zwischen Gendarmen und Viehdieben (dahalo, malaso) explizit eine Analogie gezogen, die sich implizit auch in den Emotionsnarrativen zum Angstvokabular zeigt: Wiederholt werden dort Gendarmen in einer Reihe mit Viehdieben als per se furchteinflößende Akteure angeführt. Durch die Gleichsetzung mit Viehdieben, die sich in der weiter unten beschriebenen Praxis spiegelt, wird den Gendarmen ebenfalls ein konkretes Interesse am wertvollsten Besitz der Dorfbevölkerung – den Rindern – unterstellt. In Verbindung mit den Attributen der Übermacht und moralischen Ungebundenheit lässt diese diebische Neigung die Gendarmen vollends als furchtbare Akteure erscheinen. Historisch geht nicht nur die gegenwärtige Bezeichnung der Gendarmen als vazaha manam-basy auf diejenige der französischen Kolonialherren zurück, auch scheint ihr furchteinflößendes Image jenes der Besatzer fortzusetzen. Zumindest legt dies die Vergangenheitskonstruktion einiger Gesprächspartner* innen nahe, mit denen ich über die Kolonialzeit gesprochen habe. Prominent war die Erzählung, dass die Dorfbevölkerung stets in die umliegenden Wälder geflohen sei, wenn gelegentlich ein Trupp vazaha durch die Region zog. Einige seien
4
Wohlgemerkt ist auch in der Bezeichnung „Gendarmen“ zumindest etymologisch der Bedeutungsaspekt der Bewaffnung prominent enthalten. Es handelt sich um eine Zusammenrückung von „gens d’armes“, bewaffnete Männer (vgl. Duden). Allerdings werden hier die Bewaffneten nicht als Fremde signifiziert.
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aus lauter Furcht dauerhaft in den Wäldern zurückgeblieben, was die heutige Existenz von kleinen, vollständig behaarten wilden und scheuen Menschen (olo kololy) erkläre, die sich weiterhin in unzugänglichen Gegenden versteckt hielten. Einen weiteren Hinweis zur Furcht vor den Kolonialherren erhielt ich als Betroffener einer erklärungsbedürftigen Krankheit. Beim Besuch einer Grabstätte hätten die ansässigen Ahnengeister versucht, mich durch einen Abwehrzauber auf Distanz zu halten, weil sie mich für einen der Kolonialherren hielten, die sie zu Lebzeiten zu fürchten gelernt hatten. Einiges deutet darauf hin, dass das furchteinflößende Image des vazaha, sowohl des europäischen als auch madagassischen, durch gewisse Sozialisationspraktiken im Kleinkindalter tradiert wird. Im Rahmen meiner breit angelegten Erhebung zur Emotionssozialisation (Scheidecker 2017) berichteten Eltern von der Praxis, unartigen Kleinkindern damit zu drohen, einen vazaha herbeizuholen, der sie fangen und einsperren würde. Während man früher damit die „Rotohren“ meinte, würde man sich heute vorwiegend auf die Figur des Gendarmen beziehen. Dass die Kinderschreckfigur des weißen vazaha in einer Familie aus Ranomadio weiterhin zum Einsatz kam, wurde anlässlich einer für mich unangenehmen Erfahrung deutlich. Die beiden jüngsten Kinder dieser Familie zeigten zu Beginn meiner Feldforschung mehrfach entsetzte Gesichter sobald sie meiner gewahr wurden, rannten davon und versteckten sich.5 Auch wenn Gendarmen gegenüber älteren Kindern nicht mehr als Schreckfiguren evoziert werden, wird damit das Bild des grundsätzlich bedrohlichen Gendarmen wohl fundiert. Wie sich für Heranwachsende dieses Bild konkretisiert bzw. individualisiert und zu einem emotional affizierenden Einschätzungsmuster wird, hängt freilich von beobachteten, erzählten und erfahrenen Interaktionen mit Gendarmen ab.
Interaktionen zwischen Dorfbewohner*innen und Gendarmen gehörten zu den prominentesten Nachrichten, die ausgetauscht wurden, wenn ich zusammen mit Angehörigen meiner Gastfamilie ein Nachbardorf von Ranomadio besuchte oder wir Besuch erhielten. Wann immer ich mich mit älteren Männern über ihre Vergangenheit unterhielt, erzählten sie von ihren Erfahrungen mit Gendarmen. Der Umstand, dass während meiner Feldforschung in Ranomadio „nur“ viermal
5
Zumindest im Gewand eines Witzes wurde mir immer wieder auch von Erwachsenen unterstellt, meine Forschung zu Kindern hätte den eigentlichen Zweck, diese zu stehlen.
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Gendarmen vorbeikamen, um Personen zu kontrollieren oder festzunehmen, führten meine Gastgeber*innen auf meine Gegenwart zurück: Die vazaha manam-basy hielten sich zurück, weil sie ihrerseits den vazaha mena sofy fürchten bzw. respektieren würden. Diese schmeichelhafte Rolle hatte freilich die Konsequenz, dass ich nur selten die Praxis der Gendarmen direkt beobachten konnte. Exemplarisch stelle ich nun eine Episode vor, die sich während meiner zweiten Feldforschung 2010 teilweise in Ranomadio ereignete, um dann auf der Basis von fünf weiteren, detailliert dokumentierten Episoden6 sowie zahlreicher Narrative ein allgemeineres Bild von Gendarmen-Interaktionen zu skizzieren.
In einem Dorf, etwa dreißig Kilometer südlich von Ranomadio, wurden zwei junge Männer von den Gendarmen aus Iloto aufgrund der Beschuldigung festgenommen, am Diebstahl von einigen Rindern eines Nachbarn als Komplizen beteiligt gewesen zu sein. Da der Besitzer zwei weitere Männer aus Ranomadio, Dede und Voavy, als eigentliche Viehdiebe verdächtigte, kamen die Gendarmen zu uns. Hier legten sie Marojaony, den Vater von Dede und Onkel von Voavy in Handschellen, schlugen ihn und drohten damit, ihn in die Zelle in Iloto zu stecken. Dies bewog Dede und Voavy, die sich in der Nähe des Dorfes versteckt hielten, sich den Gendarmen zu zeigen. Sie wurden festgenommen, dabei geschlagen, aneinander gekettet und umgehend nach Iloto abgeführt. Dabei beobachtete ich zwei Frauen, die die Erde einsammelten, in der die abziehenden jungen Männer ihre Fußspuren hinterlassen hatten. Dies sollte ihre baldige Rückkehr bewirken. Marojaony machte sich kurz danach mit einigen Repräsentanten verwandter Lineages ebenfalls auf den Weg nach Iloto – einerseits, um die jungen Männer, die in einer kleinen Zelle der Gendarmenkaserne festgehalten wurden, zu versorgen und andererseits, um die Bedingungen ihrer Freilassung mit den Gendarmen auszuhandeln. Drei Tage später kehrten Voavy und Dede mit ihren Angehörigen zurück. Sie waren unter der Auflage freigelassen worden, am nächsten Markttag den Gendarmen 800.000 Ariary (was dem Marktwert von vier Rindern entspricht) zu übergeben. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde die Freilassung im Haus von Marojaony unter großer Anteilnahme gefeiert: Nach einem Opferritual mittels Rum zur Segnung der Freigelassenen kauften diese weiteren Alkohol, um ihren Angehörigen zu danken, und gemeinsam mit ihnen zu trinken. Dabei erzählte besonders Voavy in aller Ausführlichkeit
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Für eine ausführliche Darstellung von drei dieser Episoden siehe Scheidecker 2014.
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und, wie mir schien, nicht ohne Stolz von seinem Aufenthalt bei den Gendarmen in Iloto. Lediglich Marojaony wirkte etwas unglücklich. Am nächsten Tag durfte ich auch an der Beratung zur Frage teilnehmen, wie mit der Zahlungsforderung der Gendarmen umzugehen sei. Während insbesondere mein Gastvater dazu riet, vorerst einen Boten zu seinem Neffen Iavitsara in der Stadt zu schicken, da dieser die Gendarmen von der Geldforderung abbringen könne, verwiesen andere auf die Gefahr einer Vergeltung durch die Gendarmen. Marojaony brachte seine Furcht vor weiteren Misshandlungen zum Ausdruck und so wurde letztlich die Entscheidung getroffen, den Betrag auszuhändigen.
Dass es sich bei den direkt betroffenen Akteuren um junge Männer sowie um einen älteren Mann handelt, ist durchaus typisch für die mir bekannten Fälle. Nur in einem Fall war eine Frau betroffen, die zusammen mit ihrem Ehemann festgenommen und physisch misshandelt wurde – wie erzählt wurde, zündeten die Gendarmen unter anderem ihr Kleid an, um ihres Sohnes habhaft zu werden. Auch die eingangs analysierten Narrative zur Gendarmen-Angst stammen größtenteils von jungen sowie vergleichsweise wohlhabenden älteren Männern. Junge Männer sind besonders häufig von Verhaftungen betroffen, weil sie unter dem Generalverdacht des Viehdiebstahls stehen, dessen Bekämpfung die in Iloto stationierten Gendarmen als ihre primäre Aufgabe darstellten. Viehdiebstahl ist in der Forschungsregion eine verbreitete Praxis mit einem elaborierten Set an Strategien, Praktiken und Werten (vgl. Ribard 1926; Randrianarison 1976; Hoerner 1982; Fauroux 2003; Rasamoelina 2007), die sich bereits in den vorkolonialen Quellen der Merina-Monarchie manifestiert und von dieser wie auch von der französischen Kolonialverwaltung und der madagassischen Regierung ohne nachhaltigen Erfolg bekämpft wurde (vgl. Scheidecker 2014: 129f.). Während meiner Feldforschung war diese Praxis weiterhin omnipräsent: Zum einen war der Rinderbesitz von Ranomadio und Nachbardörfern mehrfach Gegenstand von Raubzügen – so wurden in einem Fall rund 120 Rinder des reichsten Mannes aus Ranomadio gestohlen. Zum anderen machten die jungen Männer aus Ranomadio keinen Hehl daraus, sich als Viehdiebe betätigt zu haben oder entsprechende Absichten zu hegen. Bedeutet dies, dass nur jene jungen Männer die Gendarmen fürchten müssen, die tatsächlich Rinder gestohlen haben? Aus zwei Gründen laufen grundsätzlich alle Männer dieser Altersgruppe Gefahr, von Gendarmen festgenommen, misshandelt und eingesperrt zu werden. Als prädestinierte Viehdiebe werden ihre Identitätspapiere besonders häufig von Gendarmen kontrolliert. Unregelmäßig-
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keiten, wie etwa im oben angeführten Narrativ von Kabo, der noch kein Identitätsdokument besaß, können unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen, die sich vor dem Hintergrund des Gendarmen-Images als unberechenbare und gewaltbereite Akteure noch subjektiv intensivieren. Die Verbreitung dieser Praxis wurde mir zu Beginn der Feldforschung durch zahlreiche Anfragen junger Männer bewusst, ihnen bei der Beantragung von Identitätspapieren behilflich zu sein. Der zweite Grund, weshalb junge Männer aus der Region unabhängig von tatsächlichem Viehdiebstahl jederzeit mit einer Festnahme durch Gendarmen rechnen müssen, ist in der unter der Dorfbevölkerung verbreiteten Praxis zu sehen, Konfliktpartner bei den Gendarmen anzuzeigen. Diese Praxis ist u.a. Gegenstand von hypothetischen Emotionsepisoden, die zur Verdeutlichung von Neid und Wut erzählt wurden: „Beispielsweise gibt es einen befeindeten/nicht verwandten Mann (arahamba), der viel reicher [an Rindern] ist als ich. Immer wenn ich ihn sehe, macht mich das neidisch (maimay) und deshalb versammle ich einige Freunde, um diesen Reichen zu töten oder seine Rinder zu stehlen. Vielleicht versuche ich auch, ihm durch einen Zauber (voriky) Schaden zuzufügen oder ich zeige ihn bei den Gendarmen an, damit er seine Rinder verliert. Das ist der Neid, der Neid auf den Besitz einer anderen Person.“ „Zum Beispiel habe ich einen Streit mit meinem Nachbarn, wir streiten uns eigentlich wegen des Reisfeldes. Er ist wütend (maseky), ruft die Gendarmen und ich komme ins Gefängnis, weil ich des Viehdiebstahls beschuldigt werde. Nachdem ich wieder ins Dorf zurückgekehrt bin, hege ich einen tiefen Groll gegen ihn, ich kann nicht vergessen, was er mir angetan hat […].“
Die Strategie, unliebsamen Personen durch eine fingierte Anzeige bei der Gendarmerie zu schaden, macht nicht nur plausibel, weshalb junge Männer unabhängig von einer tatsächlichen Rechtsverletzung den Zugriff von Gendarmen fürchten, sondern verweist darüber hinaus auf eine Gleichsetzung von Gendarmen und Viehdieben in der Praxis, die sich bereits auf konzeptueller Ebene gezeigt hat. Denn die Anzeige bei der Gendarmerie entspricht einer Emotions- und Handlungslogik im Umgang mit Viehdieben. Wie in der Literatur ausführlich dargelegt (Michel 1957: 139; Elli 1993: 52; Fauroux 2003: 31), werden Akte des Viehdiebstahls in der Regel durch einen lokalen Informanten initiiert (pagnolotsy), der aufgrund von Neid oder Groll auf einen Nachbarn Viehdiebe anlockt, indem er diese mit den nötigen Informationen über die Rinder des Rivalen versorgt. Das Ziel besteht wie bei der Anzeige bei der Gendarmerie darin, dem Nachbarn einen empfindlichen Verlust zuzufügen. Sowohl die „traditionelle“ als
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auch die „moderne“ Strategie indirekter Vergeltung basiert auf dem Hinzuziehen von Akteuren, die außerhalb der moral community stehen. Diese Umstände der Gendarmen-Intervention lassen verstehen, weshalb nicht nur junge, sondern auch ältere, reiche Männer besonders häufig in Konflikt mit der Gendarmerie geraten. Aufgrund ihres Reichtums erwecken sie zum einen in besonderem Maße den Neid ihrer Mitmenschen, was eine Anklage ihrer Söhne wegen Viehdiebstahls wahrscheinlich macht. Zum anderen werden diese Akteure als besonders attraktive Ziele für Gendarmen beschrieben, da sie in der Lage sind, hohe Lösegelder zu zahlen. Sofern ihre Söhne von Gendarmen festgenommen wurden, schalten sie sich auch selbst ein, um ihre Freilassung zu sorgen. Mir ist kein Fall bekannt, in dem ein tatsächliches Opfer von Viehdiebstahl die Gendarmen aus einem bloßen Interesse an Aufklärung und Schadensbehebung hinzuzog. In mehreren Gelegenheitsgesprächen wurden mir folgende Gegenmotive genannt: Sobald der Verlust von Rindern bemerkt wird, muss die Spurensuche unmittelbar aufgenommen werden, damit eine Chance besteht, die Viehdiebe einzuholen. Der dreistündige Marsch zur Gendarmerie in Iloto würde zu lange dauern. Die Gendarmen seien auch kaum geeignet, die Diebe aufzuspüren, da sie nicht über das nötige Netz an Informant*innen in den umliegenden Dörfern verfügten. Abgesehen davon seien Gendarmen in der Regel nicht motiviert, die mühsame und gefährliche Verfolgung von Viehdieben ernsthaft aufzunehmen. Nicht zuletzt liefe das Opfer Gefahr, selbst zum Ziel der Gendarmen zu werden, etwa wenn ein vermeintlicher Täter eine Gegenklage bemüht.7 Allerdings sind die Dorfbewohner*innen nach dem staatlichen Recht verpflichtet, eine Erlaubnis zur Täterverfolgung bei der Gendarmerie einzuholen. Kommen sie dieser Verpflichtung nicht nach, haben die Gendarmen wiederum einen Grund, selbst dann noch einzugreifen, wenn die Täter- und Opferparteien bereits Kompensationsregelungen gefunden haben. Die Umstände der Gendarmenintervention folgen also einer Logik, die geradezu in einem konträren Verhältnis zu ihrem Auftrag steht, Viehdiebstahl im Sinne des staatlichen Rechts zu ermitteln und einer Sanktion zuzuführen. Sie sorgen zugleich für eine interindividuelle und intersituative Ausweitung der Gendarmen-Angst, da ihr Zugriff nicht durch die Befolgung des staatlichen Rechts kontrollierbar erscheint. Die affektive Intensität der Angst vor Gendarmen hängt allerdings mit den Sanktionserfahrungen zusammen, die nun in den Blick zu nehmen sind.
7
Vgl. Ruffini (1978: 226ff.), der für sardische Hirten ähnliche Motive anführt, im Fall von Viehdiebstahl die Einbeziehung der carabinieri zu unterlassen.
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In der Regel wird der Beschuldigte in Handschellen gelegt, nach Iloto geführt und dort in eine Zelle ohne sanitäre Einrichtung gesperrt. Sämtlichen Berichten zufolge kommt es dabei zu physischen Misshandlungen und zur Androhung schlimmerer Konsequenzen, etwa einer lebenslange Gefängnisstrafe. So wurden die Narben am Kopf meines Gastvaters sowie sein Hörschaden auf Misshandlungen durch die Gendarmen zurückgeführt; er sei beinahe totgeschlagen, sein Freund gar erschossen worden. Zumindest eine Gewaltandrohung durch Gendarmen habe ich akustisch miterlebt, nämlich die bereits erwähnten Warnschüsse, um den Einlass in ein Haus in Ranomadio zu erzwingen. Diese Gewalttätigkeit der Gendarmen, die sich mit ihrem oben beschriebenen Image deckt, verleiht ihren Forderungen nach Lösegeld offensichtlich Nachdruck. In den mir bekannten Fällen entsprach das geforderte Lösegeld dem Gegenwert von zwei bis 25 Rindern. Sofern es nicht zu einer Intervention durch städtische Angehörige kam, eine im folgenden Abschnitt beschriebene Möglichkeit, verkauften die Väter der Betroffenen die erforderliche Anzahl an Rindern auf dem wöchentlichen Viehmarkt in Iloto, bezahlten mit dem Erlös die Gendarmen und erwirkten damit die Freilassung ihrer Söhne. Mir ist kein Fall bekannt, wonach Väter die Festnahme ihrer Söhne als gerechtfertigt ansahen und es unterließen, für ihre Freilassung zu sorgen. Die geschilderten Erfahrungsmuster von Gendarmen-Interaktionen, so meine Argumentation, spielen eine zentrale Rolle bei der affektiven Verankerung des beschriebenen Gendarmen-Images auf individueller Ebene. Das resultierende Repertoire der Gendarmen-Angst tendiert aus verschiedenen Gründen dazu, sich zu reproduzieren. Die auf vergangenen Gendarmen-Interaktionen basierenden affektiv-kognitiven Appraisal-Muster rahmen die emotionale Reaktion angesichts zukünftiger Interaktionen – und prägen diese zugleich. Denn gerade die Angstdisposition der Dorfbevölkerung erlaubt es den Gendarmen, eine effektive Drohkulisse aufzubauen und für ihre Zwecke einzusetzen. Überdies ist deutlich geworden, dass die Gendarmen-Angst maßgeblich auf der Nichtbeachtung der staatlichen Rechtsordnung seitens aller Beteiligten beruht: Das Image als normativ ungebundene Akteure, das arbiträre Verhältnis zwischen Rechtsverstoß und Verhaftung und die extralegale Gewalt(-androhung) tragen maßgeblich zur Gendarmen-Angst bei. Dies birgt freilich zugleich ein Transformationspotential der Gendarmen-Angst, an dem städtische Angehörige der Dorfbevölkerung ansetzen.
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In der Forschungsregion greifen gelegentlich drei junge, in der Stadt lebende, akademische gebildete Männer unterstützend ein, wenn ihre Angehörigen in Konflikt mit Gendarmen geraten. Alle drei haben ihre Interventionserfahrungen mit mir geteilt, hier fokussiere ich jedoch auf die Interventionen von Iavitsara, der aus Ranomadio stammt. Er ist neben seinem Bruder der einzige aus diesem Dorf, der einen Schulabschluss erworben hat und in der Stadt lebt. Wie alle Personen mit Schulabschluss gilt er aus der Perspektive der Dorfbewohner*innen als Intellektueller, der sich mit bürokratischen Angelegenheiten auskennt. Seit seinem Universitätsabschluss im Jahr 2007 hat er auf der Basis dieser Kenntnisse wiederholt interveniert. Als Präsident der „Union des Natifs de l’I Bara“ (FITIBA), die Dorfbewohner*innen der Region insbesondere in rechtlichen Angelegenheiten unterstützt, und als Mitglied der NGO „Justice et Paix“ strebt er zudem eine Institutionalisierung seiner Bemühungen an. Er bewertet die Gendarmerie in der Forschungsregion folgendermaßen: „[D]ie Gendarmen arbeiten besonders gerne in diesen [südmadagassischen, an Rindern reichen] Regionen, weil sie dort sehr schnell zu Reichtum kommen können, indem sie durch den Missbrauch ihrer Macht große Geldbeträge stehlen. […] Nach dem Recht ist die Gendarmerie in Wirklichkeit geschaffen worden, um die Bürger und ihren Besitz zu schützen.“
Damit nimmt er gegenüber der Gendarmerie eine Perspektive ein, die derjenigen der Dorfbevölkerung geradezu entgegengesetzt ist: Während letztere die Gendarmen als mächtige, moralisch ungebundene Außenseiter, als „Fremde mit Gewehren“ kategorisieren, bewertet Iavitsara ihr Handeln in Bezug auf das staatliche Recht als Machtmissbrauch. Entsprechend beschreibt er eine abweichende emotionale Haltung gegenüber den Gendarmen: Er empfände Wut und Empörung angesichts ihres illegitimen Vorgehens. Dabei grenzt er sich von der „Ignoranz“ und Furcht der Dorfbevölkerung ab, die er als „Kern des Problems“ sieht: „Die Mehrheit der Leute [aus der Forschungsregion] sind Analphabeten oder haben einen sehr niedrigen Bildungsgrad. Die Gendarmen können ihre Macht missbrauchen und sie
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bedrohen, denn ‚unter den Blinden ist der Einäugige König’. Als Konsequenz fürchten die Menschen auf dem Land die Ordnungskräfte mehr als alle anderen Staatsbeamten.“8
Eine ähnliche Sichtweise bringt auch einer der anderen Städter zum Ausdruck: „Die meisten Konflikte entstehen durch den Machtmissbrauch der Gendarmen. Diese nutzen die Unkenntnis und fehlende Schulbildung und auch die Furcht [der Dorfbewohner*innen] vor dem Gefängnis aus.“ Gemäß dieser Sichtweise erklärten die städtischen Gesprächspartner die „Aufklärung“ der Dorfbevölkerung zu ihrem primären Ziel. Als langfristige Maßnahme gründete Iavitsara 2012 eine Schule in Ranomadio, deren wichtigste Aufgabe er darin sieht, dass die Kinder „das Gesetz und ihr Recht kennenlernen“.9 Dem hier vertretenen emotionstheoretischen Ansatz zufolge zielt diese Strategie darauf ab, die Kategorisierung der Gendarmen als vazaha manam-basy, die die emotionale Bewertung jeder einzelnen Gendarmenbegegnung rahmt, durch die Vermittlung des staatlichen Rechtssystems zu transformieren. Kurzfristig verfolgen die drei städtischen Angehörigen die Strategie, bei einzelnen Gendarmen-Interaktionen einzugreifen und diesen einen anderen Verlauf zu geben. Nach der hier vertretenen Perspektive ermöglicht dies neue affektive Erfahrungsmuster und damit eine Transformation der Gendarmen-Angst. Die Interventionen erfolgen stets, sobald Angehörige von den Gendarmen festgenommen wurden und mit Lösegeldforderungen konfrontiert sind. Seine erste Intervention im Jahr 2007 beschreibt Iavitsara wie folgt: „Die Gendarmen [...] nahmen meinen Großvater Zara [aus einem nördlich gelegenen Nachbardorf] fest. Sie beschuldigten ihn als Komplizen der Viehdiebe, legten ihn in Handschellen und wollten ihn foltern. Mein Großvater war aber bereit, ihnen Geld zu geben. Er war aufgrund seiner Unkenntnis und Furcht damit einverstanden. Er kennt weder das Gesetz noch die legalen Prozeduren, weil er Analphabet ist. Deshalb fürchtete er sich. Am Tag nach der Festnahme kamen mein Großvater und die beiden Gendarmen nach
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Als solche sind u.a. Beamte der Gemeindeverwaltung und Lehrer*innen gemeint, die unter der Dorfbevölkerung kein großes Ansehen genießen. In meinen Interviews mit Kindern und Jugendlichen zeigte sich entsprechend, dass sie sich nicht vorstellen konnten, Lehrer*innen oder Angestellte der Verwaltung zu werden, hingegen bekundeten sie großes Interesse für den Gendarmen-Beruf.
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In anderen Gesprächskontexten äußerte Iavitsara zudem das Anliegen, mit der Schulbildung die Jungen davon abhalten zu wollen, zukünftig als Viehdiebe aktiv zu werden. Mein Forschungsassistent Dadah erklärte freimütig, dass er ohne Schulbildung und Kenntnisse des staatlichen Rechts längst als Viehdieb tätig geworden wäre.
92 Ranomadio, wo ich gerade meine Ferien verbrachte. Ich übernahm sofort meine Verantwortung: Zuerst traf ich mich allein mit meinem Großvater, um zu erfahren, was geschehen war. Er fürchtete sich zunächst angesichts meiner Intervention, weil er mich im Vergleich zu den mächtigen, mit Kalaschnikows bewaffneten Gendarmen als Kind betrachtete. Damit er [den Gendarmen] die Stirn bietet, musste ich ihm das Gesetz und das Rechtsverfahren und auch die Politik der madagassischen Regierung zur Korruptionsbekämpfung erklären. Darüber hinaus betonte ich seinen Verlust: ‚Großvater, Sie haben seit langer Zeit ohne Unterbrechung gearbeitet, um Rinder zu erwerben. Sie haben nicht gewagt, sie zu verkaufen, um Ihre Bedürfnisse und die Ihrer Nächsten zu befriedigen, zum Beispiel habe ich keine vergleichbar großen Geldbeträge [wie der von den Gendarmen geforderte] für mein Studium erhalten. Warum bist du bereit, den Feinden so viel Geld zu geben?’ Ich sagte ihm mit Nachdruck: ‚Wenn Sie nicht einverstanden sind, werde ich sofort gehen, um nicht Zeuge Ihrer Korruption zu werden.’ [...] Letztlich konnte ich ihn überzeugen. Mein Ziel war, dass mein unschuldiger Großvater nichts zahlen muss. Danach diskutierte ich mit den beiden Militärangehörigen. Zuerst bedrohten sie mich, damit ich nachgebe. Doch ich führte ohne Furcht meine rechtlichen Argumente an und sagte ihnen: ‚Wenn Sie sich weiterhin weigern [meinen Großvater freizulassen], muss ich direkt nach Antananarivo [Madagaskars Hauptstadt] reisen und gegen Sie Anzeige erstatten.’ Davor fürchteten sie sich und sie ließen meinen Großvater frei, ohne Geld einzusammeln.“
Diese Intervention basierte offenbar auf der zufälligen Anwesenheit Iavitsaras in Ranomadio. Bis zu seiner nächsten Intervention im Jahr 2012 erlebten seine Angehörigen weitere Festnahmen durch Gendarmen, die allerdings alle über Lösegeldzahlungen geregelt wurden – so auch die im vorstehenden Abschnitt beschriebene: Die Angehörigen der Verhafteten, die mit Lösegeldforderungen konfrontiert waren, erwogen zwar, Iavitsara zu informieren – was mehrere Tage in Anspruch genommen hätte –, entschlossen sich schließlich aber für die Zahlung des geforderten Betrages, weil sich vor allem Marojaony vor weiteren Misshandlungen und der Rache der Gendarmen fürchtete. Seit der Installation eines Funknetzes in Iloto im Jahr 2012 hat die Verwandtschaft von Iavitsara die Praxis etabliert, ihn im Fall einer Festnahme telefonisch um Rat zu bitten, was mehrere erfolgreiche Interventionen zur Folge hatte.10 Die vorerst letzte Intervention ereignete sich unmittelbar vor meinem Forschungsaufenthalt im Jahr 2015. Sie ist mir durch Iavitsara und die Schwester des Protagonisten Soavy bekannt:
10 Drei dieser Konfliktgeschichten habe ich bereits ausführlich dargestellt (Scheidecker 2014).
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Tsianara, ein junger, mir wohlbekannter Mann aus Soafary schlug einem jungen Fischhändler vor, diesen in das rund zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Nachbardorf Ranomadio zu begleiten. Der Fischhändler, der keinerlei Verwandtschaftsbeziehungen zur dörflichen Bevölkerung hatte, war auf dem Weg zu einem drei Tagesmärsche entfernt liegenden See, um dort Trockenfisch zu kaufen. Als die beiden Männer einige Kilometer vor Ranomadio auf einem Hügel rasteten, ließ sich Tsianara unter einem Vorwand die Machete des Fischhändlers geben, schlug damit auf ihn ein, nahm ihm das Geld ab, das für den Fischerwerb vorgesehen war, warf ihn in einen Bach und machte sich davon. Der vermeintlich tote Fischhändler kam wieder zu Bewusstsein und konnte sich nach Ranomadio schleppen. Als am nächsten Morgen zufälligerweise auch Tsianara diesen Weiler passierte, wurde er vom Fischhändler als Täter erkannt und von dessen Gastgeber Soavy festgehalten. Bei einer anschließenden Befragung gab Tsianara die Tat zu, woraufhin die Gendarmen in Iloto informiert wurden. Auf Geheiß der Gendarmen, die nicht eigens nach Ranomadio laufen wollten, machten sich sieben Repräsentanten Ranomadios mit Tsianara auf den Weg nach Iloto. Dieser konnte jedoch unterwegs entwischen. In Iloto wurden drei der Repräsentanten, darunter Soavy, mit der Begründung verhaftet, sie seien Komplizen von Tsianara, da sie ihn entwischen ließen. Als die Gendarmen von ihnen Lösegeld forderten, riefen sie Iavitsara an, der ihnen von der Zahlung abriet. Iavitsara telefonierte daraufhin mit dem Gendarmen-Chef und erklärte ihm, dass seine Angehörigen nichts zahlen würden und er den Staatsanwalt informieren werde. Aus diesem Grund mussten die Gendarmen entsprechend der legalen Prozedur die Gefangenen in die Provinzhauptstadt Ihosy zum Staatsanwalt bringen. Der Staatsanwalt, mit dem Iavitsara bereits im Vorfeld verhandelt hatte, ordnete aus Mangel an Beweisen die Freilassung der drei Gefangenen an. Als Konsequenz wurde der Gendarmen-Chef von Iloto versetzt und sein Nachfolger mit der Untersuchung des Vorfalls beauftragt. Einige Wochen später bestellte dieser Soavy nach Iloto und verhörte ihn einen ganzen Tag lang. Danach nahm Soavy bei seiner Schwiegermutter, die in Iloto lebt, das Abendessen ein. Als er gerade ihr Haus verlassen wollte, wurde er in der Türöffnung erschossen. Da es bereits dunkel war, konnte der Schütze nicht identifiziert werden. Die Gendarmen kamen später nach Ranomadio zum Vater des Verstorbenen und fragten ihn, ob er jemanden dieser Tat verdächtige. Er verneinte und soll ihnen gesagt haben, dass sie es besser wissen müssten, da sie im Unterschied zu ihm zur Tatzeit in Iloto waren. Bis heute
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haben die Gendarmen keinen Täter gefunden. Der Schwester des Getöteten zufolge glauben die Angehörigen, dass es die Gendarmen selbst waren, die sich an Soavy für seinen Widerstand rächen wollten. Tsianara, der sich während dieser Ereignisse in der Stadt Fianarantsoa aufgehalten hatte, soll auf dem Rückweg den Gendarmen Bier angeboten haben – im lokalen Kontext ein Ausdruck des Respekts oder der Versöhnung. Seitdem lebt er wieder in seinem Heimatdorf Soafary.
Unabhängig von der Frage, wer Soavy tatsächlich erschossen hat – auch befeindete Personen aus dem dörflichen Kontext kommen infrage –,11 ist die öffentliche Meinung in Ranomadio, wonach dies ein Racheakt der Gendarmen sei, von Bedeutung für die Gendarmen-Angst. Zum einen erscheint diese öffentliche Meinungsbildung als Effekt der Gendarmen-Angst, da sie dem ihr zugrundeliegenden Gendarmen-Image exakt entspricht. Zum anderen trägt die Gendarmerie durch ihr Handeln dazu bei, die durch Iavitsaras Intervention aufgebrochene Logik der Angst zu reanimieren – wenn nicht durch einen Racheakt, so zumindest, indem sie eine entsprechende Interpretation durch ausbleibende Aufklärung ermöglichen. Momentan ist nicht abzusehen, ob die beschriebenen Interventionen durch städtische Angehörige zu einer nachhaltigen Transformation der GendarmenAngst führen. Dies würde voraussetzen, dass die Dorfbewohner*innen das Image der Gendarmen als mächtige, furchteinflößende Außenseiter durch ein Modell ersetzen, demzufolge Gendarmen zumindest normativ Akteure und Adressaten des staatlichen Rechts sind. Damit ein solcher, alternativer Referenzrahmen affektiv wirksam und damit auch handlungsrelevant wird, bedarf es dem hier vertretenen Emotionsmodell zufolge allerdings zumindest eine Reihe konkreter Erfahrungen, wonach die Furcht vor den Gendarmen ungerechtfertigt ist. Dass das im letzten Fallbeispiel aufscheinende Motiv der GendarmenVergeltung eine zentrale Hürde für diese Transformation ist, legt über den lokalen Forschungskontext hinaus der aktuelle nationale Mediendiskurs nahe, der auch in der Forschungsregion über Radios bekannt ist. Demnach wurden in den
11 In den letzten Jahren wurden mindestens fünf Männer in Iloto an Markttagen nach einem ähnlichen Muster erschossen. Zudem wurde ein Mann 2012 in Iloto während der Unabhängigkeitsfeierlichkeiten in meiner Gegenwart angeschossen. In diesen Fällen werden die Gendarmen nicht verdächtigt, vielmehr besteht Einigkeit unter der Dorfbevölkerung, dass diese Gewalttaten auf individuelle Fehden zwischen Männern aus der Region zurückzuführen sind.
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letzten Jahren in der sogenannten zone rouge, besonders im Distrikt Betroka rund 150 Kilometer südlich der Forschungsregion, massive Militäreinsätze gegen Banden von Viehdieben durchgeführt, die im August 2015 in einer viermonatigen opération anti-dahalo kulminierten. Die gewaltsame Bilanz von 161 Toten, darunter 150 vermeintliche Viehdiebe und elf Angehörige des Militärs, begründete ein verantwortlicher General gegenüber den Medien wie folgt: „Die dahalo sind große, glaubens- und gesetzlose Banditen. Sie zögern nicht, auf das Militär zu schießen. Deshalb ist der Angriff die beste Verteidigung.“12 Die sich hier abzeichnende Vergeltungsdynamik wird in den Medien kaum kritisiert, ausnahmsweise von einem pensionierten Oberst der Gendarmerie: „Repressionen und Inhaftierungen verschlimmern nur die Situation, da sie für die dahalo eine Provokation darstellen.“ Sie mit Gewalt zu konfrontieren bewege sie lediglich dazu, ihre Feuerkraft zu erhöhen, so die vom ehemaligen Verantwortlichen der Ordnungskräfte neu übernommene Philosophie.13 Auch in der Forschungsregion zeichnen sich neben Vergeltungsmaßnahmen durch Gendarmen Rachetendenzen seitens dörflicher Akteure ab. So wurde von einem Mann aus Ranomadio berichtet, er habe im Kampf mit den Gendarmen eine Kalaschnikow erbeutet. Ein anderer Mann erzählte von sich, dass er früher als aktiver Viehdieb einen Gendarmen eigenhändig getötet habe. 2014 feierte eine größere Bande von Viehdieben in Iloto ihren Erfolg, indem sie den ganzen Alkoholvorrat des örtlichen Ladens konsumierten und dann die Bezahlung verweigerten. Obwohl dies unter den Augen der Gendarmerie geschah, sollen diese aus Furcht vor Vergeltung nicht eingegriffen haben. Diese Akteure scheinen ihre Angst vor Gendarmen in einer anderen als der von Iavitsara propagierten Weise zu überwinden, nämlich indem sie ihrerseits den Gendarmen Furcht einzuflößen suchen. Jedoch kann hier nur von einer temporären Umkehrung die Rede sein, die auf einer situativen Übermacht und kaum auf einer grundlegenden Transformation des beschriebenen Gendarmen-Images basiert.
12 Übersetzung des Autors aus dem Französischen: LINFO (11.03.2016): Lourd bilan pour l’opération militaire anti-dahalo. Online abrufbar: http://www.linfo.re/oceanindien/madagascar/684579-madagascar-lourd-bilan-pour-l-operation-militaire-anti-da halo. 13 Übersetzung des Autors aus dem Französischen: NewsMada (28.04.2016): Dahalo: Fanapera s’oppose aux répressions. Online abrufbar: http://www.newsmada.com/2016 /04/28/dahalo-fanapera-soppose-aux-repressions/.
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Wie die Analyse der Gendarmen-Angst deutlich gemacht hat, lassen die ihr zugrundeliegenden Appraisal-Muster keinen, weder einen zustimmenden noch ablehnenden Bezug, zur staatlichen Rechtsordnung erkennen. Die Nichtbeachtung dieser Rechtsordnung scheint geradezu eine Voraussetzung der GendarmenAngst zu sein: Ihr Image als unberechenbare Außenstehende der lokalen moral community, das arbiträre Verhältnis zwischen Rechtsbruch und Verhaftung und die den Gendarmen zugeschriebene äußerste Gewaltbereitschaft sind maßgebliche Faktoren der Ausbildung und Stabilisierung dieses Emotionsrepertoires. Bemerkenswert ist auch, dass die städtischen Akteure, die zwar Partei für ihre dörflichen Angehörigen ergreifen, im Unterschied zu diesen aber die staatliche Rechtsordnung explizit als Bezugsrahmen heranziehen, den Gendarmen gänzliche andere Gefühle entgegenbringen – nämlich Ungerechtigkeitsgefühle der Empörung. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Auf welche alternative normative Ordnung bezieht sich die Gendarmen-Angst? Aus welchen Gründen beziehen sich die Dorfbewohner*innen im Gegensatz zu ihren städtischen Angehörigen auf andere normative Ordnungen, wo ihnen doch die Berücksichtigung des staatlichen Rechts Vorteile zu verschaffen scheint? Zur Beantwortung bedarf es einer Skizzierung des lokalen rechtspluralen Kontexts und der sozio-emotionalen Verankerungen der jeweiligen normativen Ordnung. Als Pendant zum staatlichen Strafrecht lässt sich jene informelle Rechtsordnung begreifen, die die hierarchischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Lineage (tariky) über ein System von Rechtsnormen und Sanktionsmöglichkeiten regelt. So stellt Viehdiebstahl innerhalb der Lineage eine klare Rechtsverletzung dar, die aus emischer Perspektive durch einen potentiell tödlichen „Fluch“ (havoa) der Ahnengeister bestraft wird. Im „Strafverfahren“ kommt dem Oberhaupt der Lineage (lonaky) eine zentrale Rolle zu, da dieses allein befugt ist, mittels Rinderopfern den Ahnenfluch aufzuheben oder zu mildern. Das vom Täter zu entrichtende Opferrind kann als weitere, mittelbare Sanktion betrachtet werden, die der lonaky festlegt. Bemerkenswert ist, dass in diesem Rechtssystem Emotionen der Furcht, wie gegenüber den Gendarmen, eine zentrale Rolle spielen – gleichermaßen als moralische Emotionen und Gerechtigkeitsgefühle. Wie ausführlich dargelegt (Röttger-Rössler et al. 2013, 2015; Scheidecker 2017), ist Furchtsamkeit (mahay tahotsy) in Bezug auf die Eltern und Ahnen als moralische Emotion anzusehen, weil sie als primäre Eigenschaft eines guten Charakters (soa fagnahy), als zentrales Erziehungsziel und
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zugleich als Beweggrund für normgerechtes Handeln aufgefasst wird. Eine Dimension dieser Furcht, die ich annäherungsweise als „Statusfurcht“ bzw. „Ehrfurcht“ bezeichnet habe und die durch respektvolles, ehrerbietiges Verhalten gegenüber älteren Lineage-Mitgliedern zum Ausdruck gebracht wird, ist als Gerechtigkeitsgefühl zu verstehen. Die Statusfurcht beinhaltet eine gefühlsmäßige und performative Anerkennung der Autorität der Eltern und Ahnen. Da deren Autorität nicht nur die Sanktionsgewalt, sondern auch die Urheberschaft von Rechtsnormen umfasst, ist die Statusfurcht zugleich als emotionale Bestätigung der Legitimität von Rechtsnormen zu lesen. Trotz dieser Parallelen zum staatlichen Rechtssystem spricht nur wenig dafür, dass die Dorfbewohner*innen das Modell der Lineage-basierten normativen Ordnung auf die Gendarmerie übertragen: Die Lineage stellt eine klar abgezirkelte moral community aus patrilinearen Verwandten dar, wohingegen die Gendarmen als Fremde par excellence kategorisiert werden. Die moralische Verbindlichkeit innerhalb der Lineage basiert auf einer spezifischen Abstammungskonzeption, wonach die Mitglieder nicht nur ihre Erzeugung, sondern auch ihren fortwährenden Lebenserhalt dem „Segen“ der Ahnen verdanken. Im Gegenzug sind sie zur Befolgung der normativen Vorgaben der Ahnen verpflichtet. Die Gendarmen lassen sich nun weder als Vorfahren der Dorfbewohneren verstehen, noch als Garanten ihres Wohlergehens. Konsequenterweise hat die GendarmenAngst auch nicht jenen existentiell-moralischen Charakter der Ahnen-Furcht – vielmehr kann sie in Vergeltungswut umschlagen, sobald sich die Kräfteverhältnisse verschieben. Wie die Analyse gezeigt hat, setzen die dörflichen Akteure die Gendarmen vielmehr mit Viehdieben gleich: Gendarmen werden explizit als Viehdiebe bezeichnet, wie diese außerhalb der eigenen moral community verortet oder zur Schädigung eines beneideten Rivalen herangezogen; als hochgradig gefürchtete, mächtige Akteure taugen sie als exklusive Rollenvorbilder für die männliche und genießen außerordentliche Popularität bei der weiblichen Jugend, ähnlich wie erfolgreiche Viehdiebe. Die Furcht vor ihnen kann in Vergeltungswut umschlagen und in eine Reihe gegenseitiger Vergeltungsakte münden, was ebenfalls charakteristisch für den Umgang mit Viehdieben ist. Damit ist die Frage zu beantworten, welcher normativen Ordnung dem Verhältnis zwischen Viehdieben und Betroffenen unterliegt. Viehdiebe agieren in aller Regel in einem egalitären, kompetitiven sozialen Raum, der sich zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Lineages aufspannt. Im Unterschied zu oben skizzierten, auf die lineageinternen, hierarchischen Beziehungen begrenzten Rechtsordnung, die sich annähernd mit dem Straf- oder Subordinationsrecht vergleichen ließe, basiert das Rechtssystem für Lineage über-
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greifende Beziehungen – zumindest aus der Perspektive der dörflichen Akteure – nicht auf neutralen, übergeordneten Autoritäten bzw. Rechtsinstanzen. Zudem sind diese Beziehungen durch ein egalitäres Ethos geprägt, demzufolge das Gegenüber prinzipiell als gleichrangig anzusehen ist, faktische ökonomische und Machtdifferenzen jedenfalls aus Sicht der Benachteiligten als inakzeptabel gelten und ausgleichende Gegenmaßnahmen rechtfertigen – beispielsweise Viehdiebstahl. Als normative Ordnung in egalitären Beziehungen spielt das dina, das als „traditional customary law“ beschrieben wird (Rakotoson/Tanner 2006), eine gewisse Rolle. Das dina ist in erster Linie für die Beilegung von Konflikten relevant, indem es den Konfliktparteien Verfahrensnormen anbietet. Hinsichtlich weiterer Rechtsmechanismen ist eine soziale Binnendifferenzierung der egalitären Beziehungen entscheidend, nämlich zwischen verwandtschaftlichen bzw. nachbarschaftlichen (longo) und nichtverwandtschaftlichen, in der Tendenz feindseligen (arahamba) Beziehungen. Unter longo wird Viehdiebstahl, wie andere Aggressionen, als klarer Normverstoß angesehen, der allerdings nicht wie im Fall von lineageinternen Akten als schwerwiegende moralische Verfehlung bestraft wird, sondern vielmehr eine Kompensation durch den Täter erfordert. Die Befolgung des dina bzw. der auf seiner Basis getroffenen Kompensationsregelungen kann nicht direkt erzwungen werden, die reziproken Unterstützungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen longo bringen jedoch starke sozioemotionale Motive mit sich, die existierenden Beziehungen nicht durch Normverstöße zu gefährden bzw. durch eine Kompensationsleistung aufrechtzuerhalten. Aus der Perspektive der Dorfbewohner können die eigenen longo einer erweiterten, sekundären moral community zugerechnet werden. Die Gendarmen werden höchstens in Einzelfällen14 dieser egozentrierten Gemeinschaft zugeordnet, da in der Regel keine verwandtschaftlichen oder nachbarschaftlichen Beziehungen zu ihnen bestehen und ihre Aktivitäten denen von arahamba entsprechen. Die arahamba-Beziehungen sind wie die longo-Beziehungen durch symmetrische Reziprozität charakterisiert, jedoch nicht in der Form gegenseitiger Unterstützung, sondern reziproker Machtdemonstration und Vergeltung. Die Praxis des Viehdiebstahls, die diese Beziehungen in besonderer Weise prägt, gilt aus
14 Beispielsweise deutet die Gendarmen-Verbrüderung von Tsianara aus dem letzten Fallbeispiel auf diese Möglichkeit hin. In Ranomadio wurde berichtet, dass ein Mann aus dem Dorf, der einst das Amt des Bürgermeisters innehatte, seine guten Beziehungen zu den Gendarmen genutzt hätte, um diese wiederholt nach seinen Rivalen zu schicken. Der madagassische Staat versucht solchen Beziehungen mit den Gendarmen allerdings durch ihre regelmäßige Versetzung entgegenzuwirken.
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der Perspektive der Täter, ihrer Lineage und longo, sowie Unbeteiligter durchaus als akzeptabel. So können besonders erfolgreiche Viehdiebe zu Berühmtheiten mit einem heroischen Status aufsteigen (vgl. Ribard 1926: 41; Faublée 1941: 122; Mamelomana 1967: 705; Elli 1993: 50; McNair 2008: 21). Nur für Betroffene ist Viehdiebstahl aus nachvollziehbaren Gründen inakzeptabel. Jedoch folgt daraus keine generelle Delegitimierung dieser Praxis – zumal dieselbe Person häufig als Opfer und Täter in Erscheinung tritt, gerade wenn es zu einer Vergeltung mit gleichen Mitteln kommt. Diese Vergeltungslogik schließt eine Kompensationsregelung auf der Basis des dina freilich nicht aus. Die Bereitschaft dazu ist allerdings kaum durch die Aufrechterhaltung einer für beide Seiten gewinnbringenden Beziehung, sondern vielmehr durch die Furcht vor und Unterbindung von weiteren Vergeltungsakten motiviert – insbesondere wenn das Gegenüber deutlich überlegen ist. Ich argumentiere, dass die dörflichen Akteure die Gendarmen in der Regel diesem sozialen Feld egalitärer Feindschaftsrelationen zuordnen und nach der ihm inhärenten Logik mit ihnen interagieren. Entsprechend dürften auch die mit Gendarmen regulär getroffenen Kompensationsregelungen (Geld gegen Verzicht auf weitere Gewaltanwendung) eine gewisse Legitimität bei den beteiligten Dorfbewohner*innen genießen. Insofern die Legitimität einer solchen Vereinbarung in erster Linie aus Furcht angesichts der Übermacht der Gendarmerie anerkannt wird, kann hierbei von einem Gerechtigkeitsgefühl im weitesten Sinne die Rede sein. In dieser Eigenschaft hat die Gendarmen-Angst jedoch einen äußerst flüchtigen, situativen Charakter, da sie im Gegensatz zur Status- bzw. Ehrfurcht in hierarchischen, lineageinternen Beziehungen nicht moralisch fundiert ist und nach Möglichkeit überwunden wird. Die Einbettung der Gendarmerie in die normative Ordnung egalitärer Feindschaftsrelationen liefert zugleich Erklärungsansätze dafür, weshalb die dörflichen Akteure das staatliche Recht kaum zur Bewertung der Gendarmerie heranziehen – trotz der Bemühungen ihrer städtischen Angehörigen. Das strafrechtliche Mandat der Gendarmerie konfligiert massiv mit der koordinationsrechtlichen normativen Ordnung der arahamba-Beziehungen. Diese grenzt sich gerade scharf von einer anderen strafrechtlichen Ordnung ab, nämlich der auf Abstammung basierenden lineageinternen Ordnung. Zudem lässt sich argumentieren, dass die Gendarmen-Angst, die in einem ausschließenden Verhältnis zum staatlichen Rechtssystem steht, in einem allgemeinen egalitären Emotions- und Beziehungsmodus eingebettet und verankert ist. Dieser Modus wird bereits in den ersten Lebensjahren im Kontext von autonomen Peergroups sozialisiert, deren
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Mitglieder selbst im Fall von Konflikten weitgehend unabhängig von richtenden Autoritätspersonen interagieren (vgl. Scheidecker 2017). Zuletzt ist die Frage zu stellen, warum die städtischen Angehörigen stattdessen den staatlichen normativen Bezugsrahmen bei der affektiv-emotionalen Bewertung der Gendarmerie heranziehen. Einen Erklärungsansatz bieten diese Akteure selbst, indem sie der formalen Schulbildung, die sie in ihren jeweiligen Herkunftsdörfern propagieren, eine transformative Potenz zuschreiben. Das madagassische Schulsystem vermittelt nicht nur prominent die Staatsideologie, sondern forciert zugleich entsprechende sozioemotionale Erfahrungsmuster: Peerinteraktionen finden hier unter der Aufsicht regelnder, bewertender und sanktionierender Autoritäten statt, die ähnlich wie Gendarmen über ihren staatlichen Auftrag und nicht über Abstammungsverhältnisse legitimiert sind. Mit dem Fokus auf Gerechtigkeitsgefühle zeigt sich, dass zumindest in dem hier beschriebenen, rechtspluralen Kontext die Metapher des forum shopping (von Benda-Beckmann 1981) an gewisse Grenzen stößt. Die städtischen und dörflichen Akteure wählen keineswegs beliebig oder ausschließlich nach zweckrationalen Erwägungen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen. Vielmehr erweisen sich hier Gerechtigkeitsgefühle, die sich aufgrund historischer Prozesse und geteilter Erfahrungsmuster zu Emotionsrepertoires verdichten, als entscheidende Kodeterminanten.
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T IMO D UILE
Mit Religion verbundene Kontroversen lösen in Indonesien immer wieder heftige Emotionen aus. So war es auch, als das indonesische Verfassungsgericht (Makhama Konstitusi) 2009-2010 die Verfassungsmäßigkeit des Blasphemiegesetzes aus dem Jahre 1965 überprüfen musste. Die Verhandlung wurde von Tumulten in- und außerhalb des Gerichtssaals begleitet. Während Gruppen, die für eine Abschaffung des Gesetztes votierten, ihre Argumente meist ohne große Emotionalität vortrugen, waren die Anhörungen von antiliberal eingestellten islamischen Vertreter*innen nicht nur durch indirekte Drohungen gegen Gegner*innen des Gesetzes geprägt, Anhänger*innen islamistischer Gruppen versuchten außerdem Gegner*innen des Gesetzes durch das Zurschaustellen ihrer Emotionen einzuschüchtern und so auch auf die Gerichtsentscheidung Einfluss zu nehmen. Wieso aber ist Religionskritik ein derart sensibles Thema in Indonesien? Im Folgenden soll zunächst analysiert werden, welche Rolle Religion für gesellschaftliche und staatliche Identität spielt. Nur so kann verstanden werden, wie und warum Individuen emotional reagieren auf das infragestellen von Religion und auf säkulare Kritik an dieser. Indonesien war nie ein islamischer Staat, auch wenn es seit der Unabhängigkeit immer wieder Bestrebungen islamischer Gruppen gab und gibt, den Staat auf die Grundlage des islamischen Rechts zu stellen. Andererseits ist Indonesien auch kein säkularer Staat. Das Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung (ca. 88% der knapp 250 Millionen Einwohner*innen bekennen sich
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offiziell zum Islam) gründet auf dem Glauben an einen all-einen Gott (Ketuhanan yang Maha Esa), also auf einen pluralistisch-religiösen Monotheismus, was sich auch in der Verfassung, in der Staatsphilosophie Pancasila und in einigen Gesetzen niederschlägt. Jede*r Bürger*in soll sich zu einer der sechs vom Staat anerkannten Religionen bekennen (dies sind zur Zeit Islam, Katholizismus, Protestantismus, Buddhismus, Konfuzianismus und Hinduismus), die allesamt monotheistisch konzipiert werden. Die Religionszugehörigkeit wird seit 1967 auch auf dem Personalausweis vermerkt. Religion und religiöse Zugehörigkeit spielt im postautoritären Indonesien eine immer stärkere Rolle, wobei hier besonders religiöse Symboliken im öffentlichen Raum als Ausdruck von Religiosität und damit von guter Moral interpretiert werden. Auf der Grundlage des Blasphemiegesetzes von 1965, dessen Verfassungskonformität 2009/10 nach einer emotional geführten Verhandlung vor dem obersten Gerichtshof bestätigt wurde, ist öffentliches Propagieren von atheistischen Weltanschauungen, die dazu führen könnten, religiöse Gefühle zu verletzen, ebenso verboten wie das Propagieren von religiösen Auslegungen, die den offiziellen Auslegungen der anerkannten Religionen zuwiderlaufen. Letzteres stellt besonders für die sich als islamisch bezeichnende religiöse Minderheiten wie Schiit*innen und Ahmadis ein Problem dar. Diese Gemeinden werden immer wieder zur Zielscheibe von religiös motovierter Gewalt. Diese Gewalt kann jedoch auch bekennende Atheist*innen treffen. So wurde beispielsweise der Atheist Alexander Aan, nachdem er auf Facebook erklärt hatte, warum er nicht an Gott glaubt, von einem Mob verprügelt und anschließend auf der Grundlage des Blasphemiegesetzes zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt – mit der Begründung, er hätte Gläubige provoziert. Der Beitrag analysiert im Folgenden, wie die rechtliche Ausgrenzung des Atheismus aus politischen Diskursen in Indonesien in affektiv-emotionaler Weise als legitim bzw. illegitim bewertet wird, also welche Gerechtigkeitsgefühle im Kontext des Blasphemiegesetzes eine Rolle spielen und wie diese Gerechtigkeitsgefühle zur Bildung von moralischen Gemeinschaften (moral communities) beitragen, die sich konstitutiv auf Religion und nationale Identität beziehen. Dabei wird besonders der Frage nachgegangen, welche Rolle das Religiöse für Entwürfe einer indonesischen Identität spielt und wie diese Identität verhandelt wird. Spezifisch wird sodann der Frage nachgegangen, welche moralischen und affektiv-emotionalen Begründungen in juristischen Auseinandersetzungen um Religion und Religionskritik vorgebracht werden und wie so Legitimität normativer Ordnungen strategisch erzeugt wird. So soll untersucht werden, welche Funktion die spezifische Konstruktion des Nicht-Religiösen innerhalb der pluralistisch-religiösen gesellschaftlichen Ordnung Indonesiens einnimmt.
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Um Gerechtigkeitsgefühle bezüglich der Religion in Indonesien zu verstehen ist es notwendig, sich zunächst einen Einblick in das Verhältnis von Religion zum Staat – und damit auch zum Gesetzgeber – zu verschaffen. Der Staat ist dabei als ein System zu verstehen, das auf die Gesellschaft verweist – und umgekehrt: Staat und Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig über Diskurse, Gesetzte und politische Praktiken. In vielen medialen Darstellungen im Westen wird Indonesien gerne als Beispiel einer toleranten und pluralistischen islamischen Gesellschaft herangezogen und als ein Staat charakterisiert, der trotz seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit als säkulare Demokratie angesehen werden kann. Beide Charakterisierungen müssen jedoch eingeschränkt werden. Zum einen ist in vielen Bereichen des religiösen Lebens, vor allem im Islam, eine „konservative Wende“ (Bruinessen 2013a) zu beobachten, die ihren Ausdruck auch zunehmend in religiöser Intoleranz findet. Diese Intoleranz trifft dann sowohl anerkannte religiöse Minderheiten, wenn ihnen beispielsweise der Bau von Gotteshäusern verweigert wird – dazu bedarf es nämlich der Zustimmung der örtlichen religiösen Mehrheit, sodass in überwiegend von Muslim*innen bewohnten Gebieten der Bau von Kirchen, in überwiegend christlichen Gebieten der Bau von Moscheen mitunter verweigert wird (Horowitz 2013: 248). Besonders trifft religiöse Intoleranz aber nicht-anerkannte religiöse Identitäten wie beispielsweise Ahmadis (Sinn 2014: 248-251) oder Menschen, die sich gar nicht erst zu einer Religion bekennen wollen. Zum anderen ist der Staat institutionell mit religiösen Institutionen verwoben, beispielsweise über das Religionsministerium, was seinen Ausdruck insbesondere in Bereichen der religiösen Erziehung in Schulen und islamischen staatlichen Universitäten findet. Außerdem verwaltet das Ministerium die islamischen Gerichte. Das 1946 gegründete Religionsministerium stellt dabei einen Kompromiss zwischen Fraktionen der Unabhängigkeitsbewegung dar, von denen einige einen säkularen und andere einen islamischen Staat anstrebten. Für die Fraktionen, die einen Staat basierend auf islamischem Recht anstrebten, war das Religionsministerium der Garant dafür, dass Indonesien kein säkularer Staat werden würde (Assyaukanie 2009: 68-70). Die hegemoniale Stellung des Islams fand auch seinen Ausdruck in jüngsten Überlegungen, das Religionsministerium in ein Ministerium für Haji (Pilgerfahrt nach Mekka), Zakat und Wakaf (Abgaben und Wohltätigkeiten der Muslim*innen für Bedürftige) umzustrukturieren, sodass der Staat auf ministerialer Ebene nur noch Angelegenheiten der muslimischen Mehrheit geregelt hätte.
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Überlegungen, das Religionsministerium gänzlich abzuschaffen – und sich eher zu einem säkularen Staat hin zu orientieren – erteilte die neue Regierung unter Joko Widodo („Jokowi“) eine deutliche Absage.1 Solch ein Vorhaben hätte ihm wahrscheinlich das Stigma eines nicht religiösen Politikers eingebracht. Auch in der indonesischen Verfassung wird das Verhältnis des Staates zur Religion thematisiert. In Artikel 29, Absatz 1 heißt es, dass der Staat auf dem Glauben an einen Gott basieren soll. Aus dieser normativen Aussage leitet sich ein staatliches Programm ab, das seinen Ausdruck auch in der ersten Säule der Staatsideologie Pancasila (Sanskrit für „fünf Säulen“) findet. Die Pancasila stellt vor allem seit der sogenannten „Neuen Ordung“ (orde baru) Suhartos von 1967 bis 1998 eine „Zivilreligion“ dar, die das Verhältnis zwischen Politik und Religion massiv beeinflusste (Jaegalus 2009). Dabei ist umstritten, ob sich die fünf Säulen, nämlich der Glaube an einen monotheistischen Gott (Ketuhanan yang Maha Esa), die gerechte und zivilisierte Menschheit (Kemanusiaan yang adil dan beradab), die nationale Einheit Indonesiens (Persatuan Indonesia), repräsentative Demokratie durch Beratung und Konsensfindung, die geleitet wird durch den Segen der Weisheit der Volksvertretung (Kerakyatan yang dipimpin oleh hikmat kebijaksanaan dalam permusyawaratan/perwakilan) und soziale Gerechtigkeit für das ganze indonesische Volk (Keadilan sosial bagi seluruh rakyat Indonesia), in einem hierarchischen Verhältnis zueinander befinden. Oft wird jedoch die erste Säule des Ketuhanan yang Maha Esa als die wichtigste Säule interpretiert, insbesondere von islamistischen Gruppen, die so staatliche Identität und Religion in ihrem Sinn noch enger verknüpfen wollen. Als Ganzes steht die Pancasila als oberste Rechtsquelle sogar noch über der Verfassung (Wandelt 1989: 49). Staatsgründer Sukarno hatte das Prinzip des Ketuhanan yang Maha Esa als Sinnbild einer religiösen Toleranz konzipiert, es aber zunächst nicht als die oberste sila vorgesehen, sondern als fünfte sila entworfen. Für ihn standen die einzelnen sila jedoch in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander. Die Platzierung von Ketuhanan yang Maha Esa als oberste sila stellt einen Kompromiss zwischen einerseits islamischen Gruppen, die in der sogenannten Jakarta-Charta (piagram Jakarta) islamisches Recht als verbindlich für alle Muslim*innen durchsetzen wollten und säkular orientierten Gruppen dar, die die Jakarta-Charta vehement ablehnten (Intan 2006: 40-41). Bis heute sehen islamistische Gruppen in der Ablehnung der Jakarta-Charta eine historische Nie-
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Tempo (17.09.2014): Jokowi Tak Akan Hapus Kementerian Agama. Online abrufbar: http://nasional.tempo.co/read/news/2014/09/17/078607570/jokowi-tak-akan-hapuskementerian-agama (10.02.2016).
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derlage und einen Verrat, der eines Tages beglichen werden soll durch die Einführung islamischen Rechts in ganz Indonesien. Die interreligiöse Toleranz, die sich in der ersten sila ausdrückt, wird jedoch für viele Indonesier*innen gerade auch dadurch versinnbildlicht, was Indonesien nicht ist und nicht sein kann: Weder ein Staat der nur auf islamischem Recht basiert, noch ein kommunistischer (d.h. atheistisch-säkularer) Staat (Ramage 1995: 2). Damit benötigt diese interreligiöse Toleranz ein konstitutives Außen, das durch Ausschluss negativ definiert, was toleriert werden kann, also in das Eigene, d.h. in das „Indonesische“ fällt. Hierbei ist hervorzuheben, dass das konstitutive Außen die Bedingung jeder Kohärenz eines symbolischen Systems von Identität darstellt, auch wenn es diese Kohärenz durch seine Existenz schon wieder konterkariert (vgl. Laclau 1995: 152): Wie jede Identität benötig also auch die indonesische Identität etwas, was notwendigerweise außerhalb ihrer liegt, sodass die Identität als Tatsache, d.h. als positiv und geschlossen erscheinen kann. Dennoch waren Atheist*innen seit dem Streben nach Unabhängigkeit Teil der indonesischen Gesellschaft, wenngleich oft marginalisiert oder kaum sichtbar; dies wird beispielsweise thematisiert in dem literarischen Werk Ateis von Achdiat Karta Mihardja, das 1949 veröffentlicht wurde. Atheistische Diskurse waren ebenso marginalisiert, weil islamische Organisationen einen wichtigen Beitrag zur Unabhängigkeitsbewegung leisteten und selbst linke Kräfte – einschließlich der Kommunistischen Partei (Partai Komunis Indonesia, PKI), die vor ihrer Zerschlagung die drittgrößte KP der Welt war – niemals offen eine atheistische Ideologie proagierten, sondern sich zur Pancasila bekannten und damit zur Grundlage eines Staates, der auf den Glauben an einen Gott gründet. Anders als in vielen anderen Ländern propagierte die Kommunistische Partei in Indonesien nie einen Atheismus, sondern betonte, dass selbst viele Mitglieder der eigenen Partei Gläubige seien, was die Parteiführung auch respektierte. Religion sei nur dann Opium für das Volk, wenn Religion die Menschen zur Passivität gegenüber sozial ungerechten Verhältnissen und zu reaktionären politischen Ideologien erziehe. Generell akzeptierte also die Parteiführung die religiöse Verfassung des indonesischen Staates, wenngleich sie für sich betonte, dass für die Partei Religion nicht die Grundlage ihrer Ideologie sei.2 Die PKI war bis 1965 an einigen Regierungen beteiligt und stand gewissermaßen unter dem Schutz des
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Vgl. Interview mit dem PKI-Vorsitzenden Aidit in: Tim Historia (18.04.2016): Wawancara DN Aidit: „PKI menentang pemretelan terhadap Pancasila.“ Online abrufbar: http://historia.id/modern/wawancara-dn-aidit-pki-menentang-pemretelan-terhadappancasila (20.08.2016).
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Staatsgründers und ersten Präsidenten Sukarno. Dieser hatte mit seinem Konzept des NASAKOM, ein Akronym aus den Wörtern Nasionalisme (Nationalismus), Agama (Religion) und Komunisme (Kommunismus) versucht, die Nation zu einen, indem er behauptete, dass die drei Strömungen des NASAKOM allesamt genuine Bestandteile indonesischer politischer Identität seien (McIntyre 2001: 90). Als die Kommunistische Partei dann infolge eines gescheiterten Putschversuches linksgerichteter Generäle, die einem Putschversuch reaktionärer Teile des Militärs zuvorkommen wollten, vernichtet wurde – unterschiedliche Quellen sprechen von hunderttausenden bis zu drei Millionen Toten –, wurde Kommunismus durch die neue Regierung unter Suharto als Gefahr für die indonesische Nation und ihre Identität dargestellt. Das neue Regime versuchte die Rolle kommunistischer Bewegungen im Unabhängigkeitskampf aus dem kollektiven Gedächtnis zu verbannen (Hadiz 2006: 556). Kommunismus wurde dazu als antireligiös markiert und Kommunist*innen generell als Atheist*innen stigmatisiert, sodass die Begriffe „Atheismus“ und „Kommunismus“ im Denken vieler Indonesier*innen bis heute synonym benutzt werden (Assyaukanie 2009: 165) und durch die jahrzehntelange Indoktrination des antikommunistischen autoritären Suharto-Regimes emotional sehr stark aufgeladen sind. Dieses Narrativ ist bis heute überaus wirkmächtig und in der Lage, fast zwei Jahrzehnte nach dem Ende der orde baru unter Suharto, starke Affekte zu mobilisieren. Der orde baru gelang es, einen hegemonialen Diskurs zu formen, welcher der indonesischen Identität die politische Identität des Kommunismus und den Atheismus als antagonistisch entgegensetzte. In juristischer Hinsicht bereitete das Blasphemiegesetz, das noch der alte Präsident Sukarno 1965 auf Druck rechter Militärs erließ, diesen Diskurs maßgeblich vor und verrechtlichte ihn. Das Militär, das in den Besitz verstaatlichter Betriebe gekommen war, geriet seit Ende der 50er Jahre immer mehr in Konflikt mit der Kommunistischen Partei, vor allem mit der organsierten Arbeiter*innenschaft in den Plantagenbetrieben auf Sumatra, die nun das Militär besaß und verwaltete. Auch Grundbesitzer*innen, vor allem auf Java, die eine Landreform fürchteten, suchten den Schulterschluss mit religiösen Organisationen und Teilen des Militärs, um den Kleinbauern und bäuerinnen, die in PKI-nahen Organisationen, vor allem in der Front der indonesischen Bauern (Barisan Tani Indonesia) agierten, etwas entgegenzusetzen und ihre antikommunistische Haltung religiös zu legitimieren. So ist es nicht verwunderlich, dass sich an den Massakern an der PKI und ihren Anhänger*innen auch religiöse Gruppen beteiligten (Cribb 2009). Während der orde baru hatten religiöse Strömungen bis in die 1990er Jahre im Politischen wenige Artikulationsmöglichkeiten. Das autoritäre Regime ver-
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stand sich aber selber als das Regime eines Staates, der auf der ersten sila basiert. Ali Murtopo, einer der Chefideologen der orde baru, führte aus, die erste sila sei die „Basis des indonesischen Staates, die die Nation und den Bürger auf den Gottesglauben verpflichten und ihn zur Grundlage ihres eigenen Lebens macht. Atheismus ist folgerichtig verboten, und auch der Polytheismus kann nicht erlaubt werden, weil auch er dem Glauben an den alleinigen Gott widerspricht. (…) Der Gottesglaube reflektiert den religiösen Charakter der Gesellschaft und der Nation, die glaubt, dass es eine Kraft außerhalb gibt, die alle Kraft des Menschen und der Natur übersteigt. (…) Religion ist eine Form indonesischer Kultur, die auf der Grundlage der gerechten und zivilisierten Menschheit aufbaut.“ (Murtopo 1972 und 1976, zitiert nach: Wandelt 1989)
Die Identität der indonesischen Nation wird hier als eine religiöse festgeschrieben, sodass alles Denken und alle Individuen, die dieser Identität nicht entsprechen, als nicht-indonesisch ausgeschlossen werden. Neben Atheist*innen betrifft diese Exklusion zum Beispiel auch traditionelle animistische Glaubensvorstellungen. „Indonesische Kultur“ wird hier also entworfen und sogleich als monotheistisch-religiös essentialisiert. Dabei sind „Indonesisch-Sein“ und indonesische Identität (keindonesiaan) emotional sehr aufgeladene Begriffe, die in Debatten immer wieder neu verhandelt werden. Der Begriff der indonesischen Identität ist hier ein leerer Signifikant, um dessen Bedeutungszuschreibung die Diskursteilnehmer*innen streiten (vgl. Laclau 1994). In der emotionalen Aufladung des Begriffs spielt nicht nur der Nationalstolz eine Rolle, sondern auch die Furcht, der sich ab 1965 all diejenigen ausgesetzt sahen, die die vom neuen Regime verordnete nationale Identität (als religiös und antikommunistisch) nicht performativ reproduzierten und sich so schnell als subversive Elemente verdächtig machten, die es zu eliminieren galt. „Gerecht“ ist also das, was dem Erhalt der nationalen Identität dient und ungerecht jene Handlungen und Weltanschauungen, die die Werte der Nation und damit die nationale Identität per se bedrohen. Durch das Erstarken reaktionär-islamischer Diskurse hat so auch selbst der Begriff des Säkularismus eine negative Konnotation erhalten. Der Indonesische Rat der Islamgelehrten, Majelis Ulama Indonesia (MUI), der unter anderem auch Aktionen gegen Apostasie organisiert, hatte 2005 in einem islamischen Rechtsgutachten neben Liberalismus und Pluralismus auch den Säkularismus als islamisch unrein (haram) erklärt (Ichwan 2013: 70, 80-83). Äußerungen wie diese mobilisieren religiös fundierte Emotionen, indem sie diesen eine Legitimation durch Menschen geben, die als religiöse Experten angesehen werden. Hier sollen
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Dynamiken religiös fundierter Emotionen im Folgenden als „connections and disconnections“ zwischen Subjekt, Gesellschaft und religiösen Symbolen betrachtet werden (vgl. Riis/Woodhead 2010), wobei das Blasphemiegesetz solch ein religiöses Symbol darstellt, da es von religiösen Gruppen ganz offensichtlich als solches betrachtet wird: Es bildet den staatlich garantierten Schutz ihrer religiösen Identität, während es für säkular orientierte Gruppen und Menschenrechtsorganisationen Religion durch Normierung gerade einschränkt. Die Verbindungen zu (religiösen) Gruppenidentitäten werden hier durch Emotionen nicht nur ausgedrückt, sondern zuallererst auch hergestellt.
Dass ein öffentliches Bekenntnis zum Atheismus als Versuch ausgelegt werden kann, Religion zu verunglimpfen und somit die Grundlagen von Gesellschaft und Staat zu bekämpfen, musste im Juni 2012 beispielsweise Alexander Aan erfahren, nachdem er auf der Facebook-Seite Ateis Minang (Minang-Atheist* innen) erklärt hatte, warum er nicht an Gott glaubt. Entgegen einiger Darstellungen des Vorfalls (z.B. Sinn 2014: 224) hatte er diese Seite jedoch nicht erstellt, sondern lediglich kommentiert. Als seine islamkritischen Äußer-ungen in seiner Nachbarschaft die Runde machten, wurde er auf dem Rückweg von seiner Arbeit von einem wütenden Mob verprügelt. Juristisch belangt von einem Gericht in Padang wurde jedoch nicht der gewalttätige Mob, sondern Alexander Aan, mit der Begründung, er habe religiöse Gefühle verletzt und andere Menschen damit provoziert. Die Empörung des gewalttätigen Mobs sei deshalb verständlich und nur auf Alexander Aans Äußerungen zurückzuführen. Aan wurde zu einer Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren sowie zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 8.000 Euro verurteilt (Kovacs 2012: 4, Saputra et al. 2013: 110-137). Auch Äußerungen von religiösen Menschen, die nicht den hegemonialen religiösen Auslegungen entsprechen, sind oft Gegenstand religiös fundierter Empörung, wobei Gerichte dann oft die eigentlichen Opfer von Gewalt und Verfolgung zu Täter*innen machen. Hier wird, zum Beispiel von christlichen Organisationen, immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Gerichte in Indonesien nur allzu schnell dem Druck der religiösen Mehrheit beugen würden.3
3
Open Doors (Mai 2011): Informationen über Staatliche Gesetze gegen Blasphemie in Indonesien. Online abrufbar:
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Religiöse Gefühle stehen unter besonderem Schutz des Staates, da sie als konstitutiv für die indonesische Identität betrachtet werden. Den rechtlichen Schutz dieser religiösen Identität gewährt das bereits oben erwähnte Blasphemiegesetz, das im politischen Kontext der Auseinandersetzung zwischen religiösen und kommunistischen Kräften 1965 erlassen wurde. Das Gesetz 1/PNPS/1965 stellt sowohl die Verbreitung von abweichenden Interpretationen der in Indonesien anerkannten Religionen unter Strafe, als auch Äußerungen, die Religion generell ablehnen und die dazu geeignet sein könnten, andere Menschen vom Glauben abzubringen. Es geht hier also im Kern um zwei Arten von öffentlich vorgetragener Religionskritik, die strafbar sind: Einmal säkulare Religionskritik, also Kritik an Religion per se, worunter theoretisch alle atheistische Äußerungen fallen können. Zum anderen wird aber auch religionsinterne Kritik unter Strafe gestellt, wenn von Gruppen einer anerkannten Religionsgemeinschaft theologische Prinzipien vertreten werden, die von der hegemonialen Interpretation der jeweiligen Religion abweichen. Dies kann dann von der Mehrheit als Verunglimpfung betrachtet werden, da hier das Gesetz nicht klar zwischen Verunglimpfung der Religion und abweichender Lehre unterscheidet (Naipospos 2010). Dieser Vorwurf kann auch in Bezug auf atheistische Religionskritik erhoben werden, da solche religionskritische Äußerungen ja nicht zwangsläufig eine Verunglimpfung darstellen müssen. Durch das Fehlen klarer Definitionen ist daher aber potentiell jede Religionskritik dem Vorwand ausgesetzt, eine Verunglimpfung zu sein. Das Gesetz sieht hier in schweren Fällen bis zu fünf Jahre Haft vor. Im Dezember 2009 reichte eine Gruppe von sieben Menschenrechtsorganisationen Klage gegen das Gesetz ein, worauf eine bis zum April 2010 dauernde Verhandlung vor dem obersten Gerichtshof erfolgte, die auch die Öffentlichkeit stark polarisierte (Sinn 2014: 221-223). Die Kläger*innen führten an, dass das Gesetz mit den in der indonesischen Verfassung und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantieren Rechten auf Religions- und Meinungsfreiheit in Konflikt stehe, da es Religionen und Weltanschauungen diskriminiere, die von hegemonialen Interpretationen der anerkannten Religionen abweichen. Die Intervention in Glaubensfragen aber falle nicht in das Aufgabengebiet des Staates (Sinn 2014: 224-225). Außerdem verwiesen die Ankläger*innen darauf, dass das Blasphemiegesetz unter besonderen gesellschaftspolitischen Umständen entstanden sei: Die (imaginierte) Bedrohung durch die PKI sowie der Ausnahmezustand, in dem Sukarno am Parlament vorbeiregieren konnte, seien heute nicht mehr relevant und Letzteres stelle außerdem ein problematisches, wenn
https://www.opendoors.de/downloads/dossiers/dossier_indonesien.pdf.
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nicht gar unzulässiges Gesetzgebungsverfahren dar (Yonesta et al. 2012: 3-10). Damit wurde von den Kläger*innen die Legitimität des Blasphemiegesetzes auf verschiedenen Ebenen in Frage gestellt. Das indonesische Verfassungsrecht wurde hierbei selbst auch Gegenstand der Diskussion, konkret in Form der Frage, ob es abweichende und atheistische Meinungen im öffentlichen Raum erlaubt oder nicht. Gleichzeitig bot die Kontroverse und die Verhandlung Gelegenheit, die Grenze zwischen antagonistischen moralischen Gemeinschaften abzustecken und neu zu verhandeln. Der Begriff der moralischen Gemeinschaft meint hier eine Gruppe, die sich durch eigene moralische Werte, Regeln und Gerechtigkeitsüberlegungen auszeichnet und diese dann den Mitgliedern der eigenen Gruppe zuschreibt. Damit werden Grenzen der moralischen Gemeinschaft gezogen, die ihre Moral letztlich über ihr anderes, das als nicht-moralisch markierte, ausdrückt (Zenker 2015: 1020, Optow 1990: 3, Hegdvedt/Scheuerman 2010: 340). In dem Verfahren wurden insgesamt 25 Zeug*innen und Expert*innen sowie 24 Repräsentant*innen religiöser Gruppen angehört. Die 16 von der Regierung eingeladenen Expert*innen sprachen sich alle für die Beibehaltung des Gesetzes aus. Außerdem bot der Prozess auch konservativen und radikalislamischen Gruppen ein Podium, auf dem deren Repräsentanten ihre Argumente mitunter sehr emotional vortrugen. Unter anderem wurden Vertreter des Rats der Islamischen Gelehrten Indonesiens (Majelis Ulama Indonesia, MUI), der Front der Verteidiger des Islams (Front Pembela Islam, FPI), eine vigilante Gruppe, sowie der Hizbut Tahir Indonesia (HTI), die einen islamischen Gottesstaat in Indonesien anstrebt, eingeladen. Gruppen wie die FPI zeichnen sich durch ein konfrontatives Auftreten aus und ihre Ausbreitung kann als eine Konsequenz der Unklarheit demokratischer Spielregeln im Post-Suharto-Indonesien gelesen werden (Kersten 2015: 141). Auf Seiten der Expert*innen, die die Kläger*innen eingeladen hatten, waren neben Jurist*innen auch liberale Vertreter*innen religiöser Institutionen, beispielsweise der deutschstämmige Jesuit und Philosoph Franz Magnis-Suseno und Luthfi Assyauknie vom Netzwerk des liberalen Islams (Jaringan Islam Liberal, JIL) vertreten. Angesichts dieser Personen und Organisationen war schon im Vorfeld eine sehr kontroverse Verhandlung zu erwarten. Anhänger*innen islamistischer Organisationen nutzten den Zuschauerraum als Bühne, um ihre Sicht der Dinge auch performativ kundzutun. Dabei wurden geladene Expert*innen vor und im Gerichtssaal beschimpft, bedroht und angegriffen. Zudem sorgten diese Gruppen im Gerichtssaal mitunter für tumultartige Szenen, beispielsweise als sie den Regisseur Garin Nugroho, der sich als Kulturexperte kritisch zum Gesetz äußerte, als „Ungläubigen“, dessen Blut vergossen werden solle, beschimpften. Auch vor dem Gerichtssaal zeigten reaktionärislamistische Gruppen mit martialischer Symbolik Präsenz, wodurch ein Bedro-
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hungsszenario für die geladenen Expert*innen und Richter*innen geschaffen wurde, das der Staat offenbar nicht gewillt war zu verhindern (Sinn 2014: 234).4 Aktivist*innen reaktionär-islamistischer Gruppen zeigten beispielsweise direkt vor dem Gerichtsgebäude Banner, mit denen sie Fragen von nationaler Souveränität und Religionsfreiheit miteinander verknüpften. So war an dem Tag, als der Führer der FPI geladen war, ein großes Banner zu sehen, auf dem Fotos „ökonomischer Übeltäter*innen“ (penjahat ekonomi) und Fotos von Repräsentant*innen von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), die sich für religiösen Pluralismus engagieren, abgebildet waren. Letztere wurden als NGOs, die dem Glauben schaden wollen (LSM penjahat akidah) bezeichnet und die abgebildeten Personen wurden mit langen Zähnen und Hörnern porträtiert, was ihnen eine teuflische, bösartige Absicht unterstellte (Yonesta et al. 2012: 131). Die Emotionen der Klagegegner*innen wurden hier bildhaft in einer Form dargestellt, die eine Verbindung von neoliberalen Ökonom*innen und liberalen NGOs suggerierte: Beide würden der Nation und der religiös-moralischen Gemeinschaft schaden wollen. Am 24. März 2010, kurz vor dem Ende der Anhörungen, kam es zu einem gewaltsamen Angriff eines islamistischen Mobs auf Anwält*innen der Klägerpartei, wobei Indizien nahelegen, dass die FPI hinter dieser Aktion stand.5 Hasyim Muzadi, ein Vertreter der größten muslimischen Organisation des Landes, der Nhadlatul Ulama (NU), machte den Kläger*innen den Vorwurf, eine explizit atheistische Motivation für die Klage zu haben; Atheist*innen wären die einzigen, die einen Vorteil hätten, wenn das Gesetz für verfassungswidrig erklärt würde.6 Damit verfolgte er die Absicht, die Kläger*innen qua einer unterstellten atheistischen Gesinnung aus dem Kreis der legitimierten Diskursteilnehmer*innen auszuschließen. Dadurch, dass sich ein Vertreter der größten (und gemeinhin als moderat geltenden) islamischen Organisation Indonesiens deutlich für die Beibehaltung des Gesetzes aussprach, wurden radikalere Gruppen darin bestärkt, ihre Emotionen offen zu zeigen und damit Andersdenkende einzuschüchtern. Anhänger*innen reaktionär-islamischer Gruppen konnten sich so als
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Siehe auch: Schott, Christina (03.05.2010): Blasphemie-Gesetz in Indonesien. Staatlich verordneter Glaube. Online abrufbar: http://de.qantara.de/inhalt/blasphemiegesetz-in-indonesien-staatlich-verordneter-glaube.
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Human Rights Watch (19.04.2010): Court Ruling a Setback for Religious Freedom. Online
abrufbar:
https://www.hrw.org/news/2010/04/19/indonesia-court-ruling-
setback-religious-freedom. 6
Kompas (16.02.2010): Waspada! Kelompok Ateis Bergerilya. Online abrufbar: http://megapolitan.kompas.com/read/2010/02/16/12113488/waspada.kelompok.ateis.b ergerilya.
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ein Teil und damit als legitime Repräsentant*innen der islamischen Gemeinschaft in Indonesien begreifen. Hier ist besonders auch die Rhetorik des Führers der FPI, Habib Rizieq, während der Anhörung interessant, der so tat, als würde er lediglich das zum Ausdruck bringen, was die Gemeinschaft der Moslems (umat) denkt und nur mitteilen, was diese tun werde, sollte das Gesetz abgeschafft werden. Somit erweckte er den Eindruck, als spreche die gesamte umat Indonesiens durch ihn (vgl. Yonesta et al. 2012: 129). Hier wurde nicht nur islamische Identität produziert durch den Ausschluss von Andersdenkenden, die dann von den Anhänger*innen Rizieqs letztlich auch attackiert wurden, womit diese diskursiv hergestellte Identität ihren Ausdruck in Emotionen fand. Auch wurde diese Identität maßgeblich über Emotionen hergestellt, zum Beispiel durch Beleidigungen und emotionale Reden in der Verhandlung. Habib Rizieq ist dabei generell für emotionale Predigten bekannt, bei denen er bei wichtigen Stellen oft zu brüllen beginnt. Nicht nur die Tatsache, dass Mitglieder vigilanter und fundamentalistischer Gruppen als Expert*innen zu der Verhandlung geladen und damit als legitime Diskursteilnehmer*innen angesehen wurden mag überraschen. Im Falle der FPI handelt es sich zwar um eine Organisation, die durch Selbstjustiz im Namen der Religion das staatliche Gewaltmonopol bricht, dies aber oft in Abstimmung mit und unter dem Schutz von staatlichen Institutionen tut, da sie Verbindungen zum Militär, zur Polizei und zu wichtigen Politiker*innen unterhält (Bruinessen 2013b: 38, Wilson 2014). Noch interessanter aber ist die Tatsache, dass ihre Argumentationen die Richter*innen eher überzeugen konnten als die jener Expert*innen, die zwar auch über einen religiösen Hintergrund verfügten, sich aber für eine Liberalisierung oder Abschaffung des Gesetzes aussprachen. Im Folgenden sollen zunächst Positionen offen fundamentalistischer Gruppen wiedergegeben werden, die am achten Verhandlungstag geladen waren. Der bereits erwähnte Habib Rizieq, der die FPI vertrat, stellte zu Beginn klar, dass zwischen Vielfalt der Religionen (kebhinnekaan) und Verunglimpfung bzw. Verspottung (penistaan) unterschieden werden müsse. Ersteres sei ein Grundprinzip des indonesischen Staates, während letzteres eine kriminelle Handlung (kejahatan) darstelle. Alle Religionen seien vor Verunglimpfung zu schützen – dabei rekurrierte Habib Rizieq sowohl auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch auf die indonesische Verfassung. Das Gesetz sei wichtig, um die Moral des Volkes (moral bangsa) zu erhalten und die Harmonie (kerukunan) zwischen den Glaubensgemeinschaften zu bewahren, sodass eine „gesunde Religionsfreiheit“ (kebebasan beragama yang sehat) geschaffen werden könne. Das sei auch notwendig für nationale Stabilität und den Zusammenhalt des Staates (kesatuan NKRI). Sollte das Gesetz wegfallen, gäbe es keinen Schutz
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mehr für die Religion. Dies würde dazu führen, dass die religiösen Gemeinschaften das Recht in die eigene Hand nehmen und Menschen, die Religion verspotten, selber bestrafen würden (Yonesta et al. 2012: 128-129). Solch eine Aussage aus dem Mund des Führers der FPI kann unschwer als Drohung aufgefasst werden, denn die FPI ist bekannt dafür, dass sie Gewalt gegen Menschen und Dinge anwendet, die sie für unislamisch hält. Der zentrale Begriff der Verspottung bzw. Verunglimpfung von Religion (penistaan agama) wird in dieser Argumentation nicht näher bestimmt. Als einziges Bestimmungsmerkmal des Begriffs dient Habib Rizieq die Abgrenzung von den anerkannten Religionen. Verunglimpfungen sind dann jene Äußerungen über Religion, die entweder von den Lehren der anerkannten Religionen abweichen oder Äußerungen, die Religion generell kritisieren. Letztlich argumentiert er damit für ein staatliches Management von Religion, das jede von den hegemonialen Interpretationen abweichende Äußerungen unter Strafe stellt. Die „gesunde“ Religionsfreiheit – also die Tatsache, dass jede*r Indonesier*in einer der anerkannten Religionen angehören muss – setzt er in Beziehung zur Stabilität und Einheit des Staates, womit er sowohl der Furcht vor Chaos und Gewalt Ausdruck verleiht, als auch nationalistische Ressentiments und Emotionen bedient. Dieses Chaos drückt sich dann in eben jener Gewalt und Zurschaustellung von Emotionen aus, die seine Anhänger*innen performativ in den Diskurs über das Gesetz einbrachten. So wird Indonesien indirekt als ein Land dargestellt, das nur funktionieren kann, wenn es Religion (bzw. bestimmte Auslegungen von bestimmten Religionen) juristisch schützt. Gerecht ist in dieser Argumentation das, was Stabilität und nationale Sicherheit gewährleistet. Religion, zumindest in der vom Staat anerkannten Form, ist in dieser Argumentation nicht nur per se richtig, sondern auch zentraler Bestandteil der indonesischen Identität. Daher ist es gerecht, das Richtige und die eigene Identität zu schützen und Kritik am Eigenen zu verbieten, sodass die so hergestellte Identität nicht in Frage gestellt wird und als geschlossen erscheinen kann. Diese Argumentation ähnelte jener der HTI, wobei die HTI betonte, dass der Versuch, das Gesetz abzuschaffen, ein Ausdruck von Islamophobie sei (Yonesta et al. 2012: 130). Hier kann somit konstatiert werden, dass die Zugehörigkeitsgefühle sich nicht nur auf die umat beziehen, sondern reaktionär-islamische Gruppen den Anspruch erheben, für den Staat bzw. im Namen seiner als religiös konzipierten nationalen Identität zu sprechen. Die gewalttätigen Ausschreitungen und Drohungen gegen Anwält*innen und geladene Expert*innen sind daher in den Augen der Anhänger*innen dieser Gruppierungen eine legitime Reaktion nicht nur auf eine Bedrohung der umat, sondern auch der Grundlagen des Staates, da sie als gerechtfertigte Empörung gelesen werden.
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Die Argumentationen der meisten anderen geladenen islamischen Gruppen unterschieden sich kaum von jener der FPI. Auch sie betonten, dass das indonesische Volk und die indonesische Nation ein besonderes Verhältnis zur Religion kennzeichne. So erklärte beispielweise Tahir Azhari von Al-Irsyad, einer puritanisch-salafistischen Organisation (Bruinessen 2013b: 24), eigentümlicherweise auf Englisch: „the nature of our state is not secular it’s religious nation state [sic!]„ (Yonesta et al. 2012: 130). Das sei sehr klar (jelas sekali), gewissermaßen selbstevident. Säkularismus, der staatliches Leben (kehidupan negara) und Religion (agama) trenne, sei deshalb vom Staat zurückzuweisen. Auch hier wird staatliche Identität als religiöse Identität gesetzt. Das Bemühen, säkulare Religionskritik wie auch religionsinterne Kritik von in der jeweiligen Religion nichthegemonialen Akteur*innen zuzulassen, wird dabei von einigen islamischen Gruppen als Bemühung imperialistischer westlicher Konspirationen gedeutet. So sagte beispielsweise Al-Khottot vom Forum Umat Islam (FUI) aus, dass ausländische liberale NGOs hinter den Bemühungen um die Abschaffung des Blasphemiegesetzes stünden (Yonesta et al. 2012: 147). Durch die Konstruktion einer nicht näher bestimmten Bedrohung von außen wurde auch hier wieder die nationalistische Karte gespielt. Bedrohungsszenarien durch ausländische Kräfte trugen dazu bei, die Stimmung weiter aufzuheizen, da so auch nationalistische Gefühle mobilisiert wurden. Expert*innen, die durch die Kläger*innen geladen wurden äußerten sich anders vor Gericht. Franz Magnis-Suseno, ein deutschstämmiger Jesuitenpater der seit über 50 Jahren in Indonesien lebt und an einer katholischen Hochschule für Philosophie in Jakarta lehrte, brachte zum Ausdruck, dass die Religionsfreiheit nur dort eine Beschränkung/Begrenzung (batasan) erfahren solle, wo das Recht einer anderen Person verletzt wird (Yonesta et al. 2012: 87-88). Magnis-Suseno geht hier also in seiner Argumentation methodologisch von einem Individualismus aus: Das Individuum genießt Religionsfreiheit, die Staat und Gesellschaft respektieren müssen. Das normative Moment liegt hier beim Individuum, während es in den Argumentationen reaktionärer Gruppen bei der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Identität liegt. Gesellschaftliche Nicht-Identität, also das Nicht-Religiöse, kann sich für Magnis-Suseno durchaus im Individuum finden, ohne dass dadurch die gesellschaftliche Identität als religiöse Identität bedroht wird. Im Interview erklärte Franz-Magnis-Suseno, dass er auch keinen Widerspruch darin sehe, wenn ein Atheist oder Atheistin politische Ämter in Indonesien übernimmt, beispielsweise in einem Ministeramt. Er oder sie müsse dann jedoch in dieser Funktion Religion schützen und fördern, da dies dem Selbstverständnis des indonesischen Staates entspreche. Das können aber auch Atheist*innen, da die politische Funktion nicht mit dem persönlichen Glauben iden-
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tisch sei. „Gerecht“ ist in dieser Auffassung also das, was die Rechte des Individuums garantiert und Glauben zuallererst zur Sache des Individuums macht: Glaube und Nichtglaube sind dann private Angelegenheiten, die auch in einem Staat, der auf dem Glauben an einen Gott basiert, privat und individuell verhandelt werden können. Zu tumultartigen Szenen im Gerichtssaal kam es, als Luthfi Assyaukanie seine Ansichten vortrug. Luthfi Assyaukanie ist Mitbegründer des Netzwerks des Liberalen Islams (Jaringan Islam Liberal, JIL) und schon deshalb ein Hassobjekt fundamentalistischer Gruppen (Yonesta et al. 2012: 95). Veranstaltungen des JIL werden mitunter von der FPI gesprengt und vor einigen Jahren erhielt Luthfi Assyaukanie eine als Buch getarnte Bombe, die allerdings früher als beabsichtigt explodierte und einen Pförtner schwer am Arm verletzte. Luthfi Assyaukanie hat außerdem mit einem Werk über säkulare Staatlichkeitsentwürfe und Islam in Indonesien promoviert (Assyaukanie 2009), welches ebenfalls auf Kritik bei fundamentalistischen Gruppen stieß, wenn auch ein Großteil der Anhänger*innen reaktionär-islamischer Gruppen kaum dazu fähig sein dürften, einen englischsprachigen wissenschaftlichen Text zu verstehen. Emotional reagierten auch FPI-Anhänger*innen auf den Zuschauerrängen, als Assyaukanie festhielt, dass es ein für alle Religionen typisches Phänomen sei, die andere Religion oder die andere Weltanschauung als falsch oder als vom rechten Weg abgekommen (sesat) zu bezeichnen. Diesen Vorwurf habe sich seinerzeit auch der Prophet Mohammed anhören müssen – die Intoleranz gegenüber seiner Lehre habe dazu geführt, dass er mit Kamelmist beworfen und verspottet wurde. Aus diesem Beispiel solle die heutige Gesellschaft lernen und toleranter sein gegenüber Andersund Ungläubigen. Gerade das Beispiel des Propheten Mohammed emotionalisierte stark, denn in den Augen fundamentalistischer Gruppen stellt der Fall Mohammed einen absoluten Sonderfall dar, da er alleine die einzig richtige Religion gebracht habe. Wie beispielsweise auch Franz Magnis-Suseno, argumentierte Luthfi Assyaukanie im Folgenden dann mit einem normativen Individualismus: Glaube und weltanschauliche Überzeugungen seien Angelegenheiten des Individuums (urusan individu) bei denen der Staat nicht befugt sei einzugreifen (Yonesta et al. 2012: 98-99). Interessant und wichtig festzuhalten ist die Tatsache, dass sich fast keine*r der Zeug*innen und Expert*innen, die sich für einen Änderung oder Abschaffung des Gesetzes aussprachen, in seiner/ihrer Argumentation direkt und explizit auf den Atheismus bezog. In den aufgeführten Beispielen wurde dies ja auch nur indirekt getan. Stattdessen redeten die geladenen Expert*innen eher über die Anerkennung von bisher noch nicht staatlich anerkannten Glaubensrichtungen. Mit dieser Strategie wollten sich die liberal gesonnen geladenen Expert*innen gegen
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den Vorwurf schützen, dass sie sich explizit für den Atheismus einsetzen, was zu ihrer Delegitimierung innerhalb des Diskurses geführt hätte. Dennoch war das Thema Atheismus von zentraler Bedeutung in der Verhandlung um das Blasphemiegesetz. Dies zeigt sich auch an den Begründungsmustern des Urteils der Richter*innen, auf die im Folgenden eingegangen werden soll.
Das Verfassungsgericht erklärte am 19. April 2010, dass das Gesetz verfassungskonform sei und wies die Klage gegen das Gesetz somit ab. Einzig die Richterin Maria Farida, die ohnehin für ihre progressiven Urteile bekannt ist, gab ein Minderheitenvotum ab und erklärte, dass sie das Gesetz für nicht mit dem Recht auf Religionsfreiheit vereinbar halte (Yonesta et al. 2012: 199). In der Urteilsbegründung führte das Gericht an, dass Indonesien weder ein säkularer Staat noch ein islamischer Staat sei, sondern ein Staat, der auf Ketuhanan yang Maha Esa basiere (Yonesta et al. 2012: 212). Damit wird auf die spezifische Interpretation der Toleranz, wie sie in der Pancasila zum Ausdruck komme, rekurriert, die Säkularität und einen islamischen Staat als konstitutives Außen der Toleranz festlegt. Religion wird damit zum Ordnungsrahmen und garantiert eine Ordnung: Die Richter*innen hoben hervor, dass der Schutz der Religion wichtig sei, um die öffentliche Ordnung zu gewährleisten und sahen so in Religionskritik einen potentiellen Auslöser für gesellschaftliches Chaos. Hier ist zu ergänzen, dass Religion in Indonesien sehr stark als Garant für Moral und damit für öffentliche Ordnung betrachtet wird. Atheismus ist dem gegenüber mit Werteverfall und Egoismus konnotiert. Der Glaube an einen Gott stellt in diesem Diskurs daher die Grundlage für eine moralische Gesellschaft dar. Simone Sinn (2014: 237) verweist darauf, dass Ketuhanan yang Maha Esa aber nicht zwangsläufig in Religion und religiösen Werten konkretisiert sein muss, sondern einen Transzendenzbezug darstellen könnte, der über die innerweltliche Grundlage der in Indonesien anerkannten Religionen hinausweise und daher nicht mehr in die ordnungspolitischen Aufgabenbereiche des Staates falle. Da das Gericht diese Argumentation jedoch nicht anführte und explizit darauf verweist, dass Staat und Religion in Indonesien nicht zu trennen seien, wird Säkularität und Atheismus als konstitutives Außen für den religiösen Pluralismus festgeschrieben. Die Argumentation der Richter*innen kreiste daher immer um die Setzung, dass die Verwobenheit von Religion und nationaler Identität auch die Identität des indonesischen Staates ausmache. Dabei wurde dieses Selbstverständnis in der Argu-
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mentation immer wieder gegen „amerikanische“, „westliche“ oder „säkulare“ Konzeptionen des Staates (diese Begriffe wurden dabei synonym verwendet) abgegrenzt und diese „säkularen“ Konzeptionen als global-hegemonialer Diskurs aufgefasst, gegen den sich das spezifisch Indonesische abgrenzen müsse (Sinn 2014: 236). Hier wird deutlich, dass Atheismus als säkulare Religionskritik als ungerecht und daher als Gegenstand staatlicher Sanktionsmechanismen betrachtet wird. Das Eigene schützen heißt, sich gegen das Fremde abzugrenzen und so das Eigene erst hervorzubringen. In Hinblick auf Emotionen kann konstatiert werden, dass öffentlich vorgetragene Emotionen besonders von Seiten der Klagegegner*innen Auswirkungen auf das Urteil hatten, auch wenn die Richter*innen betonten, dass Drohungen und Tumulte ihre Entscheidung nicht beeinflusst hätten. Die inner- und außerhalb des Gerichtssaals zur Schau gestellte Emotionalität ist jedoch ein performativ hergestelltes Bewusstsein darüber, dass das Gesetz nötig ist, um die Harmonie in der Gesellschaft nicht zu gefährden. Schließlich hoben die Richter*innen in der Urteilsverkündung die Bedeutung des Gesetzes für die gesellschaftliche Harmonie hervor.7 Dabei ist Harmonie als gesellschaftlicher Wert zu verstehen, der sich durch die Abwesenheit von öffentlich vorgetragenen Emotionen auszeichnet. Hier wirken politische Diskurse der autoritären Suharto-Ära nach, in der die Gesellschaft depolitisiert und als „fließende Masse“ (massa mengambang) konzipiert wurde, damit das Ziel der nationalen Entwicklung von oben geplant und möglichst reibungslos umgesetzt werden konnte. Alle Personen und Organisationen, die sich nicht in diese fließende Masse eingliedern wollten, machten sich als potentielle Unruhestifter*innen verdächtig (Vatikiotis 1993: 104). Öffentliche Emotionen sind also zu vermeiden, da sie nicht dem Konzept der fließenden Masse entsprechen. Wie aber die Verhandlung über das Blasphemiegesetz gezeigt hat, ist nicht zwangsläufig die Person, die sich emotional verhält immer diejenige, die die harmonische Ordnung des Nicht-Emotionalen gefährdet, sondern mitunter die Person, die andere Menschen zu emotionalem Verhalten bringt. Hier drückt sich eine Unfähigkeit aus, mit Dissens so umzugehen, dass Emotionen anerkannt, aber auch von Beginn an so eingehegt werden, dass keine Bedrohungssituationen entstehen. Kritiker*innen warfen daher dem Gericht vor, letztlich den Schutz religiöser und nicht-gläubiger Minderheiten nicht
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Schott, Christina (03.05.2010): Blasphemie-Gesetz in Indonesien. Staatlich verordneter
Glaube.
Online
abrufbar:
http://de.qantara.de/inhalt/blasphemie-gesetz-in-
indonesien-staatlich-verordneter-glaube (11.02.2016).
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zu wahren und stattdessen für den „Schutz der Mehrheit“ zu argumentieren.8 Diese Logik wird plausibel, wenn man sich klarmacht, dass aus der Sicht der Richter*innen affektiv-moralische Äußerungen am besten vermieden werden können, wenn die Emotionen der Mehrheit als normatives Leitmotiv in die Urteilsfindung eingehen. Zu vermeiden ist dann vor allem die Emotion der Empörung aufgrund von Kritik an Religion. Das affektive Auftreten von Vertreter*innen reaktionär-islamischer Gruppen und die Mobilisierung religiösnationalistischer Emotionen im Zuge der Gerichtsverhandlung dienten dabei als Beispiel dessen, was passieren kann, wenn die religiösen Gefühle nicht unter staatlichen Schutz gestellt werden. Damit trug die performative Einbindung der Emotionen von Seiten reaktionär-islamischer Gruppen dazu bei, die Grenze zwischen den moralischen Gemeinschaften der Kläger*innen einerseits, die argumentierten, dass religiöse Weltanschauungen Privatsache seien und der Gesetzgeber kontroverse Äußerungen nicht unter Strafe stellen dürfe, und der moralischen Gemeinschaft der Klagegegner*innen andererseits, zu verfestigen. Letztlich aber war hier auch ausschlaggebend, dass die großen, als nicht radikal geltenden, islamischen Organisationen sich für das Blasphemiegesetz aussprachen und damit radikaleren Gruppen signalisierten, dass auch sie Teil der moralischen Gemeinschaft der umat seien. Gerade über das Verknüpfen von nationalistischen und religiösen Werten gelang eine Emotionalisierung der Debatte, da reaktionär-islamische Gruppen so Bedrohungszenarien durch angebliche Bemühungen fremder, (neo-) liberaler Elemente für die Nation und die religiös-nationale Identität aufbauen konnten. Die Tatsache, dass hier sowohl das Schreckgespenst des Kommunismus als auch jenes einer neoliberalen Bedrohung bemüht wurde um Emotionen zu mobilisieren ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, dass „Kommunismus“ und „Liberalismus“ im Denken dieser Gruppen bisweilen als Synonyme erscheinen: Beide zeichnen sich nur dadurch aus, dass sie das kulturell-politische Andere des national-religiösen Eigenen darstellen. So tragen beispielsweise Anhänger*innen der FPI bei Demonstrationen Banner mit der Aufschrift „Die Liberalen weisen religiöses Recht zurück, Die PKI weißt religiöses Recht zurück, also: Liberal=PKI“ (Liberal tolak hukum agama, PKI tolak hukum agama, Liberal = PKI): Beides ist das konstitutive Außen der eigenen Identität (und der nationalen Identität, wenn diese als religiös fundiert betrachtet wird) und damit gleichwertig. Beides erscheint letztlich als Synonym auch für Atheis-
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Schott, Christina (03.05.2010): Blasphemie-Gesetz in Indonesien. Staatlich verordneter Glaube. Online abrufbar: http://de.qantara.de/inhalt/blasphemie-gesetz-in-indone sien-staatlich-verordneter-glaube (11.02.2016).
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mus und damit als latente Bedrohung. Damit wird Religion, wie sie von reaktionären Gruppen verstanden und emotional aufgeladen wird, zu dem zentralen Signifikanten nationaler Identität und zum obersten Kriterium für die Aufnahme in die eigene moralische Gemeinschaft. Mit der Entscheidung, die Klage gegen das Blasphemiegesetz abzulehnen, dürfte das Gericht radikal-islamische Gruppen in Indonesien somit gesellschaftlich aufgewertet haben. Außerdem wurde der normative Individualismus, den Expert*innen, die von der Klägerpartei geladen wurden und die argumentierten, dass Glaube Privatsache sei und der Staat hier keine Einschränkungen vornehmen dürfe, offenbar von den meisten Richter*innen nicht geteilt. Religion wurde damit von den Verfassungsrichter*innen als Norm gesetzt, auf die gesellschaftliche Harmonie gründet. Der moralischen Gemeinschaft kommt daher implizit ein moralisches Recht zu, sich zu empören, wenn Religion verunglimpft wird. Dieses Recht wurde von den Anhänger*innen der reaktionär-islamischen Gruppen schon während der Verhandlung als Pflicht interpretiert und ihre Empörung daher als Argument für die Notwendigkeit des Blasphemiegesetzes aufgefasst.
Mit Verweis auf die Pancasila sowie auf die indonesische Identität, die konstitutiv religiös und antikommunistisch fundiert ist, gelang besonders religiösen und islamistischen Gruppen die Mobilisierung starker Gerechtigkeitsgefühle und Emotionen, die dem Nicht-Religiösen im Diskurs keinen Raum ließen. Die eigene moralische Gemeinschaft wurde performativ über den Ausdruck von Empörung gefestigt, was sich bis hin zur Ausübung von Gewalt gegen Andersdenkende ausdrückte. Atheismus ist in diesem Sinne das konstitutive Außen der indonesischen Identität, und Atheist*innen ist es unmöglich, in Gerechtigkeitsdiskurse einzutreten, da ihre bloße Existenz als Bedrohung des Eigenen und daher als ungerecht betrachtet wird. Ihre schiere Existenz wird als ungerecht empfunden, weil sie das Selbstverständnis als Nation, die auf Ketuhanan yang Maha Esa basiert, in Frage stellt, jedenfalls in der gängigen Interpretation von Ketuhanan yang Maha Esa, wie sie vom Verfassungsgericht, den großen muslimischen Organisationen wie der Nahdlatul Ulama und der Muhammadiyah wie auch von islamistischen Gruppen wie der FPI und der HTI vertreten wird. Atheist*innen bleibt der Verweis auf international anerkannte menschenrechtliche Normen, die ebenfalls Affekte mobilisieren, in Indonesien jedoch außerhalb kleiner liberaler Kreise bisher wenig Wirkung entfalten und daher kaum entsprechende Gerechtigkeitsgefühle erzeugen konnten. Andererseits verweisen eben auch radikalis-
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lamische Gruppen auf menschenrechtliche Normen, wenn sie behaupten, dass ihre Religion durch säkulare Religionskritik verunglimpft werde und indem sie das Schreckgespenst der Islamophobie heraufbeschwören. In der indonesischen Gesellschaft ist Atheismus jedoch längst ebenso ein Fakt wie „abweichende“ Glaubensauslegungen, es fehlt alleine die gesellschaftliche Anerkennung von Atheist*innen in ihrer nicht-religiösen Identität. Simone Sinn (2014: 243) schreibt dazu: „[D]ie indonesische Gesellschaft [wird sich] am Phänomen des Atheismus als der im Gegenüber zur herrschenden Religionsorientierung subalternen Weltsicht abarbeiten. Wenn die Gesellschaft Deutungsmuster generieren kann, mit denen im Horizont von Ketuhanan yang Maha Esa denkbar ist, dass Menschen Ketuhanan yang Maha Esa als Verfassungsprinzip anerkennen, aber einen persönlichen Bezug zu Gott und Religion ablehnen, dann wird der religiöse Pluralismus im öffentlichen Leben auf eine neue Stufe gehoben. Diese Freiräume gibt es informell schon lange. Religionsgemeinschaften und staatliche Autoritäten aber scheuen sich, öffentlich in einen solchen Diskurs zu gehen. […] Ein Gottesdiskurs kann nicht anders als den Atheismus als mögliche Unmöglichkeit immer mit zu denken und damit einen gesellschaftlichen Freiraum zu schaffen.“
Eine ähnliche Argumentation hatte auch Franz Magnis-Suseno während der Verhandlung angeführt. Atheismus und ein Staat und eine Gesellschaft, die auf Ketuhanan yang Maha Esa basieren, müssen sich nicht notwendigerweise ausschließen; solange Atheist*innen die religiöse Verfasstheit von Staat und Gesellschaft akzeptieren, ginge von ihnen auch keine Gefahr für Staat und Gesellschaft aus. Dies sahen jedoch sowohl die Richter*innen als auch viele geladene Experte*innen religiöser Institutionen offenbar anders. Die Affekte und Emotionen, die im Laufe der Gerichtsverhandlung erzeugt wurden rühren von einer Identifikation der eigenen, als religiös entworfenen Identität, die alles im Staat umfassen muss, damit sie geschlossen ist bzw. als geschlossene Identität erscheinen kann. Atheismus ist dann die Unmöglichkeit der eigenen Gesellschaft, die Unmöglichkeit, die ungerecht ist, da sie das als geschlossen gedachte Eigene als nichtgeschlossen ausweist, also letztlich auf die immer vorhandene Unabgeschlossenheit von Identität verweist. Die Frage ist, ob ein Gemeinwesen, das sich selbst als konstitutiv religiös versteht, dem Nicht-Religiösen einen Platz in seinem Inneren zuweisen kann. Diese Frage ist nicht nur für Indonesien relevant, sondern auch für andere Staaten, die sich konstitutiv auf Religion beziehen. Obwohl Indonesien oft als ein Musterbeispiel für Toleranz gilt, hat die Verhandlung über das Blasphemiegesetz gezeigt, dass dieser Toleranz sehr enge Grenzen gesetzt sind.
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Letztlich spielt in diesem Gerechtigkeitsdiskurs auch der Umgang mit den blutigen Ereignissen zwischen 1965 und 1968 unterschwellig eine ganz entscheidende Rolle. Solange der Antikommunismus einflussreich für das Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft bleibt und dabei diskursiv mit dem Atheismus verknüpft wird, wird eine atheistische Einstellung für die indonesische Öffentlichkeit nicht als legitim gelten können. Wenn sich allerdings Diskurse etablieren können, in denen Kommunist*innen nicht nur als Täter*innen und Bedrohung für den Staat, sondern auch als Kämpfer*innen für die Unabhängigkeit und Opfer einer blutigen Kampagne wahrgenommen werden, wird sich auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu Religion öffnen können.
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J OHANNA M UGLER 1
Performance Measurement Systeme werden oft als Maßnahmen eingeführt, welche Institutionen effizienter, effektiver und transparenter machen sollen. Solche Zahlenwerke, bestehend aus Leistungsstatistiken, -indikatoren, -ratings und rankings, sollen Akteur*innen darin unterstützen objektivere, rationalere und damit bessere und gerechtere Entscheidungen zu treffen. Auch die südafrikanische Staatsanwaltschaft (National Prosecuting Authority, NPA), der Fokus dieses Beitrages, greift um die Legitimität des südafrikanischen Justizsystems zu stärken seit der Jahrtausendwende auf derartige – weltweit stark zunehmende – quantitative Formen der Rechenschaftspflicht zurück. In diesem Beitrag soll es aber nicht um die Gerechtigkeitsgefühle der Benutzer*innen des südafrikanischen Justizsystems gehen, sondern der Text fokussiert sich darauf, wie legitim diejenigen, deren Arbeitsleistung gemessen und bewertet wird, also die Staatsanwält*innen selbst, das quantitative System zur Leistungsmessung empfinden. Obwohl die Einführung von Leistungsmessungsinstrumenten in der Theorie keine emotional-affektive Reaktion der Gemessenen vorsieht – geht es doch ge-
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Ich möchte gerne Keebet von Benda-Beckmann, Jonas Bens, Sally Engle Merry, Olaf Zenker und Maximilian Mugler für ihre hilfreichen und präzisen Ideen und Vorschläge bezüglich dieses Textes danken. Ich möchte mich auch bei den Forschungsteilnehmer*innen in Südafrika bedanken ohne deren immense Geduld, Verständnis und Zeit diese Forschung nicht möglich gewesen wäre. Ebenso danke ich der International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment (IMPRS REMEP) und dem Institut für Sozialanthropologie an der Universität Bern für deren Unterstützung.
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rade um eine Elimination von Affekten und Emotionen bei der Wissensproduktion – betonen verschiedene sozialwissenschaftliche Quantifizierungsforscher* innen, welch tiefen Unmut, große Skepsis und Angst Expert*innen sowie Fachkräfte gegenüber quantitativen Formen der Rechenschaftspflicht hegen (Boström/Garsten 2008; Power 1997; Shore/Wright 1999; Shore/Wright/Pero 2011; Strathern 2000a, 2000b). Negative Gefühle entstehen, weil im Quantifizierungsprozess von komplexen sozialen Phänomenen wie Gerechtigkeit, Gesundheit oder generell bei der quantitativen Erfassung und Bewertung von Expert*innen, oftmals wichtige Dimensionen ihrer Arbeit verloren gehen. Denn es ist oft zu langwierig oder zu kostenaufwendig Dinge zu quantifizieren, die für das Funktionieren von Expertensystemen essentiell sind, wie zum Beispiel implizites und auf Erfahrung beruhendes Wissen (Tsoukas 1997: 829). Expert*innen leiden besonders darunter, wenn Indikatoren so einflussreich werden, dass sie synonym mit dem eigentlich zu messenden Phänomen werden. Ihr Ermessensspielraum kann dadurch erheblich eingeschränkt werden. Ebenso ihre Freiheit mitzuentscheiden was ein*e gute*r Expert*in ist und ausmacht. Expert*innen fühlen sich dann oft auch dazu verleitet, das Leistungsmessungssystem zu managen — oder sogar zu manipulieren — und nicht die Probleme, die sie mit ihrer eigentlichen Arbeit zu lösen versuchen (Power 1997: 16; 2003: 190; Strathern 2000a: 282-287). Der dadurch verursachte Stress macht nach Meinung verschiedener Sozialwissenschaftler*innen die Expert*innen jedoch eher befangener bzw. ängstlicher als produktiver und bietet keinen besonderen Anreiz für unabhängiges und kreatives Denken, wie man seiner jeweiligen Klientel den möglichst passenden Dienst erweisen könnte (Power 1997: 17; Lindwert 2008: 156; Shore/Wright 1999: 557; siehe auch Shore/Wright/Pero 2011). In diesem Beitrag hingegen geht es nicht um Angst vor quantitativen Formen der Rechenschaftspflicht. Er zeigt, basierend auf einer 18-monatigen ethnologischen Feldforschung (2008–2013) innerhalb der südafrikanischen Staatsanwaltschaft, dass die hier untersuchten Staatsanwält*innen keine Angst und keine starken Gefühle der Ablehnung gegenüber ihrem Leistungsmessungssystem entwickelt hatten und damit auch dessen Legitimität nicht anzweifelten. Der Text beginnt mit einer Reihe von Beispielen, die illustrieren, welch wichtige Rolle quantitative Informationen in den Rechenschaftsbeziehungen der südafrikanischen Staatsanwält*innen spielen. Daraufhin folgt im zweiten Teil eine zweite Reihe von Beispielen, die zeigen, dass die untersuchten Staatsanwält*innen dennoch ihrem jeweiligen Leistungsmessungssystem gegenüber meistens positiv eingestellt waren. Angst vor Zahlen bzw. Zahlenspiele waren nicht charakteristisch für ihre Interaktion mit den numerischen Repräsentationen.
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Ich zeige schließlich im dritten Teil des Kapitels, dass die positive Einstellung der Staatsanwält*innen in Bezug auf die Quantifizierung ihrer Arbeit damit zu erklären ist, dass erstens das südafrikanische Strafrecht und bestimmte Prinzipien der Prozessordung sowie damit verbundene nicht fortgeschrittene und etablierte Quantifizierungsketten in diesem Feld selbst eine Art von Schutz vor einem übermäßigen Vordringen von numerischem Druck in den Arbeitsbereich von südafrikanischen Staatsanwält*innen bieten. Und zweitens, dass in diesem Arbeitskontext die infrastrukturelle, personelle und finanzielle Ressourcenverteilung nicht eng mit dem dortigen Performance Measurement System verbunden ist. Der Beitrag argumentiert, dass Angst vor Zahlen nicht etwas unausweichliches ist. D.h. die affektiv-emotionale Bewertung von scheinbar rationalen standardisierten Leistungsmessungssystemen ist nicht überall gleich und muss immer in einem spezifischen, rechtlichen und institutionellen Kontext untersucht werden.
Staatsanwält*innen haben den Auftrag diejenigen, die Normen verletzten und Regeln übertreten zur Verantwortung zu ziehen. Sie entscheiden in Südafrika wer, wann und für welches Vergehen angeklagt wird. Sie sind somit mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet und übernehmen eine wichtige Funktion im staatlichen Strafrechtssystem2. Ein zentraler Mechanismus, der sicherstellt, dass die Menschen einer Gesellschaft das Gefühl haben, dieses System sei legitim, ist die Tatsache, dass auch die Staatsanwält*innen selbst Rechenschaft über ihre Arbeit abgeben müssen. Wie man aber am besten sicherstellt, dass derartige Amtsträger im Interesse des Volkes arbeiten, ist oft Bestandteil hitziger Debatten innerhalb einer Gesellschaft (UN 1990; Tonry 2012). Was staatsanwaltliche Rechenschaftspflicht und eng damit verbunden staatsanwaltliche Unabhängigkeit bedeutet oder bedeuten soll, wem ein*e Staatsanwalt/-anwältin, zu welchem Zweck, mit welchen Standards, Mechanismen und mit welchen Konsequenzen verpflichtet ist, sind Fragen, die auch immer wieder in der Geschichte der südafrikanischen Staatsanwaltschaft zentral waren (Schönteich 2001: 15-22; Ross/Schrikker 2012; Redpath 2012).
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National Prosecuting Authority Act 32 of 1998; Section 179 of the Constitution of the Republic of South Africa 1996.
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Während der Apartheid war die Staatsanwaltschaft ein integraler Teil der repressiven und rassistischen sozialen Ordnung des Landes. Nahezu 15 Millionen Menschen wurden allein zwischen 1948 und 1981 für Verstöße gegen die Passgesetze und andere die Migration der Bevölkerung regulierende Gesetze strafverfolgt (Klug 1989: 201; Maylam 1990: 78)). Die weiße Minderheitsregierung machte zusätzlich extensiven Gebrauch von politischen Prozessen, um die Widerstandsbewegungen des Landes zu zerschlagen und ihre Anführer*innen öffentlich als Terrorist*innen zu dämonisieren (Abel 1995; Lobban 1996). Während dieser Zeit war es auch alltäglich, dass Staatsanwält*innen Teile der südafrikanischen Prozessordnung ignorierten (West 1982: 469-470) und/oder illegale und grausame Untersuchungspraktiken der Polizei vertuschten oder noch schlimmer, diese benutzten um Prozesse zu gewinnen (Davis/le Roux 2009). Rechenschaftspflichtig gegenüber allen Südafrikaner*innen zu sein bekam erst wichtig und ein erstrebenswertes Gut für die Staatsanwaltschaft nach der demokratischen Wende 1994; und vor allem von 1998 an, als die erste zentralisierte nationale Staatsanwaltschaft des Landes etabliert wurde und unter Druck geriet sich zu legitimieren in den Augen derjenigen, welche bis vor kurzem keine Macht und kein Recht darauf hatten den Staat zur Rechenschaft zu ziehen (Schönteich 2001: 5, 30). Im neuen Südafrika sollte die Staatsanwaltschaft zu einer Institution werden, der alle Südafrikaner*innen trauen können. Die NPA setzte sich das Ziel lawyers of the people zu werden. Rechenschaftspflicht wurde in diesem Kontext vor allem in Bezug auf die institutionelle Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und auf Gewaltenteilung diskutiert, sowie auf eine ethnisch besser die Gesamtbevölkerung repräsentierende Belegschaft und im Hinblick auf die Professionalisierung der Staatsanwaltschaftsausbildung (Redpath 2012). Am Ende des Millenniums kam mit der Inkraftsetzung des Public Finance Management Act of 1999 (PMFA) die Leistungsmessung (Performance Measurement) als weitere Form der Rechenschaft hinzu. Es gab zu dieser Zeit eine generelle Wende in Südafrika von dem Fokus auf „policy development“ hinzu „efficient“, „effective“ und „friendly“ „service delivery“; und zu den Instrumenten und Hilfsmitteln, wie man eben diesen Service verbessern kann (Chipkin 2011). Eine gefühlte Zunahme an Kriminalität und deren umfangreiche Diskussion in den Medien haben vor allem die für Sicherheit und Justiz zuständigen Ministerien erheblich unter Druck gesetzt, ihre Leistung zu verbessern (Legett 2003; Ehlers 2008: 123).
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Die durch den PFMA um die Jahrtausendwende eingeführten Leistungsstatistiken, Indikatoren und Ziele waren ein weitverbreitetes Merkmal des Arbeitsalltags der meisten für diese Studie beobachteten und befragten Staatsanwält*innen3. Während der hunderten von Stunden ethnographischer Feldforschung in Gerichtssälen, -korridoren, Staatsanwaltschaftsbüros und Sitzungszimmern haben sie oft ihre Arbeit, täglichen Sorgen und Probleme in Bezug auf die wichtigsten NPA Indikatoren wie Fallabschlusszahlen, Verurteilungsraten, Gerichtsstunden, untereinander und mit mir diskutiert. Wenn Staatsanwält*innen zum Beispiel ihre Fälle während Tee- und Mittagspausen kommentierten, ging es nicht immer nur um den Inhalt, sondern auch darum, ob Fälle schnell bearbeitet werden konnten, daher „good for the stats“ wären und ihnen damit helfen würden ihr Monatsziel an abgeschlossenen Fällen zu erreichen. Oder wenn das Gericht nicht tagen konnte, zum Beispiel wenn Anwält*innen, Kommissar*innen oder Richter*innen nicht ausreichend vorbereitet waren mit einem Fall fortzufahren bzw. nicht anwesend waren, oder ihnen gar durch externe Faktoren wie Stromausfälle (die Aufnahmegeräte des Gerichts funktionieren dann nicht mehr) oder starken Platzregen (die Akustik des Gerichtssaal ist dadurch eingeschränkt und/oder weniger Zeugen kommen überhaupt zum Gericht) die Arbeit verhindert wurde — dann kommentieren Staatsanwält*innen diese Situationen oft mit Sätzen wie „there go my good stats out of the window“. Denn Unterbrechungen jeglicher Art bedeuteten oft, dass der/die Staatsanwält*in weniger Fälle an diesem Tag abschließen konnte und das Gericht weniger Stunden pro Tag tagte, was dann wiederum einen negativen Einfluss auf die monatliche Fallbeendigungsrate und auf die Gerichtsstunden hatte. Oder manches Mal beklagten sich Staatsanwält*innen mit Leitungsfunktion, als ich sie dabei beobachtete, wie sie
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Acht Staatsanwält*innen, die an vier verschiedenen Gerichten (magistrate courts) arbeiteten, wurden zwischen 2008 und 2013 in regelmäßigen Abständen von mir bei ihrer alltäglichen Arbeit begleitet. Regelmäßige informelle Konversationen sowie semistrukturierte Interviews wurden mit fünfzehn weiteren Staatsanwält*innen durchgeführt, die in den regionalen und nationalen head offices und in verschiedenen höheren Gerichten (regional und high courts) arbeiteten. Zwei ehemalige Staatsanwält*innen, die nun als Richter*innen arbeiten, wurden ebenfalls in regelmäßigen Abständen um ihre Meinung gefragt. Um die Identität der Forschungsteilnehmer*innen zu schützen, enthält der Text keine genauen Angaben zur geographischen Lage der Arbeitsstätten sowie geänderte Namen der Teilnehmer*innen.
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die von der Polizei neu erhaltenen Fälle durchschauten, „oh, no, they are chasing stats again [...] they are pushing up our withdrawal rate“. Denn die Polizei hatte Fälle an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, in denen der/die Verdächtige nur unzureichend mit der Tat in Verbindung gebracht werden konnte und Staatsanwält*innen sind instruiert nicht mit einer Strafverfolgung fortzufahren, wenn nicht genügend zulässige und belastbare Beweise vorhanden sind. Des Weiteren beinhalteten Beschreibungen der Staatsanwält*innen über „working hard“ oder „doing well“ oft eine Anspielung auf eine Reduktion oder Zunahme eines spezifischen Leistungsindikators, zum Beispiel zur Anzahl der ausstehenden nicht abgeschlossenen Fälle, auch backlog rate genannt. In vielen dieser Situationen haben meine Gesprächspartner*innen auch mit ihren handschriftlich ausgefüllten oder ausgedruckten Statistiken vor meinem Gesicht herumgewedelt. Statistiken spielten ebenso in monatlichen oder vierteljährlichen Management Besprechungen, in denen die Staatsanwält*innen die vor Gericht auftreten sich mit Staatsanwält*innen welche Kontroll- und Leitungsfunktionen innehaben treffen, eine zentrale Rolle. Diese Meetings begannen fast ausnahmslos damit, dass die zuständigen Staatsanwält*innen die monatlichen Leistungsstatistiken des jeweiligen Gerichts, dessen Performance gerade diskutiert wurde, laut vorgelesen haben. Auch Staatsanwält*innen die zum oberen Management der NPA gehörten und in den regionalen und im nationalen head office arbeiteten und Zugang zu aggregierten Leistungsinformationen hatten, verwendeten häufig die numerischen Repräsentationen, wenn sie über ihre Arbeit redeten. Sätze wie die folgenden drei Beispiele fielen vielfach während der informellen Gespräche und der Interviews die ich mit ihnen führte: „We are constantly working towards bringing down the numbers [of] outstanding court cases.“ „If the conviction rate is 30%, then there is something wrong, it may be an indicator that there is something wrong […] the conviction rate is really to tell us how we are doing.“ „It’s not business as usual. They [prosecutors] just actually want to have the leisure of just doing their job, but that’s not good enough for government. There must be service delivery and how do you get service delivery? It’s by having good indicators. They drive performance.“
Diese gerade erwähnten Beobachtungen und Äußerungen aus dem Berufsalltag der Staatsanwält*innen geben einen Eindruck, wie vertraut und versiert sie mit der Terminologie von Performance Measurement sind und wie selbstverständ-
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lich es für sie ist, ihre Arbeit mit diesen Kennzahlen zu beschreiben, zu rechtfertigen sowie rechenschaftspflichtig gehalten zu werden. Im nächsten Teil des Beitrags möchte ich näher erläutern welche Einstellungen und Gefühle die untersuchten Staatsanwält*innen ihrem Leistungsmessungssystem gegenüber haben. Wie bereits erwähnt war der tiefe Unmut und die Angst gegenüber quantitativen Formen der Rechenschaftspflicht, die Expert*innen und Fachkräfte nach Auskunft verschiedener Anthropolog*innen und Soziolog*innen (Merry 2011: S87; Espeland/Sauder 2016; 2009: 587; Sauder/Espeland 2007: 8; 24) in anderen Organisationskontexten beschreiben, nicht unter den südafrikanischen Staatsanwält*innen zu beobachten. Während der gesamten Forschungszeit traf ich lediglich auf einen Staatsanwalt, welcher den Nutzen und die Bedeutung der NPA Leistungsindikatoren in Frage stellte. Ich möchte aber trotzdem zu Beginn des nächsten Teils einen Ausschnitt aus dem Interview mit Michael van Niekerk in voller Länge zitieren. Denn sein Standpunkt zum NPA Performance Measurement System unterscheidet sich deutlich von anderen Staatsanwält*innen, wie ich in Kürze zeigen werde. Mit anderen Worten dient Michael van Niekerks Haltung gegenüber den NPA Leistungsindikatoren als Gegenbeispiel und als Ausnahme, was, wie ich vorschlage, die Komplexität des vorliegenden Themas nur bestätigt.
Michael van Niekerk, Anfang 50, hat über 30 Jahre in verschiedenen Positionen im südafrikanischen Strafrechtssystem gearbeitet: nämlich als Richter, als Staatsanwalt, als Staatsanwalt mit Leitungsfunktion und als Anwalt. Als ich ihn Ende 2008 im NPA Head Office in Pretoria kennenlernte arbeitet er gerade für das NPA Transformation Program Serurubele (Sesotho für „Schmetterling“). Obwohl er in dem dreistündigen Interview ausführlich darüber sprach, wie wichtig und nutzbringend es ist, Lean Management Prinzipien und Standard Operation Procedures (beides Managementkonzepte, die stark auf quantifiziertem Wissen aufbauen) für das Management der südafrikanischen Gerichte zu verwenden — etwas woran er gerade arbeitete — hat er auch Bedenken geäußert an etwas, was er als „quantification of justice“ bezeichnete. Er sagte: „The problem is we generate a lot of paper and we generate a lot of things on paper that we don’t use in practice. We can take all these things and put them in a basket and ask the […] chief prosecutor or the senior, who sit in the office, if they know what happens in
136 their court, ask them how many times they visit the court, how many times they have sat and listened to what the prosecutor […] does in court. Has he ever asked any of the witnesses if they were satisfied with the service, did they think that justice was done? […] on paper we measure a lot of things but we do not measure the service that we deliver as a personal experience. We want to justify justice as how many cases have we finalised and how many court hours we have sat, we justify or try to justify why we want to pressurise everybody in the system to deliver at the end of the month. And we don’t analyse the case, the outcome of the case and the charges brought against the accused to say: ‚Yes everything done in this whole chain of events has justified justice’. The tribal court doesn’t worry about the length of time it sits in the rural area. And how many witnesses it has, and how long it takes to make a decision, but if they make a decision it stands and everybody accepts it in that community. […] What we now do is that we want to say to the magistrates that they have to do 3–4 cases a day for this reason because the workload is such a lot and there are so many cases in the system, that if a magistrate tries to do his job and explain the rights of the accused, everything that he needs to do and that is required by the constitution it takes him about fifteen minutes just to do that, we want him to do it in two minutes. The measurements should be: ‚Has justice been done? Served to be done to the accused and to the victim and everyone?’ […] I feel that we want to quantify justice in hours and minutes and conviction rates. […] We go to parliament and tell them this is the amount of cases we have finalised and this is the conviction rate, […], but at the end of the day, is it not a question that we try and put a measurement on justice?“
Das Zitat aus dem Interview mit Micheal van Niekerk, zeigt klar seine kritische Einstellung gegenüber dem System der Leistungsmessung seiner Organisation. Für ihn sind die NPA Leistungsindikatoren aus verschiedenen Gründen ein unzureichendes Werkzeug, um die Qualität der Gerichtsarbeit adäquat zu überprüfen. Erstens, weil die tatsächliche Arbeit der Gerichte, wie er sagt, nicht wirklich in ihrer Komplexität mit ihnen gefasst werden kann. Sie geben den leitenden Staatsanwält*innen zum einen keine Auskunft über den Verlauf bestimmter Fälle und zum anderen und am wichtigsten für ihn, ob das eigentliche Ziel des Gerichts, nämlich für „justice“ zu sorgen, erreicht worden ist. Die Verurteilungsrate kritisiert er des Weiteren ebenfalls als zu vereinfachend, denn in ihr wird nicht mit einberechnet, ob der/die Angeklagte für das Verbrechen, für das er/sie angeklagt war, auch verurteilt wurde oder für weniger schwere Verbrechen. Es ist zum Beispiel schwieriger einen versuchten Mord oder ein Drogenhandelsdelikt zu beweisen als eine schwere Körperverletzung oder ein konsumnahes Dro-
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gendelikt. Er moniert außerdem, dass bei der Berechnung der Verurteilungsrate nicht darauf geachtet wird, ob die Verurteilung wieder aufgehoben wurde, falls es später zu einem Berufungsverfahren gekommen war. Zweitens kritisiert Niekerk, dass die NPA Leistungsmessungsindikatoren nicht erfassen, ob die vom Verfahren betroffenen Personen mit dem Prozess und seinem Ausgang sowie der Arbeit des/der zuständigen Staatsanwaltes/-anwältin zufrieden sind. Für ihn ist das eine wichtige Dimension von Justiz, welche ignoriert wird, wenn man die Arbeit der Staatsanwält*innen lediglich mit ein paar ausgewählten Leistungsindikatoren misst. Drittens beklagt er, dass Richter*innen und Staatsanwält*innen, die für jeden Fall nur eine begrenzte Anzahl an Stunden zur Verfügung haben, unter Druck stehen, schneller zu arbeiten. Nach Niekerk führt dies aber dann dazu, dass andere gerichtliche Qualitätskontrollmechanismen vernachlässigt werden (zum Beispiel das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren). Van Niekerk meint auch, dass der durch die Leistungsziele verursachte Zeitdruck die Legitimität und die Autorität der staatlichen Gerichte untergräbt. Denn seiner Ansicht nach halten sich Bürger*innen stärker an die Urteile von traditionellen Gerichten, die in seinen Augen frei von jeglichem Zeit- und Termindruck sind. Ich interviewte Michael van Niekerk zu Beginn meiner Feldforschung im Dezember 2008. Im weiteren Verlauf der Forschung war es interessant zu bemerken, dass seine Kritik am Performance Measurement System der NPA von anderen Staatsanwält*innen nicht nur in dieser Form nie wiederholt worden ist, sondern auch auf mein explizites Nachfragen hin oft nicht geteilt wurde. Obwohl sich wiederholt verschiedene Staatsanwält*innen beschwerten, dass ihre Vorgesetzten, die „people up there“, „don’t understand what is going on here on the ground“, und dabei ihre Hände in die Luft hoben und genervt zum Himmel blickten, waren diese Äußerungen nicht Ausdruck eines andauernd bestehenden Gefühls und vor allem nicht etwas, was sie speziell in Bezug auf die Vereinfachung und/oder Verzerrung, die mit der Benutzung von Leistungsindikatoren einhergehen, äußerten. An einem Gericht verwendeten verschiedene Staatsanwält*innen zum Beispiel diese Äußerung in Bezug auf die allgemeine Irritation, die sie gegenüber der neuen Vorgesetzten fühlten, die sie als arrogant, arbeitsscheu und zuweilen auch als inkompetent beschrieben. Michael van Niekerks Sorge, dass die Einführung von quantitativer Leistungskontrolle zur Vernachlässigung anderer qualitativer Qualitätskontrollmechanismen führe, war ebenfalls ein Gefühl, welches andere Staatsanwält*innen nicht teilten. Mehrere Staatsanwält*innen betonten interessanterweise, dass es sie nicht störe, dass die Qualität ihrer Arbeit von den Leistungsindikatoren nicht gemessen wird und weite Teile ihrer Arbeit somit nicht im Detail erfasst und
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bewertet werden würden. Charles Mafunda, ein erfahrener Staatsanwalt mit Kontrollfunktion um die vierzig, sagte zum Beispiel es sei „common sense“ für eine*n Staatsanwalt/-anwältin, seine Mandanten mit Respekt zu behandeln, mit Sorgfalt und Genauigkeit zu arbeiten und die notwendigen Gesetzte und Paragraphen zu kennen, wenn man vor Gericht auftritt. Für Mafunda waren dies grundsätzliche und selbstverständliche staatsanwaltliche Tätigkeiten, die man nicht genau für jeden darlegen müsste und welche daher nicht jeden Monat gemessen werden sollten. Dadurch würde man seiner Meinung nach eher die staatsanwaltliche Kompetenz schmälern bzw. sogar herabmindern. Denn ein*e Jurist*in zu sein, ein*e ausgebildete*r Staatsanwalt/-anwältin und ein*e Staatsdiener*in, beinhalte für ihn diese Qualitäten bereits, die dann zur „delivery of justice“ beitragen würden. Es seien auch Fähigkeiten, die das Management der Staatsanwaltschaftsbehörde bei ihren Mitarbeiter*innen voraussetzten. Patrica Nokwindla, eine Oberstaatsanwältin Mitte vierzig, betonte auch, dass Staatsanwält*innen officers of the court und somit den Regeln des Gerichts ausgesetzt und dem Gericht rechenschaftspflichtig seien. Für sie war es wie für Mafunda klar, dass dieser Kernbereich ihrer Arbeit nicht gemessen werden muss: „It would be too obvious.“ Verschiedene Staatsanwält*innen betonten, dass sich die Trennung von Qualität und Quantität in ihrem Arbeitsbereich nicht so klar in der Praxis durchführen ließe, so wie es Michael van Niewerk in dem Interview mit mir getan hat. Die meisten Staatsanwält*innen stimmten mit van Niekerk darin überein, dass Justiz und Gerechtigkeit Zeit bräuchten. Aber sie betonten auch, dass ihnen ihre Arbeit immer wieder zeige, dass die Menge an Zeit, die das Opfer und ihre/seine Zeug*innen warten müssen bis ihr Fall an die Reihe kommt und bis er beendet ist, direkt mit ihrer Zufriedenheit mit der Arbeit der Staatsanwaltschaft bzw. der Gerichte in Verbindung steht. Sie sagten außerdem, je mehr Zeit zwischen dem Beginn und der Beendigung eines Falls verstreiche, desto schwieriger werde es einen Fall abzuschließen. Denn umso länger sich ein Fall hinziehe, desto größer werde die Wahrscheinlichkeit, dass Komplikationen auftreten. Die Polizei müsse dann eventuell die/den Angeklagte*n aufspüren und festnehmen, weil er/sie geflüchtet ist oder das Opfer eingeschüchtert hat. Opfer und Zeug*innen vergäßen mit der Zeit wichtige Aspekte ihrer Zeugenaussage und verlören zum Teil jegliches Interesse an der Klage. Staatsanwält*innen müssten in diesen Fällen dann mehr Zeit darauf aufwenden, ihre Zeug*innen für den Prozess vorzubereiten, denn umso länger das strittige Ereignis in der Vergangenheit liegt, umso mehr Zeit benötigen das Opfer und andere Zeug*innen, sich wieder mit ihren schriftlichen Zeugenaussagen vertraut zu machen. Wenn die Bearbeitung solch eines Falls mehr Zeit benötigt, so wüchsen infolgedessen die Anzahl der noch nicht
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bearbeiteten und ausstehenden Fälle. Als Ergebnis verbringe ein*e Staatsanwalt/-anwältin dann weniger Zeit mit der Strafverfolgung und der Abschließung von Fällen, da sie/er mit der Vertagung von nicht vollständigen Fällen beschäftigt ist – beispielsweise mit der Polizeikorrespondenz und mit der Beschwichtigung von frustrierten und ärgerlichen Opfern und Zeuge*innen, die sich über die ineffizienten Gerichte und die endlosen Verzögerungen in ihrem Fall aufregen. Viele Staatsanwält*innen waren mit diesem Teufelskreis vertraut und beklagten sich darüber. Für sie diente er auch als Erklärung dafür, warum Qualität und Quantität ihrer Arbeit oftmals eng zusammenhingen. So sagte auch Thabo Hlope, ein ehemaliger Staatsanwalt Anfang vierzig, der nun als Richter an einem sehr ausgelasteten städtischen Gericht arbeitete und den ich in regelmäßigen Abständen in seinem Büro besuchte, dass die Beziehung zwischen staatsanwaltlichem und richterlichem Arbeitstempo, Qualität und Quantität nicht klar trennbar sei. Wenn ein Gericht weniger Fälle abschloss und mehr Zeit für jeden einzelnen Fall aufwendete, dann bedeutete dies seiner Meinung nach im Endergebnis nicht notwendigerweise „quality work“ oder mehr „justice“. Er betonte in seiner Erfahrung als Staatsanwalt und Richter, was charakteristisch für die Aussagen vieler anderer Staatsanwält*innen war, „You will find that one prosecutor will read a murder docket in one minute and know what is still outstanding […] and another prosecutor will take at least ten minutes and he is still not sure what is outstanding. […] One magistrate will come to the real issues within five or ten minutes. He has heard enough from the complainant to make a judgment on the facts in an assault case after three to five questions and takes thirty minutes to finalise the case. The other might take up to two hours for a case involving someone who was slapped with an open hand. Do you know why it will take two hours? The magistrate takes his eyes off the ball. The witness will come; the witness will talk about history. Five years history he had with the accused, why do you want to hear about that? Is it relevant to an incident that took place on 20 December 2008? That’s why this case would take two hours –– such a simple case like that? You see, there is a lot you can read into why a case takes too long. It might not necessarily be because that court was doing quality work.“
Thabo Hlopes Zitat illustriert gut, dass für ihn ein langsam arbeitendes Gericht nicht immer ein Anzeichen von überlegter juristischer Arbeit ist. Für ihn kann es auch ein Indikator für fehlendes juristisches Wissen und/oder Erfahrung und Kompetenz sowie Arbeitsscheue sein. Hlope machte während unserer gemeinsam verbrachten Kaffeepausen klar deutlich, dass Justizarbeit Zeit bräuchte und
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wenn ich ihm im Gerichtssaal in Aktion beobachtete, wirkte er nie wie jemand, der sich aus der Ruhe bringen ließe. In seinem Büro hingegen, bei eher zwanglosen Unterhaltungen, machte er sich auch hin und wieder über Kolleg*innen lustig, die seiner Ansicht nach die Justizarbeit allzu ernst nahmen und daher unangemessen viel Zeit für einfache Fälle aufwandten und dabei vergaßen, dass die Gerichte nicht mit unbegrenzten Ressourcen ausgestattet sind. Kein*e andere*r beobachtete*r und befragte*r Staatsanwanwält*in teilte van Niekerks Kritik, dass Leistungsindikatoren das Justizpersonal unter schädlichen Druck setzen würden. In von mir beobachteten monatlichen Mitarbeitergesprächen fragten die Vorgesetzten immer nach, falls die Statistiken nicht im Sollbereich lagen, d.h. zu niedrig oder zu hoch waren. Es lag während dieser Gespräche sicherlich immer eine gewisse Spannung in der Luft, doch es herrschte nie eine ängstliche oder panische Atmosphäre, denn die Leistungsstatistiken waren immer nur der Beginn eher allgemein gehaltener Diskussionen darüber, wie denn die Arbeit des Gerichtes im Moment vorankam, was gut lief und wo und aus welchen Gründen es Probleme gab. Des Weiteren gab es keinen klaren Bezug zwischen dem Nichterreichen des vereinbarten Zieles und einer offiziellen oder auch nur inoffiziellen Sanktion oder Strafe. Der folgende Kommentar von Noma Naidoo, einer Staatsanwältin Ende zwanzig, die für die NPA die letzten fünf Jahre gearbeitet hat, drückt gut aus, wie sich viele Staatsanwält*innen gegenüber ihren Leistungsindikatoren fühlten und was ich auch während Mitarbeitergesprächen und Teamsitzungen beobachten konnte. Sie sagte: „No one will lose his job if you have not made the target. I am not afraid of them. If you don’t make it, there will be questions and you have to give reasons, tell them what happened, you need to give reasons, then it is ok. If you continuously don’t make it, they will try to figure out why you didn’t make it and if it is you, you might receive training sessions to assist you with your work, but you won’t get fired for not reaching the target. And anyway, the targets are realistic targets. I am not afraid of them.”
Noma Naidoos kurze Äußerung ist charakteristisch für die versöhnliche und entspannte Gefühlshaltung von Staatsanwält*innen gegenüber dem NPA Leistungsmesssystem. Den Stress, die Angst und die Frustration, die quantitative Formen der Bewertung, Kontrolle und Rechenschaftspflicht Expert*innen in anderen Organisationskontexten verursachen, sind Erfahrungen, welche die juristischen Fachkräfte meiner Studie nicht teilten. Warum ist dies so? Im dritten und letzten Teil dieses Beitrages möchte ich verschiedene institutionelle, rechtliche und historische Hintergründe der südafrikanischen Staatsanwaltschaft beleuchten, die, wie ich vorschlage, in diesem Ar-
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beitskontext die Macht von Zahlen, nämlich zu maßregeln und zu strafen, erheblich einschränken. Der Fokus wird auf der Ressourcenverteilung liegen. Denn die Verteilung und Umverteilung von Ressourcen auf der Basis von ausgewählten Leistungsindikatoren ist einer der Hauptgründe warum Fachkräfte in anderen Organisationsfeldern Angst vor ihrem Leistungsmessungssystem hatten und es ihnen geradezu verhasst war. Solche negativen Gefühle traten vor allem dann auf, wenn die Akteur*innen fühlten, die Indikatoren seien willkürlich ausgewählt worden und repräsentieren nicht den Kern ihrer Arbeit, beeinflussen aber trotzdem essentielle Faktoren in diesem Arbeitsfeld, beispielsweise verfügbares Personal und Budget, Größe des Entscheidungsspielraums bei der Ressourcenverteilung und Ausgaben, Höhe der Gehälter und Jobsicherheit4. Im deutlichen Gegensatz konnte ich im Organisationsfeld der NPA keinen Zusammenhang zwischen dem Erreichen guter Statistiken, Ratings und Rankings und dem Erhalt finanzieller Begünstigungen und Vorteilen bzw. schlechten Zahlen und Sanktionen beobachten. Ich werde mich im nächsten Teil zuerst auf den institutionellen und rechtlichen Aufbau des staatsanwaltlichen Arbeitsumfeldes konzentrieren, der, wie ich argumentieren werde, den Wettbewerb um Ressourcen, Gelder, Fälle und Zeug*innen via numerischen Repräsentationen nicht vorsieht bzw., wie ich zeigen werde, nicht erlaubt. Daran anschließend werde ich einen kurzen Überblick über die Geschichte leistungsbezogener Gehälter in der NPA präsentieren. Ich werde zeigen, dass innerhalb des immer noch stattfindenden Professionalisierungsprozesses der Staatsanwaltschaft ein zwanzig Jahre alter Konflikt um mehr Anerkennung und höhere Basisgehälter für alle Staatsanwält*innen die Diskus-
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Siehe zum Beispiel Arbeiten von Espeland und Sauder (2016; 2009). Ihre empirische Studie zeigt, welche spürbaren und negativen Auswirkungen die von der Zeitschrift USN produzierten Law School Rankings auf die juristischen Fakultäten in den USA haben. Einer der gravierendsten Effekte war, dass der Rank der Law School deren finanziellen Ressourcen erheblich beeinflusste und auch wofür dieses Geld ausgegeben werden konnte. Dies hat den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Law Schools erheblich erhöht und auch den Druck für Universitätspersonal, ihre Arbeit nach den Leistungskriterien (welche Mitarbeiter*innen aber als völlig willkürlich und unsinnig für die Bewertung ihrer Arbeit empfanden) von USN auszurichten. Dieser Druck führte auch zu der Entwicklung von Manipulationsstrategien. Siehe auch Strathern (2000a) und Shore/Wright/Pero (2011: 3), die die Unsicherheit, den Stress und die Angst beschreiben, welche die British Government’s Research Assessment Exercise (RAE) bei den Forscher*innen verursachte, die auf der Basis von selektiven Leistungsindikatoren für nationale Forschungsgelder im Wettbewerb standen.
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sion über kompetitivere, leistungsbezogene Gehälter in den Hintergrund gedrängt hat. Es war wichtiger in diesem Kontext ein attraktives Arbeitsumfeld zu schaffen als einzelne besonders fleißige Mitarbeiter*innen auszuwählen und zu belohnen. Im folgenden Abschnitt werde ich wiederholt Bezug nehmen auf die Studie von Espeland und Sauder (2007; 2009; 2016) zu den Effekten und Konsequenzen von öffentlichen Law School Rankings auf die US-amerikanische juristische Hochschullandschaft. In diesem weit hergeholten Fallbeispiel verfluchen die Expert*innen die Quantifizierung ihrer Arbeit, leiden unter den negativen Konsequenzen, insbesondere der engen Koppelung von Rang und Ressourcen, und zweifeln die Legitimität dieser Art von Performance Measurement daher auch an. Der Vergleich zu diesem unterschiedlichen institutionellen, rechtlichen und historischen Rahmen erleichtert es aber, meiner Ansicht nach, Faktoren zu finden, die die abweichende emotionale Haltung der NPA Staatsanwält*innen gegenüber ihrem Performance Measurement verstehbar machen.
Es gibt mehrere Gründe, warum in Südafrika Leistungsindikatoren den Wettbewerb um knappe öffentliche Gelder zwischen verschiedenen staatlichen Gerichten nicht erhöht haben. Zuallererst muss gesagt werden, dass die von mir untersuchten Gerichte unter die Befugnis des südafrikanischen Justizministeriums fallen (Department of Justice and Constitutional Development, DOJCD). Die Gerichte sind an nationale Gesetze und Regulierungen gebunden und sind keine unabhängigen Institutionen, wie zum Beispiel US-amerikanische private und staatliche Universitäten mit ihren individuellen Missionen und Charakteristiken. Es gibt Universitäten, welche sich zum Ziel gesetzt haben, besonders benachteiligten und diskriminierten Gesellschaftsgruppen einen Zugang zum höheren Bildungswesen zu ermöglichen; oder andere, welche sich rühmen, die nationale Elite auszubilden, indem sie nur die besten und intelligentesten Student*innen aufnehmen. D.h. diese Institutionen haben nicht den Auftrag oder Anspruch, alle Klient*innen gleich zu behandeln. Das Recht auf ein faires und ordentliches Gerichtsverfahren (due process), sowie das Recht auf Gleichheit vor dem Recht (legal equality), beides zentrale Prinzipien der südafrikanischen Verfassung, stellen aber im Arbeitskontext der Staatsanwält*innen sicher, dass das Recht jeden gleich behandeln muss, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung oder
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Religion. Keiner darf diesbezüglich bevorzugt bzw. diskriminiert werden (dass dies in der Praxis nicht immer der Fall ist, ist für meine Argumentation an diesem Punkt nicht weiter von Belang). Das Ergebnis dieses rechtlichen Rahmens ist, dass alle Gerichte gleich arbeiten und mit den gleichen Ressourcen ausgestattet sein sollten. Die Einrichtung, Ausstattung und der Grundriss der Gerichtsgebäude unterscheiden sich sehr in Südafrika, doch dass manche Gerichte in prunkvollen viktorianischen Gebäuden untergebracht sind, andere in einfachen, windigen Backsteingebäuden oder manche gar in Containern, hat historische Gründe, die eng mit der Segregationspolitik der Kolonial- und Apartheidszeit zusammenhängen. Das Justizministerium ist seit 1994 damit beschäftigt, diese Disparitäten zu beseitigen. Nicht aber indem leistungsstarke Gerichte mit einem neuen Dach oder einer neuen Klimaanlage ausgestattet werden oder mit besser geschützten Polizeizellen und modernen Büros und leistungsschwache Gerichte jedoch auf diese Ausstattungsmerkmale warten müssen. D.h. also, das Justizministerium verteilt die für die Infrastruktur budgetierten Ressourcen bedarfsorientiert und nicht leistungsabhängig. Gerichte haben des Weiteren auch keine Selektionsmöglichkeiten bezüglich der Opfer, die zu Gericht kommen. In den Provinzen in denen meine Feldforschung stattfand gibt es auf bestimmte Delikte spezialisierte Gerichte (zum Beispiel „drug courts“, „community courts“, oder „sexual offence courts“), doch innerhalb dieser Kategorie von Fällen kann das Gerichtspersonal nicht entscheiden, dass es bevorzugt, nur mit besonders klugen oder besonders sozial benachteiligten Opfern zu arbeiten; oder eben mit solchen, die die Statistiken besser aussehen lassen, weil die Fälle einfach, klar und daher schnell zu bearbeiten sind. Zu den Selektionsmöglichkeiten von Staatsanwält*innen aber mehr in einem Moment. In der Praxis habe ich beobachtet, dass es Entscheidungen innerhalb eines Clusters gab, bestimmte Fälle gesondert zu behandeln –– zum Beispiel wurde die Anklage von Drogendelikten zurückgezogen (mit der Möglichkeit sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufzunehmen), weil die zuständigen Labore nicht mit der Analyse der von der Polizei eingereichten Drogenproben nachkamen. Man wollte die kostbare Gerichtszeit nicht mit der Vertagung von Fällen vergeuden, deren polizeiliche Ermittlung aufgrund des backlog der Labore nicht abgeschlossen werden konnte. Dies waren aber wieder Entscheidungen, welche alle Gerichte betrafen und welche auf Provinz oder nationaler Ebene getroffen wurden, und nicht von individuellen Gerichten. Drittens ist der Zuständigkeitsbereich eines Gerichtes (jurisdiction), also die enge Verbindung zwischen dem Ort an dem ein Verbrechen passiert und dem Ort an dem sich ein Gericht eines Falls annimmt, ein weiterer wichtiger rechtli-
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cher und institutioneller Faktor, der verhindert, dass sich Gerichte im aktiven Wettbewerb untereinander für gute Statistiken besser geeignete Fälle auswählen können. In dem Moment, in dem sich ein Opfer entschieden hat, seinen/ihren Fall zu einer staatlichen Instanz zu bringen, hat er/sie in den meisten Fällen keine Wahlmöglichkeiten: die Person ist verpflichtet zu der Polizeidienststelle zu gehen, in deren Revier und Zuständigkeitsgebiet das Verbrechen stattgefunden hat und/oder wo er/sie wohnhaft ist. Die Polizei bringt dann nach der Eröffnung und Untersuchung des Falls die Akten zu dem Gericht, dem die Dienststelle zugeordnet ist. Das Opfer bzw. die Polizei hat keine Wahl den Fall zu den effizientesten und am besten gerankten Gerichten des Landes zu senden. Zusätzlich ist nicht nur die Wahl des/der Kläger*in bezüglich des staatlichen Streitbeilegungsforums stark eingeschränkt, sondern auch die der Staatsanwält*innen. Ihnen ist es nicht erlaubt, sich besondere Fälle gezielt herauszusuchen, um ihre Performance zu verbessern, wie es zum Beispiel den Universitätsangestellten möglich ist, wenn sie bestimmte Student*innen, zum Beispiel mit einem hohen LSAT Score auswählen, um ihren selectivity score zu erhöhen.5 Es gibt immer wieder Anschuldigungen, Staatsanwält*innen würden „leichte Fälle“ auswählen, um höhere Verurteilungsraten zu erzielen (siehe zum Beispiel Artz/Smythe 2007a; 2007b). Doch wie man einen leicht zu gewinnenden oder schwer zu gewinnenden Fall identifiziert, ist weitaus weniger standardisiert und daher umstritten unter Staatsanwält*innen und ist nichts Eindeutiges, im Vergleich zu anderen Organisationsfeldern, wo die Tradition komplexe soziale Phänomene zu quantifizieren viel länger etabliert ist. Bis jetzt gibt es innerhalb der Staatsanwaltschaft in Südafrika keine Versuche die Komplexität von Fällen aufwendiger zu klassifizieren und zu quantifizieren. Derzeit wird nur zwischen Fällen unterschieden für welche die „lower courts“ zuständig sind und welche die „regional courts“ und „high courts“ bearbeiten.6 Im Vergleich dazu werden zum
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Der selectivity score ist ein Mittelwert, der sich aus den LSAT scores aller zum Jurastudium zugelassener Student*innen eines Jahrgangs einer Universität zusammensetzt.
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High Courts bearbeiten die komplexesten Fälle, die oft mit einer großen Menge an Beweisen und Zeug*innen einhergehen. Diese Gerichte können die längsten und härtesten Strafen gemäß des Criminal Procedure Act 51 of 1977 verhängen. Die Prozessdauer beträgt oft Wochen oder Monate. Im Vergleich dazu haben die Fälle, die in den lower courts bearbeitet werden, meist nur ein oder zwei Zeug*innen und es werden keine komplizierten forensischen oder ballistischen Beweise angehört; diese Fälle werden daher oftmals von den Justizmitarbeiter*innen auch als „petty„ bezeichnet und
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Beispiel die Erfolgsaussichten, das Talent und die Qualität von potentiellen Jurastudent*innen schon seit 1948 in den USA quantifiziert. Der sogenannte Law School Admission Test (LSAT) ist ein standardisierter Test und weit verbreitet im Aufnahmeverfahren der amerikanischen juristischen Fakultäten. Der LSAT kann auch im Kontext der langen weltweit verbreiteten Tradition, Schüler*innen Noten zu geben, ihre Leistungen auf Papier in Archiven zu dokumentieren und Schulabschlussnoten als zentrales Kriterium für den Hochschulzugang zu verwenden, gesehen werden. Ferner kann man das Ideal und die Praxis, Individuen anhand von objektivierten Kriterien zu bewerten, bis in diverse Bildungseinrichtungen der frühen Neuzeit zurückverfolgen (Vormbusch 2008: 92-93). Diese Art von aufwändigen Quantifizierungs- und Übersetzungsketten sind, wie bereits erwähnt, im staatsanwaltlichen Arbeitsumfeld in Südafrika oder auch in anderen Ländern, beispielsweise in den USA, weniger etabliert (siehe Espeland 1997: 1122-1131; Espeland/Vannebo 2007). Dies bedeutet zum einen, dass Staatsanwält*innen – selbst wenn es ihnen erlaubt wäre – nicht so klar und einfach die Gewinnbarkeit von Fällen identifizieren können. Zum anderen bedeutet diese nicht tief verankerte Tradition des Quantifizierens in diesem Arbeitsfeld noch etwas anderes: obwohl Staatsanwält*innen, wie ich anfangs beschrieben habe, ihre Statistiken, Ziele und Rankings immer irgendwo im Hinterkopf hatten und auch ihre Arbeit in Bezug auf diese Kennzahlen beschreiben und rechtfertigen, spielte zum Beispiel die Vorstellung eines Falls, der schlecht für die Statistik war (weil er lange Zeit bräuchte und/oder kompliziert war) oder der Begriff eines „top-platzierten“ Gerichtes keine grundlegende Rolle im Arbeitsleben und in der Arbeitssprache der Staatsanwält*innen sowie in ihrem Selbstverständnis. In einen richtigen Prozess involviert zu sein, in dem man seine juristischen (und nicht seine administrativen) Kenntnisse und Fähigkeiten zeigen und benutzen kann, war etwas, wie ich an anderer Stelle argumentierte, was die meisten beobachteten Staatsanwält*innen nicht scheuten, sondern als ihre Hauptfunktion ansahen – „as their mandate“ (Mugler 2015). Diese Begrifflichkeiten haben auch sicherlich zusätzlich keine wichtige Bedeutung gehabt, weil die NPA Statistiken, Indikatoren und Gerichtsrankings nur in aggregierter Form veröffentlicht. Die Wahrnehmung der Öffentlichkeit, wenn diese über Gerichte nachdenkt, ist also nicht durch die Idee eines weit oben platzierten Gerichtes beeinflusst, denn die Öffentlichkeit weiß gar nicht, welches Gericht das am besten platzierteste im ganzen Land ist. Die Zurückhaltung dieser numerischen Daten bedeutet wiederum, dass individuelle Staatsanwält*innen
die lower courts als „sausage factories„, da es so viele Fälle gibt und oft ein Fall dem anderen sehr gleicht.
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von der Öffentlichkeit nicht zur Rechenschaft gezogen oder unter Druck gesetzt werden können für den Rank ihres Gerichtes, da diese gar keinen Zugang zu diesem Wissen hat. Den letzten Punkt, der ebenso verhindert, dass die NPA Leistungsindikatoren den Wettbewerb zwischen Gerichten um öffentliche Gelder erhöhen, ist eng verbunden mit dem ersten Punkt. Gerichte unterstehen dem Justizministerium und dieses ist für die Erhaltung der Gerichtsgebäude verantwortlich. Für die Verwaltung der Verteilung der Staatsanwält*innen und deren Arbeitslast ist hingegen die NPA verantwortlich. Staatsanwält*innen und Fälle werden auch hier nach einem Bedarfs- und nicht nach einem Leistungsprinzip verteilt. Wenn Gerichte „gut“ arbeiteten, ihre backlog rate also gering war, dann wurden ihnen oftmals von anderen nahe gelegenen Gerichten (mit höheren backlog rates) Fälle zugewiesen. Durch die erhöhte Arbeitslast stieg die backlog rate und dann wurde wiederum ein sogenannter relief prosecutor vom regionalen NPA Management zugewiesen, um mit der erhöhten case load zu helfen. Im Feld war also klar zu beobachten, dass das Leistungsranking hier auch keinen direkten Wettbewerb zwischen den Gerichten um Personalstellen und Arbeitslast schafft. Meiner Ansicht nach sind der institutionelle Aufbau des Justizsystems, der rechtliche Rahmen in dem Staatsanwält*innen praktizieren, die fehlenden bzw. eingeschränkten Selektionsmöglichkeiten und die noch junge Quantifizierungstradition in diesem Feld alles Faktoren, die erklären können, warum in der Arbeitswelt der NPA Staatsanwält*innen der anderorts oft zu beobachtende Zusammenhang zwischen quantifizierter Leistungsinformation und Ressourcenverteilung bzw. Sanktion nicht gilt. Ich argumentiere, dass dies der Grund ist, warum die südafrikanischen Staatsanwält*innen eine eher positive Einstellung gegenüber ihrem Leistungsmessungssystem haben. Der Effekt, den diese Zahlen auf ihre Arbeitsumgebung haben, war viel weniger fühlbar und weniger schmerzhaft als in anderen professionellen Arbeitsumgebungen. Im letzten Teil dieses Beitrags untersuche ich, warum das Leistungsmessungssystem auch auf einer individuellen Ressourcenebene, also auf der Ebene der Gehälter der Staatsanwält*innen, zu keinem besonderen Druck und Stress innerhalb der NPA führte. Ich werde zeigen, dass die Pläne der NPA, mehr Wettbewerb unter den Staatsanwält*innen zu institutionalisieren und Gehälter neu anhand der Leistungsstatistiken zu verteilen, mehrfach scheiterten.
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Mehr Wettbewerb zwischen den Gerichten um „gute“ Fälle und bestimmte Zeug*innen oder freie Wahl für Opfer den/die „effizienteste*n“ Staatsanwalt/anwältin auszuwählen, waren bei der Einführung des NPA Leistungsmessungssystem nie als beabsichtigte Ziele erwähnt worden. Dass die quantitativen Leistungsinformationen zu einer kompetitiveren Arbeitsumgebung führen würden, wollte man allerdings mit der Einführung von Indikatoren, Zielen und Rankings erreichen (Schönteich 2001: 56). Die NPA, das Justizministerium und die Regierung hatten das Gefühl, dass das bestehende Bezahlungssystem mehr oder weniger jeden belohnt. Es würde nicht zwischen guter und schlechter Leistung bei der Auszahlung der Gehälter unterscheiden und wäre daher ungeeignet für die Motivierung von Mitarbeiter*innen besonders produktiv zu sein. Als 1998 zum ersten Mal umfangreiche Leistungsstatistiken in die NPA eingeführt wurden war daher auch von sogenannten „leistungsbasierten Gehältern“ und „leistungsbasierten Boni“ die Rede (ebd. 56). Doch zehn Jahre später, zu Beginn meiner Forschung, waren Gehälter, Boni, Job(un)sicherheit, Beförderungen, Herabstufungen und Sanktionen nicht eng mit den guten oder schlechten Leistungsstatistiken von Staatsanwält*innen verkoppelt. Was ist passiert? In diesem Teil des Kapitels werde ich einen Überblick über die Geschichte der leistungsbezogenen Bezahlung in der NPA geben und aufzeigen, warum dieses Ziel nie erreicht wurde. Martin Schönteich (ebd. 56) schreibt in seiner Analyse und Bewertung der Staatsanwaltschaft, welcher er für das Institute for Security Studies schrieb, vor 1998 „(t)here was no objective way of rewarding a job well done or dealing with those who failed to perform“. Vor 1998 haben Staatsanwält*innen automatisch Gehaltserhöhungen bekommen wenn sie für eine bestimmte Zeit für das Justizministerium gearbeitet hatten oder beträchtlichere Erhöhungen erhalten wenn sie die Karriereleiter innerhalb des Ministeriums erklommen hatten, beispielsweise wenn sie von einer Staatsanwaltschaftsstelle auf eine Richterstelle befördert wurden. Staatsanwaltliche Beförderungen waren größtenteils ebenso automatisiert, das bedeutet sie waren auch mit der Anzahl von Dienstjahren des/der Mitarbeiter*in verbunden (ebd. 81) und/oder mit rassistischer Vetternwirtschaft und Parteiklüngel zu Zeiten der Apartheid (Davis/le Roux 2009: 17-35). Wie Schönteich schreibt, waren vor 1998 kaum staatsanwaltliche statistische Informationen erhältlich, auf deren Basis das Justizministerium jemanden „objektiv“ befördern oder mit Gehaltserhöhungen oder Bonuszahlungen belohnen hätte können. Statistische Daten über die Staatsanwaltschaft wurden zwar gesammelt,
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aber nicht auf nationaler Ebene und nicht so umfassend wie nach 1998 (Fernandez 1993). Mit der Gründung der NPA im Jahre 1998 wurde zum ersten Mal eine court management unit eingerichtet, deren Aufgabe es war, ein performance mangement framework zu kreieren, um die Arbeit der Staatsanwält*innen zu kontrollieren, zu steuern und um deren Effizienz und Effektivität zu erhöhen (Schönteich 2001: 56). Diese unit benutzte dann die Statistiken, um die Arbeitslast besser innerhalb der NPA zu verteilen und die Staatsanwält*innen gleichmäßiger auszulasten, denn durch die neu gesammelten Statistiken wuchs das Bewusstsein innerhalb der NPA für ihre „operational difficulties“ (ebd. 75). Die Statistiken machten sichtbar, wo Staatsanwält*innen gebraucht wurden und wo nicht und wo kostbare Gerichtszeit verloren ging wegen ungeplanter Prozessunterbrechungen und -vertagungen. 1999 wurden diese neu gesammelten Statistiken zum ersten Mal auch für Leistungsvereinbarungen verwendet, in denen die den Staatsanwält*innen vom Direktor der Staatsanwaltschaft in Aussicht gestellten Gehaltserhöhungen und Leistungsboni von einem bestimmten Leistungsziel abhängig waren (ebd. 56). Diese Leistungsvereinbarung beinhaltete jedoch, dass alle Staatsanwält*innen gleichermaßen zu belohnen waren und war kein Instrument, das nur die besonders fleißig arbeitenden Mitarbeiter*innen für ihre Bemühungen mit zusätzlichen Zahlungen würdigte. Diese Vereinbarungen wurden zu einer Zeit abgeschlossen, die von kontinuierlichen, intensiven und unbefriedigenden Gehaltsverhandlungen zwischen Justizministerium und der Staatsanwaltschaft geprägt war. Die historisch niedrigen Gehälter von Staatsanwält*innen, die während der Apartheid wesentlich geringer als die von Richter*innen waren, hatten sich seit den 1980er Jahren zu einem andauernden Streitthema entwickelt. Nach Ende der Apartheid eskalierte dieser Streit aus zwei Gründen: zum einen vergrößerten sich die bereits existierenden Diskrepanzen zwischen den Gehältern der Richter*innen und der Staatsanwält*innen. Denn als die Richterschaft 1996 unabhängig vom Justizministerium wurde, schaffte sie es in diesem Zuge, erheblich höhere Gehälter zu verhandeln. Zweitens wuchs die Unzufriedenheit der Staatsanwält*innen über ihr Gehalt, als das Justizministerium aufgrund unzureichender Mittel aufhörte, die Überstunden der Staatsanwält*innen auszubezahlen. Diese zwei bis vier Stunden pro Tag waren in der Vergangenheit eine Art Ersatz für die niedrigen staatsanwaltlichen Basisgehälter gewesen (ebd. 84). Als Folge des niedrigeren monatlichen Gesamteinkommens und den mehrfachen nicht gehaltenen Versprechungen des Justizministeriums die Besoldung zu erhöhen, hatten Teile der Belegschaft zwischen 1996 und 1998 verschiedene „Dienst nach Vorschrift“ Kam-
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pagnen und Streiks initiiert. Diese Aktionen verlangsamte die Arbeit der Gerichte oder/und brachte sie zum Teil zum kompletten Stillstand. Im März 1999 kam es dann zu der bereits oben erwähnten ersten Leistungsvereinbarung. Der nationale Direktor der NPA (National Director of Public Prosecution NDPP) hatte den Staatsanwält*innen zusätzlich zu ihrer jährlichen die Inflation ausgleichenden Gehaltserhöhung eine dreiprozentige Gehaltserhöhung versprochen, die allerdings an die Erreichung bestimmter Leistungsziele geknüpft war. Die meisten Ziele wurden 1999 erreicht, doch den Staatsanwält*innen wurde ihre Erhöhung nicht wie vereinbart im September 1999 ausgezahlt. Einige Mitarbeiter*innen wurden im Dezember 1999 bezahlt. Die nichteingelöste Vereinbarung führte zu weiteren Spannungen und Protesten (ebd. 85). Die angespannte Situation verschärfte sich weiter, als im Oktober 2000 der NDPP jedem/jeder Staatsanwalt/-anwältin einen einmaligen Leistungsbonus in der Höhe von 1000 Rand versprach, welcher im Dezember 2000 ausbezahlt werden sollte. Nachdem es erneut zu Zahlungsverzögerungen kam, fand die Gewerkschaft der Staatsanwält*innen, nachdem sie das Justizministerium konsultiert hatte, zum einen heraus, dass das Ministerium diese Boni nicht budgetiert hatte und zum anderen, dass der NDPP nicht legitimiert war solch eine Extraausgabe zu autorisieren (ebd. 86). Trotz dieser eben skizzierten Schwierigkeiten gab es 2001 einen weiteren Versuch ein Beförderungs- und Bezahlungssystem in der NPA einzuführen, welche neben anderen Veränderungen auch einen Fokus auf leistungsbezogene Gehälter für individuelle Staatsanwält*innen hatte. Ziel war es, die bisherigen Gehaltsstrukturen der Staatsanwält*innen zu diversifizieren, um damit erfahrenen Staatsanwält*innen eine größere Zahl an verschiedenen Karrierewegen innerhalb der NPA anzubieten bzw. andere hochqualifizierte Jurist*innen für die NPA gewinnen zu können. Denn zu diesem Zeitpunkt verdienten Staatsanwält*innen, die schon seit Jahren für die Staatsanwaltschaft gearbeitet hatten fast genauso viel wie Berufsanfänger*innen. Dies führte zu Unzufriedenheit unter den erfahreneren Staatsanwält*innen und war einer der Gründe warum die Mitarbeiterfluktuation in der Organisation so hoch war. Diese erfahrenen Mitarbeiter*innen suchten sich vielfach zu dieser Zeit besser bezahlte Stellen in anderen Bereichen des Justizsystems oder im privaten Sektor.7 Das neue System sollte
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Mail&Guardian (28.01.2005): NPA haemorrhages key staff. Online abrufbar: http://mg.co.za/article/2005-01-28-npa-haemorrhages-key-staff; News24 (06.04.2005) Prosecutors courting pay row. Online abrufbar: http://www.news24.com/SouthAfrica /News/Prosecutors-courting-pay-row-20050406; IOL (04.05.2007): NPA faced with
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Qualifizierung des/der Mitarbeiter*in, Art der Arbeit und auch seine/ihre individuelle Leistung bei der Besoldung einbeziehen, aber auch die Erfahrung, das Dienstalter und die Dauer der Betriebszugehörigkeit des/der jeweiligen Staatsanwaltes/-anwältin anerkennen. Das neue System mit dem Namen OSD (Occupation specific dispensation for legally qualified professionals) war zu Beginn der Forschung im August 2008 noch nicht implementiert. Das Justizministerium hatte zwar eine Vereinbarung bezüglich der Besoldungsveränderungen unterzeichnet, es musste aber noch die Zustimmung für das Budget bekommen.8 Denn die neue Gehaltsverteilungsstruktur brachte auch Gehaltserhöhungen und damit höhere Kosten mit sich.9 Diese erhöhten Gehälter (rückdatiert bis zum 1. Juli 2007) erhielten die Staatsanwält*innen erst im Januar 2013 nach weiteren Streiks und einem Rechtsstreit.10 Während der Feldforschung war zu beobachten, dass das neue Bezahlungssystem immer wieder zur Sprache kam, aber die meisten Staatsanwält*innen während dieser Zeit keine Hoffnung hatten, leistungsbasierte Gehaltserhöhungen innerhalb ihrer Gehaltsstufen zu erlangen, sondern auf das alte Beförderungssystem bauten. Mit anderen Worten: sie versuchten eine höher eingestufte Stelle innerhalb der NPA oder eine Anstellung als Richter zu erhalten. Die Idee von leistungsbasierten Boni existierte zwischen 2009 und 2012 weiterhin. Sie war jedoch nicht mehr mit einem Leistungsbonus für alle NPA Mitarbeiter verbunden, wenn ein bestimmtes Ziel erreicht war, so wie es noch 1999 vorgesehen war. Individuelle Staatsanwält*innen erhielten extra Zahlungen für ihre „outstanding performance“. Wie aber eine „außerordentliche Leistung“ zu definieren sei, war vielen der interviewten Staatsanwält*innen nicht klar. Viele Staatsanwält*innen waren der Meinung, dass die Außerordentlichkeit der Leis-
crippling situation. Online abrufbar: http://www.iol.co.za/news/south-africa/npa-faced -with-crippling-situation-351495. 8
South African Government. Online abrufbar: http://www.info.gov.za/speeches/ 2007/07061811451001.htm; Government Gazette 33826 (02.12.2010): No 1146. Online abrufbar: http://www.justice.gov.za/legislation/notices/2010/20101202*gg33826 *n1146*npa-osd.pdf.
9
IOL (19.08.2008): Prosecutors stage „silent„ pay protest. Online abrufbar: http://www.iol.co.za/news/south-africa/prosecutors-stage-silent-pay-protest-1.412966 #.U-I9gRY8hd0.
10 IOL (14.06.2009): Date set for OSD to take effect. Online abrufbar: http:// www.iol.co.za/news/south-africa/date-set-for-osd-to-take-effect-446351; IOL (24.07. 2009): State prosecutors in peaceful pickets. Online abrufbar: http://www. iol.co.za/news/south-africa/state-prosecutors-in-peaceful-pickets-450872.
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tung nicht eng mit ihren individuellen Leistungsstatistiken gekoppelt war. Zum Beispiel lachte der bereits erwähnte Staatsanwalt Charles Mafunda nur als ich ihn Ende 2012 fragte, ob er einen Bonus erhalten würde, wenn er bestimmte Leistungsziele erreichen würde; er sagte: „No, you don’t get it. You have to rescue Haiti in order to get it. One does not get the bonus if one reaches the target or is doing well, you have to do some[thing] extraordinary, rescuing Haiti, some charity work, you donate money or other goods, then one has higher chances of getting the bonus of the cluster […] It’s unfair because you don’t really donate something or do something good when you receive a payment afterwards. And it’s unfair, only people who have money can afford to do charity, not everyone has the same opportunities […] anyway there are always golden boys and golden girls, they get the bonus.“
Daphne Thusini, eine leitende Staatsanwältin Anfang vierzig, welche im NPA Head Office in Pretoria arbeitete, kritisierte auch, dass NPA Leistungsboni auf der Basis von Kriterien ausbezahlt würden, zu welchen nicht jede*r Mitarbeiter*in gleichen Zugang hätte und zum Teil auch auf Basis von Freundschaften und um Gefallen zu bezahlen. Sie erklärte, die Boni würden zu einem bestimmten Grad nach Arbeitslast verteilt und es gäbe daher schon ein gewisses meritokratisches Element, das die Verteilung beeinflusste. Sie beklagte aber, dass „historically disadvanteged employees“ wie „black people“ und „women“ nicht dieselben Chancen hätten, diese NPA Stellen zu bekommen, die die Staatsanwält*innen dann qualifizieren würde, die Boni zu erhalten. Sie fand dies „demoralising and unfair“. Dass die von der NPA benutzen Verteilungsmodi potentiell die Arbeitsmoral der Belegschaft negativ beeinflussen könnte, war ebenso ein Punkt den Charles Mafunda erwähnte. Er war in unseren Gesprächen nie verärgert darüber, dass er persönlich noch nie den Bonus seines Bezirks erhalten hatte. Es gäbe, wie er sagte, nur ein paar Boni, und daher wären seine Chancen sehr gering. Über was er sich mehr Gedanken machte war die Tatsache, dass Individuen und nicht ganze staatsanwaltliche Teams einen Bonus erhielten. Er empfand diese Art von Belohnungsmechanismus potentiell kontraproduktiv für die Realität der Gerichtsarbeit. Seiner Meinung nach arbeiteten Staatsanwält*innen in einem Gericht als Team, da es in einem Gerichtsgebäude meistens verschiedene Gerichtssäle mit unterschiedlichen Aufgaben gäbe (drug court, domestic violence court, reception court) und es daher unsinnig sei, die Bemühungen von einem/einer Einzelnen besonders herauszuheben. Er machte sich Sorgen, dass das individuelle Bonisystem nicht gut für den „Teamspirit“ an einem Gericht wäre und sagte, kollektive Boni wären viel geeigneter für den staatsanwaltlichen Arbeitsmodus.
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Dieser kurze geschichtliche Abriss hat gezeigt, dass die zwei Versuche der NPA Teile ihrer Mitarbeiterkosten kompetitiver zu verteilen, nämlich an die kollektiven bzw. individuellen Leistungsstatistiken der Staatsanwält*innen gebunden, nie wirklich umgesetzt wurde. Wie ich gezeigt habe, gab es auf von Seiten der NPA zunächst den Vorstoß die Belegschaft kollektiv zu belohnen, wenn bestimmte Leistungsziele erreicht worden waren. Etwas später war das Ziel durch individuelle leistungsorientierte Bezahlung erfahrenen Staatsanwält*innen und/oder gut ausgebildeten Jurist*innen attraktivere Karriereoptionen innerhalb der NPA anbieten zu können. Zudem gab es generell den Wunsch ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in welchem besonders fleißige Mitarbeiter*innen belohnt werden, um damit dann auch underperformers einen Anreiz zu bieten mehr oder besser zu arbeiten. Doch in der Praxis traten wiederholt Probleme bei der Implementierung auf. Zum einen, weil es dem Justizministerium und der NPA nicht gelang, für diese Extrazahlungen und Gehaltserhöhungen zusätzliche Ressourcen zu mobilisieren. Zum anderen fand der Versuch der NPA ein kompetitiveres Arbeitsumfeld zu schaffen während einer Zeit statt, in der ein 15 Jahre alter Streit eskalierte, in dem Staatsanwält*innen für mehr Anerkennung und bessere Bezahlung kämpften. Diese jahrelangen Gehaltsverhandlungen waren durchzogen von mehreren nicht oder verspätet eingehaltenen Versprechungen und Abmachungen, Streiks und Rechtstreitigkeiten. Ich schlage vor, dass dieser größere Disput, bei dem die monetäre Verbesserung und Anerkennung von allen Staatsanwält*innen auf dem Spiel stand, die Diskussion um leistungsbasierte Gehälter in den Hintergrund geschoben hat. Ein attraktiveres Arbeitsumfeld für alle Mitarbeiter*innen zu schaffen war in diesem Kontext wichtiger als die fleißigen Staatsanwält*innen zu belohnen und die underperformers zu sanktionieren. Leistungsbasierte Boni existieren während der Feldforschungszeit weiterhin in der NPA; doch ich zeigte auch hier, dass die Staatsanwält*innen keine enge Beziehung zwischen ihren Leistungsstatistiken und ihrer Besoldung und/oder ihren Aufstiegsmöglichkeiten empfanden. Sie konkurrierten natürlich um besser bezahlte NPA Stellen, Aufstiegsmöglichkeiten oder zu einem gewissen Grade auch um die eher seltenen Bonizahlungen, doch dieser kollegiale Wettbewerb war, wie die oben erwähnten Beispiele illustriert haben, nicht eng mit den numerischen Repräsentationen verbunden, mit denen sie für ihre Arbeit Rechenschaft ablegten. Mein Punkt ist hier, dass diese lose Verbindung zwischen staatsanwaltlicher Besoldung und quantitativen Leitungsinformationen, neben dem institutionellen und rechtlichen Rahmen, ein wichtiger Faktor ist, warum Staatsanwält*innen keine Angst vor Zahlen hatten, sie die Autorität des Rechts bzw. ihren professionellen Ermessungsspielraum nicht bedroht sahen und sich daher auch nicht unter Druck gesetzt fühlten, Entscheidungen treffen zu müssen, wel-
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che gut für die Statistiken waren, aber nicht gut für das Recht. Einige fanden sogar, wie ich im zweiten Teil des Kapitels erläuterte, dass zwischen diesen beiden Dingen nicht immer ein Wiederspruch bestehe.
Dieser Beitrag hat anhand von ethnographischen Beispielen aus dem Arbeitsalltag südafrikanischer Staatsanwält*innen gezeigt, dass obwohl Zahlen Menschen mit einer universalisierten und standardisierten Sprache ausstatten, dies nicht bedeutet, dass die affektiv-emotionale Bewertung der Legitimität numerischer Repräsentationen überall gleich ist. Gerechtigkeitsgefühle spielen eigentlich nach den Befürworter*innen von Performance Measurement Systemen keine Rolle. In deren Logik sollen quantitative Bewertungssysteme zu objektiverem und rationalerem Wissen beitragen und somit jegliche Affekte und Emotionen im Entscheidungsprozess eliminieren. Verschiedene sozialwissenschaftliche Studien zeigen hingegen, dass Expert* innen quantitative Formen der Rechenschaftspflicht oftmals affektiv-emotional ablehnen. Sie warnen davor, dass die Vereinfachung und/oder Verzerrung, die mit der Benutzung von Performance Measurement Systemen und generell der Quantifizierung von komplexen Phänomen einhergehen, Expert*innen zu sehr unter Druck setzen und diese aus Angst vor schlechter performance anfangen diese zu manipulieren. Die Gefahr besteht dann, dass solche Zahlenspiele zu kontraproduktiven Ergebnissen führen. Dieser Beitrag hat hingegen gezeigt, dass das Leistungsmessungssystem in dem von mir untersuchten Feld keine Angst und keinen ungesunden Druck verursacht hat. Die NPA Staatsanwält*innen hatten die Sprache von Performance Measurement verinnerlicht, doch es wäre falsch, dies als ein Zeichen für deren Audit Mentality zu interpretieren oder als einen Indikator dafür, dass sie sich mehr darum sorgen, wie sie und ihre Organisation wahrgenommen werden als um ihre eigentliche Arbeit. Ein*e gute*r Staatsanwalt/-anwältin war in diesem Organisationsfeld nicht jemand der nur schnell arbeitet, sondern jemand der schnell und richtig — das bedeutet dem Recht folgend — arbeitet. Die professionelle Identität unter den Staatsanwält*innen war eng damit verbunden ein „officer of the court“ und ein „litigator“ zu sein und nicht ein bloßer „case administrator“. Staatsanwält*innen mit Leitungsfunktion unterstützen diese Art von Berufsethos und Vorstellung von Rechenschaftspflicht, denn schlechte Leistungsstatistiken waren mit keiner institutionellen Schande bzw. Sanktionen ver-
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knüpft. 11 In Kaffeepausen oder Management Meetings brüsteten sich NPA Mitarbeiter*innen nicht mit guten Leistungsstatistiken, sondern mit dem juristischen Wissen und der Strategie mit dem sie besonders schwierige oder/und interessante Fälle bearbeitet oder/und gewonnen hatten. Ich habe an anderer Stelle argumentiert (Mugler 2015), dass mit der Einführung von quantitativer Rechenschaftspflicht in die NPA auch ein Nachdenken über selbigen Prozess in dieser Organisation eingesetzt hat. Ich nenne dies die numerische Reflexivität der Staatsanwält*innen. Insbesondere Staatsanwält*innen mit Leitungsfunktion wissen genau, dass sie auf diese Zahlen angewiesen sind, um einen Einblick auf das Tagesgeschehen in den hunderten von Gerichten und Staatsanwaltsbüros, für welche sie zuständig sind, zu erhalten. Das numerische Wissen bietet ihnen Überblickswissen mit dem sie etwas sehen können, was ihnen sonst verborgen bliebe, aber sie sind sich ebenso bewusst, dass sie auf andere Formen von Wissen angewiesen sind, um numerisches Wissen adäquat zu interpretieren und für ihre Entscheidungen nutzbar zu machen. Denn wie sie sagen, kann die komplexe Arbeit der Staatsanwält*innen nicht so einfach auf ein paar Schlüsselindikatoren reduziert werden. Sie sind sich also durchaus der Beschränkungen und der Unzulänglichkeiten dieses Wissens genau bewusst und setzen daher auf andere Wissensformen und andere Formen der Rechenschaftspflicht um die NPA zu managen. Meiner Ansicht nach ist der Hinweis auf die numerische Reflexivität der Manager*innen wichtig, denn damit wird deutlich, dass die Dominanz von Zahlen auch davon abhängt wie viel Macht und Glauben mächtige Akteur*innen in einer Organisation numerischen Repräsentationen geben und schenken. Mit diesem Beitrag möchte ich aber betonen, dass die Bedeutung des numerischen Wissens und der numerischen Kompetenz von Entscheidungsträger*innen, sowie ihre affektiv-emotionale Bewertung von Leistungszahlen, außerdem in einen institutionellen und historischen Kontext eingeordnet werden muss. Es gibt durchaus Settings, in denen genau diese numerische Reflexivität nicht ausreicht, damit Expert*innen und Fachkräfte ihren Ermessungsspielraum und Berufsethos verteidigen können. Denn ihre Autorität, die zentralen Parameter mit denen ihre Arbeit bemessen werden, selbst zu definieren, schwindet trotz ihres kritischen numerischen Wissens. Ich schlage vor, dass Faktoren wie Gleichheitsversprechungen, institutioneller Aufbau und Wettbewerbs- bzw. Selektionsmöglichkeiten, Länge und Differenziertheit der Quantifizierungstradition, sowie Art der Koppe-
11 Siehe auch Scheideckers (2017) sehr interessanten Beitrag in diesem Band zur Sozialisation und von Emotionen.
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lung von Ressourcen und Leistungsinformation hilfreich sind, um nuancierter untersuchen zu können, ob in einem Arbeitsfeld numerische Repräsentationen negative Gefühle wie Angst, Unmut und Stress verursachen (und damit mehr Probleme schaffen als sie lösen sollten).
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M ARTHA -C ECILIA D IETRICH
„Recht oder Unrecht ist eine Frage von Macht. In Peru haben wir das Problem, dass die Mächtigen die Menschen, welche sie regieren, nicht kennen, oder mehr noch, nicht leiden können.“ Dieses Zitat stammt aus einem Gespräch mit Milagros Chavez Gonzales, einem ehemaligen Mitglied der Tupac Amaru Revolutionsbewegung (MRTA) im August 2012. Seit 1993 ist sie Insassin des Hochsicherheitsgefängnisses für Frauen in Chorillos (Lima). In Peru sind Milagros und ihre compañeros/compañeras bekannt als Terrorist*innen, sie selbst versteht sich jedoch als Freiheitskämpferin und politische Gefangene. Ende der 1970er und Anfang der 1980er formieren sich nach zwölf Jahren Militärregierung in Peru zwei Widerstandsbewegungen. Die eine wird bekannt als Kommunistische Partei Perus - Leuchtender Pfad (PCP-SL)1, dessen Ideologie, die sie das Pensamiento Gonzalo („das gonzalische Denken“) nennen, vom Maoismus inspiriert ist (Degregori 1990, 2010, Manrique 2002, Portocarrero 2012). Die andere Organisation trägt den Namen Tupac Amaru Revolutionsbewegung (MRTA) und folgt eher dem Modell lateinamerikanischer Guerillas2 (MRTA 1988). Beide militante Gruppen glauben nicht an die junge Demokratie und erklären sowohl dem peruanischen Staat als auch einander den Krieg3, der
1
Partido comunista del Perú - Sendero Luminoso.
2
Wie etwa Kuba, Nicaragua (FSLN), El Salvador (FMLN) oder Kolumbien (M19).
3
Der Leuchtende Pfad erklärt am 17. Mai 1980 den Beginn seines bewaffneten Widerstands. Die MRTA kündigen nach ihrem ersten Parteikomitee-Treffen 1984 bewaffnete Aktionen an.
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nach zwei Jahrzehnten (1980-2000), drei Regierungen4 und einer achtjährigen Diktatur5 ein offizielles Ende findet. Den Erzählungen der damaligen Widerstandskämpfer*innen über den bewaffneten Konflikt, die ich während meiner Feldforschungsaufenthalte6 aufzeichnete, liegt ein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit zugrunde, dessen Legitimation fest verankert ist in den Erfahrungen von Armut, Ungerechtigkeit und sozialer Gewalt im Peru der 1970er und 1980er Jahre. Dabei berufen sich meine Informant*innen auf moralische Wertvorstellungen von Recht und Unrecht. Wie zum Beispiel in der Frage gerechtfertigter Gewaltanwendung zeichnen ihre Begründungen ein Bild von (Un-)Gerechtigkeit, das nicht selten die institutionalisierte Gerechtigkeit und somit den peruanischen Rechtsstaat, zumindest den von damals, infrage stellt. Die Zirkulation und Verbreitung miteinander konkurrierender Gerechtigkeitsnarrative auf diversen (sozialen) Plattformen und Medien lässt darauf schließen, dass die Erinnerung an den bewaffneten Konflikt ein Teil der politischen Gegenwart des Landes ist. Dabei erscheint Erinnerung – worunter ich hier die öffentliche Artikulation subjektiver und/oder kollektiver Vergangenheiten verstehe – immer mehr als ein Recht verstanden zu werden, das nur bestimmten Akteur*innen vorbehalten ist. In meiner Forschungsarbeit, für die ich nicht ausschließlich mit damaligen Widerstandsgruppen, sondern auch mit Veteran*innen des peruanischen Militärs, Persönlichkeiten aus der Politik, Opfer- und Menschenrechtsorganisationen gearbeitet habe, ging es darum, unterschiedliche Praktiken der Erinnerung zu analysieren und einander gegenüberzustellen. Pepe Garrido, einer meiner Informanten und damaliger Militärchef der Region Ica, beschrieb Erinnerung als ein von Menschenrechtsaktivist*innen „entführtes“ Recht. In der Tat ist das Konzept des „Rechts auf Erinnerung“ ein von der Menschenrechtsbewegung geprägtes, das jedoch aus einer Zeit stammt, in der eine öffentlich artikulierte Erinnerung eine zivilgesellschaftliche Forderung war (Basombrio 2001). Menschenrechtsaktivist*innen berufen sich auf den Rechtsstaat, um eine Vergangenheit zu rekonstruieren, die Gerechtigkeit vor allem für die Opfer des Konflikts zulässt. Damit versprechen sich die Menschen-
4
Fernando Belaúnde Terry 1980-1985, Alan García Pérez 1985-1990, Alberto Fujimori Fujimori 1990-1992.
5
1992 inszeniert Alberto Fujimori einen Selbst-Coup und bleibt bis ins Jahr 2000 an der Macht. Am 21.11.2000 setzt der Kongress ihn wegen „moralischem Unvermögen” ab.
6
2011-2012 und 2016 im Rahmen meines Dissertationsprojekts „Discourses of violence or violent Discourses? An audio-visual ethnography into the experience of memory in post-conflict Peru” (University of Manchester 2015).
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rechtsaktivist*innen und Familienangehörigen der Opfer nicht nur eine Linderung des erfahrenen Schmerzes, sondern die Möglichkeit, auf eine nationale Aussöhnung (reconciliación nacional) auf gesellschaftlicher Ebene. In diesem Sinne schrieb der Präsident der Peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission in ihrem Endbericht: „Er [der Endbericht] ist ein Mandat der Abwesenden und Vergessenen an die gesamte Nation. Die hier erzählte Geschichte spricht von uns, was wir waren und was wir aufhören sollen zu sein. Diese Geschichte spricht von unseren Aufgaben und diese Geschichte beginnt heute.“ 7 (Lerner Febres in CVR 2003, Band 1:17) Im Gegensatz zu Argentinien (1976-1983) oder Chile (1973-1990), dessen autoritäre Regime zum überwiegenden Teil für die im Land verübte Gewalt verantwortlich gemacht wurden, gibt es im Fall von Peru keine ausschließliche Zuschreibung von Täterschaft(en). In Peru wurden die Widerstandsorganisationen und die damaligen Regierungen (v.a. die unter ihrem Kommando stehenden Streitkräfte) von der Wahrheits- und Versöhnungskommission fast gleichermaßen für die begangenen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht. Zudem nahm die Gewalt – vor allem seitens des Leuchtenden Pfads – Ausmaße an, die auf dem Kontinent ihresgleichen suchen. Deshalb verstehen Akademiker*innen bis heute die verübte Gewalt, die besonders die indigene Bevölkerung des Landes traf, als Partikularität bzw. „befremdendes Phänomen“ des peruanischen Konflikts (Starn 1995: 3). Die unterschiedlichen Narrative, die den Konflikt erzählen, haben jedoch eines gemeinsam: sie konstruieren Held*innen, Täter*innen und Opfer. Sie kreieren Schuld und Unschuld. In meiner Forschung ging es deshalb vor allem darum, wo und wie diese Geschichten erzählt werden (Dietrich 2015). Dabei spielen Kategorien von Opfern und Täter*innen eine zentrale Rolle, da sie die Basis der unterschiedlichen Narrative bilden, oft mit ähnlichen rhetorischen Strategien. Diese Geschichten tragen dazu bei, genderspezifische Nachkriegsidentitäten zu schaffen, die in der medialen Öffentlichkeit, im Gerichtssaal, aber auch im Alltag der Betroffenen von großer Bedeutung sind. Was ich in folgendem Beitrag aufzeigen möchte, ist das Spannungsfeld zwischen den im aktuellen Diskurs konstruierten Identitäten und den soziopolitischen Realitäten der sogenannten Täter*innen und Familienangehörigen von Verschwundenen. Ich werde anhand konkreter Beispiele zunächst die Polemik um das Erinnern beschreiben. Danach widme ich mich der Frage, inwiefern sich die aktuelle Polemik auf die Gefühls- und Erfahrungswelten meiner Informant*innen auswirkt und dabei neue Räume des Schweigens eröffnet, die vor allem die gesellschaftliche Aufarbeitung von Krieg und Gewalt behindern.
7
Von der Autorin aus dem Spanischen übersetzt.
162
Dieser Band motivierte mich zu einer Auseinandersetzung mit subjektiven Empfindungen von Gerechtigkeit. Als ich zum ersten Mal von der hier vorgeschlagenen Definition und Analyse von Gerechtigkeitsgefühlen hörte, dachte ich zunächst an die höchst emotionalisierte Zurschaustellung widerfahrener Ungerechtigkeit seitens der Familienangehörigen der Opfer, welche sich mittels regelmäßiger Demonstrationen, symbolischer Aktionen im öffentlichen Raum oder Konfrontationen innerhalb der politischen Arena seit nun mehr als drei Jahrzehnten Gehör verschaffen. Zum Beispiel gelobte das junge Kongressmitglied der Linkspartei Frente Amplio, Indira Huilca, bei ihrer Vereidigung im Juli 2016: „[...] Für die Erinnerung an Pedro Huilca [ihren ermordeten Vater], an die ermordeten Studenten von La Cantuta und die Opfer der Diktatur Fujimoris, die immer noch nach Gerechtigkeit suchen.”8 Diesen Eid schwor sie dem Vorsitzenden Kenji Fujimori, Sohn des damaligen Präsidenten, der heute wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gefängnis sitzt. Zwei Monate später wird die Abgeordnete Tania Pariona bei einer Rede zum Gedenken an die Opfer des Terrorismus mit Schreien und Pfiffen zum Schweigen gebracht, während sie sich öffentlich gegen einen „Terrorismus des Staates“ ausspricht.9 Als sie es nicht schafft, wieder zu Wort zu kommen, verlässt sie unter Tränen das Rednerpult. Fälle wie diese veranschaulichen die tiefe Spaltung im Land. Die Debatten um Erinnerung beschreibend, spricht Rocio Silva-Santiesteban (2009: 18, 19) von einem autoritären Diskurs, der mittels symbolischer Beschmutzung („basurización simbólica“) andere Perspektiven systematisch zu delegitimieren versucht. Natürlich ist diese Situation in Peru kein Sonderfall. In vielen Kontexten weltweit ist die Geschichtsschreibung mit politischen Interessen, lokalen Nationalismen und Machterhalt verbunden. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist es von Bedeutung zu verstehen, inwiefern solche Diskurse über Gewalt ihrerseits diskursive Gewalt generieren und inwiefern sich dadurch der aktuelle Erinnerungsdiskurs, anstatt sich den subjektiven Erfahrungs- und Gefühlswelten der Betroffenen anzunähern, immer weiter von ihnen entfernt.
8
RPP noticias am 22.07.2016 (siehe Online Referenz).
9
RPP noticias am 12.09.2016 (siehe Online Referenz).
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Die aktuelle Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Perspektiven ist bereits daran zu erkennen, dass neben der Bezeichnung „conflicto armado interno“ (interner bewaffneter Konflikt) auch noch Begriffe wie Revolution, Bürgerkrieg oder Terrorismus im Umlauf sind. Jeder dieser Begriffe lässt eine spezifische politische Tendenz erahnen. Die Bezeichnung „krimineller Terrorismus“ wird beispielsweise gerne von den rechten Parteien im Land gebraucht, die sich von einem alarmierenden Sicherheitsdiskurs nicht nur Popularität sondern auch eine Kriminalisierung der Widerstandsgruppen versprechen. Auch linksorientierte Parteien berufen sich auf die Bezeichnung „Terrorismus“, jedoch ohne Adjektiv. Dadurch möchten sie sich und ihre Politik klar von den Widerstandsgruppen distanzieren. Im akademischen Bereich spricht man wiederum von „Bürgerkrieg“, da die Meinung vorherrscht, dass zumindest zu Beginn des bewaffneten Konflikts ein großer Teil der Bevölkerung vor allem in den ärmsten Gegenden des Landes die Widerstandsgruppen unterstützte. Die Sympathisant*innen des Leuchtenden Pfads hingegen sprechen vom Konflikt als „guerra popular“, was sich als Volkskrieg übersetzen lässt. Damit beziehen sie sich vor allem auf einen Krieg der Klassen. Zur Frage der Bezeichnung gesellt sich die Festlegung des offiziellen Beginns und Endes des Konflikts. Wer oder was hat den Konflikt entzündet und wer oder was konnte ihn beenden, sind die Fragen, deren Antworten Schuld und Unschuld definieren. In diesem Sinne sind Geschichten, die den Kontext von Geschichtsschreibung erläutern, womöglich aufschlussreichere Quellen als die Geschichten selbst, da sie die unterschiedlichen Wahrnehmungen und bestehenden Machtverhältnisse greifbar machen können (Carr 1991). Ich möchte mich im folgenden Teil des Beitrags auf solch eine „Meta-Geschichte“ konzentrieren, um die Notwendigkeit eines historischen Überblicks mit der Darstellung aktueller politischer Dynamiken, die sich über die Geschichtsschreibung artikulieren, zu verbinden. Der Endbericht der Peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission von 2003 wird bis heute wohl als die „offiziellste“ Geschichtsdarstellung wahrgenommen und dient als historische Grundlage für Schulbücher, Museen, wissenschaftliche Forschung und Kunst. Dies ist ein Affront für jene, welche die im Endbericht vertretenen Auffassungen nicht teilen. Akademiker*innen nannten dieses Spannungsfeld bereits kurz nach Ende des Konflikts „Batallas por la memoria“ (Kämpfe um die Erinnerung) (Hamann et al. 2003). In dem Versuch, eine Geschichte zu konstruieren, setzt der Endbericht beim sozio-politischen Kon-
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text an, der unter anderem die Entstehung der Widerstandsbewegungen und deren Entwicklung hin zu radikalen Organisationen beschreibt (CVR 2003, Band I & II). Die instabile politische Lage des Landes und die prekären soziopolitischen Umstände der 1970er Jahre sowie der andauernde Zentralismus und die Aussichtslosigkeit einer gesamten Generation werden im Bericht als die Grundsteine der politisch motivierten Gewalt verstanden. Der Leuchtende Pfad führt seinerseits eine offensive Propagandakampagne, die zum militanten Widerstand aufruft. Mitglieder der Organisation attackieren die städtische und ländliche Infrastruktur und führen mittels geplanter Aktionen reihenweise Anschläge, gezielte Ermordungen und sogenannte „korrektive Hinrichtungen“ durch (ebd. Band I: 127-130). Die Subversion der MRTA äußert sich in militärischer Hinsicht anders. Die MRTA widmet sich neben politischer Propaganda dem Aufbau einer Armee, dessen Versuch, Städte bzw. Teile des Landes einzunehmen jedoch in zwölf Jahren politischer und militärischer Aktivität scheitert. Sie finanzieren sich unter anderem durch Lösegelderpressungen (ebd. Band II: 429-439). In manchen, wenn auch seltenen Fällen werden gezielt Personen, wie beispielsweise der General und Politiker Enrique López Albújar von den Vernichtungskommandos der MRTA ermordet (ebd.: 336). Im Gegensatz zum Leuchtenden Pfad zielt die MRTA jedoch viel weniger auf die Zivilbevölkerung ab, was sich in der geringeren Anzahl an Menschrechtsverletzungen widerspiegelt, für die laut Wahrheits- und Versöhnungskommission die MRTA verantwortlich ist.10 Der Endbericht widmet große Teile seiner Recherche den drei Präsidenten Fernando Belaúnde 1980-1985, Alan García 1985-1990 und Alberto Fujimori Fujimori 1990-2000, die sich der Aufgabe der sogenannten Terrorismusbekämpfung stellten. Belaúnde, García und Fujimori antworten auf die Subversion mit der Entsendung des Militärs, welches den Auftrag hat, die Aufständischen auf dem Land und in den Städten zu bekämpfen. Eine mangelhafte Geheimdienstarbeit und unqualifizierte Streitkräfte, welche durch Unkenntnis des andinen Hochlands ineffizient vorgehen und fatale strategische Fehler machen, behindern eine nachhaltige Bekämpfung des bewaffneten Widerstands (Uceda 2004). Hinzu kommt die Schwierigkeit, subversive Elemente innerhalb der Bevölkerung zu identifizieren, da sich vor allem Mitglieder des Leuchtenden Pfads ohne Uniform bzw. Kennzeichnung bewegen, was wiederum zu unverhältnismäßig hohen Opferzahlen führt (Degregori 1993, CVR 2003). Auch das übergriffige Auftreten der Soldat*innen gegenüber einer mehrheitlich indigenen Bevölkerung belastet
10 Laut Abschlussbericht der Peruanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission von 2003, ist die MRTA für rund 1,8% der Menschenrechtsverletzungen die während des bewaffneten Konflikts verübt wurden verantwortlich (CVR 2003, Band II: 430).
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und macht sowohl die Präsenz des Militärs, als auch die der Widerstandskämpfer*innen zu einer unerträglichen Herausforderung für die lokale Bevölkerung. Zu Militär, paramilitärischen Gruppierungen und Widerstandskämpfer*innen kommen noch lokale Selbstverteidigungsgruppen, welche mit der Unterstützung des Militärs selbst zu den Waffen greifen und dadurch ebenfalls zu Aggressoren werden (Degregori 2015: 193). Unter dem Vorwand, Peru brauche nun eine „eiserne Hand“ um den politischen Unruhen im Land ein Ende zu setzen, stürzt Alberto Fujimori 1992 seine eigene Regierung und befiehlt die reihenweise Schließung demokratischer Institutionen (CVR 2003, Band III: 59-159). Die autoritäre Ausweitung seiner präsidentiellen Vollmachten nach dem „Selbstputsch“ wird im Endbericht jedoch nur vorsichtig als Diktatur bezeichnet, im spezifischen Kapitel genau genommen nur einmal (ebd.: 95). Was jedoch im Detail beschrieben steht, ist, wie in acht Jahren politischen Autoritarismus tausende Widerstandskämpfer*innen, Studierende, politische Oppositionelle und gänzlich Unbeteiligte ermordet werden oder verschwinden (Degregori 2000, Burt 2006, 2007). In einem Zeitraum von zwanzig Jahren sterben laut Endbericht insgesamt 69.280 Menschen (CVR 2003, Band I: 53), zehntausende flüchten vom Inneren des Landes nach Lima und in andere Städte an der Küste (CVR 2004: 276-279). Laut der peruanischen Nicht-Regierungs-Organisation forensischer Anthropolog*innen gelten ungefähr 15.000 Menschen immer noch als vermisst (EPAF 2008). Die Wahrheits- und Versöhnungskommission sieht die Verantwortung sowohl bei den Widerstandsgruppen, insbesondere dem Leuchtenden Pfad, als auch beim Militär, der Polizei, bei paramilitärischen Gruppierungen (Sinchis), zivilen Selbstverteidigungsgruppen und den verantwortlichen Politiker*innen, die laut Endbericht in vielen Fällen nachweislich die Aufträge gaben, verfassungswidrig zu handeln. Der Menschenrechtsdiskurs, der vor allem durch Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), Opferorganisationen und der lokalen Menschenrechtsbewegung verkörpert wird, versteht Erinnerung als zivilen Auftrag, der durch aktives Reflektieren eine Wiederholung der Gewalt verhindern soll. Mithin steht dem Konzept des Erinnerns das Vergessen gegenüber. Vergessen verkörpert hier unterschiedliche Formen des Schweigens. Stille, Vergessenheit und Leugnung werden als Gegensätze zu Erinnerung verstanden, denn sie machen eine Zukunft mit Gerechtigkeit unmöglich. Doch jenseits der politischen Aufgabe der Erinnerung, der sich vor allem die jüngere Generation verpflichtet fühlt, gibt es andere Narrative. Neben der sogenannten „human rights memory“ (Milton 2015: 4), welche sich mit dem Endbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission stark identifiziert, gibt es ein weiteres prominentes Geschichtsnarrativ, das von Milton (ebd.: 4) als „salvation memory“ (Befreiungserinnerung) bezeichnet
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wird. Milton beschreibt diese anhand von Institutionen und Individuen, welche die sogenannten „Exzesse“ der damaligen Streitkräfte, Polizei oder paramilitärischen Gruppierungen in ihrer Aufgabe, den Staat zu beschützen, gerechtfertigt sehen. Als Antwort auf die Wahrheits- und Versöhnungskommission haben Vertreter*innen der peruanischen Armee ihre eigene Kommission gegründet, die 2009 ihren Bericht veröffentlichte. Im Vorwort des Berichts der Permanenten Kommission für Geschichte der Peruanischen Armee11 steht geschrieben: „[...] dieses Buch nennt sich ‚Zu Ehren der Wahrheit’ denn die Wahrheit ist das Resultat dieser Recherche. Es erzählt von der Realität innerhalb unserer Armee und deren Mitglieder, die sich der Aufgabe stellten, sowohl Ordnung zu schaffen als auch den Frieden zu erobern. Ein ungenauer Beobachter könnte meinen, es handle sich hierbei um einen Band, der versucht die Institution zu beschönigen und die Geschichte im eigenen Interesse zu schminken. Aber das ist eine weit entfernte These derer, die das Peruanische Heer nicht kennen und daher auch nicht verstehen können, welche Werte in den Venen unserer Mitglieder und Organisation fließen.“ (Ejercito del Perú 2010: 6)12
Das Buch spricht von den peruanischen Streitkräften (Armee, Marineinfanterie, Luftwaffe und Polizei) als unumstrittene Retter der Nation, der Demokratie und eines katholischen Wertesystems und fordert dessen Anerkennung (ebd.: 334). Sie sollten als die wahren Patriot*innen dieses Landes gelten, aber „stattdessen werden sie vor Kommissionen und Gerichte gezerrt und gezwungen, Lügen zu erzählen“, so der ehemalige Militärchef Pepe Garrido. In diesem Sinne versteht auch die sogenannte „Befreiungserinnerung“ Erinnerung als Auftrag, Gerechtigkeit herzustellen, nämlich um jenen Anerkennung zu zollen, die für die „richtigen“ Ziele kämpften. Weniger präsent in der Öffentlichkeit ist dagegen das Narrativ der Widerstandsgruppen. In unseren Gesprächen bezeichneten die ehemaligen Widerstandskämpfer*innen des Leuchtenden Pfads die Wahrheits- und Versöhnungskommission nicht selten als Lügenkommission. Damals, zwischen 2001 und 2002, als Vertreter*innen der Kommission in die Gefängnisse gingen, um sie zu interviewen, waren die Inhaftierten grundsätzlich gesprächsbereit. Es gab jedoch gewisse Dinge, über die sie sich weigerten zu sprechen, unter anderem aus Misstrauen und aus Angst, es könnte gegen sie als Individuen oder als Kollektiv verwendet werden. Daher beginnen ihre Geschichten im Gefängnis mit den physischen und psychologischen Misshandlungen, der Folter und der Unmenschlichkeit in den Vollzugsanstalten. Sie fühlen sich im Endbericht gezielt
11 Comisión permanente de Historia del Ejercito del Perú. 12 Von der Autorin aus dem Spanischen übersetzt.
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unter- und fehlrepräsentiert. Ihr Fazit heute: das Blutvergießen sei eine Realität des Kriegs. Aus diesem Grund seien die eigenhändig begangenen, aber auch die selbst erfahrenen Gewalttaten furchtbar, aber man müsse diese als Tatsachen akzeptieren und in die Zukunft blicken. Der Krieg sei nun vorbei und für die Akteur*innen auf allen Seiten plädieren sie – über die 2009 gegründete Organisation Movadef, die als politischer Arm des Leuchtenden Pfads gilt – für eine Generalamnestie13. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen von Recht und Gerechtigkeit führen nicht selten zu öffentlichen Kampfansagen. Orte der Erinnerung werden zu Plattformen der Auseinandersetzung. Etwa beschreibt der Historiker Paolo Drinot (2007) die bestehenden Gräben zwischen den einander gegenüberstehenden Geschichtsauslegungen am Beispiel des umstrittenen Denkmals „El ojo que llora“ (Das weinende Auge). Das nahe der Innenstadt Limas gelegene Denkmal wurde 2005 von privaten Sponsoren in Auftrag gegeben um der Opfer des bewaffneten Konflikts zu gedenken. Im Zentrum steht ein enormer Stein, der die Mutter Erde symbolisiert. In ihm ist ein kleinerer Stein in Form eines Auges eingemeißelt. Aus dem Auge tritt Wasser, das den größeren Stein wie mit Tränen befeuchtet. Rund um die Skulptur sind in größer werdenden Kreisen 32.200 kleinere Steine angelegt, auf denen die Namen von Opfern eingraviert sind. Die Zahl und die Namen wurden dem damals noch frischen Endbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission, sowie den damaligen Berechnungen des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte (IGH) entnommen, und sah bewusst vor, Soldat*innen und Mitglieder der Widerstandsgruppen aus der Liste auszuschließen. Eine Woche nach der Eröffnung wurde das Denkmal von Fujimoris Unterstützer*innen beschädigt und teilweise zerstört. Damit artikulierten die Gegner*innen des Denkmals ihre Unzufriedenheit mit der Liste der Opfer, die ihrer Meinung nach Namen von Terrorist*innen beinhaltete, hingegen Soldat*innen nicht inkludierte (Drinot 2007: 53). Das Denkmal hat seither an symbolischer Bedeutung gewonnen, da es einerseits von Gegner*innen immer wieder mutwillig beschädigt wird und andererseits als Versammlungsort und Ausgangspunkt für wichtige Demonstrationen der Menschenrechtsbewegung gilt. Drinot versteht die unterschiedlichen geschichtlichen Darstellungen nicht nur als Variationen, sondern beschreibt sie als Ontologien der Gewalt (ebd.: 53). Er argumentiert, dass die Geschichten der Gewalt sich über spezifische Selbst- und Fremdverständnisse konstruieren, die nicht nur machtpolitische, sondern – und vor allem – existentielle Fragen zu beantworten suchen. Dies spaltet die unter-
13 MOVADEF 16.09.2016 (siehe Online Referenz)
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schiedlichen „Lager“ unweigerlich (ebd.: 67). Sich für eine der Seiten auszusprechen reproduziert den „pro- und contra“-Diskurs lediglich. Es ist jedoch nicht weniger problematisch die unterschiedlichen „Wahrheiten“ durch das Argument der Subjektivität unhinterfragt zu lassen. Hier, so meine ich, handelt es sich um Überzeugungen, die sich sowohl in interessenspolitischen, als auch in existentiellen Fragen begründen. Können jedoch unterschiedliche Lebenserfahrungen die Antworten auf existentielle Fragen so konfigurieren, dass man von unterschiedlichen Ontologien sprechen kann oder sind sich die unterschiedlichen Seiten in ihrem Selbst- und Fremdverständnis doch näher als gedacht? Wenn man sich beispielsweise der Frage widmet, ob und wann Waffengewalt gerechtfertigt sei, halten sowohl die Widerstandskämpfer*innen, als auch Vertreter*innen des Militärs an der Begründung fest, Waffengewalt sei in Ausnahmesituationen gerechtfertigt - mit ähnlichen Argumenten. Der Einsatz von Waffen sei legitim, sei es, um den Status Quo im Land zu schützen oder zum Schutz des Landes zu verändern. Dabei basiert das Fundament des gerechtfertigten Gebrauchs von Gewalt auf dem Besitz der Wahrheit. Dieser Wahrheit liegt ein moralisch geprägter Sinn von Gerechtigkeit zugrunde, dessen Forderungen, Rechte und Verpflichtungen in Geschichten Ausdruck finden. Fernando Coronil und Julie Skurski sprechen etwa davon, dass politisch motivierte Gewalt innerhalb kultureller Praktiken und Formen lokalisiert werden, deren Bedeutung nur durch das Verständnis historischer Erinnerung und sozialer Beziehungen der Gesellschaft entschlüsselt werden kann (Coronil/Skurski 1991). Während aber die Autoren Coronil und Skurski mit ihrer Analyse lediglich von staatlicher Gewalt und Machterhalt sprechen, würde ich anhand des peruanischen Kontexts die Widerstandsbewegungen in die Argumentation miteinschließen, da sie den Gebrauch von Waffengewalt ebenfalls in eigenen Geschichten situieren, die einerseits ein kollektives Gedächtnis und andererseits eine gemeinsame Identität herstellen sollen. Ob nun in Form von Liedern, Symbolen oder Texten, den Reden an besonderen Festtagen, Nachstellungen erfolgreicher militärischer Aktionen, Denkmäler, etc.- sie alle haben das Ziel, das ihnen zugrundeliegende Narrativ zu festigen, die Deutungsvielfalt einzuschränken und somit keine anderen Wahrheiten zuzulassen. Die Geschichten über die „Zeiten der Angst“ (Manrique 2002) sind mannigfach. Sie alle haben ihre Held*innen, Täter*innen und Opfer, durch die sie auf vielfältige Weise das „Recht auf Erinnerung“ herstellen. Die Figur des/der Täter*in, wie Susanne Knittel argumentiert, erfüllt innerhalb einer Gesellschaft eine paradoxe Position, die von einem konstanten Oszillieren zwischen Faszination, Widerwärtigkeit, Dämonisierung und in manchen Fällen sogar Sympathie charakterisiert werden kann (Knittel 2014: 154). Eine Figur wird zum/zur Tä-
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ter*in durch das in-Beziehung-Setzen zu anderen Figuren. Wie Figuren zu Täter*innen werden hängt vom jeweiligen Narrativ ab. Äußere Zwänge, Umstände und Zufälle produzieren Täter*innen, aber es gibt auch jene, die den Inbegriff des Bösen symbolisieren. Damit sind jene mystifizierten Figuren gemeint, die sich aus freien Stücken zum „Bösen“, zur „dunklen Seite“ hingezogen fühlen. Caro Cárdenas zeigt am Beispiel von Carlotta Tello, einer damaligen Widerstandskämpferin des Leuchtenden Pfads, wie aus einem vermeintlichen Opfer eine Täterin wird. Aus schwierigen Verhältnissen kommend, wächst Tello mit der Abwesenheit des Vaters als „Bastardin“ auf. Vom Vater abgelehnt und mit einer promiskuitiven Mutter wird aus dem gebrochenen Kind eine verbitterte und missmutige Frau (Caro Cárdenas 2006: 4, 5). Das Narrativ, also was genau wie erzählt wird, ist zentrales Element der Opfer-Täterin Transformation. Gerechtigkeit ist ein emisch angewandtes Konzept, das einem gewissen Ordnungsverständnis zu Grunde liegt und gewisse Handlungen zum Schutz und zur Wiederherstellung eben dieser Ordnung legitimiert. Die eigenen subjektiven Konflikt- und Gewalterfahrungen bzw. wie an sie erinnert wird, sozialisieren Emotionsrepertoires, welche die Bewertung von (Un-)Gerechtigkeit verkörpern (Scheidecker 2017). Wie solch ein Sinn für Gerechtigkeit in einem Menschen wirkt, wurde mir von einer Informantin als Gefühl beschrieben, etwas physischem, einer Art chemischer Reaktion, die ausgelöst wird von der Wertung menschlichen Handelns. Es ist ein Gefühl, das einen überkommt, so als wäre es eine Vorgabe der Natur. Die „Biologisierung“ des Gerechtigkeitsbegriffs und der an sie gebundenen Gefühle entspricht einer Entsubjektivierung, ähnlich wie wir sie vom Wahrheitsbegriff kennen. Dabei konstruiert sich Gerechtigkeit sui generis: das Argument, das es durch die Schaffung von Opfer- und Feindbildern generiert, ist gleichzeitig seine Rechtfertigung. Ausgehend von einer Definition von Gerechtigkeitsgefühlen, die sich auf eine affektiv-emotionale Bewertung der Legitimität normativer Ordnungen bezieht und dabei aufzeigt, dass Gerechtigkeitsgefühle relativ zu unterschiedlichen Bezugsgruppen stehen (Bens/Zenker 2017, in diesem Band), interessiere ich mich besonders für das Spannungsfeld zwischen gelebter Erinnerung und deren Artikulierbarkeit im Kontext der aktuellen Erinnerungspolitik. Die exklusive Rhetorik, die lediglich die Erinnerungen einiger weniger zulässt, fördert unweigerlich – so das Argument – eine soziopolitische Fragmentierung der peruanischen Gesellschaft und Politik. Das ist eine Seite des vielfältigen Erbes des Konflikts. Eine andere Seite wird von jenen Menschen belebt, die versuchen ihre Erfahrungen zu teilen, obwohl sie missfallen, denn sie verstärken die gezogenen Grenzen nicht, sondern im Gegenteil, sie lassen sie verschwimmen. Oft anonymisiert, handelt es sich hierbei um Geschichten, deren Inhalte verstören - von
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misshandelten Täter*innen und gewalttätigen Opfern. Geschichten wie die von Lurgio Gavilán (2012), der als Kind seinem Bruder folgte und sich dem Leuchtenden Pfad anschloss, dann vom Militär gefangen genommen und großgezogen wurde als wäre er Teil der „Familie“. Nachdem er als junger Erwachsener ein Priesterseminar besuchte, entschloss er sich, Sozialanthropologie zu studieren. 2012 veröffentlichte er seine Autobiografie. Sein Buch verstört und gleichzeitig öffnet es eine Tür, eine Art Ausweg aus der Welt der Dichotomien. Er erzählt von der Komplexität des Kriegsalltags, die sein Leben ad absurdum führte, da er durch den Zufall getrieben alle Seiten des Kriegs durchlebte. Der Krieg jedoch widerfuhr ihm, womit er die eigene Handlungsmacht in seiner Geschichte gänzlich ausspart. Er ist Beobachter all der Gräueltaten, die Menschen anderen Menschen zufügen, ob nun der Leuchtenden Pfad oder das Militär. Er spricht aber auch von dem Gefühl, für eine Idee sterben zu wollen und von dem Gefühl der Zugehörigkeit. Er überschreitet jedoch nicht die Grenzen hin zur Verantwortung. Er ist eingeweiht, aber unbeteiligt, wodurch er zum Opfer und nicht zum Täter wird. Seine Geschichte beschreibt den Widerspruch des Kriegs, aber nicht die des eigenen Handelns. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch nicht die der Verantwortung, sondern die nach der Erzählform. Sie gibt Aufschluss darüber, was erzählt werden kann und deutet auf die Grenzen hin, die dem Erzählen einen Rahmen geben.
„Geschichte wird gemacht“, so der Titel des Bandes zu Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur in Lateinamerika (Peters/Burkhardt/Öhlschläger 2015), wobei mit Vergangenheitspolitik die „öffentliche Konstruktion von Interpretationen gewaltvoller und traumatischer Ereignisse der Vergangenheit“ (ebd.: 10) gemeint ist und mit Erinnerungskultur die diversen Praktiken der Erinnerung. In den Kapiteln, die unterschiedliche Kontexte in der Region aufgreifen, wird veranschaulicht, inwiefern vergangenheitspolitische Interventionen auf die Beeinflussung der Erinnerungskultur abzielen, die „der Politik wiederum als Seismograph dient“ (ebd.: 11). Damit gemeint ist die enge Verflechtung von Erinnerungsdiskursen mit der politischen Konstruktion eines Nationalstaats. Speziell Peru ist ein Beispiel dafür, wie eng etwa erinnerungspolitische Fragen mit demokratiepolitischen Fragen verbunden sind. Dabei ist die Polyphonie der Geschichtsinterpretationen innerhalb einer Gesellschaft ein Hinweis darauf, wie differenziert und inklusiv/exklusiv der Diskurs um Erinnerung geführt wird. Nicht nur werden bestimmte Erinnerungsnarrative unterschiedlichen politischen La-
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gern zugeschrieben, wie etwa die „Human Rights Memory“ der politischen Linken und die „Salvation Memory“ der politischen Rechten, sondern erinnern auch die Forderungen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung an einen demokratiepolitischen Diskurs. Doch inwiefern ist die „Pflicht des Erinnerns“ mit dem Aufbau einer gewaltlosen demokratischen Zukunft verknüpft? Dabei gilt es staatliche und institutionelle Prozesse aber auch soziale, kulturelle und symbolische Prozesse zu untersuchen. Zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten in Nachkriegskontexten verdeutlichen wie durch diese Prozesse erkenntlich wird, inwiefern sich Diktatur, Repression und Gewalt mit bereits lang existierenden Formen der Diskriminierung und struktureller Gewalt überlagern (Degregori 1993, Theidon 2012, Boesten 2014, Jelin 2015). Insofern entspricht auch das „Recht auf Erinnerung“ der „Verpflichtung zur Erinnerung“ mit der Forderung nach politischer Partizipation. Jedoch spricht die etablierte Rhetorik von einer Politik des gegenseitigen Ausschlusses, deren Akteur*innen sich gegen eine Deutungsvielfalt richten, vielleicht aus Furcht, dadurch die eigene Position zu gefährden. Gerade in Zeiten, wo sich die Verankerung offizieller Geschichtsinterpretationen auch in nationale und internationale Gerichtshöfe überträgt, steht für viele Akteur*innen von damals nicht nur die eigene Erinnerung, sondern auch der Verlauf des persönlichen Lebens auf dem Spiel. Am 31. August 2016 wurden nach fast sechs Jahren Verhandlung fünf hohen Kommandeure des Militärs und fünf ehemalige Soldaten zu Freiheitsstrafen von zehn bis 25 Jahren verurteilt. Sie wurden für schuldig befunden, im Jahre 1985 69 Personen in einem Dorf namens Accomarca hingerichtet und verbrannt zu haben, um ihre Spuren zu beseitigen.14 Dies ist das erste Mal, dass eine gesamte Kommandolinie in einem Fall angeklagt und verurteilt wird. Nun fürchten sich viele andere, deren Prozesse noch laufen. Die Gegenseite bemüht sich um die moralische Rekonstruktion der lange als Terrorist*innen bezeichneten Opfer des Krieges. Aber auch die Widerstandskämpfer*innen geben sich Mühe, ihr Image wiederherzustellen. Erst kürzlich stellte sich die ehemalige zentrale Führungsfigur des MRTA, Peter Cárdenas Shulte (alias „Alejandro“), in einem Fernsehinterview der peruanischen Öffentlichkeit. Um, wie er selbst meinte, den Streit zu entschärfen, zeigte er sich menschlich, reflektiert und seiner Verantwortung bewusst. Das Gespräch zwischen Peter Cárdenas und dem bekannten peruanischen Journalisten Augusto Alvarez Rodrich verkörpert den spannungsgeladene Diskurs der Narrativen und Gegen-Narrativen. Folgende Auszüge sind dem originalen Fernsehinterview entnommen:
14 La Republica 03.09.2016 (siehe Online Referenz).
172 „Ich weiß nicht ob Sie sich bewusst sind, dass Sie als einer der grausamsten und blutrünstigsten Terroristen und vielleicht sogar [...] als einer der meist gehassten Menschen im Land gelten. Was sagen sie dazu?“ Cárdenas versucht mit historischen Fakten zu kontern, mit zitternder Stimme zu erklären, dass Präsident Alberto Fujimori, als er an die Macht kam, das Land in eine Diktatur stürzte. Rodrich unterbricht. „Wie viele Menschen haben Sie eigentlich umgebracht? Cárdenas antwortet: „Ich weiß nicht, aber gestorben sind unzählige auf allen Seiten [...]. Ich war Teil einer Bewegung die eine radikale Veränderung der politischen und sozialen Lebensumstände im Lande vorschlug [...], aber wir sind gescheitert.“ Rodrich fragt weiter: „Wie haben Sie Menschen umgebracht? [...] Wie fühlt es sich an, einen Menschen kaltblütig zu ermorden? [...] Wie können Sie mit sich selbst eigentlich leben? [...] Bereuen Sie, dass Sie anderen Menschen so viel Leid zugefügt haben? [...] Was macht diese Erfahrung mit Ihrer Menschlichkeit, mit ihrer ‚humanidad’? [...] Muss man die eigene humanidad nicht verlieren, um zum Terroristen zu werden?“ 15
Am Tag danach liest man auf Facebook gratulierende Kommentare an den Interviewer. Mir hingegen war nicht ganz klar, ob die Fragen überhaupt Fragen waren. Es heißt, seine Fragen wären die „Fragen der Nation“ gewesen. Darunter stehen nach einer Stunde 243 Likes. Eine Woche zuvor wurde Cárdenas nach 25 Jahren Haft16, davon 18 Jahre in Einzelhaft und sieben Jahre in absoluter Isolation, aus dem Militärgefängnis in El Callao entlassen. 1992 wurde er unter anderem wegen des Delikts des schweren Terrorismus (terrorismo agravado) verurteilt.17 Cárdenas gilt als die „Nummer Zwei“ des MRTA. Er leitete die sogenannten Vernichtungskommandos (destacamentos de aniquilamiento) in Lima, die es zur Aufgabe hatten, Firmenchefs, Bankiers oder Politiker zu entführen und mit dem Lösegeld die Organisation zu finanzieren.18 Nach dem Interview rumort es in der Boulevardpresse, seine Freilassung hätte mit dem spürbaren Anstieg der Kriminalitätsrate im Land zu tun. Seitens der politischen Rechten heißt es, der Staat stünde vor dem Kollaps - er müsse kollabieren, denn „es fehlt die starke Hand, die durchgreift“: die Hand Alberto Fujimoris und damit jenes ExPräsidenten, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit am anderen Ende der Stadt seine Gefängnisstrafe absitzt. Der mittlerweile sechzigjährige Peter Cárdenas gibt sich Mühe, seine Vergangenheit, die Gegenwart und seine mögliche Zukunft einem Millionenpublikum zu schildern. Er holt weit aus. Seine Sät-
15 Punto Final, Latina TV 28.09.2015 (siehe Online Referenz). 16 1988-1989 und 1992-2015. 17 El Comercio 22.09.2015 (siehe Online Referenz). 18 Aus einem Interview der Wahrheits- und Versöhnungskommission mit Cárdenas Shulte (2002-2003), in den Archiven der Defensoria del Pubelo, Lima.
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ze sind lang. Seit 25 Jahren will er sprechen, denn immerhin gilt er als einer der meist verachteten Menschen im Land. Als Antwort auf die bestehende Polemik versuchen ehemalige „Terrorist*innen“ wie Cárdenas Shulte sich als moralisch handelnde Subjekte in der Öffentlichkeit zu positionieren. Mit persönlichen Geschichten widersetzen sie sich den etablierten Stereotypen entmenschlichter Männer- und Frauenfiguren. Gerade Frauen, die im bewaffneten Konflikt tragende Rollen hatten, werden genderspezifische Eigenschaften zugeschrieben: malas madres (schlechte Mütter), herzlos, intrigant und berechnend (Caro Cárdenas 2006). Terroristinnen sind inkompatibel mit einem traditionellen Verständnis von Frauen als „peaceful people“, die durch den Krieg und gleichzeitig vom Krieg beschützt werden müssen (Gentry/Sjoberg 2015: 2). In diesen Diskursen werden Frauen gleichermaßen zu Ursache und Opfern von Kriegen. In einem Interview befragte ich eine der führenden Abgeordneten von Fujimoris Fuerza Popular-Partei Maria „Lucha“ Cuculiza über die Rolle der Frau in Widerstandsgruppen. Dazu meinte sie: „das Profil der weiblichen Widerstandskämpferin ist machiavellisch. Sie feuert den Gnadenschuss ab, sie ist zuständig für die Hinrichtungen und für die Durchführung von Attacken. Es ist unglaublich, die Terroristinnen sind jenseits dessen, was ich als einen normalen Menschen bezeichnen würde. [...] Diese Bosheit, dieser Wahnsinn. Es ist ein Privileg, als Frau geboren zu werden, weil wir Kindern das Leben schenken können. [...] Was muss mit diesen Kreaturen passiert sein, um so zu werden? In der Tiefe ihrer Seelen, ihres Seins und ihres Bewusstseins, sollten sie wissen, dass Frau-sein bedeutet Leben zu beschützen [...].“19 (Interview, März 2012)
Zur Entmenschlichung summiert sich die Entpolitisierung der Individuen. „Was muss mit ihnen passiert sein?“ ist die rhetorische Frage, die suggeriert, dass sich Widerstandskämpfer*innen jenseits sozialer Normen, in einer Art Abnorm bewegen, durch die ihnen ihre politische Identität abgesprochen wird.
Worin liegt nun die Bedeutung von Erzählungen oder testimonies und was bleibt uns wegen des politischen Kontexts und der jeweiligen Rahmenbedingungen verborgen? Was erfahren wir über die Empfindungswelten, von erlebten Erinnerungen und die an sie geknüpften Forderungen nach Recht und Gerechtigkeit?
19 Von der Autorin aus dem Spanischen übersetzt.
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In ihrem Buch „The Human Condition“ (1998 [1958]) meint Hannah Arendt, dass Menschen Geschichten erzählen, um Privates öffentlich zu machen. Sie argumentiert, dass Handlungen, die bestimmt sind von der Verflochtenheit und Komplexität menschlicher Beziehungen, ihren Bestrebungen und Intentionen, allein keinen Sinn machen. Handlungen werden durch Erzählungen real. Geschichten von Handlungen sind eigene Objekte, die wiederum in Dokumenten, Monumenten, Kunstwerken, Schulbüchern, etc. erzählt und wiedererzählt werden, motiviert von möglicherweise anderen Bestrebungen und Intentionen als die Handlung selbst (Arendt 1998: 148). Der Anthropologe Michael Jackson erweitert Arendts Konzept und meint, dass das öffentlich Erzählte auch die Sphäre des Privaten prägt (Jackson 2006: 15). Das Spannungsfeld, in dem Privates öffentlich wird und umgekehrt, nennt er den intersubjektiven Raum, also der Ort wo zwischenmenschliche Dynamiken und Interaktionen geschehen. So werden Ereignisse der Vergangenheit zu Geschichten. Gemeint ist jedoch keine passive Rekonstruktion, sondern eine aktive Bearbeitung dieser Vergangenheit, die eine gewisse Handlungsmacht zulässt. Gerade bei Gefühlen der Machtlosigkeit ist das Erzählen von Bedeutung. Menschen erzählen Geschichten, um sich ihre eigene Geschichte anzueignen. Über das Erzählen schafft sich mensch einen Platz in der Welt. Während das Geschichtenerzählen selbst eine soziale Handlung ist, ist sie ebenso Grundlage für die eigene Selbstbegründung. Geschichtenerzählen ist demnach vieles, ein Mittel zum Selbstschutz und die Möglichkeit, sich den eigenen Illusionen hinzugeben (Jackson 2006: 15). Über die performative Praxis des Erzählens also, sucht mensch Bestätigung für ihre/seine Existenz, so problematisch diese Existenz auch sein möge. Doch wie lassen sich diese Geschichten in ihren Kontext einbetten und wie erfahren wir von den oft so relevanten Dingen, die nicht erzählt werden? Im Zuge meiner Feldforschung habe ich drei partizipative Filmprojekte mit Akteur*innen des bewaffneten Konflikts durchgeführt mit der Intention, einen Einblick in die Erzählwelten und Strategien der verschiedenen „Lager“ zu bekommen. Der Vorschlag war, gemeinsam mit meinen Informant*innen einen Film über das Erinnern zu machen. Dazu habe ich einstige Mitglieder der MRTA20, Angehörige der anti-terroristischen Spezialeinheit Chavin de Huantar und Mitglieder der ältesten Opferorganisation des Landes ANFASEP21 eingela-
20 im Hochsicherheitstrakt des Frauengefängnisses Annexo del Penal de Mujeres de Chorrillos in Lima 21 Asociación Nacional de Familiares de Secuestrados, Detenidos y Desaparecido del Perú (Nationale Verein der Familienangehörigen der Entführten, Gefangenen und Verschwundenen von Peru)
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den, Erinnerung filmisch zu artikulieren. Nach einem Jahr gemeinsamer Arbeit war das Resultat ein Film mit dem Namen Entre Memorias (Zwischen Erinnerungen)22 in dem drei zehnminütige Kurzfilme einander gegenüber gestellt werden. Methodisch ging es darum, die Filme im Dialog zu entwickeln und dabei zu erfahren, wie in diesem gestalterischen Prozess Entscheidungen getroffen werden und welche Motivationen welche Bilder produzieren. Manche Geschichten waren für die Kamera und andere nicht. Grenzen wurden spürbar zwischen dem Erzählbaren und dem Nicht-Erzählbaren, zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, zwischen notwendiger Nähe und Distanz. Diese Grenzen, wenn sie auch fließend sind, verweisen darauf, wie Lebens- und Erfahrungswelten konstruiert und geordnet werden. Sie werden begleitet von Gefühlen und werden durch Gefühle produziert. Aber es sind nicht nur die persönlichen Erfahrungswelten, die für die Form dieses Films von Bedeutung waren, sondern auch die politische Konjunktur und eine sich ständig verändernde Gesetzeslage.23 Diese Umstände geben Aufschluss über die Rahmenbedingungen, in denen Geschichte artikuliert wird. Meinen Protagonist*innen verstanden den Film als Möglichkeit, eine kohärente Identität für eine unbestimmte Öffentlichkeit zu konstruieren, die von ihnen selbst mitgestaltet werden konnte. Jedoch hat die Kamera durch ihre Eigenschaft, Öffentlichkeit zu produzieren, auch private Räume geschaffen, welche ich „off-Kamera Räume“ nenne. Damit gemeint sind die Momente, in denen die Kamera ausgeschaltet ist und Gespräche entstehen, in denen Dinge erzählt werden können, die man von Mensch zu Mensch kommunizieren kann und möchte, aber die eben nicht die Welt erfahren soll. On- und Off-Kamera Räume sind komplementär zueinander, denn sie sind beide von Bedeutung und konstituieren die Sphäre des Artikulierbaren, aber nicht jede Geschichte eignet sich für jeden Raum und jede Öffentlichkeit. Die Vielfalt der Geschichten, die jenseits laufender Kameras erzählt wurden und wie sie meine Sicht auf Erinnerung grundlegend veränderten, wurden zum Dilemma, dadurch nämlich, dass der Film
22 Vertrieben vom Royal Anthropological Institute – Film sales (siehe Online Referenz) 23 Das Gesetz mit dem Namen Ley del Negacionismo (Negationsgesetz), welches von der Regierung im August 2012 vorgeschlagen wurde, sieht vor, Menschen, die terroristische Aktivitäten „befürworten, rechtfertigen, negieren oder minimieren„, mit sechs bis zwölf Jahren Haft zu bestrafen (PCM 2012). Für Kritiker*innen war dieses Gesetz eine ernstzunehmende Gefährdung der freien Meinungsäußerung. Organisationen wie Human Rights Watch kritisierten den Gesetzesvorschlag, vor allem da der Interpretationsrahmen des Gesetztes viel zu offen und ungenau gehalten war (HRW 2013).
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Abb. 1: Poster des Films Entre Memorias, Lisa Ifsits 2014
Quelle: Martha-Cecilia Dietrich
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alleine den komplexen Erfahrungs- und Empfindungswelten meiner Informant* innen nicht gerecht wurde, die sie durch den Film versuchten, zu vereinfachen und in ihrer Bedeutung zu fixieren. Was tun diese „privaten“ Erinnerungen und deren Abwesenheit von gesellschaftlichen Debatten mit denen, die mit ihnen leben? Michael Jackson schreibt: „Erinnerungen, die sozial inakzeptabel, politisch delikat, oder legal kompromittierend sind, verschwinden nicht einfach so. Stattdessen werden sie abgelegt an Orte der Subjektivität und des Schweigens. Oft werden sie zu Spuren der Bedeutungslosigkeit und Schande. Wenn das Geschichtenerzählen die Dimension des Dialogischen verliert, dann wird es nicht nur selbstreferentiell und solipsistisch, sondern pathologisch.“ (Jackson 2006: 169)24
Aber wie schreibt man über die Grenzen des Erzählens, wenn sie womöglich Privates öffentlich machen, dass nicht öffentlich werden soll, zumindest noch nicht? Meine Antwort darauf war es, nicht jene Geschichten zu erzählen, sondern die Geschichten von Geschichten die nicht erzählt werden „dürfen“: anonymisiert, entpersonalisiert – entmenschlicht. Genau an diesem Punkt kehren wir zurück zum Thema der diskursiven Entmenschlichung der Anderen. Diese „Deformationen“ sind alleine schon eine Erkenntnisquelle, die Aufschluss darüber gibt, wie die unterschiedlichen persönlichen und strukturell bedingten Formen des Schweigens Erinnerung prägen. Die Menschen in den folgenden zwei Geschichten kommen in dem Film Entre Memorias nicht vor. Sie sind jedoch Menschen, die entweder Teilnehmer*innen des Projektes waren und aus unterschiedlichen Gründen ausgestiegen sind, bzw. Menschen die ich in diesem Jahr begleitet habe, jedoch ohne sie letztlich in das Filmprojekt zu involvieren. Das untenstehende Bild ist eine Fotografie von Ana’s Voice-Over Text für den Film Entre Memorias. Drei Monate haben wir an den vier Seiten gearbeitet. Kurz vor Abschluss der ersten Arbeitsphase bekommt sie die Nachricht, dass die Inter-American Commission on Human Rights ihren Fall an den Inter-American Court of Human Rights weitergeleitet hatte. Dies waren großartige Neuigkeiten, denn vielleicht hieß dies eine neue Chance zur vorzeitigen Entlassung aus dem
24 Von der Autorin aus dem Englischen übersetzt. 25 Der Name wurde zum Schutz der Informantin verändert.
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Abb. 2: Ana’s Voice Over Text
Quelle: Martha-Cecilia Dietrich
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Gefängnis und etwaige Ansprüche auf Reparationszahlungen. Ana ist seit dreiundzwanzig Jahren im Gefängnis. Als Ana 199226 von der Polizei gefangen genommen wurde, wurde sie physisch und sexuell misshandelt. Nach den Befragungen unter Folter, wurde sie mehrere Monate in einer Einzelzelle isoliert. Davon hat sie sich nie wirklich erholt. Die bis heute andauernden Folgen sind permanente Migräne, Schlafstörungen, Panikattacken und psychische Probleme. Nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Fall neu aufgerollt werde, erklärt sie mir, dass es nicht reichen würde, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Um endlich Gerechtigkeit zu erfahren „muss ich zum Opfer werden. Ich muss unschuldig und kein bisschen schuldig sein. Etwas anderes wollen die Menschen nicht hören und ich, ich will hier raus.“ Ihr Vorschlag ist es daher ein neues Voice-Over zu schreiben, welches ihre Erfahrungen der politischen Verfolgung, der Folter und der Misshandlungen im Gefängnis in den Mittelpunkt rückt. Nachdem sie mit ihrem Anwalt unsere vorherige Version durchgesehen hat, ist aber vor lauter Wegstreichen fast nichts von ihrer ursprünglichen Geschichte übrig. Nicht nur ist der Text von vier Seiten auf anderthalb reduziert worden, sondern auch ihre Motivationen sind im Unterschied zur vorherigen Version anders dargestellt. Daraufhin kommt es zu einer Meinungsverschiedenheit. Ich, motiviert von der Bestürzung, womöglich drei Monate Arbeit in den Sand zu setzen, meine, dass die Geschichte, so wie sie jetzt ist, dem/der Zuschauer*in keinerlei Greifbares offeriert. Die Geschichte ihres politischen Werdegangs, ihre Ideen und Ideologie, die Entscheidungen einer selbständigen Frau, welche in den 1970ern gesellschaftlichen Konventionen trotzt, wird zur Opfergeschichte. Die politische Aktivistin wird zur Freundin des militanten Subversiven. Dabei begann ihre Geschichte eigentlich mit einer jungen Frau, die im Alter von siebzehn Jahren ein Stipendium erhält um in der damaligen Sowjetunion zu lernen, was der gelebte Sozialismus bedeutet. Ana ist keine Ausnahme. Sie ist eine von hunderten von lateinamerikanischen Frauen und Männern, die vom expansiven internationalistischen Sozialismus überzeugt waren. Sie wollten lernen, wie man den Sozialismus nach Peru importieren kann, wie man die Ideologie und das politische System den eigenen Gegebenheiten des Landes anpasst. Diese Geschichte erzählt jedoch niemand mehr. Anas Entscheidung führte zu dem beidseitigen Entschluss, unsere Zusammenarbeit zu beenden.
26 Die Jahreszahl wurde zum Schutz der Informantin verändert.
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Die zweite Geschichte, die ich in diesem Zusammenhang erzählen möchte, handelt von Cristina. Sie ist die Mutter von einem der rund 15.000 verschwundenen Männer und Frauen in Peru. Jedes Jahr protestiert sie in Lima und Ayacucho mit den anderen Mamas – so werden Frauen im Andenhochland liebevoll genannt für Gerechtigkeit. Vor dreißig Jahren waren es noch hunderte, aber Jahr für Jahr sterben immer mehr von ihnen weg, erzählt Elena, die Schwester eines Verschwundenen, die heute im Museum der Erinnerung von ANFASEP arbeitet. Justicia, zu Deutsch Gerechtigkeit, ist was sie seit Jahren fordern. Und sie warten schon lange. Mit Gerechtigkeit meinen die Mitglieder von ANFASEP die Anerkennung seitens der Politik. Einerseits, die Anerkennung, dass während des Konflikts Menschen entführt, gefoltert, umgebracht und vertrieben wurden und andererseits, dass der Staat dafür mitverantwortlich war. Diese Anerkennung geht einher mit der Forderung nach staatlichen Reparationen, die symbolisch, finanziell, individuell und kollektiv entschädigen sollen. Nach mehr als drei Jahrzehnten des Protests verlangt ANFASEP eine offensivere Suche nach den Verschwundenen. Jose Pablo Baraybar, der Direktor der Nicht-RegierungsOrganisation forensischer Anthropologen Perus, spricht in einem Interview mit dem Magazin Terra von 4600 registrierten Massengräbern, die noch unausgehoben sind.28 Zudem fordern die Frauen von ANFASEP Gerechtigkeit in der Geschichtsschreibung, denn auch lange nach dem offiziellen Ende des Konflikts wurden die Quechua-sprachigen Bäuer*innen Ayacuchos in Peru als Terrrorist*innen verkannt. In Lima und anderswo blieben ihnen oft deswegen die Türen zum Arbeitsmarkt oder zur Weiterbildung verschlossen. Mama Cristina und ihr Sohn sind, wie sie sagt, unschuldige Opfer des Konflikts. Eines nachts wurde ihr Sohn von einem Militärtransporter abgeholt und sie sah ihn nie wieder. Ihr Traum, wie der vieler anderer Mamas, ist es ihren Sohn zu finden und nach christlicher Tradition bestatten zu können. Dann, sagt sie, möchte sie noch etwas leben, um sein Grab zu besuchen und es mit Blumen zu schmücken und traditionelle Opfergaben wie Coca-Blätter, Zigaretten und das typisch süßliche WaWa Brot beizulegen. Schon oft hat sie in den Medien gesprochen. Gemeinsam mit anderen Mamas aus Ayacucho hat sie ein Buch mit ihren individuellen Geschichten geschrieben und publiziert (ANFASEP 2007). Was sie jedoch nicht erzählt, ist, dass ihr verschwundener Sohn einen Zwillingsbruder hatte, der beim Leuchtenden Pfad war, sowie eine ihrer Töchter. Nicht ei-
27 Der Name wurde zum Schutz der Informantin verändert. 28 Revista Terra 28.09.2009 (siehe Online Renferenz).
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nes, sondern drei ihrer neun Kinder29 hat sie durch den Krieg verloren. Die Nachbarn und Freunde wissen davon, aber niemand sagt etwas. Sie ist auch nicht die einzige in der Nachbarschaft. Wenn es in der Familie und unter Nachbarn Streit gibt, dann kommt es schon einmal vor, dass sie es einander vorhalten. „Das kommt aber selten vor“ meint Cristina, denn niemand möchte, dass Meinungsverschiedenheiten eskalieren und zur unversöhnlichen Streitereien werden. Es gibt aber durchaus Familien und Familienangehörige, die einander nichts mehr zu sagen haben, weil sie für die eine oder andere Seite waren oder weil sie sich den Krieg zum Vorteil machten und andere verrieten. „Man weiß nie, was in einem Menschen steckt.“ Deswegen verhält sich Cristina unauffällig, aber ihren Kampf um Gerechtigkeit führt sie weiter, auf den Straßen, in der Organisation, im Gerichtssaal. Um den Tod ihrer anderen Kinder darf sie nicht trauern, meint sie, zumindest nicht öffentlich. Deren Überreste darf sie nicht suchen, denn sonst, so sagt sie, findet sie ihren unschuldigen Jungen nie und die letzten dreißig Jahre ihres Kampfes waren umsonst, denn wenn überhaupt gibt es Gerechtigkeit nur für unschuldige Opfer. In ihrem Schlafzimmer stehen aber drei Kerzen, die sie jeden Abend anzündet.
Erinnerung existiert in vielen Formen: als Konzept oder Handlung, als Prozess oder Affirmation, als konkrete Erfahrung oder abstrakter Eindruck. Erinnerung artikuliert sich in Worten, in Schweigen und Vergessen, durch Symbole und in Launen. Erinnerung ist politisch und historisch, persönlich und geteilt, sie ist inkohärent und fragmentiert, kurzlebig und dauerhaft. Sowohl Täter*innen als auch Opfer brauchen die Erinnerung, denn sie erlaubt ein Leben in der Fragilität der Gegenwart. Der Filmemacher Patricio Guzman meint am Ende seines Films „Nostalgie des Lichts“30: „Menschen ohne Erinnerung leben nirgendwo“. Täter*innen suchen nach Begründungen/Erklärungen, um die eigenen Erinnerungen zu bewältigen und mit ihnen abzuschließen. Rechtfertigung, Negation und Eingeständnis sind Strategien auf der Suche nach Kohärenz. Opfer suchen Resolution in Form von Verantwortlichkeit, Rechenschaft, Bestrafung und/oder Wiedergutmachung. Die Vertreter*innen der Erinnerung und ihr Unternehmen wer-
29 Die Zahl wurde zum Schutz meiner Informantin verändert. 30 Ein Film von Patricio Guzman (2010), vertrieben von Trigon Films.
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den als „moralisches Projekt“ (Jelin 2015: 79) verstanden. Dessen Ursache, nämlich die widerfahrene Ungerechtigkeit, mobilisiert sie dazu, das Unrecht richtigstellen zu wollen. Die in Körper und Geist verankerte Notwendigkeit nach Gerechtigkeit geht jedoch weit über das Symbolische hinaus. Erinnerung ist die Evidenz der Existenz der Verschwundenen, der Ermordeten und ihrer Hinterbliebenen. Letztere haben sich über mehr als drei Jahrzehnte eine kollektive Identität als „Mütter der Verschwundenen“ aufgebaut. Diese Identität definiert sich über den Kampf für Gerechtigkeit. Hierbei geht es längst um viel mehr als die Präsenz der Abwesenden. Es geht auch um jene Existenz der Hinterbliebenen, die sich als Gruppe gebildet und sich über ihr geteiltes proyecto de vida (Lebensprojekt) neu definiert haben. Es geht um jene Gemeinschaft und das Gefühl der Zugehörigkeit. Es geht um die Existenz der Akteur*innen des PostKonflikts, die danach streben, viel mehr als die „neuen“ Opfer zu sein und politische Anerkennung einfordern. Durch die Opfer-Täter*innen Narrative werden in einer Gesellschaft nach dem Krieg neue politische Subjekte konstruiert, deren Existenz den Triumph über die Anderen bedeutet. In diesem Sinne wird Erinnerung zur Waffe, die totale Täter*innen und Opfer fordert. Menschen wie Cristina leben in jenen Widersprüchen, die dieses Post-Konflikt-Szenario generiert. Fiona Wilson schreibt über ihre Feldforschung in Peru, „je mehr man sich mit den gelebten Realitäten des Krieges, des Widerstandskampfes, des Militärs, und den Angehörigen der Verschwundenen auseinandersetzt, desto chaotischer und widersprüchlicher werden die Bilder.“ (Wilson 2009: 56) Zwanzig Jahre bewaffneter Konflikt lässt die Grenzen zwischen den Kategorien verschwimmen. Der Widerspruch zwischen dem, was war und dem, wie es heute erzählt wird, lässt sich an dem Schweigen erkennen, das gezielt die Grauzonen (Levi 1988) aufzuheben versucht. Die akademische Forschung setzt sich in der Regel mit Diskursen, greifbaren Phänomenen und Repräsentationen von emblematischen Ereignissen in der Gegenwart auseinander (Peters et. al. 2015: 188). Die Präsenz dessen, woran mensch sich (öffentlich) erinnern möchte, lässt jedoch die Frage offen, welche konkrete Rolle und Funktion dem Schweigen zuteilwird. Um erfahren zu können welche Geschichten wodurch verschwiegen werden, erfordert es einen Blick auf die Grenzen des Erzählens. Nicht ohne Risiko vertrauen Informant*innen Ethnograph*innen ihre Erinnerungen an, die abseits des öffentlich Artikulierbaren existieren. Bestimmt gibt es Gründe, weswegen mir manche dieser Geschichten erzählt wurden. Vielleicht um Nähe und Vertrauen auszudrücken, oder um sich von der Last dieser Geschichten zumindest temporär zu befreien, vielleicht auch mit der leisen Hoffnung, dass ihre Geschichten – anonymisiert und entpersonalisiert – andere Menschen mit ähnlichen Erinnerungen erreichen. Vielleicht auch,
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damit es in Zukunft möglich wird, über die Komplexität und Widersprüche dieses Konflikts mit jüngeren Generationen sprechen zu können. „El silencio nos enferma“ (die Stille/das Schweigen macht uns krank), meinte Cristina am Ende unseres Gesprächs, als ich schon bei der Tür stand. Erinnerung ist ein Antrieb, aber sie ist auch toxisch in der Art und Weise wie sie den Körper und den Geist belastet. Das Streben nach einer kollektiven Erinnerung, wie es Vertreter*innen des Militärs mit einer „offiziellen Geschichte“ vorschlagen, ist deshalb nicht nur schwierig, sondern gehaltlos. Akteur*innen beanspruchen den Opferbegriff für sich, weil Konzepte wie das des „unschuldigen Opfers“ das einzige Kriterium zu sein scheint, das es ermöglicht, als Mensch mit Recht auf Erinnerung zu existieren. Für Cristina und die Mitglieder von ANFASEP bedeutet Opfer-Sein das notwendige soziale und symbolische Kapital für ihre Forderung nach der Exhumierung von Massengräbern, symbolische, kollektive und individuelle Reparationen seitens des Staates, Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsvorsorge für die Angehörigen. Für die Widerstandskämpfer*innen bedeutet Opfer-Sein die mögliche Freilassung aus dem Gefängnis, das Ende der öffentlichen Entmenschlichungskampagnen und die Aussicht auf ein „normales“ Leben. Für manche meiner Informant*innen ist dies jedoch keine Option, auch wenn sie damit die entmenschlichten Täter*innen bleiben. Bei Ana und Cristina bestimmt das Schweigen, was wie erzählt wird. In manchen Kontexten wird das Schweigen allerdings als produktiv gewertet. Del Pino (2008) spricht am Beispiel von andinen Dorfgemeinschaften in Peru, wo Opfer und Täter*innen nach dem bewaffneten Konflikt nebeneinander leben lernen mussten, von einem „restaurierenden und integrierenden Schweigen“ (ebd.: 153), das er als eine Art kommunalen Kompromiss versteht, damit soziale Strukturen wieder wachsen und gedeihen können. Hier ist das Schweigen eine kollektive Entscheidung mit dem Ziel, soziale Strukturen des gemeinschaftlichen Lebens, die durch den Konflikt zerstört wurden, wiederaufzubauen. Vielleicht steht die subjektive Empfindung von Schweigen in einem direkten Zusammenhang mit der Handlungsermächtigung der Schweigenden. Ist das Schweigen eine selbst getroffene Entscheidung oder eine von außen auferlegte? Victor Igreja (2008) spricht beispielsweise im Fall von Nachkriegs-Mozambik von der offiziellen Linie der Regierung, die sich durch Schweigen Einheit und Frieden erhofft (ebd.: 2008: 539). Aktuell ist im Land laut Igreja das Gegenteil der Fall. Erinnerung, die durch Gewalt zum Schweigen gebracht wird, kommt trotzdem immer wieder an die Oberfläche. Er argumentiert, dass das „offizielle Schweigen“ in politisch pluralistischen Kontexten wie Mozambik, politische Eliten lediglich dazu einlädt, Erinnerung gezielt als Waffe einzusetzen, um politische Dispute
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auszutragen (ebd.: 540). Der Missbrauch von traumatischen Vergangenheiten kann, wie es auch der Fall von Peru veranschaulicht, zu einer Fortsetzung der Gewalt führen, die sich auf den Diskurs überträgt. Schweigen kann also als kollektiver/individueller Mechanismus verstanden werden, der Geschichten und die Menschen, die sie erzählen, prägt. Bei Cristina und Ana wird der Mechanismus ausgelöst von Gefühlen der Machtlosigkeit, der Angst und der Schande. Sie sind die Betroffenen und zugleich die Akteur*innen von der diskursiven Inbesitznahme und Fixierung von Begriffen wie Schuld und Unschuld, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Täter*innen und Opfer, etc. Damit stehen sie oftmals selbst einer möglichen Polyphonie der Erfahrungen im Weg und somit der Aufarbeitung einer Vergangenheit, die zunächst als komplex und widersprüchlich in der Öffentlichkeit situiert werden muss. Die akademische Arbeit, die sich konkret mit dem Schweigen beschäftigt, birgt daher das Potential neue und produktive Wege einzuschlagen, um mit den Folgen des Krieges umzugehen, nuancierte Bilder von den Akteur*innen zu kreieren und die vereinfachenden Dichotomien von Gut und Böse zu hinterfragen, ohne die Verbrechen relativieren oder gar legitimieren zu wollen. Als anthropologische Konzepte sind die im Diskurs konstruierten Dichotomien analytisch limitierend. In diesem Sinne kann die Anthropologie nicht dabei behilflich sein, Grenzen zwischen Recht und Moral klar zu definieren und – sogar eher im Gegenteil – bestehende Grenzen zu hinterfragen. Eine Analyse von (Un-)Schuld und (Un-)Gerechtigkeit kann jedoch dabei helfen zu verstehen, wie und wodurch Grenzen gezogen und soziale Normen geschaffen werden. Nandini Sundar (2004) plädiert etwa für eine „Anthropologie der Schuld“, in der es aber weniger darum geht die „Besitzer*innen moralischer Normen“, welche oft im Namen universeller Werte zu handeln bekunden, zu unterstützen, sondern eher dem nachzugehen, wie Schuld im Alltag konstruiert wird (ebd.: 157). Dabei geht es vor allem um die Untersuchung von Machtverhältnissen, die Einfluss darauf nehmen, wie sich Hierarchien von Schuld und Schuldigen etablieren (ebd.: 147). Durch Bespiele, wie einerseits dem US-amerikanischen „Krieg gegen den Terrorismus“ und andererseits den zahlreichen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Kriegsverbrechertribunalen oder öffentlichen Entschuldigungen von Täter*innen, argumentiert sie, dass das Etablieren einer offiziellen Form von Schuld oft dazu dient, neue Hierarchien zu festigen und gegenwärtige „Schuld“ zu vertuschen (ebd.: 146). Innerhalb des Erinnerungsdiskurses erfüllen diese Begriffe jedoch eine wichtige Aufgabe, nämlich die, eine gewisse Ordnung innerhalb subjektiver Wahrnehmungswelten zu schaffen. „Das Leben nach dem Krieg macht erst wieder Sinn, wenn man erneut verstehen kann was richtig und was falsch ist, was häss-
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lich und was schön ist, wofür man lebt und wofür nicht.“ So wurde es mir von Cristinas jüngster Tochter und Schwester der drei verschwundenen Jugendlichen beschrieben. Dichotomisierte Begriffe wie Opfer-Täter*innen/GerechtigkeitUngerechtigkeit/Schuld-Unschuld mögen analytisch irreführend sein, sie werden jedoch von denen, die sie verwenden, gebraucht, um im Post-Konflikt-Szenario zu existieren. Wie jedoch Anas Beispiel deutlich macht, ist diese Existenz ein Recht, das Täter*innen in Peru verwehrt bleibt. Als Anspielung auf meine partizipative Methodologie für den Film Entre Memorias fragte mich eine Informantin während meiner Forschung mit den Widerstandskämpfer*innen im Gefängnis, ob ich als Österreicherin auch mit und nicht gegen Hitler arbeiten würde. Diese provokative und doch legitime Frage wurde zum Ausgangspunkt, nicht nur um die eigene Rolle im Feld kritisch zu betrachten, sondern zu überlegen, wem wir Anthropolog*innen durch unsere vielschichtigen Kollaborationen unsere „Stimme“ widmen. Ernst Becker meint dazu, dass „das Problem menschlichen Wissens nicht darin bestünde andere Sichtweisen zu demolieren, sondern sie in größere theoretische Strukturen einzubinden“ (1973: xi). Durch die Arbeit mit Opfern und Täter*innen können wir erst beginnen, subjektive Wahrnehmungen von Schuld und Gerechtigkeit sowie deren sozio-politische Kontexte zu verstehen, und wie sie zur Artikulation von Gewalt während, nach und vor einem Konflikt führen können.
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K ATRIN S EIDEL
Im Südsudan, dem jüngsten Land der Staatengemeinschaft, dauern die politischen und militärischen Aushandlungen über Formen von Staatlichkeit auch über die formale Staatsgründung, die am 9 Juli 2011 stattfand, hinaus an. Dabei werden auf der Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens über gemeinsame Werte, politische Strukturen und über ein solides Fundament des Gemeinwesens der gegenwärtige verfassungsgebende Prozess und die Übergangsverfassung von 2011 zu maßgeblichen Instrumenten der Staatswerdung. Eine Kernfrage wird dabei sein, ob sich eine sogenannte „permanente“ Verfassung und die von ihr abgeleitete Rechtsordnung vor einer Mehrheit der Südsudanes*innen als legitimes staatliches Recht etablieren kann. Ausgehend von der Zielrichtung dieses Sammelbandes ist dabei entscheidend, ob der Verfassungsgebungsprozess selbst die Gerechtigkeitsgefühle der Rechtsbetroffenen in hinreichender Weise berücksichtigt. Insofern ist der Ausgangspunkt dieses Beitrages, dass Affekte und Emotionen bei der Erzeugung von Legitimität eine zentrale Rolle einnehmen. Im Folgenden soll im Fokus stehen, ob die für den verfassungsgebenden Prozess vorgefertigten bzw. gesetzten internationalen normativen Referenzrahmen, Verfahren und Instrumente genügend Raum lassen, affektiv-emotionale Bindungen an die Rechtsordnung bei den Rechtsbetroffenen zu erzeugen. Verfassungsrecht entsteht in politischen Aushandlungen über Legitimität und soziale Relevanz (Elster 2016; Edmond 2000: 216-251). Dabei sind verfassungsgebende Prozesse in komplexe Wandlungsprozesse zirkulierender Vorstellungen, Werte, Normen, Praktiken, Verfahren und institutioneller Rahmen ein-
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gebettet. Basierend auf bestimmten Referenzrahmen werden Modelle und Module von einem lokalen Kontext in einen anderen übertragen und angepasst. Dies geschieht durch Aneignung und Lokalisierung. Es sind stets komplexe Übersetzungsprozesse, auch wenn vorgefertigte internationale Referenzrahmen, Verfahren und „Verfassungsmodule“ den Verfassungsprozess rationalisieren sollen bzw. vernunftgesteuert erscheinen lassen (Sajó 2010: 355). Diese Dynamiken sind interaktive relationale Prozesse der Interpretation und Verhandlung von Referenzrahmen (Behrends et al. 2014; Merry 2009; Rottenburg 2009). Dabei sind zahlreiche lokale, nationale, regionale und internationale Akteur*innen mit unterschiedlichsten Motivationen, Wünschen und Präferenzen beteiligt (vgl. Elster 2016), die diverse Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit verbunden mit entsprechend divergenten Emotionsrepertoires haben. Diese sozial interagierenden emotionalen Repertoires werden als sicherheitsstiftende Fakten des sozialen Lebens konstruiert. Emotionen, die sich in aufeinander bezogene Emotionsrepertoires verdichten (vgl. Bens/Zenker 2017; Scheidecker 2017, in diesem Band), sind integraler Bestandteil in verfassungsgebenden Prozessen. So sind Emotionen dynamische Prozesse, die maßgebend durch soziale und institutionelle Kontexte geprägt und geformt werden (Bandes/Blumenthal 2012: 171). Somit müssen Emotionen als Analysekategorie rechtspluralistischer Wirklichkeit zwingend unter Berücksichtigung der jeweiligen soziopolitischen Konstellationen der beteiligten Akteur*innen, der spezifischen Rahmenbedingungen, d.h. in ihren jeweiligen sozialen Praktiken und Normen untersucht werden. So werden Gerechtigkeitsgefühle durch Strategien der affektiv-emotionalen Bindung an bestimmte Rechtsrahmen institutionell erzeugt. Die Erzeugung von Gerechtigkeitsgefühlen im verfassungsgebenden Prozess steht zudem in einem engen Zusammenhang mit Versuchen, eine imaginierte Gemeinschaft (Anderson 1983: 49) von Bürger*innen, bzw. einer Gemeinschaft kollektiver Sorge und Zugehörigkeit zu erschaffen. Dabei findet das Erschaffenen einer Gemeinschaft mit eigenen moralischen Werten, Regeln und Vorstellungen von Fairness (Opotow 1990a; Hegtvedt/Scheuerman 2010: 340) stets in einem Spannungsfeld einer Heterogenität konkurrierender und teilweise überlappender normativer und moralischer Vorstellungen der Menschen statt. Die Konstruktion und der Erhalt einer spezifischen moralischen Gemeinschaft ist mit Inklusions- und Exklusionsdynamiken verbunden. Moralischen Exklusionsprozessen sind „Wir-und-die-Anderen“ Abgrenzungen von Inter-Gruppen-Verhalten inhärent, wobei moralische Ausgrenzung eine Rechtfertigungsgrundlage für Ungerechtigkeit, Stigmatisierung und auch Misshandlung von Individuen oder Gruppen außerhalb der konstruierten moralischen Gemeinschaft bietet (Hegtvedt/Scheuerman 2010: 340). Auch wenn die Grenzen der jeweiligen moral community grundsätzlich dynamisch und
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durchlässig sind, verhärten sich diese in Konflikt- und Krisensituationen, was wiederum eine Intensivierung von moralischer Exklusion zur Folge hat (Opotow 1990b). Auch im verfassungsgebenden Prozess werden diese Inklusions- und Exklusionsdynamiken sichtbar, insbesondere wenn Verfassungs- und Friedensprozesse in (Post-)Konfliktsituationen wie im Südsudan miteinander verwoben sind. So konkurrieren unterschiedliche moralische Empfindungen, wobei sich Gerechtigkeitsgefühle in Bezug auf ihr Referenzobjekt konstituieren (vgl. Bens/Zenker in diesem Band), also als Legitimität des Verfassungsprozesses und der Verfassung. Insofern ist die Bedeutung von „gefühlter“ Legitimität des Verfassungsprozesses für die Nachhaltigkeit eines produzierten „obersten Gesetzes des Landes“1 nicht zu unterschätzen, da die empirische Legitimation des Prozesses auch das Legitimitätsempfinden der Bürger*innen in dem Verfassungsprozess bzw. die spezifische oder diffuse Beteiligung dieser bei der Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens umfasst. Bei der Steuerung des Legitimitätsempfindens der Menschen spielt der Grad an sozialer und politischer Inklusion, d.h. einer Beteiligung an Entscheidungsprozessen eine entscheidende Rolle. Somit kann der Verfassungsprozess selbst als Emotionssteuerungsinstrument fungieren, wobei zur Erzeugung von „Wir-Gefühlen“ u.a. auch unterschiedlichste emotionalisierte Rhetorik zum Einsatz kommen. Bevor das Legitimitätsempfinden positionierter beteiligter politischer Akteur*innen des im Südsudan stattfindenden verfassungsgebenden Prozess im Zentrum dieser Analyse stehen wird, soll die generelle Bedeutung gefühlter Legitimität als Analysekategorie anhand des folgenden Beispiels verdeutlicht werden: Während einer der bisher wenigen öffentlich stattfindenden Debatten über den im jüngsten Land der internationalen Staatengemeinschaft seit 2011 andauernden verfassungsgebenden Prozess wurde beispielsweise im Rahmen einer an der Juba Universität stattgefundenen Vortragsreihe im Jahre 2013 eine von einem zivilgesellschaftlichen Vertreter getätigte Aussage: „My mother cannot come to Juba, she is waiting where she is, but she is waiting for you” (Juba Lecture Series 2013) öffentlich wirksam popularisiert. So trägt der veröffentlichte Veranstaltungsbericht zu dieser Verfassungsdebatte, herausgegeben von dem Mitveranstalter, einem bekannten britischen Think Tank, als Titel die Aussage „My mother will not come to Juba. South Sudanese debate the constitution“. Der Hintergrund der Titelseite zeigt ein Foto einer Massenveranstaltung (Unabhängigkeitstag) mit einer sichtbar platzierten überdimensionierten südsudanesischen Fahne (RVI 2013). So erscheint die getätigte Aussage zusammen mit den Hun-
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Art. 3(1) TCRSS.
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derten von Menschen auf der Titelseite als ein Symbol für unzureichende Partizipationsmöglichkeiten der südsudanesischen Bevölkerung am Verfassungsprozess. Die Rechtswirklichkeit in der Hauptstadt Juba seit der Erklärung der Unabhängigkeit zeigt, dass die Verhandlungen über eine Verfassung für den jungen Staat bisher in einer eher exklusiven Art und Weise erfolgt. Trotz immenser Bemühungen seitens zivilgesellschaftlicher Akteur*innen ist deren Einfluss auf den Prozess und Inhalt bisher nur marginal, wie noch gezeigt werden soll. Insofern spiegelt der oben genannte Ausspruch die Unzulänglichkeiten dieses in der Hauptstadt stattfindenden Elitenprozesses wider. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass im südsudanesischen Kontext die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im ländlichen Raum in (semi-)pastoralen oder landwirtschaftlichen Lebensweisen lebt. Somit bringt diese Bemerkung zum Ausdruck, dass der Souverän und Normadressat, symbolisiert durch die „Mutter“, sich nicht selbst am Prozess beteiligt sieht, sondern die Verfassung als Objekt beschreibt, die jenseits der eigenen Rechtswirklichkeit ist. Die „Mutter“ ist völlig losgelöst davon und kann sich nicht in Beziehung zu dem Geschehen in der Hauptstadt setzen. Allerdings bleibt ein linearer Rückschluss von Emotion auf eine bestimmte Einstellung, Haltung oder Meinung eines/einer Akteurs/Akteurin, ob diese Aussage eine mobilisierende, manipulative Absicht hatte, die Verwendung des Wortes „Mutter“ eine verstärkende, emotionale, nachvollziehbare Wirkung erzeugen sollte, oder lediglich ein Faktenschluss ist, ohne eine dichte Beschreibung der verschiedenen beteiligten Akteur*innen, ihrer sozialen Positionen, als auch der machtpolitischen Gegebenheiten, spekulativ. Was jedoch gezeigt werden soll, ist, dass der bisherige verfassungsgebende Prozess in Juba, trotz der propagierten umfassenden Beteiligung aller politischer Akteur*innen, eher losgelöst von den Bedürfnissen und Hoffnungen der südsudanesischen Bevölkerung ist. Diese Exklusionsdynamiken haben wiederum einen Einfluss auf das Legitimitätsempfinden der Menschen. Der verfassungsgebende Prozess seit der Unabhängigkeit offenbart, dass der politische Raum eine Verfassung auszuarbeiten, nicht nur durch südsudanesische politische Eliten selbst, sondern auch durch internationale Interessen stetig verengt wurde. So präsentieren auch im konfliktgebeutelten Südsudan zahlreiche konkurrierende internationale Akteur*innen ihre virtuellen Baukästen, gefüllt mit einem vorgefertigten Verfahren und partizipativen Modulen im Rahmen ihrer Sicherheits-, Friedens- und Rechtstaatlichkeitsförderprogramme. Südsudanesische Akteur*innen sollen diese mit Unterstützung bzw. unter internationaler Anleitung zu einer „permanenten“ Verfassung zusammensetzen. Dabei folgen internationale Interventionen selbst eigenen Logiken innerhalb des vorherr-
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schenden mikroökonomischen Paradigmas, wobei Verfassungstechnizität durch Bereitstellung von technischem Know-how zentrales Merkmal wird (Kendal 2013: 2-3). Internationale Akteur*innen erschaffen entsprechende Instrumente innerhalb der vorgefertigten Referenzrahmen. Diese entwickelten standardisierten Konzepte, Technologien und Managementtechniken versprechen lokale Partizipation und lokale Eigenverantwortung auf Planungs- und Implementierungsebenen. So beziehen internationale prozedurale Konzeptualisierungen von Verfassungsreformen inzwischen die vorherrschende rechtliche Pluralität und Konzepte von local ownership ein. Das umstrittene Konzept des ownership (vgl. Bargués-Pedreny 2015) betont den Umfang, in welchem lokale Akteur*innen sowohl die Planung als auch die Umsetzung politischer Prozesse steuern sollen: Local ownership bezieht sich sowohl auf die jeweilige nationale Regierung und ihre Institutionen als auch auf Formen der Bürgerbeteiligung (Sannerholm 2012: 121-2). So ist mittlerweile ein Ausdruck dieses partizipativeren pluralen Ansatzes (Grenfell 2013: 7), dass die Gruppe derer, die an die Verhandlungstische geladen werden, nicht mehr nur auf staatliche Akteur*innen beschränkt ist, sondern auch zivilgesellschaftliche, religiöse und sogenannte „traditionelle“ Akteur*innen einbezieht. Es stellt sich jedoch die Frage, wie die Idee der lokalen Eigenverantwortung in dem in der Entstehung befindlichen Staatsgebilde Südsudan innerhalb einer Projektlogik umgesetzt werden soll. Verengen die gutgemeinten internationalen Baukästen nicht eher den Raum, affektiv-emotionale Bindungen an eine staatliche Rechtsordnung bei den Normadressaten zu erzeugen, d.h. in deren Biographien einzuschreiben, die wiederum als Vehikel der Bildung einer moral community dienlich sind? Die von den internationalen Akteur*innen gesetzten normativen Rahmen und Verfahren sind selbst unter den südsudanesischen Akteur*innen umstritten. Allerdings nutzen einige dominante lokale politische Akteur*innen die internationale „technische“ Unterstützung und die bereits in der Übergangsverfassung 2011 erfolgte Festschreibung der Referenzrahmen zur eigenen Machtsicherung und Herstellung von Legitimität, wodurch die Idee von lokaler Eigenverantwortung zu einem Schlagwort verkommt. Dies wirft die Frage der öffentlichen Legitimität auf, da eine große Kluft zwischen der „wahrgenommenen“ Legitimität der beteiligten institutionellen politischen Akteur*innen und dem Legitimitätsempfinden der Bevölkerung (vertreten durch zivilgesellschaftliche Akteur*innen) sichtbar wird. Kann so eine „gefühlte“ Legitimität innerhalb der von den (inter)nationalen Akteur*innen vorgegebenen Verfahren der Verfassungsgebung überhaupt institutionell erzeugt werden? Bevor dieser Beitrag den Verfassungsprozess im Spannungsfeld vom Legitimitätsempfinden und der Idee, dass
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die Verfassung ihre Autorität vom Willen des Volkes ableitet untersucht, einige Vorbemerkungen zu dem Schauplatz Südsudan.
Mit überwältigender Mehrheit entschied sich die südsudanesische Bevölkerung im Januar 2011 für eine Abspaltung des Südens von der Republik Sudan. Die Möglichkeit einer Sezession als eine Folge eines Referendums war durch das Comprehensive Peace Agreement von 2005 (CPA), das den mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden Sudans beenden sollte, eingeräumt worden. Seit dem 9. Juli 2011 ist die Republik Südsudan unabhängig. Auf einstimmigen Beschluss der UN-Vollversammlung vom 13.07.2011 wurde der 54. afrikanische Staat als 193. Vollmitglied in die Vereinten Nationen aufgenommen.2 Derzeit werden die südsudanesischen staatlichen Prozesse überwiegend von der regierenden Partei, der Sudan People's Liberation Movement (SPLM), geleitet. Zuvor war die SPLA/M eine Konfliktpartei in dem Bürgerkrieg sowie neben der Regierung Sudans eine Vertragspartei des CPA. Die Bemühungen der staatlichen Akteur*innen, eine südsudanesische kollektive Identität zu schaffen, erschienen ursprünglich als Antwort auf den „Feind“ (die nordsudanesischen Eliten), der praktisch nicht mehr existiert. Dabei werden massive politische Exklusionsdynamiken sichtbar. So wie die derzeit herrschende politische südsudanesische Elite in der Vergangenheit ihr „angemessenes Stück Kuchen“ von der Regierung des Sudan einforderte, beanspruchen derzeit marginalisierte Akteur*innen den gleichen Anspruch auf Teilhabe von der Regierung des Südsudans. Um es mit den Worten einer Führungsfigur der AcholiGemeinschaft auszudrücken: „We have learnt governance from the North, we learnt all the tricks of dominating ‚others’ from the North. Thus, we have imported the problem of the old Sudan to South Sudan, but we need to find a way of break those dynamics, […] but unfortunately old habits die hard“ (Okeny Olak 2013). Dies hat zur Folge, dass ein Merkmal der Staatswerdung im Südsudan ist, dass politische und militärische Verhandlungen zwischen den unterschiedlichen Akteur*innen über Formen von Staatlichkeit auch über die formale Staatsgründung hinaus andauern. So ist der junge Staat auch sechs Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ein Schauplatz nicht nur politischer, sondern auch militärischer Verhandlungen unterschiedlichster Kräfte. Diese kosteten bisher
2
S/RES/1999 (2011).
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bereits „mehr als 50.000 Menschen das Leben, nahezu 200.000 Menschen flüchteten sich in die Camps der Blauhelmmission der Vereinten Nationen, nahezu zwei Drittel der Bevölkerung sind seitdem auf Nahrungsmittelhilfe von außen angewiesen“ (Weber 2016). Es begann als ein politischer Machtkampf innerhalb der regierenden SPLM, der sich in internen Streitigkeiten über die Verfassung äußerte. Im Dezember 2013 eskalierte der Konflikt und setzte eine anhaltende Gewaltspirale in Bewegung. In diesem Machtkampf wurden der Präsident Salva Kiir und dessen ehemaliger Vizepräsident Riek Machar zu Hauptgegnern, wobei sie allerdings nicht die einzigen Protagonisten im Lichte der fragmentierten militärischen Kräfte und Autoritätsstrukturen sind. Die vielfachen Bemühungen seitens der East African Community (EAC), der Intergovernmental Authority on Development (IGAD) sowie der internationalen Gemeinschaft, die kriegführenden Parteien zu einem Waffenstillstand und zu einer Bildung einer gemeinsamen Übergangsregierung der Nationalen Einheit (TGNU) zu bewegen, wurden wiederholt konterkariert. Auch das jüngste Waffenstillstandsabkommen wurde gebrochen trotz des unter externen Druck im August 2015 ausgehandelten und unterschriebenen Agreement on the Resolution of the Conflict in the Republic of South Sudan (ARCRSS). Dieses Abkommen modifiziert auch den bisher eingeschlagenen verfassungsgebenden Weg. Lokale Eigenverantwortung inklusive einer umfassenden Bürgerbeteiligung sollen künftig die Leitprinzipien für die Ausarbeitung einer „permanenten“ Verfassung werden.3 Die jüngsten politischen und militärischen Entwicklungen zeigen, dass sich diese Dynamiken derzeit auch in der jüngst formierten Übergangsregierung der Nationalen Einheit weiter fortsetzen. Fast zwei Jahre nach Unterzeichnung dieses Friedensvertrags stehen sich die Antagonist*innen weiterhin in bewaffneten Auseinandersetzungen gegenüber, wobei inzwischen „dem Friedensabkommen jede[r] Boden und letztendlich auch der Übergangsregierung die Legitimität entzogen [wurde]“ (Weber 2016). Diese gewaltsamen Dynamiken zeigen, dass die hochmilitarisierte segmentierte Gesellschaft des Südsudans mit ihren fragmentierten Autoritätsstrukturen kein solides Fundament bildet, aus dem ein sogenannter „Nationalstaat“ konstruiert werden kann. Die politischen und rechtlichen Wirklichkeiten seit 2011 zeigen, dass bisher kein gesellschaftlicher Konsens über nationale Werte, über eine normative Basis des Gemeinwesens oder politische Strukturen erreicht werden konnte. Dementsprechend dreht sich auch der verfassunggebende Prozess um den Aufbau von Souveränität und Legitimität in dem Versuch, territoriale Gren-
3
Vgl. Ch. VI ARCRSS 2015.
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zen zu kontrollieren, ein Inneres klar zu definieren und die Menschen davon zu überzeugen, dass dieses imaginäre Innere existiert. Dabei wird nicht nur der verfassungsgebende Prozess selbst, sondern auch bereits niedergeschriebenes Verfassungsrecht zu einem entscheidenden normativen Instrument, bzw. muss wieder einmal „als Waffe im politischen Kampf“ (Ghai 1972: 406) betrachtet werden. Vor dem Hintergrund dieser pluralen und segmentierten Bevölkerung mit den sehr unterschiedlichen Ideen über Recht und Gerechtigkeit, Autorität und Loyalität, die auch mit entsprechend divergenten Emotionsrepertoires in Bezug auf das rechtliche Feld verbunden sind, muss auch der verfassungsgebende Prozess analysiert werden. Im Folgenden soll nun dargestellt werden, welche Grenzen ein prozessualer Ansatz eines verfassungsgebenden Prozesses ohne Einbeziehung der Bevölkerung und deren unterschiedlicher Gerechtigkeitsgefühle hinsichtlich der Herstellung gefühlter Legitimität der Normadressat*innen hat.
Die andauernden eskalierenden politischen und militärischen Dynamiken verdeutlichen, dass weder die Schaffung der Übergangsverfassungen von 2005 und 2011 noch derzeitige Bemühungen um eine „permanente“ Verfassung staatliche Legitimität und die Identität des neuen Staates herstellen bzw. konsolidieren konnten. Jedoch nutzen die wenigen beteiligten politischen Akteur*innen den Verfassungsgebungsprozess zur Sicherung eigener Interessen, wobei die Übergangsverfassung von 2011 inzwischen zur Machterhaltung der Regierungselite instrumentalisiert worden ist, mit unvorhergesehenen Auswirkungen bezüglich der gesamten Regierungskonstellation. ! "! ! Unter dem Leitspruch give peace a chance wurde beispielsweise auf Initiative des Präsidenten Salva Kiir Mayadit im Jahre 2015 eine Änderung der Übergangsverfassung herbeigeführt, die nicht nur das Mandat der Verfassungskommission bis 2018 verlängert, sondern auch die Amtszeiten des Präsidenten selbst und des Parlamentes.4 Dieser politische Schachzug ermöglichte den Regierungs-
4
Vgl. TCRSS 2011 Amendment Act 2015.
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akteur*innen, sich nicht nur Zeit zu erkaufen, sondern auch den Status quo zu sichern, um die politische Krisensituation zu eigenen Gunsten mittels mobilisierender Friedensrhetorik zu stabilisieren. Das Erschaffen von Legitimität bzw. die Begründung dieses politischen Schrittes erfolgte über die Verwendung des Slogans der Frieden als Ziel hat und damit einhergehender inhärenter Sicherheitsund Stabilitätserwartungen. Diese dichotomische Verwendung einer Krieg-undFrieden Rhetorik kann sehr wirkmächtig sein, da sie an biographisch gewaltsame Konflikterfahrungen anschließt, noch kürzlich erlebte Gefühle evoziert sowie aktuelle Verfassungsfragen rekontextualisiert werden. Die in diesem Zusammenhang wiederholt öffentlich genutzte Friedensrhetorik appelliert an die Hoffnung auf Stabilität, Sicherheit und Zukunft und kann als ein strategischer Versuch gesehen werden, eine affektiv-emotionale Bindung an die verfassungsrechtliche Ordnung, die Fairness, Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit verspricht, institutionell zu erzeugen. Dabei steht die Wirkmächtigkeit der Bindung an die verfassungsrechtliche Ordnung in einem engen Zusammenhang mit der spezifischen Zusammensetzung der moral community. Mit Hilfe dieser Friedensrhetorik konnte somit im psychologischen Umkehrschluss jegliche Kritik an dieser Verlängerungsmaßnahme in Krieg, Unsicherheit, Instabilität und Ungerechtigkeit transformiert werden. Die entsprechende Parlamentsdebatte zu dieser Verfassungsänderung zeigt, dass Parlamentsmitglieder, die diese Verfassungsänderung als nicht verfassungsgemäß kritisierten, als Kriegstreibende gebrandmarkt wurden (NLA 2011). Diese wirkmächtige KriegFrieden-Rhetorik manifestierte sich im Anschluss nach außen über die lokalen Mediendiskurse. Bevor und nachdem das Parlament letztlich mit überwiegender Mehrheit die Verfassungsänderung verabschiedete, konnte man in der lokalen Presse die von oppositionellen Kräften auch bereits während der Parliamentsdebatte vorgebrachten Einwände lesen: „It is very unfortunate that the parliament has passed the lifespan of itself and that of the President. In fact that is unconstitutional… without proper consultations with opposition political parties, civil society organisations and faith-based groups.“ 5 Regierungsvertreter*innen rea-
5
Eye Radio (24.03.2015): Parliament adds 3 years to gov’t term. Online abrufbar: http://www.eyeradio.org/parliament-adds-3-years-govt-term/; Sudan Tribune (24.03. 2015): S. Sudanese MPs extend president Kiir’s term until 2018. Online abrufbar: http://www.sudantribune.com/spip.php?article54378; National Legislative Assembly, Emergency Session 2015: Presentation of the Report of the National Legislature Committee of the Legislation and Legal Affairs, on the Transitional Constitution of South Sudan, 2011 (Amendment) Bill 2015 in its second reading stage by Hon.
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gierten darauf erneut mit dem bereits während der Parlamentsdebatte erfolgreichen Friedens-Mantra. So stilisierten Regierungssprecher beispielsweise dieses politische Manöver in der lokalen Presse zu einem großen Erfolg: „This is what the government has been saying, that we give peace a chance“ … oder „the government decided not run the elections but to amend the constitution so that peace is given a chance and the extension will enable the country to organise the national census, draw its constituency borders and organise elections.“6 Die Verlängerung der Amtszeit gab der Regierung mehr Verhandlungsspielraum und de jure Legitimität, ihre eigenen Interessen in den Friedensverhandlungen mit den Oppositionsparteien zu navigieren. Letztendlich konnte dies geschehen, da trotz unbeantworteter Kernfragen hinsichtlich Regierungsstruktur, Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung deren Festschreibung unter Verwendung entsprechender Module aus den internationalen Baukästen in den Übergangsverfassungen stattfand. Einige lokale politische Akteur*innen adaptierten bereits 2011 die gut gemeinten partizipativen internationalen Module, beispielsweise in Form der exzessiven Rechte des Staatspräsidenten.7 Von diesen in der Übergangsverfassung 2011 verbrieften exzessiven Rechten hat der Präsident auch bereits umfassend Gebrauch gemacht. Dazu gehörte die zweifache Absetzung des Vizepräsidenten, der Austausch der Minister und gewählter Gouverneure der Bundesstaaten, Absetzung von Länderparlamenten etc. (Seidel/Sureau 2015). Anstatt die bereits existierenden Spannungen innerhalb der regierenden Partei Sudan People's Liberation Movement (SPLM) abzubauen und zu versöhnen, führten diese Regierungsumbildungsdynamiken seit 2013 zu einer Intensivierung dieser Spannungen und zu militärischen Auseinandersetzungen. Ein Informant formulierte bereits Mitte 2013 treffend: „These dynamics might become unpredictable at the moment when military options become more promising for reaching political goals“ (Kikfzos, 23.04.2013). Der verfassungsgebende Prozess wurde bereits im Jahre 2011 durch eine vom Präsidenten selbst ernannte Technische Verfassungskommission, die die Übergangsverfassung ausarbeiten sollte, kontrolliert. Die Kommission bestand zu zwei Dritteln aus Mitgliedern der regierenden Partei SPLM. Diese absolute Mehrheit war für die Konsensproduktion laut der internen Verfahrensregeln der Technischen Verfassungskommission nötig.8 Diese Verfahrensregeln basierten
Dengtiel A. Kuur, Chairperson of the Committee, Sitting No. 2/2015, 24.03.2015, Unveröffentliche Aufnahmen [recordings provided to the author by NLA], Juba. 6
Fn. 5.
7
Art. 101(r) TCRSS.
8
Art. 10(1) NCRC Internal Rules of Procedure 2012; Technical Committee 2011.
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wiederum auf einer Vorlage, die von internationalen Akteur*innen entworfen wurde. Sicherlich ist die Art und Weise, wie die Übergangsverfassung entworfen wurde, auch dem hohen (internationalen) politischen Druck und Zeitdruck geschuldet, da das Verfassungsdokument mit Südsudans Unabhängigkeitserklärung am 9. Juli 2011 in Kraft treten sollte. Um zu gewährleisten, dass das Dokument als vorläufiger normative Rahmen für den neuen Staat dienen konnte, nahm das Parlament nur drei Tage vor der Unabhängigkeitserklärung die Übergangsverfassung mit überwiegender Mehrheit an. Während der siebenstündigen emotionsgeladenen Parlamentsdebatte beschwerten sich bereits viele Mitglieder des Parlaments sowohl über eine Vielzahl ungelöster Grundsatzfragen wie Regierungssystem, Verteilungen von staatlichen Funktionen, Bundes- und Landesbefugnisse usw., die bereits festgeschrieben werden sollten, als auch über die Hast, mit der der Verfassungsentwurf hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde. Der Entwurf der Übergangsverfassung wurde polemisch als „SPLM Verfassung“ bezeichnet (NLA 2011). Kritische Abgeordnete wurden als der Unabhängigkeit entgegenstehend gebrandmarkt und emotional bedrängt sowie mit der Zusage beruhigt, dass eine uneingeschränkte Teilhabe und umfassende Debatte aller strittigen Fragen durch die Verfassungskommission und anschließend von der nationalen Verfassungskonferenz gewährleistet werden würde.9 Wie bereits erwähnt, verhandeln die südsudanesischen Akteur*innen innerhalb der von internationalen Akteur*innen gesetzten normativen Rahmen, deren Einhaltung auch von ihnen begleitet wird. Die internationale technische Unterstützung erfolgte und erfolgt weiterhin nicht nur durch einzelne Expert*innen im vergleichenden Verfassungsrecht, sondern auch durch diverse internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen (VN), U.S. Agency for International Development (USAID), Department for International Development (DFID), International Development Law Organisation (IDLO) oder SwissPeace. Darüber hinaus agieren private Firmen und transnationale Rechtskanzleien wie Public International Law & Policy Group (PILPG) auch im südsudanesischen Kontext. Um die Konkurrenz zu begrenzen, ist bemerkenswert, dass die Unterstützung von IDLO, VN und PILPG explizit in einem Präsidentenerlass festgeschrieben wurde.10
9
A National Constitutional Conference is to deliberate on the NCRC draft. Subsequently, „the President shall deliberate and adopt„ (Art. 203 TCRSS).
10 Art. 14(7) RSS/PD/J/02/2012.
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Der Verfassungsprozess ist nicht nur durch internationale Richtlinien und Vorlagen vorformuliert und gestaltet, sondern auch durch Projektrecht. Diese standardisierten Konzepte, Technologien und Managementtechniken auf Planungs- und Implementierungsebenen (Weilenmann 2009) sollen Orientierung geben, damit das Gesamtvorhaben gemeinsam durch die Beteiligten realisiert werden kann. Allerdings wird durch diese Verfahrenstechniken eine unproblematische Realität der Fakten und Daten suggeriert (Rottenburg 2009: 140). So wird das Dilemma einer beherrschbaren Projektplanung und -durchführung sichtbar: Auch die gewissenhafteste Planung inklusive starker Annahmen über die Zukunft können weder die Realität abbilden noch die Zukunft vorwegnehmen. Eine zu enge Planung verhindert eher die Einbeziehung der relationalen Prozessdynamiken und erscheint zu statisch, um auf deren Effekte zu reagieren. Somit bergen diese Verfahrenstechnologien auch gewaltige Herausforderungen hinsichtlich der Frage der „gefühlten“ Legitimität des Verfassungsprozesses in sich. Der Prozess selbst bzw. das Projektdesign folgt hinsichtlich der Struktur dem Muster eines viergliedrigen Verfassungsprozesses entsprechend internationaler Standards. Die Richtlinie der Vereinten Nationen zur Unterstützung von verfassungsgebenden Prozessen aus dem Jahre 2009 sowie eine dazugehörige Vorlage eines Modellprozesses (Ki-moon 2009) geben diesen Standard wieder: Entwerfen, Konsultieren, Deliberieren, Annehmen und Ratifizieren. Dementsprechend beginnt der „permanente“ Verfassungsgebungsprozess mit der Errichtung einer Verfassungskommission. Die 2012 vom Präsidenten eingesetzte Kommission, deren 54 Mitglieder erneut mehrheitlich aus Mitgliedern der SPLM besteht,11 zeigte wenige Charakteristika eines in der Übergangsverfassung intendierten inklusiven Gremiums zur Ausarbeitung der Verfassung.12 Im Anschluss an den von der Verfassungskommission ausgearbeiteten Entwurf, sollte eine Verfassungskonferenz, bestehend aus unterschiedlichen institutionellen Akteur* innen,13 über den Verfassungsentwurf beraten und diesen annehmen. Alsdann sollten die Ergebnisse der Konferenz dem Parlament zur Annahme vorgelegt und abschließend vom Präsidenten ratifiziert werden. Trotz guter Intentionen scheint diese Vorgehensweise eine von der Bevölkerung mitbestimmte Verfassung eher zu erschweren, da die südsudanesischen Regierungsakteur*innen aufgrund der
11 RSS/PD/J/03/2012, RSS/PD/J/36/2012. 12 Art. 202(5) TCRSS. 13 Die Verfassungskonferenz soll umfassen: „delegates representing political parties, civil society organizations, women organizations, youth organizations, faith-based organizations, people with special needs, traditional leaders, etc.“, Art. 203(1) TRCSS.
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derzeitigen politischen Konstellationen letztlich lediglich untereinander debattieren. So haben zivilgesellschaftliche Akteur*innen bereits kritisch kommentiert, dass am Ende wohl wieder die Politiker*innen im durch die SPLM dominierten Parlament, das zur Hälfte mit vom Präsidenten selbst ernannten Vertreter*innen besetzt ist, über den Inhalt der Verfassung entscheiden werden – und zwar unabhängig vom Beitrag der Verfassungskonferenz (Yakani, 10.06.2015). So haben inzwischen südsudanesische politische Akteur*innen begonnen, die Zweckdienlichkeit der internationalen Technologien zu hinterfragen, da die Modelle und Werkzeuge die sich ständig wandelnden Dynamiken des Staatswerdungsprozesses zu wenig einbeziehen. So reflektierte beispielsweise der inzwischen leider verstorbene Vorsitzende der Verfassungskommission nach drei Jahren Verfassungsprozess: „the constitution making is not a switch on switch off operation, it is not a project“ (Tier, 26.05.2015). Er antizipiert eine mangelnde Legitimität eines so produzierten Dokumentes, da die derzeitigen Produktionsversuche der proklamierten Idee eine von der Bevölkerung mitbestimmte Verfassung zu schaffen entgegenstehe. Auch wenn er noch 2013 auf der oben erwähnten öffentlichen Verfassungsdebatte an der Juba Universität argumentierte, dass die Verfassung letztlich eine Vereinbarung zwischen den politischen Parteien sei, verfasst von Rechtsexpert*innen mit Unterstützung der internationalen Expertise (RVI 2013; Tier 2013; 2015), betonte Akolda M. Tier (NCRC 2015) im Mai 2015 die Wichtigkeit der Bürgerbeteiligung und ersuchte eine Verlängerung des Mandats der Verfassungskommission im Lichte des bisher wenig erfolgreichen Prozesses: „The constitutional making process could be a real basis and catalyst for a durable peace in the country; Acknowledging the need for the people of South Sudan to be given the opportunity in determining their socio-economic and political destiny through nationwide civic education, we strongly recommend that the mandate of the commission be extended for a period not less than three years subject for review when a permanent peace is realised in the country.“
Auch sah der ehemalige Vorsitzende das Potential des verfassungsgebenden Prozesses als nachhaltiges Befriedungsinstrument unter der Voraussetzung, dass die Bürger*innen durch eine umfassende Einbeziehung in den Verfassungsprozess ihr Schicksal selbst bestimmen könnten. In Anbetracht der bereits zweimaligen Verlängerung des Verfassungsprozesses, derzeit bis 2018, war die avisierte Zeitplanung offensichtlich überambitioniert.14 Insgesamt zeigte die bisherige
14 TCRSS 2011 Amendment Act 2015.
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Zeitplanung genau die oben genannte Schwäche des Projektdenkens. Der Prozess wurde zeitlich zu eng innerhalb der Projektlogik sequenziert, durch die eine hohe Kontrolle, Planbarkeit und Abgeschlossenheit suggeriert wird, die es in der Realität eines Verfassungsprozesses nicht gibt und noch weniger in einem Kontext, in dem die Verfassungsschreibung ein Bestandteil des Staatswerdungsprozesses ist. Basierend auf der VN-Richtlinie von 2009 wurden der Verfassungskommission von den internationalen Akteur*innen weitere Projektinstrumente wie Aktivitätspläne zur Verfügung gestellt, um eine Verfassung in einer „angemessenen“ Art und Weise zu erarbeiten. Dabei suggerieren diese Projektmanagementwerkzeuge und entsprechende Terminologien messbare Ergebnisse und einen eher linearen, nicht besonders interaktiven Prozess. So ist das Konzept des ownership beispielsweise in einem ausgearbeiteten Aktivitätsplan der Verfassungskommission von 2013/14 integriert. Hinsichtlich des „national ownership“ wurden „zuständige Akteur*innen“ (Verfassungskommission) und „Durchführungsakteur*innen“ (internationale Partner) definiert. Allerdings sind es die internationalen Akteur*innen, die für formale und strategische Kernaktivitäten wie „creating public submission data bases, […] providing thematic research, recruiting experts for research on South Sudan“, etc. verantwortlich sind. Basierend auf der VN-Richtlinie und der Übergangsverfassung15 wies der Aktivitätsplan der Verfassungskommission auch bestimmte partizipative Komponenten auf. Der Plan sah Kampagnen für „staatsbürgerliche Erziehung“ und „öffentliche Konsultation“ von sechs Monaten vor. Aufgrund des mit der andauernden politischen Krise verbundenen Mangels an Ressourcen sowie der Sicherheitsrisiken (Constitutionnet 2014) mussten die bisherigen Bemühungen einer Bürgerbeteiligung vorerst eingestellt werden. Allerdings war die nur marginale Implementierung des Zeitplans nicht nur dem Mangel an Ressourcen, sondern auch dem Mangel an politischem Willen geschuldet, wie Informant*innen kritisch bemerkten (Lorna, 15.05.2015; Aciek, 14.04.2013; Yakani, 10.06.2015). Zudem hat es die Sicherheitslage aufgrund der seit 2013 andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen der Verfassungskommission unmöglich gemacht, am Zeitplan festzuhalten. So bleibt weiter abzuwarten, ob die Einbeziehung der Bevölkerung über eine ausschließliche Informationskampagne zum Verfassungsprozess hinausgeht. Generell wird bereits ein konzeptionelles Dilemma sichtbar: Wie soll mit Ideen von Bürgerbeteiligung umgegangen werden, wenn gleichzeitig der überzeugenden Logik des objektivierten Verfahrens mit seinen Projekt-
15 „Die Verfassung soll seine Autorität aus dem Willen des Volkes ableiten„, Art. 3(1) TCRSS.
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managementwerkzeugen gefolgt wird? Der Zeitplan war nicht flexibel genug für die Integration von Ideen, die sich u.U. während des öffentlichen Konsultationsprozesses ergeben hätten. Somit vernachlässigt der bisherige Prozess lokale soziale Praktiken und Normen und scheint eher losgelöst von den Bedürfnissen und Emotionen der Menschen stattzufinden. Die vorformulierten Module aus den internationalen Baukästen vernachlässigen die Integration von rechtlichen Vorstellungen, Interessen und Rechtsgefühlen der segmentierten pluralistischen südsudanesischen Bevölkerung. Allerdings erscheint ohne eine Verknüpfung mit den kulturell eingebetteten Emotionsrepertoires der Menschen im Südsudan nicht nur die proklamierte Idee, dass die Verfassung ihre Autorität aus dem Willen des Volkes ableitet nur schwer umsetzbar, sondern erschwert die legitimierende Funktion eines so produzierten Rechtsdokuments.
Bei einer Fahrt oder einem Spaziergang durch die Hauptstadt Juba im Jahr 2013 sieht man an den Rändern der wenigen asphaltierten Hauptstraßen große Plakate mit der Aufschrift: „And now our Constitution - let us shape our destiny - be part of the process“ an den Straßenmasten und wenigen Straßenlaternen aufgehängt. Die Plakate an den Ausfahrtstraßen sind nicht nur sichtbar für Menschen, die in die Hauptstadt kommen oder diese verlassen, sondern auch an einer der Hauptstraßen, die in das Regierungsviertel führt. Insofern sind sie auch zwangsläufig allen politischen Akteur*innen als tägliche ausdrückliche Erinnerung und Handlungsaufforderung sichtbar. Diese Bekanntmachungen waren Teil einer größeren zivilgesellschaftlichen Kampagne. Bereits ein paar Monate nach der Unabhängigkeitserklärung initiierte ein Dachverband von etwa 200 südsudanesischen zivilgesellschaftlichen Organisationen parallel zum offiziellen Verfassungsprozess eine eigene Kampagne unter dem Schlagwort „Towards the Constitution of Zol Meskin [common people]„. Diese Kampagne thematisierte die bisherige Abwesenheit einer öffentlichen Debatte über die zentralen Fragen der künftigen Verfassung. Die Produktion des zukünftigen obersten Gesetzes des Landes erschien in den Händen weniger Akteur*innen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu erfolgen. Insofern wurde sowohl die Produktion der Übergangsverfassung von 2011 als auch der derzeitige Prozess von der Öffentlichkeit von Anfang an mit gemischten Gefühlen aufgenommen und deren Legitimität angezweifelt. Die mangelnde „gefühlte“ Legitimität des Verfassungsprozesses brachte die bislang
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wenig involvierten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammen. Antizipierend, dass die Ausarbeitung einer „permanenten“ Verfassung erneut in einer eher exklusiven Weise ähnlich der Ausarbeitung der Übergangsverfassung durchgeführt werden würde, errichten zivilgesellschaftliche Akteur*innen ihre eigenen Verhandlungsforen in der Hoffnung, dass deren Ideen und Interessen in den offiziellen Verfassungsprozess zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen werden. So wurden etwa 1200 Bürger*innen in den verschieden Regionen Südsudans über Fokusgruppen (d.h. Vertreter*innen der traditionellen und religiösen Autoritäten, Frauen- und Jugendvereinigungen, Mitglieder regionaler Parlamente und lokaler Verwaltungen, etc.) einbezogen. Die Ergebnisse wurden im Rahmen eines Bürgerplenums zur Validierung vorgelegt und anschließend an die Verfassungskommission weitergeleitet (Yakani, 10.06.2015). Die Aufforderung „Let us shape our destiny“ offenbart Enthusiasmus und erinnert, dass eine Verfassung nur identitätsstiftend sein kann, wenn sie Werte für öffentliche Identifikation bereitstellt. Trotz all der Bemühungen der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen scheinen die Ideen bisher nur sehr bedingt Eingang in den offiziellen verfassungsgebenden Prozess zu finden. Die Enttäuschung und Frustration darüber wurden bereits 2013 auf der oben erwähnten öffentlichen Vorlesungsreihe zum verfassungsgebenden Prozess an der Juba Universität deutlich. Die Mehrheit der Teilnehmenden kritisierte den generellen Mangel an politischem Willen und die technokratische Einstellung der Verfassungskommission, eine Verfassung „für“ anstatt „mit“ dem Volk zu schreiben16. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen argumentierten, auch der Ausarbeitungsprozess „has to include all the people and [has to] be done in public; it should not be ‘decided by one political party“17. Während der öffentlichen Veranstaltung zeigten ausgeschlossene zivilgesellschaftliche Akteur*innen starke Gefühle der Ablehnung hinsichtlich der mangelnden öffentliche Partizipation und der völligen Losgelöstheit von der Bevölkerung. Dabei nutzen die beteiligten Akteur*innen unterschiedlichste Emotionsrepertoires, um ihrer Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Nicht nur der Ausdruck „Zol Meskin“ [common people], sondern auch die Verwendung von starken Metaphern wie
16 Tier, Juba Lecture Series 2013 on „Building the constitution in South Sudan”, University of Juba, Juba, 6 March 2013 [recoding provided to K. Seidel by Rift Valley Institute]. 17 Adigo, Juba Lecture Series 2013 on „Building the constitution in South Sudan”, University of Juba, Juba, 6 March 2013 [recoding provided to K. Seidel by Rift Valley Institute].
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„My mother will not come to Juba; she is waiting where she is - but she is waiting for you“ sind Ausdruck dieser Enttäuschung.
Der südsudanesische Verfassungsprozess verdeutlicht die Grenzen des prozessualen Ansatzes, der von internationalen Akteur*innen über die Idee des local ownership gefördert werden soll. Letztlich verhandeln südsudanesische Akteur*innen in den institutionalisierten Foren innerhalb der gesetzten normativen Rahmen und Verfahren der internationalen Akteur*innen. Lokale Verantwortung für den Prozess scheint eher ein Ausdruck des Endergebnisses zu sein, d.h. soll dem Endprodukt Legitimation verleihen. Während des implementierten tatsächlichen Prozesses wird ownership durch Vorstellungen von geteiltem ownership verkürzt, bzw. einfach durch externe Überwachung ersetzt. Ohne wirkliche lokale Einbettung von Verfahrensregeln verkünden (inter)nationale Akteur*innen Ideen der lokalen Eigenverantwortung, um dem Prozess Legitimität zu verleihen. Zudem erfolgen die Prozesse ohne Einbeziehung der unterschiedlichsten Gerechtigkeitsgefühle. Auch hat die Rationalisierung des Verfassungsprozesses durch Projektrecht nicht die gewünschten Effekte. Zwar werden die Instrumente und Module entsprechend der lokalen Gegebenheiten angepasst, verändert und durch die beteiligten südsudanesischen Eliten am Verfassungsprozess lokalisiert, allerdings findet keine Übersetzung zum Souverän und Adressat*innen der Verfassung, zu der Bevölkerung statt. Exklusionsdynamiken einschließlich der mangelnden Beteiligung der Bürger*innen bei der Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens haben Auswirkungen auf das Legitimitätsempfinden dieser in dem Verfassungsprozess. Insofern kann man sagen, dass diese standardisierten Konzepte, Technologien und Managementtechniken auf Planungs- und Implementierungsebenen letztlich den südsudanesischen Verfassungsprozess in einer Weise einschränken, die die Integration von Emotionen und Interessen, die aus der segmentierten pluralistischen Gesellschaft hervorgehen, beeinträchtigt. Aufgrund dieser Abgegrenztheit erscheint es nur schwer vorstellbar, wie über den Verfassungsprozess selbst „gefühlte“ Legitimität erzeugt werden kann. Südsudanesische zivilgesellschaftliche Akteur*innen mit Hilfe internationaler Akteur*innen versuchen eine Brücke zwischen mangelnder gefühlter Legitimität und dem verfassungsgebenden Prozess zu bauen. Beispiele sind nicht nur deren zahlreiche Versuche, Gehör und Einfluss an den offiziellen Verhandlungstischen zu gewinnen, sondern auch symbolische Aktivitäten. Ein Beispiel sind
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die Kampagnen der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen mit ihren Plakaten, die nicht nur auf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufmerksam machen, sondern auch Bewusstsein für einen partizipativeren Prozess schaffen wollen. Der Slogan „lets shape our destiny–be part of the process“ erscheint inhaltslos und bleibt wahrscheinlich lediglich situativ emotional, ähnlich des Gefühls eines Autofahrenden, der an einem Werbeplakat vorbeifährt. Die Mittel der zivilgesellschaftlichen Akteur*innen für die Kampagne Towards a Constitution of Zol Meskin, die für mehr Bewusstsein für einen partizipatorischeren Prozess werben will, sind freilich begrenzt; auch die erlebbare Beteiligung am Prozess könnte nur temporär sein. Die gegenwärtige politische Krise scheint zumindest einige beteiligte politische Akteur*innen zum Umdenken zu bewegen. Der ehemalige Vorsitzende der Verfassungskommission bemerkte Mitte 2015, dass das gesamte verfassungsgebende Unterfangen inklusive des bisherigen Verfassungsprozessdesigns überdacht werden müsse. Angesichts der derzeitigen politischen Dynamiken wünschte er, man hätte sich auf einer Verfassungskonferenz über die konstituierenden Blöcke der Verfassung bereits vor der Errichtung der Verfassungskommission verständigen können (Tier, 26.05.2015). Die derzeit laufenden politischen und militärischen Neuverhandlungen erfordern den Verfassungsprozess völlig neu zu gestalten. Dabei müssen die nicht zu unterschätzenden Wechselbeziehungen zwischen Verfassungsreformen und Konfliktdynamiken einbezogen werden: „Conflicts leads to constitutional reform process that in turn leads to another conflict because the process and outcome of the constitutional reform is perceived by many to be exclusive“ (Miamingi 2016). Das Friedenabkommen von 2015 sieht eine entsprechende Modifizierung hin zu einem partizipierenden inklusiveren Prozess vor, der sich bereits in der Aufstellung einer neuen Verfassungskommission widerspiegeln soll (vgl. Ch.VI ARCRSS 2015). Angesichts der noch immer andauenden militärischen Verhandlungen bei gleichzeitiger Ausrufung eines „nationalen Dialoges“ (Kiir 2016) bleibt abzuwarten, ob das ARCRSS eine reale Chance erhält implementiert zu werden. Allerdings wirft der seit 2011 eingeschlagene Weg auch die generelle Frage auf, ob die bisherigen Instrumente nicht eher generell ein Hindernis bei der Suche nach Rechtssicherheit, Stabilität und Frieden sind (Seidel/Sureau 2015). Die bestehende Spannung zwischen local ownership und externen Interventionen kann produktiv sein, da sie einen Verhandlungsraum bezüglich unterschiedlicher rechtlicher Vorstellungen eröffnet. Dies kann auch dazu beitragen, bestehende Exklusions- und Inklusionsdynamiken neu zu definieren, nicht zuletzt, da viele lokale Rechtstaatlichkeitsansätze nicht sehr partizipativ jenseits der jeweiligen
ZOL MESKIN 209
politischen Eliten sind. Um jedoch zu vermeiden, dass diese Spannungen aufgrund aufgezwungener Unterstützung unverhandelbar werden und lediglich dazu führen, dass externe Modelle entlang interner Machtverhältnisse abgelehnt oder manipuliert werden, muss der Prozess in einer offenen Art und Weise von den lokalen Akteur*innen selbst gestaltet werden. Nur ein lokal-basiertes Vorgehen kann berücksichtigen, dass auch die Suche nach einer „permanenten“ Verfassung durch spezifische plurale Akteurskonstellationen und Praktiken strukturiert wird, und dadurch kontinuierlich durch Verhandlungen transformiert wird. Insofern verdeutlicht der oben dargestellte Prozess, dass die Versuche, Interims- und Übergangsregelungen lediglich durch Änderungen und Adaptionen bestehender Konzepte direkt in ein oberstes Staatsgesetz zu überführen, ohne vorher einen Konsens der lokalen Akteur*innen bezüglich der grundlegenden Staatsstrukturprinzipien und -ziele zumindest in Ansätzen herzustellen, fehlgeleitet ist. Die gefühlte legitimierende Funktion eines so produzierten Rechtsdokuments kann kaum gegeben sein. Somit erschwert bzw. verunmöglicht der Mangel an politscher Partizipation am Verfassungsprozess die Herausbildung von Gerechtigkeitsgefühlen. Der gewählte prozessuale Ansatz der internationalen Baukästen scheint nicht geeignet für die Erschaffung von gefühlter Legitimität zu sein. Eine Beteiligung der südsudanesischen Bevölkerung innerhalb der bisherigen Konzepte der civic education (Wissen und Rechte) erscheint eher losgelöst von deren Bedürfnissen und Gefühlen. Eine Einbeziehung, die nicht über eine ausschließliche Informationskampagne zum Eliten-Verfassungsprozess hinausgeht, kann schwerlich empirische Legitimität des Prozesses und die Herausbildung der Herstellung der gefühlten Legitimität erzeugen. Diese Grenzen eines Verfahrensgerechtigkeitsansatzes legen dementsprechend nahe, den zweckrationalisierten Fokus unter Einbeziehung von Affekten und Emotionen entscheidend zu erweitern (vgl. Bens in diesem Band). Erst die aktive Einbeziehung der pluralen Rechtswirklichkeit inklusive einer umfassenden Partizipation der Bürger*innen in dem Entscheidungsprozess hat eine Chance, nachhaltig Legitimität zu erzeugen.
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J ONAS B ENS
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Wir befinden uns in einem Dorf im ländlichen Uganda und haben in einem geräumigen Dorfsaal Platz genommen. Vier Bewohner*innen sind einverstanden, mit mir über den Strafprozess gegen Dominic Ongwen zu sprechen, der in wenigen Wochen am Sitz des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag in den Niederlanden beginnen soll. The Prosecutor v Dominic Ongwen ist der erste Prozess, den die Anklage als Ergebnis ihrer Ermittlungen zu Straftaten im bewaffneten Konflikt zwischen der Lord’s Resistance Army (LRA) und der ugandischen Regierung durchführt. Dominic Ongwen, ein ehemaliger Brigadekommandeur der LRA, ist angeklagt, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben. Ihm wird vorgeworfen, in den Jahren 2003 und 2004 hätten Kämpfer*innen unter seinem Kommando systematisch Lager für Binnenvertriebene, sogenannte IDP-Camps,2 angegriffen und die zivilen Bewohner*innen massakriert. Bereits im Jahre 2005 erließ der IStGH Haftbefehl gegen Ongwen und vier weitere LRA Kommandeure – unter ihnen der berüchtigte Anführer der LRA, Joseph Kony. Allerdings dauerte es fast zehn Jahre, bis Ongwen in der Zentralafrikanischen Republik in die Gefangenschaft von Seleka Rebellen geriet und in der Folge an den Gerichtshof ausgeliefert wurde.
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Für Anregungen und Kommentare zu einer früheren Version dieses Aufsatzes danke ich besonders Olaf Zenker, Lioba Lenhart, Adam Branch, Gabriel Scheidecker, Ute Luig, Anne Wermbter, und den Teilnehmer*innen der Political and Legal Anthropology Seminar Series an der Freien Universität Berlin.
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IDP steht für Internally Displaced Person.
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Dominik Ongwens Fall ist paradigmatisch für Vielschichtigkeit des Ugandischen Bürgerkrieges, der von 1987 bis 2006 zwischen der Lord’s Resistance Army und der Ugandischen Regierung stattgefunden hat. Dominic Ongwen wurde in seiner frühen Jugend, im Alter zwischen 13 und 15 Jahren von der LRA entführt und als Kindersoldat in ihre Ränge eingegliedert. Im Laufe der Jahre durchlief er die Ränge der LRA und stieg zu einem der höchsten Kommandeure auf. Das Verfahren selbst ist daher stark auf die persönliche Schuld des Angeklagten fokussiert, ist dieser doch was Erin Baines (2009) einen „complex political perpetrator“ genannt hat. Damit steht Ongwens Biographie stellvertretend für viele die Opfer und Täter*in zugleich sind. Die Gemeinde, die ich heute besuche, lebte vor zehn Jahren in einem der IDP-Camps, die im Zuge des Konflikts Orte von Massakern wurden. In der Hochphase der bewaffneten Auseinandersetzung in den frühen 2000er Jahren waren etwa eineinhalb Millionen Menschen in Norduganda gezwungen, in IDPCamps umzusiedeln. 2004 griffen Kämpfer der LRA unter der Führung von Dominic Ongwen das Camp an und plünderten es. Dabei wurden Dutzende von Zivilist*innen getötet oder entführt – darunter viele Jungen und Mädchen, die als Kindersoldat*innen in die Ränge der LRA zwangsrekrutiert, oder an Offiziere der Rebellenarmee zwangsverheiratet wurden. Die vier Dorfbewohner*innen, mit denen ich heute spreche, engagieren sich in der Organisation eines Gedenktages für das Massaker von 2004, der in etwa zwei Wochen stattfinden soll. Ich stelle ihnen Fragen über Ongwen und über den IStGH, weil ich von ihnen wissen möchte, ob sie den Gerichtshof für eine legitime Institution halten, und ob sie den Prozess gegen den ehemaligen LRA-Kommandeure gutheißen. Sie antworten mir, dass sie den Prozess befürworten, dass es in der Gemeinde ein Bedürfnis für „Gerechtigkeit“ gebe, und dass der IStGH vielleicht in der Lage sei, diese Gerechtigkeit herzustellen. Das Ongwen-Verfahren ist die jüngste einer langen Reihe von internationalen Interventionen in Norduganda, die im Nachgang des bewaffneten Konflikts „Übergangsgerechtigkeit“, Transitional Justice, schaffen sollte. Diese Transitional Justice Interventionen sind von langen kontroversen Diskussionen begleitet worden (Allen 2006, Branch 2011, Lenhart 2006). Meine Frage nach der Legitimität des IStGH stelle ich im Lichte einer aktuellen Legitimitätskrise des Gerichtshofs in Afrika (Werle/Fernandez/Vormbaum 2014, Clarke/Knotterus/de Volder 2016). Es gibt inzwischen laute Stimmen, die die Ermittlungs- und Stafverfahren des IStGH in Afrika ganz offen mit neokolonialen Praktiken in Verbindung bringen. In den Anfangsdebatten um die Einführung eines internationalen Strafgerichtshofs in den 1990er Jahren gehörten die meisten afrikanischen Staaten noch zu dessen lautesten Unterstützern. Die überwiegende Mehrheit trat
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dann auch dem Römischen Statut bei, das den IStGH ermächtigt, gegen die Mitgliedsstaaten tätig zu werden, und das 2002 in Kraft trat. Doch der Wind drehte sich, als der IStGH im Jahr 2009 einen Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten der Republik Sudan, Omar Al-Bashir, erließ, in dem ihm Kriegsverbrechen im Darfur-Konflikt vorgeworfen wurden. Dieser Moment, in dem erstmalig ein amtierender Regierungschef ins Visier der Den Haager Anklagebehörde geriet, kann als Wendepunkt in der Beziehung zwischen dem IStGH und afrikanischen Regierungen angesehen werden (Cole 2013). Seitdem hat die Afrikanische Union (AU) den Gerichtshof in mehreren Resolutionen für seine Ermittlungs- und Anklagepraxis heftig kritisiert.3 Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hatte gerade Ugandas Nachbarland Burundi angekündigt, sich aus dem Römischen Statut zurückzuziehen. Was wir an diesem Tag noch nicht wissen ist, dass in den nächsten Tagen auch Südafrika und Gambia verkünden werden, ihre Mitgliedschaft im Internationalen Strafgerichtshof aufkündigen zu wollen.4 Auch Uganda hat sich in die Reihe der Kritiker*innen gestellt. Nachdem der ugandische Präsident Yoweri Museveni Anfang 2016 die Wahl für seine fünfte Amtszeit gewinnen konnte, lud er den sudanesischen Präsidenten Al-Bashir zu seiner Amtseinführung ein. Anstatt ihn zu verhaften und nach Den Haag auszuliefern, wozu er gem. Art. 98 ff. des Römischen Statuts verpflichtet gewesen wäre, begrüßte er Al-Bashir ausdrücklich in seiner Ansprache und nannte den Gerichtshof „einen Haufen nutzloser Leute“.5 Die Vorverfahrenskammer des IStGH
3
Assembly/AU/Dec.296 (XV), Assembly/AU/Dec.221 (XII), Assembly/AU/Dec.245 (XIII), Assembly/AU/Dec. 366 (XVII), Assembly/AU/Dec.482 (XXI). Konsequenterweise hat die Afrikanische Union angekündigt, eine Strafkammer am Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte einzurichten, und das Malabo Protokoll angenommen, das die rechtliche Grundlage hierfür bilden soll (Matasi/Bröhmer 2012, Murungu 2011).
4
Gambia hat nach dem Regierungswechsel im Jahre 2016 von den Plänen aus dem Römischen Statut auszusteigen wieder Abstand genommen. Die Debatte in Südafrika wird noch immer kontrovers geführt.
5
New Vision (12.05.2016): ICC a Bunch of Useless People. Online abrufbar: http://www.newvision.co.ug/new_vision/news/1424384/icc-bunch-useless-peoplemuseveni.
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verurteilte diese Missachtung des Römischen Statuts und verwies die Sache an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen.6 Doch die Kritik der ugandischen Regierung am Internationalen Strafgerichtshof hat eine pikante Vorgeschichte. Denn in den frühen 2000er Jahren war es Museveni selbst gewesen, der den Gerichthof aufforderte, die Kriegsverbrechen der LRA auf ugandischem Staatsgebiet zu untersuchen. Zu dieser Zeit empfanden viele in Norduganda dieses Vorgehen als einen Versuch des ugandischen Präsidenten, die internationale Gemeinschaft im Kampf gegen die unliebsame Rebellenbewegung im Norden als Verbündete zu gewinnen. Viele fürchteten damals, die Intervention des IStGH könnte einen Friedensprozess zwischen der ugandischen Regierung und der LRA torpedieren, und waren zutiefst misstrauisch in Bezug auf Musevenis Motive, den Gerichtshof hinzuzuziehen. Als ich meine Gesprächspartner*innen auf Musevenis kritischen Äußerung gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof anspreche, fangen sie an zynisch zu lächeln und den Kopf zu schütteln. Nach ihrer Ansicht verfolgt Museveni eine eigene Agenda, die sich eher aus seinem Verhältnis zu seinen Präsidentenkolleg*innen in der AU erklärt – besonders aus seiner besonderen Beziehung zum kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta, gegen den auch ein Verfahren vor dem Gerichtshof läuft – und mit vielen anderen Dingen, die nur recht wenig mit Norduganda zu tun haben. Dass er sich als Wendehals in der Frage der Unterstützung des IStGH erwiesen habe, sei schon allein ein Beweis für seine sinisteren Motive. Yoweri Museveni wurde Mitte der 1980er Jahre als Sieger eines Bürgerkrieges an die Macht gespült worden, und beendete durch die Entmachtung Tito Okellos, des politisch kurzlebigen Nachfolgers des zweimaligen Präsidenten Milton Obote, eine längere Dominanz von Politiker*innen aus dem Norden Ugandas, insbesondere von Langi und Acholi. In den 1980er und 1990er Jahre gab es in Norduganda daher auch viel Rückhalt für die aufkeimenden Rebellenbewegungen gegen Musevenis Regierung – unter ihnen die LRA. Nach Jahren der Gewalt aber, insbesondere in den Hochzeiten des Konfliktes in den frühen 2000er Jahren, hatten die allermeisten in Norduganda nur noch wenig Sympathie für die LRA und ihre grausame Behandlung der Zivilbevölkerung. Dennoch ist die Skepsis gegenüber Musevenis Regierung im Norden noch unübersehbar. Die Wahlergebnisse für Musevenis Regierungspartei National Resistance Movement (NRM), und den Präsidenten selbst, sind im Vergleich zu den anderen Landestei-
6 IStGH Pressemitteilung vom 12. Juli 2016, Al Bashir case: ICC Pre-Trial Chamber II finds non-compliance of Uganda and Djibouti; refers matter to ASP and UN Security Council, ICC-CPI-20160712-PR1231.
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len immer noch unterdurchschnittlich.7 In unserem Gespräch wird klar, dass Musevenis neue Rhetorik gegen den IStGH keine Resonanz bei meinen Gesprächspartner*innen findet. Ich bin neugierig zu erfahren, wie meine Gegenüber die verschiedenen Alternativen zu einem Strafverfahren am Internationalen Strafgerichtshof einschätzen, die in Uganda diskutiert werden. Deshalb frage ich sie nach ihrer Meinung über die Möglichkeit, Ongwen stattdessen vor ein ugandisches Gericht zu bringen. Während der 1990er Jahren erhielt die LRA militärische und logistische Unterstützung aus dem benachbarten Sudan. Die Regierung in Khartoum unter AlBashir rechnete sich damals aus, dass die LRA dabei helfen könnte, die südsudanesische Separatistenbewegung in Schach zu halten. Das Geschäft war einfach: Die LRA erhielt Waffen und Ausbildung in ihrem Kampf gegen Museveni und es war ihr erlaubt, vom Südsudan aus zu operieren. Im Gegenzug musste die LRA gegen die dortigen Rebellen kämpfen – allen voran die Sudan People’s Liberation Army (SPLA). Als die SPLA und die sudanesische Regierung allerdings im Jahr 2005 einen Friedensvertrag unterzeichneten, endete die Unterstützung der LRA durch Khartoum. Unter anderem deshalb sah sich die LRA 2006 gezwungen, in Friedensverhandlungen mit der ugandischen Regierung einzutreten, die bis 2008 in der südsudanesischen Hauptstadt Juba abgehalten wurden (Atkinson 2010, Schomerus 2012). Während der langen und mühsamen Verhandlungen in Juba ging es unter anderem um den „Tagesordnungspunkt drei“ (agenda item three): Verantwortlichkeit und Versöhnung (accountability and reconciliation). Diese Fragen waren deshalb besonders kontrovers, weil die fünf wichtigsten Kommandeure der LRA zu diesem Zeitpunkt bereits per Haftbefehl vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wurden. Viele fürchteten damals, die Furcht vor einer Auslieferung nach Den Haag könnte die LRA vom Vertragsschluss abhalten. Daher wurde vereinbart, dass eine Sonderstrafkammer des ugandischen Obersten Gerichtshofs eingerichtet werden sollte, um die Gewalttaten des Konfliktes aufzuarbeiten. 8 Das Römische Statut sieht in Art. 17 Abs. 1 vor, dass der Gerichtshof
7
Die Wahlergebnisse sind online abrufbar unter: http://www.ec.or.ug/?q=content/election-results.
8 In Nr. 23 der Annexure to the Agreement on Accountability and Reconciliation heißt es: „Subject to clause 4 1 of the Principal Agreement, the Government shall ensure that serious crimes committed during the conflict are addressed by the special Division of the High Court; traditional justice mechanisms; and any other alternative justice mechanism established under the Principal Agreement, but not the military courts.”
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seine Gerichtsbarkeit nur ausüben kann, wenn in dem betreffenden Land nicht selbst bereits eine effektive Strafverfolgung stattfindet. Die Sonderstrafkammer des Obersten Gerichtshof, die International Crimes Division (ICD) sollte also sicherstellen, dass es die strukturelle Möglichkeit gibt, die Zuständigkeit des IStGH für die LRA Verbrechen auszuschließen. Letztendlich unterschrieb der Anführer der LRA, Joseph Kony, den bereits ausverhandelten Friedensvertrag nicht. Die Sonderstrafkammer wurde dennoch eingerichtet. Seit ihrer Einrichtung hat die ICD lediglich einen Fall verhandelt, nämlich das Strafverfahren gegen den LRA-Kommandeur Thomas Kwoyelo. Der komplizierte Fall dauert bereits seit Jahren an und hat viele rechtliche und politische Fallstricke (siehe McNamara 2013, Macdonald/Porter 2016). Meine Gesprächspartner*innen sind sehr zögerlich sich zum Fall Kwoyelo zu äußern und heben hervor, diese Sache sei in vielerlei Hinsicht speziell, und dass sie nicht allzu viele Einzelheiten darüber wüssten. Worüber sie allerdings sprechen ist das große Maß an Misstrauen, das sie gegenüber der ugandischen Justiz hegen. Sie seien erleichtert, dass der Fall Ongwen nicht im Gerichtsgebäude der Distrikthauptstadt Gulu, sondern im fernen Den Haag verhandelt werde. Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs frage ich nach den traditionellen rechtlichen Verfahren, die oft als Alternative zu einem Strafprozess in Den Haag genannt werden. Im traditionellen Rechtssystem der Acholi ist die Zugehörigkeit zu patrilinearen Verwandtschaftsgruppen, die jeweils einem der mehr als fünfzig Klane zugehören, entscheidend. Bei Rechtsverletzungen, auch solchen die das nationale Rechtssystem als Straftaten katalogisiert, liegt die Ahndung der Rechtsverletzung in den Händen der Klanchiefs und Elders (rwodi und ludito). Ist die Rechtsverletzung innerhalb des Klans geschehen, sind die Elders (ludito) für die Urteilsfindung, Bestrafung und Entscheidung über die Restitution des Schadens zuständig. Ist die Rechtsverletzung zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Klane vorgefallen, verhandeln die rwodi der beteiligten Klane mit Unterstützung der Elders. Zur Reparation des entstandenen Schadens werden üblicherweise sowohl Geld- als auch Sachentschädigungen (meist in Form von Vieh) im Zuge von Versöhnungsritualen zwischen den Verwandtschaftsgruppen bzw. Klanen ausgetauscht, welche die traditionellen rechtlichen Verfahren abschließen. Eine trennscharfe Unterscheidung zwischen Strafe für den Täter*innen und Schadensersatz für die Geschädigten gibt es dabei nicht. Die Verfahrensform, die in der Transitional Justice Literatur am häufigsten aufgeführt wird, wird mato oput (Trinken der [bitteren] oput-Wurzel) genannt. Mato oput ist ein mitunter sehr langwieriges Verfahren, das nach einem Tötungsdelikts durchgeführt wird und an dessen Ende die Beteiligten beider Klane
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gemeinsam einen Aufguss aus der bitteren oput-Wurzeln trinken.9 Mato oput beginnt mit dem expliziten temporären Abbruch aller sozialen Beziehungen zwischen den beteiligten Klans, um weitere Gewaltausbrüche zu vermeiden. Während dieser Phase stehen ausschließlich die Klanchiefs und Klanältesten miteinander in Kontakt, die einen von beiden Seiten akzeptierten Mediator bestimmen, der in nachfolgenden Gesprächen mit den Vertreter*innen der beiden konfligierenden Klane einzeln, später auch in gemeinsamen Besprechungen die Ursachen des Rechtsbruchs untersucht und beide Seiten ermutigt, ihre Rolle in der Rechtsverletzung anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen. Im Zuge dessen muss der/die Rechtsverletzer*in sein/ihr Unrecht gegenüber allen Beteiligten, insbesondere auch gegenüber den Mitgliedern des geschädigten Klans, bekennen. Im Konsens wird ein Beschluss herbeigeführt, der auch die zu zahlenden Reparationen regelt und Zeit und Ort für die Übergabe vereinbart. Im Zuge eines abschliessenden Rituals, das die Zahlung der Reparationen, die Opferung von Tieren, das gemeinsame Trinken eines Aufgusses aus der bitteren oputWurzel (mato oput) und ein gemeinsames Essen umfasst, werden die sozialen Beziehungen zwischen den Klanen wieder aufgenommen. (Lenhart 2012, 7-9). Bereits seit den 1990er Jahren gibt es die Diskussion, das traditionelle Rechtssystem der Acholi sei eine „afrikanische Alternative“ zu anderen Transitional Justice Mechanismen, wie etwa Strafverfahren oder Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die von westlichen Vorstellungen beeinflusst seien (Allen 2010, Baines 2007). Adam Branch hat dieses Modell zur Afrikanisierung von Transitional Justice als ethnojustice bezeichnet (Branch 2014). Um als Transitional Justice Mechanismus zu taugen, musste das traditionelle AcholiRechtssystem allerdings Anpassungen durchlaufen. Die schiere Zahl der im Rahmen des Konflikts begangenen Rechtsverletzungen unzähliger Akteur*innen machte es notwendig, Massenrituale an zentralen Orten abzuhalten. Die Praxis von ethnojustice waren Rituale, die zwar vom traditionellen Acholi-Rechtssystem inspiriert waren, jedoch über „traditionelle Rechtsvorstellungen“ hinausgingen, und stärker eine invention of tradition auf Druck internationaler Nichtregierungsorganisationen (NROs) darstellen.10
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Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer traditioneller Rituale, die als Reaktion auf gewalttätige Rechtsverletzungen durchgeführt werden können, siehe Lenhart (2012) und Harlacher et al. (2006).
10 Zum generellen Problem ob sich ab der Kolonialzeit noch von „traditionellem Recht” sprechen lässt, siehe Sally Falk Moore (1986), die ausführt, dass traditionelles Recht bereits sehr stark von kolonialen Kodifizierungsbemühungen durchzogen ist. Allgemein ist die Gegenüberstellung von lokaler Tradition und externem kulturellem Im-
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Ich frage meine Gesprächspartner*innen, ob sie mato oput und andere Verfahren des traditionellen Rechts in Acholi als eine Alternative zum Strafprozess gegen Dominic Ongwen ansehen. Einer von ihnen antwortet, dass Ongwen seiner Ansicht nach weiterhin verpflichtet sei, nach Verbüßung seiner Haftstrafe in ihr Dorf zu kommen und das mato oput-Ritual zu durchlaufen. „Naja,„ sagt ein anderer, „um mato oput durchzuführen, muss Ongwen sein Unrecht öffentlich bekennen. Ich habe ihn kein Geständnis vor dem Gerichtshof ablegen hören. Ohne ein Geständnis der Wahrheit (truth telling) kann es kein mato oput geben“. Alle stimmen darin überein, dass der Strafprozess in Den Haag und mato oput zwei verschiedene Angelegenheiten sind, und dass die eine nicht notwendigerweise die andere ausschließt. Bald nimmt das Gespräch eine weitere Wendung und wir fangen an, über Vergebung zu sprechen – ein Begriff, der in den Transitional JusticeDiskussionen in Norduganda eine wichtige Rolle spielt. In den Tagen zuvor hatte ich mit führenden Mitgliedern der Acholi Religious Leaders Peace Initiative (ARLPI) gesprochen, in der sich Geistliche aller in Norduganda vertretenen Glaubensgemeinschaften organisiert haben: Anglikaner*innen, Katholik*innen, Muslim*innen und Vertreter*innen von evangelikalen Freikirchen und Pfingtskirchen. ARLPI vertritt eine religiöse Rhetorik, die auf die Notwendigkeit verweist, die im Konflikt begangenen Gewalttaten zu vergeben. Allein durch Vergebung und Versöhnung lasse sich der fragile Frieden für die kriegsgeschüttelte Region erhalten und stabilisieren. Viele dieser Geistlichen sehen die politischrechtliche Manifestation dieser Vergebungsbotschaft in einem im Jahre 2000 eingeführten Gesetz, das allen LRA Rückkehrer*innen und Mitgliedern anderer Rebellengruppen in Uganda, die ihre Beteiligung am bewaffneten Kampf gegen die Regierung aufgeben, Amnestie für begangene Straftaten gewährt.11 ARLPI
port nicht unproblematisch, weil Rechtsvorstellungen ständigen Wandlungsprozessen unterworfen sind. Lenhart (2012, Fn. 1) schlägt einen pragmatischen Umgang mit dem Problem vor: „Being aware of the fact that culture is dynamic and always changing, I understand ‘tradition’ as a dynamic process and, with reference to Zartman […], consider African/Acholi approaches to conflict transformation as ‘traditional’ if they „have been practiced for an extended period and have evolved within African societies rather than being the product of external importation … and are practiced today”, whereas „tradition is likely to have been updated, adjusted, and opened to new accretions in order to stay alive through changing times”. This view is shared by the Ugandan actors who endeavour to adapt ‘traditional’ approaches to current circumstances. 11 Amnesty Act, Chapter 294, 21 January 2000. Online abrufbar unter: http://www.ulii.org/node/23788.
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war ein entscheidender Akteur in der Debatte zur Einführung dieses Amnestiegesetztes. Gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof sind daher die in ARLPI organisierten Geistlichen besonders kritisch (Kasaija 2011).12 Meine Gesprächspartner*innen haben mir im Verlauf unserer Unterhaltung bereits erzählt, dass sie einige Mitglieder des Klerus, allesamt von ARLPI, für den bevorstehenden Gedenktag zum Massaker von 2004 eingeladen haben, den sie gerade vorbereiten. Ich frage sie danach, was sie von deren Ansicht halten, dass Dominic Ongwen nicht in Den Haag vor Gericht gestellt, sondern nach Norduganda zurückkehren solle, um das Amnestieverfahren und mato oput zu durchlaufen und reintegriert zu werden.13 Meine Frage ist freilich provokativ, denn sie lenkt den Blick auf die Tatsache, dass die Geistlichen, die meine Gesprächspartner*innen eingeladen haben, eine führende Rolle auf ihrem Gedenktag zu spielen, eine ganz gegensätzliche Haltung dazu haben, wie mit dem Kommandeur des Massakers strafrechtlich umzugehen ist. Sobald ich meine Frage gestellt habe, tritt Stille ein, die für mehrere Sekunden andauert. Meine vier Gesprächspartner*innen beginnen, Blicke auszutauschen. Schließlich, nach einer längeren Pause, sagt eine von ihnen mehr zu ihren Kolleg*innen als zu mir: „Naja, es ist eben eine andere Art zu denken“. Die anderen nicken zögerlich. Ein anderer fügt hinzu: „Das ist einfach die Art wie religiöse Leute denken“ und betont, dass er damit nicht sagen will, dass er mit dieser Art zu denken nicht übereinstimme. Die Gruppe präsentiert mir für diesen of-
12 Die bislang grundsätzlich kritische Haltung von ARLPI gegenüber dem IStGH könnte sich mit Beginn des Strafprozesses gegen Dominic Ongwen gemäßigt haben. Führungsfiguren der Organisation waren Teil einer Delegation aus Norduganda, die zum Prozessauftakt nach Den Haag gereist ist. In einer gemeinsam Erklärung mit anderen lokalen Autoritäten aus Norduganda, darunter der Acholi Paramount Chief, hieß es daraufhin: „This trial is at its beginning and we hope to see it continue smoothly and be beneficial to the victims of Northern Uganda.” Das könnten Anzeichen dafür sein, dass ARLPI zukünftig einen konzilianteren Ton gegenüber dem Gerichtshof anschlagen will. Northernnews Wire (10.12.2016): Statement of Leaders Following Completion of Their Visit to The Hague. Online abrufbar: https://www.facebook.com/norther newswire/posts/1295776023816488:0. 13 Diese Ansicht wird in einer Erklärung widergegeben, die ARLPI anlässlich Dominic Ongwens Gefangenschaft in der Zentralafrikanischen Republik Anfang 2015 herausgegeben hat. A Statement on the Position of ARLPI on Ongwen Dominic, Former LRA Commander (20.01.2015). Online abrufbar: https://drive.google.com/file/d/0BwyHGIEA97AyQVBydUNndVhvbmM/view. (18.05.2017).
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fensichtlichen Widerspruch keine Lösung. Als ich etwa zwei Wochen später den Gedenktag für das Massaker von 2004 besuche, treffe ich sowohl die Geistlichen als auch meine Gesprächspartner*innen wieder. Es scheint so, als ob beide „Arten zu denken“ dort nebeneinander existieren können. Was mich in Gesprächen wie diesem und den vielen anderen, die ich während meiner Forschung geführt habe, nachhaltig beeindruck hat, war die Pluralität von Rechtsordnungen und ihre normativen Logiken, mit denen meine Gesprächspartner*innen konfrontiert waren: internationales Strafrecht, nationales Strafrecht, traditionelles Recht, religiöse Vergebungsethiken, politisch sanktionierte Anmestie. Meine Interaktionspartner*innen hatten die Fähigkeit, diesen normativen Pluralismus zu navigieren und irgendeine Art von Position darin zu finden, obschon sie sich all dieser normativen Logiken und manchmal auch den Widersprüchen, die deren parallele Geltung erzeugen, bewusst waren. Als ich nach Norduganda kam, war ich darauf aus gewesen herauszufinden, wie die Menschen dort die Legitimität des Internationalen Strafgerichtshofs einschätzen. Aber mir wurde klar, dass meine Forschungsfrage deutlich komplexer werden musste, nämlich wie die Menschen den normativen Pluralismus navigieren, dem sie sich gegenübersehen, und wie sie innerhalb dieses normativen Pluralismus die Legitimität dieser konkurrierenden Logiken bewerten.
Das „Afrika Problem“ (Dersso 2016) des Internationalen Strafgerichtshofs ist in der Literatur zur empirischen Rechtsforschung als ein Problem der wahrgenommenen Legitimität (percieved legitimacy) behandelt worden (Takemura 2012, Sarkin 2012, Henham 2007, Ford 2012, Conti 2016, Cassese 2012). Tyler (2006, 376) definiert Legitimität als den Glauben daran, dass Autoritäten, Institutionen und soziale Arrangements zweckmäßig, angemessen, und gerecht sind.14 In der Literatur werden zahlreiche Faktoren genannt, denen Einfluss darauf zugeschrieben wird, ob der IStGH unter den Rechtsbetroffenen als mehr oder weniger legitim gilt: die Verfahren, unter denen der Gerichtshof geschaffen worden ist und entlang derer er seine Strafprozesse ausrichtet (Ramji-Nogales 2010), der räum-
14 Im Original: „the belief that authorities, institutions, and social arrangements are appropriate, proper, and just” (Tyler 2006, 376).
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liche Sitz des Gerichts (Burke-White 2003), die ethnische Zusammensetzung in der Mitarbeiterschaft des Gerichtshofs (Higonnet 2006), die institutionelle Struktur des Gerichtshofs (Dickinson 2003), die Outreach-Aktivitäten des Gerichts (Stromseth 2007), oder wer vor dem Gerichtshof angeklagt ist, und ob er oder sie von den Rechtsbetroffenen als Freund oder Feind angesehen wird (Ford 2012). Es dürfte auf der Hand liegen, dass alle diese Faktoren (vermutlich auch noch weitere) darauf Einfluss haben, als wie legitim der IStGH in Afrika wahrgenommen wird. Was diese genannten Faktoren gemein haben, ist, dass sie alle mehr oder weniger direkt die Funktionsweise des Gerichtshofs selbst betreffen. Eine Herangehensweise über die Identifizierung solcher Einflussfaktoren folgt der Vorstellung der Herstellung von Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit (Rawls 1971, Tyler 1990, Habermas 1992). Die Vorstellung, dass Legitimität durch die Befolgung prozeduraler Fairness bei den Rechtsbetroffenen erzeugt wird, basiert auf der Idee, dass es eine Verfahrens-Legitimitäts-Akzeptanz-Verbindung gibt, wie Tyler es treffend ausgedrückt hat.15 Mit anderen Worten: Folgen rechtliche Institutionen in konsequenter Weise ihren eigenen Verfahrensregeln, und sind diese Verfahrensregeln rational und fair, dann nehmen die Rechtsbetroffenen die Institution als legitim wahr und akzeptieren es, von ihren Entscheidungen rechtlich gebunden zu werden. Was ich in diesem Aufsatz zu zeigen versuche, ist, dass ein solches Modell der Erzeugung von Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit bei der Erklärung der Legitimitätskrise des IStGH in Afrika an seine Grenzen stößt. Mit Legitimität durch Verfahrensgerechtigkeit allein ist es schwierig zu erklären, wie die Rechtsbetroffenen den komplexen normativen Pluralismus navigieren, mit dem sie alltäglich konfrontiert sind. Mein Argument ist vielmehr, dass in diesem Zusammenhang Affekte und Emotionen eine entscheidende Rolle spielen. Aus der Perspektive der Rechtsanthropologie ist bereits die theoretische Ausgangsüberlegung des Modells „Legitimität durch Verfahren“ fraglich, nämlich die Behauptung einer Verfahrens-Legitimitäts-Akzeptanz-Verbindung. Was aus Sicht der Rechtsbetroffenen, die es ja erst noch zu untersuchen gilt, für eine Legitimitätsbewertung ausschlaggebend ist, ist für die Rechtsanthropologie eine empirische Frage, die auf theoretischer Ebene nicht bereits im Voraus entschieden werden kann (Bens/Zenker 2017). Dass rationale Verfahrensregeln in einer normativen Ordnung eingehalten werden, und dass Rechtsbetroffenen diese normative Ordnung dann auch als legitim empfinden, sind zunächst einmal voneinander geschiedene Tatbestände.
15 Im Original: „procedure-legitimacy-acceptance connection” (Tyler 1993).
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Hilfreich ist hierbei die Einführung der für die ethnographische Analysepraxis grundlegende Unterscheidung zwischen emisch und etisch. Emisch bezeichnet dabei die Sichtweise der Akteur*innen, also derjenigen, die von der normativen Ordnung betroffen werden, und deren Legitimitätsempfinden untersucht wird. Emische Sichtweisen werden durch ethnographische Methoden ermittelt, indem zunächst einmal von den Rechtsbetroffenen selbst verwendete Termini, Rahmungen und Begründungsmuster erhoben werden. Diese müssen dann mit etischen Sichtweisen in Dialog gebracht werden. Das sind solche, die sich aus der forschenden Beobachterperspektive ergeben, und die durch die professionelle und kulturelle Perspektive des/der Forscher*in geprägt sind. Nur durch ethnographische Zurückhaltung, die zunächst einmal die Sichtweisen und Rahmungen der Rechtsbetroffenen ernst nimmt, lassen sich Spannungen zwischen den emischen Kategorien der Akteur*innen im Feld und den etischen Erklärungsmustern, mit denen ihr Verhalten analytisch gedeutet wird, für eine Analyse fruchtbar machen. Bezogen auf „Legitimität durch Legalität“, wie Habermas (1992) es ausgedrückt hat, ist zunächst einmal unklar, ob hier konsequent zwischen emisch und etisch unterschieden wird. „Legitimität“ bezieht sich nach der oben zitierten Definition von Tyler auf die Sicht der Rechtsbetroffenen, also auf die emische Sicht. Bei der „Legalität“ ist das nicht eindeutig, hier scheint emisch und etisch vermischt zu werden. Das liegt wesentlich am der liberalen politischen Theorie zugrundeliegenden Rationalitätsparadigma. Wenn Verfahren in rationaler Weise verlaufen, gehen die Verfechter*innebn einer Legitimität durch Verfahren offenbar davon aus, dass sich das dem vernünftig denkenden Menschen auch barrierefrei erschließt. Mit anderen Worten: die emische Perspektive schlägt direkt auf die etische Sichtweise durch. Davon aber geht aber die Rechtsanthropologie niemals einfach aus, würde das doch den Blick für möglicherweise abweichende emische Sichtweisen im Vorhinein verstellen. Aber auch wenn „Legalität“ konsequent als emische Kategorie gedacht wird, also nur dasjenige Gegenstand der Analyse wird, was die Rechtsbetroffenen subjektiv für legal halten, bleibt immer noch unklar, wieso wahrgenommene Legalität gleichsam automatisch auch zu wahrgenommener Legitimität führen soll. Dass das Modell von Legitimität durch Verfahren dies auf theoretischer Ebene annimmt hat letztlich damit zu tun, dass ihre Vertreter*innen sich als Theoretiker*innen der parlamentarischen Demokratie verstehen. Dass ein durch demokratische Verfahren zustande gekommenes Recht bei Einhaltung aller Spielregeln letztlich auch die Akzeptanz der Rechtsbetroffenen in der Demokratie findet, ist nichts weniger als das Heilsversprechen der parlamentarischen Demokratie. Im Unterschied dazu hat die Rechtsanthropologie weder vorrangig eine Ana-
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lyse des demokratischen Rechtsstaats der Spätmoderne zum Ziel (traditionellerweise eher im Gegenteil), noch sieht sie sich auf theoretischer Ebene, wie subtil auch immer, dazu angehalten, ihn theoretisch zu untermauern. Mit anderen Worten, ob „Legitimität aus Legalität“ folgt, kann immer nur ein mögliches Ergebnis, nicht jedoch der Ausgangspunkt rechtsanthropologischer Forschung sein. Wenn ethnographische Rechtsforschung über Legtimitätsbewertungen damit ernst machen will, emische Sichtweisen an den Ausgangpunkt der Analyse zu setzen, dann geht es zunächst darum, zu erklären, wie es Akteur*innen gelingt, den starken normativen Pluralismus zu navigieren, dem sie sich gegenübersehen, und dabei ihre Äußerungen ernst zu nehmen. Damit rückt etwas in den Mittelpunkt der Analyse der Legitimität, das von Vertreter*innen der Verfahrensgerechtigkeit schon aufgrund deren Verwurzelung im Rationalitätsparadigma der liberalen Theorie vernachlässigen muss: nämlich die Rolle von Affekte und Emotionen bei der Legitimitätsbewertung normativer Ordnungen. Mit anderen Worten: Gerechtigkeitsgefühle. Das Gespräch, das ich am Anfang dieses Aufsatzes wiedergegeben habe, zeigt, dass sich die Legitimitätsbewertung des Internationalen Strafgerichtshofs für meine Gesprächspartner*innen nicht nur als eine Frage der Legitimität einer einzelnen Organisation darstellt. Der IStGH und mit ihm das internationale Strafrecht erscheint als eine normative Option. Eine weitere Option ist das nationale, ugandische Strafrecht, repräsentiert durch die ICD des Obersten Gerichtshofs von Uganda. Das Amnestiegesetz von 2000 für freiwillige LRARückkehrer*innen führt eine weitere normative Logik ein, die sowohl größtenteils kompatibel mit religiösen Vergebungsethiken des christlich und muslimisch geprägten Norduganda ist als auch mit dem traditionellen Acholi-Rechtssystem, seinen Ausgleichsmechanismen und Versöhnungsritualen wie mato oput und deren Anpassungen an neue Gegebenheiten infolge von Krieg und Vertreibung im Kontext internationaler Interventionen.16
16 Ward (2001) hat dargestellt, wie sich im Laufe des bewaffneten Konflikts in Norduganda seit 1986 die religiös, insbesondere christlich, geprägten Ethiken und die traditionellen moralischen und rechtlichen Vorstellungen der Acholi immer weiter angenähert und teilweise zu einer gemeinsamen Diskursformation verfestigt haben. Tatsächlich unterscheiden Akteur*innen nicht durchgehend trennscharf zwischen religiöser und traditioneller Acholi Ethik. Dennoch macht es aus analytischer Perspektive Sinn, die religiösen und traditionellen normativen Logiken zu unterscheiden, schon weil die sie vertretenden Akteursgruppen nicht durchgehend dieselben Interessen haben.
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Die Gruppe von Dorfbewohner*innen, von denen ich eingangs berichtet habe, hatten einen sehr differenzierten Blick auf alle diese normativen Ordnungen und deren Logiken in Bezug darauf, wie mit Dominic Ongwen zu verfahren sei. Ihrer Ansicht nach ist der Internationale Strafgerichtshof die legitimste Option unter den zur Verfügung stehenden Alternativen. Das nationale ugandische Strafrecht wird dabei aus ihrer Sicht ausgeschlossen, und sie akzeptieren, dass das internationale Strafrecht das ugandische Strafrecht verdrängt, auch weil sie nur wenig Vertrauen in die ugandische Justiz haben. Das traditionelle AcholiRechtssystem mit mato oput im Zentrum erachten sie ebenfalls als eine legitime Option, die Gewalt Dominic Ongwens zu adressieren. Allerdings sehen sie in diesem Fall keinen Widerspruch zwischen einer parallelen Geltung beider Rechtsordnungen. Mato oput kann problemlos noch nach einer strafrechtlichen Verurteilung Ongwens durchgeführt werden. Sie erachten das internationale Strafrecht mit seiner starken Betonung der Bestrafung des Täters als legitim, aber können gleichzeitig der Logik des Amnestiegesetzes und der religiös begründeten Vergebung etwas abgewinnen. Sie geben die sich daraus ergebenden Widersprüche zu, sind aber auch in der Lage diese Widersprüche auszuhalten, solange keine konkreten Probleme auftauchen. Für diese Gruppe von Dorfbewohner*innen, wie für viele andere, mit denen ich gesprochen habe, ist die Frage der Legitimität des IStGH aufs Engste verwoben mit ihrer Legitimitätsbewertung aller anderen normativen Ordnungen, die alternativ zur Verfügung stehen. Sie kennen diesen normativen Pluralismus recht gut. Mal wechseln sie die normativen Register in ihren Legitimitätsbewertungen, mal bevorzugen sie eine normative Logik über eine andere, ein wieder anderes Mal folgen sie einer, zwei oder drei normativen Logiken ohne Widersprüche zwischen ihnen zu erkennen, und manchmal erachten sie mehrere normative Ordnungen als legitim, erkennen auch die auftauchenden Widersprüche, halten diese konkurrierenden Logiken aber einfach in pragmatischer Weise aus. Diese flexible Art und Weise Legitimitätsbewertungen vorzunehmen war typisch für viele Menschen, die ich in Norduganda kennen gelernt habe. Ich habe Leute getroffen, die der Meinung waren, nur eines der zur Verfügung stehenden Normsysteme sei die legitime Antwort auf die Verbrechen der Vergangenheit. Manche traditionellen Autoritäten, Klanälteste und Chiefs, vertraten offensiv, dass nur „afrikanische Lösungen“ eine Antwort auf „afrikanische Gewalt“ sein könnten, plädierten also für die Anwendung des traditionellen Acholi Rechtssystems, „Alles andere ist uns fremd“, sagte mir ein prominenter Vertreter der Acholi traditional leaders. Einige Geistliche implizierten, dass allein die Logik der Vergebung eine legitime Antwort für Norduganda sein könne. Alle anderen Maßnahmen würden nur „schlecht verheilte Wunden wieder aufreißen“, wie mir
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ein örtlicher Bischof vermittelte. Das könne sich die kriegsgeschüttelte Region nicht leisten, die immer noch daran arbeiten müsse, den fragilen Frieden zu erhalten. Vertreter*innen des Internationalen Strafgerichtshofs in Norduganda plädierten dafür, dass allein die Logik des internationalen Strafrechts die außerordentliche Schwere der Straftaten ahnden könne, und dass nur so die „Kultur der Straflosigkeit“ (ein Begriff, der in diesem Zusammenhang oft gefallen ist) beendet werden könne. Nur dadurch könne Norduganda seine Wunden nachhaltig heilen. Wieder andere brachten dieselben Argumente für die alleinige Legitimität eines nationalen Strafverfahrens vor. Alle diese Menschen bewerteten „ihre“ normative Ordnung im Verhältnis zu den anderen möglichen Optionen, aber standen firm zu der einmal gefassten Meinung. Andere meiner Gesprächspartner*innen waren nicht so loyal zu einer der verschiedenen Optionen, sondern wechselten in ihren Legitimitätsbewertungen ständig zwischen verschiedenen normativen Ordnungen hin und her, manchmal mehrfach in ein und demselben Gespräch. Will man Legitimitätsbewertungen erklären, und blickt man auf die teilweise inkommensurablen normativen Rahmen, die um Legitimität konkurrieren, dürfte es also nicht genügen, lediglich diejenigen Faktoren aufzuzählen, die dazu beitragen, mögliche Zweifel bei den Rechtsbetroffenen daran auszuräumen, ob ein faires Verfahren in der ein oder anderen normativen Ordnung eingehalten wird. Es muss vielmehr darum gehen, die relevanten Faktoren zu untersuchen, die Akteur*innen dazu bringen einer normativen Logik zu folgen, und einer anderen nicht; und das, obwohl die Rechtsbetroffenen alle diese normativen Ordnungen mit ihren Eigenlogiken im Großen und Ganzen kennen. Wie Akteure Rechtspluralismus navigieren ist von Keebet von BendaBeckmann (1981) in Anlehnung an die zivilrechtliche Terminologie mit dem Begriff Forum Shopping beschrieben worden. Benda-Beckmann entwickelt ihr Modell zu Forum Shopping aus ihren Studien zu Prozessen der Streitschlichtung im ländlichen Indonesien. In ihrer Analyse suchen sich Kläger*innen dasjenige Gericht oder Streitschlichtungsorgan aus, von dem sie sich das für ihr Anliegen günstigste Ergebnis erwarten. Doch funktioniert Forum Shopping in beide Richtungen. Nicht nur die Kläger*innen suchen nach Foren, vor die sie ihre Anliegen bringen können, auch die Foren haben ein Interesse daran, Kläger*innen und ihre Fälle in Konkurrenz zu den anderen zur Verfügung stehenden Foren an sich zu ziehen. Dieses Modell von Forum Shopping erklärt wesentliche Bereiche der Navigation von Rechtspluralismus, indem es auf einem Paradigma der Zweckrationalität aufbaut. Die Akteur*innen in diesem Modell haben kalkulierbare Interessen und sie betreiben Forum Shopping entlang einer Logik, die ihren Interessen zugrunde liegt. Sie treffen eine rationale Wahl (rational choice).
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Nun stellt sich aber die Frage, ob das klassische Modell des Forum Shopping, das Benda-Beckmann für den Bereich der Streitschlichtung beschrieben hat, vollumfänglich auf die Erforschung der Legitimität übertragbar ist. Ich argumentiere, dass während sich mit dem klassischen Forum Shopping ein Großteil auch der vorliegenden Phänomene erklären lässt, nämlich wie Akteur*innen den Pluralismus zur Bewertung der Legitimität normativer Ordnungen navigieren, der Blick auf Gerechtigkeitsgefühle aber die Analyse in wichtiger Hinsicht erweitern kann. Wechselt man nämlich die Perspektive von Prozessen der Streitschlichtung auf Prozesse der Legitimitätsbewertung normativer Ordnungen, ergeben sich einige wichtige Unterschiede. Zunächst wollen die Rechtsbetroffenen bei Legitimitätsbewertungen im Gegensatz zu Streitschlichtungsprozessen oft, aber keineswegs immer, einen eigenen konkreten Anspruch geltend machen. Legitimitätsbewertungen normativer Ordnungen werden auch von Akteur*innen vorgenommen, die selbst gar nicht mit einem Fall vor ein bestimmtes Forum zu treten wünschen. Wie Olaf Zenker und ich bereits in der Einleitung zu diesem Band (2017) dargestellt haben, sind Legitimitätsbewertungen normativer Ordnung direkt mit breiteren politisch relevanten Diskursprozessen verknüpft, insbesondere der Konstruktion moralischer Gemeinschaften. Sich an diesen Debatten zu beteiligen ist für viele aus der Perspektive der Streitbeilegung unbeteiligter Personen interessant. Weiterhin steht bei Forum Shopping die Frage des „ob überhaupt“ der zur Verfügung stehenden Foren, wenn sie auch nicht vollständig ausgeklammert ist, so jedenfalls nicht im Fokus der Analyse. Worum es bei Forum Shopping geht, ist das „ob in diesem Fall“. Das Bild verschiebt sich bei der Betrachtung von Legitimitätsbewertungen insofern, als dass sehr viel grundsätzlichere Wertentscheidungen der beteiligten Akteur*innen aufgerufen werden können, als dies beim Blick auf alltägliche Streitschlichtung üblicherweise der Fall ist. In diesem Zusammenhang tauchen nämlich emische Sichtweisen auf, die sich nur mit Mühe in ein zweckrationales Schema individueller Interessen einpassen lassen. Es stellt sich dann die Frage, ob die Rechtsbetroffenen die Legitimitätsbewertung einer normativen Ordnung tatsächlich als Entscheidung wahrnehmen, sei sie rational begründbar oder auf andere Weise begründet. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Navigation durch die mulitplen normativen Ordnungen in Norduganda als Forum Shopping zu rahmen, dabei hilft, einen wichtigen Teil des Verhaltens der Akteur*innen zu erklären. Dominic Ongwens Opfer in den massakrierten Gemeinden, von denen ich einige zu Beginn dieses Aufsatzes eingeführt habe, haben mir berichtet, dass sie den Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof deshalb unterstützen, weil sie hoffen, dass am Ende dieses Prozesses Reparationen aus Den Haag fließen könnten.
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Wenn Ongwen in einigen Jahren verurteilt werden sollte, kann der Opferfond des IStGH kollektive Reparationen auszahlen, die diese Leute in einem anderen Rahmen nicht in Aussicht haben. Sie haben also ein materialisiertes ökonomisches Interesse daran, den Gerichtshof als legitim zu bewerten. Die traditionellen Autoritäten, mit denen ich gesprochen habe, die auch für die Durchführung der traditionellen Rechtsverfahren wie mato oput zuständig sind, unterstützten wortgewaltig das traditionelle Acholi Recht. Sie sind ein „shopping forum“ in Benda-Beckmanns (1981) Terminologie, denn ihre führende Rolle bei der Durchführung der Rituale vermittelt ihnen eine wichtige Machtbasis.17 Für die religiösen Autoritäten, die christlichen und muslimischen Geistlichen, lassen sich ähnliche Machtinteressen ausmachen, konkurrieren doch die von ihnen vertretenen normativen Ethiken von Vergebung und Amnestie, über die sie eine Deutungshoheit ausüben, mit anderen normativen Logiken, die von anderen Akteur*innen im Detail ausbuchstabiert werden. Gleichzeitig aber lässt eine solche Deutung einige Aspekte aus, die Menschen in Norduganda äußern, wenn sie begründen, wie sie die Legitimität dieser oder jener normativen Ordnung wahrnehmen. Gemeindevertreter*innen aus massakrierten Dörfern sprachen mir gegenüber auch leidenschaftlich von „Gerechtigkeit“, erzählten mir Geschichten über getötete Freund*innen und Verwandte und über grauenhafte Erlebnisse, die sie als Entführte in den Händen der Lord’s Resistance Army erlebt haben. Führende Geistliche zitierten mir emotional engagiert aus der Bibel oder dem Koran, und erzählten mir Geschichten über Kriegswaisen, die sie kennen gelernt haben, und über deren verzweifeltes Schicksal. Traditionelle Autoritäten sprachen mit mir über ihre Frustration über die Interventionen internationaler Nicht-Regierungsorganisationen in Norduganda. Dass die NROs mehr Schaden als Nutzen gebracht hätten, und über das erniedrigende und entwürdigende Gefühl von Hilfe aus dem Ausland abhängig zu sein. Im Angesicht solcher Äußerungen stellt sich eine einfache Frage: Lässt man diese affektiven und emotionalen Äußerungen für die eigene Analyse beiseite, und verbucht sie als reine Rhetorik, die Menschen vorbringen, um ihre bereits rational getroffene Entscheidung gegenüber anderen zu rechtfertigen? Oder
17 Die Rolle traditioneller Autoritäten in Norduganda bei der Durchführung von Reinigungs- und Versöhnungsritualen und die damit verbundene Machtposition ist in den Arbeiten von Allen (1991), Behrend (1993) und Branch (2010) hervorgehoben worden. Eine kritische Analyse von „traditionellem„ Gewohnheitsrecht und seiner Anwendung durch „ „traditionelle„ Autoritäten im kolonialen und postkolonialen Afrika liefert Mamdani (1996).
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nimmt man solche Äußerungen als einen integralen Bestandteil ihrer Legitimitätsbewertungen normativer Ordnungen und deren normativer Eigenlogiken ernst? Meiner Ansicht nach ist letzteres angezeigt. Nimmt man Affekte und Emotionen als wichtigen Bestandteil von Legitimitätsbewertungsprozessen ernst, was auch bedeutet, emische Sichtweisen zunächst einmal gelten zu lassen, erweitert sich der Materialkorpus aus dem eine Analyse der Legitimitätsbewertungen von Menschen gewonnen werden kann. Es zeigt sich hier eine grundsätzliche Spannung zwischen der Erklärung von zweckrationalen Entscheidungen im Recht und der Bewertung der Legitimität normativer Ordnungen. Was die rational „beste“ Entscheidung ist, die mit den eigenen Interessen optimal in Einklang steht, lässt sich für Akteur*innen nur anhand einer einigermaßen stimmigen normativen Logik entscheiden, die festlegt, was die Kriterien einer guten Entscheidung sind und welche Interessen von vornherein als illegitim gelten. Bei eben diesem Prozess, nämlich einer normativen Logik den Vorzug vor einer anderen zu geben, spielen nach meiner Ansicht Affekte und Emotionen eine wichtige Rolle. Mit anderen Worten: es geht um Gerechtigkeitsgefühle.
In der Einleitung zu diesem Band haben Olaf Zenker und ich Gerechtigkeitsgefühle definiert als die affektiv-emotionalen Bewertungen der Legitimität normativer Ordnungen (2017). Es sind Prozesse, die mit Affekten und Emotionen zu tun haben, die Menschen dazu bringen, eine normative Ordnung legitimer als eine andere zu finden. Aus der Perspektive der Rechtsbetroffenen ist es wichtig, ob sich eine normative Ordnung, und die normative Logik, die sie gebietet, gerecht anfühlt. Fragen der Verfahrensgerechtigkeit spielen hierbei zweifelsohne eine Rolle, auch Zweckrationalität und ökonomische Interessen. Aber die Termini „faires Verfahren“ oder „berechtigtes Interesse“ können mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen gefüllt werden, je nachdem ob Rechtsbetroffene das Gefühl haben, dass es legitim ist, eine bestimmte normative Logik anzuwenden. Herangehensweisen zur Erforschung wie und unter welchen Umständen Rechtsbetroffene normative Ordnungen als legitim wahrnehmen, als legitim empfinden, die allein auf Rational-Choice-Modelle zurückgreifen, wie das in der empirischen Rechtsforschung Mehrheitsmeinung zu sein scheint, sind nicht in der Lage die Dimension der Gerechtigkeitsgefühle zu konzeptualisieren.
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Ich argumentiere, dass Gerechtigkeitsgefühle empirisch beobachtbar sind, wenn man auf die Affekte und Emotionen achtet, die Rechtsbetroffene äußern und implizieren, wenn sie ihre Einschätzungen über die Legitimität einer normativen Ordnung narrativ begründen. Anstatt affektive und emotionale Äußerungen als bloße Illustration rational getroffener Entscheidung aufzufassen, sollte man sie als integralen Bestandteil des Bewertungsprozesses der Akteur*innen ernst nehmen. Die sozialwissenschaftliche Emotionsforschung hat eine strenge Trennung zwischen rationaler Kognition und körperbezogener Emotion, also zwischen Denken und Fühlen, grundsätzlich in Frage gestellt (Beatty 2013, Lutz/White 1986, Röttger-Rössler 2009, Stets 2012, Burkitt 2014). Studien aus der Sozialpsychologie und Psychologischen Anthropologie haben hervorgehoben, dass Werte und Normen biographisch erlernt und ins emotionale Gedächtnis eingeschrieben werden; und dass die Konstitution normativer Ordnungen aufs Engste mit Affekten und Emotionen verbunden ist (Quinn 2005, Benei 2008, Scheve 2011, Scheidecker 2017). Durch emotionale Sozialisationsprozesse (RöttgerRössler et al. 2013, Röttger-Rössler/Scheidecker/Funk 2015) werden normative Ordnungen „verkörperlicht“ (Rosaldo 1984). Konkrete Ereignisse werden aufgrund solcher verkörperlichter normativer Ordnungen bewertet, sowohl kognitiv als auch emotional (Scherer/Schnorr/Johnstone 2001). Durch „affektive arousals“ auf der Grundlage erlernter und verkörperlichter Emotionen lassen sich normative Ordnungen erinnern und neu erlernen (Quinn/Mathews 2016). Auf Basis solcher Überlegungen scheint es sinnvoll, auf die Narrative zu achten, in denen Menschen Geschichten über die Vergangenheit erzählen, und welche normativen Aussagen über Legitimität sie enthalten. Jan Assmann (1995) hat für die Beziehung zwischen der Konstitution normativer Ordnungen und historischem Erinnern den Begriff „normatives Gedächtnis“ geprägt. Wenn Menschen Vergangenes erinnern, erinnern sie sich selbst und ihre Zuhörer*innen nicht nur an das Ereignis selbst, sondern auch die damit verbundenen Affekte und Emotionen. Solche Prozesse des Aufrufens von Affekten und Emotionen durch historisches Erzählen hängen freilich stark davon ab, ob Erzähler*in und Zuhörer*in emotionale Repertoires teilen – etwa durch vergleichbare emotionale Sozialisationsprozesse. Fehlt es an gemeinsamen Emotionsrepertoires, einer gemeinsamen „deep story“ wie Hochschild (2016) es ausdrückt, hängt ein gemeinsames Verstehen im Rahmen einer solchen affektiv-emotionalen Aufrufung davon ab, wie gut es gelingt einander empathisch zu begegnen (Svašek 2010). Meine Gesprächspartner*innen in Norduganda haben mir viele solcher historischen Narrative präsentiert – viele davon biographisch – wenn ich sie danach gefragt habe, wie sie die Legitimität einer normativen Ordnung bewerten. Von
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den zahlreichen konkurrierenden normativen Logiken, die in Norduganda in Umlauf sind, liegen vermutlich diejenige des internationalen Strafprozesses gegen Dominic Ongwen in Den Haag und diejenige des Amnestiegesetzes mit seiner Kompatibilität zu traditionalistischen und religiösen Ethiken von Christ* innen und Muslim*innen am weitesten auseinander (siehe auch Clarke 2009, 117-148). In meinen Gesprächen in Norduganda habe ich aber festgestellt, dass die Legitimität beider normativen Logiken mit historischen Narrativen begründet wird, die sich an der Oberfläche stark ähneln. Die Vertreter*innen beider normativen Ordnungen erzählen Geschichten über die Effekte und Wirkungen des bewaffneten Konflikts. Führende Geistliche, die sehr stark eine Ideologie der Vergebung und Versöhnung propagieren und gegenüber den Verfahren gegen LRA-Kommandeure vor dem Internationalen Strafgerichtshofs äußerst kritisch eingestellt sind, haben mir gegenüber oft auf die Zeit Bezug genommen, in der viele Nordugander*innen unter größtenteils dramatischen Bedingungen in IDP-Camps leben mussten. Ihre Narrative bezogen sich auf das unerträgliche Leben in den Vertriebenenlagern, den „schlechten Umständen“ (bad surroundings), wie Sverker Finnström sie in seiner eindrucksvollen Ethnographie geschildert hat (2008). Niemand, so ihre Implikation, könne wollen, dass diese Zeit der beispiellosen Entbehrung jemals wieder eintritt. Die führenden Geistlichen argumentieren deshalb für den Vorrang von Frieden, Vergebung und Versöhnung vor der Bestrafung von Täter*innen, weil nur durch diese Priorität die Sicherheit und Stabilität Nordugandas erhalten werde. Nur so könne neuerliche Gewalt und eine Wiederholung der Schrecken des Krieges vermieden werden. Andere, insbesondere die Überlebenden der massakrierten Dörfer, die sich in Opfervereinigungen engagieren – das Gespräch, das ich zu Beginn dieses Aufsatzes wiedergegeben habe, habe ich mit solchen Opfervertreter*innen geführt – erzählen ähnliche Geschichten, aber mit wichtigen Verschiebungen. Sie erzählen auch von den grauenhaften Lebensbedingungen in den Lagern und geben wieder, dass sie um das Jahr 2006 nichts Anderes wollten, als die IDP-Camps endlich zu verlassen. Nun aber, nach zehn Jahren, erzählen sie auch von der Zeit nach dem Abbruch der Flüchtlingslager. Sie berichten über Momente, in denen sie einsehen mussten, dass sie die Verluste, die sie während des Konfliktes erlitten haben, wohl niemals werden ausgleichen können. Sie werden ihre verpasste Ausbildungszeit nicht nachholen können. Sie sind nicht in der Lage ihr getötetes oder gestohlenes Vieh, oft Grundlage ihres bescheidenen Wohlstandes, wieder zurückzubekommen. Wären ihre Söhne, Töchter, Ehefrauen, Ehemänner, Eltern oder Großeltern noch am Leben, wären sie vielleicht in der Lage, sich mit gemeinsamer Arbeitskraft wieder eine gute Existenz aufzubauen. Sie erzählen von
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Gefühlen der Ungerechtigkeit, dass sie selbst in „schlechten Umnständen“ leben, während frühere LRA-Kommandeure, denen Amnestie gewährt wurde und von denen einige als Offiziere in die ugandische Armee integriert wurden, heute ein gutes Leben in der Distrikthauptstadt führen. Solche Geschichten sind es, mit denen diese Menschen ihre Einschätzung untermauern, der IStGH sei eine legitime Einrichtung. Die historischen und biographischen Narrative, jene die die führenden Geistlichen mobilisieren, und jene, die von den Opfervertreter*innen vorgebracht werden unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie Emotionen in ihren Zuhörerschaften aufzurufen versuchen. Die „affektiven Arrangements“ (Slaby/ Mühlhoff/Wüschner o. D.), die sie erinnern, differieren. In der Erzählung der Geistlichen erinnert die Zeit in den IDP-Camps die Zuhörerschaft an die Angst ums nackte Überleben. Das Narrativ ruft das Gefühl der Empörung gegen jeden und jede auf, der oder die diese schreckliche Qual zu wiederholen vorschlägt. Man bedenke, dass eines der wichtigsten Argumente gegen die Intervention des Internationalen Strafgerichtshofs in den frühen 2000er Jahren bis hin zu den Friedensgesprächen in Juba darin bestand, dass die Verfahren des IStGH das Leid der Binnenvertriebenen in den Lagern verlängern könnte – weil die Haftbefehle aus Den Haag die LRA von einem Friedenschluss abschrecken könnten. In der Literatur ist diese Konstellation auch die peace v justice Debatte genannt worden (Armstrong 2014). Vor diesem Hintergrund fühlen sich die normativen Logiken, die den Frieden gefährden, illegitim an (siehe auch: Seidel 2017 in diesem Band). Die affektiven Arrangements, an die die Opfervertreter*innen erinnern, sind andere. Diese erzählen vom Leben, nachdem die Camps aufgelöst worden sind. Ihre Narrative rufen Gefühle von Empörung darüber auf, dass die Täter*innen ihre Leben weiterführen können, unbelastet von der Wut und der Frustration, die von der Erkenntnis herrührt, dass die während des Konfliktes erlittenen Verluste – an Leben, Eigentum, und Beziehungen – niemals wiederhergestellt werden können. Eine normative Logik, die nicht übersieht, dass Unrecht auch vergolten werden muss, sondern Ausgleich fordert, fühlt sich im Lichte solcher Geschichten legitim an. Wie man aus dem Gespräch ersehen kann, das ich am Anfang dieses Aufsatzes wiedergegeben habe, müssen Gerechtigkeitsgefühle nicht exklusiv sein. Ihre Wirkungen sind vielgestaltig und sie entfalten sich in teils hochkomplexen pluralen Normativitäten. Rechtsbetroffene können vor dem Hintergrund des Aufrufs bestimmter emotionaler Narrative einer normativen Ordnung den Vorzug vor einer anderen geben. Wird die Legitimitätsbewertung mit der Erinnerung an andere „affektive Arrangements“ kontextualisiert, können wieder andere normative
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Logiken als genauso legitim oder sogar noch legitimer erscheinen. Wechseln narrative Kontexte, wechseln auch die Gerechtigkeitsgefühle, die Legitimitätsbewertungen beeinflussen. Das erklärt auch, warum sich Legitimitätsbewertungen überschneiden können, und Rechtsbetroffene Widersprüche zwischen normativen Logiken aushalten können, weil beide Logiken vor dem Hintergrund bestimmter Gerechtigkeitsgefühle auf empathischer Ebene legitim erscheinen, und kognitive Dissonanzen nur auftreten, wenn die logischen Inkommensurabilitäten konkret ausgesprochen werden. Menschen berechnen Gerechtigkeit in rational-ökonomischer Weise, aber sie fühlen sie auch. Ein Ansatz zur Beantwortung der Frage, wie Menschen die Legitimität normativer Ordnungen bewerten, der nur auf zweckrationale Entscheidungen, auf das „reine Denken“, abhebt, wird dabei in der Lage sein, Vieles von dem zu erklären, was sich abspielt. Aber ein solcher Ansatz muss die einfache Tatsache kleinreden, dass die Rechtsbetroffenen, die solche Legitimitätsbewertungen vornehmen, Menschen sind. Was Menschen denken, und was sie fühlen, ist nicht immer in Übereinstimmung. Es wird sich als fruchtbar erweisen, diese einfache Tatsache bei der Untersuchung von Legitimität zu berücksichtigen.
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S IRIN K NECHT 1
Der vorliegende Artikel untersucht die situativ–affektiven und emotionalen Umstände an Grenzübergängen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten. Anhand ethnographischer Beobachtungen – vorwiegend an den Grenzgängen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten durchgeführt – wird das Identitätskartensystem (vgl. Tawil-Souri 2011a; 2012) für die in Israel und in den palästinensischen Gebieten lebende palästinensische Bevölkerung erörtert und im Kontext von Gerechtigkeitsgefühlen analysiert. Dabei werden sukzessive und wiederkehrende Bedingungen, Ursachen, Gegebenheiten sowie involvierte Akteur*innen und Bestimmungen als systematisches und komplexes Geflecht von Beziehungen und Verhältnissen analysiert, die im Kontext von Grenzübergängen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten entscheidend sind. Der vorherrschende Kontext ist allerdings äußerst dynamisch und folgt nicht der Normalität, sondern stellt einen Ausnahmezustand dar. Dies verdeutlichen unter anderem die Grenzkontrollen, da Kontrollen bestimmte Sachverhalte, Gegenstände oder aber auch, wie in diesem Falle, eine gesamte Bevölkerung zu
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Mein größter Dank gebührt der Familie Barakat, die mir tiefe Einblicke in ihre Familienstruktur und Alltagswelten gewährte. Ohne ihre Geduld, Zeit und ihr Vertrauen wären diese ethnographischen Beobachtungen nicht möglich gewesen. Die arabischen und englischen Übersetzungen in die deutsche Sprache stammen von mir sowie auch alle Ungenauigkeiten in der Argumentation.
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überprüfen beabsichtigen. Grenzübergänge sind von besonderer Wichtigkeit bzw. Notwendigkeit in den Alltagswelten und –praktiken der palästinensischen Bevölkerung, was noch dadurch verschärft wird, dass die palästinensische Bevölkerung über weite geographische und rechtliche Gebiete voneinander getrennt und damit fragmentiert ist. Diese Fragmentierung wird durch das von der israelischen Regierung eingeführte Identitätskartensystem untermauert, wonach die palästinensische Bevölkerung je nach geographischem Geburts- und Wohnort sowie Rechtswesen in die Kategorien israelische Staatsbürger*innen, israelische Staatsangehörige (Ostjerusalemer*innen), Palästinenser*innen aus dem Westjordanland sowie Gaza eingeteilt werden. Beim Lesen der Beobachtung mag sich der/die Leser*in womöglich selbst emotional mit der Situation verbunden sehen oder es können sich Gemütserregungen zeigen, lässt man die Situation vor dem geistigen Auge abspielen. Sowohl bei der Teilnehmenden Beobachtung vor Ort als bei der Niederschrift der Feldnotizen am Schreibtisch kamen auch in mir Gerechtigkeitsgefühle auf – nicht nur als Beobachterin, sondern auch als Anwesende und Mitfühlende, wenn ich mich in die beschriebene Lage der jungen Mutter oder auch in die anwesenden kontrollierenden Soldat*innen versetzte und nachzufühlen versuchte. Betrachtet man den Handlungskontext, so steht den aufkommenden Gefühlen die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber. Folgerichtig muss es eine übergeordnete normative Ordnung mit festgelegten und verschriftlichten Regeln und Gesetzen geben, die in Situationen wie den hier beschrieben eingehalten werden–oder nicht. Instrumente und Mechanismen werden angewendet, um die soziale Ordnung anhand normativer Bestimmungen zu regeln. Der vorliegende Artikel geht der Frage nach, inwieweit kollektives Bewusstsein, erlernte und von Diskursen geprägte Emotionen sowie situative und umgebungsbezogene Affekte dazu beitragen, individuelles Verständnis über Gerechtigkeit mitzugestalten. Dementsprechend werden Raumgebundenheit, Präferenzen und Sanktionen sozialer, rechtlicher und staatlicher Art berücksichtigt, die Gemütsstimmungen unterdrücken oder beeinflussen können.
Der arabisch-israelische Krieg von 1948-1949 endete mit einem von den Vereinten Nationen vermittelten Waffenstillstandsabkommen. Weite Teile des ehemaligen UN-Mandatsgebiets von Palästina wurden den beteiligten Kriegsparteien zugesprochen. Der 1948 ausgerufene neugegründete Staat Israel erhielt 78% des
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damaligen Mandatsgebiets. Die zwei verbliebenen Gebiete – der Gazastreifen und das Westjordanland – wurden unter der ägyptischen Regierung und dem jordanischen Königreich aufgeteilt. Für die beiden Teilgebiete wurden nebst den bereits geltenden Rechtsordnungen des Osmanischen Reichs und des britischen Mandats die israelische, ägyptische und jordanische Rechtsordnung für anwendbar erklärt. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 unterstellte Israel dem Gazastreifen und Westjordanland seinem Militärrecht und deklarierte diese Gebiete als Kriegszone. Während Ostjerusalem nach der Annektierung durch den Staat Israel im Jahre 1980 der israelischen Rechtsordnung unterstellt wurde, blieben das Westjordanland und der Gazastreifen unter der Verwaltung des Militärrechts von Israel. Das israelische Militär wurde für die Regelung rechtlicher Gegenstände in diesen Gebieten zuständig (Hayyeh 2011: 2) und blieb dies mehr oder weniger bis in die Gegenwart hinein. Seit 1967 ist das israelische Militär im Westjordanland präsent und untermauert seine Autorität mit rechtlichen Mechanismen (Kelly 2013: 576; Abujidi 2011: 313). Der Ausnahmezustand wurde als Antwort auf die zwei Intifada beginnend in den Jahren 1987 und 2000 mit vergrößerter militärischer Präsenz, rechtlichen Restriktionen und dem Bau der Mauer ausgeweitet und bis in die Gegenwart permanent aufrechterhalten. Im Zuge dieser historischen Ereignisse wurden im Westjordanland zwei entkoppelte Rechtssysteme entwickelt, was in den 1990er Jahren mit den Abkommen der Osloer Friedensverträgen und der Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde noch verstärkt wurde (Kelly 2013: 576; Abujidi 2011: 314; Khamaisi 2011: 338). Die Parallelität der Rechtssysteme wird über den Ausnahmezustand legitimiert und verfestigt diesen wiederum. Der Ausnahmezustand oder auch Notzustand wird nach der Schmittschen Tradition (1922) von einem (in der Regel demokratischen und staatlichen) Souverän dann ausgerufen, wenn äußere aber auch interne Gefährdungen sowie andauernde Krisen den Normalzustand bedrohen. Laut Agambens (1999; 2004; 2005) Konzeption des Ausnahmezustands tritt das Recht in einem gegensätzlichen Normalzustand außer Kraft. Dies findet bei Bürgerkriegen oder als „unmittelbare Antwort der Staatsgewalt auf schwere innere Konflikte“ (Agamben 2004: 8) statt. Dabei sieht Agamben im liminalen Übergang der rechtlichen Außerkraftsetzung keinen anarchistischen Zustand. Vielmehr spiegelt sich diese Aushebelung des Rechts innerhalb seines rechtmäßigen Handlungsspielraums wieder, wonach der Ausnahmezustand innerhalb der Rechtsvorschriften verwaltet wird und sich den Mitteln des Rechts bedient. Obwohl Agamben in seiner theoretischen Abhandlung des Ausnahmezustands die Wechselbeziehung von Leben und Recht in den Mittelpunkt stellt, erkennt er auch eine juristische Problematik, die sich aus der Wechselbeziehung zwischen Staatlichkeit und extremen, (anor-
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malen) Bedingungen entwickelt (Agamben 2004; Furani 2014: 351). Der Ausnahmezustand repräsentiere eine legale Form, die rechtlich gar keine sein kann: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören“ (Agamben 2004: 45). Das interessante und gleichzeitig paradoxe am Ausnahmezustand ist seine Anwendung und Legitimationsbedürftigkeit in vorwiegend demokratischen Systemen. Es wird daher ein Zustand geschaffen, worin Rechte bestimmter Gruppen ausgeweitet und gleichzeitig Rechte anderer Gruppen eingeschränkt werden. Seiner Logik nach ist der Ausnahmezustand eine temporäre Erscheinung und benötigt Anlässe und Legitimität, um verlängert zu werden. Dies geschieht entsprechend demokratischer Mittel, um dann einen antidemokratischen Zustand gegenüber Teilen der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und diese als außerordentlich zu behandeln. Dieser paradoxe Zustand wird von Israel gegenüber seiner palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels aber auch im Westjordanland und im Gazastreifen aufrechterhalten. Seit 1969 befindet sich der israelische Staat mit der Deklarierung der Kriegszone im Westjordanland und Gazastreifen sowie der Unterstellung des israelischen Militärrechts in diesen Gebieten im Ausnahmezustand, wonach vordergründig vor allem die palästinensische Bevölkerung davon betroffen ist. In diesem Artikel lege ich das Augenmerk auf einen wesentlichen Bestandteil des Ausnahmezustands, nämlich auf die Grenzkontrollen. Der Ausnahmezustand manifestiert sich dort besonders stark, da an ihnen deutlich wird, dass innerhalb eines Territoriums für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Mobilitätsrechte bestehen. Vor dem Rechtsstaat sind daher nicht alle Bevölkerungsgruppen gleich, was einen der Grundpfeiler von demokratischer Staatlichkeit in Frage stellt. Um die Ungleichbehandlung der Bevölkerung zu legitimieren, braucht es daher den Ausnahmezustand. Dieser dient wiederum bestimmten Interessen, die es herauszuarbeiten gilt.
Grenzübergänge (oder Grenzkontrollpunkte)2 operieren als Ausläufer der Mauer3 und erstrecken sich mehrheitlich zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten im Westjordanland entlang der Mauer.
2
Die englische Übersetzung „Checkpoint„ ist auch in der deutschen Sprache als Anglizismus geläufig.
3
Der physischen Mauer werden in Abhängigkeit von der Situierung und Funktion im Diskurs und den beteiligten Akteur*innen, die sich darüber äußern, unterschiedliche
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Der Beginn des Mauerbaus zwischen palästinensischen Gebieten im Westjordanland und Israel fand 2003 statt. Der Bau der Mauer löste eine Kontroverse aus, die die israelische Gesellschaft und teilweise Parteien sowie die internationale politische Landschaft und Organisationen spaltete. (Inter-)Nationale Menschenrechtsorganisationen sahen mit der Konstruktion internationales Recht und humanitäres Völkerrecht verletzt, die öffentliche israelische Seite und Befürworter rechtfertigten den Mauerbau als Instrument zur Selbstverteidigung und dem Schutz der israelischen Bevölkerung und des Staates selbst vor Terrorattacken von Palästinenser*innen.4 Die Mauer bringt die Notwendigkeit mit sich, durch Passagen durchlässig sein zu müssen, bedenkt man, wie klein die in sich fragmentierte Fläche im Westjordanland ist. Grenzübertritte werden für viele Menschen zur ständigen Notwendigkeit. Bauern/Bäuerinnen, deren Agrarland sich auf der anderen Seite der Mauer befindet, können zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Zeitintervalle ihre Felder bestellen – um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Innerhalb des Westjordanlands existieren aufgrund der zonalen Einteilung weitere interne Kontrollpunkte. Die dreifache zonale Gliederung des Westjordanlands geht aus den Interimsverhandlungen von Oslo hervor, die eine verwaltende Aufteilung des Raums zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde hinsichtlich ihrer Rechtsstellung und Autorisierung beabsichtigten. Die militärische Präsenz Israels bleibt im ganzen Westjordanland bestehen, um die nationale Sicherheit für Staat und Bürger*innen von Israel gewährleisten zu können (vgl. B’Tselem 2013; Kelly 2006: 47; 2009: 88). Im Unterschied zur einheitlichen Militärpräsenz werden die Zonen von unterschiedlichen Behörden verwaltet. Die rechtliche Autorisierung in der Zone B, mit einer Fläche von etwa 18% des Westjordanlands (B’Tselem 2013; Kadman 2013: 11), wird von Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde getragen. Die palästinensische Behörde ist zuständig für zivilrechtliche Angelegenheiten, während das israelische Militär für das Sicherheitswesen verantwortlich ist (B’Tselem 2013; Kelly 2006: 47; 2009: 88). Die Zone C macht mit ungefähr 60% den größten zonalen Anteil
Begriffe zugeordnet. Internationale, israelische und palästinensische Menschrechtsorganisationen sprechen beispielsweise von Separation Wall, Apartheid Wall, Annexation Wall und Separation Barrier, wohingegen die offizielle israelische Seite (Ministerien, Wissenschaftler*innen, internationale Organisationen wie Jewish Agency for Israel etc.) von einer Security Fence, Security Wall und Anti-Terrorist Fence spricht. Im Rahmen dieses Artikels wird der deutsche Begriff Mauer verwendet (vgl. al Haq 2012: 17). 4
Für weitere detaillierte Informationen dazu siehe Knecht 2014, Kapitel 2.3.1.
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des Westjordanlands aus und unterliegt vollumfänglich der israelischen Behörde, wohingegen die Zone A mit ihren 22% Flächenanteil zum Westjordanland gänzlich der palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt ist. Die Zone A wird zum Sperrgebiet für israelische Bürger*innen erklärt. Palästinenser*innen ist es hingegen verboten, israelische Siedlungen zu betreten, die innerhalb der Zone C liegen (B’Tselem 2014; 2013). Insgesamt gibt es 96 permanente Kontrollpunkte, 57 davon innerhalb des Westjordanlands. 39 aller fixen Grenzkontrollpunkte sind Ausläufer der Mauer. Kontrollpunkte, die in Form von Barrieren, Zäunen, Felsbrocken oder Autokontrollen vorkommen können, werden flying Checkpoints genannt. Diese Grenzkontrollpunkte sind nicht stationär und permanent und wechseln daher ständig ihren Ort (vgl. B’Tselem 2015). Bei zwei Personen in der Reihe vor mir gab es einen Vorfall. Grund zur Aufruhr war eine Mutter, bei der der Metalldetektor die ganze Zeit „gepiepst“ hat. Sie übergab ihren Säugling der Freundin, zog ihre Schuhe aus während sie mit ihrer Freundin und der älteren Frau vor mir darüber sprach und zeigte immer wieder auf ihre Finger und Ohrläppchen – sie trug keinen Schmuck. Es war unvorstellbar, wie eine übereinstimmende Kommunikation jemals erfolgreich funktionieren soll, da der junge Soldat abgehackte Sätze auf Hebräisch sprach und die Mutter wiederum verzweifelt Brocken in arabischer Sprache zur Antwort gab. Sogar ihre Haarspange, an der ihre ganze Kopftuchverschleierung befestigt war, gab sie zum Metalldetektor hindurch, ergebnislos. Die Frau lief mindestens zehnmal hin und her und bei jedem Gang
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Qalandyia gilt als der größte Grenzübergang (sowohl für Fußgänger*innen als auch für Fahrzeuge) zwischen den palästinensischen Gebieten im Westjordanland und dem Kommunalgebiet von Jerusalem (Ostjerusalem). Für umfangreichere Beschreibungen des Grenzkontrollpunkts siehe Tawil-Souri 2011a; 2011b; 2012. Der vorliegende Text basiert in weiten Teilen auf der unveröffentlichten Masterarbeit von Knecht 2014: Grenzen als Strukturierung alltäglicher Praktiken und der Familie. Asymmetrien von Staatsbürgerschaft am Beispiel von Ehen in Israel/Palästina. Die ethnographischen Beobachtungen der Verfasserin beruhen auf teilnehmenden Beobachtungen im Rahmen der Feldforschungsarbeit für die oben vermerkte Masterarbeit. Die Beobachtungen wurden mehrheitlich an dem Kontrollpunkt von Qalandyia abgehalten.
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leuchtete erneut das rote Lämpchen des Detektors auf und das piepsende Geräusch war zu hören. Die wartenden Leute vor mir wurden ungeduldig, traten von einem Bein auf’s andere. Einige rauchten, andere tippten gedankenlos auf ihren Smartphones. Niemand wagte in die Situation einzugreifen, eine gewisse Gleichgültigkeit oder auch Alltäglichkeit schien sich bei den Wartenden breitzumachen. Ich wollte gerne intervenieren, um die Frau zu unterstützen und dieser sinnlosen Situation ein Ende zu setzen. Doch aufgrund der Militärpräsenz und der kollektiv-gelebten Passivität um mich herum wagte ich nicht einzugreifen. Den Soldaten hinter der Plexiglasscheibe ihres containerförmigen Büros schien der Aufruhr wenig zu kümmern. Er lachte und schwatzte mit seinen anwesenden Kollegen, die ein Filmchen auf einem Handy abspielen ließen. Sie schenkten dem Ereignis vor ihrer Scheibe wenig Aufmerksamkeit. Mit allmählicher Bestimmtheit verlor die junge Mutter die Geduld, sie packte verärgert ihr Kind und ging zum Ende der Warteschlange zurück. Die Stimmung ist ohnehin schon aufgeheizt und beinahe untragbar erdrückend, was auf die Gemütslage unbewusst und dennoch sehr intensiv einwirkt. Nachdem ich den Schalter passiert habe, sah ich die junge Mutter aus einem anderen Schalter kommen. Offensichtlich wurde sie dort nicht aufgehalten. (Tagebucheintrag vom 11.10.2013)
Der Ausschnitt aus den Feldnotizen rückt eine Frau ins Zentrum, die mit ihrem Kind unterwegs ist und eine Grenze überqueren möchte. Dies scheint auf den ersten Blick eine alltägliche, wenig aufregende Praxis zu sein, die routinierten und ungeschriebenen rationalen Abläufen folgt: an einer Grenze werden die Ausweise geprüft. Die wesentlichen Merkmale und die darin enthaltenen Informationen des Ausweises entscheiden über den Übertritt in das andere Gebiet, den Fortgang der Reise sowie die Bewegungsfreiheit. Die kontrollierenden Instanzen sind Personen, die im Dienste der jeweiligen Gebietsautorität stehen. Sie kontrollieren und überwachen mittels vorgeschriebener Maßnahmen, wer die Grenze passieren darf. Personen verwandeln sich demnach an Grenzübergängen zu Rechtssubjekten. Die Ausweise geben Aufschluss über ihre Identität und den damit verbundenen Rechten. Die Identitätskarten kategorisieren und bestimmen über die Identitäten der Personen, die in diesem Moment zu Rechtssubjekten werden. Im vorliegenden Fallbeispiel handelt es sich um Grenzübergänge, welche die palästinensische Bevölkerung in ihrem Alltagsleben täglich überqueren müssen. Ungleich zu Grenzübergängen zwischen zwei Staaten überqueren die
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Personen hier am Kontrollpunkt von Qalandyia die „grüne Linie“,6 eine 1949 gezogene Linie, die als Resultat aus dem Waffenstillstandabkommen im arabisch-israelischen Krieg hervorgegangen ist. Die Betonmauer, die häufig entlang der grünen Linie gebaut wurde, zerschneidet das Westjordanland und mit ihr ganze Nachbarschaften und Orte der palästinensischen Bevölkerung. Durch die Abgrenzung gehören daher Grenzübergänge zu einer unvermeidbaren Alltagspraxis, seien es Besuche oder Schul- oder Arbeitswege, auf denen man eine Grenze überqueren muss. An den Grenzübergängen treffen die palästinensische Bevölkerung und die dort stationierten israelischen Soldat*innen gezwungenermaßen aufeinander. Wie aus dem Fallbeispiel jedoch zu entnehmen ist, interagiert diese Personenkonstellation weniger miteinander als über technologische Instrumente, die an diesem Ort in unzähliger Ausführung vorkommen. Die Überwachungstechnologien (Metalldrehtüren, Metalldetektoren, Scangeräte für die Identitätskarten, Überwachungskameras,) sowie die physische Abgrenzung (Metallgitter, Plexiglasscheibe) intensivieren die Distanz zwischen den zwei Gruppen. Notwendigerweise wird dadurch ein personenbezogener Kontaktaustausch unterbunden. Offensichtlich lebt die junge Mutter im Westjordanland und besitzt eine West Bank ID, weshalb sie konkret diesen Grenzübergang wählen muss. Die Überquerung bei diesem Fußgängerübergang dauert aufgrund der strengeren Sicherheitskontrollen mit Scangeräten verhältnismäßig länger als bei Fahrzeugkontrollpunkten, da es sich hier vorwiegend um Personen aus dem Westjordanland handelt, denen normalerweise der Zugang nach Israel untersagt ist. Die Auswirkungen des Ausnahmezustands gestalten sich für die Frau so, dass sie aufgrund ihrer Identitätskarte unter Generalverdacht gestellt wird und ihre Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit eingeschränkt werden. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, legitimiert der Ausnahmezustand eine intensivere Überprüfung einer bestimmten Gruppe, um eine andere Gruppe dadurch besser beschützen zu können. Auf das konkrete Fallbeispiel bezogen, ist der Soldat dazu befugt, die junge Frau „von Kopf bis Fuß„ zu inspizieren. Ihm
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Die grüne Linie wird nach internationalem Recht als territoriale Grenze zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten anerkannt. Mit dem arabisch israelischen Krieg von 1948-1949 und seinem Waffenstillstandsabkommen vergrößerte sich das territoriale Staatsgebiet Israels im Vergleich zu demjenigen, welches im Teilungsplan der UNO vorgesehen war, stark. Die Namensgebung wurde von der grünen Farbe abgeleitet, die in den Friedensgesprächen für die Linie auf der Karte gebraucht wurde. (vgl. al Haq 2012: 7).
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wird auch das Recht eingeräumt, die Frau mehrere Male durch den Metalldetektor laufen zu lassen und sich dabei auf die Technik zu verlassen, obschon er sie ja nach dem dritten Male (und der offensichtlichen Entwarnung einer Bedrohung) hätte durchwinken können. Die beschriebene Szene verdeutlicht eine klare Machtdemonstration, die anhand von Technologien und bestimmten Prozessen erzeugt und wiederholt wird. So reproduzieren und manifestieren sich Asymmetrien rechtlicher Regelungen und Macht. Die zerschnittene kleine Fläche mit den unzähligen Grenzübergängen unterstützt eine Wiederholung solcher Prozesse und daher werden sie zu routinierten Abläufen. Die anwesenden Leute erscheinen daher gleichgültig und teilnahmslos. Sie kennen die Prozesse und reproduzieren sie. Sie sind sich der Willkür bewusst und fühlen sich gegenüber den Technologien machtlos. Sie empfinden die Situation, bei der die Frau mehrere Male durch den Metalldetektor gehen muss, eher als störend, da sie dadurch in ihrer Weiterreise behindert werden, die ohnehin mit Aufwand und langen Wartezeiten verbunden ist. Die Prozesse, die sich an den Grenzübergängen abspielen, stehen einerseits im Widerspruch zum rationalen Wesen der Grenzübergänge und andererseits zum Recht, das Vorhersehbarkeit und Klarheit schaffen soll. Zugleich wird anhand des Fallbeispiels deutlich, dass der Ausnahmezustand an den Grenzübergängen durchlässig ist und umgangen werden kann. Die Frau wählte einen anderen Metalldetektor mit einem anderen Soldaten und wurde dort nicht aufgehalten, was wiederum veranschaulicht, wie stark solche Vorgänge primär durch Personen beeinflusst werden. Schließlich entscheidet die uniformierte Person hinter der Plexiglasscheibe über das Durchwinken oder das Zurückhalten von Personen, indem er/sie sich entweder auf die Technik stützt oder seine/ihre aktiven Partizipationsmöglichkeiten nach persönlichen Motiven auslegt. Es kann gut möglich sein, dass der Metalldetektor beim zweiten (und letztlichen) Übergang im Falle der oben genannten jungen Frau nicht angeschlagen hat. Auch kann es sein, dass der Metalldetektor sehr wohl angeschlagen hat, das jedoch von dem prüfenden Soldaten ignoriert wurde. In allen Szenarien ist die letztendliche Entscheidung personifiziert. Neben der Personenabhängigkeit bei der Anwendung von Recht, wird anhand des Grades des Ausnahmezustands an den Grenzübergängen dargelegt, dass Emotionen und Affekte einen ebenso entscheidenden Einfluss auf Prozesse ausüben. Grenzübergänge mit ihrer Überwachungstechnologie und großen Soldatenpräsenz, die oftmals schwerbewaffnet sind, erzeugen eine Atmosphäre, die auf die Gemütslage einwirkt. Der trostlose graue Metallkomplex, dessen Metallgitterschleusen man durchlaufen und in denen man teilweise zusammenquetscht in einer Warteschlange ausharren muss, ruft ebenso Emotionen wie Verzweiflung, Wut oder Unrecht hervor.
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Affekte und Emotionen beschreiben eine besondere Art des Fühlens einer bestimmten Stimmungslage wie Furcht, Scham, Freude, Gleichheit, Liebe, Hass oder Gerechtigkeit. Mühlhoff, Slaby und Wüschner (2016) unterscheiden zwischen Emotionen und Affekten, indem sie das Konzept von „affective arrangements“ einführen. Diese Betrachtungsweise von Affekten sieht eine raumgebundene, dynamische und temporäre Handlungsdimension vor, die von der Umgebung und der spezifischen Kombination von menschlichen und nichtmenschlichen Interaktionen abhängt. Ein solcher konzeptueller Rahmen erlaubt es einerseits, die systematische und wechselseitige Vernetzung von bestimmten Beziehungen unter gewissen Umständen zu betrachten. Andererseits reproduzieren sich solche „settings“ und folgen einer gewissen Logik, was schließlich zu einem Muster führen kann, das soziale Beziehungen und individuelles Verhalten mitgestaltet. Durch eine bestimmte Strukturierung von Affekten in gleichen oder ähnlichen Umgebungen können Emotionen erzeugt werden, die in bestehende konventionelle Kategorien wie die oben genannten Stimmungslagen wie Furcht, Scham, Freude, Gleichheit, Liebe, Hass oder Gerechtigkeit eingeteilt werden können. Mit ihrem Konzept von Affekten zielen sie jedoch nicht auf die sozialisierten (teilweise institutionalisierten) Emotionen ab, sondern sie sehen in Affekten die Komponenten eines Zusammenspiels, die sich in der Gegenwart befinden und ein Produkt zwischenmenschlicher Interaktionen und Dynamiken sind. Demnach sind Affekte keine rohen Emotionen und Produkt mentaler Verfassung, sondern ein Muster wiederkehrender Konstellationen von Beziehungsgeflechten (Mühlhoff/Slaby/Wüschner 2016: 6). Die Entfaltung von Affekten in einem spezifischen Kontext steht folglich im Zentrum. Dabei wird das Augenmerk bewusst auf den Raum und dem darin entstehenden Operationalisieren von Affekten hin zu einer Assemblage von Affekten oder verfestigten Emotionen gelegt. Obschon die Zusammensetzung von Affekten zu einer Assemblage situationsgebunden ist, wird dabei der historische Bezug nicht vernachlässigt, da ein spezifisches Beziehungsgeflecht sich unter gewissen Umständen nicht rein zufällig ereignet. Vor allem auf der Mikroebene, also in den Alltagsrealitäten einzelner Situationen, spielen Details und wichtige Bestandteile, die in Form von Diskursen, Räumlichkeit und kulturellen Gewohnheiten die Etablierung von affektiven Mustern prägen, eine bedeutende Rolle. Bereits auf der Mikroebene interagiert und reagiert die einzelne Person auf ihr Umfeld. Die dort erworbene Transindividualität zeigt sich dann im affektiven Verhalten kollektiver Identität (Mühlhoff/Slaby/Wüschner 2016: 5).
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Ich komme auf das eingangs erwähnte Fallbeispiel mit der jungen Frau am Grenzübergang zurück. Die junge Frau wächst mit der Fragmentierung des Westjordanlands auf. Dementsprechend wird sie mit Grenzen, Auseinandersetzungen und Restriktionen in ihrem Alltagsleben ständig konfrontiert und kennt gängige, öffentliche Diskurse über die politische Situation. Sie teilt ihre Situation und eingeschränkte Freizügigkeit mit unzähligen anderen Palästinenser*innen an den Grenzkontrollen. Es wird deutlich, dass (un-)bewusst Erfahrungen und Erlebnisse nach affektiven Gefühlsempfinden eingestuft, kulturell-sozialisiert und reproduziert werden (vgl. Röttger-Rössler et al. 2012; 2015). Die somit internalisierten kognitiven Muster von Gemütszuständen werden subjektiv am Körper erfahren und lösen unterschiedliches reaktives Verhalten aus. Daneben sind es die (fehlenden) Interaktionen vor Ort mit dem Militärpersonal und den Technologien sowie die ständig routinierten Prozesse, die Gefühle von Ohnmacht, Frust und Verzweiflung reproduzieren und aufrechterhalten. Dies lässt sich mit dem von Bens und Zenker in diesem Band (2017) verwendeten Begriff der Gerechtigkeitsgefühle verbinden, wobei sich individuellphysisch wahrgenommenen Affekte beim Gerechtigkeitsempfinden in Assemblagen auf der Mikroebene verdichten, die aber wiederum in dialektischer Weise von übergeordneten sozialen und politischen Normen auf der Makroebene beeinflusst werden. Im Zentrum stehen hierbei unterschiedliche Ansichten von Gerechtigkeit, deren Anwendung und Praktiken sich innerhalb eines gesetzlichen Rahmens und normativen Regeln bewegen. Diese Interdependenz gelebter Affekte von Subjekten mit interaktivem und rechtlichem Sozialverhalten auf gesellschaftlicher Ebene tragen entscheidend zum Gerechtigkeitsempfinden bei. An den Grenzübergängen werden Palästinenser*innen zu Rechtssubjekten mit unterschiedlichen Rechten und haben daher auch unterschiedliche Abläufe an den Grenzübergängen. Die Grenzübergänge werden zu unterschiedlich komplexen Hindernissen, die es zu überwinden gilt. Die Überwachungstechnologien markieren eine übergeordnete Machtdemonstration und reduzieren die Grenzgänger*innen auf ihre bloße Identitätskarte. Diese hingegen zeigt, wie unterschiedlich die Rechte sind, die mit diesen Karten einhergehen und wie unterschiedlich beschwerlich und komplex derselbe Grenzübergang trotz seiner scheinbaren Rationalität sein kann. Es hängt davon ab, welcher Kategorie die Rechtssubjekte zugehören.
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Liest man in der Zeitung über Gerichtsverhandlungen, bei denen das Urteil wegen der Missachtung oder ungerechter Anwendung eines Gesetzes angefochten oder dagegen Berufung eingelegt wird, so kommen bei den Leser*innen mal mehr mal weniger bewusst Gerechtigkeitsgefühle auf. Mediale Repräsentation sowie Kampagnen in öffentlichen Diskursen bewegen die Gemüter und kreieren eine kollektive Wahrnehmung über Gegebenheiten, die eng mit Prinzipien einer ausgleichenden Ordnung in einer Gesellschaft oder dem Einhalten sozialer Normen und Gesetzen verknüpft sind. Ein solches Gruppenbewusstsein kann womöglich bis zu gesellschaftlichen Veränderungen führen (Kuran/Sunstein 1999). Idealisierung und Übertreibung können Emotionen verstärken und davon können Politiker*innen, Institutionen, Medien oder der Staat profitieren. Die Manipulation von Gefühlen kann somit zu politisch-rechtlichen Gesetzesänderungen oder Sanktionen für Minderheiten oder Subkulturen führen. Gegenwärtige Beispiele finden sich auf globaler Ebene mit der „culture of fear“ oder „culture of politics“ assoziiert werden. Solche Debatten, die oftmals mit Bildern zur Verstärkung ihrer Wirkung geführt werden, beeinflussen nicht nur das kollektive Bewusstsein und Wissen auf einer gesellschaftlichen Ebene, sondern färben auch auf den Mikrokosmos individueller Wahrnehmungen ab. Finden nämlich Ereignisse mit größerer regionaler oder gar weltweiter Tragweite statt, beispielsweise Abstimmungsentscheide im Parlament, Bombenanschläge oder Demonstrationen in Jerusalem, Tel Aviv oder Haifa etc., so haben diese maßgeblichen Einfluss auf die Abläufe an den Checkpoints. Kollektive Bestrafungen wie die komplette Schließung der Checkpoints können daraus resultieren. Reaktionen darauf können gewaltsame Ausschreitungen, Handgemenge, (fatale) Schießereien und Verhaftungen sein (vgl. Tawil-Souri 2011a: 13). Demzufolge bringt das Ausmaß der wahrgenommenen Affekte verbunden mit der Situationskonstellation hervor, inwiefern Personen alleine oder im Kollektiv - in welcher Gemütslage und mit welchen Absichten interagieren oder reagieren. Neben der Manipulation der Gefühlswelt „von außen“ , kann natürlich auch jede*r Akteur*in individuell die eigenen Emotionen beeinflussen. Die Intensität von Emotionen kann dabei nach anderen persönlichen (emotionalen) Präferenzen und Beweggründen bestimmt werden. Der/die Akteur*in ist sich dabei auch in einem emotionalen Zustand kognitiv seinem/ihrem (widerrechtlichen) Handeln und dessen Folgen sowie eventuellen Gegenmaßnahmen bewusst. Er/sie ist so in der Lage, andere stimulierende Präferenzen in seine/ihre Entscheidung miteinzubeziehen und gegeneinander abzuwägen, was dann in einer Handlung resultiert (Posner 2000: 14).
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Identitätskarten bestimmen im Wesentlichen die Komplexität der Grenze für die Grenzgänger*innen. Die Identitätskarten (arabisch hawyia) selber haben eine uniforme, eierschalenfarbene Gestaltung. Als augenscheinliches Merkmal fallen die unterschiedlichen Farben von den Plastikhüllen der Ausweise auf. Die Farben blau, blaugrün, grün und orange symbolisieren die Zerlegung der palästinensischen Gesellschaft in Israel und den palästinensischen Gebieten in unterschiedliche Fragmente. Der Ursprung der farblichen Gliederung lässt sich gemäß Tawil-Souri (2011a: 71; 2012: 154ff)7 auf die Etablierung der Staatsbürgerschaft im britischen Mandat von Palästina im Jahre 1922 zurückführen. Damals galt die palästinensische Bevölkerung als Relikt Osmanischer Herrschaftszeiten und fiel unter türkisches (osmanisches) Recht. Auf beiden blauen Identitätskarten befindet sich das israelische Staatswappen (siebenarmiger Leuchter, umrahmt von zwei früchtetragenden Olivenästen) und der Ausweis ist in hebräischer Sprache verfasst. Hier wird zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis unterschieden, was am deutlichsten anhand der Religionszugehörigkeit sichtbar wird. Umgangssprachlich und je nach politischem Umfeld und Ethnizität wird von „arabischen“ und „richtigen“ Identitätskarten im Zusammenhang mit israelischer Staatsbürgerschaft gesprochen. Diese beiden Identitätskarten unterstehen der israelischen Gerichtsbarkeit mit der darin verbundenen Freizügigkeit und Anspruch auf Sozialleistungen. Die grünen und orangen Identitätskarten haben das Abzeichen der palästinensischen Autonomiebehörde und sind in arabischer Sprache. Farbliche Nuancen (nämlich die Unterscheidung zwischen reinem grün und blaugrün) differieren zwischen West Bank ID und Jerusalem ID. Letztere ist dem israelischen Recht unterstellt, schließt aber alle Rechte und Leistungsansprüche aus. Die Ostjerusalemer*innen sind Staatsangehörige und werden mehr geduldet als in die israelische Gesellschaft integriert. Obschon sie Anspruch auf Sozialleistungen haben, dürfen die Ostjerusalemer*innen nur im Kommunalgebiet Jerusalems wohnen, was die Kommunalgebiete auf der anderen (östlichen) Seite der Mauer im Westjordanland miteinbezieht. Der/die Inhaber*in einer solchen Karte muss im jährlichen Turnus durch wechselnde Anforderungen den Wohn- und Lebensort in Ostjerusalem als Mittelpunkt alltäglichen Geschehens beweisen können, um
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Diese Autorin befasste sich ausführlich mit dem Identitätskartensystem. Siehe daher Tawil-Souri 2011a; 2012.
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die Identitätskarte nicht zu verlieren. Die orangene Identitätskarte repräsentiert die Palästinenser*innen, die in Gaza leben.
Ergänzend zu regelmäßigen Beobachtungen am Grenzübergang Qalandyia forschte ich bei Überquerungen zu Fuß, im Privatauto oder Bus an kleineren internen Kontrollpunkten. Häufig berichteten mir Gesprächspartner*innen, die im Bus neben mir saßen, ihre negativen Erlebnisse bei Fußgängerüberquerungen. Eine Erklärung dafür, dass Menschen lieber im Bus die Grenze überqueren, sehe ich darin, dass sich die Leute dort geschützter und weniger exponiert gegenüber dem Militärpersonal fühlten. Es ist behaglicher, nebeneinander in den abgesessenen Sesseln zu sitzen als dicht zusammengedrängt und umgeben von Metallgitterstäben, Überwachungsinstrumenten und Soldat*innen hintereinander stehen zu müssen. Neben solchen Gesprächen und Bekanntschaften, die sich informell und spontan im Bus ereigneten, erzählten mir Informant*innen, die ich länger begleitete, ihre erlebten Geschichten und Vorfälle an den Grenzübergängen oder die von ihren Familienmitgliedern, Verwandten oder Freund*innen. Am intensivsten war dabei mein Kontakt mit der Familie Barakat.8 Die Barakats sind eine palästinensische Großfamilie, die interfamiliär über Generationen und Gender hinweg unterschiedliche Identitätskarten und demzufolge verschiedene Mobilitätseinschränkungen und Freizügigkeiten besitzen. Damit sind sie typisch, nicht außergewöhnlich. Die Fragmentierung innerhalb der Familie macht sich bei Alltagssituationen und festlichen Aktivitäten wie die für die soziale Kohäsion im arabischen Raum bedeutsame und prestigeträchtige Hochzeit bemerkbar.9 Als Kompromisslösung finden jeweils familiäre Feste an Orten statt, deren Zugang allen gewährleistet ist oder zwei Feste werden veranstaltet, wobei letzteres oftmals finanziell nicht tragbar ist.
Nachdem ich aus dem Taxi gestiegen bin, empfing mich Rimas Ehemann, Waleed und führte mich zu einem der Hochhäuser in Kufur Akab, wo er zu-
8 Die Namen aller Familienmitglieder sind aufgrund des Informantenschutzes geändert. 9 Detailreichere Darlegungen über die Bedeutung der Familie im arabischen Kontext siehe Conte/Walentowitz 2009 oder Parolin 2009.
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sammen mit Rima und seinen drei Söhnen Mazen, Sari und Ghassan lebt. Kufur Akab ist eine langgezogene, östlich der Mauer im Westjordanland gelegene und sich stetig ausdehnende Peripherie von Ramallah und grenzt direkt an den Grenzübergang Qalandyia. Kufur Akab befindet sich in der Zone C (demnach unter israelischer Verwaltung und seinem Sicherheitswesen) und zählt zum Bezirk Jerusalem.
Die geographische und rechtliche Lage von Kufur Akab – innerhalb der Kommunalgrenzen von Jerusalem, in der Zone C und im Westjordanland gelegen – legitimiert ein Zusammenleben von Personen mit einer Jerusalem ID und Personen mit einer West Bank ID. Jene können legal in diesem Gebiet leben, ohne dabei den Verlust ihrer Identitätskarte aufgrund der center of life policy10 zu riskieren. Wären solche Orte wie Kufur Akab inexistent, gäbe es die drei folgenden Szenarien: Die Person mit der Jerusalem ID verlöre seine/ihre Identitätskarte und mit ihr die damit verbundenen Rechte, Sozial– und Dienstleistungen sowie Bewegungsfreiheiten; die Person mit der West Bank ID müsste sich illegal westlich der Mauer in Ostjerusalem aufhalten, wäre jedoch ohne „staatliche“ Sicherheit und Unterstützung und riskiert beim Aufgreifen von Polizist*innen oder Soldat*innen ins Westjordanland abgeschoben zu werden; das Ehepaar entscheidet sich getrennt voneinander zu leben. Infrastruktur und Dienstleistungen werden in Kufur Akab aufs Minimum beschränkt oder gar nicht erbracht. Die Orte zwischen Ostjerusalem und Ramallah entlang der Mauer sind ein „Niemandsland“, wo es an Sicherheit und Abfallentsorgung fehlt. Es erstaunt daher nicht, dass genau solche Gebiete – allen voran Kufur Akab in der Nähe des ehemaligen Flughafenareals von Jerusalem – als Drogenumschlagplätze zwischen Israel und dem Westjordanland gelten. Daneben schießen Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden. In der Regel wird schnell
10 Diese Regelung verordnet, dass der Lebensmittelpunkt innerhalb der Kommunalgrenzen von Jerusalem anhand von nachweisbaren Papieren und Belegen dokumentiert werden kann. Ein standardisiertes Formular umfasst eine Auflistung aller zum Nachweis erbringenden Unterlagen: Wasser- und Elektrizitätsrechnungen, Unterlagen zur medizinischer Versorgung und Behandlung, Steuern, Ehebescheinigung, Bestätigung und Nachweis der Schule oder Universität der Kinder innerhalb der Bezirksgrenzen, Adressenregistrierung und vollständige Angaben zu Personen, die im selben Haushalt wohnen, Arbeitsverträge sowie Auszüge der Konten israelischer Banken etc. Für weitere detaillierte Informationen siehe Stein 1997, Tabar 2010, Jefferis 2012 oder Knecht 2014: Kapitel 3.2.5.
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und mit schlechtem Material und Qualität gebaut. Verträge werden mündlich oder per Handschlag vereinbart und demnach können die Wohnungen jederzeit vom israelischen Militär durchsucht und Eigentum beschlagnahmt werden. Da die palästinensische Autonomiebehörde nicht für die zivilen Angelegenheiten in Kufur Akab zuständig ist, ist ihnen ein eingreifendes Handeln in dieser Gegend untersagt.
Im geräumigen Wohnzimmer, ausgestattet nach arabischem, traditionellem Vorbild mit mehreren üppigen Sesseln und Sofas aus dunklem Holz und vielen bunten Kissen, sitzt Rimas Bruder Ayman mit seiner Ehefrau und den drei Kindern. Illham, Rimas und Aymans Nichte, ist ebenfalls anwesend mit ihrem Ehemann Abed, der ein Großcousin von Rima und Ayman ist. Die Wurzeln der Familie Barakat lassen sich auf ein Quartier in der Altstadt Jerusalems zurückführen. Mit Ausnahme des Großcousins Abed haben die Geschwister Rima, Ayman und die an dem ersten Treffen nicht anwesenden Dara und Rayah sowie deren Nichte Illham eine Jerusalem ID. Ihre Ehepartner*innen hingegen besitzen eine West Bank ID. Rima ist das Bindeglied zwischen mir und ihrer Familie. Ergänzend zu ihrer Rolle als Gastgeberin verfügte sie über die besten englischen Sprachkenntnisse. Geduldig erklären sie mir die Finessen in den Unterschieden von Identitätskarten anhand illustrativer Beispielen. Ab und an veränderte sich die Laune und Tonlage der Familienmitglieder an bestimmten Stellen ihrer eigenen Geschichten oder denjenigen anderer. Sie echauffierten sich und ließen ihrer Empörung über die gegenwärtige rechtliche Situation freien Lauf, die so tiefgreifend in ihr Alltagsleben eindringt.
Wie sehr sich staatlich legitimierte Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Ausnahmezustand mit familiären Alltagspraktiken verquicken, lässt sich anhand der biographischen Hintergründe von Rima und Ayman mit ihren Familien näher beschreiben. Da beide Familien im Besitz unterschiedlicher Identitätskarten sind, wird jeweils ein Erlebnis geschildert, bei denen die Angehörigen unter Zwang zeitweilig getrennt wurden. Unterschiede werden anhand der Farbe ihrer Identitätskarte sichtbar. Hauptsächlich ereignen sich solche Erlebnisse beim gemeinsamen Reisen oder Besuchen von Verwandten, wo es unvermeidlich ist Kontrollpunkte zu passieren. Rimas und Waleeds zwei ältere Söhne haben die West Bank ID, was auf zwei Gründe zurückzuführen ist: zum einen liegt ihr Geburtsort im Westjordanland und nicht innerhalb Jerusalemer Bezirksgrenzen in Ostjerusalem; zum anderen
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werden im Gegensatz zur jüdischen Tradition in der palästinensischen (arabischen) Gesellschaft Rechte, Mitgliedschaft und soziale Inklusion patrilinear, d.h. über das Verhältnis von Vater und Kind abgewickelt. Die „Staatsbürgerschaft“, bzw. die Identitätskartenkategorie kann nicht über die mütterliche Linie weitergegeben werden. In der Praxis wird diese Regelung unterschiedlich und teilweise auch willkürlich angewendet, weshalb abweichende Fälle mehr zur Regel als zur Ausnahme werden. Dasselbe gilt für das Prinzip der Staatsangehörigkeit nach dem Geburtsort, das ius soli. Im Falle von Rimas jüngstem Sohn Ghassan fällt jedoch eine andere Begründung maßgeblich ins Gewicht: Obschon Ghassan in einem Krankenhaus im Westjordanland geboren wurde, zogen Waleed und Rima zu diesem Zeitpunkt nach Kufur Akab, da Rima die Aberkennung ihrer Jerusalem ID drohte. Aufgrund ihrer Antragstellung zur Erneuerung der Identitätskarte beantragte sie gleichzeitig die Überschreibung ihres Sohnes auf ihre Identitätskarte, was bis zum 12. Lebensalter möglich ist.11 Die zwei anderen Geschwister besitzen wie ihr Vater eine Aufenthaltsbewilligung für den Bezirk Jerusalem. Aufenthaltsbewilligungen erhält man durch Erfüllung unterschiedlicher Auflagen und der Entrichtung von Kosten abhängig von Zeitfenster, Art der Bewilligung (Arbeit, Besuch, Aufenthalt, etc.), Bewegungsradius (z.B. auf Bezirk Jerusalem oder Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv beschränkt oder ganz Israel) sowie Erneuerungsperioden.12 Das auf seine Frau Rima angemeldete Auto mit israelischem (gelbem) Kennzeichen darf Waleed nicht fahren. Den Träger*innen einer West Bank ID ist es grundsätzlich nicht gestattet, in einem Auto mit einem israelischen Nummernschild mitzufahren, was allerdings in der Realität unterschiedlich gehandhabt wird. Schon allein aufgrund der Tatsache, wie viele Familien davon betroffen sind und was für ein (zeitlicher, physischer) Aufwand an Militärpersonal und
11 Die Registrierung der Kinder von Ehepartner*innen mit unterschiedlichen Identitätskarten ist eine komplexe bürokratische Angelegenheit, die teuer und langwierig sein kann. Eine große Zahl von Auflagen muss erfüllt werden. Für weitere detaillierte Informationen dazu siehe Knecht 2014, Kapitel 2.3.2.5. 12 Ähnlich den Abläufen zur Registrierung der Kinder auf Identitätskarten oder die Erneuerung der Identitätskarte durch die center of life policy, folgt das permit system einer bestimmten (mehr oder weniger) festgelegten Logik. Gleich zu den erwähnten Maßnahmen wird die Umsetzung oder Anwendung in der Praxis unterschiedlich gehandhabt. Für weitere Informationen siehe al Haq 2012 oder Knecht 2014, Kapitel 2.3.3.
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Kosten dafür erforderlich wäre, ist die Kontrolle der Einhaltung dieser Regelung nicht realistisch. Ein alltäglicher Grenzübertritt würde beim Ehepaar Rima und Waleed mit ihren Kindern folgendermaßen ablaufen: Waleed würde das Auto von Kufur Akab – illegal – zum Grenzübergang Qalandyia fahren. Waleed, Sari und Mazen steigen dann aus und überqueren den Kontrollpunkt für Fußgänger*innen auf der linken Seite. Die Personen mit einer Jerusalem ID können mit dem Bus über den Grenzübergang fahren. Je nachdem welches Alter sie haben und welches Militärpersonal gerade Dienst hat, müssen sie aus dem Bus aussteigen und zu Fuß die Metalltüre mit den Gitterstäben entlang des Kontrollpunkts passieren oder sie können sitzenbleiben. In der Regel benutzen sie jedoch das eigene Fahrzeug (falls vorhanden) und reihen sich in die dafür vorgesehene Schlange, ebenfalls auf der rechten Seite, ein. Den Übergang passiert, reisen die drei Inhaber der West Bank ID mit dem öffentlichen Transportmittel an den vereinbarten Ort, wo sie Rima und Ghassan wiedersehen. Ayman arbeitet als Elektriker für eine israelische Firma mit Standorten in Ostjerusalem und Städten im Westjordanland. Seine Frau Nadera ist Hausfrau und Mutter von Amal, Sireen und Malath. Alle drei Kinder haben eine Jerusalem ID. Nadera hat eine West Bank ID und musste jeweils für die Geburten eine Bewilligung beantragen, um in einem Krankenhaus in Ostjerusalem gebären zu können. Beim jüngsten Kind wurde ihr Antrag abgelehnt, worauf sie mit der Identitätskarte ihrer Schwester die Grenzkontrolle passierte. Da die Kinder jünger als 12 Jahre sind und demnach noch nicht über eigene Ausweise verfügen, sind sie auf Aymans Identitätskarte registriert. Obschon die Heirat zwischen Nadera und Ayman zivilrechtlich auf dem Standesamt in Jerusalem eingetragen wurde, wird ihr Name aufgrund ihrer West Bank ID nicht aufgelistet. Dasselbe gilt für die Geburtsurkunden der Kinder. Somit kann Nadera die Mutterschaft zu ihren Kindern nicht mit Unterlagen nachweisen. Wird die Szene von oben am Beispiel von Rima und ihrer Familie nun auf Ayman mit seiner Familie angewendet, so ergibt sich folgendes Szenario: Ayman wohnt in einem Quartier in Ramallah, wozu er eigentlich nicht befugt ist und somit Gefahr läuft, seine Jerusalem ID (samt der Registrierung seiner Kinder) zu verlieren. Da das Umland von Ramallah von diversen Kontrollpunkten umrahmt ist, die häufig nur Fahrzeugen als Übergang dienen, bevorzugt er den Kontrollpunkt bei Givat Ze'ev.13 Nadera jedoch muss nach Qalandyia reisen, um dort mit einer Bewilligung die Grenze passieren zu können. Die Kinder sind während der ganzen Reise in der Obhut des Vaters, also ohne die Mutter. Kin-
13 Eine jüdische Siedlung im Westjordanland.
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der, die aus solchen Ehekonstellationen hervorgehen, müssen demnach bereits früh lernen, mit wiederkehrenden Gefühlen wie Verlustängste oder Trennungsschmerz umzugehen. Häufig finden Eltern Strategien, um solche Separationsabläufe für die Kinder zu erleichtern, indem sie sie mit Süßigkeiten oder der Anwesenheit von Verwandten ablenken. Da nach Vorschrift die Ausweispapiere im Falle einer jederzeit möglichen (teils auch unvorhersehbaren) Überprüfung immer am Körper getragen werden müssen, symbolisiert die Identitätskarte nach Abu Zahra (2008: 175) ein politisches Instrument von Macht und Unsicherheit, was mit dem Begriff „politics of fear“ verbunden wird. Der eigene Körper wird demnach zum Handlungsspielraum politischer Machtausübung und dient alleine diesem Zwecke. Unterschiede und Ungleichheiten, die sich am Körper mittels der unterschiedlichen Ausweise im Alltagsleben manifestieren, sind eine Konsequenz politisch-rechtlicher Umstände im Ausnahmezustand. Der Körper als „physisches Objekt“ versinnbildlicht die Grenzen von Mobilität und Freizügigkeit. Genauso wie die physische Betonmauer durch das Westjordanland mäandert, zieht sich eine unsichtbare Grenze innerhalb von Familien und deren sozialen Beziehungen hindurch. An den Grenzübergängen und darüber hinaus wird anhand der Farbe der Ausweise die sich öffnende Kluft der Ungleichheit sichtbar. Der legale Status einer Person innerhalb der Familie kann auf das Verhältnis und die Stellung zu anderen Familienangehörigen Einfluss ausüben. Er untergräbt und deformiert die Gleichstellung von Familienmitgliedern und deren Verhältnisse zueinander, unabhängig von ihrer Genderzugehörigkeit.
Die Identitätskarten werden für die palästinensische Gesellschaft zu einem unverzichtbaren Gut, das über ihre Handlungs- und Bewegungsfreiheiten entscheidet. Die materielle Karte wird immer am Körper getragen. Ohne sie können keine Grenzübergänge passiert werden und es werden keine Ausnahmen aufgrund Alter, Geschlecht oder Behinderung vorgenommen (vgl. Abu Zahra 2008: 179). Die Karte verfügt über die Erteilung von Rechten und Freizügigkeiten, entscheidet über Einlass oder Verweigerung. Solche Entscheidungen greifen in weite Gebiete von sozialen, ökonomischen und politischen Alltagswelten hinein und diese werden wiederum von ihr geregelt und bedingt. Die Identitätskarten dienen aber auch zur individuellen Identifizierung und Differenzierung gegenüber der Gesellschaft. Die Farbunterschiede von Identitätskarten fragmentieren nicht nur die palästinensische Gesellschaft an sich, sondern gefährden die Gleichstellung
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von Personen zueinander innerhalb der Familie. Dies kann zur Machtdemonstration und ausnutzenden Überlegenheit in Beziehungen zwischen Verwandtschaftsmitgliedern oder Ehepartnern führen, was in negativen konfliktreichen und gewalttätigen Folgen ausufern kann. Identitätskarten sind damit entscheidende Bestandteile des israelischen Staatsapparates, anhand derer Kontrolle über die palästinensische Demographie in Israel und den palästinensischen Gebieten ausgeübt und staatliche Sicherheit gewährleistet werden kann. Im Vergleich zu den Identitätskarten versinnbildlichen die Grenzübergänge eine personifizierte Form ausführender Gewalt. Die Entscheidungsmacht liegt letztendlich bei dem militärischen Personal, das je nach affektivem Gemütszustand die (vermeintlich) normativen Regeln zur Herstellung sozialer Ordnung in unterschiedlichem Ausmaß setzen. Trotz einer gültigen Identitätskarte und einer Erlaubnis zum Durchlass, kann ein Durchlass aus Mangel an Motivation und wegen angeblich neuen Regelungen verwehrt bleiben. Prozesse und Geschehnisse können von der Makroebene auf den lokalen Kontext abfärben und das rationale Wesen eines Kontrollpunkts beschneiden. Die Errichtung der Mauer zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten vergegenwärtigt nebst der physischen Abgrenzung eine weitere Maßnahme, die im Ausnahmezustand vom Staatssouverän Israel ausgeführt wurde. Diese Sperranlage, ein Konstrukt aus Hochsicherheitszaun oder Betonmauer, soll als Sicherheitsgarant dienen und terroristische Akte von Seiten der palästinensischen Bevölkerung verhindern. Allerdings wird mit der Legitimierung der durchlässigen Mauer eine (militärische) israelische Autorität gegenüber der palästinensischen Bevölkerung gerechtfertigt. Diese wiederum sieht sich mit schwindenden rechtlichen Handlungsspielräumen konfrontiert. Die jüngsten Ereignisse – allen voran im Westjordanland – beschreiben eine angespannte Lage, die jederzeit zu kippen droht und in Messerattacken und militärischen Invasionen endet. Gefühle von Frustration, Machtlosigkeit und Ohnmacht, die Umstände nicht ändern zu können und somit ein*e passive*r Akteur*in der Geschehnisse und des Zustands zu sein, verhärten die Fronten und schärfen die kollektive Wahrnehmung von (Un-)Gerechtigkeit, was fatale Folgen haben kann. Die Kombination von affektiver Beeinträchtigung durch das Grenzregime mit seinen Materialitäten zum einen, und den erlernten affektiven Assemblages zum anderen, führt zu einem Durcheinander, in dem bezüglich des Rechts und der Gefühle ein andauernder Ausnahmezustand herrscht, der sich stetig in diffusen und unvorhersehbaren affektiven Geschehnissen und Vorkommnissen entlädt. Nicht nur das Recht, auch die Gerechtigkeitsgefühle der Beteiligten sind in einem permanenten Ausnahmezustand.
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Abb. 1: Überblick der unterschiedlichen Merkmale der Identitätskarten in Israel und Palästina Identitätskarte
Le’om (Nationalität)
Staatsangehörigkeit
Reisedokumente
Genehmigungssystem
Jüdische „true-blue” Arabische „Arab-blue”
Jüdisch
Israelisch
Nein
Arabisch (v.a. palästinensische Israelis aus den „1948er Gebieten“) Arabisch (Palästinenser*innen aus den „1967er Gebieten“ des östlichen Jerusalems)
Israelisch
Israelischer Pass Israelischer Pass
West Bank „green”
Arabisch
Keine Angaben
Ja (family unification für Ehepartner*innen aus West Bank, center of life policy, Registrierung der Kinder, etc.) Ja (family unification, permit system, etc.)
Gaza „orange”
Arabisch
Keine Angaben
Israelische Reiseerlaubnis, temporärer jordanischer Reisepass, jordanische Reisedokumente Palästinensischer oder jordanischer Reisepass (permanent/temporär), jordanische Reisedokumente Ägyptischer laissez-passer, palästinensischer Reisepass
Jerusalem „green-blue”
Bis 2002 als Jordanisch vermerkt, seither ohne Angaben
Nein
Ja, seit 2005 striktes Freizügigkeitsverbot
Quelle: Abbildung nach Tawil-Souri (2011a): 74-75, abgeändert von Knecht (2014).
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Bens, Jonas, Studium der Rechtswissenschaften und Ethnologie sowie Promotion in Ethnologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ und dem Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin. Dietrich, Martha-Cecilia, Studium der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und PhD in Visual Anthropology an der University of Manchester, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Duile, Timo, Studium der Politikwissenschaften und Promotion in Südostasienwissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, derzeit dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orient- und Asienwissenschaften. Knecht, Sirin, Studium der Sozialanthropologie an den Universitäten Basel und Bern, derzeit Doktorandin an der International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment an der Abteilung Recht und Ethnologie am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Saale und der Freien Universität Berlin. Marschelke, Jan-Christoph, Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Passau und Würzburg, Promotion in Rechtsphilosophie an der JuliusMaximilans-Universität Würzburg, derzeit Akademischer Rat an der Forschungsstelle Kultur- und Kollektivwissenschaft der Universität Regensburg.
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Mugler, Johanna, Studium der Sozialanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der University of Cape Town (Südafrika), Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg innerhalb der International Max Planck Research School on Retaliation, Mediation and Punishment am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Saale, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Scheidecker, Gabriel, Studium der Historischen Anthropologie und Philosophie an der Universität Freiburg, Promotion in Ethnologie an der Freien Universität Berlin, derzeit dort wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ und dem Institut für Sozial- und Kulturanthropologie. Seidel, Katrin, Studium der Rechtswissenschaften und Afrikanistik sowie Promotion in Asien-/Afrikawissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Recht und Ethnologie am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung Halle/Saale. Zenker, Olaf, Studium der Germanistik und Ethnologie an der Universität Hamburg und der London School of Economics. Promotion in Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Habilitation in Sozialanthropologie an der Universität Bern, derzeit Professor für Sozialanthropologie an der Université de Fribourg und Projektleiter im DFG-Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ an der Freien Universität Berlin.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN EPUB:978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: PDF: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph J. Poole, Manfred Weinberg (Hg.)
Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-1709-2
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 1/2017) März 2017, 180 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3806-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3806-0
Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Diskriminierungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2016 2016, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3578-2 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3578-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de