Georg Büchner und die Aufklärung 9783205201595, 9783205796824


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Georg Büchner und die Aufklärung
 9783205201595, 9783205796824

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Schriften der Group2012 Herausgegeben von Gernot Wimmer Band 1

Wissenschaftlicher Beirat: Kurt Anglet (Universität Gregoriana), Peter U. Beicken (University of Maryland), Bernhard Böschenstein (Universität Genf), Stanley A. Corngold (Princeton University), Peter Gilgen (Cornell University), Roman Halfmann (Universität Gießen), Walter H. Hinderer (Princeton University), Winfried Kudszus (UC Berkeley), Harro Müller (Columbia University), Bernd Neumann (Universität Trondheim), Norbert Oellers (Universität Bonn), Jochen Schmidt (Universität Paderborn), Emilia Staitscheva (Universität Sofia), David E. Wellbery (University of Chicago), Tomislav Zelic (Universität Zadar)

Gernot Wimmer (Hg.)

Georg Büchner und die Aufklärung

2015 BÖH L AU V ER L AG W I EN KÖLN W E I M A R

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : Holzstich aus Camille Flammarion, L’atmosphère. Météorologie populaire, 2. Auflage, Paris 1888, S. 163 © 2015 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79682-4

Inhalt

7 Einleitung

1. DAS ÖKONOMISCHE UNGLEICHGEWICHT ZWISCHEN VOLK, BÜRGERTUM UND ADELSSTAND Patrick Fortmann 13

Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners. Dramatik nach dem bürgerlichen Trauerspiel Gernot Wimmer

35

Christlicher Glaube als Vehikel subversiver Aufklärung. Zur PersuasionsFunktion der Weltgerichts-Prophetie in Der Hessische Landbote Bernhard Greiner

51

‚Die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen‘. Büchners Entwürfe eines mündigen Volkes  : Der Hessische Landbote, Dantons Tod, Woyzeck Simonetta Sanna

77

Die romantisch-satirische Komödie Leonce und Lena und die Übung des ‚Möglichkeitssinnes‘

2. EINE WELTDEUTUNG ZWISCHEN EMPIRISCHER NATURWISSENSCHAF T UND DOGMATISCHER PHILOSOPHIE Theo Elm 119

„Das frische grüne Leben“ – Georg Büchner als Naturwissenschaftler

6 | Inhalt Gernot Wimmer 141

Aus der Weltsicht eines ‚Viehsionomen‘. Georg Büchners Sezierung des Homo sapiens Kurt Anglet

173

Das Drama der Stille

3. KOMPAR ATISTISCHE UND REZEPTIONSGESCHICHTLICHE FR AGESTELLUNGEN Bernd Neumann 189

Das Drama der ‚sozialen Revolution‘  ? Georg Büchners Danton’s Tod im Kontext von Hannah Arendts Über die Revolution Thorben Päthe

207

Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner Peter Beicken

227

Ein Fall von Aufklärung wie Verschleierung. Georg Büchners Woyzeck und Anna Seghers’ Grubetsch im Wechselspiel intertextueller Erhellung und Differenz

247 Autorenverzeichnis

Einleitung Obwohl die Rezeption von Georg Büchners Schriftwerk, die mit großer Verzögerung einsetzte, letztlich intensiv wie extensiv erfolgte, mit dem Resultat eines umfangreichen Arsenals an Monografien und Aufsätzen, überrascht die rezeptionsgeschichtliche Besonderheit, dass die Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Schriften unzureichend blieb. Bis heute wurde dieser Mangel in der Erforschung seiner biologischen Sozialisation und folglich der Grundfrage, welche Haltung Büchner zur Geistesströmung der Aufklärung einnahm, nicht behoben. Roland Borgards hat im 2009 veröffentlichten Büchner-Handbuch die Haltung des Faches zum Dichter als Naturwissenschafter mit den treffenden Worten beschrieben, dass neben der „Büchner-Philologie mit ihren Editionen“ auch die „Büchner-Forschung mit ihren Publikationen“ sich „Büchners naturwissenschaftlichen Schriften vergleichsweise spät“, „erst seit den 1960er Jahren zugewandt […]“ hat.1 Obwohl sich neuere Studien mittlerweile vermehrt des Themas annehmen,2 fehlt es nach wie vor an Arbeiten, die Büchners Weltanschauung rekonstruieren und diese mit seinen literarischen Schriften zusammenführen. Aufgrund der Absenz einer befriedigenden Erforschung der genauen Umrisse von Büchners Weltsicht, die unbestreitbar eine von biologistischen Theoremen geprägte war, ist bislang – auf der Grundlage dieses Forschungsstandes – keine gesicherte Bestimmung von Ausmaß wie Wesensart seiner Partizipation am aufklärerischen Geist möglich. Büchner erlebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den dramatischen Bedeutungsverlust der philosophischen Konzepte, verantwortet durch die empirischen Disziplinen der Physik, Chemie, Biologie und nicht zuletzt der Astronomie, keineswegs passiv, lediglich durch seine Zeitgenossenschaft, sondern der 1 Vgl. Roland Borgards, Werk  : Naturwissenschaftliche Schriften. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 123– 129, hier  : S. 129. 2 Siehe hierzu v. a. Udo Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. – Das Erscheinen folgender Studie ist für 2015 angekündigt  : Gideon Stiening, Literatur und Wissen in Büchners Werk. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin [u. a.].

8 | Einleitung

Hesse partizipierte aktiv  – insbesondere in seiner Profession als Anatom  – an einem modernen Zeitgeist, der im Zeichen einer frühen Industrialisierung stand und dem zivilisatorischen Fortschritt neue, revolutionäre Impulse gab. Dass der deutsche Weltliterat in der Verwirklichung seiner künstlerischen Ambitionen nicht nur regelmäßig auf das empirisch fundierte, heliozentrische Weltbild zurückgriff, das eine veränderte Vorstellung von der ‚Natur‘ schuf, sondern es auch – als Folge von Weltzweifel und -schmerz – gewissermaßen erst den Anstoß bildete für sein literarisches Schaffen, ist keineswegs überraschend. Die Gattungen des Dramas und der Prosa dienten Büchner dazu, einem innerhalb der engen Fachgrenzen nicht artikulierbaren Defätismus Ausdruck zu verleihen, in freier literarischer Rede, was wohl den erbaulichen Nebeneffekt einer – affektiven – Reinigung von betrüblichen Erkenntnissen beinhaltete. Im Zentrum steht für Büchner die Frage, wie sich die revolutionären Erkenntnisse aus den Naturwissenschaften mit dem neuen Menschenbild vereinbaren lassen, das sich einerseits von den zahlreichen Fremdbestimmungen zu lösen beginnt – insbesondere der Religion  –, zugleich jedoch von neuen Abhängigkeiten in Beschlag genommen wird. Jede Vernachlässigung des logozentrischen Einflusses hieße bei Büchner, sich an eine unangemessene Deutung von Biografie und Schriftwerk zu machen. Abgesehen von Büchners anatomischen Studien, namentlich der Doktorarbeit und der Probevorlesung, sind als weitere wissenschaftliche Texte die philosophischen Notizen zu nennen, die im Zuge der Vorbereitung auf eine geplante Vorlesung an der Universität Zürich entstanden und die trotz des fragmentarischen, abstrahierenden Charakters aufschlussreiche Einsichten zu seiner Positionierung im weiten Feld der Aufklärung versprechen. Diese mitunter kommentierenden Exzerpte, die neben der griechischen Philosophie in erster Linie dem Begründer der Schule des modernen Rationalismus, René Descartes, sowie seinem Apologeten, Baruch de Spinoza, gewidmet sind, nehmen im akademischen Gesamtkonvolut eine Sonderstellung ein.3 Anatomiestudien und philosophische Abstraktionen eint eine rezeptive Problematik, die sich in letzterem Fall durch den Gebrauch des Mittels der kursorischen Raffung noch verschärft. Demnach sieht sich das Fach der Germanistik, abseits der interdisziplinären Notwendigkeiten, auch einer hermeneutischen Herausforderung gegenüber. Wie Per Röcken treffend ausführt, um die Forschergemeinschaft auf 3 Vgl. die „Quellen“ bei  : Per Röcken, Werk  : Philosophische Schriften. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 130–137, hier  : S. 133.



Einleitung | 9

die Erschwernisse einzustimmen, „darf die Tatsache, dass sich […] gerade mit der Untersuchung der philosophischen Schriften ein neues (interdisziplinäres) Forschungsfeld eröffnen könnte, nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit – jedenfalls zunächst  – eine Potenzierung von Interpretationsschwierigkeiten verbunden sein dürfte“.4 Weil auch die philosophischen Notizen ein verbessertes Verständnis von Büchners Sicht auf die Welt in Aussicht stellen, hat die Gesamtheit der wissenschaftlichen Schriften gewürdigt zu werden. Der vorliegende Studienband gliedert sich in drei Abschnitte, dessen erster, unter dem Titel „Das ökonomische Ungleichgewicht zwischen Volk, Bürgertum und Adelsstand“, den sozialkritischen Gehalt seiner Literatur auf innovative Weise in den Blick nimmt. Dabei wird zu sehen sein, dass Büchner im Sinn des Leitsatzes ‚Alle Menschen sind als sich gleichgestellt zu behandeln‘ eine Sozialkritik formulierte, mit der den Schwächsten der Gesellschaft  – gewöhnlichen Arbeitern, Tagelöhnern und Kleinbauern – ein neuer Rechte- und Wertekontext zuteilwurde. Patrick Fortmann, der neben dem Hessischen Landboten auch in den Dramen den „Zusammenhang von Moral, Ökonomie und Geschlecht“ beleuchtet, kommt in der Beurteilung des Woyzeck-Stückes zu dem Schluss, dass „die Ordnungen von Moral, Ökonomie und Geschlecht, die das bürgerliche Trauerspiel in Szene gesetzt hatte“, inzwischen „an ihr Ende gekommen“ sind. Bernhard Greiner vertritt die These, dass für Büchner die „Grundfrage der Aufklärung virulent“ ist, „ob die aus der Vernunft abgeleiteten Vorstellungen der Ordnung der Natur“ sowie die „eines guten Lebens und einer dem menschlichen Wesen entsprechenden Ordnung der Gemeinschaft in der Erfahrungswirklichkeit überhaupt umgesetzt werden können“, und weist eine derart strukturierte Konzeption nach. Simonetta Sanna, deren Beitrag sich der Doppelung aus „romantische[r] Komödie“ und „politische[r] Satire“ annimmt, erbringt den argumentativen Nachweis, „dass die beiden Handlungssequenzen in Leonce und Lena aus einer grundlegenden ästhetischen Notwendigkeit heraus miteinander verwoben sind“. Erweitert wird die Auftaktsektion um eine Beurteilung der textuellen Strategie im Landboten-Pamphlet, die mit Blick auf die Weltgerichtszitate zu dem Resümee führt, dass „[e]rst die wiederholt bereitgestellten Anomalien“ die Flugschrift „entweder ganz unmittelbar in einen empirischen Bezugsrahmen oder zumindest in einen entsprechenden Nahbereich“ „rücken“. 4 Vgl. Röcken (2009), S. 136.

10 | Einleitung

Der zweite Abschnitt enthält Beiträge, die Büchners „zwischen empirischer Naturwissenschaft und dogmatischer Philosophie“ angesiedelter Weltdeutung verpflichtet sind und damit das vorrangige Ziel verfolgen, seine Weltanschauung auf ihre Grundlagen zurückzuführen. Theo Elm vertritt, ausgehend von der Pantheismus-Idee, die Auffassung, dass das für Büchner „als Wissenschaftler geltende Prinzip der Zweckfreiheit, der elementaren Ganzheit und der Konkretion“ auch im Fall seiner Literatur „in eine grundsätzliche, unverhüllte Sinnoffenheit“ „führt“. Kurt Anglet, der sich dem metaphysischen Gehalt der literarischen Schriften widmet, gelangt zu dem Schluss, dass Büchner „[n]icht allein als Dramatiker“, sondern „auch in dem Drama ohne Bühne“  – „im eigenen Sterben“  – seiner „Zeit voraus“ „war“. In einem dritten Beitrag erfolgt der Nachweis, dass bei Büchner keine vollständige Abkehr vom metaphysischen Deutungsmodell auszumachen ist – weder in Literatur noch Wissenschaft –, sondern eine pantheistische Abwandlung. Abschließend wird unter dem Gesichtspunkt „Komparatistische und rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen“ – so der Titel des dritten Abschnittes – die intertextuelle Wirkkraft von Büchners Literatur auf jüngere Autoren untersucht. Bernd Neumann argumentiert in seiner Deutung des Revolutionsdramas, die sich mit einer Gegenüberstellung zu Arendt verbindet, dass „[v]on der Perspektivierung der Persönlichkeit bis zu Dantons großem Nihilismus-Monolog“ „alles“ der „Sphäre eines blinden Getriebenseins anheimgefallen ist“. Thorben Päthe macht eine „intertextuell-genealogische Linie“ zwischen dem Theater von Brecht und Büchner aus. Und Peter Beicken beschließt den Studienband mit einem Vergleich von Büchner und Seghers, aus dem hervorgeht, dass sie „[i]hre Bewunderung für Büchner“ „nicht zu einer plakativen Nachahmerin“ „hat“ „werden lassen“. So setzt sich dieser Studienband, der Nachhut an Untersuchungen zugehörig, die anlässlich des 200. Geburtstages von Büchner im Jahr 2013 erschienen, das fokussierte Ziel, das Verständnis der Korrelation zwischen Dichtung und wissenschaftlicher Profession zu befördern. Von der Grundannahme, dass Büchner maßgeblich von aufklärerischen Ein- und Ansichten beeinflusst wurde, leitet sich auch der Titel des vorgelegten Bandes ab, bei dem es sich um den ersten eines internationalen Forschungsnetzwerkes, der „Group2012“ handelt, die durch den Herausgeber im Jahr 2012 ins Leben gerufen wurde. Sofia, Frühjahr 2015

Gernot Wimmer

Patrick Fortmann

Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners Dramatik nach dem bürgerlichen Trauerspiel 1. Exposition der Fallhöhe in Dantons Tod

Im Szenenschnitt wirft Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von Moral, Ökonomie und Geschlecht.1 Eine aufs Äußerste komprimierte Gassenszene (I,2) exponiert den Komplex im Sinn der bürgerlichen Bühne und misst zugleich die Fallhöhe aus, die sich ergibt, wenn Figuren und Umstände auf das Niveau der Unterschicht absinken. Im Zentrum steht die Auseinandersetzung um eine Grisette. Während sie selbst nicht auf der Bühne erscheint, und somit auch keine eigene Stimme erhält, betrachtet das Stück ihre Tätigkeit aus drei entgegengesetzten Perspektiven.2 Erstens zeigt die Szene den gebrochenen und schon im Ansatz steckenbleibenden Versuch ihres Vaters, Simon, von Beruf Souffleur an einem Theater, das Handeln seiner Tochter als Tragödie zu inszenieren. Zweitens geht es um die ungleich prosaischere und eindeutigere Sicht der Mutter, die das Treiben der Tochter als unabdingbares und sogar vorbildliches Gewerbe rehabilitiert und dieses jenseits aller Vorbehalte mit anderen Formen der körperlichen Arbeit gleichstellt. Drittens findet sich in derselben Szene die schonungslose Analyse eines beistehenden Bürgers, der den Einzelfall als Effekt von gesichts- und mitleidlosen ökonomischen Zwängen zu erkennen gibt. Den Anfang machen Szenen einer Ehe und die Inszenierung einer Familientragödie im gehobenen Theaterton. Die Prostitution der Tochter bietet Simon 1 Zitate aus den Texten Büchners und seines Umfelds werden direkt im Haupttext nachgewiesen. Sie folgen der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (DKV). Handschriften aus der Marburger Ausgabe sind in der Kommentierung vergleichend berücksichtigt (H). 2 Siehe zu diesem Teil der Szene und insbesondere zur Figur des Simon: Theo Buck, Der ‚gefährliche Gemütsmensch‘. Zur Simon-Figur in Danton’s Tod. In: „Riß in der Schöpfung“. Büchner Studien II. Aachen 2000, S. 68–78; Ulrike Dedner, Deutsche Widerspiele der Französischen Revolution. Reflexionen des Revolutionsmythos im selbstbezüglichen Spiel von Goethe bis Dürrenmatt. Tübingen 2003, S. 149–153 u. Maud Meyzaud, Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. Paderborn 2012, S. 214–222 u. S. 262–278.

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Patrick Fortmann

Anlass zu einem handgreiflichen Ehestreit mit seiner Frau. Aus historischen Reminiszenzen und literarischen Anspielungen ergibt sich die Rollenverteilung in diesem Miniaturstück, das Simon, seinem Beruf als Souffleur treu bleibend, zu inszenieren ansetzt. Über eine Reihe fast wörtlicher Zitate aus Lessings Emilia Galotti (1772) und Schillers Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (1783) schließt sein Familiendrama um soziale Stellung, Tugend und Geschlechtsmoral an genau die Stücke an, die den Stoff der altrömischen Virginia-Legende an die bürgerliche Bühne vermitteln.3 Simon vermengt und verwirrt die klassische Beispielerzählung von der nicht allein dem Namen nach jungfräulichen Virginia außerdem mit dem ähnlich angelegten Lucretia-Stoff, der demselben republikanischen Reservoir entstammt.4 In beiden Fällen geht es um die Keuschheit der Frau, die durch herrscherliche Übergriffe gefährdet ist und die nur um den Preis des Lebens entweder verteidigt oder wiederhergestellt werden kann – Virginius ersticht seine Tochter, um ihre Tugend vor dem ihr nachstellenden Appius Claudius zu retten; Lucretia erdrosselt sich nach der Entehrung durch Sextus Tarquinius, Sohn des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus. Simon wählt also mit Bedacht historisch beglaubigte Stoffe und prominente republikanische Exempelfiguren, um sein Stück nach dem Muster der Tragödie einzurichten. Für sich selbst reklamiert er dabei die Rolle des tugendstrengen Vaters, der über die Moral in der Familie wacht und diese notfalls mit Gewalt ins Recht setzt. Seine Frau dagegen versieht er mit der Rolle der kupplerischen Alten („Du Kuppelpelz, du runzliche Sublimatpille, du wurmstichiger Sündenapfel!“, DKV 1,17), die den Fehltritt der Tochter erst ermöglicht und deshalb seine Züchtigung verdient. An der Tochter allerdings, die dieser Besetzung gemäß entweder die bedrohte oder die verführte Unschuld zu spielen hätte, verwirrt sich die Dramaturgie; denn sie ist als Straßenprostituierte kaum mehr als jungfräulich zu bezeichnen, sondern hat aus dem Fehltritt einen Beruf gemacht.5 Vor dieser Tat3 Siehe zu Lessings Neubearbeitung des Virginia-Stoffes: Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986. 4 Siehe zu Zitaten und Stoffgeschichte: Georg Büchner, Band 1: Dichtungen. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006, S. 487– 489 u. Georg Büchner, Band 3.4: Danton’s Tod, Erläuterungen, bearb. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2000, S. 51–53. – Siehe daneben die Hinweise zur Rezeption der durch Plutarch und Livius an die Bühne des 18. Jahrhunderts vermittelten Stoffe: Hans H. Hiebel, Republikanische Motive in Georg Büchners Danton’s Tod. In: Georg Büchner Jahrbuch 10 (2000–2004), S. 65–82, v. a. S. 65–69. 5 Siehe zur Motivgeschichte: Hellmuth Petriconi, Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein



Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners |

sache gehen selbst dem Souffleur die Namen und somit die Rollenzuschrei­bungen aus: „Wo ist die Jungfrau? sprich! Nein, so kann ich nicht sagen. Das Mädchen! nein auch das nicht; die Frau, das Weib! auch das, auch das nicht! Nur noch ein Name! oh der erstickt mich! Ich habe keinen Atem dafür.“ (DKV 1,17) Das Tugendschema der bürgerlichen Bühne greift hier nicht mehr. Mit den Tücken der Besetzung bricht die Konfiguration und mit dieser die Inszenierung in sich zusammen. Im Gegensatz zur Aufführung am Theater scheitert die Improvisation einer Tugendtragödie auf der Gasse. Da außer Simon alle Charaktere aus der Rolle fallen, gelingt weder die Illusionierung des Publikums noch die Selbsttäuschung des Impresarios. Stattdessen bricht sich der Schein an der Wirklichkeit. Der Versuch, ein Trauerspiel mit Figuren unterhalb des Bürgertums in Szene zu setzen, schlägt in eine Komödie um. Die Komik ergibt sich, neben der offensichtlichen Unangemessenheit von Personal, Gattung und Stilhöhe, nicht zuletzt daraus, dass der selbsternannte Tugendwächter („Alter Virginius“, DKV 1,17) sich unversehens selbst in der Rolle der gefährdeten bzw. gefallenen Unschuld wiederfindet, durch deren Opferung die Familienehre wiederhergestellt werden soll. Immerhin lässt die Inversion des Schemas den katastrophischen Ausweg als Möglichkeit offen, von dem Simon Gebrauch machen will, wenn er fordert: „Gebt mir ein Messer, Römer!“ (DKV 1,17)6 Zudem ist das tugendbedachte Familienoberhaupt betrunken, so dass seine Pathosausdrücke „nach Schnaps riechen“ (DKV 1,17). Schließlich bestreitet Simon, wie seine Frau bekennt, von den Einnahmen seiner Tochter nicht allein seinen Unterhalt („Du Judas, hättest du nur ein Paar Hosen hinaufzuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bei ihr herunterließen?“), sondern sie füllt ihm auch noch das „Branntweinfaß“ (DKV 1,18). Schritt für Schritt verzerrt sich so das ursprüngliche Bild, bis sich am Ende die Positionen von Tugend und Laster verkehren. Im Unterschied zu Simon kommt seine Frau ohne Pathos und Theaterschema aus. Für sie stellt die Prostitution weniger eine Angelegenheit der Moral als vielmehr des Körpers dar. Als Begleiterscheinung der Armut ordnet sie diese in den Zusammenhang jener Arbeit ein, die jeder Notleidende zu verrichten hat, wenn er sich selbst erhalten will: „Wir arbeiten mit allen Gliedern warum denn literarisches Thema. Hamburg 1953 u. Christine Lehmann, Das Modell Clarissa. Liebe, Verführung, Sexualität und Tod der Romanheldinnen des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991. 6 Vgl. hierzu DKV 1,18.

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nicht auch damit […]?“ (DKV 1,18) Auf dem Grund der Sozialpyramide, auf dem Simons Familie trotz des revolutionären Eifers ihres Oberhauptes angekommen ist, werden die Wertpräferenzen neu austariert. Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme wiegt die Gebote der Geschlechtsmoral auf. Deshalb ist die Tochter, wie ihre Mutter deutlich macht, „ein braves Mädchen und ernährt ihre Eltern“ (DKV 1,18). Nicht durch die Befolgung, sondern gerade durch die Missachtung des konventionellen Tugendkatalogs zeigt die Tochter jenen Familiensinn, den die bürgerliche Bühne immer wieder in Szene setzt. Den Schritt schließlich vom gefühlsbesetzten Einzelfall zu den anonymen Prozessen, die letztlich auch das Schicksal der Familie bedingen, vollzieht ein Beisteher. Dieser leitet den Blick von der Moral hin zur Ökonomie und spricht so die junge Frau in ihrer Zwangslage von jeder Verfehlung frei: […] was tat sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und bettelt. […] Weh über die, die so mit

den Töchtern des Volkes huren. Ihr habt Kollern im Leib und sie haben Magendrü-

cken ihr habt Löcher in den Jacken und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen

in den Fäusten und sie haben Samthände. (DKV 1,18)

Der namenlose Bürger bringt die Vorgänge der ökonomischen Umverteilung zur Sprache, die das alte Gefüge der Stände sprengen und die Gesellschaft in rasantem Tempo in Klassen spalten. Die Bereicherung der Besitzenden und die Verarmung der Besitzlosen öffnet die Schere im Sozialen. Dass dies außerdem Simons Tochter in die Prostitution treibt, ist gleichsam ein Nebeneffekt. Diese Einsicht pointiert die Analysen der französischen Sozialreformer, die von François Noël Babeuf bis Louis-Auguste Blanqui reichen, und gibt der auf der Gasse versammelten Bürgergemeinde, der Simon den Fall zur Verhandlung vorlegt, ein Anschauungsbeispiel. Wie es sich zeigt, ist die Prostitution kein Tugendproblem, sondern ein Hungerphänomen. Was die Gassenszene zum Vorschein bringt, sind sowohl die Ambivalenzen der Moral als auch die tiefschürfenden sozialen Umwälzungen, deren Ergebnis, die drückende Armut weiter Teile der Bevölkerung, sich zwar allenthalben greifen lässt, die sich selbst aber, als abstrahierte Prozesse, weitestgehend der dramatischen Darstellung entziehen.7 Während die bürgerliche Bühne des 18.  Jahrhunderts mit den Dramen Lessings und Schillers aufkeimende ständische 7 Siehe hierzu Vf., „Geld, Geld. Wer kein Geld hat.“ Ökonomien des Mangels und Dramatik der Knappheit im Vormärz. In: Forum Vormärz Forschung Jahrbuch 19 (2013), S. 95–112.



Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners |

Gegensätze in Familienkonflikte überführt und dabei einer mittelständisch orientierten und familienzentrierten Moralität zur Durchsetzung verhilft, ver­ handelt Büchner angesichts der neuen sozialen Realitäten dieses dramatische Modell auf innovative Weise. Die Auseinandersetzung verläuft in zwei Rich­ tungen  :8 Auf der einen Seite wiederholt Büchner in Anlehnung an die bürger­ liche Bühne die Abgrenzung nach oben, gegen Luxus, Verschwendung und Freizügigkeit, mit der die alten Vorbehalte gegen den Adel wiederkehren und nunmehr gegen Besitz und Wohlstand – gleich welcher Herkunft – mobilisiert werden. Auf der anderen Seite löst Büchner in gezielter Absetzung vom bür­ gerlichen Trauerspiel die Grenze nach unten auf. Denn er führt vor, wie Man­ gel, Abhängigkeit und Not das Leben bürgerlicher Normalität verhindern und wie diejenigen, die darunter leiden, trotzdem zu einer natürlichen Moralität finden.

2. Abgrenzung nach oben  : Die Unsittlichkeit alter und neuer Aristokraten in Dantons Tod, im Hessischen Landboten und in Leonce und Lena

Das bürgerliche Drama des 18.  Jahrhunderts macht im Namen von Tugend, Familie und Privatleben gegen Korruption, Promiskuität und Luxus mobil. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts radikalisiert sich die Theaterrevolte, während sich gleichzeitig die Frontlinien verschieben.9 An die Stelle des Ständekonflikts zwischen einer privilegierten bzw. herkunftsfixierten Aristokratie und einem familienbewussten Bürgertum ohne Stimme in den öffentlichen Angelegenhei­ ten tritt die Dramatisierung von ökonomischen Prozessen und Gegebenheiten. In ihrem anonymen und nüchternen Licht wird das Soziale neu geordnet und ohne Rücksicht auf Herkunft oder Bindungen in Besitz und Mangel geschieden. Trotz dieser Umorganisation bleibt bezeichnenderweise die Frontstellung gegen Ausschweifung, Verschwendung und Verstellung erhalten, die das bürgerliche Trauerspiel mit der schlichten Gleichung ‚adeliges Laster – bürgerliche Tugend‘ etabliert hatte.10 Nur ist das Feindbild nicht mehr die alte Aristokratie, sondern der neue „Geldaristokratismus“ (DKV 2,665), wie Büchner sich mit Bezug auf die französischen Verhältnisse ausgedrückt haben soll. Gegen diesen Gegner   8 Siehe zur doppelten Grenzziehung im Moraldiskurs der Aufklärung  : Albrecht Koschorke, Körper­ ströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 15–20.   9 Siehe Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 6. Aufl. Stuttgart [u. a.] 2006, S. 87–119. 10 Vgl. Guthke (2006), S. 88.

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ziehen Dantons Tod, Der Hessische Landbote sowie Leonce und Lena unbarmherzig zu Felde. Auf dem Höhepunkt der Revolution, den Dantons Tod in Szene setzt, sind die Aristokraten längst aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Doch bevölkern sie nach wie vor den Diskurs. In den Zornreden namenloser Bürger (I,2–3) und in den großen Ansprachen Robes­pierres (I,3 u. II,7) behaupten sie eine verstö­ rende, angsteinflößende Präsenz. Wo Aristokraten auftreten, da sind die Errun­ genschaften der Revolution in Gefahr. Ein Abgesandter aus Lyon bringt das ganze Ausmaß des Konflikts auf den Punkt  : „Der Atemzug eines Aristokraten ist das Röcheln der Freiheit.“ (DKV 1,21) Weiter als zur vitalen Konkurrenz um die bloße Luft zum Atmen kann die Feindschaft nicht mehr verschärft werden. Vom biopolitischen Vernichtungskampf ist keineswegs nur der alte Adelsstand betroffen, sondern die ganze „Gesellschaft, die der toten Aristokratie die Kleider ausgezogen und ihren Aussatz geerbt hat“ (DKV 1,34). Wer genau damit ge­ meint und also in die Erbfolge eingetreten ist, legt Robes­pierre im Jakobiner­ klub dar. Dort fragt er, wie es zu verstehen sei, wenn wir Gesetzgeber des Volks mit allen Lastern und allem Luxus der ehemaligen

Höflinge Parade machen, wenn wir diese Marquis und Grafen der Revolution reiche

Weiber heiraten, üppige Gastmähler geben, spielen, Diener halten und kostbare Klei­ der tragen sehen‹.› Wir dürfen wohl staunen, wenn wir sie Einfälle haben, schöngeis­ tern und so etwas vom guten Ton bekommen hören. (DKV 1,24)

In diesen Invektiven kehrt der ganze Katalog von Vorhaltungen wieder, den das bürgerliche Trauerspiel, aus der Sicht der ständischen Mittellage sprechend, gegen Adelsgebaren und Hofleben geltend gemacht hatte  : Ausschweifung und Verschwendung, demonstrativer Luxus und alltagsenthobene Ausdrucksweise, dazu Spielsucht und Bestechlichkeit.11 Die Liste der Verfehlungen ist lang. Doch dem Inhalt nach ist sie altbekannt. Neu ist nur, dass sie auf die Revolu­ tionäre selbst angewandt wird und dass diese so, durch ihr Verhalten und durch die Gesellschaft, in die sie sich begeben, zur neuen Aristokratie werden.12 Robes­­pierre hebt ganz offensichtlich die Trennung zwischen Moral und Politik 11 Siehe Helmuth Kiesel, „Bei Hof, bei Höll“. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebas­ tian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. 12 Siehe zu dieser Übertragung  : Isabelle Stauffer, „Marquis und Grafen der Revolution“. Galanterie­ rezeption in Georg Büchners Dantons Tod. In  : Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hg. von Ariane Martin und dies. Bielefeld 2012, S. 83–100.



Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners |

auf und wendet dadurch das Feindbild nach innen  : „Das Laster ist das Kains­ zeichen des Aristokratismus‹.› In einer Republik ist es nicht nur ein morali­ sches sondern auch ein politisches Verbrechen  ; der Lasterhafte ist der politi­ sche Feind der Freiheit […].“ (DKV 1,24) Private Affären, einschließlich Fragen des Geschmacks, der Lebensführung und der philosophischen Orien­ tierung, werden so endgültig zu öffentlichen Angelegenheiten. Unter diesen ambivalenten Vorzeichen steht die Debatte um Tugend und Laster, Asketismus und Hedonismus oder, klassisch gewendet, die um Römertum und Griechen­ tum, die in Dantons Tod breit geführt wird und die sich unschwer mit den Namen der Hauptfiguren Robes­pierre und Danton verbinden lässt.13 Es sind diese moralischen und lebenspraktischen Dispositionen der Gallions­ figuren, die letztlich den Machtkampf zwischen den politischen Fraktionen entscheiden. Während des Schauprozesses (III,4 u. 9) stellt sich in der Volks­ gunst kurzzeitig ein prekäres Gleichgewicht zwischen Danton und Robes­pierre ein. Wenn am Ende doch die Waagschale Dantons sinkt, dann deshalb, weil er in den Sog der Tugendkampagne geraten ist  : Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne

Frau, er badet sich in Burgunder, er ißt das Wildpret von silbernen Tellern und schläft bei euren Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist.

Danton war arm, wie ihr. Woher hat er das Alles  ? (DKV 1,76)

Zu deutlich steht Danton mit dem, was er „hat“ („schöne Kleider“, „ein schönes Haus“, „eine schöne Frau“), auf der Seite von Privileg und Besitz, die Robes­ pierre proskribiert und das Volk entbehrt, und er steht auch mit dem, was ihm kulinarisch zur Vergnügung dient, auf der Seite des Genusses, an dem Robes­ pierre nicht teilhaben will und das Volk nicht teilhaben kann. Somit bildet sich zwischen der Askese aus Neigung und der Abstinenz aus Not eine ebenso bri­ sante wie kurzlebige Allianz  : „Robes­pierre und das Volk werden tugendhaft sein […][.]“ (DKV 1,31) Sie trägt gerade lange genug, um das Schicksal von Danton und seinen Anhängern zu besiegeln. Die Szene schließt mit einem Ruf, der scheinbar endgültig ist  : „Es lebe Robes­pierre  ! Nieder mit Danton  ! Nieder mit dem Verräter  !“ (DKV 1,76) Tatsächlich aber ist gerade das letzte Wort „Verräter“ 13 Siehe zu den Dimensionen des Konflikts  : Vf., Autopsie von Revolution und Restauration. Ge­ org Büchner und die politische Imagination. Freiburg i. Br. [u. a.] 2013, S. 171–172, S. 224–227 u. S. 294–297.

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eine variable Zuschreibung, von der Robes­pierre hierin nur einen Satz entfernt ist. Sein Ende nimmt das Drama im Szenenschnitt vorweg, wenn sich der Wohlfahrtausschuss berät  : „Robes­pierre will aus der Revolution einen Hörsaal für Moral machen und die Guillotine als Katheder gebrauchen. […] Auf dem er aber alsdann nicht stehen, sondern liegen soll.“ (DKV 1,70) Der Rückschlag, den sein Projekt der Tugendrevolution erleidet, wird Robes­pierre zu Fall bringen. Den politischen wie moralischen Vorbehalten gegen das privilegierte Leben im Allgemeinen und gegen die Existenz bei Hofe im Besonderen konnte im unmittelbaren Umfeld Büchners eine Fürstenhochzeit neue Nahrung geben. Die Vermählung des Erbgroßherzogs Ludwig  III. von Hessen und bei Rhein mit der Prinzessin Mathilde Karoline von Bayern wurde um die Jahreswende 1833/34 in beiden Reichen, und so auch in der Residenzstadt Darmstadt, mit großem Aufwand begangen. Zahllose öffentliche Festveranstaltungen, Umzüge, Bankette und Ehrbezeugungen huldigten dem Brautpaar. Die Feierlichkeiten erstreckten sich über Wochen und Monate – mit gutem Grund  : Eine Fürsten­ hochzeit stellte ein herausragendes Ereignis dar, dem in seiner Bedeutung nur die Geburt des Thronfolgers oder der Tod des Herrschers gleichkamen. Zu solchen Anlässen konnte dynastische Herrschaft sich auf besondere Weise zur Schau stellen und die Untertanen affektiv an sich binden. Denn prunkvolle Zeremonien und pompöse Feiern nehmen die Imagination der Beherrschten nicht nur in Beschlag, sondern wiegen diese außerdem in der Illusion, dass sie indirekt an der Herrschaft partizipieren. Hier setzten Der Hessische Landbote und Leonce und Lena an. Sowohl die Flugschrift als auch das Lustspiel entlarven das, was die Souveräne vorzeigen, und lenken zugleich den Blick auf das, was sie zu verbergen suchen. In dieser Absicht leuchtet der Hessische Landbote einige Tabus souveräner Herrschaft aus. So darf beispielsweise nicht ausgesprochen werden, dass es sich auch bei dem Großherzog um ein „Menschenkinde“ mit kreatürlichen Schwä­ chen und Bedürfnissen handelt  : „Es ißt, wenn es hungert, und schläft wenn sein Auge dunkel wird.“ (DKV 2,58) Sexualität und Begehren sind Teil dieser Krea­ türlichkeit. Genau das aber muss verschleiert werden, auch um davon abzulen­ ken, wie deutlich Souveränität in Sexualität wurzelt. Nach dem dynastischen Prinzip hat die Legitimität der Herrschaft ihren Ursprung in der Genealogie des Herrscherhauses. Will ein Fürst sein Geschlecht und damit seine Macht erhalten, muss er sich zwangsläufig reproduzieren. Doch hat die Fortpflanzung nicht irgendwie, sondern unter genauester Einhaltung der dafür vorgesehenen Regeln zu geschehen – oder in den Worten des Hessischen Landboten  : Des Herr­



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schers „göttliche Gewalt vererbt sich auf seine Kinder mit Weibern, welche aus eben so übermenschlichen Geschlechtern sind“ (DKV 2,58). Jeder Souverän ist also qua Amt und Abkunft sexualisiert. Bei einigen Vertretern nimmt die Sexualisierung exzessive Ausmaße an. Den König Ludwig von Bayern, der wegen seiner Mätressen und Lustreisen berüch­ tigt war, nennt der Landbote schlicht „das Schwein, das sich in allen Lasterpfüt­ zen von Italien wälzte“ (DKV 2,64).14 Der Sittenverfall des Herrschers färbt auf seinen Hofstaat ab. Unter der Oberfläche, die in der Öffentlichkeit bereitwillig gezeigt wird, verbirgt sich orgiastische Sexualität  : „Der Fürstenmantel ist der Teppich, auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe in ihrer Geilheit übereinander wälzen […]. (DKV 2,58) Die Lüsternheit des Herrschers und seiner Höflinge führt schließlich zu korrumpierenden Übergriffen nach unten  : „Die Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren […].“ (DKV 2,58– 59) Diese Unsittlichkeit verbirgt sich hinter den Kulissen des Hoflebens. Der Hessische Landbote macht das mehrfach an der Metapher des Fürstenmantels fest. Sowohl der Herrscher als auch sein Hofstaat setzen die Gewandung als Sicht­ schutz ein. Dahinter kommen entweder kreatürliche Schwäche und Notdurft oder körperliche Entstelltheit zum Vorschein  : „[…] mit Orden und Bändern decken sie ihre Geschwüre und mit kostbaren Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber.“ (DKV 2,58) Die Landboten-Flugschrift zieht mit der Geste der Entlarvung das Gewand zurück, mit dem sich Hof und Herrscher bekleiden. Die Abscheu vor dem, was sich darunter befindet, ist der bürgerlichen Moral geschuldet. Die Bloßstellung der Adelswelt setzt sich im Lustspiel fort. Denn Leonce und Lena führt seine Titelfiguren als kreatürliche Wesen zum Ehebund zusammen  : „[…] zwei Personen beiderlei Geschlechts, ein Männchen und ein Weibchen, einen Herrn und eine Dame.“ (DKV 1,125) Dennoch verzichtet das Stück da­ rauf, das Prinzenpaar zu sexualisieren. Nur in einem der erhaltenen SzenenEntwürfe formuliert der Narr Valerio das Ziel der handlungstragenden Intrige in eindeutiger Zweideutigkeit  : „Prinz, bin ich Minister, wenn Sie heute vor Ih­ rem Vater mit d. Unaussprechlichen, Namenlosen kopulirt werden  ?“ (DKV 1,140) Die Endfassung begnügt sich damit, die unterkühlten Passionen einer Konvenienzehe als „Mechanismus der Liebe“ (DKV 1,126) zu bezeichnen. 14 Auch in Büchners Briefen begegnet einem der König  : „Ich muß lachen, wie fromm und moralisch plötzlich unsere Regierungen werden  ; der König von ‹Bayern› läßt unsittliche Bücher verbieten  ! da darf er seine Biographie nicht erscheinen lassen, denn die wäre das Schmutzigste, was je geschrieben worden  !“ (DKV 2,422)

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Stattdessen macht das Stück die ungezügelte Sexualität, die der skeptische Blick von unten im privilegierten Leben entdecken will, an den Nebenfiguren fest. In der Ankleideszene (I,2) drängt die Sexualität des Königs, wie er selbst feststellt, durch die Gewandung, genauer gesagt durch den Hosenlatz, hindurch  : „[…] wo [ist mein Hemd,] meine Hose  ?  – Halt, [pfui  !] der freie Wille steht [davorn] ganz offen.“ (DKV 1,99) Mit demselben Gestus der Enthüllung arbeitet das Lustspiel die erotische Dimension in der Schauqualität der repräsentativen Hof­ feste heraus (III,2). Während der Zeremonienmeister die Reihen derjenigen mustert, die in Erwartung des königlichen Paares Spalier stehen, richtet sich sein Blick auf die herausgeputzten Jungfrauen  – er stellt fest  : „Von den zwölf Unschuldigen ist Keine, die nicht das horizontale Verhalten dem senkrechten vorzöge.“ (DKV 1,122) Und über den Hofprediger heißt es zweideutig, er sei „ganz abgestanden, seit er heut Morgen aufgestanden“ (DKV 1,122). Es dürften die Hofdamen mit ihren freizügigen Kleidern sein, die den Prediger in derart lustlose Erregung versetzen  : „Wenn sie auch nicht offenherzig sind, so sind sie doch offen bis zum Herzen.“ (DKV 1,123) Die erotische Offenherzigkeit, die bei Hofe gepflegt wird, steht im Kontrast zu den unfreiwilligen Einblicken, welche die zerfetzten Kleider der Bauern in der vorhergehenden Szene gewäh­ ren (III,2). So werden erstens die alten Gegensätze von Hof und Land neu be­ lebt und zweitens auch die sozialen Kosten von Privilegien und Exzessen in ökonomischer wie erotischer Hinsicht in Erinnerung gerufen.

3. Entgrenzung nach unten  : Die Moralität der Natur in Woyzeck

Ludwig Büchner hat im Vorwort zu den „Nachgelassenen Schriften“ seines Bruders von einem „ziemlich weit gediehenen Fragment eines bürgerlichen Trauerspiels ohne Titel“ gesprochen. Gemeint, aber nicht gedruckt, war dort Woyzeck.15 Im Wesentlichen sind es späte Vertreter des Genres, die für eine sol­ che Einschätzung als Orientierungspunkte dienen können  : Lenz’ Die Soldaten (1776), Wagners Die Kindermörderin (1776), Schillers Kabale und Liebe (1784) 15 Vgl. Georg Büchner, Nachgelassene Schriften. Hg. von Ludwig Büchner. Frankfurt a. M. 1850, S. 39. – Vgl. Burghard Dedner (Hg.), Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner, Woyzeck. Stuttgart 2000, S. 225. Siehe auch den kurzen Vergleich von Genreprogramm des bürgerlichen Trauerspiels und Anlage des Dramas  : S. 225–226. Siehe zu den literarischen Quellen  : S. 225–251 u. DKV 1,729–732. – Verweise auf Szenen beziehen sich im Folgenden auf die Handschriften (H1, H2, H3 u. H4).



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sowie die Gretchentragödie in Goethes Faust (1808).16 Tatsächlich lässt sich Büchners Drama auch als Familienschauspiel lesen. In den Fokus rückt dann die Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind, die nach dem Modell der bürgerlichen Kleinfamilie gestaltet ist, ihre Rechtfertigung gegen die Einsprüche von Moral und Religion, die einwirkende Belastung durch Verführung und Untreue der Frau und schließlich ihre Zerstörung von innen durch Eifersucht und Wahn sowie von außen durch Repression, Disziplinierung und Normierung. Das Drama ist jedoch nicht in der bürgerlichen Mittellage angesiedelt, sondern an der Peripherie des Sozialen. Es versenkt sich, wie im Kunstgespräch des Lenz programmatisch eingefordert, „in das Leben des Geringsten“ (DKV 1,234).17 So ist die Familie im Woyzeck eine Gemeinschaft der Bedürftigen, der Ausgeschlossenen und der Notleidenden. Sie steht im Zeichen der ökonomischen Zwänge und ist den Instanzen reglementierender Macht schutzlos ausgeliefert. Diese Determinanten sind nicht weniger unerbittlich als die alte Instanz des Schicksals in der attischen Tragödie: „Der tragische Grund ist vielmehr die pauperistische Existenz […].“18 Mit der Entfaltung dieser Konstellation modifiziert Büchner die Vorgaben der Dramengeschichte so radikal, dass eine neue Gattung entsteht. Für die moderne Forschung markiert Woyzeck deshalb die entscheidende „Schnittstelle“ zwischen dem bürgerlichen Trauerspiel und dem sozialen Drama.19 In der Verbindung des Paupers Woyzeck, seiner Geliebten Marie und seines Kindes sinkt die Kleinfamilie auf ihren sozialen Tiefststand. Die bittere Ironie 16 Siehe für einen Vergleich zwischen den Soldaten und Woyzeck: Dietlinde-Sigrid Costin, Jakob Michael Reinhold Lenz’ Die Soldaten und Georg Büchners Woyzeck – ein Vergleich. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – Bulgarien – Rumänien: 28.2.–5.3.1993. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn 1993, S. 79–88 u. Sabine Dissel, Das Prinzip des Gegenentwurfs bei Georg Büchner. Von der Quellenmontage zur poetologischen Reflexion. Bielefeld 2005, S. 175–202. – Siehe zum Thema Woyzeck und Faust: Heidi E. Faletti, The Storm-and-Stress Idiom of Elegiacal Madness in Goethe’s „Gretchen Tragedy“ and Büchner’s Woyzeck. In: Euphorion 82 (1988), S. 443– 457 u. Werner Weiland, Büchners Spiel mit Goethemustern. Zeitstücke zwischen der Kunstperiode und Brecht. Würzburg 2001, S. 35–43. 17 Siehe umfassend zu den Dimensionen der dort entfalteten Ästhetik: Anna Guillemin, Mimesis of Everyday Life in the Kunstgespräch of Büchner’s Lenz. Realist Aesthetics between Anti-Ideal and Social Art. In: Commitment and Compassion. Essays on Georg Büchner. Festschrift for Gerhard P. Knapp. Hg. von Vf. und Martha B. Helfer. Amsterdam 2012, S. 135–159. 18 Alfons Glück, Woyzeck. Ein Mensch als Objekt. In: Interpretationen. Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Stuttgart 1990, S. 177–215, hier: S. 183. 19 Vgl. Franziska Schößler, Exkurs: Soziales Drama. In: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 118–123, hier: S. 118.

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dieser Gemeinschaft besteht darin, dass sie zwar wie eine Familie funktioniert, aber dem Namen nach keine sein darf. Den mittellosen Eltern bleibt die Eheschließung verwehrt. Weder hat der gemeine Soldat einen festen Wohnsitz – die Kaserne, wo er mit einem Kameraden im selben Bett schläft (H4,13) und sich tagsüber zum Wachdienst aufhält (H4,10), kommt dafür nicht in Betracht  – noch kann er das geforderte Vermögen nachweisen.20 Trotz dieser tragischen Ausweglosigkeit arbeitet Woyzeck unermüdlich für den Unterhalt seiner Angehörigen.21 Woyzeck hetzt buchstäblich von einer Beschäftigung zur anderen. Er leistet den regulären Militärdienst, der ihn dem Drill, also einer unbarmherzigen Sozialdisziplinierung aussetzt. Zusätzlich verrichtet er zahlreiche Nebentätigkeiten. Vor den Toren der Stadt schneidet er Stöcke für die Offiziere (H4,1). Seinem Hauptmann dient er als Bursche, er holt ihm Wein (H1,8) und rasiert ihn (H4,5). Vom Professor lässt er sich zu Studienzwecken vorführen (H3,1). Dem Doktor geht er mehrfach zur Hand, er fängt ihm Versuchstiere (H2,6) und verkauft ihm seinen Körper für verschiedene Experimente (H4,8).22 Angesichts dieser biopolitischen Bewirtschaftung des Körpers und seiner elementaren Funktionen kann es kein Familienleben geben. Nur zwei kurze Besuche bei Frau und Kind kann Woyzeck in seinem Tagesablauf unterbringen:23 einen morgens vor Dienstbeginn und einen abends zwischen Dienstschluss und Zapfenstreich. Am Morgen ist Woyzeck schon zu sehr in Eile, um Maries Kammer zu betreten. Ihre Aufforderung – „Komm herein!“ – muss er unter Berufung auf die Dienstpflicht ablehnen: „Kann nit. Muß zum Verles.“ (DKV 1,204) Manchmal ergibt 20 Siehe Dedner (2000), S. 31–32 u. S. 196–197. 21 Die sozialkritische Büchner-Forschung hat den inhumanen Mechanismus als ‚Mord durch Arbeit‘ beschrieben: William B. Armstrong, „Arbeit“ und „Muße“ in den Werken Georg Büchners. In: Georg Büchner III (= Text + Kritik, Sonderband). Hg. von Heinz L. Arnold. München 1981, S. 63–98; Glück (1990), S. 187–189 u. Gerhard P. Knapp, Georg Büchner. 3. Aufl. Stuttgart 2000, S. 197–209. – Siehe zur Sozialdisziplinierung der Soldaten: Bernhard Sicken, Das großherzoglichhessische Militär: Struktur, Rekrutierung, Disziplinierung. In: Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Hg. von Georg-Büchner-Ausstellungsgesellschaft. Basel [u. a.] 1987, S. 56–65 u. Eva Horn, Militär und Polizei. In: Borgards und Neumeyer (2009), S. 187–191, hier: S. 188–189. 22 Siehe zum Versuchsprogramm: Udo Roth, Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck unter besonderer Berücksichtigung von H2,6. In:Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990– 1994), S. 254–278. – Siehe zum ernährungswissenschaftlichen Experiment: Harald Neumeyer, „Hat er schon seine Erbsen gegessen?“. Georg Büchners Woyzeck und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 83 (2009), S. 218–245. 23 Siehe Burghard Dedner, Die Handlung des Woyzeck: wechselnde Orte – „geschlossene Form“. In: Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/89), S. 144–170, hier: S. 151–152.



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sich eine Stippvisite während des Tages (H4,4). Es bleibt die Hoffnung auf das Zusammensein am Abend: „Heut Abend, Marie. Adies.“ (DKV 1,205) Doch vorherrschend ist die kurze, monoton wiederkehrende Abschiedsformel, mit der sich Woyzeck nach wenigen gemeinsamen Augenblicken losreißen muss: „Ich muß fort“ (DKV 1,192, 204 u. 205). Die zugemessene Zeit scheint gerade auszureichen, um nach seinem Kind zu sehen, und alles, was er verdient, zu seiner Frau zu tragen: „Ich hab wieder was gespart ab.“ (DKV 1,192)24 Marie nimmt die Unterhaltszahlungen dankbar und, seitdem sie Woyzeck betrügt, zugleich reumütig entgegen. Im Blick auf den Knaben, das „Christianche“ (DKV 1,219), zeigen sich beide nicht nur als sorgende Eltern, sondern auch als mitfühlende Menschen. Indes nimmt Woyzeck als einzige Figur im Stück die Leiden anderer wahr und bedenkt, wie ihnen Linderung zu verschaffen sei: „Was der Bub schläft. Greif ’ ihm unter’s Aermchen, der Stuhl drückt ihn.“ (DKV 1,205)25 Wenn selbst der kurze Blick auf sein Kind ausbleibt, ist das für Marie ein Alarmsignal, das auf das ganze Ausmaß von Woyzecks psychischer Zerrüttung hinweist: „Er schnappt noch über mit den Gedanken.“ (DKV 1,204) Sowohl die Empathie des Mannes als auch die Dankbarkeit und Reue der Frau zeigen, dass es sich hier um mehr handelt, als um die Zwangs- und Notgemeinschaft von zwei Individuen, deren vereinte Anstrengung die Existenz ihres Kindes sichert. Jenseits der ökonomischen Notwendigkeiten bestehen vielschichtige emotionale Bindungen, die diese Gemeinschaft dem Modell einer bürgerlichen Familie auf unterem Niveau nahekommen lassen. Über diese  – notgedrungen  – uneheliche Lebensgemeinschaft spricht der Hauptmann im Namen der Kontrollinstanzen von Religion und Moral das Urteil. Dabei führt er als Autorität für theologische Fragen den „Garnisonsprediger“ ins Feld, für Moral aber gleich sich selbst an: „[…] Woyzeck, er hat keine Moral! […] Er hat ein Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt […], es ist nicht von mir.“ (DKV 1,206) Der Pauper Woyzeck verteidigt sich gegen den Interventionsversuch, der als sozialdisziplinarisches Korrektiv gedacht ist, mit erstaunlicher Eloquenz, Beharrlichkeit und sogar mit exegetischem Geschick. Gegen den Einspruch im Namen der Religion macht er eine Art natürlicher Theologie geltend. Dem verblüfften Hauptmann, dem die Existenz eines unehelichen Kindes Kopfzerbrechen bereitet, versichert er: „[…] der liebe Gott wird den armen Wurm nicht 24 Vgl. hierzu DKV 1,205. 25 Siehe Knapp (2000), S. 201–202.

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drum ansehn, ob das Amen drüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde.“ (DKV 1,206) Daraufhin beruft er sich zur Begründung dieser Position seinerseits auf die Autorität der Bibel: „Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ (DKV 1,206) Gegen eine Moral, die im Dienst der Sozialdisziplinierung Eheschließung und Familiengründung an Besitz bindet, führt Woyzeck das Bedürfnis von „Fleisch und Blut“ ins Feld, das allen Menschen, auch den ärmsten („Wir arme Leut“), in gleicher Weise zukommt (DKV 1,207). Gegen die Anmahnungen der Tugend, die  – wie der Hauptmann unmissverständlich klarstellt  – in der Forderung nach Triebunterdrückung bestehen („Ich hab auch Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend, die Tugend!“, DKV 1,207), arbeitet Woyzeck den Unterschied zwischen Aufschub und Verzicht heraus. Zum ersten Vorgehen ist er bereit, zum zweiten nicht. Zudem zeigt er, dass Tugend ein Privileg der Besitzenden ist: „Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine anglaise, […] ich wollt schon tugendhaft seyn.“ (DKV 1,207) Erst jenseits der materiellen Abhängigkeiten, sichtbar werdend über die Standesattribute, kann die Sittlichkeit nach bürgerlichem Maßstab beginnen. Insofern ist Tugend ökonomisch fundiert. Wer sie nicht leisten kann, bleibt ausgeschlossen.26 Dennoch finden sich unterhalb der Tugendgrenze weder niedere Begierden noch animalische Triebe, sondern nur gerechtfertigte Ansprüche der Natur. Im Argumentationsduell mit dem Hauptmann vermag sich Woyzeck zu behaupten, nicht zuletzt durch psychische Ermattung des Gegners. Denn dieser muss eingestehen: „Er macht mich ganz confus mit seiner Antwort“ und „Der Diskurs hat mich ganz angegriffen“ (DKV 1,207). Trotz der eklatanten Unterschiede in militärischem Rang und sozialer Position, in Besitz und Bildung trägt der Diener den Sieg über den Herrn davon. Die Gemeinschaft am Boden des Sozialen zerbricht an der Verführung und Untreue der Frau. Zur Darstellung dieses Zusammenhangs bedient sich Büchner wiederum beim bürgerlichen Trauerspiel. Der Ständekonflikt von Adel und Bürgertum wird von ökonomischen Unterschieden innerhalb der Unterschicht abgelöst. So besetzt ein Tambourmajor die Rolle des sozial überlegenen Verführers, der in die Ordnung der Kleinfamilie einbricht. Die erste Fassung des Stücks legt die Verhältnisse stark eindimensional an. Die Verführung setzt auf dieser Stufe ein, als es im Jahrmarktzelt zur Begegnung der Frau mit ihrem späteren Liebhaber kommt (H1,2). Dabei wird die Frau durch die ihr zuge26 Vgl. Schößler (2009), S. 119.



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schriebene Sinnlichkeit als Objekt männlichen Begehrens – sowohl des Verführers (H1,8 u. H2,5) als auch des Versorgers (H1,15) – in Szene gesetzt.27 Der Liebhaber stellt seine Überlegenheit zur Schau. Er besitzt eine Uhr, die er stolz vorzeigt, und er verfügt im Rahmen des militärischen Disziplinarregimes über Macht, die er gegenüber seinem Untergebenen ausspielt (H1,3): „Der andre hat ihm befohlen und er hat gehn müsse. Ha! Ein Mann vor einem Andern.“ (DKV 1,178) Der Frau eröffnet sich dadurch die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, zur Verbesserung ihrer bedrückenden Lebenssituation.28 In der zweiten Fassung ist die Intimität, die zum Verführer besteht, nicht mehr etwas, das die Frau über sich ergehen und mit sich geschehen lässt, sondern sie wird von ihr bewusst gesucht. Die erotische Attraktion beruht jetzt auf Gegenseitigkeit. Eine Fensterszene (H2,2, erweitert in H4,2) gestaltet die Anziehung, die vom Mann ausgeht. Die Frau und eine Nachbarin erwarten den Vorbeimarsch der Soldaten, angeführt vom Tambourmajor. Die Nachbarin stellt fest: „Ein schöner Mann“, worauf die Frau ergänzt: „Wie e Baum.“ (DKV 1,191) Anziehung reguliert sich über den Blick. Der Bewunderte ist sich seiner Wirkung bewusst, denn er „grüßt“ auffordernd zurück (DKV 1,191). In der Hauptfassung erreicht auch die Verführungshandlung ihren Höhepunkt. Die Ohrringe, die Marie zum Geschenk erhält, verdichten motivisch den Ablauf (H4,4), bevor erstmals die erotische Begegnung in einer eignen, hochkomplexen Szene (H4,6) auf der Bühne erscheint. Dabei lassen sich die Geschlechterrollen des Männlichen und des Weiblichen kontrastieren. Während der Tambourmajor zunächst nichts anderes als den Namen – „Marie!“ – zu sagen weiß, versichert sich die Angesprochene der Sexualität und der Sinnlichkeit des Mannes. Durchaus selbstbewusst fordert sie den Tambourmajor auf, seinem Metier gerecht zu werden und sich auch vor ihr zur Schau zu stellen: „Geh’ einmal vor dich hin. – Ueber die Brust wie ein Stier und ein Bart wie ein Löw … So ist keiner …“ (DKV 1,207) Während Marie den Tambourmajor betrachtet, schreibt sie seinem Körper Zeichen ein, die teils aus dem Reservoir der Volkskultur, teils aus der Symbolik der Bibel und zum Teil auch aus der ikonografischen Tradition der Heraldik stammen. Auf 27 Siehe zur Sexualisierung der Frau: Kerry Dunne, Woyzeck’s Marie: „Ein schlecht Mensch“? The Construction of Female Sexuality in Büchner’s Woyzeck. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 26 (1990), S. 294–308; Laura Martin, „Schlechtes Mensch/gutes Opfer“: The Role of Marie in Georg Büchner’s Woyzeck. In: German Life & Letters 50 (1997), S. 429–444 u. Annette Graczyk, Sprengkraft Sexualität. Zum Konflikt der Geschlechter in Georg Büchners Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005–2008), S. 101–121. 28 Vgl. Knapp (2000), S. 207.

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diese Weise rekonstruiert sie die Virilität des Mannes symbolisch. Marie nobilitiert die geschlechtlichen Attribute des männlichen Körpers und sakralisiert ihr eigenes Begehren in Anlehnung an den biblischen Sprachgebrauch: „Ich bin stolz vor allen Weibern.“ (DKV 1,207) Dagegen tabuisiert und animalisiert der Tambourmajor den Frauenkörper und führt Sexualität auf Viehzucht und Sünde zurück.29 Schon durch seine konstatierte Nähe zum Souverän, mit dem er regelmäßigen Umgang hat („der Prinz sagt immer“, DKV 1,208), gibt er sich aber letztlich als Verführer zu erkennen. Gegen das Herrscherwort („Mensch, er ist ein Kerl“) erhebt Marie Einspruch, indem sie das Lob ironisch aushöhlt („spöttisch: Ach was!“) und in Richtung des Sinnlichen („Mann!“) korrigiert (DKV 1,208). Auch ihrer Aufforderung, sich in Szene zu setzen, kommt der Tambourmajor bereitwillig nach, und er verweist Marie zudem auf seinen anstehenden Auftritt im Rahmen des militärischen Zeremoniells: „Wenn ich am Sonntag erst den großen Federbusch hab’ und die weißen Handschuh […].“ (DKV 1,208) Seine Qualitäten als Verführer stellt er nicht zuletzt durch handgreifliche Komplimente unter Beweis: „Und du bist auch ein Weibsbild, Sapperment […].“ (DKV 1,208)30 Entsprechend kreisen seine eher derben Phantasien ganz um die Fortpflanzung: „[…] wir wollen eine Zucht von Tambourmajor’s anlegen. He?“ (DKV 1,208) Als Reaktion auf weibliche Nähe und Sinnlichkeit entdeckt der männliche Blick an der Frau animalische („Wildes Thier“) und sündhafte Dimensionen: „Sieht dir der Teufel aus d. Augen?“ (DKV 1,208) Hier stachelt der Verstoß gegen das religiöse Verbot die Erotik an, statt Störfaktor des Begehrens zu sein. Den Worten korrespondiert die Körpersprache der Verführung, die von den Anweisungen zur Szene herausgearbeitet wird. Marie genießt die Formen des männlichen Körpers: „ihn ansehend, mit Ausdruck“ (DKV 1,207). Da der Schaulauf des Tambourmajors, bei dem sich dieser in die Brust wirft, zu ihrer Zufriedenheit ausfällt, bringt sich Marie vor ihm in Position: „Tritt vor ihn hin.“ (DKV 1,208) Der Tambourmajor deutet die Nähe als Aufforderung und ergreift, was ihm gefällt: „Er umfaßt sie.“ (DKV 1,208) Marie weist ihn zunächst ab, „verstimmt“ über seine Zudringlichkeit, dann befiehlt sie, „heftig“ bewegt, die Vereinigung, und zwar mit derselben Wendung, die Woyzeck zurückweisen sollte: „Rühr mich an!“ (DKV 1,208) Dieser Befehl bringt Körpersprache und Verbalsprache, physische 29 Die Tiermetaphorik Maries ist deshalb nicht mit der des Tambourmajors gleichzusetzen: Roland Borgards, Tiere. In: ders. und Neumeyer (2009), S. 218–225, hier: S. 219. 30 Vgl. hierzu DKV 1,181 u. 195.



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Berührung und Gefühlsbewegung zur Deckung. Die kurze, aber ungemein dichte Szene arbeitet die Geschlechterdifferenz im Hinblick auf Sexualität und Begehren heraus. Die Bestimmungen des Männlichen wie Weiblichen werden jeweils durch Selbst- und Fremdbeschreibung sichtbar gemacht und in auffälliger Weise über Tiervergleiche entwickelt. Dabei wird deutlich, dass sich der Ort der Geschlechtlichkeit weder für den Mann noch für die Frau eindeutig festlegen lässt. Vielmehr changiert dieser jeweils zwischen der körperlichen Evidenz des Sinnlichen und seiner moralischen wie religiösen Verwerfung, zwischen der Animalität des Begehrens und der Nobilitierung der Leidenschaften sowie zwischen Sakralisierung und Sünde. Die komplexe, nach Geschlechtern differenzierte Bestandsaufnahme unterläuft den bürgerlichen Tugendbegriff gleich mehrfach und entzieht sich jeder moralischen Schematisierung. Doch führt im Woyzeck gelebte Sexualität auch zu Eifersucht und Mord. In der ersten Entwurfsstufe motiviert die Eifersucht fast geradlinig den Mord an der Geliebten, und in den folgenden Fassungen macht sie immerhin noch ein zentrales Moment im Mordkomplex aus. Ist die Geliebte in der ersten Entwurfsstufe „doch ein einzig Mädel“ (DKV 1,181), so wird sie ab der zweiten Fassung für den besitzlosen Pauper, der gewohnt ist, die Welt in Haben und Nichthaben zu unterteilen, zum schlechthin Höchsten, Letzten, Äußersten: „Herr, Hauptmann, ich bin ein armer Teufel,  – und hab sonst nichts  – auf de Welt.“ (DKV 1,199) Der Verlust auch dieses letzten Guts bringt die prekäre Verbindung zu Fall und macht so den Weg frei für das Einsetzen der Katastrophendynamik. Das Mordgeschehen unterliegt dann dem reduktiven Muster von Sünde und Strafe.31 Dieses Muster kündigt sich bereits in der Eifersuchtsszene an, in der Woyzeck seine Geliebte mit dem Liebesbruch konfrontiert. Die Frau betrachtend, muss Woyzeck feststellen, dass Betrug weder Zeichen auf dem Körper hinterlässt, noch sonst entstellend wirkt: „sie betrachtend: Ach bist du’s noch! Ey wahrhaftig! nein man sieht nichts man müßt’s doch sehen!“ (DKV 1,200) In der Hauptfassung sieht Woyzeck genauer hin – und muss sich nach der Körperschau wiederum geschlagen geben. Untreue produziert keine greifbaren Symptome und erst recht keine Stigmata: „sieht sie starr an, schüttelt d. Kopf: Hm! Ich seh nichts, ich seh nichts. O, man müßt’s sehen: man müßt’s greifen können mit Fäusten.“ (DKV 1,208) Im Stadium der Unsicherheit schwankt die Wahrnehmung der Frau zwischen Schönheit und Sündhaftigkeit: „Adie, Marie, du bist schön wie die Sünde – Kann die Todsünde so schön seyn?“ (DKV 1,208) 31 Vgl. Glück (1990), S. 195.

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Auch körperliche Nähe und Berührung schaffen keine Klarheit. In der Hauptfassung lässt Marie die besitzergreifende Annäherung zu: „Hat er da gestande, so, so?“ (DKV 1,208) Aber sie weicht ins Unverbindliche aus. In der Ausbaustufe hält die Frau dem Ansturm des Mannes stand, wenn die Regieanweisung vorsieht: „geht auf sie los“ (DKV 1,200). Gegen den Zugriff mobilisiert sie den weiblichen Blick, der das männliche Gegenüber lähmt: „Rühr mich an Franz! Ich hätt lieber ei Messer in den Leib, als dei Hand auf meiner! Mein Vater hat mich nicht anzugreifen gewagt, wie ich 10  Jahr alt war, wenn ich ihn ansah.“ (DKV 1,200) Die Zurückweisung nimmt den Mord vorweg. Auf durchsichtige Weise ersetzt die Gewalttat den Akt der Zuneigung, so dass die tödliche Verletzung an die Stelle der zärtlichen Berührung tritt. Mit Gewalt bemächtigt sich der Mann des Körpers der Frau  – auch dann, wenn dieser sich ihm entzieht. Nach den Maßstäben von Religion und Moral, die im Drama der Hauptmann und die Nachbarin geltend machen, wird der weibliche Körper zugleich dafür gestraft, dass er Begehren erregt hat. Der gleichen Spannung von weiblicher Attraktivität und männlichem Begehren, von Zurückweisung und Besitzergreifung, von Sünde und Strafe unterliegt auch die Mordszene. Vor der Tat schwört Woyzeck die Frau noch einmal auf den Zwiespalt von Entrückung der Geliebten und Sinnlichkeit der Hure ein: „Was du heiße Lippen hast! (heiß, heißn Hurenathem und doch möcht’ ich den Himmel gebe sie noch einmal zu küssen) […].“ (DKV 1,185–186) Die Evokation der Sünde gestattet die Exekution der Strafe.32 Doch weil die Geliebte Woyzecks einziger Halt gewesen ist und die Familie der ausschließliche Bezugspunkt seines Lebens, stellt ihre Zerstörung eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes dar. Wo Geliebte und Familie die Welt ausmachen, da ist ihr Verlust gleichbedeutend mit dem Ende der Welt. Die apokalyptische Kulisse von Nacht, Kälte und rot gefärbtem Mond hebt diesen Zusammenhang hervor. Diese Natur spiegelt die Bluttat noch bevor sie begangen wird. Woyzeck leitet deren Vollzug mit den Worten „Wie ein blutig Eisen“ ein (DKV 1,186). Daraufhin stößt er mit dem Messer zu; immer wieder, bis der Tod eintritt. Mit dem Mord macht sich Woyzeck zum Instrument desselben unbarmherzigen Regimes von Normierung und Disziplinierung, dem er sich kurz zuvor noch mit Geschick entziehen konnte. Woyzeck straft als Mann die Sexualität der Frau. Und das geschieht im Namen einer Moral und einer Reli32 Vgl. hierzu auch Woyzecks Rückkehr an den Tatort: „Magreth? Ha Magreth! Still. Alles still! (Was bist du so bl‹eic›h, Magreth? Was hast du ei rothe Schnur um d. Hals? Bey wem, hast du das Halsband verdient, mit dei Sünde? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jetzt gebleicht.“ (DKV 1,188)



Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners |

gion, die ihr Fundament in der bürgerlichen Mittellage haben und die jetzt der Pauper Woyzeck mit Notwendigkeit unterläuft. Das Drama schließt denn auch nicht mit der schon sprichwörtlichen weiblichen Leiche.33 Vielmehr verlängert es den Leidensweg der Hauptfigur. Denn bevor Woyzeck der Justiz und der Vollzugsgewalt übergeben wird („Gerichtsdiener. Barbier. Arzt. Richter“, DKV 1,189), sucht er sein Kind auf. Er findet es in der Obhut eines Minderbemittelten. Er sucht seine Nähe; es wendet sich ab: „Das Kind wehrt sich.“ (DKV 1,219) Woyzeck bleibt sprachlos und verlassen zurück. Vollständiger kann eine Familie nicht zerstört werden. Erst damit sind die Ordnungen von Moral, Ökonomie und Geschlecht, die das bürgerliche Trauerspiel in Szene gesetzt hatte, an ihr Ende gekommen.

Literaturverzeichnis Armstrong, William B.: „Arbeit“ und „Muße“ in den Werken Georg Büchners. In: Georg Büchner III (= Text + Kritik, Sonderband). Hg. von Heinz L. Arnold. München 1981, S. 63–98. Borgards, Roland: Tiere. In: Büchner-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von dems. und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 218–225. Bronfen, Elisabeth: Over her Dead Body. Death, Femininity, and the Aesthetic. New York 1992. Büchner, Georg: Nachgelassene Schriften. Hg. von Ludwig Büchner. Frankfurt  a.  M. 1850. Büchner, Georg: Band  3.4: Danton’s Tod, Erläuterungen, bearb. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2000. Büchner, Georg: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006. Band 1: Dichtungen. Band 2: Schriften, Briefe, Dokumente. Buck, Theo: Der ‚gefährliche Gemütsmensch‘. Zur Simon-Figur in Danton’s Tod. In: „Riß in der Schöpfung“. Büchner Studien II. Aachen 2000, S. 68–78. Costin, Dietlinde-Sigrid: Jakob Michael Reinhold Lenz’ Die Soldaten und Georg Büchners Woyzeck – ein Vergleich. In: Germanistentreffen Bundesrepublik Deutschland – Bulgarien  – Rumänien: 28.2.–5.3.1993. Dokumentation der Tagungsbeiträge. Bonn 1993, S. 79–88. 33 Siehe zur weiblichen Leiche: Elisabeth Bronfen, Over her Dead Body. Death, Femininity, and the Aesthetic. New York 1992.

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Moral, Ökonomie und Geschlecht auf der Bühne Büchners |

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Christlicher Glaube als Vehikel subversiver Aufklärung Zur Persuasions-Funktion der Weltgerichts-Prophetie in Der Hessische Landbote1

Mit dem revolutionären Ansinnen, das ungebrochen von feudalen Herrschafts­ prinzipien bestimmte Machtgefüge in den deutschen Kleinstaaten des volksgemeinschaftlichen Bundes zu stürzen  – durch einen agitativen Auslöse- bzw. Beförderungs-Akt –, veröffentlichte die hessische Oppositionsbewegung im Juli 1834 die erste Landboten-Fassung, der im November desselben Jahres eine zweite, überarbeitete nachfolgte. Weil die für die Erarbeitung der Flugschrift verantwortlichen Autoren namentlich ungenannt bleiben  – eine Tatsache, die der Textgenese bzw. dem Bedürfnis nach Anonymität geschuldet ist –, lässt sich weder der Umfang der jeweiligen Autorschaft zweifelsfrei bestimmen noch eine zuverlässige Beurteilung der nicht notwendigerweise kongruenten Wirkungsabsichten vornehmen. Immerhin darf der im Ungefähren verbleibende Grundkonsens, dass der erste Teil der Juni-Fassung „überwiegend“ Georg Büchner und der zweite vor allem Friedrich L. Weidig zuzusprechen sei, als gesichert gelten.2 Die dennoch immer wieder unternommenen Versuche einer differenzierenden Zuschreibung, die über den konsensuellen Forschungsstand hinausgingen, führten 1 Die vorliegende Deutung wurde unter dem Titel „Zur poetischen Funktionalisierung der christlichen Motivik im Pamphlet Der Hessische Landbote“ im Jahr 2009 auf der Jahrestagung der Georg Büchner Gesellschaft vorgestellt und von Teilen der Zuhörerschaft mit Skepsis aufgenommen. 2 Zur Frage der Wirkungsabsicht tut sich mit der November-Fassung, die nachweislich von Leopold Eichelberg überarbeitet wurde, ein noch erweitertes Problemfeld auf. Was Umfang und Wesen der Änderungen betrifft, äußerte sich August Becker in den polizeilichen Einvernahmen aufschlussreich  : „Das ursprüngliche Manuskript hätte man allenfalls als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen den Mammon, wo er sich auch finde, betrachten können, nicht so das Letzte. Die biblischen Stellen, so wie überhaupt der Schluß, sind von Weidig.“  ; Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006, S. 378. Beckers Aussage, dass die „biblischen Stellen“, „so wie überhaupt der Schluß“, nicht von Büchner stammten, geht auf eine Fokussierung der Glaubensempirie zurück, die wohl erst durch Weidigs Korrekturen erfolgte. – Zitate aus den Schriften und Briefen, die Büchner betreffen, folgen der Münchner Ausgabe (M A).

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in der Verfasserfrage zu argumentativ wankenden Spielen der Wahrscheinlichkeiten mit ebensolchen Thesen.3

1. Rhetorische Instanzen des Weltgerichtsmythos

Da es sich beim Hessischen Landboten nicht allein um ein gesellschaftspolitisches Textwerk handelt, sondern auch um ein glaubens-ideologisches – in einem empirischen Sinn  –, gilt es dem religiösen Leitmotiv exegetisch zu entsprechen. Die Agitationsdramaturgie, die darauf abzielte, die Bereitschaft des Schriftadressaten zur revolutionären Erhebung durch Verwendung des rhetorischen Mittels religiöser Weltgerichtsprophetie zu erwecken, verweist einerseits auf das deutsche Volk als Zielkollektiv einer Gottesstrafe und andererseits auf den Bund der deutschen Länder als territorialen Handlungsraum eines endzeitlichen Strafprozesses.4 Zur ethischen Kennzeichnung der deutschen Fürstentümer, die in der Darstellung als absolutistisch regierte Unrechtssysteme aufscheinen, wird der Leitbegriff der ‚Schinderei‘ in die sozialkritische Terminologie eingeführt, der sich – ausgehend vom Großherzogtum Hessen – von der finanziellen Ausbeutung des Volkes und von der Hörigkeit der Beamtenschaft ableitet. Bereits mit der Überschrift – „Friede den Hütten  ! Krieg den Pallästen  !“5 – betritt eine Anklagerede den Textraum, die auf einer Gegenüberstellung von „Pallästen“ und „Hütten“, 3 Siehe Knapp, der in seiner Einführung die Schwierigkeiten erläutert, um anschließend seine These zur Urheberschaft darzulegen  : Gerhard P. Knapp, Die Texte  : Textschichten Büchners und Weidigs. In  : Georg Büchner (= Sammlung Metzler, Literaturgeschichte  ; 159). 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart [u. a.] 2000, S. 83–88. 4 Im Folgenden wird der theologische Ansatz vertreten, der das Weltgerichtswesen bereits in den alttestamentarischen Strafprophezeiungen maßgeblich entfaltet sieht und nicht erst im Neuen Testament als darin wesenhaft angelegte Eschatologie. Der faktisch-textuelle Umstand, dass in den Adaptionen der Weltgerichtsprophetien das historische Beispiel Israels dem der deutschen Lande zu Zeiten Büchners gewichen ist, bewirkt im Gleichschritt mit der zeitlichen Aktualisierung deswegen eine Abschwächung des Gerichtscharakters – als weitere Verfremdung –, weil mit den biblischen Quelltexten noch eine Gottheit vorliegt, deren Strafakte auch die näheren Feinde des Volkes Israel umfassen. 5 Entsprechend der Zitierung dieses zu Zeiten der Französischen Revolution gebräuchlichen Kampfspruches „Krieg den Palästen, Friede den Hütten  !“ [Guerre aux châteaux, paix aux chaumières  !] gibt Hofmann zu bedenken, dass Büchner durch „[p]olitische und biographische Einflüsse aus Frankreich“ „entscheidend geprägt“ wurde  : Michael Hofmann, Der Hessische Landbote. In  : BüchnerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 7–18, hier  : S. 7.



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Verwaltern und Erhaltern, Staatsdienern und gemeinem Volk beruht (MA 40). Vor dem Hintergrund der verwendeten Bibelzitate, die allmählich zur Entfaltung eines konkreten Weltgerichtsszenarios führen, erklärt sich, warum schon der Untertitel („Erste Botschaft“), der „mit der biblischen Assoziation der ‚frohen‘ Botschaft des Neuen Testaments“ „spielt“,6 ein religiöses Erweckungsbedürfnis bedient.7 Die Ausführungen zu den hessisch-deutschen Verhältnissen, die unter dem Thema der „Gerechtigkeit“ stehen (MA 52), weisen aus dem Grund eine christlich-religiöse Relevanz auf, weil der angeprangerte Verfall der sittlichen Ordnung, der vordergründig als Folge verachtenswerter, von der Aristokratie zu verantwortender Taten aufscheint, letztendlich auf einen von der Schöpferseite initiierten Strafakt zurückgeführt wird. Infolgedessen hat das Volk die verächtlichen Zustände dadurch befördert, dass es bislang sowohl im Großherzogtum als auch im Deutschen Bund passiv in seiner politischen Unmündigkeit verharrte, anstatt sich gegen die Herrschenden zu erheben. Indem für den Fall eines revolutionären Umsturzes das Ende des Gottes- bzw. Weltgerichtes verheißen wird, schließt sich an dieses Argument der Verfasserinstanz mittelbar die Zielvorgabe einer neuen, zu errichtenden Gesellschafts-Ordnung an. Die Spitzen der agitatorischen Dynamik, die aus der Inszenierung eines eschatologischen Drohszenarios resultieren  – aus einem nach alttestamentarischem Vorbild –, sprechen für eine prophetische Wirkungsabsicht, für das Ziel einer religiösen Verheißung. In der vorliegenden Aktualisierung, angesiedelt in der Empirie der Adressaten, die eine Handlungsanleitung zur Selbsterlösung bereitstellt, ist der rhetorische Angelpunkt des Weltgerichtskonzeptes auszumachen. Büchner spricht wegen des einerseits glaubens-affinen und andererseits ethisch-kritischen Horizontes, der dem Volk zu eigen war, in einem Brief von 1936 an Gutzkow von „nur zwei Hebel[n]“, die für die „große Klasse“ von Be6 Vgl. Christian Neuhuber, Georg Büchner. Das literarische Werk (Klassiker-Lektüren  ; 11). Berlin 2009, S. 32. 7 Aufgrund der sozialkritischen Relevanz, die zum eschatologischen Konzept überführt, überrascht es nicht, wenn Steding in einem Aufsatz zur Repräsentation des Hessischen Landboten in umfassenden Sachwörterbüchern erklärt, dass in frühen enzyklopädischen Ausgaben „auch“ das „Motto“ – „Friede den Hütten  ! Krieg den Pallästen  !“ – als Ersatztitel „erwähnt“ wurde  : Sören A. Steding, Büchner, Georg  : Der Autor und die Enzyklopädie. In  : Georg Büchner  : Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption (= Philologische Studien und Quellen  ; 201). Hg. von Dieter Sevin. Berlin 2007, S. 231–241, hier  : S. 237. Daraus ist zu folgern, dass einige der Herausgeber in frühesten Rezeptionszeiten der Ansicht waren, durch dieses Vorgehen dem sozialkritischen Gehalt der Flugschrift in besonderem Maße zu entsprechen.

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deutung sind, und bezeichnet diese als „materielles Elend“ und „religiöse[n] Fanatismus“ (MA 319). Theologisch beachtenswert ist der Gebrauch der Bibel, der dadurch gekennzeichnet ist, dass alle der aus dem Alten Testament zitierten Propheten im Originaltext ein Weltgericht voraussagen und dass, aus adaptiver Sicht gesprochen, selbst die einzige neutestamentarische Passage – die Adaption des Epheserbriefes – im bildhaften Gewand des Strafgottes Jahwe aufscheint. Denn die vordergründige Uneinheitlichkeit in der Quellenlage wird durch die Art der Adaption des paulinischen Briefes selbst behoben, dessen Thematik der Gottesstrafe sich jetzt an einem gemeinsamen weltgerichtlichen Bezugspunkt orientiert. Zu den Offenbarungszeugen, auf die sich die Flugschrift bezieht, zählt neben den Propheten aus der biblischen Urschrift auch erwähnter Apostel Paulus, der sich im Neuen Testament als Fürsprecher des Heilands artikuliert. Analog zu den Abschnitten, die Micha, Jesaja und Ezechiel gewidmet sind, erfolgt selbst mit dem 6. Kapitel des Epheserbriefes, in dem zum Kampf gegen den Einfluss der bösen Geister aufgerufen wird, die Einsetzung eines Strafmotivs, das eine Bibelprophetie suggeriert. Paulus Brief von der Gnade, die der Menschheit durch Jesus Christus zuteil werde, vermittelt den Eindruck einer aktuellen Sanktionsstrafe und zeigt sich folglich mit einem Aufruf zur revolutionären Erhebung verknüpft  : Er hat eine Zeitlang „den Satans-Engeln Gewalt gegeben, daß sie Deutschland mit

Fäusten schlügen, er hat den Gewaltigen und Fürsten, die in der Finsternis herrschen, den bösen Geistern unter dem Himmel (Ephes. 6) Gewalt gegeben, daß sie Bürger

und Bauern peinigten und ihr Blut aussaugten und ihren Mutwillen trieben mit Allen,

die Recht und Freiheit mehr lieben als Unrecht und Knechtschaft.“ – – Aber ihr Maß

ist voll  ! (M A 60)

Entsprechend der quellenmäßigen Kennzeichnung des Zitates, das richtigerweise als 6. Kapitel des Epheserbriefes ausgewiesen wird, sind die Übereinstimmungen weitreichend, was Wortgebrauch und Ist-Beschreibung betrifft  : „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen  ; sondern mit den Fürsten, mit den Gewaltigen, mit den Weltherren, die in der Finsterniß dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ (Eph. 6,12) Allerdings setzt die Landboten-Fassung, bei aller Kongruenz, mit einem Glaubensmotiv, das besagt, dass von Seiten Gottes „den Satans-Engeln Gewalt gegeben“ wurde, ein und endet mit dem Sozialmotiv, das an die Gerechtigkeitstreue der Unterdrück-



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ten appelliert  : „[…] die Recht und Freiheit mehr lieben als Unrecht und Knechtschaft.“ Die angewandte Zitatform, die einen Anspruch auf Bibelkonformität erhebt – formal gekennzeichnet durch die gesetzten Anführungszeichen –, behauptet auf unzulässige Weise einen authentischen Bibelgehalt. Aus der irreführenden Anwendung dieses Beleginstrumentes ist zu schließen, dass der Rückgriff auf eine einschlägige Strafrhetorik nicht aus Gründen der Bildhaftigkeit erfolgte, sondern zum Zwecke einer prophetischen Aktualisierung mit empirischem Anspruch („daß sie Deutschland mit Fäusten schlügen“). Die Paulus-Adaption scheint nicht ausdrücklich im Kontext des Weltgerichtes auf, gleichwohl hat ein solches – als Ergebnis der endzeitlichen Konzeption – implizit mitzuschwingen. Insofern ist es gerechtfertigt, von einer Anlehnung dieser Adaption an den weltgerichtlichen Strafcharakter zu sprechen. Bei der Bewertung der Zitatfolge ist zu beachten, dass mit Paulus, der in der Flugschrift auf Micha folgt, erstmals die Möglichkeit einer Aussetzung des Strafprozesses artikuliert wird. Mittels einer suggestiven Textstelle, die dem eben angeführten Zitat vorangeht, richtet sich an das Volk die Botschaft, dass im Fall einer revolutionären Erhebung die Chance bestünde, der drohenden Vernichtung zu entgehen – mit der Begründung, dass der Christengott sodann als Verbündeter an dessen Seite träte  : „Gott wird euch Kraft geben ihre Füße zu zerschmeißen, sobald ihr euch bekehret von dem Irrtum eures Wandels und die Wahrheit erkennet […][.]“ (MA 58)8 Ein nicht unerheblicher Schuldanteil an den unsittlichen Auswüchsen wird dem Volk zugesprochen, dem bei einem anhaltenden Verharren in Erduldungsstarre eine noch verschärfte Opferposition drohte, wie die mittelbare Aussage lautet. Diese Offerte einer Befreiungsprophetie, in der von „Irrtum“ und vom „[E]rkenne[n]“ der „Wahrheit“ die kritische Rede ist, sollte sicherstellen, dass den in der Regel gläubigen Zeitgenossen der Christengott nicht ausschließlich als Henker erschien, sondern auch als Heilsbringer, der grundsätzlich Willens sei, den Zuständen der Verderbtheit ein Ende zu setzen. Erst die Behauptung der Initiierung eines endzeitlichen Prozesses, an die sich die Benennung eines rettenden Ausweges anschließt, verschaffte dem anti-monarchistischen Vorhaben, eine revolutionäre Erhebung zu bewirken, den erforderlichen, in der Empirie angesiedelten Nachdruck. Innerhalb der aktualisierten Weissagungen in Sachen Weltgericht bildet sich ein intertextuelles Wechselspiel aus, das den neutestamentarischen Epheserbrief, 8 Für diese im Bibelton geschriebene Stelle wird weder eine Quelle bezeichnet, noch war es dem Verfasser G. W. möglich, eine solche auszumachen.

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mit dessen zweiteiliger Konzeption aus zitierter Strafdrohung und hinzugefügtem Erlösungsversprechen, einschließt. Der Abgleich mit dem Alten Testament, das als Vorlage für die restlichen Zitate diente, wird zeigen, dass der weltgerichtliche Bezugsrahmen nicht bloß implizit anklingt, sondern durch den Rückgriff auf die ‚alten‘ Propheten auch eine motivische Stärkung erfährt. Während der aktuale Zustand der Sittlichkeit auf ein nicht näher definiertes Strafwirken zurückgeht, sofern die Paulus-Adaption einer isolierten Betrachtung unterzogen wird, erfährt der biblische Endzeitmythos mit den weiteren Strafzitaten  – am territorialen Beispiel von Deutschland zur Mitte der 30erJahre des 19.  Jahrhunderts  – die erwähnte Akzentuierung. Ungeachtet der mehrfach gebrauchten Als-ob-Vergleiche, die mit den alttestamentarischen Zitaten vorliegen, vermittelte sich an das Volk die Botschaft  – per direkter Anrede –, dass ein fortdauerndes Festhalten an dem im ethischen Sinn unchristlichen „Irrtum“ (MA 58) zu einer Gottesstrafe führte, die Deutschland im Gesamten beträfe. Der Rückgriff auf das endzeitliche Drohbildnis zielte auf einen revolutionären Umsturz, einen allgemeinen Aufstand, der schließlich in der Errichtung eines „Freistaat[es]“ (MA 52), wie es mit Bezug zum Großherzogtum heißt, münden sollte. Entsprechend wird bei der Bewertung der weiteren Strafzitate auszumachen sein, dass mit dem Rückgriff auf die Weltgerichtspropheten die Suggestion einer eschatologischen Aktualität einherging. Nach den umfangreichen Ausführungen zur Verschwendungssucht, mit denen sich das Leitmotiv der Sozialkritik konstituiert, kommt als erster Weltgerichtsprophet nämlicher Micha ins Spiel – wie ausgeführt, noch vor dem Epheserbrief –, der eine Strafe gegen die habgierigen Reichen, gewalttätigen Herren, falschen Propheten und gewinnsüchtigen Priester vorhersagt. Folglich rückt mit Micha die gesellschaftliche Schlechterstellung der von gewissenlosen Herren ausgebeuteten Kleinbauern und Bürger in den Blickpunkt, die in der Adaption zwar nicht explizit benannt wird, unter den Rezipienten aber von Fall zu Fall mitzuschwingen vermochte. Im Hinblick auf die Einleitungsfunktion der Sozialkritik drängt sich die Annahme auf, dass die Textstellennähe, die zwischen beiden Propheten besteht, das Ergebnis konzeptioneller Durchdachtheit darstellt. In thematischer wie terminologischer Analogie zum biblischen Micha, zu einem der ‚alten‘ Weltgerichtspropheten, wird im Hessischen Landboten indirekt die Forderung erhoben, sich der sinnbildlichen „Dörner und Hecken“ durch einen Volksaufstand zu entledigen  :



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„Die Gewaltigen raten nach ihrem Mutwillen, Schaden zu tun, und drehen es, wie sie

es wollen. Der Beste unter ihnen ist wie ein Dorn, und der Redlichste wie eine Hecke.“

Ihr müßt die Dörner und Hecken teuer bezahlen […]. (M A 48)

Der anfänglichen Beschreibung ausbeuterischer Verhältnisse, die sich vordringlich auf das Großherzogtum bezieht, folgt mit Micha sowohl der Erste der Weltgerichtspropheten als auch der Propheten insgesamt nach. Die Übereinstimmungen zwischen der Micha-Adaption und deren Vorlage  – dem vierten Vers des 7. Kapitels seines Buches, in dem der Herr mit Israel rechtet („Kap. 7., V.  3 und  4“)  – sind weitgehend  : „[…] die Gewaltigen sprechen nach ihrem Mutwillen, und flechtens dick zusammen. Der Beste unter ihnen ist wie ein Dorn, und der Redlichste ärger wie eine Hecke.“ Innerhalb des Bibelzitates, das in Anführungszeichen gesetzt wurde, sind keine nennenswerten Abweichungen zu erkennen, auch nicht in dem Satz, der dessen Anfang bildet und vom „Mutwillen“ der „Gewaltigen“ berichtet. Im Gegensatz zur Paulus-Zitation wird mit der des Micha – der Adaption von fremder Hand zum Trotz – daher keineswegs der unangemessene Eindruck einer biblisch verbürgten Prophetie erweckt, die sich auf Deutschland bezieht. Wenngleich in diesem als „Kap.  7“ ausgewiesenen Zitat, das sich der Verderbtheit der großherzoglichen Institutionen widmet, das Szenario eines Weltgerichtes begrifflich wie prozessual unbezeichnet bleibt, ist angesichts des gläubigen Adressatenkreises, der mehrheitlich ein unaufgeklärter, ungebildeter war, von einer begründeten Aussicht auf eine Assoziation des zürnenden Strafgottes auszugehen. Demnach wäre eine rezeptive Kausalkette in Gang gesetzt worden, an deren Ende zwangsläufig die Wahrnehmung einer mythologischempirischen Glaubensrelevanz gestanden hätte – ein Prozess, für den die Rezeption, die zum Teil in größerer Gesellschaft erfolgte, auch spricht. Ein etwaiger Eindruck von Weltgerichtsprophetie, bereits an dieser Stelle, wäre, dem frühen Lektüre-Zeitpunkt zum Trotz, durch die nachfolgenden Prophetie-Zitate gestützt worden.9 Die in der Textchronologie folgenden Bezugnahmen auf das Alte Testament – jene, die sich den Weltgerichtsprophetien des Ezechiel und Jesaja widmen – machen diesen eschatologischen Strafprozess ebenfalls zu deren Gegenstand. Ge9 Diese Rezeptionsweise erfolgte nicht allein in den Fällen, in denen Micha als Prophet der Weltgerichtsbarkeit identifiziert wurde, sondern auch im Falle einer einfachen Assoziation des Kanons zum christlichen Weltgerichtsmythos durch die Leser- bzw. Hörerschaft.

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gen Ende der Flugschrift zeigt sich ein Zitat des erstgenannten Propheten, der unter dem Motto der Gerechtigkeit einerseits soziale Regelungen wie Schonung der Frauen, der Schwachen und Armen als Schwerpunkte setzt – ganz im Sinn gelebter Mitmenschlichkeit –, bzw. andererseits auch wirtschaftliche Satzungen wie Verzicht auf Zins und Wucher. Unter Angabe von Ezechiels 37.  Kapitel als Primärquelle wird dem deutschen Volk die Möglichkeit eines Wiedererstarkens bezeichnet  – gekleidet in das Bild der Auferstehung –, als Ergebnis einer empirischen Aktualisierung des biblischen Beispieles Israels, das in der historischen Vorlage wohl den ‚alten‘ Jahwe-Gott zu fürchten hatte, dem zugleich jedoch ein Ende des Exils und die Rückkehr in die Heimat verheißen wurde  : Zu einem großen Leichenfelde haben die Fürsten die deutsche Erde gemacht, wie

Ezechiel im 37 Kapitel beschreibt  : „Der Herr führte mich auf ein weites Feld, das

voller Gebeine lag, und siehe, sie waren sehr verdorrt.“ Aber wie lautet des Herrn

Wort zu den verdorrten Gebeinen  : „Siehe, ich will euch Adern geben und Fleisch

lassen über euch wachsen, und euch mit Haut überziehen, und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet, und sollt erfahren, daß Ich der Herr bin.“ Und des

Herrn Wort wird auch an Deutschland sich wahrhaftig beweisen, wie der Prophet

spricht  : „Siehe, es rauschte und regte sich und die Gebeine kamen wieder zusammen,

ein jegliches zu seinem Gebein. – Da kam Odem in sie und sie wurden wieder lebendig und richteten sich auf ihre Füße, und ihrer war ein sehr groß Heer.“ (M A 60/62)

Innerhalb des 37. Buchkapitels wird den Exilierten dadurch Trost zugesprochen, dass ihnen Ezechiel, als einer aus der Reihe der Großen Propheten, das Ende der Exilzeit prophezeit   ; die Übertragung auf das Großherzogtum Hessen schließlich ersetzt den Exil- durch den Befreiungs-Gedanken. Der Abgleich mit 37,1–2, einer Stelle aus dem vorletzten der vier Abschnitte, macht deutlich, dass diese Zitation mit der Vorlage – thematisch wie in der Wortwahl – weitgehend übereinstimmt  : „Des Herrn Hand kam über mich, und führete mich hinaus im Geist des Herrn, und stellete mich mitten in ein Thal, das voller Beine lag. / Und er führete mich allenthalben durch selbige herum  ; und siehe, ihrer lag sehr viel auf dem Felde  ; und siehe, sie waren sehr verdorret.“ Zur Anomalie in der Zitationspraxis, die mit Paulus vorliegt, tritt mit Ezechiel eine weitere hinzu. Bereits die einleitende ‚Beschreibung‘ der „deutsche[n] Erde“ als „große[s] Leichenfelde“ stellt einen irreführenden Bezug zu Ezechiel her, der eine Autorschaft desselben suggeriert.



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Das nachfolgende zweite Zitat, mit dem das Toten-Motiv fortgeführt wird, stimmt fast wortidentisch mit Ezechiel 37,6 überein  : „Ich will euch Adern geben, und Fleisch lassen über euch wachsen, und euch mit Haut überziehen  ; und will euch Odem geben, daß ihr wieder lebendig werdet  ; und sollt erfahren, daß Ich der Herr bin.“ Die eingangs beschriebene Anomalie wird erst wieder durch die dritte und abschließende Zitation aufgenommen, mit der Verheißung, dass des „Herrn Wort“ „sich“ „auch“ „an Deutschland“ „wahrhaftig beweisen“ „wird“. Auch dieses Endzitat, das sich aus zwei vollständigen Sätzen zusammensetzt, zeichnet sich durch eine fast wortgetreue Übernahme von Teilen aus dem dritten Buchabschnitt aus, wie etwa der Vergleich mit Ezechiel 37,7 belegt  : „Und ich weissagte, wie mir befohlen war  : und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich  ; und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem Gebeine.“ Der überdies zugehörige, per Gedankenstrich angefügte Satz geht auf folgende Stelle in der Lutherübersetzung zurück  : „Da kam Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig, und richteten sich auf ihre Füße. Und ihrer war ein sehr, sehr groß Heer.“ (Ez 37,10) Diese Anomalien legen die Annahme nahe, dass die Landboten-Flugschrift glaubens-empirische Qualität beansprucht und damit die eines Offenbarungszeugnisses, wobei das Auferstehungs-Motiv dem Versprechen der sittlichen Erneuerung verpflichtet ist  : und damit lediglich einem metaphorischen Sinn. Wie die Zitierpraxis belegt, handelt es sich um ein bewusst inszeniertes Spiel mit der Doppeldeutigkeit des Aussagewertes, die auf den verwendeten Zusätzen „wie Ezechiel im 37 Kapitel beschreibt“ bzw. „wie der Prophet spricht“ beruht. Erst die wiederholt bereitgestellten Anomalien rücken die Landboten-Flugschrift entweder ganz unmittelbar in einen empirischen Bezugsrahmen oder zumindest in einen entsprechenden Nahbereich. Ein Verzicht auf das Weltgerichtsthema, das erst eine zeitliche wie territoriale Anbindung an Deutschland herstellt, hätte der sozial-revolutionären Überzeugungsstrategie einen Gutteil des Handlungsdruckes genommen. Im Hinblick auf das Zusammenwirken des Ezechiel-Abschnittes mit den übrigen Bibel-Adaptionen ist bemerkenswert, dass sich der Zitatreigen ausgerechnet mit diesem Propheten beschließt, was auf das ausschließlich metaphorische Verständnis der Wiedergeburt zurückgeht, auf seine Rede von ‚verdorrten‘ und sich ‚regenden‘ Gebeinen, die durch den Hessischen Landboten übernommen wird. Mit einem abschließenden Ezechiel-Zitat erfolgt noch die Verheißung, dass die als „Tyrann[en]“ bezeichneten deutschen Fürsten „bald“ überwunden sein werden  :

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So weit ein Tyrann blicket  – und Deutschland hat deren wohl dreißig  – verdorret

Land und Volk. Aber wie der Prophet schreibet, so wird es bald stehen in Deutschland  : der Tag der Auferstehung wird nicht säumen. In dem Leichenfelde wird sichs regen und wird rauschen und der Neubelebten wird ein großes Heer sein. (M A 62)

Wegen dieses metaphorischen Gebrauches des Befreiungs-Motivs vermag Volker Klotz in der versprochenen Bälde der „Neubeleb[ung]“ kein „[V]ertrösten“ „aufs Jenseits“ auszumachen, was er richtig damit begründet, dass die „Auferstehung“ der Toten an die „revolutionäre[n] Erhebung“ gekoppelt ist  : „Der jüngste Tag eröffnet einen besseren Alltag. Und Auferstehung ist kein Danach, sondern ein Davor. Auferstehung konkretisiert sich zum Aufstand  : zur revolutionären Erhebung der Neubelebten […].“10 Obwohl Ezechiel in dieser Wiederaufnahme des ‚Erneuerungs‘-Motivs nicht genannt wird – es ist lediglich von einem „Prophet[en]“ die Rede –, kann die entsprechende Autorschaft zweifelsfrei ausgemacht werden. Ein DeutschlandBezug ist auch hierin gegeben, innerhalb eines bedeutungshaften Graubereiches aus religiöser Prophetie und einfacher Vorhersage allerdings, der als solcher nur dann die Annahme einer Suggestion erlaubt, wenn das prophetische Wesen der Flugschrift im Allgemeinen mit bedacht wird. Während im Alten Testament durch einen von Gott berufenen Offenbarungszeugen vorausgesagt wird  – so die theologische Annahme –, dass die Toten sich erheben werden, um Jerusalem und den Tempel wiederaufzubauen, stellt sich im Landboten-Pamphlet das Wiederbelebungs-Motiv im erwähnten Sinn einer Volksrevolution ein, an deren Ende eine neue Gesellschaftsordnung stünde. Demnach ließe sich ein weiterer Progress des Weltgerichtes durch ein Volk, das sich einsichtig zeigte, abwenden und die politische Erneuerung als geforderte Gegen- wie Vorsorgemaßnahme einleiten – durch einen Akt der Selbstbestimmung, gesetzt von einem selbstverantwortlich handelnden, nicht länger passiv verharrenden Volk. Jesaja, der ebenfalls mit dem Weltgericht droht, Israel jedoch zugleich eine endzeitliche Wende zu universalem Frieden, Gerechtigkeit und Heil verkündet, spricht auch in der Flugschrift den Drohgehalt des Gottesgerichtes an, und als einziger Prophet aus dem Zitatreigen uneingeschränkt explizit  : „‚Er wird die Hecken und Dörner niederreißen und auf einem Haufen verbrennen.‘“ (MA 10 Volker Klotz, Büchners gebrochene Wirkungen. In  : Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen  : insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater. 2., durchges. Aufl. Würzburg 1998, S. 89–137, S. 110.



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60) Die Gemeinsamkeiten mit 27,4 aus dem mittleren Abschnitt des Buches, in dem Jesaja dem israelitischen Volk Weltgericht und Erlösung prophezeit, sind unverkennbar  : „Wer gibt mir Dornen und Hecken im Kriege  ? […]  : Ich will hineindringen, ich will ihn auf einen Haufen anstecken.“ Gemäß der Vorlage bezieht sich auch die Adaption – hier mittelbar – auf eine Auferstehung, deren Realisierung keineswegs eine Gesamttilgung des Volkes voraussetzt. Als vorletzte, dem Propheten Ezechiel vorangestellte Adaption bewirkt der Jesaja-Abschnitt nochmals eine motivische Impulsgebung in Sachen Weltgerichtsstrafe. Obwohl die Bezugnahme auf Jesaja von der Vorstellung eines Strafgottes geprägt ist, der als Richter der Verderbten agiert, während mit Ezechiel der thematische Fokus auf der Erneuerung des deutschen Volkes liegt, tritt in beiden Fällen der Weltgerichtsaspekt prägnant zutage. Die fein entwickelten Variationen in der Gewichtung sind als Teil eines Konzeptes zu verstehen, das den Zweck verfolgt, eine dramatische Steigerung zu inszenieren. Stehen die Propheten doch einer chronologischen Reihung vor, die sich aus folgendem Stufenbau zusammensetzt  : a) ‚Ursache‘ (Micha), b) ‚Besinnung‘ (Paulus), c) ‚Strafe f. Verursacher‘ ( Jesaja) und d) ‚Auferstehung‘ (Ezechiel). Wenn die Textstrategie, die sich im Landboten-Pamphlet manifestiert, nicht eine eindeutige, empirisch-religiöse Sprache spräche, hätte in keiner Weise etwas gegen einen konjunktivischen Gebrauch der Adaptionen gesprochen, sondern im Gegenteil alles für ein historisches Exemplifizieren.11 In diesem Fall hätte die Redeleistung des Berichtenden in der Warnung bestanden, ‚sich nur ja nicht auf dem sicheren neutestamentarischen Ufer zu wähnen‘, also in der Vermittlung einer Mahnung, die sich vordringlich an die humanistisch gesinnten 11 Klotz macht im Rückgriff auf die Bibel einen rhetorischen Wandel aus, der darin begründet liegt, dass der anfänglich „sehr allgemeine[n]“ „agitatorische Imperativ“ im Textverlauf der Flugschrift allmählich abgelöst wird von einer „direkte[n] grammatische[n]“ Qualität  : „Anders wäre das bestimmte Publikum kaum zu bestimmtem Verhalten zu veranlassen.“ (Klotz 1998, 104) Klotz formuliert in seiner Studie, die auf einer „Vorfassung[en]“ von 1975 beruht (364), grundlegende Einsichten zur Funktion der Bibelmotivik, die unabdingbar sind für ein angemessenes Verstehen  : „Wird es [das ‚Publikum‘] doch […] zum Beauftragten Gottes, zum Vollbringer seines geweissagten Willens.“ (108) Klotz’ These schließt sich unter anderen Till an  : „Die Bauern sind Werkzeuge Gottes in dem Prozess der Heilsgeschichte […][.]“  ; Dietmar Till, „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012), S. 3–24, hier  : S. 21. Dagegen vertritt Schärf die abweichende Meinung, dass es Büchner „nicht vornehmlich um die Religion geht“, sondern der Autor ein „probates Mittel [sucht], um die Sprache und den Nerv des Volkes zu treffen“  ; Christian Schärf, Die Idee der Kunst  : „Aenigma sui temporis“. In  : Werkbau und Weltspiel. Die Idee der Kunst in der modernen Prosa. Habil.-Schr. Mainz 1997. Würzburg 1999, S. 15–33, hier  : S. 24.

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Gläubigen gerichtet hätte. Dass der Leser- und Hörerschaft im Gegenteil ein abschreckendes Beispiel von prophetischer Relevanz gegeben werden sollte, nach dem Vorbild der ‚alten‘ Propheten, hat aus theologischem Gesichtspunkt keineswegs zu verwundern. Entsprachen die vielen Personen, die damals auf eben diese Strafrigorosität fast regelhaft Bezug nahmen  – seien es Geistliche oder politische Agitatoren –, damit doch einem Menschenbild, das noch immer stark von mittelalterlichen Begriffskomplexen wie Schuld und Sühne beeinflusst war.12 Wiewohl eine Gefährdung der bestehenden Ordnung selbst in dem Fall bestanden hätte, dass mit dem Textkonzept schlichtweg eine statistisch untermauerte Sozialkritik vermittelt worden wäre, dürfte nicht zuletzt das agitatorische Potenzial des ‚alten‘ Gerichtsgottes – selbst bei Nichterfassung der aktualisierenden Inszenierung – zu einer rigorosen Bekämpfung geführt haben. Das Vorgehen des hessischen Staatsapparates, der schwerwiegende Sanktionsmittel aufbot, ist zwar keinesfalls als Beleg für einen faktischen Erfolg der Textstrategie zu werten, doch spricht die Restriktivität der Maßnahmen zumindest dafür, dass von staatlicher Seite große Sicherheitsbedenken vorgelegen hatten.

2. Humanistisches Wertefundament nach theologischem Vorbild

Mit der aufklärerischen Textstrategie des Hessischen Landboten gelangt eine motivische Wertetrias nach französischem Vorbild zur Darstellung, die auf den Idealen der Freiheit und der Gleichheit beruht sowie auf der davon abgeleiteten Vorstellung der Brüderlichkeit. Dennoch ist eine Verwandtschaft mit dem Wertesystem des Christentums auszumachen, die unter anderem den Egalitäts-Begriff betrifft, der ideell zurückgeht auf eine Schöpferinstanz, die eine einzige, zusammengehörige Schöpfung hervorbrachte.13 Der Gleichheits-Grundsatz ma12 Das aufklärerische Menschenbild, das von den gebildeten und liberalen Oppositionellen propagiert wurde, stand in einem grundsätzlichen Widerspruch zur gesellschaftlich etablierten Glaubenspraxis. Der liberal geprägte Teil der oberhessischen Oppositionsbewegung konnte die Strategie der Flugschrift, die auf ‚wahrem Glauben‘ basierte, deshalb nur widerwillig als Vehikel des Umsturzes gebilligt haben  : „Im Zentrum des liberalen Weltbilds stand das vernunftbegabte Individuum, das sich eigenverantwortlich entfalten sollte, frei von Beschränkungen etwa berufsständischer oder religiöser Art.“  ; Alexa Geisthövel, Der monarchische Verwaltungsstaat und seine Oppositionen  : Julirevolution, Repression und politische Mobilisierung (1830–1839). In  : Restauration und Vormärz 1815–1847 (= U TB, Seminarbuch Geschichte  ; 2894). Paderborn [u. a.] 2008, S. 29–44, hier  : S. 40. 13 Khoury führt zur Kulturgeschichte der Kategorie der „Einheit der Menschheit“ aus  : „Die Vorstel-



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nifestiert sich in der Agitationsschrift mit der Rede von einem Christen-„Gott“, der „alle Menschen frei und gleich in ihren Rechten schuf “ und durch den „keine Obrigkeit“ „zum Segen verordnet“ wurde, die nicht „auf das Vertrauen des Volkes sich gründet“ (MA 58). Daneben erlangt das Gleichheits-Motiv durch die Erklärung an Bedeutung, dass der „Mensch nicht trennen“ „soll“, „was Gott vereinigt hat“ (MA 58). Indem es weiterhin heißt, „daß der Gott, der ein Volk durch Eine Sprache zu Einem Leibe vereinigte, die Gewaltigen die es zerfleischen und vierteilen […] als Volksmörder und Tyrannen hier zeitlich und dort ewiglich strafen wird“ (MA 58), geht zwar von der Gleichheit bzw. Brüderlichkeit der Deutschen die – unüberhörbar völkisch intonierte – Rede, doch bleibt die Menschheit im Gesamten insofern keineswegs ausgeschlossen, als das allen Menschen gegebene Artikulationsmedium erst die Möglichkeit für eine gemeinsame deutsche Sprache schafft, wie die vom Schöpfergedanken geleitete Grundaussage lautet. Im Zuge einer ironischen Verfremdung des Schöpfungsmythos, die am Anfang der Flugschrift erfolgt, wird die tradierte Annahme eines gerechten Christengottes keineswegs indikativisch, wie es auf den ersten Blick scheint, sondern lediglich provisorisch unterlaufen  : Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte

Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen am

6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt  : Herrschet über alles Getier, das

auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt. (M A 40)

Die Gegenüberstellung der „Bauern und Handwerker“ mit den „Fürsten und Vornehmen“ stellt den Menschen – vor dem Hintergrund einer Unrechtsmonarchie – konjunktivisch als Schöpfungsergebnis vor, das an zwei verschiedenen, aufeinander folgenden Tagen erschaffen wurde. Mit der ironisierenden Unterlung von der E. d. M. hat zwei Wurzeln, die im Laufe ihrer Entwicklung vielfach miteinander verschlungen waren  : a) die Weltvernunft (logos) der stoischen Philosophie, die den Gedanken einer einheitlichen, alle Menschen einbegreifenden ‚Natur‘ begründete und zum Gleichheitspostulat der europ. Aufklärung führte  ; b) die biblische Lehre von der Schöpfung der Welt durch den einzigen Gott, die in der endgültigen Gestalt der hebr. Bibel der Geschichte des Volkes Gottes vorangestellt wird, obwohl sie historisch eher aus der Exoduserfahrung und deren Erweiterung auf universale Erlösung hin erwachsen ist.“  ; Adel T. Khoury (Hg.), Lexikon religiöser Grundbegriffe. Judentum – Christentum – Islam. Aktualisierte Aufl. Wiesbaden 2007, S. 186. Dass in der LandbotenFlugschrift beide „Wurzeln“ miteinander verwoben sind – die voraufklärerische mit der biblischen –, liegt in deren Wirkungsabsicht begründet.

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stellung, dass der Schöpfer, dem eine Unterteilung in Über- und Untermenschen zugeschrieben wird, die „Fürsten und Vornehmen“ als „Herrsche[r]“ und die „Bauern und Bürger“ als „Gewürm“ in die Welt gesetzt hätte14 – ein semantisch einschlägiges Bild für weitgehende Rechtlosigkeit –, zielte die Autoreninstanz auf einen sozialkritischen Erkenntnisgewinn beim Volk ab. Derart zeigt das begriffliche Doppelpaar aus Gleichheit und Brüderlichkeit eine religiöse Ausrichtung, deren Zweck darin bestand, im Gleichklang mit dem prophetischen Aussagewert den Willen des Volkes zur politischen Veränderung nachhaltig zu erwecken. Indem der Christengott, neben seiner mehrfach belegten Strafrolle, als wohlwollender Beförderer der eingeforderten Auflehnung ­erscheint  – womit sich die Gleichheit des Menschen erst wieder herstellte  –, gelangt die dritte Forderung, jene nach Freiheit bzw. nach Befreiung, zur An­ wendung.

3. Fazit

Die Prophetiekonzeption offenbart das Ziel einer an den alttestamentarischen Propheten orientierten Rezeption. Diese Annahme wird durch die formalen wie inhaltlichen Anomalien der Bibelzitate bestätigt, die entweder ganz unverhohlen den Eindruck von biblischer Prophetie erwecken  – auch indem Deutschland namentlich aufscheint – oder die zumindest die jeweilige tradierte Autorschaft in eine repräsentative Nähe zu den deutschen Ländern rücken. Beides geschah zum Zweck der Verdeutlichung, dass bereits die ‚alten‘ Propheten dieses Unglück für Deutschland geweissagt hätten, bzw. zur Vermittlung der Suggestion, dass jene sich dazu schon in frühester Zeit geäußert hätten. In diesem Kontext vollzog sich mit den Adaptionen die erwähnte zweifache Verfremdung der Quellen.

Literaturverzeichnis Die Bibel, oder die ganze Heilige Schrift alten und neuen Testaments. Dr. Martin Luthers Uebersetzung, nach dem Grundtext berichtigt. Ausgabe mit stehenden Buchstaben. 2. Abdr. Frankfurt a. M. 1824. 14 Die Genesis diente für dieses Gedankenspiel insofern als Vorlage, als Gott der Überlieferung zufolge am fünften Tag „die Thiere der Erde“ und auch den „Menschen“ schuf (Mose 1,25–26).



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Borgards, Roland und Harald Neumeyer (Hg.)  : Büchner-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 130–137. Büchner, Georg  : Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006. Geisthövel, Alexa  : Der monarchische Verwaltungsstaat und seine Oppositionen  : Julirevolution, Repression und politische Mobilisierung (1830–1839). In  : Restauration und Vormärz 1815–1847 (= U TB, Seminarbuch Geschichte  ; 2894). Paderborn [u. a.] 2008, S. 29–44. Harbeck, Hans  : Wegbereiter der Moderne im neuen Jahrhundert  : Der hessische Landbote (1913). Band 1  : 1875–1945. Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Hg. von Dietmar Goltschnigg. 3 Bde. Berlin 2001, S. 199–201. Khoury, Adel T. (Hg.)  : Lexikon religiöser Grundbegriffe. Judentum – Christentum – Islam. Aktualisierte Aufl. Wiesbaden 2007. Klotz, Volker  : Büchners gebrochene Wirkungen. In  : Dramaturgie des Publikums. Wie Bühne und Publikum aufeinander eingehen  : insbesondere bei Raimund, Büchner, Wedekind, Horváth, Gatti und im politischen Agitationstheater. 2.,  durchges. Aufl. Würzburg 1998, S. 89–137. Knapp, Gerhard  P.  : Georg Büchner (= Sammlung Metzler, Literaturgeschichte  ; 159). 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart [u. a.] 2000. Neuhuber, Christian  : Georg Büchner. Das literarische Werk (Klassiker-Lektüren  ;  11). Berlin 2009. Ruckhäberle, Hans-Joachim   : Flugschriftenliteratur im historischen Umkreis Georg Büchners (Skripten, Literaturwissenschaft  ;  16). Diss. München 1974. Kronberg/Ts. 1975. Schärf, Christian  : Die Idee der Kunst  : „Aenigma sui temporis“. In  : Werkbau und Welt­ spiel. Die Idee der Kunst in der modernen Prosa. Habil.-Schr. Mainz 1997. Würzburg 1999, S. 15–33. Steding, Sören A.  : Büchner, Georg  : Der Autor und die Enzyklopädie. In  : Georg Büchner  : Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption (= Philologische Studien und Quellen  ; 201). Hg. von Dieter Sevin. Berlin 2007, S. 231–241. Till, Dietmar  : „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch  12 (2009–2012), S. 3–24.1

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‚Die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen‘ Büchners Entwürfe eines mündigen Volkes  : Der Hessische Landbote, Dantons Tod, Woyzeck

Fünfzig Jahre vor der kurzen Zeitspanne, die Büchner für sein literarisches und wissenschaftliches Schaffen gegeben war, hatte Kant 1784 Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt, der darin bestehe, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.1 Verwirklicht werde dies darin, dass man „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch“ mache.2 Kant setzt dabei zwei grundlegend verschiedene Weisen des Vernunftgebrauchs an. Im privaten Gebrauch, worunter er das Agieren auf dem einer Person jeweils anvertrauten gesellschaftlichen Posten versteht, habe der Mensch gemäß den in diesen Bezügen vorgegebenen Regeln zu handeln, ist er mithin durch die Verhältnisse determiniert und habe er dies anzuerkennen. Im öffentlichen Gebrauch der Vernunft hingegen, was Kant als ‚Räsonieren‘ „vor dem ganzen Publikum der Leserwelt“ umschreibt,3 stehe es einem jeden frei, die Einrichtungen und Handlungsmaximen einer Gemeinschaft auf ihre Vernünftigkeit hin zu prüfen und zu beurteilen. Kants strikte Unterscheidung zwischen der Welt der Erscheinungen, der Erfahrungswirklichkeit, in der sich der Mensch durch seine Natur wie durch die gegebenen konkreten Lebensbezüge als vielfältig determiniert anerkennen muss, und der Welt der Ideen, in der er sich von der Vernunftidee der Freiheit her entwirft, schlägt auch in dieser Entgegensetzung von privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft durch. Vage bleibt dabei die Vorstellung eines möglichen Brückenschlags zwischen beiden Welten  : als Erwartung, dass das der gelehrten Öffentlichkeit zugeordnete Befragen gegebener Einrichtungen vor dem Forum der Vernunft sich allmählich in der Erfahrungswirklichkeit auswirken, diese 1 Vgl. Immanuel Kant, Beantwortung der Frage  : Was ist Aufklärung  ? In  : Was ist Aufklärung  ? Thesen und Definitionen. Hg. von Ehrhard Bahr. Stuttgart 1974, S. 9–17, hier  : S. 9. 2 Vgl. Kant (1974), S. 11. 3 Vgl. Kant (1974).

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fortschreitend mit Vernunft durchdringen werde.4 Die „Kritik der Urteilskraft“ wird dann (1790) im Schönen und – ex negativo – im Erhabenen eine indirekte, bloß symbolische Verbindung zwischen beiden Welten entwerfen und weiter fragen, ob die ideelle Vorstellung einer teleologischen Organisation der Natur die Naturforschung nicht nur erkenntnisfördernd zu leiten vermag, sondern der Natur prinzipiell unterlegt werden darf (wozu Kant dann bekanntlich eine skeptizistische Position einnimmt). Die Literatur und Philosophie der deutschen Klassik und Romantik wird immer neu Felder einer Überbrückung oder gar Überwindung dieses aufklärerischen Dualismus entwerfen, hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Leistungskraft befragen und fortschreitend als nur noch bedingt oder gar nicht mehr tragfähig herausarbeiten  : in unmittelbarer KantNachfolge die Kunst (die Poesie, das Theater, in der Romantik dann die Musik), weiter die Idee der Bildung respektive einer ‚ästhetischen Erziehung‘, von Wieland bis Kleist die Figur der Grazie, anders wiederum den Humor, den Gedanken einer ‚Neuen Mythologie‘, die Geschichte als Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes, auch die romantische Idee von ‚Volk‘ und ‚Volksgemeinschaft‘. Auch noch für Büchners Schaffen ist diese Grundfrage der Aufklärung virulent, die Frage also, ob die aus der Vernunft abgeleiteten Vorstellungen der Ordnung der Natur wie, bezogen auf den Menschen, eines guten Lebens und einer dem menschlichen Wesen entsprechenden Ordnung der Gemeinschaft in der Erfahrungswirklichkeit überhaupt umgesetzt werden können und, wenn dies bejaht wird, auf welchen Feldern und durch welche Sinnbürgen dies vorgestellt werden kann. Büchner stellt diese Frage allerdings auf dem Boden einer durch die Erfahrung der gesellschaftlichen Umbrüche in Frankreich politisch-materialistisch geschärften gesellschaftlichen Analytik, ebenso auf dem Boden fortgeschrittener empirischer Naturwissenschaft wie eines Denkens über Kunst auf der Höhe des von Hegel wie Heine konstatierten ‚Endes der Kunst‘ als des Feldes, das eine Lösung der philosophischen Grundfrage der Epoche bereithielte. So zeigt das Kunstgespräch im Lenz und dessen Rahmung, dass die Forderung einer Darstellung ‚lebendiger‘ Natur nur unter einer Bedingung erhoben werden kann – einer Erfahrung der Welt als sinnhafter Schöpfung –, die empirisch nicht zu verifizieren ist, Kunst mithin solche Mimesisforderung nur noch im Herausstellen dieser Dissonanz erfüllen kann.5 Auf dem Feld der Naturforschung greift Büch4 Vgl. u. a. die Schlussbemerkung der zitierten Schrift  : „Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.“ (Kant 1974, 16) 5 Siehe hierzu ausführlicher  : Vf., Bildbeschreibung und ‚Selbstsorge‘ – zwei Grenzfälle  : Kleists Essay



‚Die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen‘ |

ner – programmatisch in seiner Züricher Probevorlesung – den aufklärerischen Dualismus in der Gegenüberstellung teleologischer und philosophischer Naturbetrachtung auf, wobei das der Natur unterstellte Grundgesetz der ‚Schönheit‘, dem hier die Brückenfunktion zuerkannt wird, mehr beschworen als begrifflich begründet und entfaltet wird.6 In immer neuen Ansätzen aber und mit besonderem Nachdruck sucht Büchner eine Überwindung des aufklärerischen Dualismus in der Vorstellung des Volkes. Im Horizont unterschiedlicher Konstellationen und Fragestellungen arbeitet er das Volk als Sinnträger der Geschichte und als Subjekt des Gesellschaftsprozesses heraus und spricht es als solches an, was er in einem Brief an Gutzkow auf die Formel bringt, man müsse „die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen“ (Br 320).7 Zur Debatte steht in diesen Entwürfen, wie das Volk als Subjekt, mithin als ‚mündig‘ gefasst und angesprochen werden kann, ohne es in seinen empirischen Verhältnissen bloßen Objekt-Seins, der Entfremdung und Depravierung zu verleugnen. Nur als ein Prozess lässt sich eine Verbindung beider Vorstellungen denken, dessen Gehalt aber wäre ‚Ausgang aus Unmündigkeit‘. In seiner Flugschrift Der Hessische Landbote will Büchner dem Volk, das er hier als „Bauern und Handwerker“ anspricht (HL 40)8, die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Grund seiner elenden Lage sind, erklären und erreichen, dass die Angesprochenen sich dem Gedanken eines Umsturzes der Verhältnisse öffnen. Das führt allerdings in die Aporie, dass das Volk einerseits als Subjekt (Produzent) der gegebenen Verhältnisse herausgearbeitet, es andererseits aber um seiner Befreiung willen zur Übernahme bestimmter Einsichten und hieraus abzuleitender Handlungen aufgefordert werden muss, womit es im Status des Objekt-Seins gerade befestigt wird. So verdient es besondere Aufmerksamkeit, ob die Flugschrift dieser aporetischen Adressierung des Volkes inne ist und was für Strategien sie hiergegen aufbietet. Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft und das Kunstgespräch in Büchners Lenz. In  : Behext von Bildern  ? Ursachen, Funktionen und Perspektiven der textuellen Faszination durch Bilder. Hg. von Heinz J. Drügh und Maria Moog-Grünewald. Heidelberg 2001, S. 87–100. 6 Vgl. Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 1995, S. 260. – Der leichteren Zugänglichkeit wegen wird nachfolgend nach dieser Ausgabe zitiert. Die Nachweise erfolgen im Text (Seitenzahlen, bei Dramen auch Angabe von Akt und Szene) wobei folgende Siglen verwendet werden  : HL Der Hessische Landbote, DT Dantons Tod, L Lenz, LuL Leonce und Lena, W Woyzeck, Br Briefe. 7 Brief an Gutzkow, Anfang Juni 1836. 8 Zitiert wird nach der Fassung vom Juli 1834, da die Novemberfassung von Weidig nochmals überarbeitet worden ist.

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Getreu ihrem programmatischen Titel „Friede den Hütten  ! Krieg den Pallästen  !“, einem Slogan der Französischen Revolution („Paix aux chaumières, guerre aux châteaux“9), setzt die Flugschrift mit einer zwar affektiven, ihrem Gehalt nach aber statischen Gegenüberstellung von Ausbeutern und Ausgebeuteten, „Fürsten und Vornehmen“ bzw. „Bauern und Handwerker[n]“ ein  : Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigne Sprache  ;

das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. […] Das Leben des Bauern

ist ein langer Werktag  ; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leben

ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen. (HL 40)

Beachtung verdient, wie Büchner die rhetorische Figur der Metonymie einsetzt  :10 Das Hervorgebrachte, die Ackerfrüchte und deren Geldwert wird durch das Hervorbringende ausgedrückt, den Acker und die Schwielen dessen, der ihn bearbeitet. Im Produkt wird der Produzierende benannt und auf ihn zurückgeführt. Diese in der Figur der Metonymie angelegte Analyse der Verhältnisse soll affektiv  – mit Empörung  – aufgenommen werden  ; denn den Herrschenden (Vornehmen) wird nicht nur vorgeworfen, die Bauern und Handwerker auszubeuten, sondern es wird ihnen zusätzlich unterstellt, hieraus einen besonderen Genuss zu beziehen  : der Schweiß, d. h. die Mühe, Not und Plage der Bauern ist die Würze (das Salz) des Genusses der Vornehmen. Die scheinbar statische Opposition von Ausbeutern und Ausgebeuteten soll durch immer neues Ausschreiben der Figur der Metonymie als ein umgekehrter Begründungszusammenhang durchschaubar werden  : Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brod an

fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen

  9 Die Formulierung stammt von Nicolas Chamfort, erstmals belegt 1792. – Vgl. hierzu die Erläuterungen in  : Georg Büchner, Band 2.1  : Der Hessische Landbote, Text, Editionsbericht, Erläuterungen, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2013, S. 219. 10 Eine Interpretation der Flugschrift in der Perspektive ihres rhetorischen Charakters hat Till vorgelegt  : Dietmar Till, „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012), S. 3–24.

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ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind  ; und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt

euch auf euren steinichten Äckern, damit eure Kinder auch einmal hingehen können,

wenn ein Erbprinz mit einer Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rat schaffen

will, und durch die geöffneten Glastüren das Tischtuch sehen, wovon die Herren

speisen und die Lampen riechen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert.

(HL 50)

Im Mitvollzug der metonymischen Beschreibung der Verhältnisse sind die Adressaten der Schrift aufgefordert, das gute Leben der Vornehmen auf die eigene Arbeit (‚Schwielen‘) und Armut zurückzuführen. Performativ hält die Schrift die Adressaten dabei im Objektstatus, wie dies der imperativische Satzbau des Passus deutlich anzeigt. Wenn die Adressaten aber der vorgetragenen Aufforderung folgen, lesen sie sich als Subjekt des Gesellschaftsprozesses heraus. Soweit entspricht die gesellschaftliche Analytik der Flugschrift der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, die Hegel im Kapitel „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins, Herrschaft und Knechtschaft“ der „Phänomenologie des Geistes“ (erschienen 1807) entwickelt hat. Der Herr, so Hegel, ist der in Wahrheit Abhängige, da er von der Arbeit des Knechts lebt. Der Knecht aber, der durch seine Arbeit die Wirklichkeit des Herrn wie die Wirklichkeit generell hervorbringt, ist der eigentlich Freie. Hegel gibt an dieser Stelle eine abstrakte Theorie der Revolution  : Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein.

Dieses erscheint zwar zunächst außer sich und nicht als die Wahrheit des Selbstbewußtseins. Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird wohl auch die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung

zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist  ; sie wird als in sich zurückge-

drängtes Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren.11

So hat Hegel die Revolution als notwendiges Geschehen einer bestimmten Etappe der Geschichte des Zur-Wirklichkeit-Gelangens der Vernunft erwiesen. Büchner aber schreibt in Kenntnis des von Historikern der Französischen Re-

11 Siehe Georg W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg 1952, S. 147–148.

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volution herausgestellten ‚fatalen‘ Geschichtsgesetzes,12 demzufolge das revolutionäre Handeln des Volkes immer nur die gesellschaftliche Gruppe begünstige, die wirtschaftlich und gesellschaftlich die maßgebliche Kraft geworden sei. Das ist im 19. Jahrhundert die Bourgeoisie, die dann auch aus den Umstürzen der vergangenen Jahrzehnte als der klare Sieger hervorgegangen ist. Büchner hat unmittelbar vor seiner Arbeit an der Flugschrift seiner Braut die ihn ‚zernichtende‘ Kenntnisnahme dieses „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ beschrieben (Br 288).13 In dessen Horizont kann die ‚revolutionäre‘ Analytik der Flugschrift  – dass das Volk im Reichtum, Wohlleben und der Macht der Herrschenden sich als den Produzenten all dessen, damit als den Produzenten seines eigenen Negiert-Seins herauszulesen hat  – nicht ungebrochen vorgetragen werden. So eröffnet Büchner sie auch mit der Vorstellung einer weiteren Verkehrung in diesem Produzenten der Verhältnisse, also einer Umkehrung (revolutio) von dessen Negierung, was Marx wenig später als ‚Entfremdung‘ bestimmen wird  : Wehe über euch Götzendiener  ! – Ihr seid wie die Heiden, die das Krokodill anbeten,

von dem sie zerrissen werden. Ihr setzt ihm eine Krone auf, aber es ist eine Dornenkrone, die ihr euch selbst in den Kopf drückt  ; ihr gebt ihm ein Scepter in die Hand,

aber es ist eine Rute, womit ihr gezüchtigt werdet  ; ihr setzt ihn auf euern Thron, aber es ist ein Marter‹stuhl› für euch und eure Kinder. (HL 50)

Das Volk produziert nicht nur die Macht und den Reichtum der Herren, unter denen es leidet, sondern richtet diese Macht auch gegen sich selbst. So kann es zwar als Subjekt des Gesellschaftsprozesses und dessen Sinngaranten angesprochen werden, aber nur in doppelt verkehrter Weise. Es befestigt nicht nur eine andere Gruppe im Status des gesellschaftlichen Subjekts, sondern wendet diese Verkehrung seines Subjekt-Seins negierend auf sich zurück. Diese doppelte Verkehrung verlangt die Flugschrift selbst wieder zu verkehren, indem sie ihre Beschreibung mit dem biblisch-prophetischen ‚Wehe  !‘-Ruf einleitet. Das wäre eine Verkehrung dritter Potenz. Die Adressaten der Schrift sollen die Notwendigkeit dieser potenzierten Umkehrung zumindest einsehen, idealiter sogar vollziehen. Woher soll ihnen aber bei der aufgedeckten doppelten Selbstnega12 Benannt nach Historiografen der Französischen Revolution, insbesondere Louis-Adolphe Thiers und Louis Sébastien Mercier, die einer école fataliste zugerechnet wurden. Büchner hat deren Darstellungen der Französischen Revolution gelesen, zitiert daraus in Dantons Tod. 13 Brief an die Braut, 9.–12. März 1834  ; Entwurf des Hessischen Landboten, 13.–25. März.



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tion das Vermögen hierzu zukommen  ? Mit dem Bild der Dornenkrone, die das Volk, seinen Herrn krönend, sich selbst „in den Kopf “ drückt, sinnt die Flugschrift dem Volk eine Christusnachfolge an, aber wieder in der Weise einer Verkehrung. Christus haben andere im Dienste seiner Gegner eine Dornenkrone aufgesetzt, sein Leiden wendet er als Akt der Erlösung reziprok anderen, der Menschheit zu. Demgegenüber setzt das Volk in der Bildvorstellung des Hessischen Landboten sich selbst die Dornenkrone auf  ; dann ist der aus dem Leiden in der Christusnachfolge begründete Akt der Erlösung analog gleichfalls als nach innen gerichtet, d. h. als Selbsterlösung zu denken, wie Lena in Büchners Komödie, auf das Christus-Wort am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ anspielend (Mt 27,46), fragt  : „Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen mit unserem Schmerz  ?“ (LuL 173) Mit Ausnahme des Woyzeck wird in allen Dichtungen Büchners eine problematische Christusnachfolge vorgestellt  :14 blasphemisch im Lenz, wenn der Held dort als ein neuer Christus mit dessen Wunder bewirkenden Worten (vgl. Mt 9,6) ein totes Mädchen zum Leben wiederzuerwecken sucht  ; in einer verkehrten Wendung der Erlösung durch Leiden in Dantons Tod, wenn Robes­ pierre das auf ihn gemünzte Bild vom „Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird“ als bejahte Verkehrung des Christus-Opfers annimmt  : „Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen“ (DT 90)  ; als selbstbezügliches Erlösen durch Leiden, wie dargelegt im Hessischen Landboten und in Leonce und Lena. Das Volk, das sich selbst zu Christus macht, indem es sich selbst die Dornenkrone aufsetzt, hat als ein invertierter Christus nicht andere zu erlösen, sondern sich. Die Negation der Selbstnegation des Volkes ist dann – im verkehrten Christus – wieder in sich negiert. Aber auch solches Potenzieren der 14 Die beiden letzten Szenen der Szenengruppe H4 umgeben Woyzeck immerhin mit einer Christus-Aura  : Marie liest in der Bibel die Stelle über die Ehebrecherin, die Christus nicht verdammt ( Joh 8,3–11)  ; Woyzeck rückt in der letzten Szene mit der Gleichsetzung seines Geburtstages mit dem Tag, den die katholische Liturgie als Tag der Verkündigung Mariens (dass sie den Sohn Gottes gebären werde) begeht, sich in eine Nachfolge des Gottessohnes  ; die angegebenen Monats- und Tageszahlen verweisen allerdings nicht auf Mariae Verkündigung (25. März  : neun Monate vor der Geburt Christi), sondern exakt auf den 8. Dezember, den Tag der unbefleckten Empfängnis Mariens (darauf, dass sie selbst frei von der Erbsünde empfangen worden ist). Dann wäre Woyzeck in der Christus-Nachfolge der Sohn einer von Erbsünde freien Marie – im Gegensatz zu seiner ‚sündigen‘ Geliebten Marie  ; oder die Fehlleistung der falschen Tages- und Monatszahl ist als Wunsch aufzufassen, Marie als absolut rein, d. h. von Erbsünde frei, vorstellen zu können. Wenn Woyzeck so eine Christus-Aura gewinnt, so erweist er sich doch zuletzt als verkehrter Christus, der nicht verzeiht und Leben verheißt, vielmehr den Tod gibt.

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Negation in der Analytik der Lage des Volkes verbürgt noch nicht einen Übergang von der angeregten Einsicht in die Zusammenhänge zum umkehrenden ‚revolutionären‘ Handeln. Und selbst wenn das Volk zur umstürzenden Tat schritte, stünde diese unter dem schweren Bedenken, dass durch sie gemäß dem ‚fatalen‘ Geschichtsgesetz nicht das Volk, sondern die Bourgeoise zum neuen Herrn erhoben bzw. deren Herrschaft weiter befestigt würde. Die dem Volk zugesprochene invertierte und insofern verkehrte Christusnachfolge hält aber noch einen zweiten Sinnaspekt bereit, der einen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet. Denn mit der Christusnachfolge wird das Volk in die Welt der Bibel eingerückt und ebenso umgekehrt diese auf die Wirklichkeit des Volkes übertragen. Damit aber hat das Volk teil am Offenbarungsgeschehen, von dem die Bibel als Wirklichkeit berichtet, ist die prophetische Rede, zu der die Flugschrift immer wieder anhebt, eine hier und jetzt ergehende, nicht ein vom sprechenden Ich in die eigene Rede eingefügtes Zitat, um mittels der Autorität der Bibel die eigenen Aufforderungen theologisch zu legitimieren und ihnen Nachdruck zu verleihen.15 In die Wirklichkeit der Bibel eingerückt, werden dem Volk die Verkündigungen des ‚Zerschmeißens‘ der Zwingburgen (HL 60, in Anlehnung an Ps 68,22 u. 110,6 sowie Hab 3,13), des nahen Tages der „Auferstehung“ (HL 62, nach Ez 17,10), der Aneignung der „Wasser des Lebens“ (HL 64, nach Off 22,17.1), des eschatologischen Gehalts von Christi Wehe-Rede (HL 50, nach Mt 18,716) zu einem in der Wirklichkeit hier und jetzt bewahrheiteten, darum gewissen zukünftigen Geschehen, erscheint zugleich der im Horizont apokalyptischer Vorstellungen verkündete Umsturz so grundlegend, dass das aus ihm erstehende „Reich der Gerechtigkeit“ (HL 64, nach Röm 14,17) nicht mehr durch ein fatales Geschichtsgesetz infrage gestellt werden kann. Die Flugschrift Der Hessische Landbote trägt dem Volk zum einen auf, aus der leitenden Beschreibungsfigur der Metonymie sich selbst als den Produzenten seiner elenden Lage herauszulesen, womit sie es, gerade im Anerkennen seines Status als Objekt der Verhältnisse, als Subjekt des zur Debatte stehenden Gesellschaftsprozesses und zugleich performativ als Subjekt der gebotenen Analytik der Lage anspricht. Die Flugschrift fordert das Volk zum andern auf, diese 15 Im letzteren Sinne wird in der Regel die Funktion der vielen Bibelzitate und -anspielungen bestimmt und werden diese primär Weidig zugeordnet, so zuletzt  : Till (2012). 16 Das Christus-Wort über das Ärgernis, das Büchner im sogenannten ‚Fatalismusbrief‘ wie in Dantons Tod zitiert. – Siehe zum eschatologischen Gehalt der Christus-Rede  : Heinz Giesen, Artikel „Skandalon“. Band 3  : Pagideuō–ōphelimos, Register. Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Hg. von Horst Balz und Gerhard Schneider. 3 Bde. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.] 1992, S. 594–596.



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Selbstnegation seinerseits zu negieren, womit sie es allerdings performativ in den Status eines Objekts von Beeinflussung zurückverweist. Indem sie diesen Status mit der Berufung des Bildes der Dornenkrone als einen des Leidens weiter bekräftigt, führt sie jedoch gegenläufig mit der invertierten Christusnachfolge nicht nur den Gedanken einer Selbst-Erlösung ein, sondern spricht diesem die Wahrheit biblischer Offenbarung zu. Immer neu gelingt es Büchner in seiner Flugschrift derart, dem Volk gerade im Herausstellen seiner empirischen Lage des Verelendet- und Entfremdet-Seins Subjektstatus zuzusprechen. In solchem Entwurf des Volkes erscheint es möglich, den Dualismus von Erfahrungswirklichkeit und Idee politisch-praktisch zu überwinden, den die Aufklärung ihren Erben als nur symbolisch lösbar überantwortet hat. Für den aufklärerischen Ausgang aus Unmündigkeit wird so das Volk als Bürge erarbeitet. Der Hessische Landbote leistet dies allerdings nur in der Weise, dass er seinen Entwurf eines mündigen Volkes auf ein zukünftiges Geschehen hin öffnet, für dessen Wirklichkeit ein Vorgang der Metaphorisierung einsteht, insofern die Vorstellung des sein Leiden sich selbst zufügenden Volkes in der Vorstellung einer invertierten Christusnachfolge entfaltet wird, die das angesprochene Volk in die Welt der Bibel und deren Wahrheitsgeschehen versetzt. Die Gewähr eines Handelns, das den Umsturz der Verhältnisse herbeiführte, bleibt in den poetischen Raum einer metaphorischen Übertragung eingebunden. In seinem nach den Erfahrungen mit der Flugschrift verfassten Revolutionsdrama wird Büchner den genau umgekehrten Weg einschlagen. Im Raum der Kunst wird er geschichtlich wirklich gewordenes – statt zukünftiges – Subjekt-Sein des Volkes vorstellen und damit die Bedingung der Möglichkeit des Ausgangs des Volkes aus seiner Unmündigkeit erweisen. Das Drama Dantons Tod scheint um den Antagonismus zweier großer Helden der Revolution, mit Worten Büchners, zweier  : „Paradegäule[] und Ecksteher[] der Geschichte“ (Br 288) gebildet. Diese erheben durchaus den Anspruch auf tragische Größe  – in ihrem Handeln im Dienste der Revolution determiniert gewesen zu sein bzw., im Falle Robes­pierres, es immer noch zu sein, gleichwohl hierfür aber moralische Verantwortung tragen zu müssen, so Danton explizit in den Szenen II,4 und 5, Robes­pierre in der Szene I,6 –, aber die großen Helden gewinnen dabei keine rechte Strahlkraft. Das Drama entfaltet das tragische Muster auch nicht weiter, stattdessen erscheinen die Helden viel stärker von der in diesem Stück wuchernden Todesmetaphorik geprägt, im Umfeld der Dantonisten insbesondere von einer Metaphorik von Grab und Verwesung, so dass das Leben als Weg „[v]on einem Misthaufen auf den andern“ (DT 118)

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erscheint, bei den Jakobinern im Zeichen der Guillotine als Symbol des modernen mechanischen, ‚sauberen‘ Tötens. Für das Phänomen, dass beide Helden aus dem Tragödienmuster weder Größe noch Glanz gewinnen, entwickelt das Drama eine politisch-materialistische Begründung, in der sich zugleich das dramaturgisch vollkommen Neue dieses Dramas erschließt  : die eigenartige dramaturgische Funktion, die es dem Volk zuerkennt. Obwohl als reduziert dargestellt, als bloßes Objekt der Herren der Geschichte, stellt es deren Programm und damit die Begründung ihrer Position infrage. Die „Paradegäule[] und Ecksteher[] der Geschichte“ sind abgeschnitten von der Grundlage ihrer Herrschaft, vom Volk. Darum erscheint ihr Handeln fremdbestimmt, Gesetzen gehorchend, über die sie nicht verfügen, scheint ihr Selbst gespalten, auf dem Feld des politischen Handelns bedingt und unbedingt zugleich, scheinen sie nur halb zu leben, in Rollen zu agieren, z. B. in der des Tragödienhelden, die sie als ‚Schauspieler‘ gar nicht erfüllen können, so dass sie nur als Schatten erscheinen, fahle Figuren, die einander das „hippokratische Gesicht“ machen (Br 287).17 Zu den dramaturgischen Neuerungen, durch die Dantons Tod Epoche in der Geschichte des Dramas gemacht hat, legen sich, da mit bis dahin gewohnten Gestaltungsweisen gebrochen wird, negative Bestimmungen nahe  : keine Spannung auf ein Ende hin, alles ist von Beginn an entschieden, keine Durchführung eines dramatischen Konflikts, vielmehr Verharren in der Ausgangskonstellation, kein dramatischer Funktionalismus, sondern Reihung autonomer Einzelszenen, keine echten Dialoge, sondern ‚windschiefe‘ Gespräche, Entwurf der Figuren (mit Ausnahme der Frauengestalten) als eigenartig Gebrochene, ohne tragfähige Grundlage. Alle diese Neuerungen ergeben sich aus dem Ansatz des Stücks, zwei politische Gruppen einander gegenüberzustellen, diese aber ihren Konflikt nicht aneinander abarbeiten zu lassen, sie vielmehr jede für sich auf eine dritte Größe zu beziehen, auf das Volk, das nun aber nicht seinerseits – was anachronistisch wäre – als Subjekt des Geschichtsprozesses vorgestellt wird, das vielmehr durch seine bloße Anwesenheit als weiterhin hungernd und ohnmächtig jede der beiden sich gegenüberstehenden Positionen an sich selbst, statt an der Gegenpartei entwertet. Zugleich hat Büchner damit eine Weise gefunden, das Volk dramaturgisch als bestimmende Größe zu berufen, auch als Größe zu erweisen, die realhistorisch bestimmend war, ohne es in seiner Ohnmacht wie in seiner mentalen und physischen Reduziertheit, also in seinem faktischen Objektstatus zu verzeichnen. Büchner stilisiert nicht, wie viele, die sich später auf ihn berufen wer17 So Büchner in seinem Brief an die Braut vom 7. März 1834.



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den, das Volk zum neuen geschichtlichen Heilsbringer um, weder in der politischen Flugschrift, noch in seinem Revolutionsdrama. Vor einem schonungslos in seiner Beschränktheit und seinem Hunger vorgestellten Volk erweisen sich aber – mit schlagender Evidenz ohne langatmige politische Argumentation – die herrschenden Gruppen als längst ‚abgelebt‘,18 als tot bei Lebzeiten, was die umfängliche Todesmetaphorik des Dramas beglaubigt, erscheinen die Selbstentwürfe und Aktionen der Revolutionshelden als bloßes Gestikulieren auf einem ‚Theater‘ der Revolution (vgl. DT 92), was einer Spiel- bzw. Theatermetaphorik Raum gibt, die das ganze Stück durchzieht, erscheint das Handeln der Helden als ein Agieren auf einer Bühne, hinter der ganz andere Kräfte wirken. Als Programm der Dantonisten nennt das Drama die Sicherung des bürgerlichen Gehaltes der Revolution, was anachronistisch mit Heines Position des Sensualismus identifiziert wird  :19 Die Revolution muß aufhören und die Republik muß anfangen. […] Jeder muß sich

geltend machen und seine Natur durchsetzen können. […] Jeder muß in seiner Art

genießen können, jedoch so, daß Keiner auf Unkosten eines Andern genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuß stören darf. (DT 71)

Durch pure Anwesenheit des Volks als keineswegs nach seinem Naturell lebend und keineswegs genießend, was die Dantonisten selbst zugeben (vgl. Szene I,5), erweist sich dieses Programm als gescheitert bzw. als bloßes Verbrämen der egoistischen Beerbung der Revolution durch die kleine Schicht des wohlhabenden Bürgertums. So erscheinen die Repräsentanten dieser Position zum Untergang reif, zu Recht von Beginn an im Horizont des Todes, sympathisch allerdings durch die Kraft, sich dies selbst einzugestehen und ihren Tod ohne Versuche ‚höherer‘ – z. B. tragischer – Sinngebung hinzunehmen, die nur verlogen wäre. 18 So Büchner in einem Brief an Gutzkow (Anfang Juni 1836) über die „abgelebte moderne Gesellschaft“, der entgegen man „die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen“ müsse  : „Das ganze Leben desselben [d. i. eines ‚Ding[s]‘ wie diese Gesellschaft] besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.“ (Br 320) 19 Vgl. hierzu Rüdiger Campe, Dantons Tod. In  : Büchner–Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 18–38, hier  : S. 31 u. Georg Büchner, Band 3.4  : Danton’s Tod, Erläuterungen, bearb. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2000, S. 45.

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Das Programm der Jakobiner zeigt das Drama gespalten in Anspruch und Wirklichkeit. Robes­pierres verbalem Bekunden nach geht es darum, die soziale Revolution zu verwirklichen, also das materielle Elend des Volkes aufzuheben (vgl. Szene I,6). Faktisch kennen die Jakobiner des Stücks (wie die der historischen Wirklichkeit) aber keine Strategien, die soziale Frage wirksam anzugehen, ja sie schrecken sogar vor einem effektiven Angehen dieser Frage zurück. Die Hinrichtung der sozialrevolutionären Hébertisten wird mit deren radikaler Einstellung zum Eigentum begründet (vgl. I,3, DT 77), mithin bekennen sich die Jakobiner sozialpolitisch gleichfalls zu bürgerlichen Interessen. Die soziale Problematik des Verhältnisses von arm und reich verschieben sie auf die ethische des Verhältnisses von Tugend und Laster. Für die Effekte einer nicht durchschauten ökonomischen Gesetzlichkeit20 werden Verantwortliche gesucht, das Aufrichten der Tugendherrschaft durch Liquidieren der Lasterhaften wird dabei suggestiv mit der Erwartung verknüpft, damit dem materiellen Elend des Volkes abzuhelfen, da nur die Reichen sich die Laster erlauben können. Das weiterhin hungernde Volk durchschaut die Strategie, das Lösen der sozialen Frage durch immer neue ‚Schauspiele‘ des Todes zu ersetzen, die nicht sättigen, und zitiert dies immer wieder zynisch  : 3. Bürger. […] Die paar Tropfen Bluts vom August und September haben dem Volk die Backen nicht rot gemacht. Die Guillotine ist zu langsam. Wir brauchen einen

Platzregen. (I,2, DT 75)

1. Bürger. Ja das ist wahr, Köpfe statt Brod, Blut statt Wein.

Einige Weiber. Die Guillotine ist eine schlechte Mühle und Samson ein schlechter Bäckerknecht, wir wollen Brod, Brod  ! (III,10, DT 121)

Ein Weib mit Kindern. Platz  ! Platz  ! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz  ! (IV,7, DT 130)

Da die Schauspiele des Todes das hungernde Volk nicht sättigen, ist auch die Position der Jakobiner als nicht haltbar erwiesen, ist die Aussage Dantons, dass er sie in den Tod mitziehe (vgl. IV,5, DT 127), nicht nur durch die Geschichte, sondern ebenso durch die dramaturgische Argumentation des Stücks beglaubigt. Auch die Jakobiner werden in einem unausweichlichen Horizont des Todes 20 Die durch die Wirtschaftsleistung nicht gedeckte Vermehrung der Geldmenge durch das Drucken von Papiergeld musste zur Inflation und damit auch, trotz Preisbindungen, zur Verteuerung der Grundnahrungsmittel führen.



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vorgestellt. Ihr ebenso hemmungsloses wie mechanisches Töten, das vor keiner Rechtsbeugung und keinem Zynismus mehr zurückscheut  – nur Robes­pierre wird noch ein Augenblick der Gewissensqual zugestanden –, ist als ohnmächtiger Versuch kenntlich gemacht, dem Getötet-Werden zu entrinnen, das doch nicht aufgehalten werden kann. Ohne als Subjekt im Geschichtsprozess zu agieren, was das Stück bloß deklamatorisch werden ließe, macht das – hungernde – Volk die Position der beiden sich gegenüberstehenden Parteien zunichte, erweist es das Handeln von deren Repräsentanten als geisterhaftes Agieren von Figuren, die längst vom Tod gezeichnet sind. In solchem Entwurf des Volks als entfremdet und beschränkt, aber dramaturgisch bestimmend, hat Büchner seine Einsicht, dass „der Hunger allein […] die Freiheitsgöttin“ werden könne (Br 303)21, mithin alleiniger Motor der Geschichte sei, dramaturgisch umgesetzt. Weiter gibt er mit diesem Entwurf des Volkes als in seiner Ohnmacht gerade geschichtsmächtig eine Deutung des Verlaufs der Revolution, die die Grundfrage der Aufklärung nach einer Überwindung des Dualismus zwischen der empirischen Welt, in der der Mensch sich als bedingt erfährt, und der Ideenwelt, in der er sich als bedingend setzt, im Zeichen des Volkes als lösbar vorstellt. Ein Ausgang des Volkes aus seiner Unmündigkeit ist damit nicht mehr nur appellativ in die Zukunft gerichtet gefordert, sondern auch historisch beglaubigt. Das Drama macht diesen Akt darüber hinaus zu einer gegenwärtigen Erfahrung. Hierauf zielen seine Verfahren, das Volk, obwohl als ungebildet und illiterat gezeigt, literarisch zu Wort kommen zu lassen. Als erstes ist hier das Verfahren zu nennen, dass der Autor aus der Perspektive des Volkes schreibt. Schon immer haben Autoren auch plebejische Figuren gestaltet, aber aus ihrer, der Autorenperspektive. Aus der Perspektive des Volkes gestaltet Büchner mit der erläuterten dramaturgischen Erfindung, dass das Volk, gerade indem es seine Reduziertheit manifestiert, die großen Helden der Revolution, deren Programme und Handeln als nichtig erweist. Die Folgen dieses paradoxen Verhältnisses teilen sich in der Wirklichkeit hier und jetzt des Theaterspiels mit  : zu allererst im statischen Charakter des Stücks, der es so schwer inszenierbar macht. Denn da dem Volk als einer nicht aktiv handelnden Gruppe die entscheidende dramaturgische Funktion überantwortet ist, kann das Handeln der großen Helden zu nichts führen. Es wird von einem Ort aus bewegt, von dem sie abgeschnitten sind. Weiter eignet den Helden der Revolution aus demselben Grund eine sie entwertende Theatralität. An 21 Brief an Gutzkow von 1835.

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ihrem Handeln auf der Bühne der Geschichte ist akzentuiert, dass sie ihre geschichtliche Rollen nicht ausfüllen, dass ihr Agieren diese Rollen nur noch markiert, dass sie nur Schauspieler ihrer selbst sind. Dem entspricht, dass ihre Rede in einer überbordenden Weise Zitat ist,22 also gleichfalls von einem Ort her ergeht, über den sie nicht verfügen, nie verfügen können, da er außerhalb ihrer Seinswirklichkeit als literarische Figuren liegt. Das Volk kommt in Dantons Tod aber nicht nur in der Weise zu Wort, dass der Autor die Perspektive des Volkes einnimmt, sondern auch dadurch, dass es sich die Rede von Stellvertretern aneignet und in diesem Akt sich hier und jetzt in der Wirklichkeit des Theaterspiels als mündig erfahrbar macht. Auch das Volk spricht in Zitaten, insbesondere aus Volksliedern, wie die ‚Stimme des Volkes‘ seit dem Sturm und Drang gerne dem Volkslied abgehört wird.23 Aber die Figuren affirmieren, wenn sie Liedfetzen aus Volksliedern übernehmen, die Sicht des menschlichen Daseins, die diese Lieder entfalten, in der Regel nicht, es sei denn sie hat, wie etwa das Schinderhanneslied (I,2  : Die da liegen in der Erden), eine Perspektive des Aufstandes. Hauptthemen der zitierten Liedstücke sind Liebe (II,2  : Christinlein, IV,4  : Es stehn zwei Sternlein an dem Himmel, IV,9  : Und wann ich hame geh), Not (II,2  : Was doch ist), Vergänglichkeit und Tod (II,2  : Eine Handvoll Erde, IV,8  : Wir müssen’s wohl leiden, IV,9  : Es ist ein Schnitter). Es ist eine ungeschminkte Welt, zu der die Lieder, für sich genommen, eine Haltung des Duldens, des Sich-in-das-Gegebene-Schickens entwerfen, im Sinne des „Wir müssen’s wohl leiden“ (DT 132) des Ernteliedes (Es ist ein Schnitter), das als einziges zwei Mal zitiert wird, wobei der religiöse Trost, den das Lied gibt, nicht zitiert wird („Werd ich nur verletzet, / So werd ich versetzet / In den himmlischen Garten, / Auf den wir alle warten“24). Die Lieder werden aber überwiegend in Kontexten zitiert, die zum jeweiligen ‚Geist‘ des Liedes nicht passen. So ergeben sich Ironie, generell metaphorische Prozesse in dem Sinne, dass sich ein Bildfeld in einem anderen, oft gegenläufigen, ausbreitet. Das Bänkelsängerlied scheint eindeutig. Wenn nach dem Bericht eines Bürgers, dass er 22 Siehe Darstellung der Quellen  : Georg Büchner, Band 3.3  : Danton’s Tod, historische Quellen, bearb. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2000. – Siehe Angabe aller bisher als sicher oder als möglich identifizierten Zitate  : Büchner (2000), Bd. 3.4. 23 Erinnert sei, vor Brentanos und Arnims Sammlung Des Knaben Wunderhorn (in drei Bänden, 1806– 1808) erschienen, an Herders Sammlungen von Volksliedern (1775 und 1778/79) und an deren Ausgabe aus dem Nachlass nun unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern (1807). 24 Siehe Heinz Rölleke (Hg.), Band 1  : Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. 3 Bde. Stuttgart 1987, S. 53–54.



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Vater geworden sei, das Lied einsetzt  : „Was doch ist, was doch ist, / Aller Männer Freud und Lüst  ?“, erwartet man eine sexuelle Anspielung, stattdessen wird ein Leben unter dem Prinzip der Arbeit ausgemalt  : „Unter Kummer, unter Sorgen / Sich bemühn vom frühen Morgen / Bis der Tag vorüber ist.“ (DT 93) Analog breitet sich in derselben Szene (II,2) eine Memento-mori-Vorstellung („Eine Handvoll Erde / ‹U›nd ein wenig Moos / […] Ist auf dieser Erde / ‹E›inst mein letztes Los  !“, DT 93–94) im Bildfeld negativierter Arbeit (Betteln als Weigerung zu arbeiten) aus und Einverständnis mit sexueller Lust im Bildfeld der Not, die zur Prostitution zwingt. In solchem Metaphorisieren, als einer Art dichterischer Mündigkeit des illiteraten Volkes, lässt das Drama eine zur Dialektik alternative Verknüpfung von Objekt- und Subjekt-Sein, von Knechtschaft und Herrschaft aufscheinen. Das Volk wird dramaturgisch nicht einfach in die Position des geschichtlichen Subjekts eingerückt, indem die Positionen von Herr und Knecht ausgetauscht werden, dem Volk wird vielmehr eine Perspektive über diese Dialektik hinaus zugesprochen. Kennzeichnet den dialektischen Bezug zweier Positionen, dass die eine die absolute Negation der anderen ist, so gibt im metaphorischen Ineinander zweier Bildfelder das eine dem anderen Raum, mit Begriffen Büchners  : „Möglichkeit des Daseins“ und „Leben“ (L 144). Letzteres, insofern das metaphorische Sich-Entfalten eines Bildfeldes in einem zweiten nicht auf ein bestimmtes Bezugs- und damit Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden festzulegen, sein Gehalt entsprechend nicht zu fixieren ist, sich vielmehr als ständiger Vorgang der Abwandlung darbietet, was Büchner „unendliche Schönheit“ nennt, „die aus einer Form in die andere tritt, ewig aufgeblättert, verändert“ (L 145). Solchem Metaphorisieren als dichterisch praktizierter Mündigkeit des Volkes ist auch die dritte Weise eines zu-Wort-Kommens des Volkes in diesem Drama verpflichtet, d. i. in eigenständiger Rede. Schon die zweite Szene führt dies vor. Sie wird gerahmt von den Helden der Revolution  ; in der ersten Szene haben die Dantonisten ihr Programm des Genießens verkündet, an dem das Volk nicht teilhat, die zweite Szene wird mit dem Auftritt Robes­pierres enden, der sich als derjenige präsentiert, der die Hände des Volkes führt (vgl. DT 75), sie so zum Objekt macht. Dazwischen also steht das Volk. Zwei „Bürger“ deklamieren Parolen des Hessischen Landboten  :

Ihr habt Kollern im Leib und sie haben Magendrücken, ihr habt Löcher in den Jacken

und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen in den Fäusten und sie haben Samt-

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hände. Ergo ihr arbeitet und sie tun nichts, ergo ihr habt’s erworben und sie haben’s

gestohlen […]. […] Sie haben kein Blut in den Adern, als was sie uns ausgesaugt haben. (DT 73–74)

Die Folgerung heißt ‚Totgeschlagen  !‘, was laut Regiebemerkung „Alle schreien“ (DT 74). Das ist ein Zu-Wort-Kommen des Volkes in eigener Rede, hier in Parolen, die die Verhältnisse von Hoch und Niedrig umkehren, ebenso die von Idealität und Materialität (z. B. in II,6 im Ersetzen von „Eichenkron“ durch „Eichelkron“, DT 100). Die Jakobiner eignen sich solche Parolen für ihre Zwecke, das Volk erneut entmündigend, an. Anders geht das Volk damit um, wie der Fortgang der Szene zeigt. Dem revolutionären Ruf „ein Aristokrat  ! An die Laterne  !“, praktische Umsetzung des Revolutionsliedes Ça ira25, hält der ergriffene „junge[] Mensch[]“ (DT 74) vergeblich die Bitte um Erbarmen entgegen, dann aber findet er auf das „An die Laterne  !“ die Replik – die das Geschichtswerk „Unsere Zeit“, aus dem Büchner viel zitiert, als historisch verbürgt ausweist  – „Meinetwegen, ihr werdet deswegen nicht heller sehen  !“, was ihn rettet  : Die Umstehenden  : Bravo, bravo  !

Einige Stimmen  : laßt ihn laufen  ! (er entwischt.) (DT 74)

In den einen Vorstellungsbereich des ‚Laternisierens‘ als Aufstand des Volkes gegen seine Ausbeuter ist ein zweiter Vorstellungsbereich der ‚Durchsicht‘, ‚Aufklärung‘ und des ‚Heller-Sehens‘ hineingespielt. Der junge Mensch hat eine Metapher gebildet, er hat gedichtet, und dies hat das Volk sich angeeignet, wie es metaphorisierend Liedfetzen aus Volksliedern übernimmt. Am Erfolg solcher Metaphernbildung wird deutlich, dass das Drama sie als Verfahren präsentiert, die Macht des in diesem Stück omnipräsenten Todes zu unterminieren. Die Tragödie führt Tod und Dichtung mit dem Ziel, dem Tod Sinn zu geben, ineinander. Die metaphorisierende Mündigkeit des Volkes zeigt dieses Drama so auch als Kraft, die die tragische Verknüpfung von Dichtung und Tod in eine das Leben bejahende metaphorische umzubilden vermag, als „Gegenwort“26 gegen 25 Der zweite Vers dieses Liedes lautet  : „les aristocrates à la lanterne  !“ – Siehe hierzu Martin Selge, Marseillaise oder Carmagnole  ? Zwei französische Revolutionslieder in Dantons Tod. In  : Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Hg. von der Georg-Büchner-Ausstellungsgesellschaft. Basel [u. a.] 1987, S. 235–240. 26 Im Sinne Celans, der diesen Begriff in seiner Büchner-Preisrede anlässlich der nachfolgend inter-



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die Todesproduktionen der Revolution wie den Todesdiskurs der Tragödie. Das stellt das Drama an seinem Ende noch einmal heraus. Wenn alles vorbei ist, die Henker den Hinrichtungsplatz aufgeräumt haben, erhält die über dem Geschick ihres Geliebten verrückt gewordene Lucile das Wort. Ihre Rede lässt Vorstellungen von Geburt und Tod durcheinandergehen. Die Stufen der Guillotine werden als „Schoß“ angesprochen, die Guillotine dann als „stiller Todesengel“, als liebende Mutter, die dem Kind ein Wiegenlied singt, was sich zu erstickender Fürsorge einer tötenden Mutter wandelt  : „Du liebe Wiege, die du meinen Camille in Schlaf gelullt, ihn unter deinen Rosen erstickt hast. / Du Totenglocke, die du ihn mit deiner süßen Zunge zu Grabe sangst.“ (DT 133) So entfaltet diese Rede die Struktur der Metapher, der dann auch Luciles letztes Wort angehört. Auf die Frage „werda  ?“, auf die man entweder militärisch mit einem vereinbarten Losungswort oder zivil mit Nennen des Namens zu antworten hat, wodurch man als Freund oder Feind, als zugehörig oder nicht-zugehörig unterschieden wird, antwortet Lucile mit einer Formel, die Unterscheidung und Nicht-Unterscheidung ineinander führt, in diesem Sinne mit einer Metapher. Die Deklamation „Es lebe der König  !“ (DT 133), auf dem Revolutionsplatz gesprochen, ist konterrevolutionär, Lucile definiert sich damit als Feindin. Zugleich hat sie aber die Formel ‚Der König ist tot  ! Es lebe der König  !‘ zitiert, die den einzelnen König, sein Leben und Sterben in der Kontinuität des Landes und der Gemeinschaft aufhebt, deren Ordnung, Sinn und Dauer er repräsentiert, die mithin die Grundunterscheidung lebendig-tot widerruft. Luciles metaphorisches Sprechen negiert nicht einfach das Prinzip der Unterscheidung, das für das Feld der tödlichen politischen Auseinandersetzungen gilt, sondern löst es von innen her auf. Dem antwortet „Ein Bürger“ durch Restitution eben dieses Prinzips  : „Im Namen der Republik“, was Verhaftung und Hinrichtung bedeutet. Dieses letzte Wort des Dramas stellt erneut heraus, dass die Rede, die den Gehalt des Todes hat, und ihr analog die Todesproduktionen, die das Stück vorgestellt hat, einer Welt angehören, in der das eine ‚im Namen‘ eines anderen erfolgt, es mithin seinen Sinn nicht in sich, sondern bei einem Anderen hat, über das es nicht verfügt. Es ist dies das letzte Wort des Dramas, seine tödliche Macht ist aber schon gebrochen durch das dichterische Verfahren Luciles. Ihre Mündigkeit stellt sich hier der paradoxen pretierten Szene gebildet hat  : Paul Celan, Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des GeorgBüchner-Preises, Darmstadt am 22. Oktober 1960. In  : Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 40–62, hier  : S. 43.

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dichterischen Mündigkeit des Volkes vollkommen an die Seite, spricht sie doch ihr ‚Gegenwort‘ des Lebens, mit dem sie sich als über sich, ihr Leben und ihre Sprache verfügend manifestiert, gerade als in der empirischen Wahrnehmung Verrückte, d. h. als über sich und ihre Sprache nicht verfügend. Im paradoxen Subjekt-Sein des Volkes aufgrund seines Objekt-Seins entwirft das Drama Dantons Tod eine Überwindung des aufklärerischen Dualismus. Büchner scheint dieser Entwurf des Volkes so wichtig gewesen zu sein, dass er ihn nicht nur an der Kollektivfigur ‚Volk‘ ausführt und prüft, sondern auch an einem individuellen Repräsentanten  : an Woyzeck,27 an dem er eben diese Paradoxie als das konstitutive Problem der Figur ausarbeitet, was ihn zur Gestaltung eines Pauper führte, eines Vertreters der ‚Geringsten‘ im Sinne des Kunstgesprächs im Lenz (vgl. L 145), dessen Bild sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingeschrieben hat. Schon am Fall des historischen Woyzeck stehen Ineinanderführen von Objekt- und Subjekt-Sein zur Debatte. Der arbeitslose Frisör (Perückenmacher) und ehemalige Soldat Johann Christian Woyzeck hatte, 41  Jahre alt, im Juni 1831 seine ehemalige Geliebte, die 46-jährige Witwe Johanna Christiane Woost aus Eifersucht erstochen, wurde ergriffen und machte vor Gericht geltend, dass er während der Tat und zuweilen schon vorher psychisch krank gewesen, mithin schuldunfähig sei. Zur Debatte stand das Krankheitsbild ‚vorübergehende Wahnzustände ohne bleibende körperliche Symptome‘, was den Wahnzustand während der Tat schwer überprüfbar macht  ; entsprechend wurde dieses Krankheitsbild, das der französische Mediziner Philippe Pinel aufgestellt hatte28 und das bald Einzug in die forensische Praxis fand, in der Medizin wie der Forensik 27 Büchner hat an dem Fragment gebliebenen Drama wahrscheinlich von Anfang Juli bis Anfang Oktober 1836 gearbeitet, also ca. zwei Jahre nach der Arbeit an Dantons Tod, so die Datierung der Editoren der Marburger Ausgabe  : Georg Büchner, Band 7.2  : „Woyzeck“, Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2005, S. 86. De Angelis macht demgegenüber bedenkenswerte Gründe für eine frühe Entstehung des Woyzeck-Konvoluts zwischen dem 8. Dezember 1833 und dem 20. Juli 1834 geltend  : Georg Büchner, Woyzeck. Faksimile, Transkription, Emendation und Lesetext. Hg. von Enrico de Angelis. München 2000, S. 15– 29. Übernimmt man die frühe Datierung, rücken die Texte, in denen Büchner eine Überwindung des aufklärerischen Dualismus im Zeichen des Volkes entwirft, auch zeitlich eng zusammen. Umgekehrt kann die dargelegte thematische und argumentative Nähe dieser Texte zueinander auch als unterstützendes Argument für eine Frühdatierung der Arbeit am Woyzeck-Konvolut genommen werden. 28 Siehe Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l’aliéniation mentale ou la manie. Paris 1801.



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zur Zeit Büchners gerade am Fall ‚Woyzeck‘ intensiv und kontrovers diskutiert.29 Bei Büchner stellt ausgerechnet der Doktor exakt die Diagnose, die der historische Woyzeck im Prozess geltend gemacht hat  : Woyzeck er hat die schönste aberratio mentalis partialis, zweite Spezies, sehr schön

ausgeprägt. Woyzeck er kriegt Zulage. Zweite spezies, fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand […][.] (W 226, H 4,8)30

Das Dramenfragment stellt dem medizinischen und juridischen Diskurs um den Fall ‚Woyzeck‘ einen literarischen zur Seite. Da Büchner die Figur und die Vorgeschichte ihrer Tat gegenüber den historischen Verhältnissen deutlich abgewandelt hat, kann sein Drama nur begrenzt als literarische Revision des Falles ‚Woyzeck‘ gesehen werden. Büchner hat die Figur markant aufgewertet. Sein Woyzeck ist kein herumziehender, meist mittelloser, dem Trunk ergebener Gelegenheitsarbeiter, vielmehr ein pünktlich seinen Dienst ausübender Soldat, der Geld verdient für Marie, mit der er zusammenlebt. Er sorgt für ihr gemeinsames Kind, übernimmt Zusatztätigkeiten (als Barbier des Hauptmanns, als Versuchsperson für die Erbsendiät des Doktors), um diesen Verdienst dann Marie zu geben. So ist er als verantwortungsvoll handelndes, moralisches Subjekt eingeführt, an dem dann umso schärfer hervortritt, dass die anderen Figuren (Hauptmann, Doktor, Tambourmajor) ihn zum Objekt machen. Als Objekt der anderen wie seiner Natur (insbesondere in den gezeigten Wahnvorstellungen) ist Woyzeck umfassend determiniert. Indem das Drama ihn so zeigt, entlastet es seinen Helden von Schuld, je umfassender es dies leistet, umso mehr allerdings um den Preis, nun selbst im dramatischen Diskurs zu wiederholen, was in der vorgestellten Welt die Mitfiguren an Woyzeck vollziehen, d. i. ihn zum Objekt seiner Umwelt und seiner Triebe zu machen  : eine argumentative Falle, in der sich Interpretationen des Stücks oft verfangen. Demgegenüber scheint es das zentrale Anliegen des Dramas zu sein, Woyzeck, bei Anerkennen weitreichenden Determiniert-Seins, gleichwohl Menschsein, d. h. den Status eines Subjekts zu bewahren und herauszufinden, wie ein solches Zugleich des Entgegengesetz29 Siehe hierzu die Ausführungen im Materialien-Band zur Marburger Woyzeck-Ausgabe  : Büchner (2005), Bd. 7.2, S. 333–349. – Siehe auch Marion Schmaus, Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936). Tübingen 2009. 30 Zitate aus dem Woyzeck werden nach der Büchner-Ausgabe von 1995 nachgewiesen  ; zusätzlich zur Seitenzahl wird die Entstehungsstufe mit jeweiliger Szenennummer angegeben.

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ten möglich sein kann. Dass es Büchner um ein Erhellen dieses Widerspruchs geht, zeigt seine Umzeichnung der Figur, die auf den Aufbau von Widersprüchen zielt  : Woyzeck wird, wie dargelegt, als sozial verantwortlich handelndes, moralisches Subjekt eingeführt, und dann wird gezeigt, wie die anderen ihn umfassend zum Objekt machen. Der Determinationsthese entgegen wird er sodann als Täter gezeigt, der seine kriminelle Tat mit Vorsatz begeht (das Drama zeigt ihn beim Kauf einer Mordwaffe  : seine Tat ist Mord, nicht Totschlag) und der beim Mord frei von Wahnvorstellungen ist, also genau so, wie der Mediziner Clarus den historischen Woyzeck in seinen beiden, in der literaturwissenschaftlichen Forschung viel geschmähten Gutachten beurteilt hat. Büchner entwickelt in seinem Woyzeck-Drama schrittweise komplexer werdende Verfahren, um an einer Figur des Volkes soziale und physische Determination zu betonen und sie gleichwohl aus dem ihr damit zugewiesenen Status bloßen Objekt-Seins herauszuholen. Er beginnt damit, dass er eine Figur vorführt, die sich durch Umkehren des gegen sie gerichteten Vorwurfs dagegen wehrt, zum Objekt gemacht zu werden. Der Hauptmann setzt Woyzeck mit der Tugendforderung unter Druck  : Er habe ein Kind ohne Segen der Kirche, d. h. aus wilder Ehe. Woyzeck, der offenbar die Voraussetzungen für eine Eheschließung nicht erfüllt (historisch wäre das das Entrichten einer Heiratssteuer gewesen), habe seine Natur, d.  h. seinen Sexual-Trieb, zu unterdrücken. Dem hält Woyzeck die berühmte Replik entgegen, dass ein Erfüllen moralischer Forderungen einen bestimmten sozialen Status voraussetze  : Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut u. eine Uhr und eine anglaise, und könnt

vornehm reden ich wollt schon tugendhaft sein. (W 224, H4,5)

Um sich gegen die moralische Abwertung durch den Hauptmann zu behaupten, greift Woyzeck zur These, dass das materielle Sein das Bewusstsein bestimme. So kann er sein Subjekt-Sein nur behaupten, indem er es negiert. Gegenüber dem Doktor wird die Selbstbehauptung schwieriger, da dieser sowohl das Argument des Subjekt- als auch das des Objekt-Seins gegen Woyzeck ausspielt. Er wirft ihm mangelnde Unterdrückung der eigenen Natur vor, was Freiheit im Umgang mit dieser voraussetzt, zugleich betrachtet er diese Natur als Objekt, das ihm durch Kauf zur Verfügung steht, damit er durch wissenschaftliche Experimente die Gesetze ihres Wirkens, was Freiheit ausschließt, herausbringe  : Woyzeck habe „an die Wand gepißt wie ein Hund“ (W 225, H4,8), statt seinen

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Harndrang zu unterdrücken, obwohl er doch seinen Körper, inklusive dessen Ausscheidungen, an ihn verkauft habe. Wieder argumentiert Woyzeck dagegen im Rekurs auf die Natur  : „Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.“ (W 225, H4,8) Da der Doktor sich aber beide Positionen, die der moralischen Freiheit wie die der naturgesetzlichen Determination, angeeignet hat, kann Woyzeck nicht umhin, gleichfalls mit einer Dopplung zu antworten  : Woyzeck. […] Aber mit der Natur ist’s was andres, sehn sie mit der Natur (er kracht mit den Fingern) das ist so was, wie soll ich doch sagen, z. B. Doktor. Woyzeck, er philosophiert wieder.

Woyzeck (vertraulich). Herr Doktor habe Sie schon was von d. doppelten Natur gesehn  ? Wenn die Sonn in Mittag steht u. es ist als ging d. Welt im Feuer auf hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt  !

Doktor. Woyzeck, er hat eine aberratio.

Woyzeck (legt den Finger an die Nase). Die Schwämme Herr Doktor. Da, da steckt’s. Haben sie schon gesehn in was für Figurn die Schwämme auf d. Boden wachsen. Wer das lesen könnt.

Doktor. Woyzeck er hat die schönste aberratio mentalis partialis […]. (W 226, H4,8)

Gegen den moralischen Vorwurf, seinen Körper nicht beherrscht, bzw. gegen den verdinglichenden Vorwurf, die einem anderen verkauften Körperfunktionen diesem nicht vollständig überlassen zu haben, versucht Woyzeck sich zu behaupten, indem er dem Doktor die Vorstellung einer doppelten Natur entgegenhält. Die ‚erste‘ Natur ist die determinierende  ; sie kann dem Vorwurf unmoralischen Handelns, insofern Woyzeck dem Drang der Natur nachgegeben habe, entgegengehalten werden. Dem zweiten Vorwurf des Doktors, seinem Einklagen des an ihn zu Forschungszwecken verkauften Naturobjekts Woyzeck, begegnet der Beschuldigte mit der Vorstellung einer ‚zweiten‘ Natur, die zum Menschen spreche, als Stimme oder Zeichen, die man lesen können sollte, d. h. mit der Vorstellung einer Subjekt-Natur, der er als antwortendes Subjekt zugehöre. Woyzecks Antwort ist nicht verrückt, kehrt vielmehr sehr genau den Doppelvorwurf des Doktors spiegelbildlich um  : Im vorgehaltenen Subjekt-Sein sei seine (determinierte) Objekt-Natur, im vorgehaltenen Objekt-Sein seiner Natur sei die Möglichkeit der Erfahrung einer Subjekt-Natur anzuerkennen. So versucht Woyzeck, sich gegenüber dem Doktor zu behaupten, indem er ein Denken entwickelt, das die scharfe Trennung von Subjekt und Objekt unter-

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gräbt. Da Denken Unterscheiden-Können voraussetzt, kann das Denken, das Woyzeck hier aufscheinen lässt, den anderen Figuren nur verrückt erscheinen, als ein Denken mit der „doppelten raison“ (W 199, H1,2), wie der Marktschreier in der Budenszene ein solches an seinem Pferd anpreist. Die Symptome des Verrücktseins, die die Verteidigung des historischen Woyzeck als Argument für verminderte Zurechnungsfähigkeit geltend gemacht hat und die im Zentrum des medizinischen und juridischen Diskurses um den Fall stehen, zeigt das Drama selbst gerade entgegengesetzt als Versuche Woyzecks, für sich einen Status des Subjekt-Seins zu begründen. Woyzeck bleibt aber nicht bei seinem in der Außenwahrnehmung verrückt erscheinenden Denken. Das Drama zeigt, wie er hiervon abgebracht wird und dass eben hieraus der Mord entsteht. Woyzecks Argument mit der doppelten Natur gibt der Doktor als Aggression an den Hauptmann weiter, ihm einen Schlaganfall in Aussicht stellend, durch den er „geistig gelähmt“ wäre und „nur fort vegetieren“ würde, und fügt hinzu  : „wenn Gott will, daß ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir d. unsterblichsten Experimente“ (W 227, H4,9). Die Zunge würde dann ganz im Sinne der Vorstellung einer doppelten Natur einerseits dem Geist gehorchen, d.  h. sprachfähig sein, andererseits ein Naturgesetz, die Lähmung des menschlichen Bewegungsapparates, manifestieren. Diese Aggression lenkt der Hauptmann auf den an ihm vorbeihastenden Woyzeck ab, indem er ihn auf Maries Untreue verweist (wobei dieser Fortgang der Szene allerdings einer früheren Entstehungsstufe als der bisher zitierten entstammt). Gegen den moralischen Vorwurf, seine Natur nicht zu beherrschen, hatte Woyzeck für die Menschen seines Standes Naturdetermination geltend gemacht. Nun steht zur Debatte, ob er dieses Argument aufrechterhält, wenn einem anderen Menschen aus seinem Umfeld ‚die Natur kommt‘ und dies seinem (Woyzecks) Begehren zuwiderläuft. Der Probe ist Woyzeck nicht gewachsen. Von nun an argumentiert er nicht nur moralisch gegenüber Marie, sie als schuldige, also schuldfähige Person setzend, sondern macht sie auch zum Objekt seiner Verfügung, die bis hin zum Mord reicht. Er beurteilt damit Marie wie der Doktor ihn  : eine moralische und eine verdinglichende Argumentation zu ihrer Negation zusammenführend. Das Drama hält den Moment fest, an dem Woyzeck sein offenes, auf Widersprüchlichkeit beharrendes Denken nach der ‚doppelten raison‘ zurücknimmt  : Woyzeck. Ich geh  ! Es ist viel möglich. Der Mensch  ! es ist viel möglich. Wir habe

schön Wetter Herr Hauptmann. Sehn sie so ein schön festen grauen Himmel, man



‚Die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen‘ |

könnte Lust bekomm, ein Klobe hineinzuschlage und sich daran zu hänge, nur wege

des Gedankestrichels zwische Ja, und nein ja  – und nein. Herr Hauptmann ja und

nein  ? Ist das nein am ja oder das ja am nein Schuld. Ich will drüber nachdenke (geht

mit breiten Schritten ab erst langsam dann immer schneller).

Doktor (schießt ihm nach). Phänomen, Woyzeck, Zulag. (W 216, H2,7)

Aus einer Welt, einem Denken jenseits fester Unterscheidung wird Woyzeck in diese zurückgezwungen, d. i. zurück zur Unterscheidung zwischen ‚Ja‘, Anerkennen der Untreue Maries im Hinnehmen ihrer Natur, und ‚Nein‘, moralischer Beurteilung ihrer Untreue und Anspruch, über sie zu verfügen. Der Gedankenstrich trennt Ja und Nein  ; wenn Woyzeck sich seinetwegen aufhängen will, bezeugt dies den Untergang des Subjekts, das sich jenseits dieser Trennung entworfen hat  : das zugleich determinierte Objekt-Natur und Subjekt im Hören auf eine zu ihm sprechende Natur sein möchte. Von nun an gibt es für Woyzeck kein Zugleich des Entgegengesetzten mehr, sondern nur noch, wie er nach der Schlägerei mit dem Tambourmajor resümiert  : „Eins nach d. andern.“ (W 230, H4,14) Das Drama Woyzeck erkennt seinem Helden ihn entlastendes DeterminiertSein, zugleich aber auch Züge des Subjekt-Seins und damit der Verantwortlichkeit für sein Handeln zu. Es entfaltet diese Wesenszüge dabei auf den unseren Erwartungen gerade entgegengesetzten Feldern. Wo zu erwarten wäre, dass es Woyzeck entlastet und der medizinische und juridische Diskurs um den historischen Fall dies auch unter diesem Blickpunkt verhandeln, in den Szenen also, die Woyzeck in seiner ‚Verrücktheit‘ vorstellen, da zeigt das Drama diese als Feld, auf dem er einen Status jenseits reinen Objekt-Seins zu gewinnen sucht, als Feld möglichen Person-Seins und damit auch der Schuldfähigkeit. Wo zu erwarten wäre, dass das Drama Woyzeck belastet, wenn dieser sich zum über Maries Untreue urteilenden Subjekt aufschwingt, dem die Geliebte als Objekt seiner Verfügung anheim gegeben ist, da entlastet ihn das Drama, indem es zeigt, wie Woyzeck durch die Aggressionen von Hauptmann und Doktor aus seinem Denken jenseits der Subjekt-Objekt Unterscheidung heraus- und in ein aggressives Handhaben der Unterscheidung hineingetrieben wird. Das Drama gibt damit eine ganz eigene Deutung des Krankheitsbildes ‚partieller Wahnsinn‘. Es wertet diesen auf, insofern er als Feld einer möglichen Überwindung des aufklärerischen Dualismus dargeboten wird, und relativiert diese Aufwertung zugleich durch die mitgegebenen pathologischen Züge. Er umfasst den Zustand Woyzecks, in dem dieser einerseits, als von allen zum Objekt Gemachter, der Subjekt-Objekt Unterscheidung unterworfen ist, eine Unterscheidung, die unhinter­

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gehbar ist, wenn wir denken und handeln wollen, zugleich umfasst er andererseits den Zustand, in dem Woyzeck hiergegen ein Denken jenseits dieser Unterscheidung mobilisiert, als Feld eines Subjekt-Seins, das den Anderen wie die Natur nicht zum Objekt machen muss. Nicht in dem verrückten Zustand seines ‚partiellen Wahnsinns‘ wird Woyzeck zum Mörder, sondern nachdem es seinen Herren gelungen ist, ihn in ihr repressiv moralisches und zugleich verdinglichendes Denken zurückzuholen. Im Kunstgespräch der Lenz-Erzählung verlangt der Held für sein Ideal ‚lebendiger‘ Darstellung, sich „in das Leben des Geringsten“ zu versenken, es wiederzugeben „in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Minenspiel“ (L 144). Wohl dürfte sich die literarische Figur Woyzeck solcher Versenkung in einen der Geringsten verdanken und dürfte seine Gestaltung, indem sie das aufklärerische Ideal eines ‚ganzen Menschen‘ aufscheinen lässt, insofern in der Figur die Momente des Bedingt- und des Unbedingt-Seins zusammengehen, die Forderung erfüllen  : „Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut […].“ (L 144) Lenz’ Kunstideal steht allerdings unter der Prämisse einer als sinnhaft erfahrbaren Welt („Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll“, L 144), die der Protagonist am Ende des Kunstgesprächs selbst als nicht bzw. nur noch in Enklaven wie der Oberlin-Welt erfahrbar zugibt (wobei die Erzählung zeigen wird, dass auch die vermeintliche Oberlin-Enklave diese Erwartung nicht erfüllt). So wird die Kunst auf die Bahn des Negativen verwiesen. Sie kann nur noch den Bruch, den Missklang zwischen ihrer Norm ‚lebendiger‘ Gestaltung und den Bedingungen des Gestaltens herausstellen. Das vollzieht das WoyzeckDrama, indem es seinen Helden einerseits die negierenden, gegen ihn gerichteten Zumutungen von Subjekt- und Objekt-Sein umkehren und diese in Ansätze eines Denkens jenseits dieser Unterscheidung münden lässt, als Feld möglicher Erfüllung des Ideals des ganzen Menschen, dann aber andererseits minutiös den Weg in die Verkehrung dieser Umkehrung vorstellt und damit insgesamt das aufklärerische Ideal, das im Zeichen des Volkes erfüllbar schien, auf das Feld negativer Ästhetik verweist.

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Bernhard Greiner

Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch  12 (2009–2012), S. 3–24.

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Die romantisch-satirische Komödie Leonce und Lena und die Übung des ‚Möglichkeitssinnes‘ Für Franco

1. Einleitung

In der Einleitung zu Leonce und Lena haben die Herausgeber der historischkritischen Ausgabe von Büchners Werken die Konstanten aufgezeigt, die die Rezeption des Lustspiels von den Anfängen – Karl Gutzkow (1838) und Wilhelm Schulz (1851)  – bis in unsere Tage geprägt haben. Die Interpretationsstränge sind im Wesentlichen zwei  : Auf der einen Seite erfolgt die Lektüre in der Tradition der romantischen Komödie,1 auf der anderen in jener der politischen Satire.2 Letztere fußt auf der Darstellung der Macht König Peters und des Staatsrats (I,2 u. III,3) wie der Haltung zum Höfischen, die Leonce zeigt (I,1 u. I,3), aber auch auf der berühmten Szene der Bauern, die vor dem Schloss 1 Die Interpretationen und Aufführungen von Leonce und Lena in den fünfziger und sechziger Jahren deuten die Komödie als ästhetisches Spiel oder als Theater des Absurden, im Zeichen einer Tradition der Jahrhundertwende auf der Spur von Hugo von Hofmannsthal. – Siehe zur Umsetzung im Rahmen der nihilistischen Romantik u. a.  : Heinz Lipmann, Georg Büchner und die Romantik. München 1923  ; Arnim Renker, Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über Leonce und Lena. Berlin 1924 u. Rudolf Majut, Studien um Büchner. Untersuchungen zur Geschichte der problematischen Natur. Berlin 1932. – Viëtor erkennt die „hellen, gläubigen Klänge eines Mozartschen Opern-Finales“  : Karl Viëtor, Georg Büchner. Politik. Dichtung. Wissenschaft. Bern 1949, S. 184. Schröder konstatiert indes „Südworte“, im Sinne Gottfried Benns, als „reine Ausdruckswelt, autonom, hermetisch abgeschlossen, ohne Zweck, ohne Ursachen und ohne Folgen“  : Jürgen Schröder, Georg Büchners Leonce und Lena. Eine verkehrte Komödie. München 1966, S. 143. 2 In den siebziger Jahren ist Prinz Leonce als komisch-satirische Figur, als ein bourgeois gedeutet worden, etwa aus der Perspektive einer Figur wie Robes­pierre in Dantons Tod. Denkler nennt die Lösung der Handlung ein „illusionäre[s] Idyll“  : Horst Denkler, Restauration und Revolution. Politische Tendenzen im deutschen Drama zwischen Wiener Kongreß und Märzrevolution. München 1973, S. 252. Jancke deutet es als eine „paranoide Utopie“  : Gerhard Jancke, Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Einführung in das Gesamtwerk. Kronberg/Ts. 1975, S. 270. Poschmann glaubt, dass die private Rebellion des Prinzen in keiner Weise den ‚ästhetischen Staat‘ unangetastet lässt  : Henri Poschmann, Büchners Leonce und Lena. Komödie des status quo. In  :Georg Büchner Jahrbuch 1 (1981), S. 112–159  : hier S. 146.

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in Linie angetreten sind, um das adelige Brautpaar zu feiern (III,2)  ; das Projekt eines Königreiches nach dem Modell des Schlaraffenlandes und das Dekret, denen die abschließenden Worte des Lustspiels gelten, wurden indessen als eine Rückkehr zum Status quo interpretiert.3 Die romantische Komödie, die sich in den übrigen Szenen entfaltet, kreist um die beiden jungen Hauptgestalten – Leonce, Prinz des Reiches Popo, und Lena, Prinzessin des Reiches Pipi  –, die flüchten, um einer Ehe aus Staatsräson zu entkommen. Sie treffen sich ‚zufällig‘, verlieben sich augenblicklich und heiraten, ohne die Identität ihres Gegenübers zu kennen. Bevor jedoch Leonce seiner Lena begegnet, trifft er noch ‚zufällig‘ auf Valerio, einen Habenichts, der ihn auf seinem Weg begleiten wird. Dieser teilt vorab die Absicht des Prinzen, nach dem Neapel der Lazzaroni zu entkommen, um ihm sodann zur rechtmäßigen Hochzeit zu verhelfen. Kurz gesagt, den Szenen des öffentlichen Lebens, von vielerlei humoristisch-parodistischen Registern besetzt, tritt die romantische Geschichte der jungen Verliebten an die Seite, so als würde es sich gleichsam um zwei parallele Sequenzen handeln, die sich irgendwo im Unendlichen treffen.4 Im Gegensatz dazu meint die hier vorgeschlagene Interpretation, dass die beiden Handlungssequenzen in Leonce und Lena aus einer grundlegenden ästhetischen Notwendigkeit heraus miteinander verwoben sind. So ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Protagonisten der öffentlichen Handlung als auch die der privaten Aktion ein wesentliches Merkmal teilen  : das Exemplarische oder das Typische. Denn bei Leonce, Valerio und Lena handelt es sich um beispielhafte Charaktere im Hinblick auf Individualität  – im Falle des Königs, der Minister und der Untertanen hingegen um soziale Typen.5 3 Siehe Georg Büchner, Band 6  : „Leonce und Lena“, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2003, S. 161–162. 4 Differenzierter, doch ohne zu einer tatsächlichen Integration der beiden Stränge vorzudringen, sind die Thesen u. a. bei  : Raimar Zons, Georg Büchner. Dialektik der Grenze. Bonn 1976  ; Hiltrud Gnüg, Melancholie-Problematik im Werk Büchners. In  : Studia Büchneriana. Georg Büchner 1988. Hg. von Fausto Cercignani. Mailand 1990, S. 91–105 u. Roberta Carnevale, „In carne e ossa“  : il corpo nelle opere di Georg Büchner. Büchner, Rousseau e i materialisti francesi del Settecento. Florenz 2009. 5 Da das Leben eines literarischen Werkes mit der Rezeption beginnt, d. h. mit dem Übergang von referenzieller Bedeutung – gebunden an Parallelstellen, Dokumente und den historisch-biografischen Kontext – zur Entfaltung der Sinne, vollzogen im Akt des Lesens, sollte die Interpretation den Diskurs nicht allein auf die Komplexität und Vielseitigkeit der Sprache hin ausrichten, sondern auch der Spannung zwischen Bedeutung und Form nachgehen. Die Intensität der Erfahrung, die aus der Interpretationsarbeit hervorgeht, eröffnet den Weg vom Vor-Verständnis zum Verständnis. Dabei



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Das Konzept der Typisierung bezieht sich hier nicht auf die inhaltliche Dichte als Eigenheit des Theaterstücks, das im Gegensatz zum Roman zum Beispiel keine Pausen in der Figurenrede kennt und kein komplexes Zusammenspiel der Kategorien von Raum, Zeit und Handlung, die Aristoteles ehedem als Einheit verstanden wissen wollte. Demgegenüber scheint es bei Büchner die Nähe zu jener Kategorie des Typischen zu geben, mit der György Lukács den sozialistischen Realismus zu profilieren suchte. In Leonce und Lena scheint Büchner mit der Typisierung zu arbeiten, weicht ihr gleichzeitig aber auch mit höchster Souveränität aus.6 Die den Kriterien der Realität verpflichteten Gestalten, wie sie in den satirisch-politischen Szenen auftreten, sind in der Tat ‚typisch‘  : Es sind soziale Typen, deren Wirkung wesentlich aus der Dialektik von Herr und Knecht hervorgeht. Anders dagegen wirken die beiden jungen Protagonisten und Valerio, deren Verhalten durch das Möglichkeitsprinzip inspiriert zu sein scheint  : Sie sind typisch im Sinne der Beispielhaftigkeit ihrer Selbstfindung.7 Nicht zufällig kann der Entwicklungsgang der ‚privaten‘ Charaktere in wenigen Phasen zusammengefasst werden. Dabei implizieren diese wenigen, ausgesprochen verdichteten Momente – angesichts eines Autors von 23 Jahren überraschend – eine Kenntnis der menschlichen Seele, die an die Fragmente von Heraclitus erinnert. Darüber hinaus überschneiden sich die beiden Handlungssequenzen  – die öffentliche und die private Ordnung  – nicht nur aufgrund der ästhetischen Typisierung, sondern auch wegen eines weiteren Aspekts. Die satirische Darstellung der sozialen Wirklichkeit stellt eine Voraussetzung für die Lösung der ‚privaten‘, kontrastiv angelegten Handlung sowie für den speziellen Ausgang setzt sich die Interpretation einen eigenen Wertemaßstab, der im besten Fall auf einer inneren Folgerichtigkeit basiert. Deren Sichtbarmachung setzt das Einbeziehen eines Maximums an Elementen voraus, was das Werk erst in dessen möglicher Kohärenz wie Komplexität erscheinen lässt. Nach Juhl verbirgt sich im Verweis auf Parallelstellen eine Intention des Autors, während die Bedeutung eines Werkes sich dagegen nicht auf seine Absicht beschränkt  : Peter D. Juhl, Interpretation. An Essay in the Philosophy of Literary Criticism. Princeton 1980, S. 214. Siehe hierzu auch  : Antoine Compagnon, Il demone della teoria. Letteratura e senso comune. Turin 2000. – Die Möglichkeiten des Umgangs mit einem Werk werden beschrieben bei  : Massimo Marino und Giuliano Scabia, Dire fare baciare. Viaggio dentro Leonce e Lena di Georg Büchner. Florenz [u. a.] 1981, S. 46 u. Wuppertaler Bühnen (Hg.), Wuppertaler Büchner-Tage zum 150. Todestag von Georg Büchner am 19. Februar 1987. Dokumentation. Wuppertal 1988, S. 73–100. 6 Lukács schätzt nicht zufällig Dantons Tod und Woyzeck als große Meisterwerke realistischer Kunst, verkennt indessen Leonce und Lena  : György Lukács, Deutsche Realisten des XIX Jahrhunderts. Berlin 1956. 7 Siehe Zons (1976), S. 437 u. S. 379–380.

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des ‚öffentlichen‘ Geschehens dar  : Sowohl der Weg zu sich selbst als auch die Errichtung eines Königreichs nach dem Beispiel Neapels – nicht Flucht, sondern radikales Happy End – negieren die gesellschaftliche Realität. Die Komödie setzt dieser Realität die ‚Möglichkeit einer vollständigen Umsetzung der menschlichen Persönlichkeit‘ entgegen, verstanden als radikale dialektische Negation oder als poetisches Gegenwort, keineswegs aber als ‚Ersatz einer Ordnung durch eine Ordnung‘.8 Gegenstand der politischen Satire ist allerdings nicht allein der Absolutismus, sondern auch die bürgerliche Gesellschaft, auf die sich schon Dantons Tod kritisch bezog.9 In jedem Fall mündet die ‚romantische‘ Komödie selbst in ein radikales Projekt voller sozialer und öffentlicher Brisanz. Die Entwicklung der Gestalten Leonce, Lena und Valerio – hier als wahrhaftige „Erziehung“ und zweite Geburt, die der „Erzeugung“10 folgen – ist das Ergebnis einer Kollision mit einer sozialen Realität, die es dem Einzelnen nicht erlaubt, nach seinen eigenen Normen zu leben, seine vielen habituellen Eigenschaften zu entwickeln. Daher sind es im Lustspiel gerade die sozialen Bedingungen, die die kontrastive Handlung determinieren. Während die dargestellte gesellschaftliche Realität zwar authentisch, jedoch weder schön noch gut oder richtig ist, so ist der Bereich der Möglichkeit indessen schön wie gut und richtig – wenn auch, vorerst, nur im imaginären Rahmen zu bewerkstelligen.11 Aus demselben Grund weisen die Eigenschaften oder Fähigkeiten der individuellen Gestalten, aus ästhetischer Perspektive gesprochen, auf eine komplexe, entwickelte Gemeinschaft voraus. Tatsächlich nimmt diese Vorstellung eines voll entfalteten und emanzipierten Lebens sowohl Instanzen der revolutionären Vergangenheit und Gegenwart wieder auf – von der Revolte des Masaniello bis   8 Vgl. Antonio Gramsci, Tre principi, tre ordini. In  : Scritti giovanili (1914–1918). Turin 1958, S. 73– 78, hier  : S. 78.   9 Siehe Simonetta Sanna, Die andere Revolution. Dantons Tod von Georg Büchner und die Suche nach friedlicheren Alternativen. Paderborn [u. a.] 2010. 10 Vgl. Georg Büchner, Band 1  : Dichtungen. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006, S. 104. – Fortan wird Leonce und Lena nach dieser Ausgabe, unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl, mit DKV zitiert. 11 Auch in der Szene „Eine Straße“ aus Dantons Tod akzentuiert Büchner u. a. den kognitiv-ästhetischen Widerspruch zwischen Lucile und den drei Frauen, die am Ende zu ihr stoßen. Die Frauen haben soeben der Hinrichtung von Hérault beigewohnt, ein „hübscher Mann“, und fanden die öffentliche Inszenierung des Todes „recht gut“ (DKV 1,89). Sie leben also eine umgekehrte kalokagathìa im Vergleich zu Luciles Schön- und Gutsein, zu ihrem Frei- und Wahrsein. Vgl. hierzu Sanna (2010), S. 103.



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zur Französischen Revolution – als auch Forderungen der ethisch-sozialen Kultur der Aufklärung, die der Sturm und Drang und die Romantik fortentwickelten  ; zugleich deutet sich ein gesellschaftliches Projekt der Zukunft an, die etwa Antonio Gramsci wie folgt beschrieben hätte  : Die Sozialisten sollten nicht eine Ordnung durch eine Ordnung ersetzen. […] Der

Rechtsgrundsatz, den sie realisieren wollen, ist  : die Möglichkeit der vollständigen

Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit, die allen Bürgern gewährt wird. Mit der Konzentration auf diese Maxime fallen alle konstituierten Privilegien. Sie führt zu einem Maximum an Freiheit bei minimalem Zwang.12

Es ist somit kein Zufall, dass Leonce, der Kronprinz, sowie Valerio, ein von der Polizei gesuchter Flüchtling,13 sich an den Gegenpolen der sozialen Leiter bewegen. Der Prinz, der Eigentümer von allem ist, und Valerio, der nichts besitzt, verkörpern die Extreme im Stufensystem der Gesellschaft  : ‚ganz oben‘ vs. ‚ganz unten‘. Im Vorgriff auf die „vollständige[] Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit“ aber beseitigen sie vorzeitig „alle konstituierten Privilegien“ – womit sie den Bereich des Möglichen eröffnen. Als authentische Alter Egos des jeweils anderen haben Leonce und Valerio eine Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit bzw. Möglichkeit gemein. Der Bund zwischen beiden Gestalten, die sich Halbbrüder wähnen, eliminiert ihre soziale Determiniertheit  : So wie das Bettler-Alter Ego eine Reduktion auf die soziale Superiorität des Prinzen verhindert, schließt das Prinzen-Alter Ego die Einschränkung Valerios auf den Typus des ‚armen Schluckers‘ aus. Beide, aus dem gesellschaftlichen Kontext gelöst, sind in erster Linie Figuren, die sich mit ihren vielen Eigenschaften wechselseitig konfrontieren. Sie können mit den Ideen experimentieren, König zu sein, sich der Wissenschaft, der Kunst oder dem Heldentum zuzuwenden, wobei es durchaus nicht ihre Absicht ist, sich per Kompromiss der hässlichen Realität zu unterwerfen. Das Gegenteil trifft zu  : Um auf keinen Fall „nützliche Mitglieder“ einer „menschlichen Gesellschaft“, wie sie ist, zu werden, würden sie lieber ihre „Demission als Mensch geben“ (DKV 1,108) – eben weil die Gesellschaft, so wie sie ist, gerade dies verfügt  : die Abdankung zweier reich begabter und voll entfalteter Individuen, die dazu bestimmt sind, Impuls auch für die anderen zu sein. 12 Gramsci (1958), S. 78. 13 So geht es aus einem Fragment hervor, auf das wir noch zurückkommen werden.

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Wir sagten schon, dass die hässliche Wirklichkeit den Rahmen für die ‚private‘ Handlung der Gestalten vorgibt. Als Abbild der Gesellschaft sind der König, die Beamten und die Bauern tatsächlich Prototypen. Sie führen ein entfremdetes Leben, das – außer durch die Uhr –14 durch eine genaue Rollenverteilung geregelt ist. Die Bauern schuften und begnügen sich dennoch mit dem Geruch des Bratens, der König übernimmt für sie das Denken, wenngleich er – wäre da nicht der Knoten im Taschentuch  – bezeichnenderweise sogar die Tatsache vergäße, dass sie existieren (I,2). Herren und Diener leben in einer leeren Zeit, in einer der Rückkehr des Immer-Gleichen, das sich in allen Bereichen der Wirklichkeit breitmacht (fast wie in Kafkas Prozess, in dem das Gesetz selbst bis hinein in die Dachböden und Keller wirksam ist). Im Gegensatz dazu möchten Leonce, Lena und Valerio „alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten“ (DKV 1,99)  : Dies ist die Voraussetzung, um die zeitliche Ordnung überdenken und sich auf die Suche nach einer neuen Qualität der Zeit begeben zu können, die Leonce, wie wir sehen werden, in seiner Rede an das Publikum auch anspricht. In jenen Fällen, in denen der König in den Hintergrund tritt, um „ungestört zu denken“ (DKV 1,128), versprechen die privaten Gestalten, eine immerwährende Störung der gegebenen Verhältnisse zu initiieren, was eine eigentümliche motivische Variante der „Boa Constriktor“ bzw. des „seidne[n] Schnürchen[s]“ des „Danton“ darstellt (DKV 2,398). Dass solcherlei Gedanken die Handlungen des Leonce und Valerio bestimmen, belegt deren schicksalhafte Verbundenheit. Der Prinz, der in der Lage ist, alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren, entschließt sich zur Flucht in die Stadt der Lazzaroni, verbringt eine Nacht im Niemandsland von „freie[m] Feld“ und „Wirtshaus“ (DKV 1,111) und beabsichtigt schließlich, das Reich der Lazzaroni zu Hause zu erschaffen. Valerio, der sich auf seine Intelligenz, seine vielen Talente und seinen Wagemut berufen kann, findet sich als Staatsminister wieder. Er ist unter anderem ein Sprachvirtuose, der das breite Spektrum der Möglichkeiten des Wortspiels beherrscht, vor allem die Paronomasie sowie die Amphibolie – auch wenn seine Sprachschöpfungen manchmal „als ein schlechtes Wortspiel“ erscheinen, wie ihm Leonce vorwirft, der seinerseits nur „ein Buch ohne Buchstaben, mit nichts als Gedankenstrichen“ ist (DKV 1,107). Vom Nichts ins alles geworfen, beschließt Valerio auf der Basis eines radikalen Dekrets, ein neues Reich zu erschaffen, das – angeregt von den neapolitanischen 14 In I,3 verweist Leonce auf den Vater von Tristram Shandy in Sternes Roman, der einmal im Monat seine eheliche Pflicht erfüllt, an die er sich erinnert, wenn einer die große Pendeluhr aufzieht.



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Lazzaroni – neben dem Nichts auch das alles in sich trägt. In den Figuren des Prinzen und des Habenichts erscheint der Bereich der sozialen Gegebenheiten – in einem Fall Hülle und Fülle, im anderen totaler Mangel – anfangs als gegensätzlich, doch vermag sich dieser dank der individuellen Anlagen Valerios in sein Gegenteil zu wandeln. Lena geht in diese gedankliche Konstruktion mit ein. Sie ist eine Prinzessin, und doch ist sie unter Büchners Gestalten diejenige, die am meisten Lucile aus Dantons Tod ähnelt  : „Wohin mein Kind  ?“, fragt die Gouvernante  ; „hinunter“, antwortet Lena (DKV 1,117), ganz im Sinne Luciles.15 Eine gesonderte Betrachtung verdienen auch folgende Charaktere  : die Gouvernante, die vierte Person in der von Leonce, Lena und Valerio gebildeten Gruppe, und schließlich Rosette. Erstere ist so sehr Typus, dass sie sich letztlich fast als dessen Gegensatz – als Individuum – entpuppt  ; Rosette hingegen, Leonce’ Mätresse, ist Individuum bloß als private Gestalt, bei Hofe dagegen ist sie wieder ganz dem Typus verpflichtet. Es ist unbestritten, dass es Georg Büchners „bizarrer Kopf “ ist (Dantons Tod, DKV 1,44), der eine Verbindung zwischen zwei gegensätzlichen KomödienGenres schafft, als Variante der Suche „nach dem unbekannten, ewig verweigerten x“ (1,39–40), das heißt nach dem verborgenen Kern des Dramas.16 In der Tat hat das Talent des Schriftstellers im Lustspiel noch Bizarreres geschaffen als im Danton, den Büchner vor seiner Flucht nach Straßburg entwarf. Das Revolutionsdrama schrieb der Autor innerhalb weniger Wochen, während der Zeit, in der ihn die Darmstädter „Polizeidiener“ verfolgten, die am Ende „[s]eine Muse[n]“ wurden, wie Büchner 1835 an Gutzkow schreibt (DKV 2,398). Denn es gelingt ihm am 6. März 1835 seiner Verhaftung durch die Flucht nach Frank15 Leonce teilt, wie Camille, die Vorliebe, auf dem Boden zu sitzen, so bei seiner Antwort an den Präsidenten des Staatsrats  : „Leonce bleibt auf dem Boden sitzen. […] Meine Herren, wollen Sie nicht Platz nehmen  ? – Was die Leute für Gesichter machen, wenn sie das Wort Platz hören  ! Setzen Sie sich nur auf den Boden und genieren Sie sich nicht. Es ist doch der letzte Platz, den Sie einst erhalten, aber er trägt Niemanden etwas ein – außer dem Totengräber.“ (DKV 1,105) 16 Auch in Leonce und Lena werden die Gegensätze zugunsten von Zwischenstufen eines tertium datur relativiert. In der Variation von Dantons Tod ist das Prinzip des Ganzen dargestellt im Bild von der „Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen [den Gestalten], sich jeden Augenblick neu gebiert“ (DKV 1,45). In der Erzählung Lenz variiert Büchner das dynamische Konzept von Schönheit, die „aus einer Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert“ (DKV 1,234). Dieses Konzept greift differenzierte Wechselbeziehungen auf, die gleichzeitig symmetrisch und asymmetrisch sind, u. a. in Leonce’ Äußerung  : „Ach der Teufel ist nur des Kontrastes wegen da, damit wir begreifen sollen, daß am Himmel doch eigentlich etwas sei.“ (DKV 1,108)

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reich zu entkommen, woraufhin eine Zeit maximaler Produktivität folgt. Büchner wähnt sich Herr seiner Kräfte, wie er am 9.  März 1835 seinen Eltern schreibt  : „Jetzt habe ich Hände und Kopf frei….“ (DKV 2,397) Und er fühlt sich voller Entschlossenheit  : „Seit ich über der Grenze bin, habe ich frischen Lebensmut, ich stehe jetzt ganz allein, aber gerade das steigert meine Kräfte.“ (DKV 2,397) Diese Grenze, die zwischen Büchner und die tragischen deutschen Ereignisse trat, ermöglichte ihm erst die Konzipierung einer neuartigen romantisch-satirischen Komödie, die er im Mai 1836 niederzuschreiben beginnt. Hände und Kopf sind nun nicht länger der Pflicht des Tages preisgegeben, selbst im politischen Bereich nicht. Büchner hat inzwischen eingesehen, dass unter den gegenwärtigen Umständen jede revolutionäre Aktion zum Scheitern verurteilt ist, wie ein Brief an seinen Bruder Wilhelm belegt  : „Ich habe mich seit einem halben Jahre vollkommen überzeugt, daß Nichts zu tun ist, und daß Jeder, der im Augenblicke sich aufopfert, seine Haut wie ein Narr zu Markte trägt.“ (DKV 2,402) An Gutzkow stattdessen schreibt er im März 1835 noch  : „Aber Sie sollen noch erleben, zu was ein Deutscher nicht fähig ist, wenn er Hunger hat.“ (DKV 2,397)17 Jener biografisch verbürgte Hunger des Autors hat – neben dem Übermaß an Arbeit, dem er sich während seines kurzen Lebens ausgesetzt hat  – auf seine Weise zur gerafften Handlung wie zur prägnanten Zeichnung der Charaktere beigetragen. Wie man weiß, war Georg Büchner nie in der Lage, sich mit seinen Vorhaben zeitlich zu arrangieren. Anfang Januar 1837 schrieb er an seine Verlobte Wilhelmine Jaeglé  : „in längstens acht Tagen Leonce und Lena mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen“ (DKV 2,461). Anfang Februar ist Büchner bereits krank, am 11. beginnen die Wahnvorstellungen, am 15. diagnostiziert der Arzt den Typhus, am 19. Februar 1837 stirbt er, mit nur 23 Jahren und vier Monaten. Einige vertreten die Ansicht, dass, hätte er länger gelebt, aus ihm ein deutscher Shakespeare geworden wäre. Darüber hinaus liegt die Prägnanz der Handlung und Charaktere auch in einer anderen Tatsache begründet  : Büchner ‚spielt‘ sozusagen ‚auf dem eigenen Felde‘, indem er weiterhin über Themen früherer oder gleichzeitig erscheinender Werke reflektiert – so mit Bezug zu Dantons Tod, aber auch die Stücke Lenz und Woyzeck, an denen er während der Erstellung der Neufassung von Leonce und 17 Siehe zu den Jahren des Exils  : Erika Gillmann und Thomas M. Mayer [u. a.] (Hg.), Georg Büchner an „Hund“ und „Kater“. Unbekannte Briefe des Exils. Marburg 1993.



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Lena schreibt, sind betroffen. Eine thematische Kongruenz zeigt sich auch im Rahmen der Vorbereitung seiner Probevorlesung in Zürich oder im Fall der Vorlesungen über Philosophie und Anatomie sowie bei seiner Arbeit an dem verlorenen Drama Aretino. Diese Arbeitsweise hat die ästhetische Qualität seiner Werke keinesfalls beeinträchtigt – im Gegenteil. Im gedanklichen Netzwerk des Autors stellt Leonce und Lena die Wiederbelebung der Kokarde der Revolution dar, von der am Ende der Bauernszene die Rede ist – verwirklicht neben anderen und freudvolleren Mitteln auch anhand der Entwicklung des Einzelnen, der im Spannungsfeld von Freiheit und sozialer Einbindung lebt. So kündigt bereits die Inschrift des Lustspiels an  : „Alfieri  : ‚E la fama  ?‘ / Gozzi  : ‚E la fame  ?‘“ (DKV 1,93)18 Weil die Handlung der individuellen Gestalten hin zur (Un-)Ordnung der Möglichkeit tendiert, verwundert es nicht, dass der Autor sich vielfältiger wie hocheffizienter literarischer Mittel bedient. Büchner hatte im Hessischen Landboten statistische Dokumente verwendet, in Dantons Tod auf historische Quellen zurückgeblickt, was ihm bekanntlich Kritik einbrachte  ; in Lenz verwendet er Passagen aus dem Tagebuch des Pfarrers Oberlin, in Woyzeck greift er auf die Gerichtsakten von Dr.  Clarus zurück. In Leonce und Lena, wie dokumentiert, nimmt er Bezug auf eigene Werke, doch lässt er sich zugleich vom Repertoire der europäischen Literatur inspirieren.19 Tatsächlich wird das literarische Moment der romantisch-satirischen Komödie primär von der Intertextualität gespeist  : Eine Gestalt wie Lena erscheint deshalb als beispielhaft, weil sie eine Figur wie Lucile im Rücken hat. Auch diese Gestalt ist aus der Phantasie des Autors geboren  ; sie ist dabei aber die Einzige, die in Dantons Tod im Widerspruch zu den Quellen steht. Wenn die Interpreten diese Ähnlichkeiten nicht ausreichend berücksichtigten, dann aus dem Grund, weil auch sein Revolutionsstück einer dichotomen Lektüre ausgesetzt war, mit der die Spannung von Kräften und Gegenkräften, von Symmetrien und Antisymmetrien, die in ihrer gemeinsamen inneren Beziehung die Struktur des Dramas bestimmen, vernachlässigt wurde.20 18 Es handelt sich um ein Zitat aus Germaine de Staël, Lettres d’un voyage (1834). Vgl. hierzu Büchner (2003), S. 427. 19 Siehe die angeführten Quellen  : Büchner (2003), S. 425–544. – Vgl. auch Gundolf, der von einem „Rückfall in die bloße Literaturkomödie der Romantik“ spricht – Friedrich Gundolf, Romantiker. Berlin-Wilmersdorf 1930, S. 390 –, oder Mayer, der meint, es sei alles aus „zweiter, wenn nicht dritter Hand“  : Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt 1972, S. 316. 20 Siehe Sanna (2010). – Die Symmetrien liebt auch König Peter, der seine Diener ermahnt  : „Gehen Sie symmetrisch.“ (DKV 1,99)

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Auch Lena, Leonce und Valerio sind, wie bemerkt, ausgeprägte Individuen, zum Teil auch die Gouvernante und Rosetta  ; der König, die Minister, die ­großen und kleinen Diener des Staates sowie auch die Untertanen sind dagegen soziale Typen. Indem Büchner die Ereignisse aus der geografischen Distanz betrachtet, aus der Sicht seiner Exterritorialität, experimentiert er in der Komödie mit dem Möglichkeitssinn, dem Abrücken von der Gegenwart und der Vorwegnahme künftiger Bedingungen. Dadurch, dass Büchner seine Ü ­ berzeugungen als nicht widerlegt darstellt, geschieht dies – was den eingesetzten Protagonisten betrifft – im Gegensatz zur Woyzeck-Tragödie, die einen ‚Proletarier‘ zum Helden hat, sozusagen einen tragischen Valerio. Während der Niederschrift des Lustspiels vertraut er im Juni 1836 Gutzkow seine Einsichten an  : Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte

moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herumlaufen  ? Das ganze Leben desselben besteht nur in

Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann. (DKV 2,440)

Folgerichtig bildet Büchner mit seiner Komödie Leonce und Lena dieses „einzig Neue, was sie noch erleben kann“ – die „Gesellschaft“ – aus, jedoch positiv, als Anbahnung einer ethischen und sozialen Utopie, die sich als tertium datur zwischen Realität und Fiktion stellt.21

2. Die Handlung der Individuen und ihre ethisch-sozialen Implikationen

In der Verteidigung der Selbstverwirklichung des Menschen laufen die grundlegenden ethisch-sozialen Sorgen von Büchner zusammen, doch nicht allein in Leonce und Lena, sondern auch in der zur selben Zeit geschriebenen Erzählung Lenz, die die Erlebnisse des gleichnamigen Schriftstellers während seines Aufenthaltes im Steintal vom Stigma des Pathologischen befreit – zugunsten einer modernen Konzeption, die jedem Einzelnen ein seinem Ich entsprechendes Leben gewährt, als „Möglichkeit des Daseins“ (DKV 1,234). Den eigentümli21 Vgl. Ludwig Völker, Die Sprache der Melancholie in Büchners Leonce und Lena. In  : Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 118–137, hier  : S. 134.



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chen Figuren in Lenz stehen daher nicht von ungefähr die „idealistische[n] Gestalten“ oder die „Holzpuppen“ gegenüber (DKV 1,234), in Leonce und Lena – außer den Gestalten in den satirischen Szenen – die steckbrieflich geschilderte Wachsfigur in dem gestrichenen Passus und die Automaten, die Valerio dem Hof präsentiert (III,3). Valerio hat als Deserteur seine Haut in ein Sanatorium hinübergerettet, dem er alsdann mit einer stattlichen Beute entkommt. Bereits der Haftbefehl, den die Polizeibeamten vorzeigen, rückt Valerio, den ‚Bösewicht‘ in eine unmittelbare Ähnlichkeit mit dem Prinzen  : „1. Poliz‹ist› Halt, wo ist der Kerl  ? / 2. Pol‹izist› Da sind zwei.“ (DKV 1,138) Der Autor bedient sich in der Folge eines Sprachspiels, das „Keiner“ und „Beyde“, gleichsam Nichts und Alles, von Anfang an zusammenwürfelt (DKV 1,138). Grotesk sind im Dialog der Polizisten auch die angeführten ‚Merkmale‘ des Gesuchten  : „[…] geht auf 2 Füßen, hat zwei Arme, ferner einen Mund, eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren. Besondere Kennzeichen   : ist ein höchst gefährliches Individuum.“ (DKV 1,138) Daraufhin gibt der zweite Polizist zu bedenken  : „Das paßt auf Beyde“, und fragt  : „Soll ich sie Beyde arretiren  ?“ (DKV 1,138) Büchner war damals erst kürzlich einem Haftbefehl entkommen, der an die fünfzig Verschwörer ins Gefängnis brachte. Darunter war auch Pastor Weidig, der infolge erlittener Gewalt starb. Mit der Persiflage des Haftbefehls befreite sich Büchner nicht nur kathartisch von Angst, sondern verlachte auch dessen Allgemeinverbindlichkeit. Den Personenkennzeichen zufolge  – mit Ausnahme des Merkmals eines „höchst gefähr­liche[n] Individuum[s]“22  – könnte jeder die gesuchte Person sein.23 Die Bestimmungen ‚konventionell-stumpfsinnig‘, ‚hölzern‘, ‚mechanisch‘ und ‚beschränkt-idealistisch‘ wiederum bilden die Merkmale der zwei Automaten,24 die Prinz Leonce und Prinzessin Lena während ihrer Hochzeit „in effigie“ (DKV 1,126) ersetzen sollen, und zwar in den Worten des Valerio  :

22 Siehe den Passus mit Leonce’ Aufruf an das Publikum, nicht in seiner Stellung zu verharren, eher ein wenig ‚gefährlicher‘, d. h. nonkonformistisch oder eben Individuum zu werden (III,3). 23 Vgl. Jan-Christoph Hauschild, Georg Büchner. Biographie. Stuttgart [u. a.] 1993, S. 418. – Siehe zum Steckbrief auch  : DKV 2,681–682. 24 Vgl. zum Unterschied zwischen Automat und Marionette  : Rudolf Drux, „Eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche“. Ansätze zu einer Poetik der Satire im Werk Georg Büchners. In  : Zweites Internationales Georg Büchner Symposium 1987. Hg. von Burghard Dedner und Günter Oesterle. Frankfurt a. M. 1990, S. 335–352, hier  : S. 337.

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Mit schnarrendem Ton  : Sehen Sie hier, meine Herren und Damen, zwei Personen

beiderlei Geschlechts, ein Männchen und ein Weibchen, einen Herrn und eine Dame.

Nichts als Kunst und Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern  ! […] man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie

sind sehr edel, denn sie sprechen hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie stehn

auf den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu Mittag und gehn auf den

Glockenschlag zu Bett, auch haben sie eine gute Verdauung, was beweist, daß sie ein

gutes Gewissen haben. Sie haben ein feines sittliches Gefühl, denn die Dame hat gar

kein Wort für den Begriff Beinkleider, und dem Herrn ist es rein unmöglich, hinter einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf oder vor ihm hinunterzugehen. Sie sind sehr

gebildet, denn die Dame singt alle neuen Opern, und der Herr trägt Manschetten.

(DKV 1,125–126)

In den Monaten der Ausarbeitung seiner Vorlesungen zur griechischen und modernen Philosophie, die von Descartes bis Spinoza reichen, hatte Büchner aus erster Hand die große Kluft zwischen der „Philosophie a priori“, die „noch in einer trostlosen Wüste“ sitzt, und „dem frischen grünen Leben“ erfahren (DKV 2,159). Ein Abbild dieser Kluft ist im Drama durch die vierfache Wiederholung einer Wenn-dann-Konstruktion signalisiert, mit der Valerio ironisch auf ein Schlüssel-Postulat der systemisch-rationalistischen Philosophie von König Peter anspielt („Halt, ist der Schluß logisch  ? Wenn – dann. – Richtig  !“, DKV 1,124), die einem Kausalismus à la homme machine gehorcht.25 Jedenfalls eignen sich die Automaten dazu, nützliche „Mitglieder der menschlichen Gesellschaft“ zu sein, da sie ganz allgemeinen, formellen oder funktionalen Normvorstellungen folgen und so der Erhaltung des Status quo dienlich sind.26 Mit anderen Worten gesprochen, verkörpern sie den Gegenpol zur Wahrnehmung der Komplexität des Einzelnen, der überdies die Fähigkeit besitzt, sich mit dem Undefinierbaren des eigenen Ichs auseinanderzusetzen, was Valerio noch in derselben Szene zeigt  :

25 Vgl. folgende Szene aus Dantons Tod, in der ein Bürger spricht  : „Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen  !“ (DKV 1,20) 26 Siehe hierzu Büchners Brief an Edouard Reuss vom 20. August 1832, in dem er erzählt, er sei „so ein anständiger, so ein rechtlicher, so ein zivilisierter junger Mann geworden“ (DKV 2,359), und den Brief vom 31. August 1833, der erneut die unauflösliche Verbindung zwischen Leben und Werk dokumentiert (DKV 2,371–372).

Die romantisch-satirische Komödie Leonce und Lena |



Peter Wer seid Ihr  ? / Valerio Weiß ich’s  ? Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab. Bin ich das  ? oder das  ? oder das  ? Wahrhaftig, ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern. (DKV 1,125)

Valerio, der den allgemeinen Regeln der Weisheit, die sich in den Maximen des Königs ausdrücken, den Witz des Augenblicks, das Sprachspiel mit ständig neuen Ideen entgegenhält, dieser Valerio ist der Prototyp eines in geistiger wie physischer Bewegung befindlichen Menschen. Bezeichnend dafür ist nicht nur die gestrichene Szene der verfehlten Verhaftung, sondern auch die Reaktion von Leonce, als dieser Valerio zum ersten Mal sieht  : „Wie der Mensch läuft  ! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte laufen machen.“ (DKV 1,96) Weiteren Aufschluss gibt in der gestrichenen Szene die Antwort des Taugenichts auf die Frage des Prinzen nach seinem Lebenslauf  : Ich habe eigentlich einen läufigen Lebenslauf. Denn nur mein Laufen hat im Lauf dießes Krieges mein Leben vor einem Lauf gerettet, der ein Loch in dasselbe machen

wollte. (DKV 1,139)

Neben Valerios „himmlische[r] Unverschämtheit“ (DKV 1,105) sind also physische Dynamik und Ausgelassenheit die Eigenschaften, die eine Wirklichkeit torpedieren, in der alles starr und unbeweglich erscheint. Es ist kein Zufall, dass gerade Valerio dieses „[E]twas“ ist (DKV 1,96), das den Prinzen anspornt, seine Reise wieder aufzunehmen. Leonce, der Valerio als Bruder begreift, wird dank ihm „[a]nderes treiben“ wollen (DKV 1,107), d. h. Geschmack an einer ‚anderen‘ Art von Leben finden. – So viel sei vorerst zur Individualität der beiden Protagonisten gesagt. Als Begebenheit, die das Lustspiel entscheidend prägt, ist eben diese unerwartete Begegnung mit Valerio anzuführen, die Leonce’ Langeweile erst ein Ende setzt und damit seinem festgefahrenen Leben bei Hofe (I,1), das als solches auch seine „sterbende Liebe“ zu Rosetta (DKV 1,102) ins Blickfeld rückt. Im Bewusstsein, dass er die Prinzessin von Pipi zu ehelichen hat, plant Leonce, nach Italien zu entfliehen (I,3). Lena jedoch flieht ihrerseits, um der Ehe mit einem Mann zu entkommen, „[d]en man nicht liebt“ (DKV 1,109). Im zweiten Akt will es der Zufall, dass sich die beiden jungen Leute in einem Wirtshaus begegnen (II,1), wo sie sich auf den ersten Blick (oder besser  : auf die ersten Hörimpulse hin) ineinander verlieben. Leonce will den Augenblick der Liebe, der sein „ganzes Sein“ verkörpert (DKV 1,118), mit dem Selbstmord versiegeln, der aber von Valerio verhindert wird. Dieser verpflichtet sich im Gegenzug,

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nachdem ihm ein Staatsministerium zugesichert wurde, einen Ausweg zu ersinnen, der es dem Prinzen erlaubt, seine Geliebte zu heiraten (III,1). Mithin stellt er Leonce und Lena der versammelten Hofgesellschaft als Automaten vor, dem König die Idee der Ehe ‚in effigie‘ suggerierend. Zur Überraschung aller wird die Identität der beiden jungen Menschen schließlich manifest. Und während König Peter abdankt, entwerfen Leonce, Lena und Valerio einen Staat, welcher der Maßgabe der Entfaltung des Individuums Rechnung trägt. Darüber hinaus regt die konzise Charakterzeichnung sowie die Beispielhaftigkeit der ‚privaten‘ Gestalten eine Handlung an, die durch die kanonische Dreiteilung von Einleitung, Wendepunkt und Auflösung bestimmt ist und die als solche schon in der Poetik des Aristoteles,27 in Hegels Ästhetik oder in den modernen Theorien von Claude Bremond dargelegt wurde.28 Die Einleitungsphase entspricht dem langweiligen Leben, das der Prinz bei Hofe führt, einem Leben, das mit der Ankunft des Valerio einen substanziellen Wandel erfährt (erster Akt)  ; der Wendepunkt geht auf die Begegnung mit Lena zurück (zweiter Akt)  ; die Auflösung beginnt schließlich mit der Eheschließung, der die Gestaltung des kleinen Königreichs in der Nachfolge der Lazzaroni von Neapel folgt (dritter Akt). Hinzugefügt seien hier folgende Dreiheiten, die nebenmotivische Relevanz besitzen  : a) Krankheit, Krise, Genesung  ; b) Tod der Seele, Wiedergeburt, utopisches Happy End  ; c) statische Zeit, dynamische Zeit, imaginäre Zeit (mit der die ewige Wiederkehr des Gleichen überwunden ist).29 Verfolgen wir diese sich vollziehenden Schritte im Detail. 27 Vgl. Adolf Stahr (Hg.), Aristoteles Poetik. Stuttgart 1860, S. 109. 28 Siehe hierzu Claude Bremond, Logica del racconto. Mailand 1977 u. Burghard Dedner, Leonce und Lena. In  : Interpretationen. Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Stuttgart 1990, S. 119–178, hier  : S. 167–168. 29 In „Die andere Revolution“ hatte ich darauf aufmerksam gemacht, dass sich Büchner in Dantons Tod dem Problem stellte, wie die ewige Wiederkehr der Katastrophe mit ihrem „Blutkessel“ (DKV 1,55) abzuwenden sei  : Sanna (2010). Es sind vor allem Camilles Suche „nach dem unbekannten, ewig verweigerten x“ (DKV 1,39–40) und seine mehrfach wiederholte Frage nach dem ‚Wie lange‘, die hier aktuell werden. Während Danton nach dem ‚Wozu‘ fragt, zielt Camilles Frage auf die Überführung der Zirkularität in eine neue Art der Linearität, impliziert diese die Suche nach einer anderen, tatsächlich asymmetrischen Zeit. Unter ästhetischem Gesichtspunkt, wie Lausberg aufzeigt, neigt die Umsetzung der Linearität in Zirkularität dazu, die linearen Wege, „z. B. eine Straße, die man durchschreitet“, in ein Labyrinth zu verwandeln, oder Zeit und Raum wie in einem ‚in sich ruhenden System‘ zu umschließen  : Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik. München 1963, S. 33. Was sich dergestalt abzeichnet, ist in Wahrheit eine Verräumlichung der Zeit, die zu einem „unausschöpflichen Reservoir der Ewigkeit gegen die Zeit“ wird, wie Durand nachweist  : Gilbert Durand, Le strutture antropologiche dell’immaginario. Introduzione all’archetipologia generale. Bari 1996, S. 413.



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Der Negativität der ersten Phasen der Dreiheiten – Krankheit, Tod der Seele und stillstehende Zeit – entspricht auch die Beziehung zwischen Leonce und Rosetta, die durch Besitzanspruch, Libertinage und Kälte gekennzeichnet ist. Rosetta als Gestalt ist von Alfred de Musset und Théophile Gautier inspiriert, mit Einschränkungen auch von Gotthold  E. Lessings Emilia Galotti.30 Als Mätresse ist Rosetta in ihrer sozialen Rolle gefangen, was eklatant ins Auge springt, als ihr Name am Ende einer langen Liste von Luxusgegenständen auftaucht – ein Ding unter Dingen –, mit denen sich der Prinz gewöhnlich umgibt  : „Weg mit dem Tag  ! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht. Stellt die Lampen unter Krystallglocken zwischen die Oleander […]. Rückt die Rosen näher […]. Musik  ! Wo sind die Violinen  ? Wo ist die Rosetta  ?“ (DKV 1,100) Die junge Frau kommt nur, wenn sie gerufen wird, sie tanzt auf Geheiß des Prinzen. Sie nähert sich „zierlich gekleidet“ und „schmeichelnd“ (DKV 1,100), während Leonce sie mit Gähnen empfängt und ihr erklärt  : „Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe. Aber ich liebe meine Langeweile wie dich“ (DKV 1,101) – ähnlich wie Danton in I,1, dessen Frau Julie, so wie jetzt auch Rosetta, mit einem unartikulierten „Oh“ antwortet (DKV 1,13). Darüber hinaus weigert sich Leonce, dieser Beziehung Stabilität zu geben, beschränkt sich diese doch auf einzelne Momente matten Genusses  : „Das ist ein langes Wort  : immer  ! Wenn ich dich nun noch fünftausend Jahre und sieben Monate liebe, ist’s genug  ?“ (DKV 1,101) Gleich darauf heißt es  : „Tanze, Rosetta, tanze, daß die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen Füße geht.“ (DKV 1,101) Hingegen hat der Prinz keine Ohren für Rosettas Schmerz, für ihre Antwort, die da lautet  : „Meine Füße gingen lieber aus der Zeit“ (DKV 1,101),31 und auch nicht für die Lieder des Leidens, die die verlassene Rosetta singt  : „Ich bin eine arme Waise / Ich fürchte mich ganz allein. / Ach lieber Gram – / Willst du nicht kommen mit mir heim  ?“ (DKV 1,103) Ähnlich Lessings Emilia ist Rosetta nicht eins mit sich  : Als Individuum bleibt sie ungehört, stattdessen verharrt sie in ihrer vorbestimmten Rolle. Nach dem Fortgang Rosettas kehrt Leonce zu 30 Siehe Simonetta Sanna, Die Thematik des Sehens und Hörens in Lessings Minna von Barnhelm. In  : Zeitschrift für Germanistik 6 (1988a), S. 665–680  ; dies., Lessings Emilia Galotti. Die Figuren des Dramas im Spannungsfeld von Moral und Politik. Tübingen 1988b  ; dies., Lessing und Goldoni. Die Phasen eines Vergleichs. In  : Deutsche Aufklärung und Italien. Hg. von Italo M. Battafarano. Bern [u. a.] 1992a, S. 205–249 u. dies., Von Miss Sara Sampson zu Emilia Galotti. Die Formen des Medea-Mythos im Lessingschen Theater. In  : Lessing Yearbook XXIV (1992b), S. 45–76. 31 Siehe Wolfs Rede zur Verleihung des Büchner-Preises  : Christa Wolf, Büchner-Preis-Rede 1980. In  : Lesen und Schreiben. Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden. Darmstadt [u. a.] 1984, S. 319– 332.

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seinen Klagen über die Langeweile zurück und denunziert so  – an Goethes Tasso erinnernd  – die Absurdität der Gegenwart, das Missverhältnis zwischen Leben und Talent  : Leonce […] Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal […], die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit totmüden Augen einander an. […] Gott, was

habe ich denn verbrochen, daß du mich, wie einen Schulbuben, meine Lektion so oft hersagen läßt  ? (DKV 1,103)

Allerdings wird im Folgenden die Aufmerksamkeit nicht der Phase der „sterbende[n] Liebe“ (DKV 1,102) des Leonce gelten, sondern der erhabenen Utopie, mit der die Wiedergeburt des Prinzen einsetzt. Somit spricht Leonce zu Valerio  : „Weißt du auch, Valerio, daß selbst der Geringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können  ?“ (DKV 1,120) Lena wird im Nachhinein auch die Gestalt der Rosetta erlösen – und sie wird außerdem Leonce dazu bringen, sein bisher weibliches Ideal, künstlerisch angelehnt an Johann J. Winckelmann, zu verleugnen  :32 Ich habe das Ideal eines Frauenzimmers in mir und muß es suchen. Sie ist unendlich schön und unendlich geistlos. […] Es ist ein köstlicher Kontrast  : diese himmlisch

stupiden Augen, dieser göttlich einfältige Mund, dieses schafnasige griechische Profil,

dieser geistige Tod in diesem geistigen Leib. (DKV 1,112)

Lena, die vor der Zwangsheirat flüchtet, betritt die Szene „Ein Garten“ (I,4) mit den Worten  : „O Gott, ich könnte lieben, warum nicht  ? Man geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme und sie Jedem über der Brust faltete.“ (DKV 1,109) Sie möchte nicht wie „ein wahres Opferlamm“ auf dem Altar der Ehe geopfert werden, als würde „man einen Nagel durch zwei Hände“ schlagen (DKV 1,109). Sie nimmt sogleich, „so zart und weiblich“ (DKV 1,113) – und auch mutig, eine Vorstellung von der Liebe vorweg, die nicht die Unbestimmtheit eines jeden kennt, sondern nur die Singularität des Einzelnen, die Anerkennung des anderen als eben diesen  : „Bin ich denn, wie die arme, hilflose Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem stillen Grund abspiegeln muß  ?“ (DKV 1,109) 32 Vgl. Büchner (2003), S. 488. – Vgl. auch Lenz  : DKV 1,235.



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Ein ganz eigentümliches Individuum ist Lena, als eine Figur aus Büchners Theater, die signifikant der Gestalt Luciles ähnelt. Paul Celan, so in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises im Jahr 1961, identifiziert Lucile mit der „Majestät des Absurden“, mit der Poesie, die sich nicht auf die widersprüchliche Realität reduzieren lässt.33 Mit der Frau von Camille Desmoulins teilt Lena den hohen, lyrisch-pathetischen Stil. Eins mit sich selbst, eignet sie die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf Gras, Bienen, Blumen, Grasmücken, Kinder und Träume zu richten (I,4 u. II,1)  – sowie auf Menschen, „die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil s i e s i n d “ (DKV 1,117). Letztlich wird Camilles Frau auf dem öffentlichen Platz der Revolution sterben. Lenas Beispielhaftigkeit erwächst aus ihrem individuellen Liebesbewusstsein, das die Züge des Einzelnen und den Sinn für sympathische Entsprechungen wahrt. Rosetta ist eine Frau im Status der ‚Gespielin‘, insofern löst sie in Leonce die Frage aus  : „[…] wieviel Weiber hat man nötig, um die Skala der Liebe auf und ab zu singen  ?“ (DKV 1,103) – Lena hingegen ist einzigartig, weil sie ganz sie selbst ist. Lena bringt Leonce dahin, die Liebe als Akt der Wahrnehmung zu erfahren, der sich auf das Anders-Sein des Gegenübers bezieht, womit Hand in Hand der Prozess des eigenen Werdens einhergeht. Dadurch gelangt Leonce zu einem Selbstverständnis, das weit von dem Rollenspiel entfernt ist, das Valerio mit den Automaten vorführt  : Geben Sie Acht, meine Herren und Damen, sie sind jetzt in einem interessanten Stadium, der Mechanismus der Liebe fängt an sich zu äußern, der Herr hat der Dame

schon einige Mal den Shawl getragen, die Dame hat schon einige Mal die Augen

verdreht und gen Himmel geblickt. Beide haben schon mehrmals geflüstert  : Glaube,

Liebe, Hoffnung. Beide sehen bereits ganz akkordiert aus, es fehlt nur noch das winzige Wörtchen  : Amen. (DKV 1,126)34

33 Vgl. Paul Celan, Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises, Darmstadt am 22. Oktober 1960. In  : Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 40–62, hier  : S. 44. – Siehe Jörg Thunecke, Die Rezeption Georg Büchners in Paul Celans Meridian-Rede. In  : Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 298–307. 34 Vgl. hierzu den Brief an Wilhelmine vom März 1834  : „Ich liebte aber so unser stilles Geheimnis, – doch sage deinem Vater Alles, – doch zwei Bedingungen  : Schweigen, selbst bei den nächsten Verwandten. Ich mag nicht hinter jedem Kusse die Kochtöpfe rasseln hören, und bei den verschiedenen Tanten das Familienvatersgesicht ziehen.“ (DKV 2,382–383)

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Doch haben wir der Handlung vorgegriffen, die Begegnung zwischen den jungen Titelgestalten antizipierend, den Wendepunkt der Handlung im zweiten Akt, dessen verborgene Inschrift, die Büchner aus dem Gedächtnis zitiert, aus Die Blinde von Adalbert von Chamisso stammt  : „Wie ist mir eine Stimme doch erklungen / Im tiefsten Innern, / Und hat mit einemmale mir verschlungen / All mein Erinnern.“ (DKV 1,111) Unter Hinweis auf diesen Autor der Romantik, der die Subjektivität der Erfahrung der Liebe betont („mir“ u. „mein“) und deren dichten Augenblick, der Vergangenheit und Zukunft in sich birgt, verweist Büchner auf eine mystische Tradition, die von Augustinus bis Meister Eckhard reicht und nach der Entstehung des inneren Menschen fragt – so berührt sich damit auch das „Geheimnis der Begegnung“, von dem Paul Celan spricht.35 Das ist eine Erfahrung, die den beiden Liebenden und damit auch Leonce vorbehalten ist, dessen Zeit nun wieder zu fließen beginnt. Hatte Leonce für Rosetta nur Augen, so wird mit Lena nun sein Gehör angesprochen, obwohl die Begegnung seine Sinne im Gesamten belebt. Derart vollzieht sich der erste Dialog in II,2, wobei Leonce anstatt der Gouvernante antwortet  : Lena zur Gouvernante  : Meine Liebe, ist denn der Weg so lang  ?

Leonce träumend vor sich hin  : O jeder Weg ist lang. […] Für müde Füße ist jeder

Weg zu lang …

Lena die ihm ängstlich sinnend zuhört  : Und müden Augen jedes Licht zu scharf, und

müden Lippen jeder Hauch zu schwer lächelnd, und müden Ohren jedes Wort zu viel.

Sie tritt mit der Gouvernante in das Haus. (DKV 1,116)

Während der Dialog zwischen dem Prinzen und Valerio in II,1 Unterschiede in der Wahrnehmung des Raumes akzentuiert, offenbart das Zwiegespräch zwischen Lena und der Gouvernante ein unterschiedliches Verständnis der Zeit. Allerdings üben Leonce und Lena sich in der Möglichkeit eines authentischen Dialoges, der die Gesprächspartner befähigte, sich gegenseitig zu erkennen  – und letztlich sich selbst. Das Gefühl, dass Prinz und Prinzessin verbindet, ist mithin nicht die stereotype Regung nach dem Muster einer Marionette oder eines Automaten  ; es durchbricht vielmehr jeden Mechanismus, um in interiore homine ein „Gären in der Tiefe“, ein „Werden“ zu stiften (DKV 1,116), das der zweiten Geburt vorangeht. Anders als jedes andere Gefühl macht erst dieses die 35 Vgl. Celan (1988), S. 55.

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Eigentümlichkeit des Gegenübers erfahrbar. Lena ist das Unerwartete, das von Leben, Sonne und Entstehen umgeben ist, ohne dass sie dabei Tod, Nacht, Zweifel oder das Nichts verleugnete. Leonce ist nun wie verwandelt. Er fühlt nicht nur die Veränderung der Luft, und wie er sich von seiner Melancholie befreit  : Er hat vor allem Lena als Lena wahrgenommen, „diese“, ihre Stimme, die seine Wahrnehmung von Raum und Zeit verändert  : Leonce […] O diese Stimme  : i s t d e n n d e r We g s o l a n g   ? Es reden viele

Stimmen über die Erde, und man meint, sie sprächen von anderen Dingen, aber ich

habe sie verstanden. […] Welch’ Gären in der Tiefe, welch’ Werden in mir, wie sich die Stimme durch den Raum gießt. (DKV 1,116)

Die nächste Szene II,3 bringt Lenas Widerhall. Auch hier weist sie auf Lucile zurück, die ihren Mann ‚so gern sprechen sieht‘ (DKV 1,45), und folglich über die Wahrnehmung der einzelnen, getrennten Sinne hinaus. Und wie Lucile in ihrem „[N]achdenken“ (DKV 1,82)  – Woyzeck drückt sich ebenfalls so aus (DKV 1,161) – gelingt es auch Lena, ihren Geliebten „mit einemmale“ (DKV 1,111) zu verstehen. Sie integriert jeglichen Dualismus des Prinzen in jenes tertium datur, dem er als Figur vorsteht  : bis zu dem Punkt, an dem er für sie zu den Menschen gehört, die unglücklich sind, „bloß weil sie sind“,36 weil sie sich den Widersprüchen des Daseins öffnen  : Gouvernante Denken Sie nicht an den Menschen.

Lena Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen, und

den Winter im Herzen. Das ist traurig. Der müde Leib findet sein Schlafkissen über-

all, doch wenn der Geist müd’ ist, wo soll er ruhen  ? Es kommt mir ein entsetzlicher

Gedanke, ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil s i e s i n d . (DKV 1,117)

Als sie sich in der vierten Szene erneut begegnen, kommt es zum Wendepunkt der Geschichte. Für Leonce wird die jetzige paradiesische Nacht zu einem Gegenstück zur künstlich-launischen von I,3. Lena sitzt indes auf dem Rasen  – und spricht mit einem toten Kind  :

36 Leonce antizipiert das Echo  : „Warum muß ich es grade wissen  ?“ (DKV 1,96)

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Lena […] Wie der tote Engel auf seinem dunkeln Kissen ruht und die Sterne gleich Kerzen um ihn brennen  ! Armes Kind  ! Es ist traurig, tot und so allein.

Leonce Steh’ auf in deinem weißen Kleid und wandle hinter der Leiche durch die Nacht und singe ihr das Sterbelied.

Lena Wer spricht da  ? Leonce Ein Traum.

Lena Träume sind selig.

Leonce So träume dich selig und laß mich dein seliger Traum sein. Lena Der Tod ist der seligste Traum.

Leonce So laß mich dein Todesengel sein. Laß meine Lippen sich gleich seinen Schwingen auf deine Augen senken. Er küßt sie. Schöne Leiche, du ruhst so lieblich

auf dem schwarzen Bahrtuche der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt.

Lena Nein, laß mich. Sie springt auf und entfernt sich rasch.

Leonce Zu viel  ! Zu viel  ! Mein ganzes Sein ist in dem einen Augenblick. Jetzt stirb. Mehr ist unmöglich. Wie frischatmend, schönheitglänzend ringt die Schöpfung sich

aus dem Chaos mir entgegen. […] Dieser eine Tropfen Seligkeit macht mich zu einem

köstlichen Gefäß. Hinab, heiliger Becher  ! Er will sich in den Fluß stürzen. (DKV 1,118)

Das hier vertretene ‚Ganze‘ umfasst die vielfältigen Erscheinungsformen der Existenz, und damit die Polaritäten Leben und Tod, Tag und Nacht, Traum und Wirklichkeit sowie Sein und Nichts, was darin gipfelt, dass „die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt“. Darüber hinaus scheint es, dass das tote Kind, dem Lena nachweint,37 auf den Kern des „heiligen Geistes im Menschen“ hinweist – so Büchner in einem Brief an die Eltern vom Februar 1834 (DKV 2,379). Zusammen mit dem Bezug zum Selbstmord umschließt das Kind den ganzen Bogen eines Lebens, oder besser  : des kreatürlichen Lebens, das sich bei Leonce in seiner Ich-Wahrnehmung bereits dem Ende nähert. Nach dem Selbstmordversuch, den Valerio verhindert  – denn für ihn mit seinem starken Lebensgeist entspricht dieser Versuch einer „Lieutenantsromantik“ (DKV 1,119) –, erschafft sich Leonce zu neuem und vollerem Leben. Der Augenblick dieser zweiten Geburt initiiert die Selbst-„Erziehung“, die jener „Erzeugung“ folgt (DKV 1,104). Die Phasen der Ich-Findung sind dabei manchmal kurz, manchmal lang, verlaufen auch irritierend, weil sie sich der Erfahrung verwei37 Gemeint ist das ‚arme‘ Kind, dem Leid geschah aus Mangel an Zuwendung, sei es an Nahrung oder an Aufmerksamkeit.



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gern, wie es Valerio deutlich macht  : „Bin ich das  ? oder das  ? oder das  ? Wahrhaftig, ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern.“ (DKV 1,125)  – dies wird durch die Inschrift von Chamisso bereits antizipiert. Weil Leonce seinerseits in der Gegenwart ankommt, erlebt er, sein Ich ausbildend, die Gegenwart und die Vergangenheit, sich selbst und den anderen, die eigene Ganzheit und die des beseelten Ganzen (Dantons Tod). An diesem Wendepunkt greift Valerio, der Leonce am anderen Ende der sozialen Stufenleiter gegenübersteht, in die Erziehung entscheidend ein  : Es ist die Intervention Valerios, die bewirkt, dass ein Mehr an Individualität für Leonce möglich wird,38 woraufhin sein neues Werden dann die intentionale Utopie hervorbringt, die den Einzelnen und die Gemeinschaft, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst. Indem Valerio den Prinzen von seinem fatalen Vorsatz abhält, ermutigt er ihn, von einer individualistischen Romantik à la Werther mit der obligatorischen „gelben Weste“ und den zugehörigen „himmelblauen Hosen“ (DKV 1,119) Abschied zu nehmen. Es ist kein Zufall, dass Leonce, nachdem er seinem Sancho sui generis Folgendes zugestanden hat  :39 „Ich glaube halbwegs, du hast Recht“, zum ersten Mal in seinem Leben sich etwas ganz Unprätentiöses erhofft  : „Der Himmel beschere mir einen recht gesunden, plumpen Schlaf.“ (DKV 1,119) Nach der „Erzeugung“ schreitet die „Erziehung“ (DKV 1,104) sichtlich fort. Dank Valerios List werden Leonce und Lena dem Hofstaat als „zwei weltberühmte[] Automaten“ (DKV 1,125) vorgestellt, als hoffähiges Spektakel  – genauso wie dies später mit der „Drehorgel“ geschieht, „auf der die milchweißen ästhetischen Spitzmäuse herumhuschen“ (DKV 1,128), die Leonce als Beispiel eines sinnlosen Lebens abtut. König Peter, der gerade den „festeste[n] Entschluß“ (DKV 1,123) gefasst hat, sich zu freuen  – „wollte mich freuen volle zwölf Stunden“ (DKV 1,124)  –, muss die Hochzeit ‚in effigie‘ beschleunigen, damit er sein „königliches Wort“ (DKV 1,124) nicht bricht  : „[…] hurtig, Herr 38 Auch bezüglich der Liebe zu Lena spottet Valerio über die Arroganz von Leonce oder „von Leuten, die sich einbilden, daß nichts so schön und heilig sei, daß sie es nicht noch schöner und heiliger machen müßten“ (DKV 1,120) – die Kritik leitet Büchner an das Junge Deutschland und an Gutzkow weiter, von dessen Thesen in Sache Ehe er sich in einem Brief an die Eltern vom 1. Januar 1836 distanziert (DKV 2,422–423). Auch definiert Valerio, „[s]ehr human und philobestialisch“, den Rest von romantischem Voluntarismus, den Leonce offenbart, indem er Lenas Namen nicht kennen will. Der Prinz entgeht noch dem Kontakt mit der Wirklichkeit, so dass Valerio ihm klarmacht  : „[…] sie ist überhaupt etwas, wenn das nicht schon zu unzart ist und nach dem Signalement schmeckt.“ (DKV 1,120) 39 Siehe Jürgen Schröder, Leonce und Lena. Das Lustspiel als Kehrform des Büchnerschen Dramas. Diss. Freiburg i. B. 1961, S. 173–174.

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Hofprediger  !“ (DKV 1,126) Während Leonce nach der Zeremonie die Maske selbst ablegt, wird sie der Prinzessin von der Gouvernante abgenommen. Auch auf den Dialog der beiden jungen Protagonisten ist zu achten  : Leonce Lena  ? Lena Leonce  ?

Leonce Ei Lena, ich glaube, das war die Flucht in das Paradies. Lena Ich bin betrogen.

Leonce Ich bin betrogen. Lena O Zufall  !

Leonce O Vorsehung  !

Valerio Ich muß lachen, ich muß lachen. Eure Hoheiten sind wahrhaftig durch den

Zufall einanderzugefallen  ; ich hoffe, Sie werden dem Zufall zu Gefallen – Gefallen aneinander finden. (DKV 1,127–128)

In der Tat ist dieser Fall beispielhaft, wie die Gouvernante, als geistig weniger bemittelte Entsprechung Valerios, prompt verkündet, indem sie  – von dieser einzigartigen Fügung der Ereignisse ganz hingerissen  – meint, nicht umsonst gelebt zu haben  : „Daß meine alten Augen endlich das sehen konnten  ! Ein irrender Königssohn  ! Jetzt sterb’ ich ruhig.“ (DKV 1,128) Das Exempel eines vor dem Thron fliehenden Prinzen, der sich auf die Suche nach individueller Freiheit begibt – worin offenkundig politischer und sozialer Sprengstoff liegt –, ist beispiellos. Aus diesem Grund vermag der Handlungsverlauf hier das Paradigma eines ‚Lebens der vielen Möglichkeiten‘ zu vermitteln und gleichzeitig auf eine friedliche gesellschaftliche Umbildung vorauszuweisen  : mittels der Menschwerdung von zwei Personen, die unabhängig von Rolle, Rang und Reichtum sich gegenseitig auserwählen, die Anerkennung ihrer Individualität praktizierend. Die weiteren gesellschaftlichen Folgen dieses ‚romantischen‘ Happy Ends – die im Zuge der Auflösung der Lustspielhandlung eine integrale Funktion einnehmen – werden noch zu verfolgen sein.

3. Die satirische Handlung  : die soziale Wirklichkeit und ihr Gegenentwurf

Die individuelle Revolution, Ergebnis der ‚privaten‘ Handlung, setzt sich mit der sozialpolitischen Entscheidung, ein „Ländchen“ (DKV 1,129) nach dem Modell des Neapel der Lazzaroni zu gründen, fort, spiegelt sich aber ebenso wider



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in Valerios Absicht der Veröffentlichung eines Dekrets, das Krankheit und Tod als Folge von Arbeit abschafft. Ein gesellschaftlicher Gegenentwurf verspricht durch den angehenden Staatsminister Gestalt anzunehmen, der in der u-topischen Maßgabe eines in seinen jeweiligen Begabungen voll entfalteten Individuums wurzelt. Auch aus Respekt gegenüber dem „Leben des Geringsten“ (DKV 1,234), wie es im Lenz heißt, will der ‚neue‘ Leonce nicht darauf verzichten, seine vielfältigen Möglichkeiten auszuloten. Vom Neapel der Lazzaroni ist in Leonce und Lena zwei Mal die Rede  : erstmals nach der Begegnung zwischen Leonce und seinem Alter Ego, und dann nochmals kurz bevor der Vorhang fällt. Im Zuge der ersten Erwähnung in I,3 äußert Leonce sich zu seinem Vorhaben der Flucht nach Neapel, dem Valerio sofort zustimmt  : Leonce […] Ah Valerio, Valerio, jetzt hab’ ich’s  ! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden  ? Fühlst du nicht, wie der tiefblaue, glühende Äther auf und ab wogt, wie das Licht

blitzt von dem goldnen, sonnigen Boden, von der heiligen Salzflut und von den Mar-

mor-Säulen und Leibern  ? Der große Pan schläft, und die ehernen Gestalten träumen

im Schatten über den tiefrauschenden Wellen von dem alten Zauberer Virgil, von

Tarantella und Tambourin und tiefen, tollen Nächten voll Masken, Fackeln und Guitarren. Ein Lazzaroni  ! Valerio  ! Ein Lazzaroni  ! Wir gehen nach Italien. (DKV 1,108)

Es ist offensichtlich, dass das Projekt anfangs noch in einer engen Beziehung zur „Lieutenantsromantik“ steht (DKV 1,119), die es Leonce erst nach dem Wendepunkt der Handlung zu überwinden gelingt. Aber darauf werden wir später zurückkommen. In der Komödie ist es vor allem das Thema der Langeweile, des ennui oder taedium vitae, das dominiert. Die Langeweile basiert in Leonce und Lena auf beklagenswerten individuellen wie sozialen Voraussetzungen. Die ersteren betreffen das Wesen der menschlichen Existenz, die Lena mit der Bemerkung anspricht, dass es Menschen gebe, „die unglücklich sind, unheilbar“ (DKV 1,117) – die letzteren verweisen auf die inhumanen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen sowie auf die autokratische „Natur der Macht“40 als Merkmale einer historischen Wirklichkeit, die sich nicht eingrenzen lässt auf die Zeit von Büchner.41 40 Vgl. Simone Weil, Non ricominciamo la guerra di Troia. In  : Sulla guerra. Scritti 1933–1943. Mailand 2005, S. 55–74, hier  : S. 71. 41 Auch die Figuren des Danton und Lenz thematisieren die Langeweile und relativieren so ihrerseits die soziologische Typisierung der Prinzen-Gestalt.

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Angesichts ihrer allgemeinen Voraussetzungen ist die Langeweile das Ergebnis der mangelnden Entwicklung der Möglichkeiten des Einzelnen und damit die Folge fehlender echter, persönlicher Motivation zum Handeln. Dies führt dazu, dass die Menschen „immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen“42 machen – so die Beschreibung von Rotpeter, dem Ethnologen und Affen aus Ein Bericht für eine Akademie, der seinerseits durch Nachahmung zum Menschen wird. Mithin erscheint das Menschenvolk dem Affen oft so, „als wäre es nur einer“.43 Auch die sozialen Typen in Leonce und Lena erleiden diese bestürzende Verarmung im Bereich des Menschlichen. Sie handeln nach dem Prinzip der Anpassung, ordnen sich in vorherbestimmte Fächer, Rollen und Funktionen ein, höchst ähnlich den Marionetten oder Automaten, von denen regelmäßig die Rede ist. Eben dieses Dilemma spricht Leonce in der Eröffnungsszene an  : Leonce […] Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus

Langeweile treiben  ! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Lan-

geweile, und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern,

ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese

Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im

Grunde nichts als raffinierte Müßiggänger. – Warum muß ich es grade wissen  ? (DKV

1,96)

Auf der Grundlage solcher Beobachtungen stellt sich die Brüderschaft mit Valerio, seinem wissenden ‚Halbbruder‘, sofort her. Zwar wurde die Szene der versuchten Festnahme gestrichen, doch ist es, als ob sich mit dem Augenblick des Kennenlernens das Geheimnis ihrer ‚gefährlichen‘, nonkonformistischen Individualität bewahre  :

42 Vgl. Franz Kafka, Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Hg. von Roger Hermes. 7. Aufl. Frankfurt a. M. 2002, S. 328. 43 Vgl. Kafka (2002), S. 328. – Siehe zu diesem einzigen archimedischen Punkt in Kafkas Werk  : Simonetta Sanna, Franz Kafka. Roma 2013. In der Verteidigung der Eigentümlichkeit laufen seine grundlegenden Sorgen um die Bestimmung des Menschen, sein Schicksal, aber ebenso um seine eigenen gesellschaftlichen und politischen Anliegen zusammen. So ist auch in Büchners Leonce und Lena die Flucht nach Neapel oder die Errichtung von Neapel im eigenen Heimatland als Ergebnis der Geburt eines neuen Individuums zu verstehen.

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Leonce Wie der Mensch läuft  ! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte laufen machen.

Valerio, etwas betrunken, tritt auf.

Valerio stellt sich dicht vor den Prinzen, legt den Finger an die Nase und sieht ihn starr an  : Ja  !

Leonce eben so  : Richtig  !

Valerio Haben Sie mich begriffen  ?

Leonce Vollkommen. (DKV 1,96–97)

Und selbst wenn der Prinz und der Flüchtling sich nicht ‚vollkommen begriffen‘ hätten, reichte ihr gemeinsames Eintreten gegen krankmachende Arbeit für ein Bündnis aus. Deswegen kann es einen nicht verwundern, dass in der Phase der Auflösung der Bereich der Arbeit ex positivo in das Neapel-Motiv übergeht  : Valerio mit Würde  : […] Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat

noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit […].

Leonce mit komischem Enthusiasmus  : Komm an meine Brust  ! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die

Heerstraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olympus treten  ? Komm  ! Komm  ! (DKV 1,98)

Die beiden männlichen Protagonisten gehen „Arm in Arm ab“, während Valerio das Lied von der „Fleig’ an der Wand“, eine scheinbare frivole Volksweise, hinter der sich jedoch ein Lied der Revolution verbirgt, singt (DKV 1,98) – ein weiterer Aspekt, der auf die gemeinsame Opposition zielt, auf ihren Ungehorsam.44 Der Enthusiasmus, mit dem Leonce reagiert, weist auf die Worte von Camille in Dantons Tod zurück. Dieser sprach unter Berufung auf Heine, Goethe, Diderot und Sappho von „nackte[n] Götter[n], Bacchantinnen, olympische[n] Spiele[n], und melodische[n] Lippen“ (DKV 1,15–16) und stellte dem Hedonismus bzw. Epikureertum die Askese bzw. den Stoizismus gegenüber  : den Griechen die Römer, der Freiheit bzw. dem Chaos die Mechanik bzw. das System (inklusive der Natur der Uniformen). In Leonce und Lena 44 Vgl. E[rnst] Theodor Voss, Arkadien in Büchners Leonce und Lena. In  : Georg Büchner. Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Beiträge zu Text und Quellen. Hg. von Burghard Dedner. Frankfurt a. M. 1987, S. 275–436, hier  : S. 354.

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ist es der Gegensatz zwischen „blühenden Leibern“ (DKV 1,98), die vorerst übermenschlich erscheinen, und den vor Überarbeitung kranken Körpern, der aufscheint. Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts wird ein derartiges Thema von Heiner Müller behandelt, der in Der Lohndrücker und Die Bauern die sozialistischen Arbeitsbedingungen hinterfragt   : Diese führen noch immer zu Krankheit und manchmal zum Tod, so dass der Schriftsteller die bestehende Schlichtung des Missverhältnisses zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und dem Fortschritt der Geschichte verwirft.45 – Dies spricht bereits Büchner als zentrales Dilemma an. In der letzten Handlungsphase erscheint das Neapel-Thema in gewandelter Gestalt. Es handelt sich nicht mehr darum, nach Neapel zu fliehen, sondern um die Zielsetzung, das Schlaraffenland in das kleine nördliche ‚Ländchen‘ zu tragen, mitsamt seinem ewigen Frühling. In der Phase des utopischen Happy Ends und einer neuen Zeit, die die ewige Wiederkehr des immer Gleichen zu verhindern trachtet, verweist die Gründung eines Staates nach dem Modell der neapolitanischen Lazzaroni und Masaniello nicht länger auf einen romantischen Antikapitalismus, der etwa in Joseph von Eichendorffs dramatischer Satire Krieg den Philistern (1824) beschrieben wird  : in der provokanten Gestalt einer scheinbar „verkehrten Welt“, die auch ganz anders sein kann, „als wir es uns hier in der Mühle gedacht, ich plötzlich gesund und gescheit und Ihr alle verrückt“, wie der Narr vermutet.46 – Mit Büchner zeigt sich bereits zwei Jahre vor dem Erscheinen des Taugenichts eine konträre gesellschaftliche Option. Der Wendepunkt der privaten Handlung – Selbstmordversuch bzw. Neugeburt (II,4) – berührt auch die der Öffentlichkeit. Die Integration des Romantischen wie des Satirischen im Politischen führt zur gemeinsamen Auflösung der zwei Sequenzen im dritten Akt. Die Nutzung der Individualität mit ihren vielschichtigen Begabungen ist die Voraussetzung für die Entwicklung einer emanzipierten und menschlichen Gesellschaft. Tatsächlich ist die Wiederaufnahme der Neapel-Thematik jetzt mit gesellschaftspolitischen Werten besetzt. Nach dem Erreichen „der vollständigen Ausprägung der menschlichen Persönlichkeit“ sind die Gestalten in der Lage, „alle konstituierten Privilegien“ fallen zu lassen.47 45 Siehe Simonetta Sanna, Inseln der Unordnung. Heiner Müllers Medea-Trilogie. In  : Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag. Hg. von Gabriela Scherer und Beatrice Wehrli. Bern [u. a.] 1996, S. 357–374. 46 Vgl. Joseph von Eichendorff  : Krieg den Philistern. Dramatisches Mährchen in fünf Abentheuern. Berlin 1824, S. 15. – Vgl. Voss (1987), S. 411. 47 Vgl. Gramsci (1958), S. 78.



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Damit werden sie zugleich befähigt, zu Hause ein ‚Ländchen‘ zu errichten, das die Gegenwart auf den Kopf stellt, wobei dies nur im U-Topos einer Theaterbühne oder auf den Seiten eines Buches geschieht. Natürlich verlangt es auch die geraffte Struktur des imposanten abschließenden Dialogs, den einzelnen Momenten, die darin mitspielen, besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Den Auftakt bildet der Rücktritt des Königs, der Leonce den Weg auf den Thron eröffnet. Eigentümlicherweise nimmt sich der Prinz jedoch die Zeit, sich den Anwesenden zuzuwenden  : „Ihre Stellung ist so traurig, daß wir um keinen Preis ihre Standhaftigkeit länger auf die Probe stellen möchten.“ (DKV 1,128) Er ruft sie auf, „Reden, Predigten und Verse nicht“ zu „vergessen“, „denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemütlichkeit den Spaß noch einmal von vorne an“ (DKV 1,128).48 Leonce wendet sich nicht nur an die Herren und Damen auf der Bühne, sondern ebenso an die Zuschauer im Publikum  – nach einem Brauch, den bereits Shakespeare einführte. Büchner bricht die theatralische Illusion auf – mit der Absicht, dass die Aktion nicht im Theater ende. Dagegen fordert er von den Zuschauern, dass sie auf die „Standhaftigkeit“ verzichten mögen, mit der sie ihre Subordination gewöhnlich ertragen  : Sie sollen aufhören, die Zähne zusammenzubeißen, und nicht mehr in ihrer bisherigen untergeordneten Stellung verharren, sondern sich auf den Weg machen  – auf die Suche nach einer anderen Zeit, die die Rückkehr des immer Gleichen ausschließt.  – Seine Rede ist auffallend zusammengedrängt, sicher auch deshalb, weil Büchner sie unlängst mitten in Dantons Tod platziert hatte, als verborgenen Kern der Handlung.49 Der Appell an das Publikum bildet jedoch die Voraussetzung für die Vermittlung des utopischen Entwurfs, der Leonce und Lena beschließt. Nachdem sich „[a]lle entfern[t]“ haben, „Leonce, Lena, Valerio und die Gouvernante ausgenommen“ (DKV 1,128), wendet sich Leonce an Lena, die nunmehrige Königin  :50 48 Das „Auf Wiedersehen“ (DKV 1,128) kann auf die ewige Wiederkehr des stets Gleichen verweisen, doch auch – wie ich meine – auf die Beschleunigung der Zeit, eine Thematik, die auch in Leonce’ 24-stündiger Flucht gestaltet ist. Am Tag zuvor flüchtet der Prinz noch, den Tag darauf ist er bereits zurück, um die Dinge zu verändern. Anders gesagt, hat er gelernt, dass man seine Zeit auch nutzbringend verwenden kann. 49 Siehe zum Problem der Überführung der Zirkularität der Zeit in eine neue Linearität, die das Resultat eines neuen „hergestellten Bewusstseinsinhalts“ sein kann, so Lausberg (1963, 46)  : Sanna (2010). Eine neue Zeit entsteht aber auch in einem Rezeptionsprozess, der zur „Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk“ (DKV 2,440) beitragen will, wie Büchner es in Dantons Tod sich erhoffte und es in Leonce und Lena die Rede des Prinzen anspricht. 50 Siehe zum Hofzeremoniell, auf das sich hier Leonce implizit bezieht  : Jörg J. Berns, Zeremoniell-

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Leonce Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und

Spielzeug  ? Was wollen wir damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen

und ihnen Säbel anhängen  ? Oder wollen wir ihnen Fräcke anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie treiben lassen, und uns mit dem Mikroskop daneben setzen  ? […] Wollen wir ein Theater bauen  ?

Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf.

Aber ich weiß besser, was du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten, und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte

und Frucht. Und dann umstellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es keinen

Winter mehr gibt, und wir uns im Sommer bis Ischia und Capri hinaufdestillieren, und das ganze Jahr zwischen Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer stecken.

Valerio Und ich werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, daß, wer sich

Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird  ; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist  ; daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße

seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich

erklärt wird  ; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni,

Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine komm‹o›de

Religion  ! (DKV 1,128–129)

Zu Anfang listet Leonce einige sinnlose Handlungen auf, die den bisherigen Status quo verewigten. Seine Rede ist durch Lena unterbrochen, die sich „an ihn“ „lehnt“ und „den Kopf “ „schüttelt“ (DKV 1,128). Lena gibt ihr ‚Nein‘ durch eine einfache Geste kund, die an den kreatürlichen, wortlosen Schrei von Lucile erinnert, der wiederum in einem asymmetrischen Verhältnis zum Schrei des ‚Ja‘ durch Robes­pierre, St.  Just, die Massen und nicht zuletzt Danton steht. Und Leonce begreift Lena vollkommen, so, wie er anfangs Valerio begriffen hatte (vgl. DKV 1,97). Sodann greift Leonce das Thema Neapel nochmals auf, aber jetzt unter verändertem Vorzeichen. Auf diesem Weg kehrt der Prinz auch zum Thema der Zeit zurück, dem schon seine Rede an die Öffentlichkeit galt. Weil der Melancholiker im Allgemeinen gegen Saturn bzw. Chronos kämpft,51 speist sich auch Leonce’ Fehde gegen die Uhr – die in ihrer Bedeutung der Zeitlichkeit sogar die kritik und Prinzensatire. Traditionen der politischen Ästhetik des Lustspiels Leonce und Lena. In  : Dedner (1987), S. 219–274. 51 Vgl. hierzu Voss (1987), S. 327. – Siehe zum Motiv in Shakespeare As You Like It ebenfalls  : Voss (1987), S. 372–373.



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Freude des Königs Peter bestimmte –, und zwar aus kollektiven Belangen  : Leonce protestiert gegen die Arbeitszeit, die auf die zweite industrielle Revolution zurückgeht und den Einzelnen nun der Produktion opfert, mitsamt seinen je eigenen Begabungen. Die Abschaffung der Tyrannei der Uhr, die erst eine Anpassung an die Rhythmen der Natur ermöglicht, vollzieht sich im Rahmen der genannten Übertragung des „ewigen Kalender[s]“ (DKV 1,120) Neapels nach Norden, in den Zwergstaat, wo ein ‚Ländchen‘ von „Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer“ (DKV 1,129) entstehen soll. Aber darüber hinaus soll es im Heimatgebiet auch ein soziales Schlaraffenland geben, nach dem Leitsatz ‚dove chi più dorme più guadagna‘, der bedeutet  : Je mehr einer schläft, desto mehr verdient er – einem Motto, das bereits in einem italienischen Bilderbogen aus dem 16.  Jahrhundert dargestellt wird. Dass diese Option  – einen deutschen Kleinstaat nach dem Vorbild von Neapel zu errichten – nicht in erster Linie aus schwärmerischen privaten Wünschen resultiert, sondern aus einem veritablen Reformvorhaben, das die Gemeinschaft angeht, ist nicht zu verkennen. Ein Missverständnis zu vermeiden, ist nunmehr die Sache Valerios, dieses Kampfgefährten des Leonce am anderen Ende der sozialen Stufenleiter. Obwohl er als Sprachrohr eines utopischen Gegenentwurfs fungiert, bleibt Valerio in gewissem Sinn bodenständig. Er lobt jetzt nicht mehr den Müßiggang, sondern beabsichtigt, ein Dekret zu erlassen, das verhindert, dass „reine[] Stirne“ und „blühende[] Leiber[]“ (DKV 1,98) sich „krank arbeite[n]“ (DKV 1,129). Demnach dürfen sich Menschen in ihrer Arbeit nicht abnutzen, als wären sie überstrapazierte Zahnräder. In Übereinstimmung mit Leonce preist auch Valerio das Land Cuccagna, das allen Bürgern „Makkaroni, Melonen und Feigen, […] musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine komm‹o›de Religion“ gewährt (DKV 1,129). Valerio greift jedoch nicht allein auf eine pluralistische Konzeption des Staates zurück, die Camille in der Eröffnungsszene mit den Worten vorstellte  : „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt“ (DKV 1,15), sondern der neuartige Minister zitiert auch vor allem Heine, etwa das Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen, dessen Sensualismus Büchner schon in Dantons Tod aufgegriffen hatte  : Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich Euch dichten  ! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten. […]

Verschlemmen soll nicht der faule Bauch / Was fleißige Hände erwarben. […]

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Es wächst hienieden Brot genug / Für alle Menschenkinder, / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, / Und Zuckererbsen nicht minder.52

So vermag Wilhelm Schulz mit Blick auf Camille zu behaupten, dass dessen grenzenlose Utopie der Auffassung Büchners entspricht.53 In Büchners Revolutionsdrama aber ist diese Auffassung weit entfernt von den Verhältnissen, die das Jahr 1794 kennzeichnen, so dass Danton nicht umhin kann, mit gesundem Realitätssinn zu fragen  : „Wer soll denn all die schönen Dinge ins Werk setzen  ?“ (DKV 1,16) Als Autor von Leonce und Lena nimmt sich Büchner die Freiheit, sie wortwörtlich ‚ins Werk zu setzen‘, wie er in einem Brief von 1833 schreibt  : Ein Gesetz, das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden Vieh macht, um die

unnatürlichen Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu

befriedigen  ? […] dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und der

gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann. (DKV 2,366–367)

Diesen Kampf führt er in Leonce und Lena fort, mit der Kraft einer euphorischen Phantasie. Büchner hat eine poetische Gegenwelt konzipiert, in der das apodiktische Prinzip der sogenannten ‚Gesundheit‘ Züge des Wahnsinns offenbart, die das individuelle wie kollektive Dasein betreffen. Nicht umsonst wählte er folgendes Epigraf für den ersten Akt aus  : „‚O wär’ ich doch ein Narr  ! / Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke.‘ Wie es Euch gefällt.“ (DKV 1,95) Überdies ist das Gesetz, das dem Recht und der „gesunden Vernunft“ zuwiderläuft (DKV 1,98), nicht nur das des deutschen Partikularabsolutismus, sondern dieses liegt tiefer, ist im Wesen der Macht selbst begründet  : „Alle Absurditäten, welche die Geschichte wie ein langes Delirium erscheinen lassen, haben ihre Wurzel in einer einzigen grundlegenden Absurdität […].“54 In ihrer systemischen Vielschichtigkeit wurde diese „Absurdität“ für Büchner zum Anlass ihrer Darstellung. 52 Vgl. Heinrich Heine, Band 2  : Gedichte 1827–1844 und Versepen, bearb. von Irmgard Möller und Hans Böhm. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. 30 Bde. Berlin [u. a.] 1979, S. 297–356, hier  : S. 298. 53 Vgl. Wilhelm Schulz, Nachgelassene Schriften von G. Büchner (1851). In  : Georg Büchner und die Revolution von 1848. Hg. von Walter Grab. Königstein/Ts. 1985, S. 51–127, hier  : S. 70. 54 Weil (2005), S. 71.



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Die hässliche soziale Wirklichkeit in Leonce und Lena, die Gegenstand der satirischen Komödie ist, wurde von der Kritik bereits ausgiebig betrachtet.55 Dennoch bleibt festzustellen, dass König Peter für die kritische Selbstbezogenheit aller Macht steht, dem Grundsatz von Louis XIV gemäß  : ‚l’état c’est moi‘. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Duodezfürstentum handelt, dessen Grenzen aus einem einzigen Fenster des Palastes zu erkennen sind.56 Die augenfällige Lächerlichkeit von alledem wird mit den Namen der Fürstentümer – Pipi und Popo  – auf die Spitze getrieben, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem hessischen Darmstadt erkennen lassen.57 Zementiert werden soll die Macht durch die systematische Philosophie der maîtres à penser, die oft weit weniger aufmerksam ausgesucht sind als jene Autoritäten, die König Peters Regierung stützen. Darunter befindet sich nichts Geringeres als Hegels Konzeption des Staates, Spinozas Substanzbegriff, Descartes’ und La Mettries Rationalismus, Kants Kategoriensystem und Fichtes Ich-Begriff.58 Die Beamten dagegen entsprechen der ihnen zugedachten Aufgabe, den Souverän in seinen Gefühlen und Gedanken zu bestätigen  :59 „Peter […] O ich bin außerordentlich froh  ! / Pr äsident Wir teilen sämtlich die Gefühle 55 Wie Wetzel bemerkt, hat gerade die Beliebtheit der satirischen Szenen beim Publikum in den späten siebziger Jahren die vorzeitige Absetzung vom Spielplan bewirkt, sowohl in der Ostberliner Volksbühne als auch in Prag  : Heinz Wetzel, Das Ruinieren von Systemen in Büchners Leonce und Lena. In  : Georg Büchner Jahrbuch 4 (1984), S. 154–166, hier  : S. 164–165. Das Bukarester Nationaltheater, das im Oktober 1979 in der Westberliner Akademie der Künste zu Gast war, hat ausgerechnet die Bauernszene weggelassen, da sie beim Publikum einen Skandal auszulösen drohte. 56 So schreibt Büchner am 15. März 1836 an die Eltern  : „Es ist doch im Ganzen ein armseliges, junges Geschlecht, was eben in ‹Darmstadt› herumläuft und sich ein Ämtchen zu erkriechen sucht  !“ (DKV 2,431) 57 Vgl. Büchner (2003), S. 182. 58 Siehe Gérard Raulet, Der König ist nackt. Identitätskrise, Identitätskritik und Ablehnung der Surrogatidentitäten in Büchners Dantons Tod und Leonce und Lena. In  : Identitätskrise und Surrogatidentitäten. Zur Wiederkehr einer romantischen Konstellation. Hg. von Cornelia Klinger und Ruthard Stäblein. Frankfurt a. M. [u. a.] 1989, S. 273–292  ; Friedrich Vollhardt, „Unmittelbare Wahrheit“. Zum literarischen und ästhetischen Kontext von Georg Büchners Descartes-Studien. In  : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 35 (1991), S. 196–211 u. Peter Horn, Der mechanische Materialismus und die Sinnlosigkeit der Welt in Büchners Leonce und Lena. In  : Georg Büchner. Hg. von Barbara Neymeyr. Darmstadt 2013, S. 104–119. – Siehe auch Büchner (2003), S. 444–449. 59 Valerio, der von seinen vielen Masken spricht, verbittet sich den Blick der Hofleute, denn er vermeint, dadurch den Sinn für seine Individualität einzubüßen  : „Aber, meine Herren, hängen Sie alsdann die Spiegel herum und verstecken Sie Ihre blanken Knöpfe etwas und sehen Sie mich nicht so an, daß ich mich in Ihren Augen spiegeln muß, oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, was ich eigentlich bin.“ (DKV 1,125) Andernfalls fühlte er sich verdinglicht, nicht mehr als vollwertige Person.

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Eurer Majestät, so weit es für Untertanen möglich und schicklich ist.“ (DKV 1,124)60 Auch die Untertanen im weiteren Sinn „denken nicht, sie denken nicht“ (DKV 1,98), wie Peter sagt, so dass sie ebenfalls ein gefügiges Werkzeug in seinen Händen sind, der Obhut von Staatsangestellten, vom Schulmeister bis zum Landrat, überantwortet. Wenn sie nicht in den Krieg geschickt werden, können sie sich von den Brosamen ernähren, die von den reichen Tischen fallen, oder sie begnügen sich damit, am Bankett mit der Nase teilzunehmen, wie die Bauern im dritten Akt  : „Erkennt, was man für euch tut, man hat euch gerade so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht und ihr auch einmal in eurem Leben einen Braten riecht.“ (DKV 1,121) Somit lautet während des Festprogramms die Parole  : „Macht uns keine Schande.“ (DKV 1,121) Einen passenden Kommentar – „das Volk klatscht und bezahlt“ – schrieb Büchner im Dezember 1832 an die Familie, der sich auf ein historisches Ereignis bezog, das er eine „Komödie“ nannte (DKV 2,365).61 Zu guter Letzt mag das „Vivat“ der Bauern aus dem Lateinischen stammen, doch in der Sprache des einfachen Volkes klingt es wie die Fragepronomen ‚wie‘ und ‚was‘ bzw. ‚wat‘, so dass die Szene zur Satire wird  : Schulmeister […] Könnt ihr noch eure Lektion  ? He  ! Vi  !

Die Bauern Vi  !

Schulmeister Vat  !

Die Bauern Vat  !

Schulmeister Vivat  !

Die Bauern Vivat  !

Schulmeister So Herr Landrat, Sie sehen, wie die Intelligenz im Steigen ist. Bedenken Sie, es ist Latein. (DKV 1,121–122)

Die dargestellte Realität bietet hinreichend Gründe, „mit Mund und Hand dagegen“ zu „kämpfen“ (DKV 2,367). Im Februar 1834 schreibt Büchner an die Familie, die gehört hat, er sei arrogant und abweisend  : „Die Leute […] vertragen es nicht, daß man sich als Narr produciert und sie dutzt  ; sie sind Verächter, 60 Die Reduzierung der ‚Möglichkeit‘ auf die ‚Schicklichkeit‘ in den Antworten des Präsidenten spricht für sich (DKV 1,123–124). – Vgl. zu den Rollen im Staat den Hessischen Landboten  : Ein Minister ist „nur eine Drahtpuppe, an der die fürstliche Puppe zieht und an dem fürstlichen Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder ein Kutscher oder seine Frau und ihr Günstling, oder sein Halbbruder – oder alle zusammen“ (DKV 2,57). 61 Siehe auch den Brief vom 4. Dezember 1831 (DKV 2,357–358).



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Spötter und Hochmütige, weil sie die Narrheit nur außer sich suchen.“ (DKV 2,379) Er selbst gesteht sich die Freiheit zu, „Liebe“ zu fühlen, aber auch „Hass“, der vor allem gegen die geht, die „die große Masse ihrer Brüder ihrem verachtenden Egoismus opfern“  : „Der Aristocratismus ist die schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen  ; gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen  ; Hochmut gegen Hochmut, Spott gegen Spott.“ (DKV 2,379) Ein adäquates Kampfmittel findet der Autor in der sozialen und politischen Satire auf die Gegenwart, so führt er den Kampf gegen die Herrschenden mit deren eigenen Waffen. Das ist das Motiv, das Büchner in den satirischen Szenen von Leonce und Lena verwendet, zusammen mit einer Komik, die in der ‚romantischen‘ Handlung in einen hohen Stil eingeht, dessen Funktion darin besteht, die Geburt eines neuen Individuums zu beschreiben. In der Absicht, den Sinn der Komödie freizulegen, haben wir eine Argumentation entwickelt, die eine beträchtliche Anzahl aufschlussreicher Details einbezieht und das Werk dadurch kohärent und zugleich komplexer erscheinen lässt. Die traditionellen Stränge der Rezeption hatten das Lustspiel entweder als Satire verstanden, die Geburt eines neuen Individuums vernachlässigend, oder als eine romantische Komödie, losgelöst von ihren sozialen Implikationen. Erfasst man das Werk jedoch in seiner Ganzheit, erkennt man unschwer die Vielzahl an Perspektiven, mit denen der Möglichkeitssinn repräsentiert wird. So bleibt festzustellen  : Bei Leonce und Lena handelt es sich um eine gleichermaßen politische wie gesellschaftliche Satire, denn der sinnlosen Wirklichkeit (die aus der Perspektive des Einzelnen als Ursache von Langeweile und Melancholie aufscheint) wird eine ästhetische Gegenwelt gegenübergestellt, die im ethischen Sinn gut und gerecht ist. Es ist eine romantische Komödie, die die Möglichkeit, dass die Liebe uns zu besseren Menschen macht, mit einschließt, womit sich die Chance eröffnet, die Welt zum Besseren zu verändern. Das Werk ist gewissermaßen auch poésie pure, weil es dem Theater und dem Sprachspiel die Möglichkeit gibt, eine freudigere Zukunft vorwegzunehmen. Es ist möglicherweise auch eine närrische Geschichte, die den Zuschauer in ein Spiegelkabinett oder in ein Puppenhaus führt, um dessen Bewusstsein ob der Vielzahl an Alternativen zu ‚verwirren‘,62 so dass alles offen, wie in einem ewigen Tanz, verbleibt, alles in ­einem ewigen ‚Lauf/en‘ (DKV 1,139) – um auf Valerios Lebenslauf zurückzugreifen. Es ist andererseits eine Guckkastenbühne aus feinem Pappkarton, auf der beispielhafte Figuren auftreten, die entweder soziale Typen sind oder rare 62 Von „Verwirrung“ spricht der König im Zuge der Begegnung mit Valerio (DKV 1,125).

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Individuen. Zum Teil inszeniert das Werk auch ein Theater des Absurden, da es eine auf den Kopf gestellte Welt zeigt – dies geschieht in der Absicht, diese neu zu kreieren, und sei es nur in einer Fantasiewelt. In ihrer Gestaltungsweise verträgt die Komödie Leonce und Lena jede ‚Maske‘, die das geniale Individuum namens Georg Büchner ihr aufzusetzen für angebracht hielt  ; ein Autor, der hierbei sarkastisch und romantisch zugleich war, indem er auf die individuelle Eigentümlichkeit vertraute, aber ebenso die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Umgestal­tung propagierte, und dabei ohne Angst, er könnte sich „ganz auseinanderschälen und blättern“ (DKV 1,125).

4. Nachsatz zu Georg Büchner und zur Aufklärung von Gotthold Ephraim Lessing

Mit feinem Gespür hat Büchner von Lessing vor allem die Grundzüge moderner Wirkungsästhetik aufgegriffen. Wenn die Interpreten den diesbezüglichen Ähnlichkeiten ungenügend nachspürten, dann aus dem Grund, weil sie die Modernität, d. h. die Spannungsbeziehungen von Kräften und Gegenkräften, sowohl in Lessings Œuvre als auch im Werk Büchners, nur partiell erfassten  : Die kreative Lessing-Rezeption vonseiten Büchners, woraus tiefe Gemeinsamkeiten resultierten, blieb demzufolge unbeachtet. Die Interpreten haben bis in unsere Tage hinein Emilia Galottis Tod, der sich in der gleichnamigen Tragödie ereignet, als Akt der Selbstbestimmung und der Freiheit gedeutet  ; dagegen löst Büchner in Dantons Tod den ‚Fall Emilia‘ unbeirrter. Der Autor lässt den alten Simon erst feststellen  : „Ha Lucrecia  ! ein Messer, gebt mir ein Messer, Römer  ! Ha Appius Claudius  !“ (DKV 1,18), um eine Erwiderung vonseiten des Ersten Bürgers folgen zu lassen  : „Ja ein Messer, aber nicht für die arme Hure, was tat sie  ? […] Weh über die, so mit den Töchtern des Volkes huren  !“ (DKV 1,18) Es ist nicht zu verkennen  : Büchner verlagert das Motiv Virginia/Lucrezia von der individuell-moralischen Ebene auf die Stufe der historisch-sozialen Motivationen im Handlungsgefüge.63 Büchners Komödie belegt indes eine schöpferische Rezeption von Minna von Barnhelm. Auch Lessing entwickelte – wenngleich aus anderen Gründen – beispielhafte, synthetische Charaktere.64 Minna, die auf traditionelle Listen, ein63 Siehe Sanna (1988b) u. (1992b). 64 Wie ich in einigen Studien ausgeführt habe, thematisiert auch sein Lustspiel die Geburt des modernen Individuums und die Schaffung eines sozialen Kontextes, der die Bedürfnisse des Individuums zu verwirklichen erlaubt  : Sanna (1988a)  ; dies. (1992a)  ; dies., Streitkultur in Lessings Minna von



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schließlich des Rollentausches und der Ringintrige, zurückgreift, lenkt Tellheims Bildungsprozess, der sich in einer Reihe von Isotopien widerspiegelt, unter anderem durch das Lehren eines adäquaten Hörens und Sehens. Dieser Prozess zeichnet sich als Übergang von intellektueller Blindheit über Kurzsicht bis zur Weitsicht ab oder führt vom Wollen über das Können zum Müssen  – aber auch die Gestik ist betroffen  : in Form eines Wandels von der Starrheit zur Spontaneität. Die individuelle Entwicklung der Gestalten geht Hand in Hand mit ihrer ethisch-sozialen Stellungnahme. Die Entfaltung von Tellheims Individualität, die erst die Umsetzung existenzieller Interessen zulässt, geht mit Minnas Anreicherung der Innenwelt einher. In ihrer Selbstdarstellung begreift sich Minna als Trägerin von Gegensätzen, die sich jeder einseitigen, fest umrissenen Definition entziehen. Als Gegengestalt stellt Riccaut den konventionell eingeengten Typus des Höflings dar, dem in Emilia Galotti der Minister Marinelli exemplarisch vorsteht. Gemäß der Idee vom Automaten, die Valerio dem Hofe präsentiert, wiederholt Marinelli stereotype Antworten und inszeniert darüber hinaus eine Intrige  – als Handlung. Dieser ‚Unperson‘ stellt Lessing im gleichen Drama individuelle Gestalten gegenüber, so die Gräfin Orsina, die sich wie Valerio ‚aufzublättern‘ droht. Die Parallelen zwischen Leonce und Lena und Minna von Barnhelm, basierend auf der ethisch-sozialen Stellungnahme beider Werke, sind unverkennbar. So gelingt es dem sächsischen Fräulein, den König, den großen Friedrich  II. höchstselbst, um einen Offizier zu erleichtern (II,2) und den Herrscher – gleichsam als deus ex machina – zu entthronen. Sie ermöglicht es Tellheim, den Dienst am preußischen Hof zu quittieren, was sie andererseits aber nicht daran hindert, den Rückzug in das zeit- wie tatenlose Paradies einer abgekapselten Zweisamkeit als Option abzulehnen. Entscheidungen aus dem öffentlichen Bereich sind dies, die in keinem Einklang mit ihren individuellen ethischen Normen stehen. Letztlich reist Minna mit dem Major nach Thüringen ab, wo der Wertegarant nicht der König und das höfische Dresden sind, sondern die bürgerlichen Stände und die benachbarte Stadt Leipzig (IV,6 u. 13). Die Lösung aus den höfischen Bindungen ermöglicht den Individuen moralische Selbständigkeit und eröffnet ihnen die Chance, sich lebensfeindlichen sozialen Alternativen zu Barnhelm. Minnas Fähigkeit vs. Franziskas Unfähigkeit zum Streiten als Movens von Handlungsentwicklung und Konfliktlösung. In  : Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. von Wolfram Mauser und Günter Saße. Tübingen 1993, S. 444–456 u. dies., Lessings Minna von Barnhelm im Gegenlicht. Glück und Unglück der Soldaten. Bern [u. a.] 1994.

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entziehen. Doch im Rahmen einer realistischen Gestaltungsweise und infolge der Nichtexistenz einer neuen bürgerlichen Staatlichkeit  – die nicht nur die deutsche Geschichte betrifft  – erscheint es Lessing als unangemessen, mittels der bürgerlichen Stände eine konkrete politische Alternative aufzuzeigen. Eine letzte Gemeinsamkeit zwischen beiden Autoren betrifft das Überdenken der gattungsbildenden Gesetzmäßigkeiten. Eine Konstante bei Lessing ist die Vermischung der Gattungen. So verbinden sich in Nathan der Weise Elemente des Realismus mit denen des Märchens (III,6).65 Ähnlich wie der junge Büchner ist sich auch der Aufklärer der utopischen Implikationen, hier formuliert in lehrhafter Form, durchaus bewusst  : „[…] die Welt, wie ich mir sie denke, ist eine ebenso natürliche Welt, und es mag an der Vorsehung wohl nicht allein liegen, daß sie nicht ebenso wirklich ist.“66 Ganz analog hätte Georg Büchner diesen Satz für Leonce und Lena geltend machen können – nur öffnete Büchner in seiner schöpferischen Rezeption von Lessing das Ausmaß des Möglichen noch weiter, und er forcierte die aktive Rolle des Zuschauers, indem er ihn in das ‚dynamische System‘ seiner Werke einzubinden suchte.

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„Das frische grüne Leben“ – Georg Büchner als Naturwissenschaftler Georg Büchner als Naturwissenschaftler  ? Das war lange kein dringendes Thema in der Literaturwissenschaft.1 Lag das Desinteresse am vorzeitigen Ende von Büchners Forscherkarriere, am jähen Typhustod des 23-jährigen Dozenten im Februar 1837  ? Lag es an der baldigen Widerlegung seiner Anatomieforschung  ?2 Oder war es die vermeintliche Unvergleichbarkeit von wissenschaftlichem und literarischem Werk,3 die den Gedanken an Büchners Naturforschung kaum aufkommen ließ  ? Tatsächlich wusste man mit den Descartes- und SpinozaNotizen, mit Dissertation und Probevorlesung über Jahrzehnte hinweg nur wenig für die Deutung seiner literarischen Texte anzufangen.4 Dass sich der flugblattschreibende Aufrührer  – von der hessischen Polizei 1835 zur Fahndung ausgeschrieben – in seinem Straßburger Exil ausgerechnet mit dem Nervensystem von Rheinkarpfen, den sogenannten Barben, beschäftigte, widersprach dem Bild einer Büchner-Philologie, die das sozialkritisch Spektakuläre des radikalen Revolutionärs mit dem literarisch Außerordentlichen, dem Genialen und zukunftsweisend Modernen seines Werks verband. Als Avantgardist und Frühkommunist – so wurde er seinerzeit eingeschätzt.5 Von Ausnahmen abgesehen,6 kam gegen Büchners künstlerisches Renommee seine morphologische Untersuchung von Fischnerven nicht an. Erst der 1 Vgl. Roland Borgards, Naturwissenschaftliche Schriften. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 123–129, hier  : S. 129. 2 Die durch den Embryologen Thomas H. Huxley erfolgte (1859). – Vgl. hierzu Hermann Kurzke, Georg Büchner. Geschichte eines Genies. München 2013, S. 353. 3 Vgl. Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1972, S. 379. 4 Siehe Kurzke (2013), S. 350–366. – Kurzke bezweifelt u. a. bei Büchners Descartes- und SpinozaLektüren ein gezieltes Interesse an den philosophischen Gegenständen (362). Tatsächlich haben sie (s. u.) im wissenschaftlichen wie im literarischen Werk eine bedeutende und beide Schriftfelder miteinander verbindende Funktion. 5 Siehe Thomas M. Mayer, Büchner und Weidig – Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. In  : Georg Büchner I/II (= Text + Kritik, Sonderband). Hg. Heinz L. Arnold. München 1979, S. 16–298. 6 Siehe v. a. Jochen Golz, Die naturphilosophischen Anschauungen Georg Büchners. In  : Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena 13 (1964), S. 65–72  ; Georg Büchner  : Mémoire

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neuerdings interdisziplinär und wissensgeschichtlich interessierten Germanistik ist es zu verdanken, dass die französischsprachige Dissertation 1994 und 2008 ins Deutsche übertragen wurde (Döhner, Vering) und sich 2004 eine Monografie ausschließlich dem Wissenschaftler Büchner widmete (Roth). Seitdem mehren sich die Publikationen über Büchners naturwissenschaftliche Position7 und öffnen den Blick für die Eigentümlichkeit eines Forschungsstandpunkts, der in den kuranten Wissenschaftsdiskursen seiner Zeit durchaus nicht nahtlos aufging. Findet sich Büchners forscherisches Credo auch im literarischen Werk  ? Welche Folgen hätte dies für seine Deutung  ? Und welche Schlüsse ergäben sich aus der Verbindung von Naturwissenschaft und Literatur  ?

1. Wissenschaftliche Räsonnements

Im Frühjahr 1836 beendet Georg Büchner sein Studium in Straßburg mit einer Dissertation „Über das Nervensystem der Barbe“ („Mémoire sur le système nerveux du barbeau“). Empfohlen von seinen Professoren promoviert er kurz darauf an der soeben gegründeten Universität Zürich. Er überzeugt dort durch eine öffentliche Probevorlesung über Schädelnerven mitsamt einer wissenschaftskritischen Tour d‘ Horizon. Und bereits im Wintersemester 1836/37 hält er als Privatdozent ein Kolleg über „Zootomische Demonstrationen“, genauer  : über Fisch- und Amphibien-Anatomien anhand von Präparaten. Biologie nach 1830. Über das Revolutionsjahr 1830 äußert Goethe  : Er könne an nichts anderes denken als an diesen Streit. Er meint nicht den der Politik, sondern der Wissenschaft – den Akademiestreit zwischen George Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire, den Disput der beiden Naturforscher in der Pariser Académie des sciences.8 Cuvier verwies auf seine Ausgrabungen in dem von ozeanischen Einbrüchen und dem Wechsel mariner und terrarischer Organismen geprägten Pariser Becken und begründete damit kausal die Auffassung, sur le système nerveux du barbeau. Übersetzung von Otto Döhner mit Anmerkungen von Otto Döhner und Udo Roth. In  : Georg Büchner Jahrbuch 8 (1990–1994), S. 305–370 u. Walter Müller-Seidel, Natur und Naturwissenschaft im Werk Georg Büchners. In  : Festschrift für Klaus Ziegler. Hg. von Eckehard Catholy und Winfried Hellmann. Tübingen 1968, S. 205–232. 7 Vgl. die Bibliografien bei Borgards (2009), S. 129 u. Nicolas Pethes, Wissenschaftliches und literarisches Experiment. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 261–266, hier  : S. 266. 8 Vgl. Johann P. Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 1988, S. 646. – Siehe hierzu auch Toby A. Appel, The Cuvier-Geoffroy Debate. French Biology in the Decades before Darwin. Oxford 1987.



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dass die Lebewesen periodischen Naturkatastrophen unterworfen waren. Danach seien sie teils ausgestorben, teils unter anderen Umweltbedingungen neu entstanden. Zu erforschen gelte es daher den Zweck, die Daseins- und Überlebensfunktion der Organismen. Anders Saint-Hilaire. Er glaubte, mit seinen Beobachtungen analoger Naturerscheinungen die stetige und allmähliche Entwicklung der Lebensformen belegen zu können. Gegenstand der Forschung sei nicht die Frage nach den Voraussetzungen des Überlebens, nach dem Zweck der Lebensfunktionen, sondern die Suche nach dem Grundbauplan der Organismen, ihrem Urtypus, ihrer unité de plan. – Dort also, bei Cuvier, das funktionale Interesse am Leben, die Vorstellung von der Erhaltung des Lebens in den Revolutionen der Erdgeschichte dank der Wirkkraft seiner Organe, hier, bei Hilaire, die subjektive Ermittlung von Natur-Analogien, der spekulative Sinn für die Ganzheit und Selbstgesetzlichkeit des Lebens unbeschadet seiner Veränderungen. Keine Überraschung  : Der Revolutionsverächter und Augenmensch Goethe setzt nicht auf Cuvier, den Funktionalisten und Revolutionär der Paläontologie, sondern auf Saint-Hilaire, auf seine Evolutionsthese, seine anschauende Erkenntnis und Ganzheitsvorstellung.9 Wer überzeugte die Akademie, wer siegte im Disput  ? Es war Cuvier, einst Assistent Saint-Hilaires, jetzt aufgrund seines wissenschaftlichen Einflusses ‚Diktator der Biologie‘ genannt.10 Gleichwohl hätte sich sein kausal-analytisches Forschungsdenken im heraufziehenden Positivismus des 19. Jahrhunderts ohnehin durchgesetzt. Was aber den Akademiestreit um evolutionäre Ganzheit versus Zweckhaftigkeit bzw. um Entwicklung versus Umbruch der Natur betraf, so gewann ihn am Ende ein ganz anderer, einer, den 1830 noch niemand kannte, ein Theologiestudent aus Cambridge, soeben examiniert, nebenbei Hobbybotaniker. Als naturwissenschaftlicher Begleiter auf einem Vermessungsschiff brach Charles Darwin 1831 zu einer fünfjährigen Weltreise auf und kam zurück mit der Erkenntnis sowohl von der Evolution der Organismen als auch von der Überlebensnotwendigkeit ihrer zweckfunktionalen Ausstattung.11 Ohne sie in seiner Probevorlesung vom November 1836 in der ‚Aula academica‘ der Zürcher Hochschule zu nennen, nahm Büchner teil an der wissen  9 Siehe „Principes de Philosophie Zoologique“  : Johann W. Goethe, Band 13  : Naturwissenschaftliche Schriften I. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 1975, S. 219–250. 10 Siehe Olivier Rieppel, George Cuvier (1769–1832). Band 1  : Darwin & Co, eine Geschichte der Biologie in Portraits. Hg. von Ilse Jahn und Michael Schmitt. 2 Bde. München 2001, S. 139–156. 11 Siehe Eve-Marie Engels, Charles Darwin. München 2007.

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schaftsgeschichtlich bedeutsamen Kontroverse im Vorfeld von Darwins Evolutionstheorie. Denn seine Straßburger Lehrer, der Anatom George-Louis Duvernoy, ein Cuvier-Schüler, und der Physiologe Ernest-Alexandre Lauth, ein Anhänger Saint-Hilaires, vertraten selbst konträre Ansichten – Ansichten, die Büchner in seiner Probevorlesung als zwei unterschiedliche „Methoden“ bezeichnete, als „teleologische“ und als „philosophische“ Methode. Für die teleologische, die zweckorientierte Methode, der die Schule Cuviers zuzurechnen wäre, sei, so Büchner, jeder Organismus „eine verwickelte Maschine“  : Sie macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn, zu schützen […], das Auge zu einem complicirten

Glase, […] die Thräne ist nur der Wassertropfen, welcher es feucht erhält.12

Die Natur als Zweck. Woher die Auffassung  ? René Descartes hat sich, wie Büchner exzerpiert, in der Abhandlung „De homine“ (posthum 1662) den Organismus als Maschine vorgestellt, freilich bewegt von Gott oder der Seele (HA 2,179 u. 185). Seele – „ein leeres Wort“, entgegnet abschätzig um 1750 der Arzt Julian Offray de La Mettrie und nennt als Bewegungskraft der Menschenmaschine  – „L’homme machine“ (1747)  – allein die zweckhafte Funktion ihrer Organe  : Am hellen Tageslicht verengt sich die Pupille, um die Retina zu schonen. […] Die

Poren der Haut schließen sich im Winter maschinenmäßig, um die Kälte nicht in das

Innere der Gefäße eindringen zu lassen. […] Alle Schließmuskeln der Blase und des Mastdarms usw. funktionieren maschinenmäßig.13

Der Mensch als Maschine, die Natur als zweckhaft gesteuerter Mechanismus, die Welt als ein Räderwerk, das die Wissenschaft zerlegen und wieder zusammensetzen kann –, so erfährt der sich durch Descartes’ lateinische Schriften und Wilhelm Gottlieb Tennemanns „Geschichte der Philosophie“ (Bd. 10, Leipzig 1817) mühende Büchner die Teleologie des Lebens als eine Entdeckung des französischen Rationalismus. Und die Rede von den Ideen des Göttlichen und 12 Georg Büchner, Band 2  : Vermischte Schriften und Briefe. Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. von Werner R. Lehmann. 2 Bde. Hamburg 1971, S. 291. – Fortan wird nach dieser Ausgabe, unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl, mit HA zitiert. 13 [ Julien Offray de] La Mettrie, Der Mensch als Maschine. Mit einem Essay von Bernd A. Laska. Nürnberg 1985, S. 72.



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der Tugend in der Natur  ? Die sei, höhnt er, nur „das Maximum einer solchen Maschine“ (HA 2,291), sei nur die metaphysische Legitimation des ganzen funktional aufeinander abgestimmten Räderwerks. Entschieden verwirft er die teleologische Bewertung der Organismen nach deren Funktion und Zweck  : „Die Natur handelt nicht nach Zwecken […][,] sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.“ (HA 2,292). Also auch das menschliche Leben  ? Gewiss, sich das Leben zu nehmen, sei verwerflich, schreibt er bereits in einem Schulaufsatz  – nicht aus moralischem comme il faut, sondern aus Gründen der Missachtung der Natur  : „[…] denn in ihr liegt unsre Bestimmung.“ (HA 2,20)14 Er plädiert für die Zweckfreiheit der Natur. Vertritt er also die andere, die philosophische Methode zeitgenössischer Naturforschung  ? Es ist die Methode Saint-Hilaires, die Methode der Vergleichung aller Naturerscheinungen. Ihre zweckfreie Ganzheit gilt es, zu erkennen, die unité de plan. Hilaires Auffassung entspricht einem Grundgedanken der deutschen Naturphilosophie, den Goethe mit ihm teilt. Keine von außen herangetragene Zweckmäßigkeit und Funktionalität könne die Bestimmung und den Sinn des lebenden Organismus erfassen, heißt es in Goethes 1833 posthum erschienenem „Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“ (1795). Diese seien nämlich in ihm selbst enthalten  : „Wir denken uns also das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist.“15 Die teleologische Methode eines Cuvier und das Mechanismus-Denken der Aufklärung (Descartes, de La Mettrie) – sie sind einander verbunden. Aber auch die philosophische Methode Saint-Hilaires hat einen historischen, einen aufklärerischen Hintergrund. Goethe wie Büchner sind Kenner Spinozas, der ein Jahrhundert nach seinem Tod zum Stichwortgeber im Pantheismus-Diskurs des späten achtzehnten Jahrhunderts wurde  : ‚Deus sive natura est‘. Gott steht nicht über der Natur, sondern ist ihr gleich. „Alles, was ist“, zitiert Büchner aus Spinozas „Ethik“, „ist in Gott und kann nur durch Gott begriffen werden“  – der unteilbaren „Substanz“ (HA 2,251). Als Ausdruck dieses unteilbaren Ganzen beziehe jede Einzelheit, ob Idee, Gegenstand oder Vorgang, daraus ihren Wert und könne nicht in Zwecke aufgeteilt werden. Der Auffassung entsprach – in Spinozas Spur – die deutsche Naturphilosophie eines Goethe, Carus, Schelling, 14 Jedoch ist zu beachten  : „Der Selbstmörder aus physischen und psychischen Leiden ist kein Selbstmörder, er ist nur ein an Krankheit Gestorbner.“ (HA 2,22) 15 Goethe (1975), Bd. 13, S. 176. – Vgl. auch Goethes Aussage zu Spinoza  : „Jedes existierende Ding hat also sein Dasein in sich […].“  ; Goethe (1975), Bd. 13, S. 7.

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Hegel und Okenfuß, der sich des Fußes im Namen entledigt, Oken nannte und mit Goethe stritt, wer von beiden zuerst den Wirbel als die unité de plan, das Grundelement oder Urphänomen des Skeletts gefunden habe. Hier also, auf Seiten Hilaires, das evolutionstheoretische, spekulativ-philosophische, im deutschen Wissenschaftsdiskurs von Spinoza bestärkte Interesse an der Natur um ihrer selbst willen, dort, bei Cuvier, der materialistische Funktionalismus, der im Zeitalter der Dampfmaschine, des prosperierenden Bergbaus und der visionären Kanalprojekte um Panama, Rhein-Donau, Suez16 die Natur mehr denn je als Zweck-Nutzen-Gebilde begriff  : Die bemerkenswerten Blüten, die beide Parteien hervortrieben, sind bekannt. Da gab es einerseits als Ausdruck des mechanischen Funktionalismus die Automaten-Wesen, Jacques des Vaucansons fressende und verdauende Ente, Pierre Jacquet Droz’ blecherne Klavierspielerin oder Wolfgang von Kempelens ‚getürkten‘ Schachspieler,17 und da waren andererseits die Luftnummern der Naturphilosophie – Goethes Epiphanie des Urphänomens im Botanischen Garten von Palermo und am Strand von Venedig, seine Spontanvision des einheitlichen Bauplans, des elementaren Modells der Pflanzen und Tiere  : Blatt und Wirbel sind es. Schillers kritischen Einwand, das sei bloß eine subjektive Vorstellung, hätte mehr noch Friedrich Schelling verdient, der die „Natur“ als den „sichtbare[n] Geist“ bezeichnete, den „Geist“ als die „unsichtbare Natur“  : „Das letzte Ziel unserer weitern Nachforschung ist daher diese Idee der Natur […].“18 Vollends im Bereich der Spekulation bewegte sich der von Goethe geschätzte Physiker Johann Wilhelm Ritter  : „Der Samen ist die verkörperte Idee der Blüthe über sich selbst.“19 Und der Chemiker August Wilhelm von Hofmann meinte damals, der Schnupfen sei nichts anderes als das Zurücksinken des Menschen auf seinen Urtyp, das Schleimtier. Welcher Auffassung folgt der Biologe Büchner  ? Gewiss, er setzt auf die romantisch-philosophische Konzeption des Organischen20 – und dies sicher mit 16 Vgl. Eckermann (1988), S. 515. 17 Siehe Ulrich Ott (Hg.), Band 1  : Literatur im Industriezeitalter. 2 Bde. Marbach a. N. 1987, S. 13– 42. – Am Ende von Leonce und Lena entwirft Büchner bekanntlich eine Satire auf die kartesianische Mechanisierung des Menschen. 18 Friedrich Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur. Landshut 1803, S. 64. 19 Johann W. Ritter (Hg.), Band 2  : Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. 2 Bde. Heidelberg 1810, S. 104. 20 Der Schlusssatz der Dissertation ist eindeutig  : „Die Natur ist groß und reich, nicht weil sie jeden Augenblick willkürlich neue Organe für neue Funktionen schafft, sondern weil sie nach dem einfachsten Plan die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.“  ; Georg Büchner, Band 8  : Natur-



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dem Beifall seines Förderers, des Rektors der Universität Zürich, eben jenes Lorenz Oken, angesehener Biologe und Naturphilosoph, befreundet mit SaintHilaire, Verehrer Schellings und einst mit Goethes Placet nach Jena berufen, aber seit seinem Engagement beim Wartburgfest 1817 politisch unbequem und konsequent wie Büchner. Als ihn der bayerische Kultusminister von München an die unverfängliche, weil hauptstadtferne Universität Erlangen versetzen will, quittiert er den Dienst. So wie Oken hält auch Büchner fest an Hilaires Prämissen der Selbstgesetzlichkeit und Ganzheitlichkeit jenseits aller Naturveränderungen. Er folgt der Vorstellung von Urtypen (HA 2,292) – dort, wo er in Dissertation und Probevorlesung Gestaltähnlichkeiten zwischen den Hirn- und Rückenmarksnerven der primitiven Barben zu sehen glaubt und daraus die archetypische Ganzheit von Schädel und Wirbelsäule ableitet.21 Soweit also ist Büchner mit Hilaires Schule d’accord. Aber die naturphilosophisch inspirierte Naturforschung übernimmt er nicht vorbehaltlos. Im Gegensatz zu deren Spekulationen pocht er auf die konkrete Wahrnehmung der Naturdinge, auf empirische Detailforschung, auf Experiment, Erfahrung, Analyse. Er ist ein akkurater Wissenschaftszeichner, konturiert präzise Gräten und Wirbel, spaltet unter der Lupe  – dem damaligen Lichtmikroskop überlegen  – die Fischköpfe und seziert die Nervenbahnen, fertigt die Präparate für die Vorlesung und macht sich zugleich lustig über die eigene Akribie. An die Braut Wilhelmine Jaeglé schreibt er nach Straßburg  : „Ich sehe dich immer so halb durch zwischen Fischschwänzen, Froschzehen u. s. w. […]. O, ich werde jeden Tag poetischer, alle meine Gedanken schwimmen in Spiritus.“ (HA 2,463) Ironisch entfernt er sich leichthin vom Funktions- und Zweckdenken des Rationalismus  – ebenso wie vom Absolutheitsanspruch naturphilosophischer Spekulation. Denn es ist ihm klar  : Beidem, der Zweckrationalität der teleologischen Methode und dem naturphilosophischen „Enthusiasmus des absoluten Wissens“ fehlt das Entscheidende  – der Blick für das „frische[] grüne[] Leben“ (HA 2,293). wissenschaftliche Schriften, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historischkritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2008, S. 101. – Siehe hierzu Udo Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1999. Tübingen 2004. 21 Vgl. folgende Passage aus „Ueber Schädelnerven“  : „[…] Alles [‚strebte‘] nach einer gewissen Einheit, nach dem Zurückführen aller Formen auf den einfachsten primitiven Typus. […] Wenn Oken gesagt hatte  : der Schädel ist eine Wirbelsäule, so mußte man auch sagen das Hirn ist ein metamorphosirtes Rückenmark und die Hirnnerven sind Spinalnerven.“ (HA 2,293)

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Das ‚frische grüne Leben‘  ? Es ist eine Metapher. Sie bezeichnet neben der teleologischen und philosophischen Methode eine dritte Position in Büchners Probevorlesung – jedoch nicht ausdrücklich. Denn sie ist keine Methode der Naturforschung, sondern eine Haltung zur Natur. Angedeutet ist die Haltung einerseits mit Büchners Vorwurf gegenüber der teleologischen Methode, sie unterwerfe „alle Erscheinungen des organischen Lebens“ ihrem „Standpunkt“ (HA 2,291). Sie verfehle, da nur als Funktion der „Maschine“ Mensch gedacht, „das Individuum“ ebenso wie das unerklärlich Wunderbare an ihm, das Ineins von „Organe[n]“ und „Psyche“ (HA 2,291). Andererseits korrigiert Büchner nicht weniger nachdrücklich die naturphilosophische Methode. Gewiss, so wie sie, die Naturphilosophie, sucht auch er nach dem einfachsten Plan der Natur, ihrer Matrix. Aber gleichwohl verlangt er, „das ganze körperliche Dasein des Individuums“ zu achten, anstatt es nur auf die „Manifestation eines Urgesetzes“ zu reduzieren. Das sei der „Dogmatismus“ einer „Philosophie a priori“, fern dem „Naturleben“ (HA 2,292–293). Mit poetischen Bildern – der „Quelle“, dem „Strom“, der in der „Tiefe rausch[t]“, dem „Wasser“, das „frisch und hell“ aufspringt (HA 2,293)  – imaginiert Büchner die Realität der lebendigen Natur. Sie gelte es, „um“ ihrer „selbst willen“ in der Naturwissenschaft zu finden und zu bewahren (HA 2,292). ‚Um ihrer selbst willen‘  : Büchners Satz über den Selbstzweck der Natur schließt all dies ein, was ihm die Vorstellung vom „frischen grünen Leben“ (HA 2,293) gewesen sein muss. Es ist eine Vorstellung, die, so Büchner, für die konkreten „Erscheinungen des […] Lebens“ anstatt der „Methode“ stehe, für das „Individuum“ anstatt der „Funktion“, für das ‚Urtypische‘ und seine Verwandlungen, für die „Kritik“ anstatt des „Dogmatismus“ (HA 2,291–293). Forschungsdevisen allesamt. Sie plädieren für die Zweckfreiheit der Natur und für die Achtung vor den Gegenständen. Wissenschaft und Ethik – sie schließen sich nicht aus. Liegt darin auch ein poetisches Potenzial  ?22 Keine Frage. Warum sollte das Ethos der Zweckfreiheit und der Anerkennung der konkreten Phänomene nur auf die Biologie beschränkt sein  ? Die Art der poetischen Darstellung, die Struktur der Handlung, der Stil, die Motive, die in Erzählung und Drama fokussierten Themen der Geschichte, der Gesellschaft, der Religion, der Kunst – sie sind Büchners Studien über die Fischnerven näher als es scheint. Die These bestätigt ein Blick auf den medizinischen ‚Fall‘ Lenz und auf die Arbeit an der Geschichte in Dantons Tod sowie eine Reflexion zu Büchners Begriff der Liebe. Die dort entworfenen Vorstellungen von Zweckfreiheit und vorbehaltloser Wirklich22 Vgl. Borgards (2009), S. 129.



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keit übertragen die Wissenschaftskritik auf Beispiele geschichtlicher Existenz. Und man mag es als eine Anmerkung zur Wissenschaftskritik verstehen, wenn Büchner in den literarischen Lebensvollzügen über die Abwehr funktionalistischer Teleologie und philosophischer Spekulation hinaus zugleich die Problematik eines zweckfreien und nur der materialen Wirklichkeit verbundenen Daseins reflektiert.

2. Lenz  : Der medizinische Fall

Medizinischen Fällen begegnet man bei Büchner häufig.23 Kein Wunder, hat doch der Arztsohn sein Studium in Straßburg und Gießen als Medizinstudent begonnen. Seine poetischen Texte präsentieren wie die Medizin ‚Fälle‘  – die Nymphomanin Marion, den Schizophrenen Lenz, den von Absencen und Halluzinationen geplagten Woyzeck, den melancholischen Hauptmann, den manisch-depressiven Leonce. Dass es Krankheitsfälle sind – davon ist bei Büchner freilich keine Rede. Das Individuum als Zweck der Medizin, die Erscheinungen des Lebens als Objekte therapeutischer Methoden, das Leben reduziert auf den Begriff der Krankheit  ? Nein, nicht darüber schreibt Büchner. Worüber aber dann  ? Worüber – das erzählt der ‚Fall‘ des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. „[W]himsical“ sei Lenz gewesen, liest Büchner im dritten Teil von Goethes „Dichtung und Wahrheit“,24 ein „Talent“, das „bei aller seiner Schönheit“ „durchaus kränkelte“  : „Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt […].“25 Ein bedauernswerter Kranker sei Lenz gewesen, erfährt Büchner aus dem überlieferten Krankenbericht Johann Friedrich Oberlins, des umtriebigen, medizinkundigen Pfarrers im Elsässischen Waldersbach, wo Lenz auf Lavaters Empfehlung Ruhe suchte.26 Er habe sich freilich, so Oberlin, mit den „heutige[n] 23 Siehe Nicolas Pethes, Individuum als ‚Fall‘ in Recht und Naturwissenschaft. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 198–204. 24 Vgl. Johann W. Goethe, Band 9  : Autobiographische Schriften I. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 1978, S. 495. 25 Vgl. Johann W. Goethe, Band 10  : Autobiographische Schriften II. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. München 1976, S. 8. 26 Siehe Heinz P. Pütz, Büchners Lenz und seine Quelle. Bericht und Erzählung. In  : Zeitschrift für deutsche Philologie 84 (1965), Sonderheft, S. 1–22 u. Jochen Hörisch, Oberlin oder die Verbesserung von Mitteleuropa. In  : Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt, 2. August bis 27. September 1987. Katalog. Hg. von Georg-Büchner-Ausstellungsgesellschaft. Basel [u. a.] 1987, S. 262–266.

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Modebücher[n]“ abgegeben, habe eine „herumschweifende[]“ Lebensart geführt, sei „unzweckmäßigen Beschäftigungen“ nachgegangen und habe „häufigen Umgang[s] mit Frauenzimmern“ gehabt (HA 1,478). Kurz, er sei ein Kranker gewesen, dem er nicht habe helfen können, „da unsere gegenseitigen Principien einander gewaltig zuwider […] schienen“ (HA 1,478). Oberlin resigniert. Nicht jedoch Büchner. Er tilgt aus Oberlins Krankenbericht alle Therapieversuche an Lenz, alles Benennen und Urteilen und fügt hinzu Landschaftsbilder, Lenz’ Empfindungsstürme bei seiner Predigt in der Kirche von Waldersbach und beim Besuch des toten Mädchens sowie seine Vorstellungen von Kunst und Literatur.27 Sie kommen Büchners eigener Gestaltung des „frischen grünen Leben[s]“ sehr nahe (HA 2,293). Wichtiger als schön und hässlich sei in „Kunstsachen“, so Lenz, „das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe“, und sei es auch „das Leben des Geringsten“, Leben bis in die feinsten Andeutungen und mimischen Zuckungen (HA 1,449). „Ich verlange in Allem – Leben […].“ (HA 1,449) Nichts anderes sagt der Wissenschaftler Büchner, der die Natur konkret und um ihrer selbst willen wahrnimmt und der zugleich Erzähler ist  : Und so erfährt man hautnah wie kaum zuvor und danach in der Literatur das Unglück eines Menschen. Denn Büchner schreibt nicht über Lenz, sondern aus Lenz’ Bewusstsein heraus. Lenz ist nicht eine Funktion der Erzählung, er soll nicht bedeuten, er erfüllt keinen Zweck, er zeigt nichts außer sich selbst, und auch er, so Lenz, lehnt es ab, „sich ein Ziel [zu] stecken“ (HA 1,453). Wenn er durchs Gebirg nach Waldersbach geht, verschiebt Büchner die urteilende Außenperspektive eines Goethe und Oberlin in die gespaltene Innensicht der Figur  : Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald

sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewal-

tigen Glieder halb enthüllte  ; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlor-

nen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte

die Erde hinter den Ofen setzen mögen […]. [Dann] […] riß es ihm in der Brust, er

stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte,

er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über

der Erde, er wühlte sich in das All hinein, es war eine Lust, die ihm wehe that […].

Aber es waren nur Augenblicke, und dann erhob er sich nüchtern, fest, ruhig als wäre

ein Schattenspiel vor ihm vorübergezogen, er wußte von nichts mehr. […] es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren […]. (HA 1,437/439)

27 Siehe Pütz (1965).



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Hier geht es um Lenz, um sein zerrissenes Bewusstsein. Aber es geht zugleich um das, was sich in ihm spiegelt – es ist die Landschaft. So frei von Urteil und Wertung wie Lenz über die Vogesen und durch Büchners Erzählung hindurchgeht, so frei und um ihrer selbst willen erscheint auch die Landschaft. Diese Landschaft kennt nicht die zeitgemäße, die modische Illusion fingierter Einheit aus Mensch und Natur. Von Geßners Idyllen, Goethes Werther und Schillers Spaziergang-Gedicht bis zu Eichendorffs Naturlyrik spannt sich ein literarischer Bogen poetischer Natursehnsucht, die sich als Landschaftssehnsucht ausweist. Das ist eine Sehnsucht, die es vordem in solch subjektiver Intensität nie gab. Es gab sie nicht in den vorausgegangenen Kunstepochen. Es gab sie nicht in Gryphius’ Landschaftsallegorien, es gab sie nicht in der Lehrdichtung der Aufklärung, in Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott, einer Demonstration göttlicher Vernunft in der Natur, oder in Hallers katalogartiger Beschreibung der Alpen. Es gab diese Sehnsucht auch nicht in der bildenden Kunst – in Lorrains ausgewogenen und wohlkomponierten Ideallandschaften  ; es gab sie nicht in den Szenerien Ruisdaels, geprägt von nüchterner Alltäglichkeit und Nutzbarkeit. Und es gab sie ebenfalls nicht in Jan van Goyens typisierten Landschaftsbildern mit ihren Jahreszeitmotiven. Jetzt aber wird die Landschaft – in Dichtung und auch Malerei bei Friedrich, Carus, Runge, Rottmann, bei Corot, bei Turner  – zur Kunst-Illusion einer Einheit aus Metaphysik, Natur und Mensch, einer Einheit und Ganzheit, die draußen, vor Atelier und Schreibtisch, realiter an die Dampfmaschine verloren ging, an das Stadtleben, die außerhäusliche Arbeit, die Entchristianisierung, die vormärzliche Entzweiung der Gesellschaft. Die Landschaft als das Andere in der Zivilisation  – sie wird zu deren utopischem, zu deren ersehntem Gegenbild. Sie wird ersehnt, weil sie die zum Menschen gehörige Natur, Erde und Himmel, inmitten der zivilisatorischen Entfremdungen scheinbar als Eines, als ein Ganzes imaginiert, in dem jeder sich aufgehoben fühlen darf. Und schon wird der Fiktionscharakter des Landschaftserlebens, beim sonntäglichen Familienspaziergang in die Englischen Gärten oder hinaus in die Flur, zum sozialen Ritual. Heine klagt, dass der Harz zum Massentreffpunkt der Berliner Bürger geworden sei, und Wilhelm Busch karikiert die bürgerliche Inbesitznahme der Landschaft mit Botanisiertrommel, Schmetterlingsnetz und Käferschachtel.28 28 Siehe Joachim Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft. In  : Subjektivität. Frankfurt a. M. 1974, S. 141–164 u. Gerd Michels, Landschaft in Georg Büchners Lenz. In  : Textanalyse und Textverstehen. Heidelberg 1981, S. 13–33.

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Man muss diesen Hintergrund aufspannen, um die eigentümliche Gebirgsschilderung in Büchners Lenz zu verstehen. Hier setzt einer bei der zeitgenössischen Illusion fingierter Harmonie von Natur und Mensch in der Landschaft an, nur um sich drastisch davon abzuwenden. Lenz vor Waldersbach – das ist kein zweiter Werther in Wahlheim. „[…] er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, Alles in sich fassen, er dehnte sich aus und lag über der Erde […]. Aber es waren nur Augenblicke […]. […] es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts, er war im Leeren […].“ (HA 1,79–80)  : Büchner desillusioniert die Naturfiktion seiner Zeit. In Lenz’ Bewusstsein – „whimsical“29, wie Goethe abfertigt, ‚krank‘, wie Oberlin befindet (HA 1,466) – wird die Landschaft aus ihrem bürgerlichen Sehnsuchtszweck entlassen. ‚Alles in sich fassen‘  ? Welch eine Illusion. In Lenz’ Blickwinkel steht Büchners Landschaft für sich. Sie ist gegen ihre zeitgenössische Teleologie entworfen. Sie hat keine Funktion, sie hat keinen Zweck, sie kompensiert nicht die zivilisatorischen Naturentfremdungen, sie ist isoliert vom Menschen, der sich vergeblich in sie verströmen und sie vergeblich sich als Zeichen und Sinngestalt zu eigen machen will. Beide, Mensch und Natur, sind sich in Wahrheit fern. Denn beide sind bei Büchner um nichts anderes als um ihrer selbst willen da. Ihre Selbstbezogenheit macht sie unverfügbar. Absurd erscheint deshalb Lenz die Natur, wenn er sich vom Himmel und vom Mond à la Claudius, Goethe, Eichendorff, Heine dann doch noch Zeichen erhofft  : „der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin“ (HA 1,461). Lenz’ Haltlosigkeit in der Naturszenerie durchstreicht die nostalgische Zweckbindung der Landschaft als Utopie der Einheit aus Metaphysik, Natur und Mensch. Lenz  – kränklich, krank  ? So sehen ihn Goethe und Oberlin. Und so sieht ihn bis heute die Psychiatrie – als schizophrenen Fall.30 Büchner jedoch sieht in Lenz das Gleiche wie im irrlichternden Woyzeck oder im aufgekratzt-depressiven Leonce  : die Enthüllung einer Wirklichkeit, die sich dem Normalblick entzieht. Sie aber gehört zum Leben als eine „Möglichkeit des Daseins“ (HA 1,449). Die in Lenz’ zerrüttetem Bewusstsein atemlos zerspaltene, ver-rückte Landschaft enthüllt das von keinen Sinnkrücken und Illusionen gestützte Dasein – das nackte Dasein –, das die zweckhaft-idealen Landschaftsutopien der Zeit verbergen. Dies aber  : nicht die vermeintliche Wirklichkeit, sondern die latente „Möglichkeit des Daseins“ zu zeigen, sei das 29 Vgl. Goethe (1978), Bd. 9, S. 495. 30 Siehe Erörterung und Literaturverweise im Büchner-Handbuch  : Borgards, Lenz, S. 51–70 u. Neumeyer, Melancholie und Wahnsinn, S. 242–248.



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„einzige Kriterium in Kunstsachen“ bemerkt Lenz alias Büchner (HA 1,449). Lenz selbst freilich ist solcher Zweck- und Sinnfreiheit nicht gewachsen. „[…] es faßte ihn eine namenlose Angst in diesem Nichts […].“ (HA 1,80) Entlassen aus der utopischen Ganzheit von Mensch und Natur ist für Lenz die Landschaft auch deshalb ein „Nichts“ und ‚leer‘ (HA 1,80), weil in ihr nicht nur die Sehnsucht nach einem irdischen Lebenssinn, sondern auch die Hoffnung auf Gott unerfüllt bleibt. Die Predigt, die Lenz später hält, ist nur ein folgenloser Moment mystischer Verzückung, und beim Versuch, das tote Mädchen zu erwecken, ist die Bitte um Gottes Fingerzeig vergebens. Was Oberlin nicht erkennen kann, weil er Lenz nur als Kranken zum Zweck der Heilung wahrnimmt, gelingt dem vorurteilslos sich in Lenz einfühlenden Erzähler  : die Einsicht nämlich, es sei kein Gott  : „er suchte [in der Natur] nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts“ (HA 1,437)  ; „die Finsterniß verschlang Alles“ (HA 1,441) und „[es] griff der Atheismus in ihn […] es war ihm Alles leer und hohl“ (HA 1,461). Ein metaphysischer Abgrund öffnet sich und verschlingt die zweckhaften Natur-Idealisierungen der Zeit. Der Fall Lenz ist auch ein Fall Büchner  : Wenn Zweckfreiheit – „Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da“ (HA 2,292) – zur Sinnoffenheit wird, wenn das zurückgewiesene ‚Wozu‘ zum offenen ‚Warum‘ wird, dann sind Sinnlosigkeit und Verzweiflung nicht weit. Was aber dann  ? Büchner findet eine bemerkenswerte Antwort – in Dantons Tod.

3. Dantons Tod  : Arbeit an der Geschichte

Büchners Drama Dantons Tod ist die Atempause der Geschichte.31 Für einen historischen Augenblick, März, April 1794, halten sich die zwei Antriebskräfte der Französischen Revolution die Waage  – Liberalität in der Person Dantons, die Forderung nach individuellem Glück, und Radikalität in der Gestalt Robes­ pierres, der bedingungslose Sprung nach vorne. Der große Sprung  – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, er verlangt Terror und Blut. Oktoberrevolution, Pol Pot und Mao sind schon vorweggenommen. Und so endet das Stück mit der Verhaftung Dantons, seiner Freunde und ihrem Tod unter der Guillotine. Aber 31 Siehe Theo Elm, Georg Büchner. Individuum und Geschichte in Dantons Tod. In  : Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. Ulrich Fülleborn zum 60. Geburtstag. Hg. von dems. und Gerd Hemmerich. München 1982, S. 167–184.

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Robes­pierre wird ihnen – Barrère wetzt schon das Messer – alsbald folgen. Die Revolution frisst ihre Kinder, ein Fazit, das Büchners Urteil über die eigene restaurative Gegenwart nach 1830 widerspiegelt  : „Ich fühle mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte.“ (HA 2,425) Um den Fatalismus der Geschichte geht es in der einprägsamsten Szene von Dantons Tod, dem sogenannten Ideendialog. Wie die Landschaftsszene im Lenz ist auch dieser Ideendialog gleichsam der elementare Kern des Textes. Er ist dessen unité de plan und bündelt das Wesentliche des Stücks, den Fatalismus der Geschichte. Es ist dieser oft zitierte Dialog (I,6)  : Hier Robes­pierre, der als Sprecher des Wohlfahrtsausschusses den Progress der Revolution fordert  : „die Tugend muß durch den Schrecken herrschen“ (HA 1,24), und dort der Deputierte Danton, der das Privatinteresse des Einzelnen verteidigt  : „Es giebt nur Epicuräer […]. Jeder handelt seiner Natur gemäß […].“ (HA 1,27) Die Pointe der Szene liegt hinter diesen Worten. Während Danton die triebhafte Eitelkeit Robes­pierres aus seiner theatralischen Tugend-Rede zerrt („du lügst, du lügst  !“, HA 1,26) und Robes­pierre nach Dantons Abgang sich auch wirklich eingesteht  : „Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt“ (HA 1,28), bezichtigt sich umgekehrt der vorgebliche Epikureer und Lebensgenießer Danton, nachts vom Albtraum seiner Schandtaten gepackt, selbst der Lüge  – also  : kein Lebensgenuss  ! (II,5). Es geht hier, in diesem Ideendialog, nicht um den Streit der Ideen wie im klassischen Drama  – Schiller  : Staatsräson gegen Gedankenfreiheit  –, sondern um die Strittigkeit der Idee überhaupt. Die proklamierte Idee erweist sich als Lüge, und der Sinn der Geschichte bleibt offen. Büchners ruinierter Ideendialog taugt nicht länger als Wendepunkt und Antrieb der Handlung. Verwiesen an den Rand des Stücks, hat er keinen Platz mehr in der im klassischen Drama noch dominanten Peripetie des 3. Akts. Die Idee als Telos, worauf das klassische Drama stringent zueilt, sie ist bei Büchner dahin. Antiteleologisch ist mit der Geschichte auch die Bühnenhandlung gedacht. Das Stück zerfällt in autonome, zweckentbundene Szenen  – nur von „Dramatische[n] Bildern“ spricht der originale Untertitel. Der entwertete Ideendialog ist aber nicht nur ein Hieb auf den klassischen Schiller, diesen „Idealdichter“ mit seinen Figuren ohne „Fleisch und Blut“ (HA 2,444) – von „frische[m] grünen Leben“ keine Spur (HA 2,293). Er ist auch ein Affront gegen die Zitatgrundlagen von Büchners eigenem Stück.32 Es ist eine 32 Siehe zu den von Büchner herangezogenen und im Stück zitierten Vorlagen  : Herbert Wender, Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton’s Tod. Frankfurt a. M. 1988.



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Kritik an Louis Adolphe Thiers’ „Histoire de la Révolution française“ (1823, 1824–27) und Carl Strahlheims Textsammlung „Die Geschichte Unserer Zeit“ (1826–1831), worin das Gespräch zwischen Robes­pierre und Danton, freilich ohne Büchners Relativierungen, dokumentiert ist. Beide Geschichtsbücher sind Muster des zeitgenössischen Historismus.33 Büchners Entwertung dessen, was Strahlheim unkritisch als Ideendialog der Revolution wiedergibt, ist auch eine Volte gegen den aktuellen Historismus und seine Teleologie. Renommierter Repräsentant dieser neuen Art der Geschichtsschreibung ist um 1835 Leopold Ranke, als Geschichtsprofessor und späterer Hofhistoriograf des preußischen Staates eine zentrale Gestalt in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Mit den aufmüpfigen Jungdeutschen, zu denen Büchner gezählt wurde, hatte er gewiss nichts zu tun. Er nannte sie „Charlatane“, und der Bürgerschreck Gutzkow, Büchners Mentor, war für ihn „verrückt“.34 Betrachtet man aber neben Ranke nicht den Revolutionär und Dichter, sondern den Naturwissenschaftler Büchner, dann konvergieren mit einem Mal die Bewusstseinsbahnen des Historikers Ranke und des Biologen Büchner im Verständnis ihrer Wissenschaft.35 Denn wie Büchner geht es auch Ranke zunächst um die Selbstzweckhaftigkeit der Forschungsgegenstände. Der „Wert“ jeder geschichtlichen Epoche beruhe, so Ranke, „in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst“.36 Daher die Aufgabe des Historikers, nicht „die Vergangenheit zu richten“, sondern „blos [zu] zeigen, wie es eigentlich gewesen“.37 ‚Blos zu zeigen wie es eigentlich gewesen‘. Dabei belässt es Ranke freilich nicht. Soll die Geschichte nicht nur, wie bisher, Chronik sein und sich in die Ödnis selbstzweckhafter Daten zerstreuen, bedarf es der Sinngebung. Und so fügt Ranke seinem berühmten Satz von der Verpflichtung gegenüber den Res 33 Siehe Friedrich Jäger und Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. München 1992. 34 Vgl. Leopold Ranke, Band 1  : Tagebücher, hg. von Walther P. Fuchs. Aus Werk und Nachlass. Hg. von dems. und Theodor Schieder. München [u. a.] 1964, S. 176. 35 Siehe Theo Elm, Georg Büchner und Leopold Ranke. Poetische und historische Erkenntnis der Geschichte. In  : Hermenautik – Hermeneutik. Literarische und geisteswissenschaftliche Beiträge zu Ehren von Peter Horst Neumann. Hg. von Holger Helbig, Bettina Knauer [u. a.]. Würzburg 1996, S. 163–178. 36 Vgl. Leopold Ranke, Band 2  : Über die Epochen der neueren Geschichte, historisch-kritische Ausgabe, hg. von Theodor Schieder und Helmut Berding. Aus Werk und Nachlass. Hg. von Walther P. Fuchs und Theodor Schieder. München [u. a.] 1971, S. 60. 37 Vgl. Leopold Ranke, Band 33/34  : Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Sämtliche Werke. 54 Bde. Leipzig 1885, Vorrede, S. VII.

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factae eine nicht minder bekannte Formel hinzu. Sie wird zum Leitsatz des Historismus bis weit in das 20. Jahrhundert hinein  : „Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott […].“38 Gewiss, der Satz betont die Individualität, die zweckfreie Eigenheit jeder Epoche. Aber er betont im Widerspruch dazu ebenso deren höheren Sinn – in „Gott“, der „Idee“ oder der „Vorsehung“ als dem „letzten Ziel“ der Geschichte, wie Ranke abwechselnd formuliert.39 Dieses sinnhafte „Ziel“ geschichtlicher Ereignisse darzustellen, bezwecken Rankes Epochenentwürfe. Sie sind Musterstücke historistischer Teleologie. Hayden White weist sie in seiner Studie der historischen Einbildungskraft dem Genre der Komödie zu.40 Ende gut, alles gut. Die Differenz zu Büchner ist mit Händen zu greifen. So nahe er Rankes Achtung vor der Selbstzweckhaftigkeit der geschichtlichen Erscheinungen und deren objektiver, quellengestützter Wahrnehmung kommt, so fern steht er der Praxis von Rankes Geschichtsschreibung  – verbunden mit dem Zweck, die „herrschenden Tendenzen“41 oder die ‚Idee‘ vergangener Zeiten auszustellen. Im Gegensatz zu Ranke, befangen im Widerstreit zwischen der Achtung vor den einzelnen Fakten und ihrer sinnhaften Verzweckung, beharrt Büchner auf seinem wissenschaftlichen Credo, auf der Überzeugung vom Selbstzweck alles Einzelnen. Als Dichter überträgt er ihn mit der Sinn-Offenheit von Dantons Tod in die geschichtliche Welt. Nicht das vermeintliche Sinnganze, wie es sich im Rückblick des Historikers als Zweck seiner Geschichtserzählung ergeben mag, erscheint bei Büchner. Vielmehr steht die Bedeutungsoffenheit, die Zweckfreiheit des geschichtlichen Augenblicks im Hier und Jetzt auf der Bühne. Er wolle, betont Büchner, „der Geschichte treu bleiben“ (HA 2,438). Er wolle sie darstellen, „wie sie sich wirklich begeben“  ; er wolle uns anders als der Geschichtsschreiber „unmittelbar […] in das Leben einer Zeit hinein versetz[en]“ (HA 2,443).42 In dieser Unmittelbarkeit ist die geschichtliche Welt letztlich nicht von Ideen bestimmt. Die findet der Historiker erst ex post. Bestimmt ist sie allenfalls von einem sinnoffenen Etwas, das beide, Robes­pierre und Danton, nicht benennen 38 Ranke (1971), Bd. 2, S. 61. 39 Leopold Ranke, „Idee der Universalhistorie“  ; gedr. in  : Eberhard Kessel, Rankes Idee der Universalgeschichte. In  : Historische Zeitschrift 178 (1954), S. 269–308, hier  : S. 296. 40 Siehe Hayden White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Aus dem Amerikanischen von Peter Kohlhaas. Frankfurt a. M. 1994, S. 214–250. 41 Vgl. Ranke (1971), Bd. 2, S. 61. 42 Büchners Briefe an die Familie vom 5. Mai und 28. Juli 1835.



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können  : „Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt“ (HA 1,28), so der eine, und der andere  : „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen […]  !“ (HA 1,41). Von unbekannten Gewalten  – denn auch das, was der Geschichte vorausliegt, Gott, ist nicht beweisbar. Die Theodizee-Gespräche Dantons und seiner Freunde enden in Ratlosigkeit und Verzweiflung. Keine Vernunft der Geschichte und auch kein Gott  – also nichts. Aber das Nichts  ? Wäre nicht wenigstens das Nichts ein Sinn  ? Danton schüttelt den Kopf. Dieses metaphysische Nichts müsste erst noch geschaffen werden  : „Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott.“ (HA 1,72) Was aber bleibt dann noch in der aller Zwecke ledigen – und gerade deshalb sinnoffenen Welt  ?

4. Liebe als Zweck

Was in Büchners Stück unwiderrufen bleibt, sind die Umarmungen und Tröstungen Dantons und seiner Freunde im Gefängnis, ihr gemeinsamer Abschied voneinander am Schafott, bis der Henker sie trennt. Was bleibt, ist die Locke, die Julie Danton ins Gefängnis schickt, und der Ruf Luciles „Es lebe der König  !“ (HA 1,75), worauf sie, im Namen der Republik verhaftet, Camille in den Tod nachfolgt. Kurz, was in Büchners ebenso zweckfreier wie sinnoffener Welt bleibt, ist die Liebe.43 Kants Ideal, die „Person eines jeden andern […] jederzeit […] als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu ‚gebrauchen‘,44 erfüllt das Ideal der Liebe, die den Einzelnen nicht allein als Mittel zum Zweck, sondern um seiner selbst willen, als Selbst-Zweck, annimmt. Man liebt – idealiter – um der Liebe willen. Nur hier, in der Liebe, gleich ob als Erotik, Freundschaft oder Mitgefühl, hat die Freiheit von äußeren Zwecken selbst einen Sinn und führt nicht in die Sinnoffenheit. Ob es Marions All-Liebe ist („ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang […]. […] alle Männer verschmolzen in einen Leib“, HA 1,21–22) oder Woyzecks Fürsorge um Marie und den Jungen, ob es Leonce’ und Lenas Liebestraum im Mondschein ist (II,4) oder Lenz’ Trauer um das tote Mädchen in Fouday  – das selbstzweckhafte Ethos der Liebe nimmt der Sinnoffenheit in Büchners Werk, nimmt der Leere der Landschaft, nimmt der Fatalität der Geschichte und nimmt der Unbeweisbarkeit Gottes ihren Stachel. Möglich, dass 43 Siehe Reinhold Grimm, Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In  : Arnold (1979), S. 299–326. 44 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. von Karl Vorländer. Hamburg 1965, S. 52.

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Büchners Begriff der Liebe, die ihren Zweck in sich hat, nebenbei ein Affront ist gegen den zur Schau gestellten Empfindungskult der ausgehenden Romantik. Präsentiert ist er im Museum der Biedermeierzeit  : Meerschaumpfeifen mit dem Bild der Geliebten, Bierkrüge zur Erinnerung an bruderschaftliche Zechstunden, Stammbücher als ‚Denkmäler der Liebe und Freundschaft‘, Poesiealben als Demonstration von Dichterfleiß und Zärtlichkeit.45 Die Exponate haben allesamt einen Zweck  : Sie bezwecken die Ritualisierung der Liebe. Bei Büchner dagegen ist die Liebe selbst der Zweck. Als Camille und Danton über Kunst diskutieren, wendet sich Camille an seine Frau Lucile  : „Was sagst du Lucile  ?“ Darauf Lucile  : „Nichts, ich seh dich so gern sprechen.“ Camille  : „Hab ich Recht, weißt du auch, was ich gesagt habe  ?“ Lucile  : „Nein wahrhaftig nicht.“ (HA 1,37–38) Die Liebe hat keinen Zweck, sie ist ein Zweck. Sie ist um ihrer selbst willen da wie die Natur des Naturwissenschaftlers Büchner. Büchner als Naturwissenschaftler. In seiner Probevorlesung legt er sich mit der zeitgenössischen Naturforschung an.46 Die Spuren seiner philosophischen Notizen, Übersetzungen und Räsonnements zu Descartes’ Metaphysik und Spinozas Ethik47 („Kunstsprache“, „taube Nüsse“, „Armseligkeit“, HA 2,421 u. 450)48 sind noch in der Wissenschaftskritik der Probevorlesung erkennbar. Erkennbar sind sie in der Kritik an der funktionalistischen Teleologie („Die Natur handelt nicht nach Zwecken“) ebenso wie der spekulativen Philosophie („Philosophie a priori“) (HA 2,292–293).49 Seine naturwissenschaftliche Auffassung schlägt ihrerseits eine Brücke zur Literatur. Von Büchners Plädoyer für die Zweckfreiheit der Natur, für ihren einfachsten Plan und für die aller Spekulation und Dogmatik vorausliegende Empirie der organischen Welt fällt ein Licht auf Narration und Dramatik. Darstellungsformen, Motive, Figuren, Handlungszüge erscheinen da nicht nur wie unter dem Scheinwerferlicht in scharf gezeichneter Konkretheit, sondern sind auch ein einziger Protest gegen funktionale Festschreibungen. Das für ihn als 45 Siehe Barbara Krafft, Vergißmeinnicht – Souvenirs und Denkmale. In  : Biedermeiers Glück und Ende. Die gestörte Idylle 1815–1848. Hg. von Hans Ottomeyer. München 1987, S. 434–465. 46 Vgl. jedoch Kurzkes Auffassung, Büchner habe sich lediglich der romantischen Naturphilosophie angepasst  : Kurzke (2013), S. 354 u. 357. 47 Siehe Kommentar der Gesamtausgabe von Poschmann  : Georg Büchner, Band 2  : Schriften, Briefe, Dokumente. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 1999, S. 924–1049. 48 Briefe an August Stöber, 9. Dezember 1833, und an Gutzkow, Straßburg 1835. 49 Büchner hat, wie sein ehemaliger Mitschüler Friedrich Zimmermann erklärt, von jeher „metaphysische und ethische Probleme“ „in einem inneren Zusammenhang mit Angelegenheiten der Naturwissenschaften“ gesehen (Büchner 1999, 932–933).



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Wissenschaftler geltende Prinzip der Zweckfreiheit, der elementaren Ganzheit und der Konkretion – ob bezogen auf Natur (Landschaft), Geschichte oder Gott – führt freilich in eine grundsätzliche, unverhüllte Sinnoffenheit. Kristallisiert erscheint sie an zentralen Situationen oder Szenen, an Lenz’ erratischem Weg übers Gebirge, an Dantons und Robes­pierres Dialog zur vermeintlichen Idee der Revolution und am fruchtlosen Theodizee-Gespräch der Dantonisten. An dieser auch heute noch beunruhigenden Sinnoffenheit leiden Büchners Figuren – Lenz, Danton, Woyzeck, der Hauptmann, Leonce. Was sie daraus retten könnte, wäre die Erfahrung der Liebe. Einzig die Liebe nämlich ist, so Büchner,50 obgleich zweckfrei, nicht sinnoffen, sondern sinnerfüllt.

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Aus der Weltsicht eines ‚Viehsionomen‘ Georg Büchners Sezierung des Homo sapiens

Karl  G. Büchners Literatur, die trotz eines überschaubaren Umfangs weltanschaulich unerschlossen blieb, ist thematisch durch Bedeutungsstränge geprägt, die den hessischen Weltliteraten nicht bloß als einen am modernen Weltverständnis aktiv Partizipierenden ausweisen, sondern ferner als Vorreiter einer neuzeitlich orientierten Naturphilosophie. Als strebsamer Student der medizinischen Fakultät, der anfangs das Fach Medizin belegte, eignete sich Büchner ein umfassendes zoologisches Wissen an, das mit Anbeginn seines poetischen Schaffens in die Literatur einfloss. Auf eine doppelte, wissenschaftliche wie literarische Weise erfolgte seine Beschreibung der vielfältigen Abhängigkeiten, denen sich der Mensch an sich – nicht allein der politisch im Vormärz beheimatete  – ausgesetzt sah. Der zeitliche Rahmen, dem Büchner zugehörte, das erste Drittel des 19.  Jahrhunderts, zeigte sich geprägt durch einen rasanten Bedeutungsverlust philosophischer Weltkonzepte, der von den neuen Erkenntnissen herrührte, die aus den naturwissenschaftlichen Fächern der Physik, Chemie und der Astronomie stammten. Die unvermeidlichen gesellschaftlichen Implikationen führten zur kirchlichen Erneuerungsbewegung der Reformation und zum politischen Pendant der Französischen Revolution.1 Basierend auf dem neuen Bedürfnis des Menschen, sich die Welt verstandesmäßig zu erschließen – nach der Jahrhunderte lang andauernden ‚dunklen‘ Periode –,2 verlor das Primat der religiösen Weltdeutung, das seit Urzeiten monopolistisch von der römischkatholischen Kirche vertreten wurde, zusehends an Einflusskraft. Und der poli1 Siehe Hans-Ulrich Thamer, Die kulturellen Ursprünge der Revolution. In  : Die Französische Revolution (= Beck’sche Reihe, C. H. Beck Wissen  ; 2347). 4., durchges. Aufl. München 2013, S. 18–19. 2 Dass die Begrifflichkeit der Dunkelheit, sofern sie die ideologische Verblendung des als Mittelalter bezeichneten Zeitabschnittes benennen soll, die mannigfaltigen Wechselwirkungen des Wandels im Verhältnis zum Glauben, der sich innerhalb dieser Periode vollzog, nicht abzubilden vermag, ist unausweichlich. Entsprechendes hat, wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen, für das nachfolgende Zeitalter der Aufklärung zu gelten. – Siehe zur Entwicklung des letzteren Epochenbegriffes  : PeterAndré Alt, Aufklärung. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart [u. a.] 2007, S. 5–6.

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tische Wandel, der vom revolutionären Frankreich ausging, hatte auch in Deutschland als dessen geografischer Nahbereich Auswirkungen auf das absolutistische Selbstverständnis. Münden sollte diese Revolution der Wissenschaften, die ab dem 17. Jahrhundert in den empirisch orientierten Disziplinen einsetzte, schließlich in einem maßgeblich von naturwissenschaftlichen Ordnungskonzepten bestimmten, technischen Zeitalter. In seiner Profession als Naturwissenschafter sowie in seinem Schaffensdrang als Dichter leistete Büchner in zweifacher Hinsicht einen Beitrag zum modernen Fortschrittsdenken. Auf den Grundfesten seines Fachwissens stellte der studierte Anatom den Menschen in seiner mannigfaltig sich manifestierenden Determination dar, und gleichzeitig unterzog Büchner, der persönlich nach wie vor im  – erweiterten  – metaphysischen Bezugsfeld verharrte, den christlichen Glaubensmythos einer kritischen Revision, mit der sich der Schöpfer- bzw. Heils-Gedanke als überholte Kategorien einstellten. Büchners Weltbetrachtung, die sich am fortschrittlichen Empirismus der Naturwissenschaften orientiert, dabei allerdings an einer modernen Variante des Metaphysischen festhält, ist in seiner Züricher Probevorlesung von 1836 zu rekonstruieren. Mit folgenden Worten wird darin eine Konfliktstellung zwischen „dem Dogmatismus der Vernunftphilosophen“ und „dem Naturleben“ beschrieben  : „Die Philosophie a priori sitzt noch in einer trostlosen Wüste  ; sie hat einen weiten Weg zwischen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird.“3 Obwohl sich an der Vernunft  – vorwiegend, aber nicht ausschließlich  – die empirischen Fächer orientierten, sieht Büchner die geisteswissenschaftliche Disziplin der Philosophie keineswegs ihrer Bedeutung beraubt. Büchner fordert – im Gegenteil – eine interpretative Bringschuld ein, die nicht zuletzt die großen Themen der Menschheit betrifft. Aus dieser Forderung resultiert eine Distanzierung von der mathematisch-deduktiven Schule des strengen Rationalismus. Ungeachtet des neuzeitlichen Menschen, der sich nicht länger mit irrationalen Antworten zufrieden gab und sich an eine empirisch fundierte Neubewertung der Weltfragen machte, stellt Büchner für eine von der Vernunft geleitete Philosophie ein nach wie vor zu bearbeitendes Aufgabengebiet fest – für eine Schule, die sich allerdings nicht auf die Rigorosität eines Descartes oder Spinoza beschränken darf, sondern sich in 3 Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006, S. 260. – Zitate aus den Schriften und Briefen, die Büchner betreffen, folgen der Münchner Ausgabe (MA).



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methodischer Hinsicht zu öffnen hat. 4 Büchners Absage an jeglichen deduktiven Purismus bedeutet, dass gerade die Disziplin der Philosophie dazu angetan ist, die naturwissenschaftlich zutage beförderten Teilerkenntnisse einer interpretatorischen Bündelung zuzuführen. Demnach wird das „frische[n] grüne[n] Leben“, für dessen Berücksichtigung Büchner eintrat, zu einem Sinnbild für einen erneuerten Rationalismus, der sich nicht länger den neuen, revolutionären Erkenntnissen verschließen darf.5 Karl G. Büchner befürwortete eine Synthese aus Natur- und Geisteswissenschaften, im Sinn der „Brücke“, die zu „schlagen“ sei (MA 260), die methodisch auf den Naturwissenschaften gründete und hin zu einer hermeneutischen Gesamtschau führen sollte. Analog zu einem Weltbild, das auf der Vorstellung einer stofflichen Allgegenwart Gottes beruht  – Spinozas Pantheismus gleich  –, stellt Büchner die teleologische Methode, die notwendigerweise die Überzeugung von der göttlichen Repräsentanz im Materiellen kritisch tangiert, kategorisch infrage  : „Jeder Organismus ist für sie [diese ‚Grundansicht‘] eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten.“ (MA 259) Von diesem auf Zweckhaftigkeit beruhenden Erklärungsmodell distanziert sich Büchner mit den Worten, dass die „Natur“ „nicht nach Zwecken“ „handelt“  : „sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt  ; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug“ (MA 260). Mittels der Erläuterung, dass an dem Punkt, „[w]o die teleologische Schule mit ihrer Antwort fertig ist“, die „Frage für die philosophische“ beginnt, präzisiert Büchner sein Gegenmodell  : „[…] und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchs4 Unbestreitbar vollzieht sich mit beiden Philosophen ein bedeutsamer Schritt in Richtung wissenschaftlicher Selbstbestimmtheit, zumal „[m]enschliche Erkenntnis“ nun „nicht mehr“ – „wie im gesamten Mittelalter und noch im 17. Jahrhundert“ – „unter dem Vorbehalt von Gottes Allmacht“ „steht“ (Alt 2007, 25). Dennoch ist Büchners Skepsis gegenüber diesen beiden „dogmatische[n] Philosoph[en]“, wie es in seiner Philosophievorlesung geschrieben steht, unverkennbar  ; Georg Büchner, Band 2  : Schriften, Briefe, Dokumente. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006, S. 342. 5 Vgl. zur Frage, inwiefern die Cartesius- und Spinoza-Studien Rückschlüsse auf seine Weltanschauung zulassen, die Unterkapitel „Deutungsaspekte“ und „Wissenschafts-historische Perspektive“  : Per Röcken, Werk  : Philosophische Schriften. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 130–137, hier  : S. 135–136.

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ten und reinsten Formen hervorbringt.“ (MA 260) Das ‚Urgesetz‘, angesiedelt in einem ästhetologischen Bedeutungsfeld,6 weist eine Verbindung zur Sphäre der Metaphysik auf, zumal dieser Begriff auf der Vorstellung einer höheren Wesenhaftigkeit basiert. Demnach erfolgt hier nur scheinbar ein Fingerzeig auf den ‚Urmenschen‘  – auf Adam und Eva  –, den überlieferten Schöpfungsakt  ; angesichts von Büchners Pantheismus wäre auch der andere Fall lediglich einem bildhaften Zugeständnis an die populäre Glaubensauffassung geschuldet. Büchner teilt mit seinen Zeitgenossen den existenziellen Skeptizismus, nicht jedoch die Idee eines personalisierten Gottes.7 Büchner ist der Vertreter einer Naturauffassung, die weitgehend dem Denkschema Spinozas entspricht, eines Philosophen, der im Menschen wie im betreffenden Lebensraum – in deren materieller Eigenart – den substanziellen Niederschlag einer göttlichen Wesenhaftigkeit auszumachen meinte. Somit überrascht es nicht, dass an einer Stelle, die ebenfalls aus der Vorlesung stammt und der zitierten vorangeht, sich der Begriff der „Psyche“ nicht nur durch jenen der ‚Beseeltheit‘ ersetzen ließe, sondern der letztere – im semantischen Kontext betrachtet  – auch der angemessene wäre  : „Das Enthüllen der schönsten und reinsten Formen im Menschen, die Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint, ist für sie [die teleologische ‚Grundansicht‘] nur das Maximum einer solchen Maschine.“ (MA 259) Das stoffliche „[D]urchbrechen“, das sich auf das Verhältnis von Organen und Psyche bezieht, wendet Büchner gegen eine rein rationalistisch-materialistische Sichtweise, um im Gegenzug für die Vorstellung ästhetischer Erhabenheit als Abglanz des Göttlichen einzutreten. Diese Beseeltheit, die auf pantheistische Überzeugungen zurückgeht, fungiert als Symbol für ein göttliches Wesenselement, das in seiner „Vollkommenheit“ beim Menschen zu den „edelsten Organe[n]“ führt.8 Wenn in Dantons Tod die Unfä6 Die „einfachsten Risse[n] und Linie[n]“, die dem göttlichen ‚Urgesetz‘ inhärent sind – als eine Art Bauplan –, übertragen sich laut Büchner auf alle Naturphänomene und führen so zu den „höchsten und reinsten Formen“, wodurch das Wesen der Vollkommenheit mit der Kategorie einer Erhabenheit korreliert, die schließlich vom Hohen zum Höchsten führt. – Vgl. hierzu dagegen Udo Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 257. 7 Siehe zu Büchners Naturverständnis u. a. Stienings Unterkapitel „Büchners allgemeines Naturgesetz“  : Gideon Stiening, Kultur und Wissenschaft  : Natur. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 204–209, hier  : 204–205. – Siehe zum Pantheismus-Gedanken den Beitrag von Theo Elm  : „‚Das frische grüne Leben‘. Georg Büchner als Naturwissenschaftler“. 8 Dass Büchner den ihm eigenen Pantheismus in seiner Vorlesung nicht ausdrücklich artikulierte,



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higkeit des Homo sapiens aufscheint, beim Betrachter den Eindruck von Schönheit zu erwecken, wie das in der Figurenrede des Lacroix geschieht, entspricht dies deshalb Büchners eigener Überzeugung, weil dieser lediglich die einzelnen Organe für ästhetisch beachtenswert hält, nicht jedoch die Gesamterscheinung Mensch  : „Es ist ein Jammer, daß die Natur die Schönheit, wie Medea ihren Bruder, zerstückelt und sie so in Fragmenten in die Körper gesenkt hat.“ (MA 80) Eindrucksvoll zeichnet sich ein ästhetischer Skeptizismus ab, der bei aller Würdigung der Schönheit auf einem tiefen weltanschaulichen Defätismus beruht. Büchners Ästhetikbegriff durchbricht insofern die teleologische Kausalitätskette, als sich die göttliche ‚Vollkommenheit‘ in der Naturgesamtheit durchaus widerspiegelt. Seine Literatur hinterfragt dabei die menschliche Perspektive insoweit, als der Anspruch von Objektivität des Menschen – bei all seiner verstandesmäßigen Begabung – diesen immer wieder zu der falschen Konklusion einer scheinbar allenthalben sichtbaren Imperfektion veranlasst. Weil Büchner in seiner Profession als vergleichender Anatom der aufklärerischen Strömung keineswegs in einem abstrakten ideellen, der Wirklichkeit enthobenen Sinn zuzurechnen ist, überrascht es nicht, dass die zahlreichen Erkenntnisse seiner Zeit zum neuen Menschenbild des Homo sapiens sich in seinen literarischen Arbeiten widerspiegeln. Der Schriftsteller bemächtigt sich motivisch des Erkenntnisgehaltes, den die empirischen Disziplinen lieferten, und stellte die vielfältigen Irritationen des etablierten Selbstverständnisses kritisch dar. Mittels zahlreicher Figuren, die entweder in einer diffusen Metaphysik verharren oder an deren Beispiel sich eine christlich-theologische Weltsicht manifestiert, entfaltet sich eine Irritationsbewegung von kollektivem Ausmaß. Als Pantheist betreibt Büchner, der den Menschen in seiner Wesenheit beschreibt, eine wertmäßige Revision angestammter Glaubenssätze, die das Bild eines gerechten bzw. allmächtigen Gottes und nicht zuletzt die Vorstellung körperlicher Personifizierung infrage stellt.9 Die von der Aufklärung a­ ngestrebte Emanzipation des Menschen, die Lossagung von den zahlreichen Fremdbestimmag auf eine Furcht vor der Skepsis der am Züricher Lehrstuhl beheimateten Lehrenden zurückzuführen sein. Zudem vertritt Büchner einen Neu-Rationalismus, der sich methodisch öffnet und von der Deduktion abwendet. 9 Aufschluss über seinen Defätismus gibt auch der Brief an die Familie vom Februar 1834, abgesendet aus Gießen  : „Man nennt mich einen Spötter. Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, daß er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile.“ (MA 285–286) Deutlich tritt eine Skepsis hervor, die sich auf die existenzielle Bedingtheit der menschlichen Existenz bezieht.

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mungen, erscheint hierbei in einem zweifachen Sinn im revisionistischen Kleid. Denn weder ist in Büchners Schriften eine gänzliche Abkehr vom metaphysischen Modell auszumachen, noch schließt seine Bestandsaufnahme zu den Umständen, unter denen der Mensch sein Dasein fristet, das Ideal göttlicher Vollkommenheit grundsätzlich aus. Büchners teils aufklärerischer, teils revisionistischer Weltsicht ist dagegen die These von einer göttlichen Wesenhaftigkeit zuzuschreiben, die allein aus der ethisch verengten Sicht des Menschen als imperfekt erscheint. Geht es nach Büchners neo-rationalistischer Naturphilosophie, die sich den empirischen Forschungsleistungen nicht verschließen darf, wie seine Mahnung lautet, hat es der Mensch, wie bereits Leibniz in „Essai de Théodicée“ (1710) formulierte, mit der ‚besten aller möglichen Welten zu tun‘.10 Aus den abgeleiteten Themensträngen a)  ‚Mensch als Teil der Natur‘, b) ‚Mensch als Kreatur‘ sowie c) ‚Korrumpierung des freien Willens‘ setzt sich die Handlung in Drama wie Prosa leitmotivisch zusammen.

1. Kreatürlichkeit und Lebenswelt

Bereits in Dantons Tod werden nicht zuletzt die ‚inneren‘ Determinanten, an deren Spitze der Fortpflanzungsdrang auch quantitativ steht, einer differenzierenden Beschreibung unterzogen. Im Revolutionsstück beschreibt Büchner die Wirkkräfte, die von außen wie als Direktive des Organismus auf den Menschen eindringen. Weil zur Übergruppe der ‚Fremdbestimmung‘ auch das geschichtliche Telos zählt, erlangt der Pariser Schauplatz paradigmatische Qualität. Das französische Revolutionsgeschehen dient Büchner zur Beschreibung der Verbindung, die bei phänomenologischer Betrachtung zwischen dem ‚unvollendeten‘ Menschen und einem derartigen Lebensraum besteht. Danton spricht in der Auftaktszene von einer grundsätzlichen Unfähigkeit zu wahrer, inniger Begegnung und setzt damit eine Liebespraxis mit einem Eros 10 Konservativ sind die Ausführungen im Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 gehalten, soweit sie den Theodizee-Gedanken betreffen  : „Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll.“ (MA 306) Büchner ironisiert das Bild vom „liebe[n] Gott“ und das eines Schöpfers, „der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll“, um in – stiller – Ansetzung einer im pantheistischen Sinn göttlichen Wesenhaftigkeit deren Abbild zu bejahen  : die Natur im Gesamten. Demnach spricht der Brief tatsächlich gegen göttliche Unvollkommenheit und gewissermaßen für die von Leibniz vertretene Idee der ‚besten aller Welten‘.



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als vorrangige Triebfeder des Zueinanderfindens an  : „Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab, – wir sind sehr einsam.“ (MA 69) Über die biologische Familie der Elefanten stellt sich ein Bezug zur Tier- bzw. SäugetierSphäre her, der unverkennbar den Menschen in seiner Kreatürlichkeit betrifft. Ob mit den „Dickhäuter[n]“, die der Ordnung der Rüsseltiere zugehören, eine erotische Konnotierung intendiert war, hat aufgrund des Fehlens einer eindeutigen motivischen Einflechtung ungeklärt zu bleiben. Solch ein Symbolismus passte zwar nahtlos in den erweiterten Erotik- bzw. Derbheits-Diskurs, eine Initialsetzung ist allerdings nicht nachzuweisen.11 Durch Danton tritt der schwärmerischen Vorstellung wahrhaftiger Liebe ein erotisches Triebdiktat gegenüber, was zur Folge hat, dass der Mensch – gleich in der allerersten Szene  – als in seinen Motiven zu hinterfragende Existenz die Bühne vereinnahmt. Mit der Ironisierung des täglichen zwischenmenschlichen Umganges, was wahrhaftiges Sich-Erkennen und -Verstehen betrifft, wird in der Folge auch die Möglichkeit einer anatomisch-szientifischen Inventarisierung der gedanklichen Abläufe hinterfragt. Die Folgerung – dass die wahren Motive, die den Homo sapiens prägen, selbst dem Biologen unzugänglich bleiben (inklusive die in Liebesdingen)  – vermittelt sich gleich mit der Anschlussrede  : „Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen  ? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“ (MA 69) Das „[Z]erren“ ist Sinnbild für die analytische Methode des Sezierens, das paradoxerweise am noch lebendigen Gegenüber zu erfolgen hätte, um ein lebenswirkliches Abbild zu den gedanklichen Vorgängen zu erlangen – im Unterschied zum vorneweg ungeeigneten Mittel des anatomischen Präparates. In Anbetracht des zwischenmenschlichen Dilemmas, sei es im Liebes- oder Gesellschaftsbereich, überrascht es nicht, dass Danton an späterer Stelle – in der ersten Szene des zweiten Aktes  – ganz bewusst von einem Schöpfungs-„Fehler“ spricht  : „Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden, es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es uns einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen  ? Geht, wir sind elende Alchymisten.“ (MA 91) Wenn es um die Erörterung der 11 Für den Forschungsstand zu Büchner als Naturwissenschafter ist bezeichnend, dass die Tierbilder, die seine Literatur betreffen, auf befriedigende Weise bislang weder in den aufklärerischen noch in den anatomischen Kontext gestellt wurden  : „Eine eigenständige, das Gesamtwerk berücksichtigende Arbeit zu Büchners Tieren gibt es indes bisher noch nicht.“  ; Roland Borgards, Kultur und Wissenschaft  : Tiere. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 218–225, hier  : S. 218.

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Weltfragen geht, sind selbst der anatomischen Methode des ‚Wühlens‘ in den „Eingeweiden“ enge Erkenntnisgrenzen gesetzt. Inwieweit Büchners eigene Überzeugung hier abgebildet ist, wird ersichtlich, wenn man sich seine Idee eines ‚Urgesetzes‘ in Erinnerung ruft, die Spinozas Pantheismus entspricht. Deswegen haben Physiognomen, die sich auf die Suche nach dem ethischen Grund„Fehler“ begeben, grundsätzlich zu „Alchymisten“ zu verkommen  – von der chemisch-physiologischen Unzugänglichkeit der psychischen Innenwelt einmal abgesehen. In der Auftaktszene kommt mit Hérault, der sich darüber beklagt, dass „die Herren und Damen“ „so unanständig übereinander“ her-„fallen“, ein weiterer Liberalist zu Wort, das dieser jetzt, obwohl zum Kreis der Dantonisten zählend, kompromisslos non-sensualistisch gegen den Namensgeber selbst wendet (MA 70). Die Wirkung der Sexualität hinterfragt auch Simon, der Souffleur, der seine Ehefrau, die moralisch die sich verkaufende Tochter verteidigt, als „Kuppelpelz“, „runzliche Sublimatpille“ und „wurmstichische[n] Sündenapfel“ bezeichnet (MA 72). Die erotische Freigiebigkeit, die der bürgerliche Simon der eigenen Frau zuspricht – „Du Hurenbett, in jeder Runzel deines Leibes nistet Unzucht“ (MA 72), umfasst bei Büchner nicht ausschließlich das weibliche Geschlecht. Derartige Stellen, die motivisch – und auch textuell – dem erweiterten Einflussbereich der „Dickhäuter“ zugehören, verdeutlichen das Erosdiktat, das Männer wie Frauen gleichermaßen betrifft, und rechtfertigen mithin – so Büchner – die schmerzliche Gewissheit des aufgeklärten Menschen über die engen Grenzen der Selbstbestimmung. Während Danton von einem Mangel an zwischenmenschlicher Tiefe spricht, führt Simon die moralische Bewertung des Hérault fort. An späterer Stelle macht auch Danton den Eros zum Gegenstand des Moraldiskurses, unter dem verstärkten Hinweis auf das Tierhafte, das durch ‚Pelz‘ und „Dickhäuter“ zuvor noch rein symbolisch anklang  : „Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse  ?“ (MA 94) Unverkennbar neigt auch der literarische Danton dazu, die kreatürlichen Bedürfnisse des Menschen sensualistisch in ihr Recht einzusetzen. Dennoch fußt seine Lebenshaltung, wie der Abgleich mit den Redehaltungen der übrigen Figuren offenlegt, bereits auf aufklärerischen Einsichten. Von jeglichem Sensualismus sich distanzierend, formuliert in der vierten Entwurfsstufe des Woyzeck der Namensgeber des Stückes ebenfalls die kritischen Worte  : „Dreht Euch, wälzt Euch. Warum blast Gott nicht ‹die› Sonn aus, daß Alles in Unzucht sich übernander wälzt, Mann und Weib, Mensch u. Vieh. Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den Händen, wie die Mücken.“ (MA 229)



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Im Zuge der Liebes-Dekonstruktion der ersten Szene kommt auch die physiognomische Besonderheit zur Sprache, die den Homo sapiens gegenüber dem übrigen Tierreich auszeichnet, und zwar in der Wahrnehmung einer Dame, die eine Gefährdung der theologisch vermittelten Superiorität des Menschen sichtbar macht  : „Schlagen Sie den Daumen nicht so ein, es ist nicht zum Ansehn.“ (MA 69) Mittels einer stillen Assoziation, die von der Dame nicht als solche bezeichnet wird, scheint die Fragilität des theologisch verbürgten Existenzstatus auf, die Infragestellung des christlichen Erklärungsmodells, zu der die evolutionsbiologischen Erkenntnisse nicht unerheblich beitrugen. Infolgedessen hat der vollständig ausgebildete, uneingeschränkt funktionstüchtige „Daumen“, der die Hände zu komplexen Greifwerkzeugen macht, als evolutionärer Sonderfall eine „ganz eigne Physiognomie“, wie Hérault richtig antwortet (MA 69). Allerdings bleibt es nicht bei dem Versuch der Beschwichtigung, denn bereits mit der nachfolgenden, jetzt politisch orientierten Rede, die den Menschen der Tierwelt zuordnet – wenn auch mittelbar –, stellt sich die kritische Wahrnehmung zum Ausnahmestatus, etabliert durch die christliche Lehre, als gerechtfertigt dar  : „St. Just säh’ es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen Vieren kröchen, damit uns der Advokat von Arras [Robes­pierre] nach der Mechanik des Genfer Uhrmachers [Rousseau] Fallhütchen, Schulbänke und einen Herrgott erfände.“ (MA 70)12 Das Tugendstreben der Jakobiner, deren führendes Mitglied Robes­ pierre eine antiklerikale Politik betrieb und den ‚Kult des höchsten Wesens‘ schuf,13 wird von Hérault nun in den Blick genommen. Das beanstandete Fehlen von Ich- und Rational-Bewusstseins richtet sich keineswegs gegen den evolutionären Erklärungsansatz, sondern gegen das Lebensmodell Jean-Jacques Rousseaus, der die Idee eines zivilisatorischen Rückbaues vertrat, welcher die Jakobiner sich anschlossen. Damit äußert sich Hérault zu einem erzieherischen Neuentwurf, der den Menschen anfangs zum ‚unbeseelten‘ Tier bzw. verstandesmäßig noch unbegabten Kleinkind degradiert, in der Hoffnung auf einen ‚neuen‘ Menschen, die aus Gründen des ethischen Telos jedoch unbegründet ist. Hiermit tritt die existenzielle Bedrohung des Menschen als von zweifacher Seite gewahrte in Erscheinung  : durch eine besorgte Frauenfigur und einen führenden Vertreter der Dantonisten, wobei die Dame die Glaubensirritationen im Allgemeinen betont, während Hérault auf überholte Glaubensvorstellungen und 12 Vgl. zum Namensverweis, der mit dem „Genfer Uhrmacher[s]“ erfolgt  : Walter Hinderer, BüchnerKommentar zum dichterischen Werk. München 1977, S. 91. 13 Vgl. zum „Dogma“ der „Unsterblichkeit der Seele“, das von Robes­pierre vertreten wird  : Hinderer (1977), S. 94.

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-zeremonien rekurriert, die die Jakobiner betreffen. Dass die Gefahr als eine durchaus akute sichtbar wird, und nicht bloß als eine aktuelle, ist gesellschaftspolitisch auf die ethische Dimension des revolutionären Blutbades zurückzuführen und erfahrungswissenschaftlich auf die revolutionären Einsichten zu Mensch und Lebenswelt. Beide Dimensionen, sowohl der unmittelbare Bezug auf die Wirklichkeit als auch der abstrakte auf die Wissenschaft, weisen einen gemeinsamen aufklärerischen Bezugspunkt auf. Büchners Revolutionstragödie, die auf den Idealen der ‚Freiheit‘, ‚Gleichheit‘ und ‚Brüderlichkeit‘ gründet, tritt letztlich als eine grundsätzliche, den Menschen existenziell betreffende in Erscheinung. Folgerichtig zeigt sich das Bewusstsein, das den Menschen vom Tier trennt, in voller Amoralität, was in den Worten des in Abwesenheit angegriffenen Robes­pierre so lautet  : „In einer Stunde verrichtet der Geist mehr Taten des Gedankens, als der träge Organismus unsres Leibes in Jahren nachzutun vermag. Die Sünde ist im Gedanken. Ob der Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt, das ist Zufall.“ (MA 88) Obwohl Robes­pierre jetzt an den Aspekt des Missbrauches der Ratio anknüpft, stellt sich durch seine Lebensskepsis eine grundlegende Übereinstimmung mit der politischen Gegnerschaft her, die bei Danton auf der Überzeugung eines Schöpfungs-‚Fehlers‘ beruht und bei Hérault auf einem geschichtlichen Defätismus. Die rationale Befähigung eines Menschen, der weder zu einer mechanischen Apparatur noch zu einem (passiven) Impulsempfänger verkommt, dem Robes­pierre jedoch ein veritables Sittlichkeitsmanko bescheinigt, wird so grundsätzlich infrage gestellt. Der angewandte Begriff des ‚Zufalles‘ korrespondiert mit der Vorstellung des Menschen als Spielball eines als unethisch definierten Telos, das die Menschheit notwendig ins Verderben führt. Die unumgängliche Frage, inwieweit in diesem Punkt Büchners eigene Weltanschauung in Erscheinung tritt, ist folgendermaßen zu beantworten  : Einerseits spricht die figurensprachliche Hinterfragung der Nützlichkeit des Bewusstseins, wenn es um die ethischen Fertigkeiten geht, für eine defätistische Grundüberzeugung des Autors, die sich durch autobiografische Zeugnisse nachweisen lässt, andererseits war Büchner, der in seiner Züricher Vorlesung das teleologisch-mechanistische Weltbild dezidiert ablehnte, mit den weltanschaulichen Implikationen der Vorstellung eines Automatentums zumindest vertraut, wie einige Briefpassagen aus den jüngeren Jahren belegen.14 14 Im Brief an seine Braut, der im März 1834 entstand, wendet Büchner das teleologische, ‚kausal-



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Dem pessimistischen Sachverhalt entspricht, dass Danton der Menschheit das Prädikat ‚mangelhaft‘ verleiht, indem er – nach Hérault – ebenfalls das metaphysisch geprägte Tugendstreben angreift, für das die Jakobiner einstehen  : „Von einem Misthaufen auf den andern  ! Nicht wahr, die göttliche Klassentheorie  ? Von prima nach secunda, von secunda nach tertia u.s. weiter  ? Ich habe die Schulbänke satt, ich habe mir Gesäßschwielen wie ein Affe darauf gesessen.“ (MA 118) Danton erhebt gegen die klassische Heils-Teleologie Einspruch und verneint so die Sinnhaftigkeit eines jeglichen Strebens nach sittlichem Perfektibilismus, was in einer Negation der Idee vom geschichtlichen Fortschritt mündet.15 Fraglich bleibt, ob Büchners Danton das erlöserische Konzept des Christentums ganz bewusst auf den deistischen Ersatzkult übertragen sieht oder es lediglich zu rhetorischen Zwecken der neuen Glaubenskultur zugerechnet wird. Dass die Stationen der Heilserlangung mit „Misthaufen“ konnotiert sind, deutet abgesehen von dem ethischen Telos auf einen Existenzialmangel im Irdischen. Zurück bleibt beim Leser der Eindruck von einer Glaubenserosion, die allmählich zu einer Negierung der religiösen Dogmen führt. Neben dem Verlauf der jeweiligen, individuellen Lebensgeschichte, die vielfältigen Einflussfaktoren ausgesetzt und mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht restlos zu ergründen ist – wie Büchner nahelegt –, scheint auch der Fortgang der Weltgeschichte als ein beeinflusster Prozess auf, der darüber hinaus sogar vorherbestimmt ist  : „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen  ; nichts, nichts wir selbst  ! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.“ (MA 100) Mit den Menschen, die als „Schwerter“ der Revolution bezeichnet werden, und als „Puppen“, „von unbekannten Gewalten am Draht gezogen“, wird ersichtlich, dass es mechanistische‘ (Roth 2004, 229) Motiv an  : „Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah […] – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend […] in himmlischen Ohren stirbt  ?“ (MA 287) Die Schöpfungskritik, die mit der teleologischen Natursicht einhergeht, verstößt gegen den Pantheismus- bzw. den ‚Urgesetz‘-Gedanken. Diese Bekenntnisse, die Büchners Lehrmeinung antithetisch entgegenstehen, sprechen für grundsätzliche Irritationen, die zumindest im Jahr 1834 bestanden hatten. 15 Vgl. zur Besonderheit der „Geschichtsauffassung“, die Danton und Robes­pierre voneinander trennt  : Theo Elm, Georg Büchner  : Individuum und Geschichte in Dantons Tod. In  : Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. Ulrich Fülleborn zum 60. Geburtstag. Hg. von dems. und Gerd Hemmerich. München 1982, S. 167–184, hier  : S. 176.

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dem Menschen an der Möglichkeit der politischen Selbstbestimmung gebricht. Weder die zuweilen derb unmoralische Lebenswirklichkeit, angesiedelt im Graubereich aus kreatürlichem Trieb und missbrauchtem Bewusstsein, noch die nicht selten gewalttätig ausgetragenen politischen Konflikte, die sich auf den Bühnen dieser Welt zutragen, sind Büchner zufolge dazu angetan, einen hoffnungsfroh zu stimmen. Die Spielpuppen, die den Determinanten sinnbildhaft vorstehen, sind nicht als Werkzeuge einer steuernd eingreifenden Gottheit zu verstehen, sondern als von einer ins Unglück führenden Geschichtsteleologie Betroffene. In seiner Passivität steht der politisch bedrängte Danton, der den Intrigen lange Zeit nichts entgegensetzt, für eine Sprach- und Aktionslosigkeit, die aus einem unversöhnlichen Weltpessimismus resultiert. Erst vor dem Nationalkonvent wird Danton, von der Volksmasse angestachelt und mit seinem politischen Schicksal konfrontiert, die eigene Stimme wiederfinden. Durch einen Herrn aus dem Volk, der sich speziell auf das „Unzucht“-Motiv bezieht (MA 94), gerät das geschichtliche Marionettenwesen überdies ins Blickfeld  : „Alle technischen Künste bekommen dadurch eine andere Physiognomie. Die Menschheit eilt mit Riesenschritten ihrer hohen Bestimmung entgegen.“ (MA 95) Die Gleichsetzung der „technischen Künste“ mit der „Physiognomie“ der „Menschheit“ verweist auf die Unheils-Teleologie  ; das mechanistische Motivkleid ist daher nicht zufällig gewählt. Weil die Möglichkeit ethischer Selbstbestimmung verneint wird, hat die Menschheit nach dem Beispiel eines fremdgesteuerten Apparates auf eine Katastrophe zuzusteuern. Diesem Citoyen gemäß ist das Schicksal der Menschheit mechanisch-teleologisch vorherbestimmt, sofern dieses ethisch verstanden wird, was mit Blick auf die Apparatur der Guillotine nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Die Voraussage folgt auf eine Rede, in der Danton vom „Himmel“ spricht, der „bersten“ „müsse“, und von der „Erde“, die „sich wälzen“ „müsse“ „vor Lachen“ (MA 95) – vertritt der Revolutionär doch ebenfalls die Idee eines unabwendbaren Unheils. Camille – ein weiterer Dantonist – beschreibt die historische wie existenzielle Wahrnehmung der zusehends an der Aufklärung orientierten Zeitgenossen. Fasziniert von einer wundersamen Verwandtschaft, die nicht allein in den Spielpuppen des Marionettentheaters vorgefunden wird, scheint in den diversen Bühnenaufführungen so mancher Kunstliebhaber sein Ebenbild auszumachen, wie die hintergründige Bedeutung des vorliegenden Kunstgeschmackes lautet  : Ich sage Euch, wenn sie nicht Alles in hölzernen Kopien bekommen, verzettelt in

Theatern, Konzerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen noch Ohren

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dafür. Schnitzt Einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem

sie gezerrt wird und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen,

welch ein Charakter, welche Konsequenz  ! Nimmt Einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße,

färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich 3 Akte hindurch herumquälen, bis es

sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal  ! Fiedelt Einer eine Oper, wel-

che das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wiedergibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach die Kunst  ! (MA 95–96)

Nicht wenige Theatergänger ziehen der als „erbärmlich[e]“ gewahrten „Wirklichkeit“, die von sozialer Bedürftigkeit und politischem Umbruch bestimmt wird, die Künstlichkeit der „Theater[n], Konzerte[n] und Kunstausstellungen“ vor, um für sich die Möglichkeit zu schaffen, die lebensweltlichen Erfahrungen im geschützten Raum der Wirklichkeitssimulation einer Überprüfung zu unterziehen  : Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse  : ach, die erbärmliche Wirklichkeit  !

Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung,

die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu

gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen in’s Theater, lesen Gedichte und Ro-

mane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöp-

fen  : wie gewöhnlich  ! (MA 96)

Die „hölzernen Kopien“ erweitern das Motivfeld des Heils- zu dem des Existenzial-Defätismus. Die vordergründig harmlose Kritik des Camille  – die Kunstbeflissenen „vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten“ – bezieht sich zugleich auf das erwähnte Unheils-teleologische Weltbild, das ebenfalls den etablierten Autonomiegedanken relativiert, wenngleich auf negierende Weise. Auch den Holzpuppen im Kunstgespräch des Lenz, zwecks Erörterung ästhetischer Fragen eingeführt, kommt jene motivische Qualität zu  : „Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.“ (MA 144) In der Nachfolge einer Glaubensabkehr stehend, die nach den Zeiten religiöser Beseeltheit zusehends eine kollektive Dimension annimmt, bricht sich eine defätistische Weltdeutung Bahn, die  – wie der Werkabgleich nahelegt  – auch das deterministische Element beinhaltet, basierend auf der Überzeugung, dass im Irdischen kein Heil zu erlangen ist. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in Dantons Tod die umfassende Palette menschlicher Determiniertheit aufscheint, inklusive der Trieb- bzw. Be-

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dürfnisexistenz des Menschen. Zu der hiervon ableitbaren Weltsicht bekennt sich Danton auf eine Weise, die jegliche Zweideutigkeiten ausschließt  : Nein, höre  ! Die Leute sagen im Grab sei Ruhe und Grab und Ruhe seien eins. Wenn das ist, lieg’ ich in deinem Schoß schon unter der Erde. Du süßes Grab, deine Lippen

sind Totenglocken, deine Stimme ist mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel

und dein Herz mein Sarg. (MA 69)

Durch einen Danton, der die Geliebte mit einem „Grab“-Bildnis gleichsetzt, tritt das Wesen einer lebensunwerten Existenz unter zwei signifikanten Gesichtspunkten zutage  : als ‚determinierender Eros‘, der keineswegs teleologisch klassifiziert wird, und als ‚irdische Endlichkeit‘, mit der sich ein erlöserisches Manko einstellt. Anhand einiger Bürger im staatsrechtlichen Sinn wird ebenfalls eine Todessehnsucht ablesbar  : „Besser hangen in der Luft, / Als verfaulen in der Gruft  !“ (MA 74) Die „Gruft“ bezeichnet als Gegenentwurf zur offiziellen Hinrichtungsform – zum Guillotinieren – die menschliche Existenz, die als ‚Sterben bei lebendigem Leib‘ kenntlich gemacht wird. Büchners Drama, das vordergründig den Kampf um politische Selbstbestimmung beschreibt, gibt hintergründig ein Abbild von den weltanschaulichen Irritationen, die auf wesentliche Teile des Volkes übergingen. Und ein weiterer Bürger, die Marionetten-Motivik mit einbeziehend, formuliert  : „[…] wir hängen 60  Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden.“ (MA 74) Einmal mehr verdeutlicht die Passage, dass mit dem Danton-Drama eine literarische Stellungnahme des Autors zur – im Volk gewahrten – Frage eines frei bzw. in Würde gelebten Daseins vorliegt, deren Beantwortung mit den auftretenden Figuren unverkennbar pessimistisch ausfällt. Nicht zuletzt aus den kritischen Worten des liberalen Revolutionärs spricht der akademisch gebildete Anatom, der seinen wissentlichen Reim, den er sich auf die Spezies Mensch macht, erstmals literarisch zu Papier bringt. Aus der Annahme ethischer Imperfektion, die als solche stets der Perspektive des Menschen bedarf und damit auf dessen Subjektivität eingeschränkt bleibt, geht die Überzeugung eines katastrophischen Telos hervor. Selbst die vollzogene Synthese aus Spinozas Pantheismus und Leibniz’ Theodizee entwirft vor dem Leser eine defätistische Sicht, zumal sich der Autor eine Lebenswirklichkeit erschreibt, die weder die ethische noch die existenzielle Kategorie der Freiheit kennt. Wenn Büchner im Brief vom 28. Juli 1835 den Schöpfungsgedanken aufgreift – „Gott,

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der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll“ (MA 306) –, so scheint das mit dem ironischen Ziel geschehen zu sein, auf die Überkommenheit der Vorstellung eines körperlichen Gottes hinzuweisen sowie auf die etablierte Glaubenspraxis als rituellen Unrat. Als Anhänger einer zwar an der Vernunft orientierten, doch pantheistischen Weltsicht vertrat Büchner einen Naturbegriff, der – in Entsprechung zu Spinoza – das transzendente Element in dem Sinn einschloss, dass diesem die Gesamtheit der Naturerscheinungen als phänomenologischer ‚Urraum‘ zugewiesen wurde. Dieser Grundton erklärt, warum in Leonce und Lena der Thronfolger, durch das Hofleben gelangweilt, zum Leben existenzial-kritisch Stellung bezieht, darlegend, dass Tiere wie Menschen „nichts als raffinierte Müßiggänger“ „sind“, wodurch das beschwerliche Leben weiter Gesellschaftsteile, nicht selten auf puren Grunderhalt bedacht, zum „Laster“ verkommt  : Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem

Boden. Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang.  – Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben  ! Sie studieren aus Langeweile,

sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Lange-

weile und sterben endlich aus Langeweile, und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß

was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese

Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinierte Müßiggänger. (MA

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Emotional befangen, weil wabernder „Langeweile“ ausgesetzt, überträgt Leonce als Thronfolger sein eigenes Zeitempfinden auf die Gesamtheit des seinem Vater unterstehenden Volkes, dessen breiteste Gesellschaftsschicht in Wahrheit fast regelhaft von der täglichen Sorge um den Lebensunterhalt getrieben wird, keineswegs aber von aufklärerischen Philosophien, wie der Prinz sie kennt. Das aufklärerische Wesen seiner Sichtweise, die letztlich zur politischen Frage der Staatsform überleitet, liegt darin begründet, dass die Grundmotive, die den Menschen an die Bewältigung der großen Lebensaufgaben heranführen – von „sich“ „verlieben, verheiraten und vermehren“ ist die Rede  –, als zu hinterfragende Zielsetzungen aufscheinen. Ein Nebenmotiv ist mit dem „Sonnenschein“, der „so faul auf dem Boden“ „liegt“, auszumachen, als Ergebnis einer tief sitzenden Skepsis, die schon kurz darauf, nach erfolgter Flucht vom Hofe, zu einer akuten Lebensverneinung führen wird. Weil auch im Fall dieser absolutistisch

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regierten Monarchie eine Blut wie Schweiß vergießende Arbeiter- bzw. Bauernschaft anzusetzen ist, vollzieht sich mit der Thronfolger-Philosophie auf verdeckte Weise eine Kritik an der geltenden Staatsform – ganz im Sinn des existenziell gehaltenen Aufklärungsdiktums. Die vielfältigen Faktoren, die den Menschen in seinem Handeln beeinflussen, beschreibt Leonce anschließend, bezugnehmend auf die eigene Person, die nicht zufällig ins bildliche Kleid einer „Puppe“ – nämlich einer „armen“ – gekleidet wird  : „Warum muß ich es grade wissen  ? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde  ?“ (MA 162) Die soziale Disposition, die wesentlich das Ausmaß der zur Schau getragenen Moralpraxis bestimmt, wird als entscheidender Bedingungsfaktor anerkannt. Büchner ordnet die Rede des Prinzen zur Sozialdetermination, die seine eigene These von der (partiellen) Verdinglichung des Menschen berührt, wohlweislich dem klassischen Puppenbild zu. Nachdem die allgemeinen Lebensziele in einen unverkennbar deterministischen Bezugsrahmen gestellt wurden, erfolgt die Beschreibung des Menschen als Lebensform, die  – einem Uhrwerk gleich – ins Stocken geraten ist  : Der Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln

mögen. O wer einmal jemand Anderes sein könnte  ! Nur ’ne Minute lang. Wie der

Mensch läuft  ! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte laufen machen. (MA 162)

Das Bestaunen eines Menschen, der „läuft“, beweist die Existenz philosophischer Einsichten, die beim Prinzen, der ganz in seiner Beobachterposition verharrt, den weitgehenden Verlust einer unbefangenen Lebensführung nach sich ziehen. Das besondere „[W]issen“, für das in der Komödie „grade“ der Prinz steht, betrifft die allgegenwärtige Imperfektion, der sich vor allem der aufgeklärte Blick nicht zu entziehen vermag (MA 162). Das mechanistische Motivelement bezieht sich allerdings nicht länger auf die moralische Dimension, und damit auf die Unheils-Teleologie, sondern nunmehr auf eine biologische Zweckhaftigkeit, die den Menschen zu einer fremdgesteuerten Apparatur macht. Der Abgleich mit Büchners Briefzeugnissen legt die Annahme nahe, dass wie der Autor auch dessen literarische Figur zeitweiligen Zweifeln am naturphilosophischen Weltbild ausgesetzt ist. Mit Leonce’ Kritik manifestiert sich ein Leitbild, das im damaligen Deutschland für breite Gesellschaftsschich-



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ten untypisch war – was Breitenwirkung und psychologische Relevanz betrifft –, so dass es bei den wenigsten Menschen zu nachhaltigen Irritationen, einem melancholischen Gemütszustand führte. Der grundsätzliche Existenzialzweifel mündet bei Lenz nach ersten Eskalationen sogar in einem selbstzerstörerischen Verhalten und wird dann schließlich durch eine pantheistische Überzeugung bestimmt. Wenn der Mensch physiologisch als „Substanz“ definiert wird, schlägt wiederholt ein naturwissenschaftlicher Grundton durch, dem nach der Figur des Prätendenten jetzt auch der Regent Ausdruck verleiht  : Der Mensch muß denken und ich muß für meine Untertanen denken, denn sie denken nicht, sie denken nicht. – Die Substanz ist das an sich, das bin ich. (Er läuft fast

nackt im Zimmer herum.) Begriffen  ? An sich ist an sich, versteht Ihr  ? Jetzt kommen

meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und Akzidenzien, wo ist mein Hemd, meine Hose  ? – Halt, pfui  ! der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral,

wo sind die Manschetten  ? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es

sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein

ganzes System ist ruiniert. – Ha, was bedeutet der Knopf im Schnupftuch  ? Kerl, was bedeutet der Knopf, an was wollte ich mich erinnern  ? (MA 164)

Während der „nackt[e]“ Mensch einerseits dem Inneren, dem Organismus, bildhaft vorsteht, und andererseits dem Äußeren, der körperlichen Hülle, symbolisieren die Kleidungsstücke philosophische Kategorien, die bedeutenden Schriften entstammen.16 Der Begriff der „Substanz“ bezeichnet dabei die chemischen Vorgänge im menschlichen Körper, denen auch das Organ des Gehirns  – als physiognomischer Sitz des Verstandes  – unterworfen ist. Vor der Folie dieser stofflich-triebhaften Prädestination gesprochen, wird die „offen[e]“ Hose zum Symbolgeber für einen stetig einwirkenden Eros, der dem ironisch gebrauchten „freie[n] Wille[n]“ unversöhnlich entgegensteht. Auch das Denkvermögen, gegeben dem gemeinen Volk, bewertet der König kritisch, im Gegensatz zu seiner eigenen Person, der er als Folge der genealogischen Superiorität eine Sonderstellung zubilligt. Die vorgenommene Unterscheidung widerspricht der ansonsten aufklärerischen Sichtweise. Folglich wird die Selbstzuschreibung durch eine Fehlleistung ad absurdum geführt  – ob als Freud’sche oder wesenhafte bleibt 16 Siehe u. a. zur „Ironisierung von Descartes’ ‚cogito ergo sum‘“ sowie zur Bezugnahme auf Spinoza, die über den ‚Substanz‘- und ‚Attribut‘-Begriff erfolgt  : Hinderer (1977), S. 138–139.

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ungeklärt. Jedenfalls wird man Zeuge der unfreiwilligen Infragestellung, die sich vollzieht durch den König, der schlichtweg den Zweck des Knotens in seinem Tuch vergisst, der ihn „an [s]ein Volk erinnern“ soll (MA 164). Obendrein scheint der Trieb nach Fortpflanzung in der Rede des Zeremonienmeisters auf, jetzt mit schöpfungskritischem Bezug, wodurch der Homo sapiens in eine gemeinsame klassifikatorische Reihe mit Kleintieren gerät  : Es ist ein Jammer. Alles geht zu Grund. Die Braten schnurren ein. Alle Glückwünsche stehen ab. Alle Vatermörder legen sich um, wie melancholische Schweinsohren.

Den Bauern wachsen die Nägel und der Bart wieder. Den Soldaten gehn die Locken

auf. [Von den zwölf Unschuldigen ist Keine, die nicht das horizontale Verhalten dem

senkrechten vorzöge. Sie] sehen in ihren weißen Kleidchen aus wie erschöpfte Sei-

denhasen und der Hof-Poet grunzt um sie herum wie ein bekümmertes Meerschweinchen. Die Herrn Offiziere kommen um all ihre Haltung. (Zu einem Diener.)

Sage doch dem Herrn Kandidaten, er möge seine Buben einmal das Wasser abschlagen lassen. – Der arme Herr Hofprediger  ! Sein Frack läßt den Schweif ganz melancholisch hängen. Ich glaube er hat Ideale und verwandelt alle Kammerherrn in

Kammerstühle. Er ist müde vom Stehen. (MA 183)

Während in Dantons Tod beinahe ausschließlich politische Agitatoren und gelegentlich einfache Menschen aus dem Volk als Sprachrohr der aufklärerischen Gesinnung auftreten, wird mit Leonce und Lena die Hofgesellschaft nicht nur nicht länger ausgespart, sondern die am Hofe angesagte Weltsicht mit einem Mal auch in den Mittelpunkt gerückt. Gemäß der heliozentrischen Sicht, die im frühen 19.  Jahrhundert nicht mehr allein in Gelehrtenzirkeln und Geheimgesellschaften vorherrschte, betrachtete man den menschlichen Organismus auch im Kontext der ‚natürlichen‘ Abfallprodukte – und damit nicht länger als theozentrische Krone der Schöpfung. Neben den Horngebilden „Nägel“, „Bart“ und „Locken“ wird der nach vollzogenem Stoffwechsel auszuscheidende Urin angeführt. Eine biologisch-genealogische Zugehörigkeit zum Tierreich stellt sich mit den „Seidenhasen“ und dem „bekümmerte[n] Meerschweinchen“ her. Folgende Differenzierung des Motivs weist ebenfalls auf den Konnex zwischen Mensch und Tier hin  : „Sein Frack läßt den Schweif […] hängen.“ Auch mit Leonce, dessen Ausführungen denen des Dieners vorangehen, wird der Mensch in die Nähe eines domestizierten Tieres, in die des Haushundes, gestellt  : „Was die Leute für Gesichter machen, wenn sie das Wort Platz hören  !“ (MA 170) Späterhin äußert sich ein Diener zur begrenzten Zeitlichkeit des irdischen Seins,

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gemäß der dominierenden Existenzialkritik, die den etablierten Glaubensvorstellungen entgegensteht  : „Alles Fleisch verdirbt vom Stehen.“ (MA 183) All diese Charakterisierungen sprechen letztlich für die Überzeugung, dass der Mensch eine Existenzform darstellt, die augenscheinlich imperfekte Züge trägt – wie schon am Namen der zugeordneten Abstammungslinien ersichtlich wird  : Peter, der König „vom Reiche Popo“, und Lena, die Prinzessin „vom Reiche Pipi“. Die Beschwörung des Kreatürlichen setzt sich in einem Bruchstück der Komödie fort, durch eine Gleichsetzung des gewöhnlichen Volkes mit Ameisen, für die der arbeitsscheue Valerio verantwortlich zeichnet  : Seht diese Ameisen, liebe Kinder, es ist bewundernswürdig welcher Instinkt in diesen kleinen Geschöpfen, Ordnung, Fleiß – Herr, es gibt nur drei Arten sein Geld auf eine

menschliche Weise zu verdienen, es finden, in der Lotterie gewinnen, erben oder in

Gottes-Namen stehlen, wenn man die Geschicklichkeit hat keine Gewissensbisse zu bekommen. (MA 192)

Kritisch äußert sich Valerio zur ökonomischen Ausbeutung, die zwischen Adelsstand und wohlhabendem Bürgertum einerseits und den einfachen Bürgern  – den Bauern wie Arbeitern – andererseits erfolgt. Daraufhin stellt Valerio, dessen Aufstieg ihn bis in ein Ministerialamt führt, einen weiteren, gleichgearteten Vergleich mit dem Volk an  : Aber dennoch sind die Ameisen ein sehr nützliches Ungeziefer und doch sind sie

wieder nicht so nützlich, als wenn sie gar keinen Schaden täten. Nichts destoweniger, wertestes Ungeziefer, kann ich mir nicht das Vergnügen versagen einigen von Ihnen mit der Ferse auf den Hintern zu schlagen, die Nasen zu putzen und die Nägel zu schneiden. (MA 192–193)

Die Formulierung „als wenn sie gar keinen Schaden täten“ meint ein in vielerlei Hinsicht imperfektes Wesen des Menschen. Somit geht die Kritik an den sozialen Verhältnissen allmählich in eine existenziale über, die im Sinn des Kreatürlichen die Ameisen zu Repräsentanten der Menschheit macht. Mit dieser Sichtweise eines Mannes aus dem unteren Sozialspektrum festigt der Autor die Kritik an den sozialen wie existenzialen Miss-Ständen. Folgerichtig wird der Liebes-Begriff in Leonce und Lena ausdrücklich entromantisiert, und wie in Dantons Tod erneut durch die männliche Titelfigur  :

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Ein sonderbares Ding um die Liebe. Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas Wasser, zieht seine

Kleider an und fährt sich mit der Hand über die Stirn und besinnt sich – und besinnt sich. – Mein Gott, wieviel Weiber hat man nötig, um die Skala der Liebe auf und ab zu singen  ? Kaum daß Eine einen Ton ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde

ein Prisma, das den weißen Glutstrahl der Liebe in einen Regenbogen bricht  ? – (Er

trinkt.) (MA 167–168)

Der „Ding“-Begriff beruht auf dem Status eines Menschen, dem einzig die Befähigung zu körperlicher Liebe gegeben ist, wie die stellvertretende Aussage Leonce’ lautet. Die Ursachenforschung zur Maß- und Ziellosigkeit der Wirkkraft, die dem Eros zugerechnet wird, endet sinnbildlich im vollen Farbspektrum des Lichtes  : in einem Naturphänomen.17 Das hiervon abgeleitete Bedürfnis nach Berauschung, das der Thronfolger ansetzt, entspringt einer schlichtweg unerträglichen Lebensweltlichkeit  : In welcher Bouteille steckt denn der Wein, an dem ich mich heute betrinken soll  ? Bringe ich es nicht einmal mehr so weit  ? Ich sitze wie unter einer Luftpumpe. Die

Luft so scharf und dünn, daß mich friert, als sollte ich in Nankinhosen Schlittschuh laufen. (MA 168)

Die „dünn[e]“ „Luft“ samt der „Luftpumpe“ bilden gleichnishaft eine den Menschen auch physisch belastende Lebensordnung ab. Nicht zuletzt mit der Prinzessin wird einsichtig, dass man es bei Büchner mit einer im Heilssinn unrettbaren Menschheit zu tun hat  : Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen mit unserem Schmerz  ? Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne

seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und Len-

den  ? (MA 173)

Die Gleichsetzung der Begriffe „Heiland“ und „Welt“, mit der auf Spinozas Naturverständnis verwiesen wird, offeriert eine gesonderte Bedeutung. Denn 17 Vgl. zum „verbreitete[n] zeitgenössische[n] Unbehagen am Determinismus der Natur“ und „am mechanistischen Körperverständnis“ u. a. Herrmanns Unterkapitel „Natur“  : Britta Herrmann, Ästhetik und Poetik  : Automaten und Marionetten. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 255–260, hier  : S. 255.



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wie mit Leonce wirken auf die Verlobte aufklärerische Gedanken ein, die das religiöse Grundmodell aus Schuld, Sühne und Erlösung betreffen. Diese Glaubensskepsis verschärft nicht nur den Tonfall, sondern erweitert auch den substanziellen Gehalt der Kritik. Von der Frage der Erlösbarkeit eines vielfältig (in-)disponierten Menschen ist motivisch kein weites Stück mehr zu seiner Beschreibung als Maschine zurückzulegen, deren nicht-ethische Variante Büchner für sich als Weltmodell verwirft. Zu den grundsätzlichen Bewusstseins-Fertigkeiten äußert sich Valerio, der das Brautpaar in die Hofgesellschaft einführt, unter Bezug auf sich selbst wie folgt  : Aber eigentlich wollte ich einer hohen und geehrten Gesellschaft verkündigen, daß

hiemit die zwei weltberühmten Automaten angekommen sind und daß ich vielleicht

der dritte und merkwürdigste von beiden bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüßte,

wer ich wäre, worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich selbst gar

nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß,

so daß es höchst wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden l ä ß t , und es eigent-

lich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen. (MA 186)

Am Beispiel der Brautleute, die in dem Ansinnen als Automatenpaar eingeführt werden, bei den Versammelten Verständnis für den vermeintlichen Bruch der genealogischen Gepflogenheiten zu erwecken, entfaltet sich das Bild einer Weltordnung, die vollends dem Zweckprinzip gehorcht. Die weltanschauliche Bedeutung für Valerio bleibt dennoch ungeklärt, weil es sich um eine rhetorische Vorsorgemaßnahme handelt und der Untergebene sich nur konjunktivisch dem Automatenpaar zurechnet – „wenn ich eigentlich selbst recht wüßte, wer ich wäre“ –, um das Volk affektiv anzusprechen. Die Idee eines Scheinbewusstseins, die auf der Annahme beruht, dass „es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen“, geht auf dieses teleologische Prinzip zurück. Daher wäre es unangebracht, den Aussagewert undifferenziert auf die Sichtweise des Adressanten zu übertragen und in diesem womöglich das Sprachrohr des Autors zu sehen. Immerhin bleibt festzuhalten, dass Valerio gedanklich am teleologischen Weltbild partizipiert, was bezeichnend ist für die aufklärerischen Irritationen, die Büchners Literatur benennt. Wenn dieser im zitierten Brief vom März 1834 existenzial-kritisch erklärt, „[s]ich vor [s]einer Stimme“ und „vor [s]einem Spiegel“ zu „fürchte[n]“ (MA 287), und den Menschen mithin als physiognomischen Apparat beschreibt, wird der fiktionale Aussagewert von den autobiografischen Dokumenten überlagert.

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Weil der Herrscher diesem Ehebund nicht zustimmte, wie die beiden Liebenden fälschlich annehmen, soll die Ehelichung inkognito vollzogen werden. Die zu diesem Zweck getragenen Masken – die das Fehlen von Freiheit anzeigen – bilden neben den höfischen Maßregelungen die existenzielle Entmündigung des Menschen ab. Die Regieanweisung, die für Valerios Rede ein ‚Schnarren‘ vorsieht – die Erzeugung sich hölzern anhörender Töne –,18 dient Büchner dazu, dem Zuschauer das mechanistische Wesen auch auf akustischem Weg vorzuführen  : Sehen Sie hier meine Herren und Damen, zwei Personen beiderlei Geschlechts, ein

Männchen und ein Weibchen, einen Herr[n] und eine Dame. Nichts als Kunst und

Mechanismus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern. Jede hat eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein wenig und die Mechanik läuft volle funfzig Jahre. (MA 186)

In diesem Bilderrätsel wird die Herkunft der Steuerungsimpulse nicht eindeutig ausgewiesen, so dass letztendlich der Grundeindruck der Fremdbestimmtheit verbleibt. Die beschriebene Zweckmechanik, dem Nahbereich der Kunst zugeordnet, korreliert dabei nicht zufällig mit der Bedeutung, die gerade die Marionetten – als an Fäden dirigierte Spielpuppen – eignen. In Heinrich von Kleists Schrift Über das Marionettentheater, die über die Grenzen eines ästhetischen Diskurses hinausgeht, ist eine derartige biologische bzw. ethische Teleologie schon im Jahr 1810 auszumachen. So wie Büchner vertritt Kleist die Überzeugung, dass die Verderbtheit des Menschen alles durchdringend ist und das der Menschheit daraus erwachsende Schicksal unabänderlich.19 Die Behauptung eines Automatentums dient Valerio zum anderen dazu, eine kritische Ankopplung des genealogisch begründeten Machtanspruches – dieses aristokratischen Pendants zur beschränkten Wahlfreiheit  – an die aufklärerischen Einsichten seiner Hörerschaft herzustellen. Dem zweifachen Aussagewert entsprechend, bezieht Valerio den mechanistischen Aspekt, abgesehen von der Adelsklasse, auch auf ein grob umrissenes Existenzial  :

18 Die Regieanweisung lautet  : Mit schnarrendem Ton. (MA 186) 19 Siehe Vf., Christliche Theodizee und Erlösungsteleologie in Heinrich von Kleists Erzählungen. Wien 2011.

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Diese Personen sind so vollkommen gearbeitet, daß man sie von andern Menschen gar

nicht unterscheiden könnte, wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind, man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen. Sie

sind sehr edel, denn sie sprechen hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie ste-

hen auf den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu Mittag, und gehen

auf den Glockenschlag zu Bett, auch haben sie [eine] gute Verdauung, was beweist, daß sie ein gutes Gewissen haben. [Sie haben ein feines sittliches Gefühl, denn die

Dame hat gar kein Wort für den Begriff Beinkleider, und dem Herrn ist es rein unmöglich, hinter einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf oder vor ihm hinunterzuge-

hen.] Sie sind sehr gebildet, denn die Dame singt alle neuen Opern und der Herr trägt

Manschetten. (MA 186)

Eigenschaften wie ‚Bildung‘ und Tugendhaftigkeit werden vonseiten der führenden Klasse dazu verwendet  – wie auch die Figur des Woyzeck artikuliert, ja deren Beispiel zeigt  –, die beanspruchte Führungsrolle zu legitimieren. Dem entgegengesetzt handelt Valerio, weil er der vermeintlichen Frevelhochzeit gewissermaßen die Bedeutung einer Selbstbefreiung gibt. Die Aussage, dass „man“ „sie“ „eigentlich“  – nämlich die beiden Automaten  – „zu Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machen“ „könnte“, bezieht sich daher ironisch-kritisch auf das festgefügte Hofzeremoniell, aber gleichzeitig auch auf den existenziellen Status des Menschen. Mit einem Valerio, der von einem „Mechanismus der Liebe“ spricht, setzt sich diese Doppelung des Aussagewertes in der Hochzeitsszene weiter fort, wobei das Hauptgewicht nun auf letzterem Aspekt liegt  : Geben Sie Acht, meine Herren und Damen, sie sind jetzt in einem interessanten St[a]­dium, der Mechanismus der Liebe fängt an sich zu äußern, der Herr hat der Dame

schon einigemal den Shawl getragen, die Dame hat schon einigemal die Augen ver-

dreht und gen Himmel geblickt. Beide haben schon mehrmals geflüstert  : Glaube,

Liebe, Hoffnung  ! beide sehen bereits ganz akkordiert aus, es fehlt nur noch das einzige Wörtchen  : Amen. (MA 186–187)

Zum Motiv der bevormundeten Eheschließung tritt eine Liebeskonzeption, die zu Beginn des Stückes bereits Danton vertrat und die jetzt abermals aufgenommen wird, durch eine Herabwürdigung der Verbindung  – nicht nur der ehelichen – zwischen Mann und Frau zu einem reinen „Mechanismus“. Der hintergründige Aussagewert erlaubt die Folgerung, dass sich der augenscheinlich imperfekten Lebensweltlichkeit auch Vertreter der Adelsklasse ausgesetzt sehen.

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Auf eine verborgene, dem direkten rezeptiven Zugriff entzogene Weise scheint Leonce so einem Existenzial zugehörig zu sein, das die Allgemeinheit betrifft. Ausgehend von der Verbindung zwischen Leonce und Lena, die dazu prädestiniert ist, auf den Sündenfall zu verweisen, bringt Valerio das SchöpfungsMotiv ins Spiel  : „[…] so wäre denn das Männlein und das Fräulein erschaffen und alle Tiere des Paradieses stehen um sie.“ (MA 187) Die geschlechtlichen Fingerzeige, die mit den „Tiere[n]“ einhergehen, übertragen Kreatürliches auf den „Männlein“- und „Fräulein“-Begriff und machen daraus Männchen und Weibchen. Deshalb wäre schon den beiden Ur-Automaten – in Valerios Terminologie  : Adam und Eva – ein kreatürliches Verhalten in die Wiege gelegt worden, würde der unüberhörbar ironisierende Ton nicht die Zusatzfrage aufwerfen, ob man den Genesis- nicht besser durch den Pantheismus-Gedanken zu ersetzen habe. Unüberhörbar negativ fällt der Grundton aus in der Bewertung der Möglichkeit irdischer Heilserlangung, die Valerio durch den Rückgriff auf die beschriebene Geschlechter-Terminologie anstellt (MA 187).20

2. Die Hybridität des Naturbegriffes

Der Lehrsatz von der Einheit alles Seienden – von Natur, Mensch und Kosmos – mit Gott, den Spinoza in seiner Ethica formulierte (1677, posthum), diente Büchner als naturphilosophisches Grundmodell. Dieses entsprach Büchners naturwissenschaftlicher Sicht, die abgesehen von der Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch auch den Konnex zwischen organischer und anorganischer Natur herstellte. Lange vor der Triebkonzeption Sigmund Freuds wird einem die animalische Disposition des Menschen – mit allen ethischen Begleiterscheinungen – vor Augen geführt. Das abstrakte Bild vom Meer, das im Danton-Drama in Marions Worten aufscheint, macht den Eros im wahrsten Wortsinn zu einem „Natur“-gegebenen  : „Aber ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer ver20 Auch folgende Stelle, in der Valerio von seiner Physiognomie spricht, ist mit einem derartigen Bezug lesbar, und zwar als Kritik an den Möglichkeiten einer erkenntnismäßigen Durchdringung des Homo sapiens  : „Weiß ich’s  ? (Er nimmt langsam hintereinander mehrere Masken ab.) Bin ich das  ? oder das  ? oder das  ? Wahrhaftig ich bekomme Angst, ich könnte mich so ganz auseinanderschälen und blättern.“ (MA 185) Im Anschluss spricht der Regent davon, dass das Wesen „Mensch“ schwerlich zu verstehen ist  : „Der [Mensch] bringt mich in Konfusion, zur Desperation. Ich bin in der größten Verwirrung.“ (MA 186)



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schmolzen in einen Leib. Meine Natur war einmal so, wer kann da drüber hinaus  ?“ (MA 81) Wiewohl der jungen Marion als Tochter aus verarmter, bürgerlicher Familie keine repräsentative moralische Qualität zukommt – weder für die betroffene Gesellschaftsschicht noch für das allgemeine Volk –, ist von einem für das weibliche Geschlecht exemplarischen Fall auszugehen. Die Frau wird zum Teil einer Umwelt, die stets um stoffliche Reproduktion bedacht ist – ganz gleich, ob nun organisch oder anorganisch gedacht. Deswegen überrascht es nicht, dass mit Dantons Worten der psychologische Erklärungsansatz der Bedürfnisorientierung vorweggenommen zu sein scheint  : „Jeder handelt seiner Natur gemäß d.h. er tut, was ihm wohl tut.“ (MA 86) In der Lenz-Erzählung dient die topografische Wahrnehmung dazu, das Leid eines verstimmten, melancholischen Ichs zu beschreiben. Büchners Lenz sieht sich nicht länger imstande, dem allgemeinen Harmonieempfinden zu entsprechen, das auf einem Gleichgewicht zwischen gerechter bzw. allmächtiger Gottheit und heilsbringerischer Sehnsucht beruht  – denn tief gehend sind mittlerweile die Risse, die der zivilisatorische Fortschritt im Glaubensbild hinterlassen hat.21 Das wird ersichtlich, wenn dieser für die Aufklärung typologische Melancholiker erklärt, dass neben der anorganischen auch die organische Natur durch eine „unaussprechliche Harmonie“ gekennzeichnet ist – eine „Seligkeit“, „die in den höhern Formen mit mehr Organen aus sich herausgriffe“, wodurch „in den niedrigen Formen Alles zurückgedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in sich größer sei“ (MA 143). Die erlöserische Fehlstelle, die von der negativ evaluierten Aussicht auf Heil herrührt, spricht für einen Pantheismus, dem die Annahme eines Seelenheiles fremd ist. Für Lenz als stillen Zweifler an der christlich-religiös verbürgten Lebenswirklichkeit bewirken Oberlins Maßregeln nur vorübergehend einen Glaubensrausch, eine Linderung des Weltschmerzes. Die beabsichtigte Erweckung eines toten Bauernmädchens, die misslingt, wirkt alsbald desillusionierend und ruft die alten Weltzweifel wach. Dass der Heilversuch im Nahbereich von Gebirge und Natur erfolgt, stellt das zwingende poetische Ergebnis der Signatur der Erzählung dar, die da lautet  : ‚der existenzialskeptische Mensch und seine Naturwahrnehmung‘. Wie Danton mit seinem Schöpfungs-„Fehler“ (MA 91) äußert sich auch die Lenz-Figur auf bejahende Weise zur Frage eines Kreationsaktes  : „Der liebe Gott hat die Welt wohl ge21 Siehe zum Begriff der ‚religiösen Melancholie‘ in Lenz das Unterkapitel „Produktion von Melancholie/Wahnsinn“  : Harald Neumeyer, Kultur und Wissenschaft  : Melancholie und Wahnsinn. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 242–248, hier  : S. 243–244.

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macht wie sie sein soll“ (MA 144)  ; beide Figuren verbindet jedoch ein Erkenntnisverlauf, der hin zur Haltung eines „Atheist[en]“ (MA 119) bzw. des „Atheismus“ (MA 151) führt.22 In den Worten Valerios setzt sich die Beschreibung des imperfekten Wesens von Mensch und Natur fort  ; diese Figur bezieht sich auf die einfache Tierwelt, die Ausscheidungsprodukte des Menschen sowie auf seine Endlichkeit  : Es ist eine schöne Sache um die Natur, sie ist aber doch nicht so schön, als wenn es

keine Schnaken gäbe, die Wirtsbetten etwas reinlicher wären und die Totenuhren nicht so in den Wänden pickten. Drin schnarchen die Menschen und draußen quaken die Frösche, [d]rin pfeifen die Hausgrillen und draußen die Feldgrillen. (MA 179)

In Übereinstimmung mit Lenz’ fragmentiertem „Harmonie“-Empfinden wird die „Natur“-Schönheit einer kritischen Bewertung unterzogen, durch Valerio, der unüberhörbar existenzial-kritisch von tickenden „Totenuhren“ und unreinen „Wirtsbetten“ spricht sowie von störenden Insekten und Amphibien. Dem kreatürlichen Motivkreis wird der Mensch zugerechnet, und zwar dadurch, dass die „Schnaken“ und „Hausgrillen“ von seinem Lebensraum Besitz ergreifen. In einem der Fragmente stellt Valerio auch eine folgenreiche Beziehung zwischen organischer Fauna und Flora her  : „Ach, Herr, was ich ein Gefühl für die Natur habe. Das Gras steht so schön, daß man ein Ochs sein möchte um es fressen zu können und dann wieder ein Mensch um den Ochsen zu fressen, der solches Gras gefressen.“ (MA 192) An dieser raren Stelle, an der noch eine schwärmerische Verbundenheit mit der Natur aufscheint, klingt zugleich das relativierende Diktum vom ‚fressen und gefressen werden‘ an. 22 Im Brief an die Braut, der vom März 1834 stammt, schreibt sich Büchner selbst eine kritische „Natur“-Wahrnehmung zu  : „Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter Hügel und breite Täler, eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem  ; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und die Stadt ist abscheulich.“ (MA 288) Von scheinbar weiter nicht bedeutsamen Landschaftsund Stadteindrücken leitet Büchner plötzlich zu einer fatalistischen Weltsicht über  : „Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.“ (MA 288) Das „eherne[s] Gesetz“ der Geschichte steht insofern im Zusammenhang mit einem Telos, als das Unethische des Menschen die Endbestimmung vorgibt. Das Fehlen der vielbeschworenen Erhabenheit liegt zum Teil in der primitiven Form des Organischen begründet.

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Die biologische Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier wird in der ersten Entwurfsstufe des Woyzeck zum Thema eines Naturdiskurses, an dessen Beginn von einem Schausteller ein Pferd als bestaunenswerte Attraktion angepriesen wird  : Zeig’ dein Talent  ! zeig dein viehische Vernünftigkeit  ! Bschäme die menschlich Sozietät  ! Mei Herre dies Tier, was sie da sehn, Schwanz am Leib, auf sei 4 Hufe ist Mit-

glied von alle gelehrte Sozietät, ist Professor an unsre Universität wo die Studente bei

ihm reiten u. schlage lernen. Das war einfacher Verstand  ! Denk jetzt mit der doppelten raison. Was machst du wann du mit der doppelten Räson denkst  ? Ist unter der

gelehrte société da ein Esel  ? (der Gaul schüttelt den Kopf) Sehn sie jetzt die doppelte

Räson  ! Das ist Viehsionomik. Ja das ist kei viehdummes Individuum, das ist ein Person  ! Ei Mensch, ei tierische Mensch und doch ei Vieh, ei bête, (das Pferd führt sich

ungebührlich auf). So bschäm die société  ! Sehn sie das Vieh ist noch Natur unverdorbe

Natur  ! Lern Sie bei ihm. Fragen sie den Arzt es ist höchst schädlich  ! Das hat geheiße

Mensch sei natürlich, du bist geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr sein, als

Staub, Sand, Dreck  ? Sehn sie was Vernunft, es kann rechnen u. kann doch nit an d.

Finger herzählen, warum  ? Kann sich nur nit ausdrücke, nur nit expliziern, ist ein verwandlter Mensch  ! (MA 199)

Die Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch  – „ei tierische Mensch und doch ei Vieh“ – wird durch das dem dressierten Pferd zugeschriebene Verstandes-Potenzial  – „ist Professor an unsre Universität“  – herausgestellt.23 Die unausweichliche Ironisierung der vorgeführten Kunststücke, die als Verstandesleistungen beworben werden, macht die behauptete Zugehörigkeit zur akademischen Sphäre zu einer konjunktivischen („ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät“). Die Parallelführung in Verstandesfragen korrespondiert mit aufklärerischen Einsichten, die es in biologischer Hinsicht erlauben, das Tier dem Menschen bis zu einem gewissen Grad gleichzustellen, mit dem Ergebnis, dass die Angemessenheit der alten, maßgeblich theologischen Grenzziehung erschüttert wird. 23 Pethes erkennt eine rhetorische Besonderheit, die mit dem existenzial-kritischen Gehalt korrespondiert  : „Die Bezeichnung ‚viehdumm‘ ist eine anagrammatische Umstellung des Worts ‚Individuum‘, so dass dem Kernkonzept der idealistischen Anthropologie ihr Gegenbild, die tierische Unvernunft, auf der Ebene des Wortlauts eingeschrieben ist.“  ; Nicolas Pethes, Kultur und Wissenschaft  : Individuum als ‚Fall‘ in Recht und Naturwissenschaft. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 198–204, hier  : S. 202. Im Hinblick auf das Eros-Motiv fährt Pethes fort  : „Umgekehrt bedeutet das, dass die physiognomische Untersuchung des Menschen als ‚Viehsionomik‘ […] vollzogen wird – ein Zugang, der der Thematisierung der Sexualität als tierische Natur des Menschen in Danton’s Tod und ‚Woyzeck‘ entspricht.“  ; Pethes (2009), S. 198–204, hier  : S. 202.

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Das biologisch-klassifikatorische Thema leitet über zu den moralischen Implikationen. Indem der Schausteller die Anwesenden – aus „Staub, Sand, Dreck“ „geschaffe“ – auffordert, dem Beispiel des Pferdes zu folgen und die ihnen gegebene Natur „unverdorbe[n]“ zu leben, wird der rational befähigte Mensch als verdorbene Existenz gezeichnet, bei der es sich trotz aller Verwandtschaft mit den Tiergattungen um eine Einzelerscheinung handelt  : „Willst du mehr sein, als Staub, Sand, Dreck  ?“ Beim Menschen – dieser theologisch verbürgten Krone der Schöpfung  – offenbart sich das wahre Ethos darin, dass das gegebene Bewusstsein nicht selten zur Planung von List und Tücke eingesetzt wird. Dagegen lebt das zwar domestizierte, doch ungebrochen dem eigenen Naturell verpflichtete Pferd – dem es in Wahrheit an der Ratio gebricht, wie der Schreier letztlich bekennt  – moralisch korrekt, den originären Bedürfnissen gehorchend. Der Vergleich zwischen Tier- und Menschen-Natur macht Letztere in einem negativen Sinn zum Schöpfungsprimat  : Einmal mehr zeigt sich das Telos der Ethik. In derselben Entwurfsstufe wird der Mensch dann nochmals der Natur zugerechnet, in der Wahrnehmung des Barbiers, in dessen Rede sich die anorganisch-materialistische Gleichsetzung von eben wiederholt  : Was ist der Mensch  ? Knochen  ! Staub, Sand, Dreck. Was ist die Natur  ? Staub, Sand, Dreck. Aber die dumme Mensche, die dumm Mensche. Wir müssen Freunde sein.

Wenn Ihr kei Courage hätte so gäb es kei Wissenschaft, kei Natur, kei amputation, exartikulation. Was ist das, mein Arm, Fleisch, Knoche, Ader  ? Was ist das Dreck  ?

Worin steckts, im Dreck  ? Laß ich den Arm so abschneide, nein, der Mensch ist egoistisch, aber haut, schießt sticht hinei, so, jetzt. (MA 203)

Der Missbrauch der Vernunft, die auch dem Barbier zufolge regelmäßig niederen Beweggründen dient – „der Mensch ist egoistisch“ –, führt zur Rede vom „dumme[n] Mensche[n]“. Die Wirtshausszene, die mit einer moralischen Bewertung des „Courage“-Begriffes einsetzt – „ein tugendhafter Mensch hat keine Courage  !“ (MA 202)  –, endet mit dem Versuch der Beschwichtigung des in seinem Standesbewusstsein gekränkten Soldaten  : Herr Er tut sich Unrecht, hab ich Ihn denn gemeint, hab ich gesagt er hätt Courage  ?

Herr laß Er mich in Ruh  ! Ich bin die Wissenschaft. Ich bekomm für mei Wissenschaftlichkeit alle Woche ein halb Gulde, schlag Er mich nicht grad oder ich muß

verhungern. Ich bin ein spinosa pericyclyda  ; ich hab ei lateinische Rücken. Ich bin ein lebendges Skelett, die ganze Menschheit studiert an mir –. (MA 202–203)



Aus der Weltsicht eines ‚Viehsionomen‘ |

Die Umstände, unter denen der Mensch zum Versuchsobjekt wird, sind Teil einer Sozialkritik, die vor der medizinischen Fachrichtung ebenfalls nicht Halt macht. Büchner zufolge vollzieht sich der medizinische Fortschritt, dem ethischen Anspruch zum Trotz, auf dem Rücken der notleidenden Schwachen. In der zweiten Entwurfsstufe definiert eine Professoren-Figur die Naturzugehörigkeit des organischen Lebens auf eine Weise, die speziell das „Verhältnis des Subjektes zum Objekt“ in den Blick nimmt  : Meine Herrn wir sind an der wichtigen Frage über das Verhältnis des Subjektes zum

Objekt. Wenn wir nur eins von den Dingen nehmen, worin ‹sich› d. organische Selbstaffirmation des Göttlichen, auf einem d. hohen Standpunkte manifestiert u. ihre

Verhältnisse zum Raum, zur Erde, zum Planetarischen untersuchen, meine Herrn, wenn ich diese Katze zum Fenster hinauswerf, wie wird diese Wesenheit sich zum centrum gravitationis u.d. eignen Instinkt verhalten. (MA 218)

Im Woyzeck-Drama dient das komplexe organische Leben, beginnend bei einer gewöhnlichen Hauskatze und endend mit der Titelfigur selbst, wiederholt der Darstellung einer Medizin, die auf Lebendversuche setzt, um das Mysterium des Lebens zu ergründen. Dem aufklärerischen Zeitgeist entspricht, dass das tierische Leben – figuriert durch die Katze – als stofflicher Teil der Natur definiert wird. Obige Rede, die sich auf eine „organische Selbstaffirmation des Göttlichen“ bezieht, scheint implizit auf einem pantheistischen Standpunkt zu basieren, der Büchners naturphilosophischer Überzeugung entspricht. In der vierten Entwurfsstufe wird der Aspekt der Sozialisierung aufgegriffen – anhand der Woyzeck-Figur, die sich an eine medizinisch versierte Person wendet –, wodurch der Mensch zu einem Schuldner jener Forderungen wird, die von der Natur herrühren  : Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur, aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut u. eine Uhr und eine anglaise, und könnt

vornehm reden ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schöns sein um die

Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl. (MA 224)

Woyzeck führt die Gegensätze im Verhältnis zwischen „Natur“ und „Tugend“ auf die sozialen Grundbedingungen zurück, die auch für die moderne Biologie einen entscheidenden Kausalfaktor bilden. Das Selbstbekenntnis vom „arme[n]

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Kerl“ zeigt, dass Woyzeck der sozialen Herkunft eine beträchtliche Bedeutung für die Entwicklung des Individuums beimisst.24 In der 8.  Szene des Entwurfes bezieht sich der Doktor, in dem Vorhaben, seinem Probanden Unzivilisiertheit vorzuwerfen, folgendermaßen auf die kreatürliche Sphäre  : „Ich hab’s gesehn Woyzeck  ; er hat auf die Straß gepißt, an die Wand gepißt wie ein Hund.“ (MA 225) Der Doktor relativiert damit Woyzecks Natureinwand – „Aber […] wenn einem die Natur kommt“ – und artikuliert im Gegenzug die Möglichkeit frei gesetzter Handlungen, die in dieser Szene die Kontrolle über den Schließmuskel der Harnblase betrifft  : „Hab’ ich nicht nachgewiesen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist  ? Die Natur  ! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können  !“ (MA 225) Dies dient der Stützung eines Thesenapparates, der zwar  – wie eine spätere Stufe zeigt –25 den Aspekt der sozialen Beeinflussung prinzipiell anerkennt, letztlich jedoch die Ansicht eines zur Selbstbestimmung befähigten Menschen vertritt. Der Abgleich mit der pantheistischen Sicht, die wohl dem Professor zu eigen ist – „Selbstaffirmation des Göttlichen“ (MA 218) –, zeigt deswegen eine Abweichung zum Doktor, weil Letzterer dem allgemeinen Narrativ zuzusprechen scheint, das neben der Freiheit des Willens auch nicht die Existenz eines allmächtigen Schöpfergottes anzweifelt. Mit der Komödienfigur des Valerio, die in einem der Bruchstücke von einem Bedürfnis nach Berauschung spricht, erweitert sich der in der Medizin etablierte Ursachenkatalog zum Suchtverhalten nun um den Existenzial-Aspekt  : Denn wenn es mich nicht heute Nacht überlaufen hätte, so hätte ich nicht den Morgen mein Bett an die Sonne getragen und hätte ich es nicht an die Sonne getragen, so

wäre ich nicht damit neben das Wirtshaus zum Mond geraten, und wenn Sonne und 24 Ein autobiografisches Zeugnis belegt, dass der Autor die titelgebende Gestalt zum Sprachrohr eigener Überzeugungen machte  ; denn im Brief vom Februar 1834 ist zu lesen  : „Ich verachte Niemanden, am wenigsten wegen seines Verstandes oder seiner Bildung, weil es in Niemands Gewalt liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, – weil wir durch gleiche Umstände wohl Alle gleich würden, und weil die Umstände außer uns liegen.“ (MA 285) Die Regelmäßigkeit derartiger Rückgriffe innerhalb der Figurensprache veranschaulicht den hohen Gehalt an persönlichen Überzeugungen, den seine Literatur aufweist. 25 Auch mit dem Faktor „weibliche[r] Erziehung“, den H3 aufweist, erfolgt eine bejahende Stellungnahme zur Bedeutung der soziologischen Grundbedingungen, hierin durch den Doktor  : „Bestie, soll ich dir die Ohre bewege, willst du’s machen wie die Katze  ! So meine Herrn, das sind so Übergänge zum Esel, häufig auch in Folge weiblicher Erziehung, u. die Muttersprache.“ (MA 219)

Aus der Weltsicht eines ‚Viehsionomen‘ |



Mond es nicht beschienen hätten, so hätte ich aus meinem Strohsack keinen Wein

keltern und mich daran betrinken können und wenn das Alles nicht geschehen wäre, so wäre ich jetzt nicht in Ihrer Gesellschaft, werteste Ameisen, und würde von Ihnen

skelettiert und von der Sonne aufgetrocknet, sondern würde ein Stück Fleisch tran-

chieren und eine Bouteille Wein austrocknen – im Spital nemlich. (MA 193–194)

Der Hang zur Realitätsflucht, vollzogen durch Betäubung, wird zurückgeführt auf existenzielle Lebensverhältnisse, die den Menschen in einen grundsätzlichen Opferstatus rücken. Als Alternative zu einem von der Gesellschaft verwerflich praktizierten Leben, das weitere Erschwernisse existenzieller Art beinhaltet  – „würde von Ihnen skelettiert und von der Sonne aufgetrocknet“ –, bietet sich die Flucht in die Krankheit an  : ganz gleich, ob als physische oder psychische gedacht. Dadurch wird die Welt als Treibhaus für Krankheiten gezeichnet bzw. als überdimensioniertes „Spital“, das keine Heilung kennt.

3. Fazit

Büchners Literatur offeriert eine Existenzialkritik, die sich thematisch von der Schöpfungsfrage bis hin zu erwähnter Idee des Pantheismus erstreckt. Wie in den wissenschaftlichen Studien exponiert sich Büchner auch literarisch als Vertreter einer rationalistischen Weltsicht, die in der Philosophie maßgeblich von Denkern wie Descartes und Spinoza geprägt wurde. Als Vertreter der Aufklärung nimmt Büchner deshalb einen außergewöhnlichen Rang ein, weil sich bei ihm auf beiden Feldern, dem literarischen wie wissenschaftlichen, das moderne Denken in seiner Diversität entfaltet.

Literaturverzeichnis Alt, Peter-André  : Aufklärung. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart [u. a.] 2007. Borgards, Roland  : Kultur und Wissenschaft  : Tiere. In  : Büchner-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von dems. und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 218–225. Büchner, Georg  : Band  2  : Schriften, Briefe, Dokumente. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006. Büchner, Georg  : Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006.

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Elm, Theo  : Georg Büchner  : Individuum und Geschichte in Dantons Tod. In  : Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Der Begriff der literarischen Moderne in Theorie und Deutung. Ulrich Fülleborn zum 60. Geburtstag. Hg. von Theo Elm und Gerd Hemmerich. München 1982, S. 167–184. Herrmann, Britta  : Ästhetik und Poetik  : Automaten und Marionetten. In  : BüchnerHandbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 255–260. Hinderer, Walter  : Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977. Neumeyer, Harald  : Kultur und Wissenschaft  : Melancholie und Wahnsinn. In  : BüchnerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und dems. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 242–248. Pethes, Nicolas  : Kultur und Wissenschaft  : Individuum als ‚Fall‘ in Recht und Naturwissenschaft. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 198–204. Röcken, Per  : Werk  : Philosophische Schriften. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 130–137. Stiening, Gideon  : Kultur und Wissenschaft  : Natur. In  : Büchner-Handbuch. Leben  – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 204–209. Thamer, Hans-Ulrich  : Die kulturellen Ursprünge der Revolution. In  : Die Französische Revolution (= Beck’sche Reihe, C. H. Beck Wissen  ; 2347). 4., durchges. Aufl. München 2013. Udo Roth  : Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004. Wimmer, Gernot   : Christliche Theodizee und Erlösungsteleologie in Heinrich von Kleists Erzählungen. Wien 2011.

Kurt Anglet

Das Drama der Stille

Mehr noch als durch eine Betrachtung des Lebens und der Dichtung im Spiegel der Zeit erweist sich Büchners Aktualität anhand der Katastrophen und Kriege des folgenden Jahrhunderts. – Gut hundert Jahre nach Büchners Tod hat Martin Heidegger sein sogenanntes zweites Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“ verfasst, das erst posthum 1989, anlässlich Heideggers 100. Geburtstag, erschien. Abgeschlossen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, huldigt Heidegger darin, ganz im Einvernehmen mit dem Geist bzw. Ungeist seiner Zeit, seinem „letzten Gott“, der den Weg in den Untergang weist, in „die große Stille“1 – in die Herrschaft eines ausweglosen, allumfassenden Todes. Denn keineswegs bildet der Lärm das Signum unseres Zeitalters  ; eher stellt er gleichsam das Vorspiel zu jener Totenstille dar, die sich über Millionen Menschenleben legen sollte, die Kriegen und Gewaltherrschaften zum Opfer fielen, wie schon in den Jahren vor Büchner, im Zeitalter der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege. Zu nennen ist auch die unsägliche Not der Menschen seiner Zeit, die allenfalls als Randfiguren in die geschichtliche Überlieferung eingingen. Ihre Stimme aber hat Büchner, der ihr Schicksal antizipiert, hat Büchners Lenz vernommen, der da ausruft  : „‚Hören Sie denn nichts  ? hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt  ? […]‘“2

1. Das Winken des Verführers

So kurz Georg Büchners Leben, so kurz sein Schaffen als Dichter auch währte, so reich ist seine Dichtung an Darstellungen von Todesahnungen und des Todes selbst. Doch anders als in zahlreichen Dichtungen seines Zeitalters, das eines 1 Vgl. Martin Heidegger, Band 65  : Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Gesamtausgabe. 102 Bde. Frankfurt a. M. 1989, S. 34. – Im Folgenden wird die Sigle BzP unter Angabe der Seitenzahl verwendet. 2 Georg Büchner, Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hg. von Fritz Bergemann. Wiesbaden 1958, S. 110. – Die Seitenzahlen der betreffenden Ausgabe werden jeweils in Klammern im Text vermerkt.

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der Romantik wie Klassik war, kennt Büchner keine Verklärung oder gar Verherrlichung des Todes. Seine Hauptfiguren sind keine klassischen Helden mehr, sondern sie erscheinen als Opfer oder Täter, mögen sie auch heroisch gegen einen Wahnsinn ankämpfen, der im Einzelnen wie in der Gesellschaft um sich greift. Nichts scheint ihnen ferner zu sein als die Empfindung des tragisch Erhabenen, mag ihr Ende  – gleich dem der Marie im Woyzeck  – auch tragisch anmuten. Das Pathos ist einer Pathologie gewichen, wie sie Büchner in den Worten und Visionen seiner Figuren getreu verzeichnet, wenn er etwa Valerio am Ende der zweiten Szene des zweiten Aktes sprechen lässt  : Nein, der Weg zum Narrenhaus ist nicht so lang  ; er ist leicht zu finden, ich kenne alle

Fußpfade, alle Vizinalwege und Chausseen dorthin. Ich sehe ihn schon auf einer

breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertag, den Hut unter dem Arm, wie er

sich in die langen Schatten unter die kahlen Bäume stellt und mit dem Schnupftuch

fächelt. – Er ist ein Narr  !3

Die sich anschließende Regieanweisung, kleingedruckt, lautet vielsagend  : „Folgt ihm.“4 So verdeutlicht sich die Signatur des Zeitalters an einer Figur aus dem unteren Gesellschaftsbereich.

2. Der Wink „als Ereignis“

Als Narr hat Valerio immerhin jenen merkwürdigen Zeitgenossen durchschaut, der den Mitmenschen den breiten „Weg“, ja die „breite[] Allee“ „mit dem Schnupftuch“ fächel[nd] „zum Narrenhaus“ weist.5 Hundert Jahre später hat Martin Heidegger, nämlich in seinem eingangs angeführten zweiten Hauptwerk „Beiträge zur Philosophie“, im Wink die Selbstmanifestation des letzten Gottes sehen wollen, der den Menschen den Weg in den Selbstuntergang weist  : „Dieser Wink als Ereignis stellt das Seiende in die äußerste Seinsverlassenheit und durchstrahlt zugleich die Wahrheit des Seins als ihr innigstes Leuchten.“ (BzP 410)6 Die Aura solcher „Wahrheit“ allerdings entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Irrlicht, wie Heidegger anschließend durchblicken lässt  : 3 4 5 6

Büchner (1958), S. 135. Büchner (1958). Vgl. Büchner (1958), S. 135. Das Eingangszitat findet sich auf S. 34.

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Im Herrschaftsbereich des Winkes treffen sich neu zum einfachsten Streit Erde und

Welt  : reinste Verschlossenheit und höchste Verklärung, holdeste Berückung und furchtbarste Entrückung. Und dieses je wieder nur geschichtlich in den Stufen und

Bereichen der Bergung der Wahrheit im Seienden, wodurch dieses allein wieder seiender wird in all dem maßlosen, aber verstellten Verlöschen ins Unseiende. (BzP 410)

So wortreich und abstrakt – von seinem konkreten Leben und Sterben abstrahiert – kann die Todesverfallenheit des Menschen, ja sein Untergang umschrieben werden, oder in den Worten Büchners auch mit  : „Denken Sie nicht an den Menschen  !“7  – So lautet die Mahnung der Gouvernante an Lena (II,3), die daraufhin antwortet  : Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den Frühling auf den Wangen und den

Winter im Herzen  ! Das ist traurig. Der müde Leib findet sein Schlafkissen überall,

doch wenn der Geist müd ist, wo soll er ruhen  ? Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke  : ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie

sind.8

Das ist die Wahrheit des Seins bzw. Seyns, die „in all dem maßlosen, aber verstellten [!] Verlöschen ins Unseiende“ liegt, zu der Heideggers ‚letzter Gott‘ verführen will. Nicht etwa „an einem kalten Wintertag“ kommt er daher, wie in der Vorstellung des Valerio, „den Hut unter dem Arm“, „mit dem Schnupftuch fächel[nd]“  ;9 nein, mit dem Pathos des Weltweisen, in Gestalt einer gnostischen, einer reifenden Gottheit  : In solcher Wesung des Winkes kommt das Seyn selbst zu seiner Reife. Reife ist Bereitschaft, eine Frucht zu werden und eine Verschenkung. Hierin west das Letzte, das

wesentliche, aus dem Anfang geforderte und zugetragene Ende. Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns  : im Wink des letzten Gottes. (BzP 410)

Doch nicht der ‚letzte Gott‘ im Heilsinn wird offenbar, von dem es in einem Epitheton zu dem so überschriebenen vorletzten Kapitel der „Beiträge zur Philosophie“ heißt  : „Der ganz Andere gegen / die Gewesenen, zumal gegen / den 7 Büchner (1958), S. 135. 8 Büchner (1958), S. 135–136. 9 Vgl. Büchner (1958), S. 135.

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christlichen.“ (BzP 403) Es handelt sich nicht um die Epiphanie des Erlösers, sondern es „enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns“, also der Tod, den Heidegger zuvor als „das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns“ preist (BzP 284). Und wie hohl solches Todespathos ist, mag aus der dritten Vorbemerkung zum vorletzten Kapitel hervorgehen, wo es heißt  : „Wenn wir schon den ‚Tod‘ in seinem Äußersten so wenig begreifen, wie wollen wir dann schon dem seltenen Wink des letzten Gottes gewachsen sein  ?“ (BzP 403)

3. Die entsetzliche Stimme der Stille

Genau jenem Wink hat Büchner widerstanden, weil er dem Tod „in seinem Äußersten“ (BzP 403) tatsächlich ins Auge geschaut hat  : Er hat die Verherrlichung des Todes in dem heraufziehenden Zeitalter erahnt und als Narretei erkannt, als ein mehr oder weniger raffiniertes Täuschungsmanöver. Büchner ‚folgt ihm‘, nicht etwa aus Schwäche oder aus Faszination vor dem Abgründigen, sondern um jenes „Sein zum Tode“ aufzuklären, zu dem Heidegger vermerkt  : „In den verhülltesten Gestalten ist es der Stachel höchster Geschichtlichkeit und der geheime Grund der Entschiedenheit zur kürzesten Bahn.“ (BzP 262) Eben diesen Grund hat Büchner enthüllt  : die Bahn der Verzweiflung, die in den Abgrund des Todes führt, den „entsetzliche[n] Gedanke[n]“, dass „es“ „Menschen“ „gibt“, „die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind“,10 wie es in seiner Literatur heißt. Anstatt dieses Sein zu ontologisieren, so wie Heidegger im darauffolgenden Jahrhundert, ja zum „Stachel höchster Geschichtlichkeit“ zu erheben, hat Büchner verstanden, und seinen Dramen eingeschrieben, was es mit solcher „Geschichtlichkeit“ auf sich hat  : mit der Verweigerung des Lebens, des Lebensglücks in einem Zeitalter, in dem sich das Glück mithin als Farce entpuppt, oder aber – wie mit der Vermählung am Ende von Leonce und Lena – als das Ende einer Maskerade. Im zweiten Abschnitt seines Kapitels über den letzten Gott wird Heidegger schließlich die folgenreiche Frage aufwerfen  : Wie, wenn jener Entscheidungsbereich im Ganzen, Flucht oder Ankunft der Götter, eben das Ende selbst wäre  ? Wie, wenn darüber hinaus das Seyn erstmals in seiner

Wahrheit begriffen werden müßte als die Ereignung, als welche sich Jenes ereignet, was wir Verweigerung nennen  ? (BzP 405)

10 Vgl. Büchner (1958), S. 136.

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Nun ist dem jungen Büchner aufgrund seines frühen Todes das Eheglück wie auch eine wissenschaftliche Karriere als Biologe versagt geblieben. Man mag diese „Verweigerung“ als ein bedauernswertes Einzelschicksal abtun. Ganz anders aber stellt sich das Los von Hunderttausenden, ja Millionen junger Männer dar, sei es in den napoleonischen Kriegen, sei es in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Kaum auszudenken ist, was geschehen wäre, hätten diese die folgende Bestimmung Heideggers zu vernehmen gehabt  : Die Verweigerung ist der höchste Adel der Schenkung und der Grundzug des Sichverbergens, dessen Offenbarkeit das ursprüngliche Wesen der Wahrheit des Seyns

ausmacht. So allein wird das Seyn die Befremdung selbst, die Stille des Vorbeigangs des letzten Gottes. (BzP 406)

Fürwahr handelte es sich angesichts dieser Katastrophen um eine ‚Totenstille‘ sowie um „die Befremdung selbst“ – vor allem auch in Anbetracht der vorausgehenden, oben zitierten Feststellung zur Unbegreiflichkeit des Todes „in seinem Äußersten“ (BzP 403). Allerdings erscheint in der Passage das Wort ‚Tod‘ apostrophiert, als handele es sich um eine bloße Denk-, ja Kunstfigur und nicht um eine bittere Realität. Immerhin hat Heidegger den Ersten Weltkrieg selbst erlebt und seine „Beiträge zur Philosophie“ kurz vor dem zweiten großen Krieg geschrieben, in den Jahren von 1936 bis 1939, gewissermaßen in der Hoch-zeit der Verführung, so dass die „Verweigerung“ – als „der höchste Adel der Schenkung und der Grundzug des Sichverbergens“  – nicht lange auf sich warten ließ  : Sie erschien im Schweigen, das sich über Gräber und Träume legt  ; in der Stille, die den Lärm des Krieges wie die Schreie seiner Opfer übertönt. Der Komparatist George Steiner hat in seinem jüngsten Werk „Gedanken dichten“ (Berlin 2011  ; engl.  : „The Poetry of Thought“) der Poetisierung des Denkens Heideggers seine Reverenz erwiesen, weil „dessen dichtendes Denken als Generalbass das Buch durchzieht“, wie es in einer Rezension zu dieser Studie heißt.11 Demnach hat Steiner in seinem Buch überlesen, oder besser  : überhört, jene „Stille“, die gleichsam eine Art Generalbass von Heideggers Denken darstellt  : „Diese im Da-sein gegründete Geschichte ist die verborgene Geschichte der großen Stille. In ihr allein kann noch ein Volk sein.“ (BzP 34) Damit liegt 11 Vgl. Jürgen Trabant, Nimm und lies und schlag nach. In  : Süddeutsche Zeitung, 23.02.2012, Nr. 45, S. 14.

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eine Utopie vor, die insofern keine ist, als nur wenige Jahre später Wirklichkeit wurde, was Heidegger als „Stil des Da-seins“ verbucht  : Wenn uns eine Geschichte, d. h. ein Stil des Da-seins, noch geschenkt sein soll, dann kann dies nur die verborgene Geschichte der großen Stille sein, in der und als welche die

Herrschaft des letzten Gottes das Seiende eröffnet und gestaltet. (BzP 34)

Nicht um eine Todesherrschaft im Sinne einer Diktatur oder Tyrannei handelt es sich, die bereits vorausging in Krieg und Folter, in den Exzessen der Gewalt und des Hungers, sondern um eine Herrschaft, die auf die jeweiligen Gewaltherrschaften in der Geschichte folgt – um eine Herrschaft über die Toten, die in der Stille nicht zur Ruhe kommen, weil ihrer niemand gedenkt, weil sie in Vergessenheit geraten, so wie letzthin selbst die Überlebenden dem Vergessen preisgegeben sind  : „Also muß erst die große Stille über die Welt für die Erde kommen. Diese Stille entspringt nur dem Schweigen.“ (BzP 34) Und in der Tat  : In dem mehr als fünfhundertseitigen Werk Heideggers ist zwar ständig vom Denken oder vom Tode die Rede, aber nicht ein Wort des Eingedenkens findet sich, was angesichts des menschlichen Leides, das die Geschichte überschattet, zumal die unserer Epoche, überrascht. Ein tiefes Einvernehmen mit dem, was geschieht, gehört zum Gesetz eines Denkens, das kein Gesetz über sich oder neben sich duldet außer dem Gesetz des Todes  – der ‚Todesstille‘. Nur einmal, im 125.  Abschnitt „Seyn und Zeit“, lässt Heidegger durchblicken, was es mit jenem Einvernehmen auf sich hat, insofern er zunächst im Rekurs auf „Sein und Zeit“ konstatiert  : „Alle ‚Inhalte‘ und ‚Meinungen‘ und ‚Wege‘ im Besonderen des ersten Versuchs von ‚Sein und Zeit‘ sind zufällig und können verschwinden.“ (BzP 410) – Und anschließend erklärt er  : Aber bleiben muß der Ausgriff in den Zeit-Spiel-Raum des Seyns. Dieser Ausgriff

ergreift jeden, der stark genug geworden, die ersten Entscheidungen zu durchdenken,

in deren Bereich mit dem Zeitalter, dem wir eingeeignet bleiben, ein wissender

Ernst [!] zusammentaugt, der sich nicht mehr stößt an gut und schlecht, an Verfall und Rettung der Überlieferung, an Gutmütigkeit und Gewalttat, der nur sieht und

faßt, was ist, um aus diesem Seienden, darin das Unwesen waltet als ein Wesentliches,

in das Seyn hinauszuhelfen und die Geschichte in ihren eigenwüchsigen Grund zu bringen. (BzP 242–243)

Die Gleichgültigkeit und Kälte derer, die Geschichte machen, geht zuletzt auf ein Denken über, das keinen Frieden kennt  – nur Stille herrscht, die auf den

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Untergang folgt oder aber dem eigenen Ende vorausgeht, insofern kein Mensch in einer Welt des Todes etwas anderes erwarten kann als Totenstille. Dagegen geht Büchners Dichtung an – so gegen Ende des Lenz, wo es heißt  : Er [Lenz] schien ganz vernünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen  ; er versprach’s. Im Weggehn wandte er sich plötzlich

um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte rasch  : „Sehn Sie, Herr Pfarrer,

wenn ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen.“ – „Was denn, mein

Lieber  ?“ – „Hören Sie denn nichts  ? Hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt  ? Seit

ich in dem stillen Tal bin, hör ich’s immer, es läßt mich nicht schlafen  ; ja, Herr Pfarrer,

wenn ich wieder einmal schlafen könnte  !“ Er ging dann kopfschüttelnd weiter.12

Das schier Unbegreifliche mag als Symptom eines chronisch Ruhelosen erscheinen. Doch wäre dem so, handelte es sich lediglich um den pathologischen Befund eines Einzelnen, hätte er „in dem stillen Tal“ auch zur Ruhe zu kommen, zu sich selbst zu finden. Bei einem entsprechenden Fall legte nämlich jeder Psychotherapeut seinem Patienten der inneren Ruhe halber den Aufenthalt in einer stillen Umgebung nahe. Aber gerade die Stille ist es, die sich nun nicht etwa wie bei einem Mörder als ‚innere Stimme‘ meldet, sondern von außen in das Innere des getriebenen Dichters dringt, als „die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt“. Das ist der Tatbestand. Es verhält sich keineswegs so, als verfüge Büchner, der begnadete Anatom, auch über entsprechende psychologische Qualitäten, die dann dem Dichter bei der literarischen Gestaltung zugutekämen. Im Falle des Lenz stößt jede Psychologie an ihre Grenzen, so wie auch Oberlins wohlmeinende Seelsorge an ihre Grenzen gelangt, bestenfalls zur „Schadensbegrenzung“ taugt, um Schlimmeres zu verhindern. Ebenso stößt hier die Poesie an ihre Grenzen, insofern sie die Darstellung des Todes „in seinem Äußersten“ avisiert  : „die große Stille“, die „nur dem Schweigen“ entspringt (BzP 34). Obwohl zum „Ereignis“ stilisiert, wird nicht gesagt, was es bedeutet, wenn der Tod als „das höchste und äußerste Zeugnis des Seyns“ (BzP 284) das letzte Wort behält – als absolute Nichtigkeit menschlichen Daseins, eines jeglichen Menschenlebens. In nichts anderem gründet ‚die große Stille‘, die in ihrer ‚Entsetzlichkeit‘ an das Ohr des Lenz dringt, der über den Horizont von Zeit und Raum hinweg 12 Büchner (1958), S. 110.

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den Aufschrei von Unzähligen vernimmt, deren Leben mit ihrem Ableben dem Vergessen über­antwortet wird.

4. Der physische Schmerz als Statthalter des Lebens

Es entbehrt daher nicht der Ironie, wenn Lenz, den Tod suchend, am Ende nicht sterben kann, was bei der abschließenden Fahrt ins Rheintal zu beobachten ist  : Gegen Abend waren sie im Rheintale. Sie entfernten sich allmählich vom Gebirg, das

nun wie eine tiefblaue Kristallwelle sich in das Abendrot hob, und auf deren warmer

Flut die roten Strahlen des Abends spielten  ; über die Ebene hin am Fuße des Gebirgs

lag ein schimmerndes, bläuliches Gespinst. Es wurde finster, je mehr sie sich Straßburg näherten  ; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie  ; die Erde war wie ein goldner Pokal, über den schäumend

die Goldwellen des Mondes liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein

Drang  ; nur wuchs eine dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der

Finsternis verloren. Sie mußten einkehren. Da machte er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu legen, war aber zu scharf bewacht.13

Während in Dantons Tod die gefangenen Revolutionäre bewacht werden, die ihrer Hinrichtung entgegensehen, und Woyzeck nach dem begangenen Mord um sein Leben fürchten muss, vermag Lenz die Grenze, die zum Tod führt, deswegen nicht zu überschreiten, weil bereits im Diesseits eine Stille herrscht, die ihn jederzeit einholt  : „Er schien ganz vernünftig […]. Er tat alles, wie es die andern taten  ; es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine notwendige Last.“14 Und nach einer Parenthese folgt der Schlusssatz  : „So lebte er hin…“15 In einem derartigen Auslaufen des Lebens – nach Thomas von Aquin gar ein größeres Übel als Glaubensabfall oder Mord  – kristallisiert sich jene „entsetzliche Leere“, die einem Synonym für „die entsetzliche Stimme“ der Stille gleichkommt,16 die als solche das menschliche Dasein umfängt, als wäre es nicht mehr Leben. Denn mit die13 Büchner (1958), S. 111. 14 Büchner (1958). 15 Büchner (1958). 16 Vgl. Büchner (1958), S. 110.

Das Drama der Stille |



sem Tod ist ihm nicht nur jegliches Lebensglück genommen, sondern auch die Hoffnung auf die Glückseligkeit seiner Vollendung  : allein ‚Todesstille‘ herrscht. Dass „dies nur die verborgene Geschichte der großen Stille sein“ kann, in der uns eine Geschichte im emphatischen Sinne „geschenkt sein soll“ (BzP 34), etwas wie Erfüllung oder Vollendung der Geschichte, ist insofern ein Ammenmärchen des modernen Nihilismus, als somit schlichtweg verkannt oder wohlweislich verschwiegen wird, wie der Tod im Zeichen dieser Stille ins Leben greift, der ja mehr als jede todbringende Krankheit seine Schatten wirft. Einem Schatten gleicht zwar auch das Leben des Lenz, der allerdings keinen Heilsinn im Tod zu finden imstande ist. Seine „halben Versuche“ des „Entleiben[s], die er indes fortwährend machte“, „waren“ – wie es zuvor heißt – „nicht ganz ernst“  : Es war weniger der Wunsch des Todes – für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im

Tode –, es war mehr in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen, ans Nichtsein grenzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch

physischen Schmerz. Augenblicke, worin sein Geist sonst auf irgendeiner wahnwitzi-

gen Idee zu reiten schien, waren noch die glücklichsten. Es war doch ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so entsetzlich als die nach Rettung dürstende Angst,

die ewige Qual der Unruhe  ! Oft schlug er sich den Kopf an die Wand oder verursachte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz.17

Denn keineswegs der Schmerz – mögen ihn die Menschen auch buchstäblich mit allen Mitteln zu vermeiden, gar zu betäuben suchen – ist das Schlimmste, ja nicht einmal der Akt des Todes an sich, sondern vielmehr die ‚Todesstille‘, das Bewusstsein, unrettbar, für alle Ewigkeit verloren zu sein. Daher das Bewusstsein der Ausweglosigkeit inmitten des Lebens  : Den 8. morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf  ; er lag fast nackt auf dem Bette

und war heftig bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber sehr, wie schwer

alles sei, so schwer  ! er glaube gar nicht, daß er gehen könne  ; jetzt endlich empfinde

er die ungeheure Schwere der Luft. Oberlin sprach ihm Mut zu. Er blieb aber in seiner frühern Lage und blieb den größten Teil des Tages so, auch nahm er keine

Nahrung zu sich.18

17 Büchner (1958). 18 Büchner (1958).

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Hier von Depression zu reden, bedeutete eine Verharmlosung ohnegleichen  ; eher ist von einem Exerzitium, einer Einübung in das Sterben auszugehen. Am Abend dieses „8.“ nämlich erfolgt die oben geschilderte Begegnung mit Oberlin, die nach seinem Krankenbesuch in Bellefosse einsetzt und das Eingeständnis beinhalten wird, nicht schlafen, letzthin nicht sterben zu können aufgrund jener „entsetzliche[n] Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt“19 – wegen der ‚Todesstille‘, die den Sterbenden in einer Welt winkt, in der die Tür zur Ewigkeit verschlossen scheint. Weniger von einem Seelendrama zeugt Büchners Lenz als von einem Aufstand der physis, des Fleisches, das sich in seinem „heftigen physischen [!] Schmerz“ gegen den Gedanken seiner absoluten Vernichtung sträubt  : „[…] und sein wirrer Blick war nicht so entsetzlich als die nach Rettung dürstende Angst, die ewige Qual der Unruhe  !“20 Mehr als jede Apologetik des Ewigen richtet sich die „Unruhe“ gegen ‚die große Stille‘, den Weltfriedhof, mit dem Heideg­ gers ‚letzter‘ Gott die Menschheit ein Jahrhundert nach Büchners Tod beschenkt. Es ist kein Wunder, dass das Seinsdenken in Heideggers zweitem Hauptwerk, das in seinem kompromisslosen Nihilismus als ein singuläres Werk unseres Zeitalters zu gelten hat, nicht nur kein Eingedenken des Leidens kennt, sondern der leibliche Mensch auch völlig außen vor bleibt, dieser sich in die Anthropologie abgeschoben sieht. Dadurch ergeht sich das Seinsdenken in reinen Abstraktionen, im Wissen um das Wesen des Menschen und seiner Geschichte, seiner Endlichkeit und seines Todes, auch unter Abstraktion von jeglicher kosmischen Ordnung im Sinne der traditionellen metaphysischen Fragen. Wie Heidegger selbst einräumt, trete „nun“ das „seinsgeschichtliche Denken des anderen Fragens“ „nicht etwa in die Helle des Tages“  : Es bleibt in der eigenen Tiefe verborgen, aber jetzt nicht mehr, wie seit dem ersten

Anfang des abendländischen Denkens während der Geschichte der Metaphysik, in

der Verhüllung seiner Verschlossenheit im unerbrochenen Ursprung, sondern in der

Klarheit des schweren Dunkels der sich selbst wissenden, in der Besinnung erstandenen Tiefe. (BzP 431)

In solcher „Tiefe“ aber, die aus der eigenen „Besinnung“ herrührt, liegt der Ursprung des modernen Nihilismus, seiner Lossagung von der göttlichen Schöp19 Vgl. Büchner (1958), S. 110. 20 Büchner (1958).

Das Drama der Stille |



fungsordnung. Denn angesichts „der Klarheit des schweren Dunkels“ erscheinen Menschen und Dinge nicht wirklich, wie auch Benjamin ausführt  : Sie sind nicht wirklich und sie haben das, als was sie dastehn, nur vor dem subjektiven

Blick, den seine Ausgeburten vernichten, weil sie nur seine Blindheit bedeuten. Sie

weisen auf den schlechthin subjektiven Tiefsinn, als dem sie einzig ihr Bestehn verdanken. Durch seine allegorische Gestalt verrät das schlechthin Böse sich als subjektives Phänomen.21

Was Walter Benjamin hier, im Schlussabschnitt seines Trauerspielbuches, im Hinblick auf den allegorischen Geist des Barockzeitalters konstatiert, gilt umso mehr für eine nihilistische Moderne vom Schlage Heideggers, der die Schöpfung als bloßes Machwerk deutet, faktisch als eine Totenwelt, die in der ‚großen Stille‘ ihre Vollendung findet. Hieraus resultiert der Vorrang des Wissens, zum Seinsdenken stilisiert, das – „in der eigenen Tiefe verborgen“ – von jeglichem sachhaltigen Wissen allein schon durch seinen totalitären, „ontologischen“ Anspruch geschieden ist (BzP 431)  : Das Wissen vom Guten, als Wissen, ist sekundär. Es erfolgt aus der Praxis. Das Wissen vom Bösen – als Wissen ist es primär. Es erfolgt aus der Kontemplation. […] Als

der Triumph der Subjektivität und Anbruch einer Willkürherrschaft über Dinge ist

Ursprung aller allegorischen Betrachtung jenes Wissen. Im Sündenfall selbst entspringt die Einheit von Schuld und Bedeuten vor dem Baum der ‚Erkenntnis‘ als

Abstraktion. In Abstraktionen lebt das Allegorische, als Abstraktion, als ein Vermögen des Sprachgeistes selbst, ist es im Sündenfall zu Hause.22

Nichts anderes als eine solche Allegorie verkörpert Heideggers ‚letzter Gott‘, der eine Abstraktion vom Gott der Schöpfung und Vollendung darstellt, sowie auch ‚die große Stille‘, als eine Abstraktion vom leiblichen, erlösungsbedürftigen Menschen, der in einer so fragilen, dem Tode nahen Figur wie Büchners Lenz Gestalt annimmt. Obschon Lenz eine Kunstfigur ist, atmet dieser Leben, empfindet er auch „die ungeheure Schwere der Luft“ in einer Welt, die den Menschen den Atem 21 Walter Benjamin, Band 1.1  : Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Gesammelte Schriften. Hg. von dens. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1974, S. 407. 22 Benjamin (1974), 407.

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nimmt.23 Die Rede ist nicht von der Atemnot eines Gehetzten oder dem ökologischen Phänomen der Luftverschmutzung, das die Menschen heutzutage umtreibt – nicht einmal von der „dumpfe[n], das Atmen fast behindernde[n] Luft“ in den Dachkammern und Gerichtskanzleien von Kafkas Prozess,24 sondern von der Auslöschung des Pneumas, des göttlichen Lebensgeistes, soweit sich jene Stille weitet, die den Menschen den Atem nimmt. Wie sehr noch an der Schwelle zum Tode jener Geist der physis dem Leib des Menschen verbunden ist, wird aus Büchners eigenem Todeskampf ersichtlich, der in Caroline Schulz’ Tagebuchaufzeichnungen über seine letzten Tage beschrieben wird, hier in einem Eintrag vom 16. Februar 1837  : Die Nacht war unruhig  ; der Kranke wollte mehrere Male fort, weil er wähnte, in Gefangenschaft zu geraten, oder schon darin zu sein glaubte und sich ihr entziehen

wollte. Den Nachmittag vibrierte der Puls nur, und das Herz schlug 160 mal in der

Minute  ; die Ärzte gaben die Hoffnung auf. Mein sonst frommes Gemüte fragte bitter

die Vorsehung  : „Warum  ?“ Da trat Wilhelm ins Zimmer, und da ich ihm meine verzweiflungsvollen Gedanken mitteilte, sagte er  : „Unser Freund gibt dir selbst Antwort,

er hat soeben, nachdem ein heftiger Sturm von Phantasieen vorüber war, mit ruhiger, erhobener, feierlicher Stimme die Worte gesprochen  : ‚Wir haben der Schmerzen

nicht zu viel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein  !‘ – ‚Wir sind Tod, Staub, Asche, wie dürften wir klagen  ?‘“25

Die Leiblichkeit des Menschen, seine Schöpfung aus Astralstaub, wie wir aus den heutigen Naturwissenschaften wissen, steht in keinem Widerspruch zu seiner Neuschöpfung, deren Erwartung ja nicht auf ein Geisterreich, geschweige denn auf ‚die große Stille‘ hinausläuft, sondern auf eine körperliche Transformation im Irdischen. Gemäß einem Diktum des pietistischen Theologen Friedrich Chr. Oetinger ist Leiblichkeit das Ende aller Wege Gottes. Steht demnach auch am Ende  – im Zeichen der Verklärung, der Transfiguration des Leibes  – die Überwindung des Leidens, so wohnt der Schmerz von der Geburt bis zum Tod dem menschlichen Leben inne  ; wie oben erwähnt, sucht der verzweifelte Lenz sogar, „sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz“.26 23 Vgl. Büchner (1958), S. 110. 24 Vgl. Franz Kafka, Der Prozess. Berlin 1925, S. 258. 25 Büchner (1958), S. 579–580. 26 Vgl. Büchner (1958), S. 110.



Das Drama der Stille |

5. Fazit

Nicht allein als Dramatiker, auch in dem Drama ohne Bühne  – im eigenen Sterben  – war Büchner einer Zeit voraus, die vor der ‚großen Stille‘ verharrt, ohne einen weitaus größeren Schmerz als den Todesschmerz zu vernehmen  : „die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man gewöhnlich die Stille heißt“27 – das Drama der Stille. Durch dieses zittert Büchners Dichtung sich und ebenso sein Leben und Sterben. Wie kaum ein anderer Dichter der Moderne hat er zum Ausdruck gebracht, dass der physische Schmerz deswegen nicht notwendigerweise auf den nahen Tod deutet, weil sich darin mitunter das Aufbegehren der Lebenden gegen den Gedanken einer absoluten Todesverfallenheit manifestiert, einer defätistischen Sehnsucht entgegenstellt, der maßgebliche Denker und maßlose Henker unseres Zeitalters ihre Referenz erwiesen.

Literaturverzeichnis Benjamin, Walter  : Band  1.1  : Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Gesammelte Schriften. Hg. von dens. 7 Bde. Frankfurt a. M. 1974. Büchner, Georg  : Werke und Briefe. Gesamtausgabe. Hg. von Fritz Bergemann. Wiesbaden 1958. Heidegger, Martin  : Band 65  : Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936–1938), hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Gesamtausgabe. 102  Bde. Frankfurt  a. M. 1989. Kafka, Franz  : Der Prozess. Berlin 1925. Knapp, Gerhard P.  : Georg Büchner. 3., vollst. überarb. Aufl. Stuttgart [u. a.] 2000. Trabant, Jürgen  : Nimm und lies und schlag nach. In  : Süddeutsche Zeitung, 23.02.2012, Nr. 45, S. 14.

27 Vgl. Büchner (1958).

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Das Drama der ‚sozialen Revolution‘  ? Georg Büchners Danton’s Tod im Kontext von Hannah Arendts Über die Revolution

1.

Die Französische Revolution von 1789 hat unser Bild von einem radikalen politischen Paradigmenwechsel ein für alle Mal geprägt. Ihr besonderer Verlauf hat auch einen – überraschenden – Wandel im Verständnis des Revolutionsbegriffes selbst initiiert. Da man ihn zuvor aus der Astronomie und von Kopernikus abgeleitet hatte, aus dessen Werk „De Revolutionibus orbium coelestium“, bezeichnete er ursprünglich eher das Gegenteil der heutigen Bedeutung. Er meinte nämlich, analog zu Kopernikus, eine Wiederholung festgelegter Umlaufbahnen und mithin die Anti-Revolution, eben die Restitution einer Konstellation. Auch schon im griechischen Altertum, bei Polybius, wurde der Begriff aus der Astronomie entlehnt und bezeichnete die berechenbare Wiederkehr der wenigen damals bekannten Staatsformen. Sie sollten einander mit der gleichen unwiderstehlichen Kraft ablösen wie die Himmelsgestirne, die nach damaliger Vorstellung auf gegeneinander sich verschiebenden Sphären fixiert existierten. Folglich liegt mit den Bedeutungen eine direkte Entgegensetzung vor, der auch die antike Assoziation entspricht, dass die Sphären bei ihrer Bewegung angeblich Musik erzeugt haben sollen, die Revolutionen im modernen Sinn dagegen eher vom Wutgebrüll der Massen begleitet zu sein pflegen. Sogar die ‚Glorious Revolution‘ im England des 17.  Jahrhunderts, die semantisch den heutigen Wortgebrauch ohne Zweifel mit beeinflusst hat, meinte durchaus noch das Gegenteil  : den Sturz des Rumpfparlaments und die Restaurierung der Monarchie im Jahre 1660 und dann 1688 die endgültige Vertreibung der Stuarts und die Einsetzung von William und Mary. So stellt sich die Frage  : Was machte aus der ‚Wiederherstellung‘ den ‚Umsturz‘  ? Gemeinsam war beiden Begriffen von jeher, dass sie unter dem Aspekt der Unausweichlichkeit, wie sie sonst nur der Bahn der Sterne zu eigen ist, wahrgenommen wurden. Dies machen auch die Worte des François XII de La

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Rochefoucauld deutlich, der auf die Frage des verschreckten Königs Louis XVI nach den Möglichkeiten einer Niederschlagung der sich ausweitenden Revolution sinngemäß antwortete, dass das dort Geschehene so unwiderruflich sei wie der Lauf der Sterne, denen auch ein König nicht gebieten könne.1 Was aber trieb die Revolution in ihrem Innersten an und führte zum modernen Sinn des Begriffs  ? Was kann als der primus motor bei der Verwandlung der Wortbedeutung von ‚Wiederherstellung‘ zu ‚Umsturz‘ angesehen werden  ? Geben Georg Büchner und Hannah Arendt verschiedene Auskünfte darüber oder diagnostizieren sie Vergleichbares  ? Folgt man der politik- und gesellschaftshistorischen Logik Arendts, war es das Auftreten der ‚socialen Frage‘ – folgt man dagegen der ästhetischen Logik Büchners, so war es der Auftritt eines trans-vernünftigen Getriebenseins, verkörpert in den Volksszenen und in der Auflösung des vormals geschlossenen Charakters der Akteure. Die Übereinstimmungen, Widersprüche und Ergänzungen beider Sichtweisen gilt es, im Folgenden darzustellen und miteinander ins Gespräch zu bringen, als Versuch, die in Danton’s Tod angelegten Bedeutungsstrukturen zu verstehen.

2.

Die Rezeptionsgeschichte von Danton’s Tod, die in Hans Mayers unverändert lesenswertem Standardbuch über den hessischen Dichter skizziert erscheint, gibt erste wichtige Hinweise. Laut Mayer nimmt das Werk Büchners sowohl Gerhart Hauptmann wie Maurice Maeterlinck vorweg, auch Frank Wedekind sowie der Expressionismus als Stilepoche fänden in ihm ein Vorbild. Vor allem die weltverändernde Wirkung des Ersten Weltkriegs samt seinen folgenden Revolutionen hätten letztlich erst den Zugang zu Büchners Werk erschlossen – das nicht von Ungefähr als ein im Innersten absolut gegensätzliches auftritt  : Danton’s Tod steht in Büchners Werk neben Leonce und Lena. Mit dem Ende des Weltkriegs, im Anbruch der letzten, jüngsten Moderne, etablierte Büchner sich endgültig als der epochale Dichter, der er gewesen ist. Eine Führungsposition nahm der Hesse auch in der Darstellung der Französischen Revolution ein, der er familiär wie auch räumlich nahe gewesen ist, als der Sohn eines revolutionsbeeinflussten Vaters und als Student, der prägende Studienjahre in Straßburg verlebte. Allerdings erscheint Büchner in Danton’s Tod eher als ein tief zweifeln1 Hannah Arendt, Über die Revolution. München 1965, S. 58.



Das Drama der ‚sozialen Revolution‘? |

der poetischer Gestalter dieser Revolution und nicht als ihr ideologisch getreuer Verkünder, seiner tiefen politischen Sympathie für die ‚kleinen Leute‘ ungeachtet, die ihn schließlich in die Schweiz trieb. Dem entspricht, bei all der ­bestehenden zeitlichen Ferne, dass auch Arendt, mit ihrem Vergleich der Amerikanischen und der Französischen Revolution, sich in die deutschen Kommentierungen des epochemachenden Umsturzes eingefügt hat, die in Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“ noch immer ihr herausragendes Beispiel besitzen. Arendt, die aus Deutschland vertriebene Jüdin, die im New Yorker Exil lebte, zog die Amerikanische  – sie endete schließlich in einem gefestigten juristischen Rahmen  – der entfesselt bleibenden, gesetzlosen Französischen Revolution entschieden vor. Und doch erscheint der Sachverhalt komplizierter. Denn bei Büchner wie bei Arendt geht es um die ganz ‚moderne‘ Entmachtung eines vormals kantianisch bestimmten Vernunft-Individuums, die sich ebenso auf politischem Gebiet wie im Entwurf eines Persönlichkeitsmodells vollzog. Auf beiden Spielfeldern zeigt sich der Durchbruch einer Moderne, die als der Sieg einer unzügelbaren Dynamik über ein vormals rational Kontrolliertes und Eingedämmtes empfunden wurde. Der ehemals herrschenden Einstimmigkeit folgte die Mehrstimmigkeit  : Der kreatürliche Trieb und die politisch agitierte Volksmasse als treibende Kraft hinter der Revolution geraten zu Homonymen – neben dem epochemachenden Dichter auch bei der einflussreichen Denkerin. Erstaunlicherweise hat Büchners Drama, das runde anderthalb Jahrhunderte früher entstand, für die literarisch keineswegs uninteressierte Arendt, die überdies Gedichte schrieb, kein argumentatives Vorbild abgegeben. Denn Büchners Stück kommt bei Arendt schlicht nicht vor  ; und doch erklärt die politikphilosophische Theorie der Hannah Arendt vieles, was bestimmend erscheint für die ästhetische Gestaltung von Danton’s Tod.

3.

Auch von hier aus besehen, tritt der Dramatiker und Novellist Georg Büchner als der einsame Sturmvogel einer kulturellen Moderne auf, der er um fast zwei Jahrhunderte voraus gewesen ist. Was dann, beginnend im Jahr 1900 und anhaltend bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, auf dem Gebiet der Wissenschaften stattfinden wird, ist in seinem Werk vorgezeichnet, auf teilweise verblüffend hellsichtige Weise  : so etwa die Infragestellung einer zentral ope­rierenden

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Vernunft, die einen entscheidenden Bruch mit dem Denken der Klassik bedeutet. Dieser ist in Büchners durchaus ‚leidend‘ zu nennendem atheistischen Weltverständnis dadurch gestaltet, dass ein vormals als autonom gedachtes VernunftIch, hineingestellt in die neu entdeckten Triebsphären der Erotik ebenso wie der Politik, nun unter anderen Voraussetzungen zu agieren hat. So berührt sich mit der Idee der ‚Revolution‘ die Persönlichkeit des Menschen wie auch der gesellschaftliche Zusammenhang. Deshalb vermochte das Werk Georg Büchners erst in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wirklich entdeckt und adäquat rezipiert zu werden  ? Die entscheidende Wende hin zu einer bis heute währenden ‚Modernität‘, wie sie sich bereits in den Jahren vor der globalen Katastrophe abzeichnete, umfasste im Gefolge der Wissenschaften nicht zuletzt die Künste. Eine ihrer kulturgeschichtlichen Sollbruchstellen lag beispielsweise in der Ablöse der in der Renaissance durchgesetzten Zentralperspektive durch Pablo Picassos neu praktizierte, revolutionäre Gleichzeitigkeit der Perspektiven. Des Weiteren fand in der Literatur eine Infragestellung der objektiven Berichtsstimme eines allwissend genannten Erzählers durch die Einführung eines ‚Inneren Monologs‘ statt, so etwa in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl, einer Novelle, die ausgerechnet aus dem Jahr 1900 stammt. Hinzu kam in der Wissenschaft die Hinterfragung der Annahme einer alles steuernden Vernunft in der Theorie Sigmund Freuds, ergänzt von der sich durchsetzenden Quantentheorie, die den Determinismus der klassischen Physik infrage stellte zugunsten der neu entdeckten Rolle des Zufalls innerhalb der physikalischen Kleinwelt. Diesem vielfältigen ‚Paradigmenwechsel‘ als Überleitung zur heutigen wissenschaftlichen wie ästhetischen Moderne, deren Entfaltung mit der Entdeckung des Dichters Georg Büchner zusammenfiel, entspricht sein von Shakespeare inspiriertes (in gewissem Sinn bereits ‚expressionistisches‘) Stationendrama, in dem weder die Politik noch das Triebleben weiterhin von einer ‚klassischen‘ zentralen Warte aus gesteuert werden. Selbst die Persönlichkeit der indes gar nicht mehr ‚großen‘ Charaktere zerfällt in verschiedene Instanzen, die zudem noch im Konflikt miteinander liegen. Büchners Figuren in Danton’s Tod vermögen, anders als in der Amerikanischen Revolution, den irrational voranschreitenden Revolutionsprozess durch keinerlei ‚Constitution‘ mehr juristisch einzudämmen. Deswegen erhält in Büchners Drama mit Thomas Paine ein Gründungsvater der Amerikanischen Umwälzung als negativer Katechet eines hoffnungslosen Atheismus sein Gegenwartsrecht zugesprochen  ? Da sitzt er freilich bereits in der Todeszelle des Luxembourg-Gefängnisses und wartet dort auf seine von Robes­pierre verfügte Hinrichtung.



Das Drama der ‚sozialen Revolution‘? |

4.

Die skizzierte allgemeine Wende hin zur allerneuesten Modernität, eingeleitet von Kopernikus, vermag nun ihrerseits ins Fadenkreuz gebannt zu werden, der Fragestellung nämlich, welche Rolle in Büchners Revolutionsdrama denn die ‚sociale Frage‘ einnimmt. Aus diesem Blickwinkel könnte man den Ablauf von Danton’s Tod neu ins Auge fassen. Büchners politisches Welttheater, sein Spiel über die bislang radikalste Revolution in der Weltgeschichte, beginnt im privaten und gleichzeitig ‚existenziellen‘ Bereich  : Ein revolutionärer Salon von Liebesleuten sucht Entspannung beim Kartenspiel. Das misslingt gründlich, weil der (ganz ‚moderne‘ und, wenn man so will  : quantentheoretisch begründete) Zufallsfaktor den desperat gewordenen Helden allenthalben in die Quere kommt. Während die Revolution schon längst keine Lenkung oder Vorausschau mehr zulässt, kommt Danton die Einsicht auch im privatesten Bereich abhanden  : in seiner Liebe zu Julie. Wenn schon der Gang der Weltgeschichte keiner mehr ist, der hegelianisch in prognostizierbaren Bahnen verläuft, die Revolutionäre vielmehr auch im übertragenen Sinn Karten spielen lässt, dann sollte man sich noch an den Menschen halten können, der einem am nächsten steht. „Glaubst du an mich“, fragt deshalb Julie ihren Mann Danton.2 Der an seiner eigenen Existenz irre gewordene Revolutionär antwortet darauf mit der berühmt gewordenen tief skeptischen Beschreibung der Menschen als „Dickhäuter[n]“, die sich schon „die Schädel aufbrechen müssten“, um einander wirklich zu kennen. Daher vermöge Danton sie allenfalls wie „das Grab“ zu lieben – ein erster unüberhörbarer Hinweis auf jene ‚Stimmung zum Tode‘, die sich von nun an, stetig wie unausweichlich, über das Gemüt dieses vormaligen Tatmenschen legt. Deshalb bildet das Kartenspiel den symbolisch bedeutsamen Hintergrund einer Einleitungsszene, in der nicht nur die Relativität bisheriger bürgerlicher Moral im Obszönen an die Oberfläche gelangt, sondern vor allem der entmutigende Zufallsfaktor zum Gott einer neuen und umstürzlerischen Zeit erhoben wird. Bereits darin, und dann wieder gegen Ende des Stücks, verschränken sich die Diskurse. Es werden die Stränge ‚unkonventionelle‘ Libido und ‚revolutionäre‘ Gewalt miteinander verschmolzen, und zwar derart, dass aus diesem Amalgam weder die Macht der Liebe noch die der Gesetzlichkeit zu 2 Georg Büchner, Band 3.1  : Danton’s Tod, Text, bearb. von Thomas M. Mayer. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von Burghard Dedner. 10 Bde. Darmstadt 2000, S. 343. – Auf diese Ausgabe wird fortan mit der Sigle MBA verwiesen.

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entspringen vermag. So wie die Damen und Buben zufällig übereinander fallen, im Kartenspiel und auch in der ‚revolutionär‘ aufgelockerten Liebe, so fallen inzwischen tagtäglich die Opfer unter die Guillotine. Die aus dem Ruder gelaufene, in jedem Fall tödlich endende Politik der Revolution zeigt sich als ein machtpolitisches Kartenspiel, bei dem Voraussicht und Einflussnahme nicht mehr möglich erscheinen, so wie dann zweihundert Jahre später die Erkenntnisse der Quantentheorie den Determinismus der klassischen Physik ablösen werden – in jenen Jahren, in denen auch Büchners Werk seine endgültige Anerkennung erfährt. Die ‚Revolution‘ wird bei Büchner von einem festgeschriebenen Umlauf verschiedener, sich ablösender Herrschaftsformen plötzlich zu einem nie zuvor registrierten, unvorhersehbaren, alles mit sich reißenden ‚Umsturz‘ – eben zur ‚Revolution‘ im modernen Wortsinn.

5.

Noch aber hofft man in Büchners Drama die Bahn des Revolutionsgeschehens stabilisieren zu können. Dantons Getreue erörtern die Pläne zu einer Stabilisierung der politisch zusehends prekären Situation. Es geht, gewiss nicht zufällig, exakt um den Punkt, der die vorausgegangene Amerikanische Revolution von dem Verlauf trennt, den die Französische nun zu nehmen droht. Man könnte argumentieren, dass hiermit der amerikanische ‚Gründungsvater‘ Thomas Paine zu seinem Recht käme, eine historisch verbürgte Person, die der Autor in Robes­­pierres Kerker auftreten lassen wird. Immerhin geraten dadurch die zentralen Stichworte der Amerikanischen Revolution ins Bild, und zwar exakt jene, die später auch Arendt gegen die Französische in Anschlag bringen wird  : Die Revolution muß aufhören und / die Republik muß anfangen. / In unsern Staatsgrundsätzen muß / das Recht an die Stelle der Pflicht, / das Wohlbefinden an die der

Tugend / und die Nothwehr an die der / Strafe treten. Jeder muß sich / geltend machen und seine Natur / durchsetzen können. (MBA 349/351)

Diese Forderung wird – wir wissen es – scheitern. Doch gerade sie ist es, deren Durchsetzung laut Arendt notwendig gewesen wäre, um der Revolution Legitimität und Fortbestand zu verleihen  :

Das Drama der ‚sozialen Revolution‘? |



Daß Recht ist, was der Revolution nützt, dieser Satz, der seit Robes­pierres Anklagerede auf Louis XVI. nahezu selbstverständlich wurde für die Männer der Französischen Revolution, hätten die amerikanischen Revolutionäre nie unterschrieben, und

zwar weil sie die große Aufgabe, die Freiheit zu gründen und dauerhafte Institutionen zu schaffen, nie aus den Augen verloren.3

Das gilt gleichermaßen für die Bewahrung des anfangs humanen Charakters der Revolution, also für ihr Existenz- und Durchsetzungsrecht gegenüber der feudalen Willkür und Ausbeutung, die gerade im so früh zum Zentralstaat gewordenen Frankreich der ‚Sonnenkönige‘ aufgetreten waren. Wie gesagt, ohne Büchners Drama auch nur zu erwähnen, fährt die Denkerin mit einer Argumentation fort, die auf einen Sachverhalt zielt, der in Büchners Revolutionsstück zur innersten Logik seiner Dramaturgie gehört  : Es war das Unglück der Französischen Revolution, daß sie sehr bald von dem Kurs, der zur Gründung eines neuen politischen Körpers führte, durch die unmittelbare

Vordringlichkeit der Not des Volkes abgedrängt wurde  ; […] was die Handelnden

antrieb, war nicht mehr die Freiheitsliebe, sondern das grenzenlose Elend des Volkes und das maßlose Mitleid mit den Unglücklichen.4

Soweit der gesellschaftshistorische und sozialphilosophische Blick auf Büchners Eingangsszenen. Es verblüfft, wie durchgehend dieser von nun an seine Dramaturgie bestimmt, wie umfassend jener zum ästhetischen Nexus für die politische wie existenzielle Logik gerät. Denn auf die berühmte amerikanische Forderung nach dem ‚pursuit of happiness‘ für alle Bürger der Republik, die in Büchners ‚sensualistischem‘ Revolutionsprogramm wiedergekehrt – „Jeder muß in seiner / Art genießen können‹,› / jedoch […] [nicht] auf Unkosten / eines Anderren“ (MBA 351/353) –, folgt der Versuch, den Prozess des Umsturzes in eine Staatsform zu überführen, die der Entfaltung des zitierten Programms des Sensualismus nicht mehr im Wege steht. In Camilles Formulierungen, als einem engen politischen wie privaten Vertrauten Dantons, liest sich dies wie folgt  : Die Staatsform muß / ein durchsichtiges Gewand seyn, das / sich dicht an den Leib des Volkes / schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, / jedes Spannen der Muskeln, jedes

3 Arendt (1965), S. 117. 4 Arendt (1965).

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/ Zucken der Sehnen muß sich / darin abdrücken. […] Wir wollen nackte Götter, /

Bachantinnen, olympische Spiele / und / melodische Lippen  : ach, die glieder- / lösende, böse Liebe  ! (MBA 353/355)

Es versteht sich, dass der ‚Tugendhafte‘, der exemplarisch ‚gute Mensch‘ Robes­ pierre solche hellenistisch verbrämte Anarchie nie würde hinnehmen wollen  – im Gegenteil, er wünscht die strengen römischen „Gladiatorspiele“ (MBA 355), die Danton und die Seinen durch Schaffung einer ‚Constitution‘ beenden wollen, jetzt im erhöhten Takt der Guillotine fortzuführen. Lediglich Danton als die noch lebende Legende der Revolution könnte den immer mächtiger werdenden ‚Tugendhaften‘ stoppen. Die Machtverhältnisse sind nach wie vor unentschieden. Dantons Bild von der immer noch glühenden „Statue der Freiheit“ (MBA 357) beinhaltet zwar die Verbrennungsgefahr für alle, die diese Statue zu formen bestrebt sind  ; aber impliziert ist auch die Möglichkeit eines Einwirkens. Noch sind die Würfel nicht gefallen. Von den zwei Fraktionen, die sich gegenüberstehen, weiß deren eine sogar, welcher Institutionen es bedürfte  – z. B. „Gnadenausschuß“ (MBA 349)  –, um die Revolution zu einer erfolgreichen, humanistisch akzeptablen zu machen. Eben an diesem Wendepunkt des Dramas beschwört der sensualistische Glücksbegriff der Dantonisten das von der Amerikanischen Revolution bereits durchgesetzte Recht aller Bürger auf persönliche Wohlfahrt und individuelle ‚happiness‘. Die Institutionen zur Sicherung solcher Verbesserungen werden erörtert, denn die Statue der Freiheit ist, wie gesagt, noch nicht erkaltet, da kommt die ‚Straße‘ ins Bild, mit der nun eingeblendeten Szene „Eine Gasse“ (I,2). Büchners dramatisches Genie zeigt uns jetzt das treibende Prinzip der Französischen Revolution. Das geschieht in Bildern und Wendungen, die an Deutlichkeit ebenso wenig zu wünschen übrig lassen wie andererseits an dramengeschichtlich-ästhetischer Novität.

6.

Bislang befanden wir uns in den Salons, Karten wurden geschlagen und politische Theorien in Worte gefasst und ausgefaltet, versetzt mit sensualistischer Philosophie, samt pikanten Rückbezügen auf hellenistische Sinnlichkeit. Jetzt aber kommt die Wirklichkeit des Dramas erschreckend und mit einer unerhörten realistisch-plebejischen Direktheit ins Bild. Das Ausmaß der heroisch-skeptischen Ungeschminktheit, in welchem Büchner das Volk auftreten lässt, macht mit den

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dichterischen Rang dieses hessischen Dichters aus, der  – jedenfalls streckenweise – auch ein Sozialrevolutionär gewesen ist. Dass der – ideologisch selbst sehr engagierte  – Verfasser von sozialrevolutionären Flugschriften überdies in seiner Eigenschaft als realistischer Schriftsteller solche Szenen zu schreiben vermochte, trug zweifellos dazu bei, dass man Büchner in den Rang eines literarischen Genies erhob. Es gibt in der gesamten Weltliteratur wenige Volksszenen, deren sozialrevolutionäre Signatur einprägsamer und realistischer ausgefallen ist – den dafür zu Recht weltberühmten William Shakespeare von diesem elitären Kreis gar nicht ausgenommen, gerade weil dessen Hamlet für Danton’s Tod wohl mehr als nur eine Orientierungsfunktion besessen hat. Die „Eine Gasse“-Szene erscheint nicht allein durch ein fast absurdes Übereinanderlegen von derb-obszönem Geschlechterstreit und römisch-klassischen Anspielungen auf eine „Vestalin“ und einen „Virginius“ bestimmt, sondern auch durch einen römisch-antikisch camouflierten und bei Lichte besehen nur schoflen Ehestreit, aus dem sich plötzlich eine sozialrevolutionäre Hetzjagd entwickelt, in der es tatsächlich um Leben und Tod geht. Der Anlass erscheint absurd, wie schließlich auch der Ausgang des Ganzen. Ein scheinbar Vornehmer soll an die Laterne kommen, weil er ein Schnupftuch besitzt – und entgeht seinem Schicksal am Ende durch kecke, unerschrockene Rede. Das ist eingebettet in die Obszönität eines Volksdaseins, das materiell vom Elend bestimmt wird, so dass nur die Prostitution der Tochter das vorgestellte ‚revolutionäre‘ Bürgerpaar vor dem Hungertod zu retten vermag. Büchners revolutionäre Absage an alle idealistische Überhöhung beruht dabei auf einer unerschrocken erkannten Unaufhaltsamkeit des ‚revolutionären‘ Prozesses und zugleich auf einer unhinterfragbaren Dringlichkeit der Befriedigung von Körperfunktionen. Von Letzterem ist in auffallender Permanenz die Rede, vor allem im Zusammenhang mit ‚revolutionären‘ Bestrebungen. Die verstörende Nähe entspringt, einerseits, der antiidealistischen Ästhetik eines Mediziners  ; andererseits besitzt sie ihre tiefste Wahrheit in der perplexen Kongruenz zwischen Revolution und Notdurft, die sich mit der französischen Massenverelendung einstellt. Erstaunlicherweise hat auch Hannah Arendt dies gesehen und wie folgt resümiert  : Die unwiderstehlichste Notwendigkeit, von der wir im Bewußtsein unserer selbst

wissen, ist der Lebensprozeß, der unseren Körper in Anspruch nimmt […] unabhängig von unserem Tun und Lassen. Diese Bewegungen sind nicht nur unwiderstehlich, sondern von einer alles andere verdrängenden, unmittelbaren Dringlichkeit.5

5 Arendt (1965), 73.

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Deshalb existiert bei Büchner die für die damalige Zeit schockierende Nähe zwischen politischem Prozess und körperlicher Triebsphäre. Ex negativo realisiert er die von ihm gegenüber Karl Gutzkow geäußerte Einsicht, dass das „Verhältnis zwischen Armen und Reichen […] das einzige revolutionäre Element in der Welt“ sei, und deshalb ein „Huhn im Topfe jedes Bauern […] den gallischen Hahn verenden“ machen würde.6 Die eigentliche Schlüsselfunktion der besprochenen Szene liegt nun darin, dass der ihr eigene irrationale TriebCharakter es ist, der Robes­pierre das entscheidende Momentum und somit das politische Gewicht verleiht. Im unmittelbaren Anschluss daran – im „Jakobinerklubb“  – wird er Dantons Verrechtlichungsbestrebungen und alle allgemeinen Appelle ans Mitleid besiegen, die aus der Partei des ‚Tugendhaften‘ stammen. Hier gewinnt, in scheinbar logischer, doch letztlich messerscharfer politischer Rede, durchgehend ein Vital-Unvernünftiges, Gewaltsam-Triebhaftes die Oberhand. Dass dieses politische ‚Es‘ sich als Tugenderfolg präsentiert, in wechselnden rhetorischen Bemäntelungen, trägt zum bis heute ganz unverbrauchten Skandalon dieses Revolutionsdramas bei. Von erheblicher Ironie ist der Umstand, dass die Ausführungen des großen ‚Tugendhaften‘ nur deshalb einen derartigen Widerhall finden, und am Ende auch siegen, weil er die von Ressentiments getriebene Volksmeute aus der „Gassen“-Szene (und damit die ‚sociale Frage‘) mit sich in den Jakobinerclub zu nehmen vermag. In der politischen Versammlung tönt der ‚Gerechte‘ dann mit Aussagen, deren ideologischen Wahncharakter Büchner in den vorausgegangenen Szenen bereits unübersehbar gemacht hat  : „Die Waffe der Republik ist der Schrecken, / die Kraft der Republik ist die Tugend. / Die Tugend, / weil ohne sie der Schrecken verderblich, / der Schrecken, weil ohne ihn die Tugend / ohnmächtig ist.“ (MBA 369) In solchen Sentenzen überschlägt sich eine hohl gewordene Dialektik, deren einziger Antrieb noch im blinden, gewaltsamen Machterhalt besteht.

7.

Das oberste Prinzip der nunmehr gesicherten diktatorischen Herrschaft des ‚Tugendhaften‘ besteht in der brutalen Einsicht, dass der „Guillotinenthermometer“ (MBA 374) unter keinen Umständen nach unten gehen darf – dies, da6 Vgl. Brief von Anfang Sept. 1835  ; zit. nach Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1974, S. 266.



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mit nicht Robes­ pierres „Wohlfahrtsausschuß“ (MBA 367) sich womöglich selbst sein Bett auf dem Revolutionsplatz, der Stätte der Hinrichtungen, suchen müsste. Büchners szenisch gewordene politische Einsicht äußert sich ferner darin, dass er die vorgebliche Tugendhaftigkeit des Robes­pierre lediglich scheinbar unterstreicht, indem er im Folgenden Danton bei der Dirne Marion landen lässt. Denn Marion bringt in ihrem großen Lustmonolog das Libidoprinzip Sigmund Freuds zu einem Auftritt, der bei Büchner fast ein Jahrhundert vor den Schriften des Wiener Gelehrten angesiedelt ist. Marion scheint geradezu die Antwort auf Freuds epochale Frage – „Was will das Weib  ?“ – in ihrem ausufernden Meeresvergleich vorwegzunehmen. Folgerichtig hat Klaus Theweleit in seinen monumentalen „Männerphantasien“, einem Kompendium über die sexuellen Konnotationen der (Konter-)Revolution, den Auftritt Marions mit erstaunter Aufmerksamkeit bedacht. Allerdings ist Theweleit dabei nicht frei von Spekulation, wenn er schreibt  : Das ist eine ausgesprochen ungewöhnliche Wendung, es ist nicht einmal der Mann, der phantasiert, sein Ich in den Wellen der Frau zu verlieren  ; Büchner läßt die Hure

wie das Lustprinzip selbst sprechen („Ich bin immer nur eins  ; ein ununterbrochenes

Sehnen und Fassen, eine Glut, ein Strom“), ein Lustprinzip aber, vor dem ihr Liebhaber in den Tod flieht, den Wassertod. Und sie wird nicht darum verurteilt.7

Verurteilt wird Marion gewiss nicht – doch flieht Danton bei Büchner wirklich vor dem Lustprinzip  ? Ist nicht umgekehrt der „Wassertod“, falls er einen Tod bei Marion suchen sollte, nur als einer im Blutstrom der Guillotine zu denken  ? Denn so will es Büchners Revolutionsdrama. In diesem Konnex erscheinen die letztlich als bedrohlich, weil uferlos, erfahrene Sexualität der Frau sowie die potenziell verschlingende Weite des Meeres  : Büchners Marion kommt es, ganz wie der Revolution, von deren Akteuren sie ja buchstäblich lebt, vor allem aufs Verschlingen an. Dies ist nur scheinbar eine im Drama dargestellte Antithese zum heuchlerischen Tugendkult der Bergpartei. Vielmehr erscheinen die beiden Sphären hinterrücks und wider Willen dadurch verbunden, dass sie einem nämlichen Prinzip gehorchen  : und zwar dem Triebprinzip, das sich in der geschilderten Koinzidenz schon zwischen der – von der ‚sozialen Frage‘ getriebenen – Revolution einerseits und der allgemeinen körperlichen Notdurft des verarmten 7 Klaus Theweleit, Band  1  : Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Männerphantasien. 2  Bde. Hamburg 1980, S. 297.

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Volkes andererseits gezeigt hat. Dies alles sind Assoziationen und Bilderfolgen, die Büchners Drama nicht nur in seiner „Gassen“-Szene aufweist, auf eine bis heute irritierende, weil ‚moderne‘ Weise. Das Vergessen, das Danton in Marions Sexualität sucht, wird von ihm zwar eher positiv, als befreiend verstanden, aber es ist eben doch eine genuine Todessehnsucht, die ihn antreibt, so als hätte der vom Wiener Seelenarzt erst spät diagnostizierte ‚Todestrieb‘ unaufhaltsam auch von Büchners zentralem Helden Besitz ergriffen. Insofern hat Lacroix, der in Danton’s Tod zu folgendem Bonmot findet, durchaus Recht  : „[…] die / Schenkel der demoiselle guillotiniren / dich, der mons Veneris wird dein / tarpeiischer Fels.“ (MBA 386)

8.

Dem entspricht in Büchners Drama, dass mit dem Schluss des ersten Aktes sich insofern eine tabula rasa vollzieht, als Robes­pierre mittlerweile realisiert, dass die ‚sociale Revolution‘ ihn zu unverzüglichem und brutal-konsequentem Handeln zwingt. Damit siegt er in der Auseinandersetzung mit Danton, der ab jetzt nur noch zaudert und den Gegner allenfalls noch psychologisch-sophistisch attackiert. Doch auch Robes­pierre bezahlt bei Büchner seinen Preis, noch bevor die aus aller Steuerung geratene Revolution am Ende auch ihn aufs Schafott bringt. Der Handelnde, der plötzlich nur noch als ein Getriebener erscheint, steht für den Verlust der kantisch-idealistischen Einheit des handelnden Ichs und geht in die ganz moderne Relativität einer Ich-Identität über, in der mehrere psychische Instanzen einander bekriegen. „Ich weiß nicht, was in mir das Andere / belügt“ (MBA 391), klagt nun selbst der tugendhafte Robes­pierre, der wie ein Vorläufer von Carl Schmitts politischer Identitätsphilosophie den permanenten politisch-psychischen Ausnahmezustand ausdrücklich sucht, um in seinem politischen Handeln der eigenen verunsichernden Reflexion zu trotzen. Alle Bestrebungen nach Verrechtlichung des Revolutionsverlaufs, nach dem Beispiel der ‚amerikanischen Wendung‘, sind mithin obsolet geworden. Vor der blinden Getriebenheit der ‚socialen Revolution‘ erscheinen alle konstitutionellen Bestrebungen nur noch als bloßer „Zierrath“ (MBA 394). Die Identität des handelnden Ichs und die Hegemonie der Vernunft sind gleichermaßen verabschiedet. Die Gleichnisse und Bilder für die Auflösung eines ehemals kompakten Ichs häufen sich gegen Ende des ersten Aktes. Nicht einmal mehr politische Zielsetzungen bestimmen das Handeln des siegreichen Robes­pierre, sondern



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nur noch eine umgestülpte epikureische Ethik, die den ‚Tugendhaften‘ blasphemisch zu einem neuen Christus erhöht  – während die Auslöschung einer als autonom gedachten Persönlichkeit, abzulesen am wirren Revolutionsverlauf, den Gegenspieler Danton an die Grenze des eigenen Irreseins treibt  : „Was ist das, / was in uns hurt, lügt, stiehlt / und mordet  ?“ (MBA 417–418) Wir sehen uns vor eine archetypisch ‚moderne‘ Situation gestellt, ein rundes Jahrhundert vor dem Durchbruch der heute noch geltenden letzten ‚Moderne‘. Nachdem es keine übergeordnete Instanz wie den – inzwischen hingerichteten – König mehr gibt, die geschlossene Persönlichkeit auf- und die Vernunft als Gesetzgeber abgelöst erscheint  – weshalb auch keine Verfassung mehr für die Republik zustande kommt –, gerät bei Büchner die Politik zu einem gleichermaßen anonymen wie triebhaften Prozess, der primär von den sozial notleidenden Massen angetrieben und unvernünftig bestimmt wird. Dieser rücksichtslos antiidealistischen Erkenntnis entspricht, dass ausgerechnet St. Just dann alle Hoffnung auf eine Verrechtlichung der Revolution dadurch zunichtemacht, dass er den immer mitklingenden Notdurft- und Libidodiskurs um die sozialdarwinistische Fundierung des Revolutionsverlaufs ergänzt  : Wo nur noch das Recht des Stärkeren anerkannt wird, steht alle politische Vernunft, gerade die nach amerikanischem Vorbild, auf verlorenem Posten. Wer verkündet  : „Was liegt daran ob sie nun an / einer Seuche oder an der / Revolution sterben  ?“ (MBA 426), hat sich zuallererst vom amerikanischen Revolutionsprinzip des ‚pursuit of happiness‘ als Richtschnur des politischen Handelns verabschiedet. Nunmehr ersetzen ‚Krieg‘ und ‚Guillotine‘ die ‚Gesetzgeber‘ und beenden beim Revolutionsdramatiker Büchner den zweiten Akt  : ein epochaler Sieg der ‚socialen Revolution‘.

9.

Der Dritte Akt spielt folgerichtig im Gefängnis. Eingekerkert tritt nun auch Thomas Paine auf, als der erwähnte Stellvertreter des ‚amerikanischen Wegs‘. Der Mann war tatsächlich zu Revolutionszeiten in Paris und wegen seines abweichenden Denkens über die Hinrichtung des Königs von Robes­pierre persönlich zum Tode verurteilt worden. Der historische Paine entkam dem Tode durch das absurde Faktum, dass seine Zellentür offenstand, als die Gefängniswärter im Luxembourg die Todeskreuze anbrachten. Das todbringende Zeichen prangte dann, von außen unsichtbar, auf seiner Innentür. Während Paines Anwesenheit noch historisch verbürgt ist, kann man dies von der Philosophie, die Büchner

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ihn vertreten lässt, nicht behaupten. Paine, der in seinen politischen Schriften den mehrfach erwähnten ‚pursuit of happiness‘ erörtert hat, fasst bei Büchner eine Philosophie in überzeugende Worte, die vor allem dem damaligen Autor nahe gewesen sein muss. Der Amerikaner legt ein Bekenntnis zum Spinozismus ab, der Gott als glühenden Strom in allem Seienden auffasst und der insofern uneingeschränkt kompatibel erscheint mit den zahlreichen Bildern des unwiderstehlichen Getriebenwerdens, die Büchners Drama kennt. Büchner macht Paine zu einem Atheisten und schreibt ihm jene anrührende Mitleidsemphase zu, die den hessischen Dichter selbst bestimmte und ihn auch als Sozialrevolutionär agieren ließ. Möglicherweise kann man die Logik jener Szenen auch darin erfüllt sehen, dass, wo der ‚pursuit of happiness‘ nicht die Ziele der Revolution bestimmt, die allein gelassenen, aber immer noch nach Lust strebenden Individuen zu einem stoischen Epikureismus gelangen, durch den das unvermeidliche Leiden des Einzelnen zum „Fels des Atheismus“ wird (MBA 433). Dies sei ein neuer Atheismus, so der literarische Paine, an den sich vor ihm nicht einmal Voltaire gewagt habe, denn er führe alles auf ein fundamentales Getriebensein zurück, das im Bereich der Politik wie in dem der Libido unvernünftig herrsche (vgl. MBA 435). Einer erstaunlichen Lehre begegnet man da, zumal diese dem amerikanischen Revolutionär in den Mund gelegt wird, dessen überlieferte Schriften eine durchgehende politisch-philosophische ‚Vernünftigkeit‘ propagieren  : „Thomas Paine führt das Wort  : Georg Büchner sagt ihm Sätze und Gedanken ein, denn die Gefängnisphilosophie des geschichtlichen Paine war völlig anderer Art.“8 Die Verhältnisse erscheinen an dieser Stelle in einer erstaunlichen Reziprozität. Gewiss ist Büchner bei seinen umfassenden Revolutionsstudien auf den Amerikaner gestoßen, doch gewiss nicht als den Verkünder eines hedonistischen Nihilismus. Die ‚wirkliche‘ politische Theorie des amerikanischen ‚Gründungsvaters‘ erwähnt Büchner ebenso wenig wie umgekehrt Hannah Arendt sein Drama – selbst dort nicht, wo sie sich in ihrem Buch mit Paine beschäftigt (was sie ausgiebig tut). Der gewählte Blickwinkel legt den folgenden Schluss nahe  : Nur die konstitutionelle Fassung der Revolution, die Arendt mit Blick auf Amerika so betont, hätte ermöglicht, was auch Büchner anstrebt – den Verfolg des individuellen Glücks als Resultat politisch geschaffener gesellschaftlicher Bedingungen. Dies erst ergab die  – allerdings stets mit dem göttlichen Willen begründete  – ‚vernünftige‘ politische Wohlfahrtslehre der Amerikanischen Re8 Mayer (1974), S. 353.



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volution. Bei Büchner dagegen erwächst aus Paines Revolutionserfahrung ein ‚nihilistischer‘ und atheistischer Hedonismus, der vernünftige und gesamtgesellschaftliche Ziele gar nicht mehr kennt und deshalb auf eine unmittelbar ‚kreatürliche‘ Lust- und Schmerzerfahrung des Einzelnen als das einzig Wahre rekurrieren muss. Das großartige Büchner’sche Pathos des menschlichen Ausgesetztseins hat, genauer besehen, auch mit Spinoza wenig zu schaffen. Es entsprang Büchners politischer Verzweiflung ebenso wie seiner Anleihe an der antik-griechischen Weltsicht, wonach alle irdischen Ereignisse als Zerstreuung der gleichgültigen Götter auf ihrem Olymp zu verstehen seien. Paine als der Hauptphilosoph der Kerkerszene  – mit ihrem bloßen Anbrechen ist Dantons Schicksal besiegelt – artikuliert zwar spinozistische Gedankengänge als atheistische Anklage gegen einen unvollkommenen, von zufälligen Triebkräften gesteuerten Menschen. Was jedoch Paines Anwesenheit bei Büchner in der Tat bewirkt, ist die Verwandlung Dantons in einen ‚amerikanischen‘ Revolutionspolitiker. Danton beruft sich jetzt auf die Schaffung der Revolutionstribunale als ein Mittel, neuen ‚Septembermorden‘ zuvor zu kommen – hinter denen er in der historischen Realität tatsächlich aber selbst gestanden hatte. Nun aber argumentiert er  : „Meine Herren / ich hoffte Sie Alle dießen Ort / verlassen zu machen.“ (MBA 441) Man wird also schließen dürfen, dass der Danton’sche Handlungs- und Weltüberdruss bei Büchner nicht allein aus einer Nachfolge des Revolutionsdramas in der Spur des Shakespeare’schen Hamlet resultiert, sondern mehr noch aus einer Verkehrung aller Revolutionshoffnungen durch das ‚Triebhaftwerden‘ einer Revolution erfolgt, deren Hauptschubkraft keine genuin politische Freiheitssehnsucht war, wie noch zuvor im sozial relativ befriedeten Amerika, sondern die blinde Notwendigkeit der ‚socialen Frage‘. Das ist nicht zuallererst eine ‚philosophische‘ oder ‚ideologiekritische‘ Feststellung, sondern vor allem eine ästhetisch relevante, insofern aus ihr der durchgehend und radikal ‚umstürzlerische‘ Bildgehalt, der den Expressionismus vorwegnimmt, entspringt. Von der Perspektivierung der Persönlichkeit bis zu Dantons großem Nihilismus-Monolog erscheint im Drama alles als Reaktion auf die schreckliche Entdeckung des medizinisch ausgebildeten Dramatikers, dass die Welt – deshalb der Büchner’sche ‚Fatalismus der Geschichte‘ – der Sphäre eines blinden Getriebenseins anheimgefallen ist. An dieser Stelle ist eindeutig die Nähe zu Arthur Schopenhauers zeitgleich entstehender anti-hegelscher Philosophie abzulesen. Denn alle Vernunft, die das Treiben noch in die Form gesamtgesellschaftlicher Vereinbarungen, einer ‚Constitution‘, bringen könnte, hat unter dem Einfluss der ‚socialen

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Frage‘ abgedankt. Der Vernunftschluss ist zum bloßen Herrschaftsinstrument von ‚revolutionären‘ Tribunalen und Ausschüssen geraten, die hoffnungslos von der gerade neuesten Stimmung der Straße abhängen, die wiederum ihrerseits von der Notdurft des Volkes bestimmt wird – dies macht in Danton’s Tod Büchners poetisch so überwältigenden Abgesang auf die Weltsicht der Klassik samt ihres tragischen Dramas aus.

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Erst als es zu spät ist, will Danton noch einmal die Vernunft und die „Kanone[n] der Wahrheit“ (MBA 464) hervorholen. Doch dieser letzte Versuch einer Restitution der Idee vom Politiker als Lenker revolutionärer Geschicke scheitert an der auch Schopenhauer’schen Erkenntnis, dass alles in der Welt vom Trieb bestimmt sei. Kein Zufall ist es also, sondern ästhetische Notwendigkeit, dass sich am Ende, beeindruckend desillusionierend und konsequent, der triebhafte Eros und die triebhaft gewordene Politik vereinigen. Zur Ehescheidung benutzt der tugendhafte Bürger, dem der Sinn nach einem neuen Körper steht, jetzt die Guillotine  : „Muß man denn gerade römischer / Consul seyn und sein Haupt mit / der Toga verhüllen können um sein / Liebstes dem Vaterland zu opfern  ?“ (MBA 468–469) Ein solches Opfer konnte man damals tatsächlich der angeblich neurömischen Republik darbringen  ; denn der girondistische Verfassungsentwurf würde nie in Kraft treten. Daneben wurde der individuelle Verfolg des Glücks nihilistisch-verzweiflungsvoll an die Sphäre des Triebs ausgeliefert. Dabei handelt es sich um eine Denkoperation, die bei den hervorragenden Exemplaren der Büchner’schen Welt nur noch die ganz ‚schonungslose‘ Einsicht in die Sinnlosigkeit allen Geschehens offenbart. Ruhe kann nun lediglich aus dem Tod resultieren, und verzweifelte, paradoxe Hoffnung erwächst jetzt einzig aus dem Doppelselbstmord von Camilles Geliebter und Dantons Frau, begangen mit Gift sowie mittels des konterrevolutionären Ausrufs  : „Es lebe der König  !“ (MBA 493) Büchners avancierte literarische Gestaltung des modernen Paradigmas von ‚Revolution‘ partizipiert darin an bestimmten Strömungen des politisch-philosophischen Denkens in Deutschland, dass das Drama des hessischen Dichters die Ostpreußin Hannah Arendt und sogar seinen philosophischen Gegenspieler, den Schwaben Hegel, umfasst – Letzterem bleibt Georg Büchner, darin hat Hans Mayer recht, durch die durchgehende Dialektik seiner Gestaltung verbunden. Denn so überzeugend Büchner in seinem Revolutionsdrama



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die Hoffnungen auf einen letztlich vernünftigen Gang der Weltgeschichte widerlegt, die das Denksystem des Stuttgarter Meisterdenkers noch getragen hatten, so recht hat Hegel seinerseits in seiner „Büchner’schen“ Feststellung, die ohne die historische Existenz von Robes­pierre nicht denkbar gewesen wäre  : „Die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich.“9 Vor allem die Bild- und Metaphernqualität von Büchners großem Geschichtsdrama bestätigt den Ausspruch des Denkers – oder anders formuliert  : Hegels Abkühlung gegenüber der anfangs begeistert begrüßten Französischen Revolution legitimiert sich durch Büchners genialisch evozierte geschichtliche Wahrheit, die fast ausschließlich mit den Mitteln der dramatischen Ästhetik, einer wie gesagt ganz modernen, ans Licht befördert wurde.

Literaturverzeichnis Arendt, Hannah  : Über die Revolution. München 1965. Büchner, Georg  : Band 3.1  : Danton’s Tod, Text, bearb. von Thomas M. Mayer. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von Burghard Dedner. 10 Bde. Darmstadt 2000. Hegel, Georg W. F.  : Band 12  : Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Hg. von Karl M. Michel und Eva Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1970. Mayer, Hans  : Georg Büchner und seine Zeit. Frankfurt a. M. 1974. Theweleit, Klaus  : Band 1  : Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Männerphantasien. 2 Bde. Hamburg 1980.

9 Georg W. F. Hegel, Band 12  : Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Hg. von Karl M. Michel und Eva Moldenhauer. 20 Bde. Frankfurt a. M. 1970, 532–533.

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Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner1

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Die Thematik der Revolution nimmt sowohl bei Bertolt Brecht als auch bei Georg Büchner einen bedeutenden Stellenwert ein. Sei es in den frühen Schriften Brechts wie Trommeln in der Nacht, in den Lehrstücken wie Die Maßnahme, Der Jasager und Die Mutter oder später auch in Mutter Courage, immer wird dabei eine gerechte und menschliche Gesellschaft eingeklagt, die sich im Zuge einer bisweilen bedingungslosen Fortschrittsgeschichte verwirklichen soll. Kritisiert werden die herrschenden bürgerlichen Verhältnisse, die überhaupt erst zur Unterdrückung der Massen führen und die es auf dem Weg in eine bessere, Heil versprechende Welt zu überwinden gilt. Als einem der ersten deutschen Revolutionsdramatiker begegnet man dieser Kritik schon bei Georg Büchner, wenn er Schuld weniger dem Individuum als vielmehr den herrschenden Verhältnissen zuweist sowie in Dantons Tod die ins Stocken geratene soziale Revolution einfordert,2 die über den Status quo der auf das Bürgertum beschränkten Partizipation hinausgeht.3 Das materielle Elend, dem sich insbesondere die Figuren des Volkes gegenübersehen,4 rückt bei ihm in 1 Der Aufsatz erscheint als erweiterte Fassung zugleich in The International Brecht Yearbook 39 (2015). 2 Siehe Johannes Gründel, Schuld und Versöhnung. Mainz 1985, S. 22–25. 3 Barbara Hahn verweist auf den Dramenaufbau, der in Dantons Tod in vier Akten erfolgt, wodurch der „klassische fünfte Akt fehlt, in dem sich alle geknüpften Fäden der Handlung auflösen.“  ; Barbara Hahn, „Zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte“  : Das Drama mit Hannah Arendt gelesen. In  : Büchner-Lektüren für Dieter Sevin. Hg. von Barbara Hahn. Hildesheim [u. a.] 2012, S. 11–24, hier  : S. 15. Sie erkennt in dieser Auflösung sowohl den Verlust des „sicheren Standpunkt[es] eines ‚Danach‘“ als auch eine Situierung des Dramas „mitten im Geschehen“ (Hahn 2012, 15). Zweifelsohne lässt sich jener fehlende fünfte Akt im revolutionären Prozess selbst orten  ; m. E. ist es die Unabgeschlossenheit der bürgerlichen Französischen Revolution, die beklagt wird, weil das Ausbleiben der sozialen Revolution notwendig dafür sorgte, dass die „Kette der Revolutionen, die das 19. Jahrhundert prägen, […] noch lange nicht abgeschlossen“ war (Hahn 2012, 15). 4 In Dantons Tod sind es der vom Alkohol zerfressene und zum Schweigen gebrachte Souffleur Simon sowie seine Tochter, die sich prostituieren muss, damit die Familie ihren Lebensunterhalt bestreiten kann  ; deren prominenteste Vertreter ist Woyzeck.

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den Mittelpunkt und entlarvt den wirklichen Gehalt der bürgerlichen Maximen von Freiheit und Unschuld. Erst vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung, der angestrebten Überwindung der bestehenden Ordnung, lässt sich bei beiden Autoren das motivische Wesen der Revolution, deren poetische Funktion verstehen. Anlässlich der Brecht-Tage 2002, die sich der Frage nach „Brechts Glauben“ widmeten, hat Wolfgang Emmerich noch einmal auf die verwandtschaftlichen Beziehungen der Geschichtsphilosophien mit christlichen Glaubensvorstellungen hingewiesen. Anstatt das frühe zwanzigste Jahrhundert mit Lukács „transzendentaler Obdachlosigkeit“ zu lesen oder mit Weber’scher Askese als eine entzauberte, in calvinistischem Protestantismus befangene Welt, hebt er mit Löwiths Weltgeschichte und Heilsgeschehen die theologische Dimension der Geschichtsphilosophie hervor, die auch in der Moderne ihre Gültigkeit besitze. Dieser „qualitative Sprung zur Aufladung sozial engagierter irdischer Bewegungen mit geborgtem diesseitigen Heil“5 ist sowohl in Büchners als auch in Brechts Revolutionsverständnis enthalten. Erst dieser „Sprung“ verleiht „ihren“ Revolutionskonzepten die heilsgeschichtliche, erlösende Dimension, die (revolutionäre) Erhebungen legitimatorisch benötigen. Entgegen allen Bestrebungen nach Säkularisierung und Profanisierung bleiben auch die Geschichtsphilosophien „ganz und gar abhängig von der Theologie“ und damit „von der theologischen Ausdeutung der Geschichte als eines Heilsgeschehens“.6 Indem die Geschichte dem „biblischen Glauben an eine Erfüllung“ verhaftet bleibt, mündet diese, aus aufklärerischer Perspektive gesprochen, bestenfalls in die „Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbildes“.7 Eingeklagt werden die Erlösungserwartungen sowie die neue Menschheit, die die erfolgreich vollendete Revolution gewissermaßen aus sich selbst heraus gebären soll, sowohl bei Brecht als auch bei Büchner unter Rückbezug auf die Bibel. Im Spannungsfeld zwischen ausbeuterischer Wirklichkeit und biblischer Lehre sich bewegend, versuchen beide auf je eigene Weise die massiven Widersprüche, die in den bestehenden Verhältnissen liegen, anzuprangern und ein 5 Vgl. Wolfgang Emmerich, Verkappte Religionen. Eschatologischer Marxismus in den 20er Jahren und die Position Brechts. In  : Brechts Glaube. Brecht-Dialog 2002. Hg. von Therese Hörnigk und Sebastian Kleinschmidt. Berlin 2002, S. 25–43, hier  : S. 30. 6 Vgl. Karl Löwith, Band 2  : Weltgeschichte und Heilsgeschehen, zur Kritik der Geschichtsphilosophie. Sämtliche Schriften in 9 Bänden. Hg. von Marc B. de Launay, Bernd Lutz [u. a.]. Stuttgart 1983, S. 11  ; zit. nach (Emmerich) 2002. 7 Vgl. (Löwith) 1983, S. 12  ; zit. nach (Emmerich) 2002.



Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner |

wahres Christentum zu initiieren, das der sozialen Wirklichkeit diametral entgegensteht. Bereits in der ‚Ersten Botschaft‘ des Hessischen Landboten heißt es  : Im Jahr 1834 siehet es so aus, als würde die Bibel Lügen gestraft. Es sieht aus, als hätte

Gott die Bauern und Handwerker am 5ten Tage, und die Fürsten und Vornehmen [zw.

Fsg.  : Großen] am 6ten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt  : Herrschet

über alles Getier, das auf Erden kriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Ge-

würm gezählt. Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in

schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden

eine eigne Sprache  ; das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker. Der

Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme [zw. Fsg.  : Beamte des Fürsten] aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen am Pflug […]. Das Leben

des Bauern ist ein langer Werktag  ; Fremde verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische des Vornehmen

[zw. Fsg.  : Zwingherrn].8

Der Bibel kommt in diesem Zusammenhang entscheidende Bedeutung zu, wird doch unter maßgeblichem Bezug auf die Schöpfungsgeschichte die herrschende Ungleichheit angeprangert und (in der Folge) die Wiederherstellung der paradiesischen Ur-Gleichheit des Menschen eingefordert. Dabei wird das göttliche Ordnungsmodell in der rhetorischen Figur des ‚als-ob‘ nicht verworfen, sondern im Gegenteil als einzulösende Forderung nach einem diesseitigen Paradies hervorgehoben. Auch die weiteren Bibelzitate, die das Pamphlet durchziehen – vom Matthäus-Evangelium, von den Paulinischen Briefen an die Römer und die Korinther, der Johannes-Apokalypse bis hin zu den Propheten Jeremias, Jesaja und Hesekiel  – verfolgen neben der bildgewaltigen Unterstützung der statistischen Fakten in erster Linie das Ziel, an den christlichen Wertevorstellungen festzuhalten und auf deren Verwirklichung zu pochen. Büchner und Weidig berufen sich dabei auf ein ‚wahres‘ Christentum, das eine neue, wirkliche Menschlichkeit generieren werde, sobald die Unterjochung durch die staatliche Ordnung überwunden sei. Begründet wird auch die Frage des Widerstands mithilfe des biblischen Bezugstextes, denn die Bibel fungiert als „theologisch 8 Georg Büchner, Band 2  : Schriften, Briefe, Dokumente. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006a, S. 53–54. Die Vergleichspassagen der zweiten Fassung werden zitiert nach  : Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006b, S. 41. – Fortan wird die erstere Ausgabe mit DKV zitiert.

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fundiertes Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit“.9 So wird ersichtlich, wie ernst es Büchner mit dem zweiten Hebel des „religiösen Fanatismus“ ist, der abgesehen vom „materielle[n] Elend“ das Volk zur Revolution bewegen solle, wie er an Karl Gutzkow schreibt.10 Der Aufruf zum revolutionären Handeln bezieht sich de facto auf den Status einer „innerweltliche[n] Apokalypse“, die in der Tat den „Umsturz mit Reinigung verbindet“.11 Dietmar Till hat darauf verwiesen, dass gerade im Schlussteil des Hessischen Landboten der „Prozess der Revolution mit dem der Heilsgeschichte parallelisiert“ wird.12 Bibelzitate oder Anspielungen wie der „Tag der Auferstehung“ bzw. die „Neubelebten“, die an die Träger der neuen Werte erinnern, sowie die Rede von der Realisierung des „Reich[s] der Gerechtigkeit“ (DKV 2,65–66) sind nicht als ausschließlich theologische, sondern auch als politische Bestrebungen zu verstehen  : Die religiöse Lebenswelt der Bauern und die, wenn man so will, revolutionäre Eschatologie werden parallel geführt. Die Bauern sind Werkzeuge Gottes in dem Prozess

der Heilsgeschichte, sie werden aufgefordert, sich am ohnehin Unumgänglichen zu beteiligen, weil der Umsturz prinzipiell und zwingend ist.13

Im unmittelbaren Kontext der Heilsversprechungen, die Brecht wie Büchner mit der Revolution verbinden, kehrt in beiden Konzepten die Figur des Opfers regelmäßig wieder  – konkreter  : des Menschenopfers. Sowohl bei Büchner als auch bei Brecht ist die motivische Funktion des Menschenopfers eng mit dem heilsgeschichtlichen Diskurs verknüpft, wodurch es erst zu einem obligatorischen Bestandteil des Versprechens einer neuen Welt wird. Die  – bald mehr, bald weniger verfremdete  – Passionsgeschichte und die erfolgreiche soziale Revolution erscheinen merkwürdig parallelisiert, trägt doch die Figur des Opfers bei beiden Autoren unverkennbare Christuszüge. Um das Motiv des Opfers und seine Funktion in Büchners und Brechts Theater soll es im Folgenden gehen.   9 Vgl. Dietmar Till, „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch 12 (2009–2012), S. 3–24, hier  : 19–20. 10 Vgl. Büchner (2006b), S. 319. – Es handelt sich um einen Brief von 1836, der in seinem Straßburger Exil entstand. 11 Vgl. Till (2012), S. 15. 12 Vgl. Till (2012), S. 20. 13 Till (2012), S. 20–21.



Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner |

2.

In Brechts 1932 uraufgeführtem Schauspiel Die Mutter, das Ähnlichkeiten zum Lehrstückkonzept aufweist, erfährt die Protagonistin Pelagea Wlassowa in der zehnten Szene vom Tod ihres Sohnes, der ihre Wandlung von der ausgebeuteten Arbeiterfrau hin zur überzeugten Kommunistin noch einmal bestärkt und dadurch einen höheren Sinn erlangt, dass sie plötzlich selbst die revolutionären Lehren verkündet und so zu seiner Jüngerin wird. Insgesamt trägt die Szene deutliche Züge der Passion Jesu Christi, entsprechen doch die Verfolgung des Sohnes, sein anschließender Opfertod sowie die Beweinung durch seine Mutter der christlichen Pietà-Ikonografie.14 Das parallelisierte bzw. sogar in Eins gesetzte revolutionäre und christliche Opfer weist auf ein bedeutendes, alles andere als bloß ästhetisch begreifbares Problem hin  : auf die Problematik des Opfers in der säkularisierten Moderne.15 Das Opfer erscheint als ein notwendiger Preis, den es in Kauf zu nehmen gilt, um die revolutionären Ziele zu verwirklichen  : die herrschende Ungerechtigkeit der Welt zu überwinden und den Kommunismus als neue Gesellschaftsform zu etablieren. Befördert wird diese Zielsetzung durch den Märtyrer Pawel, der sich in den Dienst der kommunistischen Idee stellt. Kritisiert wird mit der Beschreibung seiner Haltung mittelbar die „Schicksalsergebenheit“ des bürgerlichen Chris­ten­ tums,16 das die wahren Glaubenswerte und deren immanente revolutionäre Sprengkraft kaschieren möchte. Als nämlich die Hausbesitzerin kommt, um „alle Zwistigkeiten“ für den Moment zu begraben, und sich mit zwei Frauen „Christen zu ihr setzen“, die ihr „Mitgefühl […] bezeigen“ wollen,17 distanziert sich Pelagea Wlassowa in aller Schärfe von der bürgerlichen Mitleids- und Trostethik. Ganz im Sinn der Marx’schen Doktrin ‚Religion ist Opium fürs Volk‘, mit der Brecht in seinen Anmerkungen die Szene auch überschrieben hat,18 widerspricht 14 Vgl. Thomas Naumann, Wo Du hingehst – Brecht und die Bibel. In  : Hörnigk und Kleinschmidt. Berlin 2002, S. 159–203, hier  : S. 179. 15 Vgl. Clemens Pornschlegel, Liturgische Liquidation. Zum Problem der Tötung in Brechts Lehrstücken Der Jasager und Die Maßnahme. In  : Dreigroschenheft 2 (2000), S. 25–33, hier  : S. 25. Ein Nachdruck des Aufsatzes erfolgte in  : Hyperchristen. Brecht, Malraux, Mallarmé, Brinkmann, Deleuze. Studien zur Präsenz religiöser Motive in der literarischen Moderne. Wien [u. a.] 2011. 16 Vgl. Naumann (2002), S. 180. 17 Vgl. Bertolt Brecht, Band 2  : Die Mutter. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. 1967, S. 823–895, hier  : S. 879. 18 Vgl. Brecht (1967), S. 897. – Diese wird in den Lehrstück-Aufführungen in Form von Spruchbändern gezielt zur Desillusionierung der Zuschauer eingesetzt.

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Wlassowa einem bürgerlichen Christentum, das – der marxistischen Klassenterminologie folgend  – lediglich der Bourgeoisie zur Besitzstandwahrung dient. Während die Hausbesitzerin noch mahnt, „der Mensch braucht Gott“, weil er ohne ihn „machtlos gegen das Schicksal“ sei, hat sich Pelagea Wlassowa die Position der (atheistischen) Materialisten zu eigen gemacht  : „Wir sagen  : Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“19 Verabschiedet ist dadurch die Frage der göttlichen Instanz allerdings nicht – vielmehr offenbart die Figur des Menschenopfers zwischen Revolution und Christentum eine strukturelle bzw. theologische Verwandtschaft, in der sich die maßgeblichen, virulenten Problematiken artikulieren  : Pelagea Wlassowa  : Aber warum fürchtet ihr nur den Tod  ? Mein Sohn fürchtete den Tod nicht so sehr.

Pause. Was nützt es Ihnen, wenn sie Gott fürchten, Lydia Antonowa  ? […] So wie

meinen Sohn Pawel nicht der unerforschliche Ratschluss Gottes weggerafft hat, son-

dern der erforschliche Ratschluss des Zaren, so hat Sie Wera Stepanowna auf die

Straße geworfen […].

Die arme Fr au  : Geben Sie mir einmal die Bibel, Wera Stepanowna. In der Bibel steht ganz deutlich  : Liebe deinen Nächsten. Warum werfen Sie mich da auf die

Straße  ? Geben Sie mir die Bibel, ich werde es Ihnen aufschlagen. […]

Die Hausbesitzerin  : Zu diesem Zweck bekommen Sie die Bibel nicht von mir, zu diesem Zweck nicht.

Die arme Fr au  : Zu welchem Zweck dann  ? Sicher zu keinem Guten  !

Die Hausbesitzerin  : Das ist Gottes Wort  !

Die arme Fr au  : Eben. Ihr Gott nützt mir gar nichts, wenn ich nichts davon merke  !20

Mit Blick auf den Tod Pawels stehen gleich mehrere Dinge zur Disposition. Auf der einen Seite geht es um die Deutungshoheit des Todes, den Pelagea Wlassowa als eine Opfergabe für den revolutionären Umsturz begreift. Geweiht wird sein Tod somit erst, indem er als notwendiges Opfer für die Partei erscheint  ; gleichzeitig ‚entgöttert‘ sie das gesprochene Todesurteil, da sie den Zaren entsakralisiert. Auf der anderen Seite löst sie im Zuge ihres Kampfes gegen die bestehenden Verhältnisse die biblischen Schriften aus der aristokratisch-bürgerli19 Brecht (1967), S. 882. 20 Brecht (1967), S. 884.



Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner |

chen Machtsphäre und mobilisiert die wahren christlichen Werte, wodurch deren revolutionäre Sprengkraft freigelegt wird. Der Missbrauch christlicher Moralvorstellungen zum Zweck der Wahrung des Besitzes wird zugunsten der tatsächlichen Glaubenswerte überwunden, die nun gegen jene „verkehrte Welt“ gewendet werden, in deren Namen sie bis dato eingesetzt wurden. Am Eindringlichsten gelangt die Bereitschaft, die leidende, ungerechte Welt im Diesseits zu erlösen, in den Lehrstücken Die Maßnahme und Der Jasager zum Ausdruck, in denen die unromantische Kehrseite der revolutionären Bereitschaft zum Selbstopfer dargestellt und dem Publikum bewusst gemacht wird. In beiden Fällen gefährdet ein junger Genosse durch sein Handeln (aus falschem christlichen Mitleid) wiederholt die politische Mission der Gruppe und demzufolge das Heil des gesamten Kollektivs. Aufgrund der Verfehlungen stellen in beiden Lehrstücken die Revolutionäre dem verantwortlichen Genossen die Frage, ob dieser aus Gründen des Gruppenwohls seinem eigenen Tod zustimme. Und in beiden Fällen willigt der Angesprochene in das Urteil ein, mit der Bitte jedoch, dass man ihm beim Sterben behilflich sei. In dieser Konstellation kehrt die alttestamentliche Figur des Menschenopfers, angesiedelt zwischen Gott, Abraham und Isaak, auf die Bühne zurück – allerdings, und das macht die Brisanz dieser Szene aus, wird entgegen der biblischen Vorlage die Opferabsicht auch realisiert, und zwar als „Tötung der Sache willen“, wodurch die „Kontur einer militant-maßlosen Menschenliebe“ aufscheint, die „den Humanismus der kommunistischen Bewegung auszeichnet“.21 Zugleich erfolgt insofern eine Verzahnung des Revolutionärs mit der christlichen Passion, als die Stationen der Passionsgeschichte – vom Verrat über die Verfolgung bis hin zum Opfertod und zur Grablegung – zitiert werden. Die Erschießungsszene ist denn auch unmissverständlich mit „Die Grablegung“ überschrieben, wodurch Brecht explizit auf die Analogien zur christlichen Leidensgeschichte hindeutet. Clemens Pornschlegel hat in seinem Aufsatz zum Liquidations-Komplex in den Brecht’schen Lehrstücken darauf hingewiesen, dass „der Vergleich […] frappierende Homologien der Opferszenen“ aufdeckt – „sowohl die genealogische Dimension des Opfers, das im Zusammenhang der ‚Sozialisierung‘ eines ‚Sohnes‘ stattfindet, als auch dessen appellative Struktur, die jedes Mal eine ‚höhere Instanz‘ […] ins Spiel bringt“.22 Es ist jene „höhere Instanz“, die auch in Die Mutter auftaucht und dort im „Lob der dritten Sache“ als „[v]ieler Menschen große, gemeinsame 21 Vgl. Pornschlegel (2000), S. 25. 22 Vgl. Pornschlegel (2000), S. 26.

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Sache“ besungen wird.23 Brecht artikuliert in Bezug auf das Opfer bzw. das Töten eines Mitmenschen dogmatische Grundsatzfragen, die trotz aller Aufklärungs- und Rationalitätsbeschwörungen keineswegs verschwunden sind und die sich insbesondere mit Blick auf die heilsgeschichtliche Erlösung im Diesseits in neuer, verschärfter Dringlichkeit stellen. Nichts Geringeres als das Thema des Sterbens eines Individuums für die Sache der Revolution – sowohl für das Erreichen als auch für die Fortführung ihres Programms – steht im Zentrum der Handlung. Was schon mit Blick auf die eschatologische Dimension der Revolution im Allgemeinen ersichtlich wurde, hebt der Diskurs um die theatralischen Passionen noch einmal hervor  : Die Revolution bleibt einer Form christlich konnotierter Liturgie verpflichtet. Bei Brecht, das zeigen die Lehrstücke, sind die revolutionären Subjekte weiterhin an dogmatische Grundsätze gebunden  :24 „Das Opfer der Brecht’schen Lehrstücke ist, nicht anders als jedes andere religiöse Opfer, ternär strukturiert. Es impliziert eine absolute, kausale Instanz. Die einen sterben und die anderen töten im gemeinsamen Im-Namen-von.“25 Unter der ‚aufgeklärten‘ Oberfläche im Denken der vernunftbegabten, dem Fortschrittsgedanken verhafteten Vertreter der Moderne brechen archaische Strukturen wieder auf, die schon längst als überwunden galten. Vor dem Hintergrund der politischen Revolution und der progressiv voranschreitenden Geschichtsteleologie stellen sich die dogmatischen Grundsatzfragen nun mit neuer Dringlichkeit. In der radikalen Art ihrer Beantwortung liegt auch die auf den ersten Blick erstaunliche Rückkehr des Menschenopfers begründet. Mit der Übertragung der heilsgeschichtlichen Erwartung von der biblischen Eschatologie auf die revolutionäre Gesinnung wurde im Zuge der Religionskritik auch die Autonomie der Instanz Gottes aufgehoben und auf das revolutionäre Subjekt selbst übertragen. Damit wird die im revolutionären Umbruch begriffene Menschheit, als Subjekt der Geschichte, gewissermaßen selbst zum Absoluten, zu jener ternären Größe, in deren Rahmen auch die Frage des Opfers und des Tötens verortet ist. Die Perfidie dieser Übertragung, die Brecht im Kontext der 23 Brecht (1967), S. 878. 24 Die Rückbindung an eine ‚dritte Instanz‘ verschwindet nicht, völlig unerheblich, ob sie nun Gott oder wie in Die Mutter „Vernunft“ heißt. Dort resümiert Pelagea Wlassowa  : „Ich habe nicht aus Vernunft geheult. Aber als ich aufhörte, habe ich aus Vernunft aufgehört.“ (Brecht 1967, 881) Drückt die Heulerei noch das falsche christliche, aus dem Bürgertum stammende Mitleid aus, offenbart sich der Akt der Beendigung ganz im Sinne der wissenschaftlich-dialektischen, rationalaufklärungsorientierten Programmatik. 25 Pornschlegel (2000), S. 31.



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stalinistischen ‚Säuberungen‘ ab 1929 diskutiert,26 liegt in der Überführung des symbolischen Opfers der Bibel in die konkrete – und nicht bloß ästhetisch konzipierte – Wirklichkeit. Gleichzeitig wird die Figur des Absoluten „vermenschlicht“, genauso wie „dabei […] notwendig auch die ‚Referenz‘ entsymbolisiert und entmetaphorisiert“ wird, was bedeutet  : „Das Absolute wird real und bricht unvermittelt in den politischen Alltag ein.“27 Aus der festgehaltenen ‚Desymbolisierung‘ und ‚Entmetaphorisierung‘ resultiert jene „Gleichzeitigkeit von religiöser Opferlogik und ‚aufgeklärter‘ Produktions- und Verwaltungstechnik“,28 die Brecht auf die Bühne bringt. Dessen ungeachtet bleibt die ternäre Struktur unabdingbar für das Verständnis der Opferfigur und somit der Revolution selbst. Bei Verlust der dogmatischen Strukturen würde das revolutionäre Projekt nicht allein seine diesseitige heilsgeschichtliche Dimension, kurzum  : seinen sakralen Glanz, einbüßen, sondern überdies auch seine metaphysische Rechtfertigung. In diesem Fall erschienen die inszenierten theatralischen Passionen als profanierte, willkürliche Morde – das „gewollt-ungewollte Töten eines Nächsten“ verkäme vom religiösen Opfer im Sinn der ‚dritten Sache‘ zur bloßen Liquidation.29 Das zugehörige ‚Welttelos‘, das Brecht in der ‚dritten Sache‘ (und bisweilen auch in der kommunistischen Partei) aufrechterhält, verschwände und hinterließe gewissermaßen eine Beliebigkeit zwischen Opfer und Mord, zwischen Passion und schlichter Vernichtung.

3.

Die Frage des Opfers, der theatralischen Passion als Ausdruck einer der Revolution inhärenten (christlichen) Liturgie, lässt sich bereits in Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod nachzeichnen. Analog zur ternären Struktur, die in den Lehrstücken Brechts durch die Partei oder das Kollektiv realisiert wird, steht auch bei Büchner diese Macht und Gewalt legitimierende Instanz im Mittelpunkt, die erst ein Sprechen im Namen von ermöglicht. Büchner sieht diese Subjektgestalt in der Gesamtheit des Volkes verkörpert, und ähnlich wie bei Brecht ist sie mit einer heilsgeschichtlichen Erlösungserwartung verbunden, 26 Vgl. Pornschlegel (2000), S. 31. 27 Vgl. Pornschlegel (2000), S. 32. 28 Vgl. Pornschlegel (2000), S. 33. 29 Vgl. Pornschlegel (2000,) S. 30.

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die letztlich die menschliche Gleichheit herstellen und garantieren soll. Büchner erkennt im Volk die Instanz, die den vorherigen Souverän ablöst und die Figuration der politischen Gemeinschaft leistet.30 Sein Drama Dantons Tod, das er 1835 unter den Eindrücken der gescheiterten Juli-Revolution verfasste, geht historisch auf die Jakobinische Schreckensherrschaft zurück und problematisiert unter Bezugnahme auf die Vorereignisse so das Scheitern des sozialen Wandels. Auffällig daran ist, dass Büchner seinen Revolutionsdiskurs knapp einhundert Jahre vor dem Brecht’schen Rekurs in den Kontext verschiedener Opferfiguren und eines regelrechten ‚Verbrauches‘ von Leibern stellt.31 In verschiedener Gestalt rückt das Verhältnis von Körper und Revolution in den Mittelpunkt des revolutionären Geschehens, so dass, wie ­Sigrid Weigel festhält, es vielfach um den Körper geht, „der die Ideen der Revolution zu verkörpern hat und dabei diesen geopfert wird“.32 Der potenzielle Opferkörper der Revolution scheint bei Büchner regelmäßig als ein verschwindender auf, so dass seine körperliche Präsenz  – nicht zuletzt im liturgischen Opfer selbst – gewissermaßen von der Handlung verzehrt wird. Und genau wie 30 Siehe hierzu Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. – In Bezug auf die Frage staatlicher (Neu-)Orga-nisation bzw. der allgemeinen politischen Ordnung ist auch Desmoulins – durchaus ambivalent bewertbare – Körperfiguration der ‚unsichtbaren Haut‘ zu verstehen  : „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal das Recht zu sein wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden. Wir werden den Leuten, welche über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen.“ (DKV 1,15) Auffällig sind die organisch-holistischen Ganzheitsmetaphern, die in dem alles umspannenden Volkskörper zum Ausdruck kommen. Dieser Körper als der Nation bzw. dem Volk zugeordneter Leib erinnert – wie Barbara Hahn jüngst mit Hannah Arendt nochmals betont hat – an die biologisch-organischen „Geschichtsvorstellungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts […], mit deren Hilfe es möglich wird, die faktische Pluralität einer Nation oder eines Volkes oder einer Gesellschaft im Bilde eines übermenschlich großen Leibes zu sehen, als Körper der Nation oder des Volkes oder der Gesellschaft, der einem für den Einzelnen unwiderstehlichen allgemeinen Willen […] untertan ist“ (Hahn 2012, 22). Vgl. hierzu auch Hannah Arendt, Über die Revolution. München 1965, S. 74. Die biologisch-organische Körpermetaphorik taucht bei Büchner mehrfach und an prominenter Stelle auf, auch häufig als Motiv der Einverleibung, u. a. im Prostitutions-Diskurs von der Tochter des Souffleurs Simon oder durch die beiden Grisetten Rosalie und Adelaide. 31 Vgl. Sigrid Weigel, Das Theater der weißen Revolution. Körper und Verkörperung im RevolutionsTheater von Heiner Müller und Georg Büchner. In  : Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Hamburg [u. a.] 1989, S. 154–174, hier  : S. 169. 32 Vgl. Weigel (1989), S. 170.



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später auch bei Brecht finden sich bereits in Dantons Tod mehrfach Referenzen auf die christliche Passionsgeschichte, die sich nicht als rhetorisches Mittel abtun lassen, kommt doch dem Opfer auch eine gemeinschaftsstiftende Bedeutung zu. Entgegen der aktiv-progressiven, revolutionären Grundstimmung wird allerdings ein eher ernüchterndes Bild revolutionärer Tristesse gezeichnet  : Die Guillotine, mit der viele „die Prinzipien revolutionärer Gewalt in der Französischen Revolution“ vergegenwärtigt sahen – „Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität, Reinlichkeit und Rationalität“ –33 verkommt zu einem Apparat, der zur Tilgung persönlicher Altlasten dient, und nicht zuletzt zur Inszenierung eines blutrünstigen Schauspiels, mit dem man versucht, die hungernden Massen bei Laune zu halten. Die Revolution hat mittlerweile ihren Sinn eingebüßt, so die pessimistische Lesart des Dramas, denn diese ist in einen blutrünstigen Zirkel eingetreten, in dem viele vermeintliche Gegner allein zum Zweck der politischen Selbsterhaltung hingerichtet werden. Hérault, einer aus der gemäßigten Fraktion der Dantonisten, beklagt entsprechend „das Stadium der Reorganisation“,34 in das die Revolution eingetreten sei, und fordert einen Ausstieg aus jener sinnlosen ‚Zernichtung‘, von der die Revolution längst bestimmt zu sein scheint. Inszeniert wird von Büchner das große Dilemma der bürgerlichen Revolution, die – bevor sie als ‚soziale‘ zur ‚Inthronisation‘ des Volkes führen kann – ins Stocken gerät. Das revolutionäre Volk ist zwar de jure zum Garanten der neuen Ordnung geworden, de facto jedoch hat sich die Revolution bisher ausschließlich für das Bürgertum bezahlt gemacht, weshalb nun für das ‚niedere Volk‘ die existenzielle Problematik ökonomischer Not ungebrochen fortbesteht. Und dennoch wird, der Absenz des Volkes auf der Bühne zum Trotz, seine legitimierende Macht als neuer Souverän insofern ersichtlich, als es die De-Konstitution seiner Repräsentanten verantwortet.35 Auf diese Weise wird es in der Frage der Entscheidungshoheit über Leben und Tod in den Rang einer unsichtbaren, doch unmittelbar erfahrbaren Ordnungsmacht erhoben, deren Befugnisse sich in der Befehlsgewalt über die Guillotine ausdrücken – einer Befugnis, die knapp einhundert Jahre später in den Brecht’schen Lehrstücken wiederkehrt  : 33 Vgl. Weigel (1989), S. 161. – Siehe hierzu Gerald Sammet, Sûreté, Célérité, Dignité. Die Guillotine und das Licht. In  : Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Hg. von Georg-Büchner-Ausstellungsgesellschaft. Basel [u. a.] 1987, S. 227–234. 34 Vgl. Weigel (1989), S. 161. 35 Vgl. hierzu ausführlich  : Clemens Pornschlegel, Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volks in den Texten Georg Büchners. In  : Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Neumann. Stuttgart [u. a.] 1997, S. 557–574.

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Robes­p ierre Im Namen des Gesetzes‹  !›

Erster Bürger Was ist das Gesetz  ? Robes­p ierre Der Wille des Volks.

Erster Bürger Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo

totschlagen  !

Einige Stimmen Hört den Aristides, hört den Unbestechlichen  !

Ein Weib Hört den Messias, der gesandt ist zu wählen und zu richten  ; er wird die

Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der Wahl, und seine Hände sind die Hände des Gerichts  !

Robes­p ierre Armes, tugendhaftes Volk  ! Du tust deine Pflicht, du opferst deine

Feinde. Volk du bist groß. Du offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschlägen.

Aber Volk deine Streiche dürfen deinen eignen Leib nicht verwunden, du mordest dich selbst in deinem Grimm. Du kannst nur durch deine eigne Kraft fallen. Das

wissen deine Feinde. Deine Gesetzgeber wachen, sie werden deine Hände führen, ihre

Augen sind untrügbar, deine Hände sind unentrinnbar. Kommt mit zu den Jakobinern. Eure Brüder werden euch ihre Arme öffnen, wir werden ein Blutgericht über unsere Feinde halten. (DKV 1,20)

In der Auseinandersetzung Robes­pierres mit dem Ersten Bürger wird die neu gewonnene Macht eines Volkes sichtbar, das den Souverän ablöst und sich selbst an seine Stelle setzt. Robes­pierre, der sich herausnimmt, im Namen des Gesetzes zu sprechen, wird in dieser Begegnung mit der personalisierten Volkssouveränität beinahe hingerichtet. Das Eingreifen einiger Bürger aus der Menge erst rettet ihn vor der neuen ‚Machtinstanz Volk‘, die bereits Züge eines (selbst-) zerstöre-rischen Mobs trägt. Interessanterweise wird der Diskurs über das Verhältnis zwischen Volkssouverän und -masse von Büchner selbst in die theologische Dimension eingeführt und die Revolution so in einen christologischen Deutungshorizont gerückt. Indem eine  – nicht zufällig  – namenlose Frau aus dem Volk nämlich Robes­pierre zur Erlöserfigur verklärt, stellt sich mit dem zugrunde liegenden Verhältnis, das eines zwischen politischen Repräsentanten und vertretenem Volk ist, ein Bezug auf das biblische Volk Gottes sowie auf das Jüngste Gericht her. Im Verlauf der Szene versucht Robes­pierre, aus der Umkehr der Verhältnisse Kapital zu schlagen und sich als Heilsbringer zu inszenieren. Er nutzt sein rhetorisches Geschick, um das Volk zu seinem Verbündeten zu machen und gegen die „inneren Feinde der Republik“ (DKV 1,23) zu instrumentalisieren – mit sich als erstem Repräsentanten, der dem ethischen Prinzip der



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Tugendhaftigkeit mit der Guillotine zum Durchbruch verhelfen möchte. Letztlich offenbart diese Szene die entscheidende Krise der Revolution, die sich, ausgelöst durch die Infragestellung ihrer Repräsentanten, auch an der Anzahl der Opfer manifestiert. Indem Robes­pierre sich zum „Gesetzgeber“ und den „Augen“ des Volkes macht, institutionalisiert er  – entgegen allen organischen Körper- und Ganzheitsmetaphern – jene Spaltung. Die Einheit wird lediglich proklamiert, in Wahrheit vollzieht sich ihr Gegenteil. Robes­pierre, der das Volk unter die eigene Herrschaft stellen möchte, radikalisiert es dagegen in der Bereitschaft zur Spaltung. Darüber hinaus offenbart sich Robes­pierres Verführungsabsicht in einem unpassenden Selbstvergleich mit Christus. Wohl wissend, was dem Messias vor der Wiederauferstehung widerfuhr, inszeniert er sich mehr als Richter denn als Erlöser  : Ja wohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. – Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat die sündigen gemacht und ich

nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die

Qual des Henkers.

Wer hat sich mehr verleugnet, Ich oder er  ? –

Und doch ist was von Narrheit in dem Gedanken. –

Was sehen wir nur immer nach dem Einen  ? Wahrlich des Menschensohn wird in

uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß,

aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden. – Mein Camille  ! – Sie gehen

Alle von mir – es ist Alles wüst und leer – ich bin allein. (DKV 1,37)

Um seinen Kopf zu retten, schwingt sich Robes­pierre schließlich von der „Zielscheibe“ zur „religiösen Richterfigur“ auf.36 Folglich tritt an die Stelle der „Wollust des Schmerzes“ Christi die „Qual des Henkers“, wodurch sich, im Kontext der Revolutionslogik betrachtet, das Christus-Opfer der Versöhnung in die Liquidation der Staatsfeinde verkehrt – und sich auf dieser Basis die Schreckensherrschaft konstituiert, die uns Dantons Tod folgerichtig vorführt. Analog zu Brecht muss in Dantons Tod das revolutionäre Opfer durch eine ‚dritte Instanz‘ legitimiert und gerechtfertigt werden, damit es nicht – einst Sacrificium  – zum bloßen politischen Mordopfer verkommt. Brechts politischer Partei entspricht bei Büchner das Volk, nicht zuletzt im Punkt der Haltung zur 36 Vgl. Maud Meyzaud, Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. Paderborn 2012, S. 206.

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Todesstrafe  : Nur solange die Rückbindung ans Volk gewährleistet ist, erfolgen die Hinrichtungen im Namen des Volkes. Im Drama bekommen die Hinrichtungen, vor allem unter Berücksichtigung der Septembermorde, die an den Hébertisten verübt werden, einen unangenehmen Beigeschmack, zumal die ‚Wiederauferstehung des Volkes‘ anhand von theologischen Bezügen auf die Passionsgeschichte und Hesekiel verhandelt wird.37 Robes­ pierre, der für die Exekutionen hauptverantwortliche Agitator, nimmt zunehmend paranoische Züge an. In der falschen Überzeugung, von Feinden umgeben zu sein, missbraucht er seine rhetorische Macht, um gemeinsam mit Saint Just einen persönlichen Rachefeldzug zu initiieren. Dabei bringt seine Einsamkeit am Ende des inneren Monologs eine Ambivalenz aus Erlösungs- und Endzeitstimmung zum Ausdruck. Dieser lässt sich als adamitische Erzählung zur Entstehung des neuen Menschengeschlechtes verstehen,38 in der Robes­pierre die Rolle des neuen, tugendhaften Adam zukommt, zugleich aber auch als Vorwegnahme der Götterdämmerung und des letzten Menschen. Da die ‚Wiederauferstehung‘ als neue Legitimationsinstanz allerdings primär über Sprache und Akte der Vergeltung erreicht wird, d. h. durch ein Volk, das sich über das lex talionis zur politischen Größe konstituiert, verschärft sich diese Zweiteilung zusehends.39 Maud Meyzaud spricht dem Stück, in dem der entscheidende Akt der Erlösung ausbleibe, auch jegliche didaktische Funktion ab. Es nehme stattdessen seinen Anfang mit dem Scheitern der Revolution an der Frage der sozialen Gleichheit, das auf die Erhebung gegen den königlichen Souverän folgen würde, und bewege sich in der Konstellation des Versagens angesichts der Gleichheit.40 Allerdings lässt sich in Büchners Drama durchaus jener Hoffnungsschimmer 37 In diesem Kontext lassen sich auch Dantons Fatalismus-Äußerungen verorten, die auf ähnliche Weise in Büchners bekanntem Brief vom Januar 1834 vorliegen (Büchner 1992, 377–378). 38 Robes­pierres kurzer Schlussmonolog am Ende der sechsten Szene im ersten Akt verweist bereits darauf  : Mit dem Gethsemanegarten wird jener Ort der Evangelien zitiert, den Jesus in der Nacht vor seiner Kreuzigung aufsucht, um zu beten und Petrus unter anderen zu bitten, mit ihm zu wachen (vgl. Mt 26,36–46). Analog zu den schlafenden Jüngern stellt in Dantons Tod auch Robes­pierre fest  : „Sie gehen Alle von mir […] – ich bin allein.“ (DKV 1,37) Die zugehörigen Worte „wüst“ und „leer“ lassen sich daher als wörtliche Anspielungen auf die Genesis verstehen (DKV 1,37). Es bleibt indes nicht die einzige Anspielung auf die Entstehung eines neuen Menschengeschlechts. Im zweiten Akt verweist Saint Just vor dem Nationalkonvent auf Moses sowie auf das biblische Motiv der Sintflut, in dem Ansinnen, die blutige Fortsetzung der Revolution als notwendigen Prozess vor dem Konvent zu legitimieren (DKV 1,55). 39 Siehe zu dieser Passage auch  : Meyzaud (2012), S. 205–214. 40 Vgl. Meyzaud (2012), S. 230.



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ausmachen, dessen Absenz Meyzaud konstatiert. Beklagt wird von Büchner zwar das Stagnieren der sozialen Revolution, mit deren Realisierung aber würde die Spaltung der Masse behoben werden, sofern sie über die Befreiung des Bürgertums hinausginge und die bestimmenden Repräsentanten im Volk selbst fände. Verwirklicht wird die Versöhnung des gespaltenen Volkes erst in der Passionsfigur des Menschenopfers, nämlich in der Hinrichtung Dantons. Im Gegensatz zur pervertierten Christusfigur Robes­pierre, der opfern lässt, anstatt sich selbst zu opfern, treten mit Danton deutlich erkennbare Christuszüge zum Vorschein, die eine einigende, versöhnliche Wirkung haben. Der literarische Danton nimmt in Büchners Drama einen durchaus ambivalenten Status ein. Zum einen ist Danton von einer auffälligen Passivität und Lethargie befallen, die ihn – bis zum Zeitpunkt seiner Verteidigungsreden vor dem Wohlfahrtsausschuss – beinahe handlungsunfähig erscheinen lassen. Zum anderen entpuppt er sich als scharfer, zynisch-pointierender Kommentator des Revolutionsgeschehens, womit er von Beginn an desillusionierende bzw. prophetische Züge trägt.41 Im Übrigen steht seine offenkundige Lethargie bereits in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem revolutionären Opfergedanken, hadert er doch mit seiner Verantwortung bezüglich der Septembermorde, für die er sich in der berühmten Fatalismusrede noch einmal rechtfertigt. Diese Morde, die maßgeblich zur nunmehr prekären Autorität des Wohlfahrtsausschusses beitragen, sind von erheblicher politischer Brisanz. Denn mit den Hébertisten werden die Verfechter der Kommune  – als direkteste Form der Volksrepräsentation – hingerichtet, wodurch der Wohlfahrtsausschuss nicht nur die Volkssouveränität weiter unterminiert, sondern sich bei weiten Teilen des Volkes auch zusehends unglaubwürdig macht. Danton erlebt in Büchners Drama eine partielle Wandlung. In seiner Einsicht, dass das Volk wie Saturn sei und die „eignen Kinder“ „frißt“ (DKV 1,31), erkennt der Revolutionär zum Ersten das zugehörige Machtpotenzial an, des Weiteren führt er sich im Dialog mit Julie die Unausweichlichkeit der eigenen Hinrichtung vor Augen. Mit der Aussage „es muß ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen Ärgernis kommt“ (DKV 1,49) zitiert er das Matthäus-Evangelium (Mt  18,7), und zwar die „Warnung vor Verführung zum 41 Er erkennt bereits zu Beginn  : „Zwischen Tür und Angel will ich euch prophezeien  : die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir Alle können uns noch die Finger dabei verbrennen.“ (DKV 1,16)

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Abfall“.42 Am Ende offenbart sich Danton als reuiger Sünder, der in der Gründung des Wohlfahrtsausschusses die institutionelle Besiegelung der Spaltung von Volkssouverän und Volksrepräsentanten erkennt  ; zugleich wird damit die Ausgliederung der Gesetzgebungsprozesse verurteilt. Darüber hinausgehend, benennt Danton auch den Umstand, dass Robes­pierre mit seinen Hinrichtungen die Spaltung nicht aufzuheben vermag  : Sie wollen die Republik im Blut ersticken. Die Gleisen der Guillotinenkarren sind die

Heerstraßen, auf welchen die Fremden in das Herz des Vaterlandes dringen sollen. Wie lange sollen die Fußstapfen der Freiheit Gräber sein  ?

Ihr wollt Brot und sie werfen euch Köpfe hin. Ihr durstet und sie machen euch das

Blut von den Stufen der Guillotine lecken. (DKV 1,75)

Zweifelsohne lässt sich Dantons Hinrichtung als die eines lasterhaften Revolutionärs deuten, der noch am Ende die Macht des Volkes verkennt, wenn er sich an die Kommission wendet, anstatt ans Volk. Schließlich erlangt sein Tod, der für das nach Blut lechzende Volk bestenfalls noch der Besänftigung dient, exemplarische Qualität für die sinnentleerte, in die eigene Vernichtung umschlagende Revolution. Dennoch lässt sich im Drama auch eine Passionsgeschichte nachzeichnen, in deren Rahmen der geläuterte Danton seinen eigenen Tod als notwendiges Opfer für den Fortgang des Revolutionsprozesses begreift. So wie mit dem Verrat, dem Abendmahl, der Gefangennahme, der Anklage und Hinrichtung die Stationen der Passion Christi aufscheinen, werden auch mehrfach – hier in der Rede Dantons implizit – Christusvergleiche angestellt  : Man arbeitet heut zu Tag Alles in Menschenfleisch. Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein Leib wird jetzt auch verbraucht.

Es ist jetzt ein Jahr, dass ich das Revolutionstribunal schuf. Ich bitte Gott und

Menschen dafür um Verzeihung, ich wollte neuen Septembermorden zuvorkommen,

ich hoffte die Unschuldigen zu retten, aber dies langsame Morden mit seinen Forma-

litäten ist gräßlicher und eben so unvermeidlich. Meine Herren ich hoffte Sie Alle diesen Ort verlassen zu machen. (DKV 1,62)

42 Wie schon im Fall der Brecht’schen Lehrstücke dargelegt, geht es neben dem Aspekt der Legitimation des Tötens für die Sache der Revolution auch um die Frage, inwieweit das Individuum bzw. das Kollektiv der Menschheit überhaupt moralisch ermächtigt ist, revolutionäre Exekutionen anzuordnen. Letzteres ist, insbesondere vor dem scheinbar unüberwindbaren, geradezu selbstzerstörerischen Revolutionszyklus, der in Dantons Tod thematisiert wird, von entscheidender Bedeutung.



Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner |

Weil Danton einst das Revolutionstribunal schuf, in der mittlerweile enttäuschten Hoffnung, die Unschuldigen zu retten, nimmt er nun – analog zu den Figuren der Brecht’schen Lehrstücke – die Schuld nicht nur allein auf sich, sondern er stellt seine Tötung auch in den Dienst der ‚höheren Sache‘. In dieser Geste verbirgt sich der sakrale Kern, der es ermöglicht, der auf Abwege geratenen Revolution ihren Sinn zurückzugeben. Indem er als einer der wesentlichen Rädelsführer von der Bühne abtritt – und zwar im Namen der Revolution – realisiert er im doppelten Sinne den politischen Umsturz nach christlicher Vorstellung. Zum einen verleiht Dantons Tod der Revolution ihre heilsgeschichtliche Dimension, zum anderen wird dem Volk als revolutionärem Subjekt jetzt der Raum eingeräumt, der eine Verwirklichung der Kollektivherrschaft erlaubt, fernab aller bis dato leeren Versprechen. Wie im Fall von Christus wandelt damit auch Dantons Botschaft auf Erden, ganz dem revolutionären Geist verpflichtet, und führt womöglich zu einem gemeinschaftsstiftenden Moment – im Zweifelsfall erst Jahre später, wenn sich die Tragweite seines Handelns offenbart  : „Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öffnet kann der Despotismus noch immer an dem Duft unsrer Leichen ersticken.“ (DKV 1,84)43 Die Botschaft zu empfangen, obliegt dem Volk, das so zum Garanten der neuen Ordnung würde, die sich in erster Linie gegen die vermeintlichen Repräsentanten richtete, für die Danton selbst das Fallbeil gespannt hat.

4.

Weder der Büchner’sche Realismus noch die Brecht’sche Moderne verzichten auf religiöse Fragestellungen, ebenso wenig wie auf eine Instanz der Transzendenz, die trotz aller Innerweltlichkeit nicht verabschiedet wird, sondern vielmehr bei beiden im Text bzw. in den Lehren des Theaters erhalten bleibt. Bei Büchner lässt sich die Bühne deshalb als Ort der sozialen Offenbarung verstehen, der weit über eine deskriptive Inszenierung des historischen Revolutionsverlaufs hinausgeht – des Scheiterns der sozialen Revolution und der Konstitution der Schreckensherrschaft. In seinem Revolutionsdrama rückt mit der ‚heiligen Guillotine‘ ein Menschenopfer in den Mittelpunkt, das im Spannungsfeld von Liquidation und religiösem Opferritual steht. Ähnlich wie später bei 43 Komplettiert wird die christliche Opferikonografie am Schluss des Dramas durch die Andeutung der Liebes-Opfertode von Lucile und Julie, die an der Seite ihrer Männer in den Tod gehen.

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Brecht wird es aus seinem abstrakten biblischen Kontext gelöst, so dass es die unabdingbare ternäre Struktur als Legitimationsinstanz vergegenwärtigt  : das heißt jenes Absolute, das Büchner im Volk verkörpert sieht – wie später Brecht im Proletariat.44 Die Bühne übernimmt dabei zwei entscheidende Funktionen, die in ihrer Bedeutung dem epischen Theater Brechts auffällig ähneln  : Zum Ersten dient diese Form der Theaterästhetik der Desillusionierung des Publikums, indem der vierte Stand gerade durch die Augenfälligkeit seiner Abwesenheit präsent ist und sich zur progressiven Kraft wandelt, während er zugleich schonungslos in seiner materiellen Verelendung und den sozialen Zwängen dargestellt wird. Zum Zweiten wird das Selbstopfer zwar als der höchste Grad menschlicher Verzweiflung sichtbar gemacht, zugleich aber auch dessen positive Verklärung, die in letzter Konsequenz die Bereitschaft zum eigenen Tod, vollzogen im Namen der ‚höheren Instanz‘, mit einschließt. Jenseits der theatralischen Inszenierung der Massen und der strukturellen Parallelen wie der Funktionalisierung von Volksliedern ist es der liturgische Charakter der Revolutionskonzepte, durch den die intertextuell-genealogische Linie gestützt wird, die Brecht selbst zwischen seinem und Büchners Theater ausmacht. So unterschiedlich ihre Zeit- wie Geschichtsmodelle sein und so offenkundig ihre entsprechenden Sozialutopien, die von der Republik bis hin zur kommunistischen Diesseitsidylle reichen, differieren mögen, so ähnlich sind sie sich in der religiösen Grundkonzeption und dem zugrunde liegenden revolutionären Prozess.

Literaturverzeichnis Arendt, Hannah  : Über die Revolution. München 1965. Brecht, Bertolt  : Band 2  : Die Mutter. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. 1967, S. 823–895. Büchner, Georg  : Band  2  : Schriften, Briefe, Dokumente. Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hg. von Henri Poschmann. Frankfurt a. M. 2006a. Büchner, Georg  : Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub [u. a.]. München 2006b. 44 Die theatralische Passion Büchners verwirklicht – in ihrer liturgischen Inszenierung der Revolution – für deren Fortgang maßgebliche Vorgänge, mit denen die Idee des erlösenden Paradieses realisiert werden soll.



Theatralische Passionen – Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner |

Emmerich, Wolfgang  : Verkappte Religionen. Eschatologischer Marxismus in den 20er Jahren und die Position Brechts. In  : Brechts Glaube. Brecht-Dialog 2002. Hg. von Therese Hörnigk und Sebastian Kleinschmidt. Berlin 2002, S. 25–43. Gründel, Johannes  : Schuld und Versöhnung. Mainz 1985. Hahn, Barbara  : „Zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte“  : Das Drama mit Hannah Arendt gelesen. In  : Büchner-Lektüren für Dieter Sevin. Hg. von Barbara Hahn. Hildesheim [u. a.] 2012, S. 11–24. Kantorowicz, Ernst  : Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990. Löwith, Karl  : Band  2  : Weltgeschichte und Heilsgeschehen, zur Kritik der Geschichtsphilosophie. Sämtliche Schriften in 9  Bänden. Hg. von Marc  B. de Launay, Bernd Lutz [u. a.]. Stuttgart 1983. Meyzaud, Maud  : Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet. Paderborn 2012. Naumann, Thomas  : Wo Du hingehst – Brecht und die Bibel. In  : Brechts Glaube. BrechtDialog 2002. Hg. von Therese Hörnigk und Sebastian Kleinschmidt. Berlin 2002, S. 159–203. Pornschlegel, Clemens  : Das Drama des Souffleurs. Zur Dekonstitution des Volks in den Texten Georg Büchners. In  : Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Hg. von Gerhard Neumann. Stuttgart [u. a.] 1997, S. 557–574. Pornschlegel, Clemens  : Hyperchristen. Brecht, Malraux, Mallarmé, Brinkmann, Deleuze. Studien zur Präsenz religiöser Motive in der literarischen Moderne. Wien [u. a.] 2011. Pornschlegel, Clemens  : Liturgische Liquidation. Zum Problem der Tötung in Brechts Lehrstücken Der Jasager und Die Maßnahme. In  : Dreigroschenheft 2 (2000), S. 25–33. Sammet, Gerald  : Sûreté, Célérité, Dignité. Die Guillotine und das Licht. In  : Georg Büchner 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Hg. von Georg-Büchner-Ausstellungsgesellschaft. Basel [u. a.] 1987, S. 227–234. Till, Dietmar  : „Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Paradies seyn.“ Die Rhetorik der Revolution im Hessischen Landboten. In  : Georg Büchner Jahrbuch  12 (2009–2012), S. 3–24. Weigel, Sigrid  : Das Theater der weißen Revolution. Körper und Verkörperung im Revolutions-Theater von Heiner Müller und Georg Büchner. In  : Die Marseillaise der Weiber. Frauen, die Französische Revolution und ihre Rezeption. Hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel. Hamburg [u. a.] 1989, S. 154–174.

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Ein Fall von Aufklärung wie Verschleierung Georg Büchners Woyzeck und Anna Seghers’ Grubetsch im Wechselspiel intertextueller Erhellung und Differenz

Seghers’ Beziehung zu Büchner ist ihren eigenen Aussagen nach intensiv und beachtlich, sah sie doch in ihrem Vorgänger eine bedeutende Figur der erst später sich entwickelnden modernen Prosa. So antwortet sie 1971 auf eine Umfrage  : „Wahrscheinlich beginnt der moderne, kraftvoll auf das Wesentliche zusammenziehende Stil mit Georg Büchner.“1 Davor hatte sie im Jahre 1965 auf dem Internationalen Schriftstellertreffen in Weimar besonders Büchners Erzählung Lenz als eine „Art Vorspiel der modernen deutschen Literatur“ für „uns Jungen nach dem ersten Weltkrieg“ bezeichnet, wobei sie Brecht und sich selber als dazugehörig empfand.2 Spezifischer als in Form dieser allgemeinen Einschätzungen zu Büchner hatte sich Seghers schon Jahrzehnte früher im Exil geäußert, bei der kritischen Besprechung der „Wozzeck“-Aufführung in Mexiko durch Bodo Uhse im Jahre 1944,3 worauf auch Dietmar Goltschnigg würdigend eingeht.4 Büchner, den sie „zu den ersten und auch heute noch wenigen deutschen Dichtern“ zählte, „die im Leben und im Werk die politische Emigration am weitgehendsten verkörpern“,5 war für sie eine Art Vorläufer der Leidenserfahrung ‚Exil‘. Seghers scheute sich auch nicht, gegen die vom sozialistischen Realismus herkommende Frage an Büchner, „warum er nicht einen starken 1 Vgl. Anna Seghers, Band 4  : Ergänzungsband, bearb. von Sigrid Bock. Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hg. von Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 4 Bde. Berlin 1979, S. 94. 2 Vgl. Anna Seghers, Band 1  : Die Tendenz in der reinen Kunst, bearb. von Sigrid Bock. Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hg. von Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 4 Bde. Berlin 1970, S. 149. 3 Siehe Anna Seghers, Band 2  : Erlebnis und Gestaltung, bearb. von Sigrid Bock. Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hg. von Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 4 Bde. Berlin 1971, S. 57–62. 4 Vgl. Dietmar Goltschnigg, Nationalsozialismus. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 332–334, hier  : S. 333–334. 5 Vgl. Seghers (1971), Bd. 2, S. 59.

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deutschen Arbeiter gezeigt hat mit aller Kühnheit und aller Einsicht in den Kampf “, einzuwerfen, dass der gebürtige Hesse aufgrund seiner politischen und privaten Erfahrungen dazu neigte, „den Zug zu vergröbern, der in der damaligen Literatur alle deutschen Dichter kennzeichnete“  : „Ob Goethes Tasso, ob Kleists Penthesilea, ob Büchners Wozzeck  – die charakteristischen Elemente sind ins Krankhafte, ins Rasende übersteigert.“6 Daneben erwog Seghers, ob an dieser ‚Übersteigerung‘ „die ‚deutsche Misere‘ schuld“ sei. Die Intensivierung des Leidens in der künstlerischen Gestaltung ist für sie letztlich der betrüblichen sozialen Realität geschuldet, weshalb sie betont, dass Büchner im „Wozzeck“ den „Unterschied zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich“, den der Dichter auch in seinen Briefen reflektiert habe, zur Verdeutlichung der „gesellschaftlichen Voraussetzungen mutig in den dramatischen Entwurf “ eingesetzt habe. Es kann nicht ausbleiben, dass Seghers dieses Soziale dem vorher genannten „Krankhafte[n]“, „Rasende[n]“ sowie der ‚Übersteigerung‘ präzisierend zur Seite stellt, indem sie betont, „daß hier ein niedriger Mann aus dem Volk der Held wurde, was ungewohnt war in der deutschen Literatur“  – also Büchners Neuheit hervorhebt.7 Ebenso wie sie sein dichterisches Mitgefühl mit den sozial Niedrigen lobte, bewunderte sie an dem Dichter, dass er analog zu Kafka „eine düstere Zeit in bewundernswertem, schnörkellosem Deutsch“ dargestellt hatte.8 ‚Moderne‘, ‚Übersteigerung‘, ‚soziale Solidarität‘ und ‚einzigartige Sprache‘ sind sicherlich ganz außergewöhnliche Kategorien in Seghers’ Wertschätzung für Büchner. Aber ein weiterer Aspekt verbindet den Dichter des Vormärz mit dieser sozialistischen Autorin des 20. Jahrhunderts, etwas spezifisch PersönlichHistorisches  : die Erfahrung des gesellschaftlichen Zwanges und des Exils. Dies rührt an beider Wesenskern. Büchner stand quer zur Gesellschaft seiner Zeit und musste sich ins Exil retten, wo er jung und unvollendet frühzeitig starb. Seghers wurde ebenfalls als politisch Unerwünschte verfolgt, neben ihrer Zugehörigkeit zum Judentum, und ins Exil gezwungen, das sie aber glücklich überstand. Seghers hat Büchner aufgrund seines frühen Tods im Exil in den Pantheon der wichtigsten deutschen Schriftsteller erhoben, dem sie auch Hölderlin, Günderode, Kleist, Lenz und Bürger zugehörig sah. Ihnen allen gemeinsam waren tragische Schicksale, ein Sterben im Wahnsinn oder durch Selbstmord. Beklagte 6 Seghers (1971), Bd. 2, S. 59. 7 Vgl. Seghers (1971), Bd. 2, S. 59. 8 Vgl. Seghers (1970), Bd. 1, S. 150.



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Seghers das Tragische dieser ‚Besten‘, so hob sie zugleich das künstlerisch Außerordentliche jener Phalanx hervor  : „Diese deutschen Dichter schrieben Hymnen auf ihr Land, an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wund rieben.“9 Das war von Seghers im politischen Exil, auf dem Internationalen Schriftstellerkongress 1935 in Paris gesprochen, mit unverkennbarem Pathos und Glauben an ein besseres Vaterland. Sich mit dem Schicksal des Exilanten Büchner zu identifizieren, war für Seghers verlockend, war sie doch selber eine Geflohene, eine Exilierte. Für sie als noch junge Autorin war das Exil gleichfalls eine nicht zu überwindende Mauer. Wie die anderen Exilierten war sie abgeschnitten von Heimat, Publikum und jeder Wirkungsmöglichkeit über die Grenzen hinweg. So sprach Seghers aus eigenem Anliegen, wenn sie Büchners Vaterlandsliebe betonte, ihn zum Repräsentanten des Vaterlandes erhob und damit gegen das Vaterlandsdenken des Faschismus anging. Als Patrioten hatten schon zu Lebzeiten einige von Büchners Weggefährten den Dichter gesehen. So hob der seit 1835 inhaftierte August Becker, der ‚rote Becker‘, vor Gericht den „Patriotismus“ seines Kameraden Büchner hervor.10 Wie die anderen Autoren war Büchner für Seghers der Garant einer Literatur, die sich gegen gesellschaftliche Rückständigkeit und Machtmissbrauch, gegen Ideologie und Inhumanität wandte. Damit folgte sie der Entwicklung, die vom Zeitalter der Aufklärung zum Zeitalter des Faschismus und seiner Kritik führte. Seghers besaß den Mut, den von den Nationalsozialisten okkupierten Vaterlandsbegriff zu reklamieren und sich hierbei auf eine Phalanx der ‚Besten‘ zu berufen, diesen „eine Art Märtyrerstatus“ zuzuschreiben.11 Dieses Vorgehen zeigt sich ebenso im Fall von Seghers Literatur, an den Figuren ihrer eigenen Werke, in Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) und Die Gefährten (1932), weshalb Siegfried Krakauer gerade das letztere Werk eine „Märtyrerchronik“ nannte.12 Seghers zählt zu jenen, die im heutigen Bewusstsein die vielen ehemals vaterländisch angesehenen und verherrlichten Literaten ins Abseits gedrängt haben. Seghers kam schon in jungen Jahren mit dem Namen Büchner und seinem Werk in Berührung. Der Sohn einer entfernten Verwandten, der sieben Jahre   9 Seghers (1970), Bd. 1, S. 65–66. 10 Vgl. Hermann Kurzke, Georg Büchner. Geschichte eines Genies. München 2013, S. 87. 11 Vgl. Christiane Zehl Romero, Band 1  : 1900–1947. Anna Seghers. Eine Biographie. 2 Bde. Berlin 2000, S. 109. 12 Siehe Siegfried Kracauer, Eine Märtyrer-Chronik von heute. In  : Frankfurter Zeitung, 13.11.1932, Literaturblatt. – Vgl. Zehl (2000), S. 263.

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älter und schon Gymnasiast war, las ihr Heine und Goethe vor, und sie meint später, aus „seinem Mund […] auch den Namen Büchner zum ersten Mal gehört zu haben“.13 Büchner gehört einer ganzen Reihe von Autoren an, darunter Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Heine, Hebbel, Keller, die Seghers sowohl im Familienkreis als auch in der Schule „kennen und zum Teil lieben lernte“.14 Die Hochachtung, die Seghers dem großen Vorläufer Büchner zuteil werden ließ, ist nicht wohlfeile Verehrung für einen politisch und sozial Gleichgesinnten, der seinem begüterten und behüteten Elternhaus ebenfalls den Rücken zu kehren hatte  ; sie ist auch Parteinahme für einen Rebellen, den das Leiden an den gesellschaftlichen Verhältnissen zum radikalen Umdenker und engagierten Sozialkritiker machte. Dabei ist die dargestellte Passion der unteren, in Armut und Mangel existierenden Schichten, also das Schicksal derer, die Woyzeck mit dem Pathos der Erniedrigten als „Wir arme Leut“15 benennt, eine Identifikationsschiene, der auch Büchners Lenz zugehört, eine Figur, die mit nicht minderem Pathos verkündet  : „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigenthümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich seyn, erst dann kann man sie verstehen […].“ (HA 1,87) Mit diesem ‚Kunstgespräch‘ im Lenz begründet Büchner poetologisch nicht nur seine antiidealistische Position, sondern er bekräftigt damit auch sein Sozialengagement. Lenz ein Geringer  ?  – die Krankheit, seine ihm eigene, nahezu geniale Verrücktheit, macht ihn nicht zu einem Geringen, sondern Lenz teilt mit den übrigen sozial Deklassierten einzig das unabwendbare Außenseitertum und auch den Zielpunkt Unglück. Woyzeck dagegen ist wahrlich ein Geringer. Auch ist er ein Kranker. Seine Krankheit wird gesteigert, sogar induziert durch die grausamen Diätvorschriften des von seinen Experimenten besessenen Doktors, der 13 Vgl. Zehl (2000), S. 33. – Bock verweist auf den „Freund der Familie, Hermann Wendel“, der sechzehn Jahre älter als Seghers war und diese in ihren jungen Jahren mit Heine, Kleist und auch Büchner bekannt machte  : Sigrid Bock, Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008, S. 70. – Von Büchner finden sich in der Nachlassbibliothek Anna Seghers’ verschiedene Ausgaben, so Dantons Tod (1917 [NB as 2818], 1920 [NB as 4310]), Wozzeck (1922 [NB as 4984]), aber auch die „Gesammelten Werke“ (1919 [NB as 319]). Siehe das Nachlass-Verzeichnis [NB as]  : http://www.anna-seghers.de/dokumente/archiv_b.pdf (letzter Zugriff 01.02.2014). 14 Vgl. Zehl (2000), S. 106. 15 Vgl. Georg Büchner, Band 1  : Dichtungen und Übersetzungen. Mit Dokumentationen zur Stoffgeschichte. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. von Werner R. Lehmann. 2 Bde. Hamburg 1967, S. 172. – Fortan wird nach dieser Ausgabe, unter Angabe von Bandnummer und Seitenzahl, mit HA zitiert.



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den gemeinen Soldaten zu Versuchszwecken missbraucht. Einer Entzugsdiät ausgesetzt, leidet Woyzeck an einer folgenreichen Beeinträchtigung seiner mentalen Gesundheit. Die Frage der Zurechnungsfähigkeit bewegte schon die Gemüter der Zeitgenossen und Gutachter im Falle des historischen Woyzeck, während neuerdings Michael Niehaus nahegelegt hat, dass die „Dramenfigur Woyzeck“ entgegen der „Gewohnheit vieler urteilsfreudiger Exegeten […] weder zurechnungsfähig noch unzurechnungsfähig“ sei.16 Selbst unter der Annahme, dass Büchners Woyzeck jenseits des Aspekts der Zurechnungsfähigkeit anzusiedeln sei, bleibt sein Leben das eines Geschundenen und geistig Gestörten. Den wiederholten Zuständen seines Verfolgungswahns stehen nur zeitweilig luzide Momente gegenüber. Woyzecks Ich ist zerlegbar in inkompatible Teile, die sich nicht zusammenfügen lassen  : es provoziert Krankes und offensichtliche Normalität, demütigende Qual und Wunsch nach Heilem, tödliche Eifersucht und selbstlose Liebe, Verrücktheit und Vernünftigkeit  – und neben panischer Angst und Halluzinationen, Ich-Verlust und vergeblicher Selbstsuche auch Sprachlähmung und vorenthaltene Menschenwürde. In seiner ihm eigenen Passion appelliert Woyzeck an das Mitleiden. Den Expressionisten offerierte sich damit eine inspirierende Identifikationsmöglichkeit  – die als solche wahrgenommen wurde in Alban Bergs Oper „Wozzeck“ (1925), die trotz der unvollkommenen Textvorlage dennoch das große, expressiv gesteigerte Meisterwerk moderner Operngestaltung darstellt. Eine beeindruckend gestische Musik ist das, die Leiden und Größe des malträtierten Menschen greifbar macht, in einer vorwiegend atonalen Eindringlichkeit und dissonanten Klangfülle. Innerhalb des umsichtigen musikalischen Aufbaus, der ein Kompendium der überlieferten Musikformen erneuernd einsetzt, wird dem tragischen Verlauf der Story entsprochen, wodurch sich beim Hörer, befördert durch die Struktur, eine Art innerer Halt einstellt. So wie dieses Verfahren unter der klanglichen Oberfläche künstlerische Tiefe schafft, wollte schon Büchner seinen Woyzeck nicht eindimensional als bloßes Opferwesen, in den Machtbereich unmenschlicher Gewalten geraten, verstanden wissen. Büchner hat im Woyzeck künstlerische Tiefe ebenfalls durch strukturelle Mehrschichtigkeit geschaffen. Auffallend ist beispielsweise, wie in der Begegnung mit dem böswillig ihn traktierenden Hauptmann der sprachverlorene Untergebene seine Sprache wiederfindet und dem selbstgefällig Daherredenden 16 Siehe Michael Niehaus, Recht und Strafe. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 191–198, hier  : S. 196–197.

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Paroli bietet. In der Tat, Woyzeck wird zum Diskursteilnehmer, der seinem phrasendreschenden, sprachschindenden Hauptmann mit klugen Repliken zusetzt. Diskurs bedeutet hier nicht einfacher Gesprächswechsel, denn bloße Konversation stellt noch keine Form der Erörterung dar. Woyzeck begegnet dem Leerlauf der Tugendbanalitäten seines Gegenübers mit passionierten Einwänden  : zum Beispiel mit der Erklärung, was es bedeutet, als „Wir arme Leut“ (HA 1,172) nicht bloß zu den Minderbemittelten, sondern rundweg zu den sozial Ausgegrenzten und Unterdrückten zu gehören. Woyzeck argumentiert unter dem Hinweis auf das soziale Elend seiner Klasse im Diesseits und überdies auf die Benachteiligung im Jenseits („Himmel“, HA 1,172). Dieser Diskursverlauf steht dem gewöhnlichen Selbstverständnis Privilegierter entgegen. Büchner hat mit Woyzeck als theoretischem Denker im Bereich der sozialen Ungerechtigkeit nicht nur künstlerisch bislang ungekannte Tiefen ausgelotet, sondern mit der Denk- und Sprachfähigkeit der Figur auch ein Pendant zum Klassendenken der Privilegierten geschaffen. Derart hat Büchner das falsche Bewusstsein und die eitle Selbstgefälligkeit der herrschenden Klasse mit einem radikalen Gegenstück zum etablierten Vernunftwesen konfrontiert. Vernunft erscheint hier als eine grundlegende soziale Einsicht, die sich in der Entwicklung des Diskurses hin zur Menschenwürde offenbart. Dem Diskurspraktikanten Woyzeck und seiner theoretischen Stoßrichtung hat Büchner auch die Pragmatik des ‚common sense‘ beiseite gestellt. Das wird in der Szene deutlich, in der Woyzeck vom menschenverachtenden Doktor in die Zange genommen wird wegen seiner wissenschaftlich angeblich umstandslos erklärbaren Gebrechen und Schwächen. Statt festzustellen, dass erst seine einseitigen Diätversuche Woyzeck dazu gebracht haben, die Kontrolle über das Harnlassen zu verlieren, hält der Doktor seinem Versuchssubjekt moralisierend vor, sich nicht zu beherrschen und auf offener Straße Wasser zu lassen. Als Woyzeck den Verlust seiner Selbstkontrolle zu reflektieren beginnt, erfasst der Doktor, dass seine Versuchsperson „philosophirt“ (HA 1,175)  ; aber er kann den Argumentationsvorgang nur diffamierend als „aberratio“ klassifizieren (HA 1,175), in medizinischer Rubrizierung verharrend, während die pragmatische Perspektive, mit der Woyzeck die Störung seiner Natur empirisch zu erfassen sucht, ihm absolut fremd bleibt. Der Doktor beharrt auf dem Prinzip der Freiheit des Subjekts, in pervertierter Anwendung der kantischen Lehre. Ihm bleibt völlig uneinsichtig, dass Woyzeck die Ausübung seines als frei gedachten Subjektseins durch den misshandelnden Menschenversuch nicht nur erschwert, sondern unmöglich gemacht



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wird. Nach Per Röcken hatte Büchner wohl keine intensive Kenntnis der kantischen Philosophie und deren Grundthesen allenfalls summarisch aus Werken zur Geschichte der Philosophie kennengelernt. Denn für eine ausgiebige Beschäftigung mit Kant „gibt es kaum Anhaltspunkte“.17 Daher liegt es nahe, dass Büchner weder den Philosophen der Aufklärung noch diese an sich in der satirisch anmutenden Konfrontation des dogmatischen Wissenschaftsfimmels des Doktors mit Woyzecks Gegenargumenten kritisieren wollte. Dagegen gelang es ihm, die Ideologisierung des idealistischen Freiheitsdenkens im Zerrbild eines dehumanisierenden, pseudophilosophischen Geschwafels bloßzustellen, womit lediglich indirekt ein Schatten auf die Positionen fiel, die Kant in seinem Aufklärungsimpetus ausgebreitet hatte. Walter Hinderer verweist sowohl auf „die idealistischen ‚Salbadereien‘“ des Gießener Dozenten Johann B. Wilbrand, den Büchner kannte, als auch, im Gefolge von Thomas Mayer, „auf die idealistische deutsche Philosophie Kants, welche die Prinzipien geistiger Freiheit und die Autonomie der Person in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellt“.18 Zudem bemerkt Hinderer, dass Büchner im ‚Kunstgespräch‘ des Lenz den „Idealismus“ als „die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur gebrandmarkt“ hatte.19 In Anbetracht von Büchners Vorbehalten gegenüber einer sogenannten „Philosophie a priori“, formuliert in seiner Abhandlung „Über Schädelnerven“ (HA 2,293), erklärt er auch  : „Solcher Idealismus und Dogmatismus der Vernunft geht nach Büchner an der ‚menschlichen Natur‘ vorbei, und 17 Vgl. Per Röcken, Philosophische Schriften. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 130–137, hier  : S. 133. 18 Vgl. Walter Hinderer, Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977, S. 205. – Neuere Kommentare zu diesem Komplex, der auf der Aussage des Doktors zum unbeherrschten Harnlassen basiert – „Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit“ – widmen sich Büchners Persiflage von Wilbrand, von dem meist zwei Auszüge aus Werken von 1815 und 1833 zitiert werden  ; Georg Büchner, Woyzeck. Studienausgabe. Hg. von Burghard Dedner. Stuttgart 1999, S. 21, 71 u. 134 [H 2,6]. Vgl. hierzu Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ariane Martin. Stuttgart 2012, S. 626 u. Georg Büchner, Woyzeck. Hg. von Heike Wirthwein. Stuttgart 2013, S. 45. Dedner erläutert und kontextualisiert ausführlicher die Wilbrand-Referenzen mit Hinweis auf „eine der Grundannahmen der idealistischen Philosophie und der zeitgenössischen Gerichtspsychiatrie“  : Georg Büchner, Band 7.2  : „Woyzeck“, Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2005, S. 474–475. Stiening allerdings hat diese „von der Forschung fälschlicherweise Büchners Gießener Dozenten Johann Bernhard Wilbrand zugeschriebene Formel“ infrage gestellt, um bei Büchner eine eigene Konzeption von Natur und Gesellschaft zu postulieren  : Gideon Stiening, Natur. In  : Borgards und Neumeyer (2009), S. 204–209, hier  : S. 208. 19 Vgl. Hinderer (1977), S. 224.

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er gibt deshalb in der Erzählung Lenz den Rat  : ‚Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten …‘ […].“20 Büchners Lenz ist vor allem in der späteren Einschätzung von Seghers der Initialpunkt moderner Prosa. Ihr eigenes frühes Erzählen, das kann summarisch festgehalten werden, weist keine offensichtlichen Büchner-Einflüsse auf, wohl aber Parallelen und Wahlverwandtschaften, vor allem im Hinblick auf die ihm von Seghers nachgesagte ‚Übersteigerung‘, aber auch hinsichtlich der sehr frei gehandhabten Übernahme von Motiven. Seghers Erstveröffentlichung, Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen. Nacherzählt von Antje Seghers (1924), ist der Autorin zufolge eine „gruselige“, „grausliche Geschichte“, die sie auch als „Märchen“ klassifizierte.21 Diese ‚Sage‘ handelt von einem Pfarrer, der Gott sein Wiedergängertum abtrotzt und mit maßlosem Eifer dabei ist, allen toten Schiffbrüchigen mit einem christlichen Begräbnis die Ehre zu erweisen. Dabei kennzeichnen Unwahrscheinliches und Überwirkliches diese Erzählung über Untote. Die Leidenschaften der Hauptfigur erinnern an das ‚Rasende‘, das nach Seghers auch Büchners Prosa charakterisiert. Dieses Moment des ‚Rasenden‘ ist in noch verstärktem Maße der nächsten Erzählung von Seghers zu eigen, die sie nach der ‚Sage‘ abfasste, aber unveröffentlicht ließ  : Die Legende von der Reue des Bischofs Jehan d’Aigremont von St.  Anne in Rouen (1924–1925). Rasant im Sinne des ‚Übersteigerten‘ ist der Wandel des fiktiven Bischofs vom gottgläubigen Wundertäter zum Zufallsmörder an einer Dirne. Durch die Begegnung mit einer weiteren Dirne, mit der schönen, jedoch unheilbar kranken Catharina, erfährt er die Grenzen seiner Heilkraft, durch ihre hingebungsvolle Liebe allerdings auch eine Wandlung zur Reue. Neben der im Expressionismus beliebten Krankheitsthematik bestehen weitere Wahlverwandtschaften mit Büchners Lenz. Der verfällt in seiner Ver-rücktheit auf den Gedanken, das tote Mädchen in Fouday nach dem Vorbild des Christus wiederzubeleben, um sich nach dem Scheitern dieses Vorhabens gar als ihr Mörder auszugeben. Erkennbar werden so seine psychischen Störungen, die im Gegensatz zu einer Luzidität voraussetzenden Diskursfähigkeit stehen, wie sie etwa im berühmten ‚Kunstgespräch‘ der Novelle aufscheint. Während Büchner seinen Lenz lapidar abschließt mit dem suspendierenden Schlusssatz  : „So lebte er hin“, erlöst Seghers den Bischof durch sei20 Hinderer (1977). 21 Anna Seghers, Band 2.1  : Erzählungen 1924–1932, bearb. von Peter Beicken. Werkausgabe. Hg. von Helen Fehervary und Bernhard Spies. 24 Bde. Berlin 2014, S. 295. – Fortan wird diese Ausgabe mit SE zitiert.



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nen Tod, was eine Steigerung in der Darstellung des Motivs der Lebensunmöglichkeit bedeutet. In ein ihr vertrauteres soziales Milieu verlegte Seghers die Krankheitsthematik in ihrer Erzählung Jans muss sterben (1925), die zu Lebzeiten ebenfalls unveröffentlicht blieb. Diese „Kindergeschichte“ (SE 324) handelt von einer tödlichen Krankheit eines Kindes, das in der eigenen Familie zum Außenseiter wird und sich der Unfähigkeit, ja zum Teil schäbigen Normalität, kleiner Leute im Tod entzieht. Bot Büchner in Lenz eine passioniert geschilderte Studie zur Tragik eines unheilbar kranken Genies, so erkundete Seghers am Beispiel einer verwirkten Kinderexistenz, wie Lebensunmöglichkeit von Anbeginn das Unterschichtendasein bestimmt. Die Verbindung von Sozialaspekt, individueller Krankheitsgeschichte und Außenseitertum in der frühen Prosa von Seghers ist vergleichbar mit dem, was sie bei Büchner als ‚Übersteigerung‘, „Krankhafte[s]“ und „Rasende[s]“ benannt hatte22 – auch wenn sie diese Begrifflichkeit erst fast zwei Jahrzehnte nach der Entstehung ihrer Geschichten anwendete, anlässlich der besagten „Wozzeck“-Aufführung in Mexiko. Die drei genannten Charakterisierungen sind eher allgemeine Konzeptrahmen und entsprechen dem Umstand, dass spezielle Einflussaspekte von Büchner auf Seghers in ihrer frühen Prosa zu fehlen scheinen. Bei Grubetsch (1926) sind die Wechselbeziehungen insofern besonders ausgeprägt, als Seghers Elemente, die vor allem aus Woyzeck stammen, wie Versatzstücke verwendet. In dieser Form der produktiven Aneignung zeigt sie sowohl beachtliche Wandlungsfähigkeit als auch Eigenständigkeit. Denn die Erzählung Grubetsch ahmt nicht das Fragment Woyzeck nach. Die Hauptfiguren selbst, Grubetsch und Woyzeck, sind grundsätzlich verschieden. Aber anderes ist durchaus vergleichbar in beiden Werken, womit sich die Annahme einer intertextuellen Wechselwirkung aufdrängt. Bei Büchner fehlt nachweislich eine Selbstdeutung des Woyzeck, den er aufgrund seines frühzeitigen Todes als unvollendeten, stufenweise fortgeschrittenen Schreibprozess hinterließ  – es sei denn, man bezieht die Stelle aus dem Brief vom 2.  September 1836 ein, die mit Büchners je eigener Ironie lapidar vermeldet  : „Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf dem Papier todtschlagen oder verheirathen zu lassen“ (HA 2,460), was sich, kryptisch genug, auf Woyzeck bzw. Leonce und Lena beziehen lässt.23 Von Bedeutung ist in diesem 22 Vgl. Seghers (1971), Bd. 2, S. 59. 23 Vgl. Hinderer (1977), S. 172. – Siehe auch Alfons Glück, Woyzeck. Ein Mensch als Objekt. In  :

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Kontext die bekannte Stelle im Brief vom 10. März 1834  : „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt  ?“ (HA 2,426) Diese von Büchner aufgeworfene Frage könnte Seghers von ihren Büchner-Ausgaben her bekannt gewesen sein. Ein Pendant dazu ist ihre oft zitierte Aussage zu Grubetsch, in der sie zuerst den „Hof “ nannte, also das soziale Umfeld, bevor sie eine Charakterisierung der Hauptfigur gab  : „‚Grubetsch‘  : Ein böser Hof, und in dem Hof ein Mann, der es versteht, die geheimen Wünsche verworfener Menschen nach Zugrundegehen zu erraten und jedem in seiner Weise zu erfüllen.“24 Während Büchner nach dem Bösen in uns, nach den Triebfedern des Negativen fragte, samt seinen sozialen Folgewirkungen, nahm Seghers neben dem gesellschaftlichen Übel auch den individuellen Unglücksbringer in den Blick. Bei Woyzeck sind unverkennbar soziale Unterdrückung, Geistesgestörtheit und individuelle Leidenschaften maßgebliche Faktoren eines tragischen Pauperdramas. Bei Grubetsch ist der Hof eine Art soziales Gefängnis, obwohl gerade die Figur des Grubetsch sommers ein Flößer in der Freiheit des FlussabwärtsFahrens und erst winters ein im Hof obdachsuchender Unheilbringer ist. Woyzeck erleidet Misshandlungen, vom Hauptmann, vom Doktor und auch vom Tambourmajor, der ihm Marie, seine Geliebte und die Mutter ihres Kindes, entreißt, worauf der von Halluzinationen geplagte sowie der Eifersucht verfallene Hahnrei zum Mord getrieben wird. Im Gegensatz dazu wird Grubetsch von Paul, einem ehemaligen Freund und nunmehrigen Neider und Feind, meuchlings erdolcht. So begegnet einem der Mord als Versatzstück unter verschiedenen, fast entgegengesetzten Umständen. Seghers’ Verfahren, Woyzeck-Motive in freier Anverwandlung kreativ einzusetzen, zeigt sich auch an ihrem weiteren motivischen Umgang mit dem Fragmentdrama, zum Beispiel anhand von Munks Schenke, die an Büchners Wirtshaus erinnert, auch wenn sehr unterschiedliche Szenen sich darin abspielen. Im Drama sind die Wirtshausszenen Höhepunkte in der Erniedrigung des Protagonisten in der Öffentlichkeit, etwa wenn Woyzeck seine ihm untreu werdende Geliebte „immer zu, immer zu“25 vorbeitanzen sieht oder wenn der Tambourmajor seine virile Dominanz ausspielt, ihn bloßstellt und gewalttätig niederringt. Beides, Betrug und Verhöhnung, verstärkt Woyzecks Mordbegehren. In GruInterpretationen. Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Durchges. Ausg. Stuttgart 2005, S. 177–215, hier  : S. 179–180. 24 Seghers (1971), Bd. 2, S. 11. – Diese „Selbstanzeige“ erschien zuerst in  : Das Tagebuch 12 (1931), H. 2, S. 72. 25 Vgl. Büchner (1999), S. 28–29.



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betsch dient Munks Schenke als Treffpunkt der Hofbewohner, die bis zum Alkoholrausch ihrem Nichtstun, ihrer Langeweile nachgehen. Sie rotten sich zusammen und leisten Beihilfe zum Meuchelmord an Grubetsch, der mit seinem eigenen Kappmesser, das er als Flößer im Stiefelschaft trägt, von Paul hinterrücks erstochen wird. Marie, eine weitere Gestalt aus diesem Figurenensemble, bietet mehrere Möglichkeiten des Vergleichs mit Marie in Woyzeck. Woyzecks Geliebte verfällt dem kraftstrotzenden Tambourmajor, der in seiner männlichen Überheblichkeit Kraft- und Sexualprotz in einem ist. Marie, die sich anfänglich zurückhält und ziert, gibt sich schließlich dem unverhohlenen Werben der Glanzfigur hin, die sie Woyzecks niedrigen Soldatenstand, sein Geschundensein und sein psychisches Unvermögen vergessen lässt. In Anlehnung an Goethes Gretchen, die von Faust umworben durch Mephisto allerlei kostbare Geschenke erhält, hat Büchner seine Marie deutlich mit der Sehnsucht nach Glanz und Schönheit versehen, wie die Szene (H4,4) mit den „Steinen“ bzw. „Ohrringlein“ zeigt.26 Ariane Martin charakterisiert Woyzecks Mordopfer deshalb als „die sexuell selbstbewusste Marie“.27 Bei Seghers’ Marie ist die Sehnsucht nach Glanz und die Bereitschaft zur Verführung noch stärker ausgeprägt. Zu einem unverkennbaren Narzissmus gesellt sich eine deutliche Lust an Verführung, wie gleich zu Beginn der Erzählung ersichtlich wird. In dem Einführungsabschnitt von Grubetsch, der den abendlichen, vom Regen erfüllten Hof in einem erzählerischen Chiaroscuro geheimnisvoll und ‚unheimlich‘28 vorstellt, werden zwei Frauenfiguren als im Fenster liegend vorgeführt  : Marie, die Frau von Martin, und Ann, seine magersüchtige, noch mädchenhafte Schwester. Neben Marie stehend, erfasst die scheue Ann „Widerwillen vor einer so glücklichen, warmen, gesunden Schulter“ (SE 11). Marie ist nicht nur eine schöne, sondern auch selbstverliebte Frau. Sie legte ihren Arm „nicht um das Mädchen, sondern um ihre runden, aus dem Hemd her vorkriechenden Brüste, wiegte sie wie zwei schöne Kinder und streichelte sie mit den Enden ihrer schwarzen Zöpfe“ (SE 11–12)  : 26 Vgl. Büchner (1999), S. 87. 27 Vgl. Ariane Martin, Georg Büchner. Stuttgart 2007, S. 207. – Auch Hauschild betont „den komplexen und dynamischen Charakter Maries, ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre schnelle Erregbarkeit, ihren Stolz und ihre Sinnlichkeit mitsamt ihren Wünschen und Ängsten“  : Jan-Christoph Hauschild, Georg Büchners Frauen. 20 Porträts aus Leben und Dichtung. München 2013, S. 213. 28 In einem Brief vom 7. Juni 1961 hat Seghers geäußert  : „‚Grubetsch‘ spielt am Fluß (Rhein  ?) in einer Umgebung, die mich wahrscheinlich als junges Ding beunruhigt hat.“ (Seghers 1979, Bd. 4, 163)

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Dann ließ sie sie auf dem Fensterbrett liegen und schaute mit glänzenden Augen in

den Hof, der unmöglich so leer und dunkel sein konnte, wie es den Anschein hatte  ;

wirklich entdeckte sie im Pflaster ein paar Lichtpünktchen, die kamen von Munks

Schenke drunten im Keller. (SE 12)

In der Darstellung von Maries Selbstliebe, die in der wiegenden Geste das Mütterliche persifliert, lässt Seghers eine sexualisierte Hasardeurin durchscheinen. Kaum hat diese in der schäbigen Hofwelt fehlplatzierte Frau den Grubetsch erkannt, sagt sie wie mit Vorwissen  : „‚jetzt wird es wieder ein Unglück geben‘“, worauf sie „lächelte“ und „von neuem“ „an“-„fing“, „ihre Brust zu wiegen“ (SE 12). Auf diese Marie trifft zu, was Woyzeck seiner Geliebten entgegenhält  : „Marie, du bist schön wie die Sünde.“29 Dagegen wirkt das leichthin Gesagte vom „Unglück“ wie ein Erweckungsruf für die noch unerfahrene Ann, die in quälender Sehnsucht fragt  : „‚Was ist das, ein Unglück  ?‘, dachte Ann. ‚Ist es wie der Hof dort unten und wie das Zimmer dort hinten  ? oder gibt es auch noch andere Unglücke, rote glühende leuchtende Unglücke  ? Ach, wenn ich so eins haben könnte  !‘“ (SE 13) In der Erzählung wird Ann allmählich Grubetsch hörig, bis sie sich von ihm löst, um unweit des Hofes als Dirne zu arbeiten. Als Verführte hat sie zwar das ‚Rote‘, ‚Glühende‘ und ‚Leuchtende‘ erfahren, aber was ihr bleibt, ist sicherlich ein persönliches Unglück, also das Gegenteil von freier Selbstentfaltung. Den verführerischen Reiz des Grubetsch bekommt auch Martin zu spüren, der es weinerlich hinnimmt, dass Marie, seine Frau, sich Grubetsch unterwirft. Barbusig hat sie in Munks Schenke ihre Zöpfe um seinen Hals geschlungen. Es ist eine Szene lasziver Erotik und großer Demütigung, die nun die Tanzszene im Woyzeck – mit ihrem „immer zu, immer zu“ –30 auf eigene Art ins ‚Übersteigerte‘ hebt. Während Martin dem Grubetsch verfallen ist, aus seinem Unglück nicht mehr herausfindet und aus der Erzählung verschwindet, kehrt Marie dem Hof und allen, besonders ihrem sie langweilenden Mann, den Rücken und entfernt sich auf Nimmerwiedersehen. Dieser Vorgang ist nicht ohne Weiteres mit der Ermordung Maries durch Woyzeck zu vergleichen, aber es bleiben zwischen Büchners und Seghers Figur der Marie mehrere Parallelen, die vor allem den Liebesanspruch der Frauen betreffen, ihre Sehnsucht nach Schönheit und Erfüllung, nach Glanz im grauen, einförmigen und erniedrigenden Alltagsleben. 29 Büchner (1999), S. 20. 30 Vgl. Büchner (1999), 28–29.



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In seiner Konzeption der Woyzeck-Figur hat Büchner auf aufklärerische Weise determinierende Faktoren enthüllt, wie Glück konstatiert  : „Ziel ist es, die Ursachen solcher Leiden, solcher mitleiderregender Zustände zu erkennen, der empörenden Wirklichkeit auf den Grund zu kommen, so daß die Wirklichkeit von Begriffen wie ‚Ausbeutung‘ und ‚Unterdrückung‘ mit Händen greifbar wird.“31 Was diesem Woyzeck ein tragisches Schicksal aufgezwungen hat und ihn zum Gegenexempel des Aufklärungsideals, zum entmündigten Wesen macht  ? Das sind die unentrinnbare Krankheit und die mentale Zerrüttung, das enthumanisierende Soziale mit seinen schindenden gesellschaftlichen Mächten und vor allem die Passion seiner Liebe, die ihn im Eifersuchtsdrama Woyzeck zum Mörder werden lässt. So führt Woyzeck den Zuschauer zum „Bewußtsein“ des Systems der „Entmenschung“.32 Ähnlich wie der bewunderte Büchner wirkt Seghers in Grubetsch transparent und erhellend. Ihr Werk ist wie eine Filmerzählung in szenische Abschnitte unterteilt, 44 an der Zahl, die mit einem filmischen Erzählgestus das Figurenensemble in Situationen und Verstrickungen vorführt, die in einer Art ‚Übersteigerung‘ die Thematiken von Enge und erwünschter Befreiung, von tristem Leben und Sehnsucht nach Veränderung, von Extremsituationen und bösartig herbeigeführtem Unheil zur Grundlage haben. Doch gibt es auch Verschleierungen, die Ursache und Wirkung, Vergehen und Katastrophe schwer nachvollziehbar machen. Anns Bruder ist ein einfacher Bauernjunge vom Lande, der in die Stadt gekommen ist, die anspruchsvolle Marie beim Tanz kennengelernt und im Handumdrehen geheiratet hat. Er geht seiner Arbeit als Dreher nach und beschenkt seine Frau mit Schmuck. Alles scheint in bester Ordnung, obwohl alle drei in dem ärmlichen Hof in nur einem Zimmer hausen. Ann wird in der Regel Zeugin des ehelichen Verkehrs, der im hinteren Teil des Zimmers stattfindet, wo das Bett durch einen Vorhang vom Rest der Räumlichkeit abgetrennt ist. In solchen Fällen steckt sie oft genug den Kopf aus dem Fenster, um in den tristen Hof zu starren. Martin fühlt sich zu Grubetsch hingezogen und lädt ihn zu sich nach Hause ein. Grubetsch geht es gleich beim ersten Besuch, beim Anblick Maries und Anns, durch den Kopf, dass niemand wissen könne, „wie es hier in ein paar Monaten aussieht“ (SE 21). Überraschend ist, dass Grubetsch zu der schönen Marie auf Distanz bleibt, während er die Nähe zu Martin mag und es auf Ann 31 Glück (2005), S. 214. 32 Vgl. Glück (2005), S. 215.

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abgesehen hat. Als Verführer und Unheilbringer sorgt Grubetsch dafür, dass jedem Mitglied aus dieser Familie sein eigenes Unglück widerfährt. Ann gegenüber ist er anfänglich nett und verständnisvoll, aber dann benutzt er sie in seinem Unterschlupf, der sich unter der Treppe zu Munks Schenke befindet, zum Zwecke sexueller Kontakte. Schließlich wirft sich die stolze Marie ihm an den Hals, als sie von Martin nur noch gelangweilt wird. Der Betrogene, der Grubetsch wie einem Erlöser anhängt, gibt sich nach ihrem Davongehen innerlich auf und verschwindet ebenfalls aus dem erzählerischen Blickfeld. Zu erahnen in dieser Figuren-Rochade ist die homoerotische Komponente, die in dem Manuskript noch deutlich ausgearbeitet war  : In einem später nicht in die Druckfassung aufgenommenen Unterkapitel wird gezeigt, wie Grubetsch mit Oli, einem abenteuerlichen Wanderer, ein Geliebter zuläuft (SE 300). Das Phänomen weiblicher Untreue, das im Dreieck aus Woyzeck, Marie und Tambourmajor bestimmend war, wird von Seghers aufgefächert und in einer Kontrafaktur zu Büchner um den homoerotischen Aspekt bereichert. Die Gemeinsamkeiten sind dennoch nicht zu übersehen  : Wenn es auch nicht wie in Woyzeck zu einem Liebes- und Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang kommt, so hat Grubetsch doch sein allzerstörerisches, unheilvolles Wesen walten lassen. Büchner hatte dasjenige, was Woyzeck antreibt und ihn an überwältigende Mächte ausliefert, unverkennbar deutlich gemacht. Die Motive des Grubetsch dagegen bleiben im Dunkeln seines widersprüchlichen Charakters. Grubetsch tritt auf als Freier, Abenteurer und Außenseiter, der gegen den zermürbenden Druck des bösen Hofes gefeit zu sein scheint, und oft genug auch wie jemand, der weder Gut noch Böse kennt. Das Manuskript, das in großen Teilen der Druckfassung nahesteht, gibt einen bemerkenswerten Einblick in die Konzeption dieser undurchsichtigen Figur. In einem weiteren Unterkapitel, das nicht in die Druckfassung aufgenommen wurde, erzählt Grubetsch von seiner Herkunft. Ein schweres Kindheitsschicksal enthüllt sich. Noch als Junge war der vaterlose Grubetsch, nachdem ihn seine Mutter in die Stadt gebracht und alleingelassen hatte, von einem Polizisten auf die Wache mitgenommen worden. Grubetsch belässt es bei einer unvollständigen Nacherzählung seines Kindheitstraumas, seine weiteren Erlebnisse verschweigt die Autorin (SE 298). Deutlich wird allerdings, dass Grubetsch das Trauma der Vereinsamung und Misshandlung in einem Maße erfahren hat, das auch Woyzeck, wenngleich auf seine Weise, zuteilwurde. Dass Grubetsch in seinem Verhalten ein Rächer ist, der Vergeltung für sein übergroßes Leid sucht, drängt sich als Vermutung auf. Grubetsch rächt sich an allen, Woyzeck bleibt auf seine untreue Geliebte fixiert.



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Dennoch entwirft Seghers mit Grubetsch keinen eindimensionalen Charakter. Als Unheilbringer übt die Figur des Grubetsch zwar vorwiegend Vergeltung für Erlittenes, aber die Autorin hat ihr auch andere, letztlich vielschichtige Züge verliehen. Während in Woyzeck die Kinderfiguren ein mitleiderregendes Pendant zum Unterdrückungs-, Eifersuchts- und Mordgeschehen bilden, zeigt sich in Grubetsch die Kinderwelt eingeengt auf einen einzelnen Jungen, das Kind des Sebald. Dieser Hofbewohner ist einmal der Verlockung erlegen, Grubetsch beim Flößen zu begleiten, was mittelbar zur Folge hatte, dass er nach Beendigung der Flößerarbeit sein schwer verdientes Geld an Dirnen verschwendete. Davon blieb ihm eine unheilbare Krankheit, derentwegen er lange hinsiechte. So wie der kranke Woyzeck von seiner Marie hintergangen wird, gibt sich Sebalds Frau dem protzenden Paul hin. Weil ihnen der Junge – der Vater ist mittlerweile verstorben – bei den amourösen Zusammenkünften im Wege ist, misshandelt er ihn. Der so Malträtierte findet in Grubetsch einen verständigen Gönner, der ihm bei einer Gelegenheit einen begehrten Knopf zum Geschenk macht. Den Knopf, ein Symbol ihrer freundschaftlichen Nähe, erhält Grubetsch später von Paul zurück. Dabei erfährt er, dass der Junge deswegen aus dem Weg geschafft wurde, weil er seiner verwitweten Mutter und ihrem Liebhaber lästig war. Während die Witwe, darin Woyzecks Marie ähnlich, sich auch Grubetsch anbietet, vom diesem aber abgewiesen wird, bekommt Paul Angst vor dem Flößer, der klar zu verstehen gegeben hat, dass er weiß, wie die beiden, die verruchte Frau und ihr ebenso widerwärtiger Liebhaber, den Jungen weggeschafft haben. Dass Sebalds Witwe darauf drängt, Grubetsch loszuwerden, und Paul ihn letztlich erdolcht, ist die Logik des Infamen. Zwei weitere Beispiele zeigen, wie Seghers Motive aus Woyzeck in kongeniale Kontrafakturen umgewandelt hat. Dem Soldatischen kommt in Woyzeck, anders als in den historischen Vorlagen  – Schmolling, Woyzeck, Dieß33 und neuerdings Schneider,34 deshalb eine eklatante Sonderrolle zu, weil der Dichter 33 Siehe Hinderer (1977), S. 186–189. 34 Ariane Martin bezieht sich auf Burghard Dedner und Eva-Maria Vering, die 2005 einen Darmstädter Mordfall als neue Quelle entdeckt haben (Büchner 2007, 192–193). Danach hatte der verschuldete Soldat Johann Philipp Schneider am 13. April 1816 seinen Gläubiger mit einem Messer im Wald ermordet. Weitere Details stimmen mit Büchners Woyzeck überein  : die blutbefleckte Kleidung, der Tanz in einem Gasthaus, das Verlassen des Gasthauses nach einem Streit, die versuchte Reinigung der blutigen Kleidung in einem Teich, die Entdeckung des Mordes durch einen Barbier und die Benachrichtigung der Polizei. Auch war der Mörder wie der fiktive Woyzeck 30 Jahre alt  ; Burghard Dedner und EvaMaria Vering, Es geschah in Darmstadt. Eine bislang unbekannte Quelle wirft ein neues Licht auf Georg Büchners Drama Woyzeck. In  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.2005, Nr. 299, S. 35.

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das gesellschaftliche Herrschaftsinstrument Militär in seine Sozialkritik aufnahm und hierdurch ein Pendant zur problematischen Rolle der Wissenschaft schuf, die durch den inhumanen Doktor vertreten wird. Büchner lenkt durch die Verbindung von Militär und Wissenschaft, die Woyzeck ruiniert, „den Blick in die Existenz des Paupers“ und verschafft dem Leser „Einblick in ein System“, das besagte „System der Entmenschung“.35 Die für ein komplexes System der Unterdrückung und Ausbeutung beispielhaften Figuren  – der Hauptmann als Vertreter eines autoritären Drillapparates und der Doktor als Beispiel eines dehumanisierenden Wissenschaftsinteresses – fehlen als zentrale Elemente von Militär und Wissenschaft in Seghers’ Grubetsch. Die Autorin hat darin fast ausnahmslos die Welt jenseits des ‚bösen Hofes‘ ausgespart, in der Isolation eines Raumes sozialer Armut sowie Ausweglosigkeit – das Verlassen des Hofes von Ann und Marie ist kaum als Möglichkeit des ‚Entkommens‘ zu werten  – die Wirkung der gesellschaftlichen Mächte mehr verschleiert denn transparent gemacht. In einer Szene ihres Manuskripts hat Seghers das Soldatische zwar berücksichtigt, allerdings als ausgeprägte Schwundstufe, deren Unterschiede im Abgleich mit dem Militärischen, wie es bei Büchner vorkommt, grundlegend sind. Als sich die Horde im Hof zusammenrottet, weil sie nach all den Jahren genug von Grubetsch’ Selbstherrlichkeit hat und deshalb beabsichtigt, ihn loszuwerden, versucht Paul, einen in der Nähe befindlichen Soldaten anzuwerben, der wohl auf erotische Abenteuer aus ist. Den unerfahrenen Soldaten zurückstoßend, sein schwächlich erscheinendes Gegenüber mit der ihm eigenen Sanftmut „zärtlich“ am Ärmel herunterstreifend, stiftet Grubetsch genug Verwirrung, um unbehelligt seiner Wege gehen zu können (SE 299). Dieses Gegenstück zur Militärikone im Woyzeck fehlt dann, was nicht verwundert, in der Druckfassung. Auf Woyzeck übertragen, hätte diese ‚verkehrte‘ Soldatenszene zur Folge, dass der gemeine Soldat seinen Hauptmann, das Rasiermesser zusammenklappend, aus der Stube auf die Straße beförderte und nach dem Regenguss hinter den Mädchen mit den weißen Strümpfen herliefe. Doch Woyzeck ist psychisch zu beeinträchtigt und physisch zu entkräftet, um die Verhältnisse einmal umzukehren. Wohl aber widersteht Woyzeck im Diskurs den moralisierenden Schwadronaden und Tautologien seines Vorgesetzten mit luzider Bibelkenntnis, indem er sich mit der Begründung verteidigt, dass vor allem den Armen und um Vergebung Bittenden göttliche Gnade zuteil werde. 35 Vgl. Glück (2005), S. 215.



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Als letzte, ‚extreme‘ Kontrafaktur sei das Beispiel des Schlenker angeführt. Bei Büchner stehen der Hauptmann und der Doktor für eine Kritik am Ständesystem, denn beide repräsentieren den bürgerlichen Stand, negativ freilich, in Gestalt eines Zerrbildes, das dem Bürgertum als gebildete, ein humanes Ansinnen vertretende Klasse Hohn spricht. Eine Figur dieser Entstellung in Grubetsch ist nun Schlenker. So wie der Hauptmann eine Karikatur eines militärischen Führers und mit seiner Halbbildung auch eine Karikatur auf das Bildungsbürgertum ist, steht Schlenker, „bloß ein gewöhnliches Männchen mit weißen Manschetten und einem kleinen grauen Spitzbart“ (SE 16), für eine ungehemmt nutznießende Bourgeoisie ein. Schlenker ist vielfacher Hausbesitzer und einer der vielen Wohlhabenden, von „Dutzenden“ bzw. „Hunderten“, die jenseits des Flusses in ihrer eigenen Welt leben, wobei ihn charakterisiert, dass er sich „glatt und lautlos wie ein Gespenst […] durch die zerrupfte tönende Welt schlängelt“ (SE 16). Gnomenhaft kommt er nicht nur in den Hof, um die Miete einzusammeln, sondern auch um einen gewissen Kitzel zu suchen  – denn die verrufene Welt des Hofes macht ihn lüstern, was Seghers in einer deutlich erotisierten Symbolik veranschaulicht   : „Er hing eine Hand in den Bart und spreizte den Daumen ab, einen gelben, zerrupften, gekrümmten Daumen, als ob er sagen wollte  : Viel habe ich nicht zu bringen, aber seht, doch etwas.“ (SE 16) Seghers bemüht das Stereotyp vom ‚lüsternen Alten‘, was bei der noch unberührten Ann zu einer hysterischen Angstreaktion führt. Schlenker ist mehr als ein ‚fieser Typ‘ – er ist der widerwärtige Repräsentant einer sozial bessergestellten Klasse. Im begüterten und behüteten Zuhause langweilt ihn seine Familie, bestehend aus Frau und Kindern, und er malträtiert den kleinen Hund, an dem er seine sexuellen Frustrationen auslässt. Angesichts der widerlichen Lüsternheit und seines perversen Familienbildes ist Schlenker dann auch eher ein Zerrbild des Spießers als eine Karikatur des Bürgers, obwohl er vom Besitz her tatsächlich den Bourgeois darstellt. Bei Büchner wird eine verzerrte Welt des Bürgerstandes demaskiert, bei Se­ ghers gibt es ein katastrophales Ende für das Ausbeutungsmonster. Aus Ekel vor seiner Macht und aus Verachtung seiner krankhaften Lüsternheit ist Schlenker für die Horde im Hof mittlerweile ein Dorn im Auge. In Schlenker paart sich mit seiner Lust eine „Angst“ (SE 53), die ihm eine Verlockung ist. Als Kapitalist, der mannigfaltige Risiken eingeht, verfällt er dem Sog dieser Angst, die ihn beflügelt und zugleich lähmt. Sein Tod im Hof wird inszeniert wie eine Stummfilmepisode. Aus dem Hinterhalt ermordet, geht Schlenker schmachvoll zugrunde  : Den Mund weit offen, aber ohne einen Schrei auszustoßen, stirbt er,

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während der Mörder als Droh- und Angstfigur im Dunkeln bleibt (SE 301). Das ist zwar keine Revolution des Proletariats, doch gelingt Seghers eine Geschichtseinsicht  : in die Notwendigkeit von (aufbegehrender) Gewalt, wo (unterdrückende) Gewalt herrscht. Schlenker ist der Inbegriff des bürgerlich Negativen, was die ausbeuterische Macht dieser Klasse betrifft. Das ist eine Fortführung der aufklärerischen Beleuchtung, die Büchners satirische Kritik an den Vertretern des bürgerlichen Standes kennzeichnet. Grubetsch ist nicht Woyzeck  – bei aller Verschiedenheit zwischen Seghers’ preisgekrönter Erzählung (SE 292) und Büchners ergreifendem Drama, die Geistesverwandtschaft, die enorme intertextuelle Affinität und die unbezweifelbare Modernität beider Werke beeindrucken. Allerdings handelt es sich um keine direkte Form der Einflussnahme. Seghers ist keine Kopistin von Büchners Inhalten und Ideen. Dass sie Büchner intensiv aufgenommen und verehrt hat, steht außer Zweifel. Dass sie eine sehr eigenständige Künstlerin war mit einer besonderen Begabung, der Wirklichkeit „einen Steckbrief “ auszustellen (SE 294), ist ebenfalls unbestritten. Dass Seghers es verstand, Bewundertes auf ihre ganz eigene Weise produktiv umzusetzen und dabei mehr dem Geist als dem Buchstaben folgte, ist im Vorangegangenen hoffentlich deutlich geworden. Büchners Erzählverfahren der Eindeutigkeit und Transparenz schafft Aufklärung über die zu verhandelnden Dinge. Die soziale Thematik, die menschliche Situation des Ausgeliefertseins an Krankheit und Wahn sind allemal präsent, womit das Mitleiden mit der vom Liebesbetrug entwurzelten, um ihr Selbst gebrachten Figur unausweichlich wird. Die „Parteinahme für die Opfer“, neben Woyzeck auch für Lenz, wird mit Büchners dringlichem Appell an das Mitgefühl unabwendbar.36 Dabei ist der Dichter unsentimental und unwiderstehlich. An dieser Stelle sei an eine briefliche Aussage erinnert, die vom 28. Juli 1835 stammt  : „Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben […].“ (HA 2,444) Unter Anwendung seiner Erfindungskraft machte Büchner vielseitigen Gebrauch von Quellen und Werken anderer. Das intertextuelle Gewebe, das seine Werke so mannigfaltig vernetzt, ist umfangreich und signifikant. Aber Büchners künstlerisches Schaffen, sein Verfahren und sein Sinn sind originär, weitreichend und überwältigend. Sein Schreiben trägt die Signatur des Genies, eines überragenden engagierten Schöpfers. Seghers hat vieles in sich aufgesogen und es sich anverwandelt. Dass Büchner ein Leitstern für sie war, ist unverkennbar – eine Inspirationsquelle, eine erhel36 Vgl. Glück (2005).



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lende Geistesmacht. Wenn Büchner in demaskierender, satirischer und letztlich humanistischer Absicht soziale Not zum Vorschein bringt, sie klarlegt und so für Aufklärung sorgt, tut es ihm Seghers gleich, wenn auch auf verschleiertere Art. Sie trägt mit rembrandtischem Chiaroscuro eine Erzählwelt vor, die geschaut und verstandesmäßig erfasst werden muss. Ihre Erzählweise ist nicht auktorial überlegen, kommentiert und doziert nicht. Sie rückt eine Handlung in den Mittelpunkt, die szenische und beinahe filmische Qualität erlangt. Die Figuren enthüllen sich in ihren Stärken und Schwächen. Manches erlangt erst Sinn durch den Einsatz erzählerischer Enthaltsamkeit, durch Verdecken und Verschweigen. Ihre Bewunderung für Büchner hat sie nicht zu einer plakativen Nachahmerin werden lassen. Eine Nähe zu Büchner ist dennoch unverkennbar. Sie ist ihrem Vorbild auf eigenen Wegen gefolgt, auf denen einer großen, selbstbewussten Kunst. Das ist der Ertrag aus der vorliegenden Einsichtnahme in das Wechselspiel aus Erhellung und Differenzierung, das sich zwischen Büchner und Seghers abzeichnet, zwischen dem revolutionären Genie und seiner nicht minder revolutionären Nachfolgerin.

Literaturverzeichnis Bock, Sigrid  : Der Weg führt nach St. Barbara. Die Verwandlung der Netty Reiling in Anna Seghers. Berlin 2008. Büchner, Georg  : Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hg. von Werner R. Lehmann. 2 Bde. Hamburg 1967. Band 1  : Dichtungen und Übersetzungen. Hamburg 1967. Band 2  : Vermischte Schriften und Briefe. Hamburg 1971. Büchner, Georg  : Woyzeck. Studienausgabe. Hg. von Burghard Dedner. Stuttgart 1999. Büchner, Georg  : Band 7.2  : „Woyzeck“, Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile, hg. von Burghard Dedner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe (Marburger Ausgabe). Hg. von dems. 10 Bde. Darmstadt 2005. Büchner, Georg  : Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Ariane Martin. Stuttgart 2012. Büchner, Georg  : Woyzeck. Hg. von Heike Wirthwein. Stuttgart 2013. Dedner, Burghard und Eva-Maria Vering  : Es geschah in Darmstadt. Eine bislang unbekannte Quelle wirft ein neues Licht auf Georg Büchners Drama Woyzeck. In  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.12.2005, Nr. 299, S. 35. Glück, Alfons  : Woyzeck. Ein Mensch als Objekt. In  : Interpretationen. Georg Büchner. Dantons Tod, Lenz, Leonce und Lena, Woyzeck. Durchges. Ausg. Stuttgart 2005, S. 177–215. Goltschnigg, Dietmar  : Nationalsozialismus. In  : Büchner-Handbuch. Leben  – Werk  –

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Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 332–334. Hauschild, Jan-Christoph  : Georg Büchners Frauen. 20 Porträts aus Leben und Dichtung. München 2013. Hinderer, Walter  : Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977. Kracauer, Siegfried  : Eine Märtyrer-Chronik von heute. In  : Frankfurter Zeitung, 13.11. 1932, Literaturblatt. Kurzke, Hermann  : Georg Büchner. Geschichte eines Genies. München 2013. Martin, Ariane  : Georg Büchner. Stuttgart 2007. Niehaus, Michael  : Recht und Strafe. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 191–198. Röcken, Per  : Philosophische Schriften. In  : Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 130– 137. Seghers, Anna  : Über Kunstwerk und Wirklichkeit. Hg. von Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 4 Bde. Berlin 1970–1979. Band 1  : Die Tendenz in der reinen Kunst, bearb. von Sigrid Bock. Berlin 1970. Band 2  : Erlebnis und Gestaltung, bearb. von Sigrid Bock. Berlin 1971. Band 4  : Ergänzungsband, bearb. von Sigrid Bock. Berlin 1979. Seghers, Anna  : Band 2.1  : Erzählungen 1924–1932, bearb. von Peter Beicken. Werkausgabe. Hg. von Helen Fehervary und Bernhard Spies. 24 Bde. Berlin 2014. Stiening, Gideon  : Natur. In  : Büchner-Handbuch. Leben  – Werk  – Wirkung. Hg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart [u. a.] 2009, S. 204–209. Zehl Romero, Christiane  : Band 1  : 1900–1947. Anna Seghers. Eine Biographie. 2 Bde. Berlin 2000.

Autorenverzeichnis Kurt Anglet Studium der Theologie, Philosophie und Germanistik in Frankfurt am Main und Münster  ; Promotion in Fundamentaltheologie 1988  ; Habilitation in Dogmatik 2003 in Breslau  ; Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Alois Kardinal Grillmeier an „Jesus der Christus“ („Christ in Christian Tradition“)  ; Priesterweihe 2002 in Berlin  ; Professor in Berlin am Seminar Redemptoris Mater, einer Affiliation der römischen Gregoriana. Arbeitsschwerpunkt  : theologische Deutung der Moderne. Publikationen u. a. zu Nietzsche, Benjamin, Kafka und Klee. Peter Beicken Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn und München (Magister Artium 1968)  ; Ph.D. an der Stanford University 1971  ; Lehrtätigkeit an der Princeton University, Gastprofessuren an der University of North Carolina, Georgetown University, Bergischen Universität Wuppertal, Universität Gießen  ; ist Professor of German Studies and Film an der University of Maryland in College Park. Buchveröffentlichungen zu Kafka und Bachmann, literarische Veröffentlichun­ gen  : Kindheit in W. Gedichte und Prosa (1983, 2009)  ; dreimaliger Literaturpreisträger  ; Herausgebertätigkeit („Trans-Lit“). Theo Elm Studium der Germanistik und Anglistik in Erlangen und Dublin  ; em. Dr. phil. Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg. Buchpublikationen insbesondere zur Literatur und Kultur der Goethezeit und des 20. Jahrhunderts. Patrick Fortmann Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte in Münster, Salt Lake City und Cambridge/Mass.  ; Promotion (Ph.D.) an der Harvard University  ; Assistant Professor of Germanic Studies an der University of Illinois in Chicago. Arbeitsschwerpunkte  : Goethezeit, Vormärz, Moderne, Theatralität, Souveränität, Literatur und Lebenswissenschaften. Bernhard Greiner em. Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Tübingen  ; Promotion und Habilitation an der Universität

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Freiburg  ; seit 1989 an der Universität Tübingen  ; 2000–2002 beurlaubt zur Wahrnehmung des Walter-Benjamin-Lehrstuhls für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem  ; Gastprofessuren in den USA, in Israel, Australien und China. Zahlreiche Veröffentlichungen mit den Schwerpunkten Drama und Theater, Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie des 19. Jahrhunderts, mehrere Aufsätze zu Büchner, Grabbe und Grillparzer und den deutsch-jüdischen Literaturbeziehungen. Bernd Neumann Studium der Germanistik, Psychologie und Geschichte in Hamburg, Frankfurt am Main und Berlin  ; em. Professor für Deutsche Literatur an der Universität Trondheim, Norwegen (NTNU). Buchveröffentlichungen zu Keller, Johnson und Kafka  ; darüber hinaus Herausgaben und Aufsätze vor allem zur Gegenwartsliteratur  ; Radiosendungen und Zeitungsartikel. Thorben Päthe ist Doktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün­ ­chen und assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz. Simonetta Sanna lehrt als Ordentlicher Professor für Deutsche Literatur an der Universität Sassari/Sardinien  ; war u. a. Präsidentin der Gesellschaft der italienischen Hochschulgermanisten. Arbeitsschwerpunkte sind die Wahrnehmung des Wahnsinns und die Arbeit mit Bildern. Neben zahlreichen Aufsätzen zur Aufklärung, Romantik und ästhetischen Moderne sowie zur zeitgenössischen Literatur hat sie Monografien zu Lessings und Büchners Theater, zum Erzählwerk von Döblin und Kafka veröffentlicht. Gernot Wimmer lehrt Neuere deutsche Literatur und deutsche Sprache an der St.-Kliment-Ohridski-Universität von Sofia. Der Promotion im Jahr 2004 zu Kafkas Romanfragment Der Verschollene folgte die Arbeit an einer dreibändigen Gesamtdarstellung zu seinem Werk, die bei Lang erschien. Arbeitsschwerpunkte  : Neuere deutsche Literatur und Weltliteratur.