Georg Kaiser: Die Perspektiven seines Werkes 9783111647500, 9783484100640


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German Pages 184 [192] Year 1960

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Table of contents :
Vorbemerkung
I. Das Problem
II. Das Werk
III. Tradition und Geschichte
Anmerkungen
Das dichterische und essayistische Werk Georg Kaisers. Eine historisch-kritische Bibliographie
Vorbemerkung
Anmerkungen
Die Bibliographie
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Georg Kaiser: Die Perspektiven seines Werkes
 9783111647500, 9783484100640

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W O L F G A N G PAULSEN

GEORG KAISER Die Perspektiven seines Werkes Mit einem

Anhang:

Das dichterische und essayistische Werk Georg Kaisers Eine historisch^kritische Bibliographie

MAX

NIEMEYER VERLAG

1960

/ TÜBINGEN

Alle Rechte vorbehalten Copyright by Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1960 Printed in Germany Satz und Druck: Graphische Betriebe W. Büxenstein GmbH., Berlin

INHALTSVERZEICHNIS Vorbemerkung I. Das Problem II. Das Werk III. Tradition und Geschichte Anmerkungen

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Das dichterische und essayistische Werk Georg Kaisers. Eine historisch-kritische Bibliographie Vorbemerkung

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Anmerkungen

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Die Bibliographie

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VORBEMERKUNG Am 4. Juni 1945 ist der vielleicht größte deutsche Dramatiker der nachnaturalistischen Generation im Exil in der Schweiz gestorben. Wie so viele andere hat er das Chaos der Hitlerzeit nicht überlebt, und das in doppelter Hinsicht nicht, denn nicht nur ihm selbst, auch seinem Werk ist die Rückkehr nicht wirklich vergönnt gewesen. Seine Schöpfungen scheinen von dem großen Vakuum eingesaugt worden zu sein, jedenfalls haben sie ihren alten Glanz verloren, ihre Politur ist zerstört. Die Chemie der Geschichte hat wieder einmal auf eine Weise gewirkt, die zu denken gibt. Die Bemühungen der letzten Jahre um das Drama Georg Kaisers, an denen es nicht gefehlt hat, haben keinen Zweifel darüber gelassen, daß mit den kritischen Methoden von einst heute nicht mehr viel auszurichten ist. Wir müssen uns frei machen von Vorstellungen und angeblichen Voraussetzungen, die vor dreißig Jahren galten, seitdem aber ein Teil der Geschichte geworden sind, um die wir uns jetzt zu bemühen begonnen haben. Kaiser ist für uns nicht mehr der Dichter, der er 1933 noch war, als die damaligen Machthaber ihn zum Schweigen verurteilten, um sein Werk auszulöschen. Nicht nur die Zeit, er selbst hat sich in den folgenden Jahren, die ihm noch zu leben vergönnt waren, gewandelt. Er ist als Dichter Wege gegangen, die zwar durch das von ihm bis dahin Geleistete bereits vorbereitet waren, von denen wir bis heute jedoch noch sehr wenig wissen. So konnte es kommen, daß man sich nach Ende des Krieges zunächst an den Georg Kaiser hielt, den man kannte oder zu kennen glaubte, während die meisten seiner Spätwerke audi jetzt — 1959 — noch nicht im Druck vorliegen. Zum Teil sind an diesem bedauerlichen Tatbestand natürlich 1

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die verworrenen Verhältnisse schuld, in denen Kaiser gestorben ist. Er ist bis zuletzt kein guter Verwalter seiner Besitzungen gewesen. Aber ihn trifft doch nicht die Schuld allein. Wie konnte eine Zeit, die mit dem ganzen Komplex des Expressionismus innerlich noch nicht fertig geworden war, ja die ihn für sich selbst erst wiederzuentdedsen hatte, die Distanz finden, die nötig war, um Kaisers Werk in den historischen Perspektiven richtig zu erkennen? Nicht alles, was Soergel seinerzeit zwischen die Deckel seines umfänglichen Buches gesteckt hat, hat wirklich im Banne des Expressionismus gestanden. Man ist bereits daran gegangen, einzelne Gestalten — Kafka etwa oder Barlach — aus den ihnen bisher vielfach zum Schicksal gewordenen Verstrickungen zu lösen, und es werden auch in Zukunft nodi verschiedene Korrekturen ähnlicher Art notwendig werden. Eine solche Korrektur hat sich auch die nachfolgende Darstellung Georg Kaisers zum Ziel gesetzt. Aber wenn wir audi meinen, daß sich das geistige Bild des Dichters erst jetzt in den gültigen Proportionen abzuzeidinen beginnt, so muß doch von Anfang an auf den nur tentativen Charakter unserer Bemühungen hingewiesen werden. Solange das Werk selbst nicht gesichtet ist — von einer definitiven Ausgabe gar nicht zu reden! — kann die Bearbeitung selbst der drängendsten Einzelfragen gar nicht in Angriff genommen werden. Nur einen, freilich prinzipiellen Gewinn können wir wirklich verzeichnen: die Darstellung der Genese des Kaiserschen Werkes, die wir versucht haben, stützt sich auf sehr sorgfältige und langwierige bibliographische Vorarbeiten, deren Ergebnisse im Anhang vorgelegt werden, und auf die der Leser laufend verwiesen sei. Unsere entwicklungsgesdiiditliche Diskussion ist ja nichts anderes im Grunde als eine chronologisch vorgehende Interpretation dieser bibliographischen Befunde an Hand der verschiedenen Texte. Daß auch hier nur erste Schritte unternommen wurden, ist klar. So mußte zum Beispiel die wichtige Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Drucke eines Werkes zueinander — und diese Drucke stellen ja fast immer irgendeine Art der Bearbeitung dar — unberücksichtigt bleiben; wir mußten uns darauf beschränken, auf diese Probleme als solche zu verweisen, in der Hoffnung,

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anderen damit auf sinnvolle Weise vorgearbeitet zu haben. Betrachtet wurde ferner ausschließlich das dramatische Werk des Dichters, und zwar natürlidi nur, soweit es mir wirklich zugänglich war. Besonders die Auswertung des Jugendwerkes hat unter dieser (unfreiwilligen) Beschränkung gelitten, denn ich habe midi hier fast nur auf das Urteil anderer verlassen können, die Einsicht in die Manuskripte nehmen konnten, bevor sie im Berliner Kaiser-Archiv deponiert worden sind. Mir will aber scheinen, als ob die entwicklungsgeschichtliche Methode, die sidi mir aufgedrängt hat, tatsächlich auch auf die Arbeiten des jungen Dichters, seine ersten Versuche, einige nicht unwichtige Ausblicke erlaubt habe. Eine etwas eifrigere und interessiertere Unterstützung durch das Kaiser-Archiv, das heute im Besitz fast aller Manuskripte Kaisers ist, hätte meine Arbeit freilich nicht nur erleichtert, sondern mich auch in die Lage versetzt, meine Ergebnisse, besonders was diese frühe Zeit betrifft, ganz anders zu sichern. Diese Bemerkungen seien gemacht, damit den verantwortlichen Leitern die Einsicht aufgehe, daß ein Archiv, als Sammelstelle, nicht autonom ist, seinen Sinn nicht in sich selbst hat, sondern in dem Dienst, den es der Forschung zu leisten fähig ist. Von den späten Dichtungen Kaisers war mir, soweit ich sehe, alles zugänglich, bis auf das fragmentarisch gebliebene und von fremder Hand vollendete „Gordische Ei", das in dieser Form letzthin audi über die Bühnen gegangen ist. Daß mir, der ich sdiließlich Kaiser und sein Werk aus weiter Ferne zu betrachten hatte (was neben offenbaren Nachteilen audi einige Vorteile mit sich brachte), eine so umfassende Einsicht in dieses Spätwerk möglich wurde, verdanke ich der Firma Felix Bloch Erben in Berlin-Charlottenburg, die mir die Stücke auf selbstlose Weise zur Verfügung gestellt hat. University of Connecticut; Storrs, Conn. 19. Mai 1959.



I DAS PROBLEM Über Sinn und Bedeutung der Dichtung Georg Kaisers scheint sich die Kritik auf eine etwas beklemmende Weise einig zu sein. Einigkeit ist, an richtiger Stelle gepflegt, gewiß eine löbliche Eigenschaft; als Reaktion aber auf Geistiges und Schöpferisches wirkt sie wie Friedhofsstille. Kritik braucht das Element der Spannung zu ihrem Objekt, und wo dieses fehlt, wird sie zu einer mechanischen und letzten Endes verantwortungslosen Ausübung. Das war weitgehend der Fall bei den bisherigen, freilich auf mannigfaltige Weise behinderten Bemühungen um das Werk des vielleicht größten deutschen Dramatikers unseres Jahrhunderts. Ihre Resultate sind daher sehr bescheiden und ließen sich, wenn man von oft vortrefflichen Einzelbeobachtungen absieht, in wenigen Sätzen zusammenfassen. Die Grundvorstellung, von der noch jede Darstellung des Kaisersdien Werkes ausgegangen ist, wäre dabei die, daß der Dichter, nach vielen aber bedauerlicherweise unzulänglichen Versuchen mit den Mitteln der dramatischen Tradition, sich schließlich und wie ein Wunder im Expressionismus selbst gefunden und nun in schneller Abfolge jene Reihe von „Meisterdramen" geschaffen habe, in denen sein eigentlicher Beitrag zur Geschichte des deutschen Dramas zu sehen sei. Die Schwierigkeiten aber, denen man dabei begegnet ist, waren so groß, daß noch niemand sie zu überwinden vermocht hat. Denn wenn man auf der einen Seite „das Neue" pries, das Einmalige der im expressionistischen Raum geleisteten dramatischen Form, so konnte man sich doch auf der anderen der Einsicht nicht entziehen, daß gerade jene Probleme, die hier auf so eklatante Weise gelöst werden sollten, nicht gelöst worden sind. Schon Klabund, als ein im Expressionismus noch völlig befangener Kritiker, hat dieses Gefühl des Unbehagens einmal

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sehr treffend formuliert, als er urteilte, Kaiser habe „allerlei indirekte Antworten auf direkte Fragen" 1 gegeben. Die Fragen Kaisers, die Klabund meinte, und deren ungenügende Beantwortung er beklagte, beziehen sich fast ausnahmslos auf die durch Wissenschaft und Technik umgeformten Grundlagen der modernen Gesellschaft und insbesondere auf das Verhältnis des einzelnen zu ihr — eine Problematik also, die mindestens seit Grillparzer das Denken der dramatischen Dichter, wie der Dichter überhaupt, in zunehmendem Maße beherrscht hat. Aber während bis zum Expressionismus die Lösungen immer wieder auf Grund sachlicher Gegebenheiten und innerhalb von konventionellen Vorstellungen gesucht worden waren, wurden nun alle Wertsetzungen (im Gefolge Nietzsches) radikal verkehrt. Denn wenn der dramatische Prozeß bisher darin bestanden hatte, daß der einzelne lernen mußte, sich dem höheren Ganzen sinnvoll einzufügen, wurde nun der Mensch in seiner reinsten Form — „der neue Mensch" — als das Gegebene gesetzt, dem die Gesellschaft ihrerseits sich anzupassen hätte. An sich wäre damit eine neue und durchaus fruchtbare Situation für die Bewältigung der drängenden Fragen geschaffen worden, wenn man sich nur ernsthaft um ihre Verankerung in der Wirklichkeit bemüht hätte. Das aber geschah nicht, weil es gar nicht geschehen konnte, weil es dem Wesen dieser Wirklichkeit zuwiderlief. So wußte man denn auch, daß das im Expressionismus gestaltete Geschehen Illusion war und Illusion bleiben mußte. Ein solcher Illusionismus war freilich notwendig gewesen, als Protest nicht nur gegen die wesensfremde Wirklichkeit, die Welt der Väter, sondern auch gegen die Fesselung durch die literarische Tradition, und wir gehen deswegen wohl kaum fehl, wenn wir ihn als eine Erneuerung des Idealismus deuten, obwohl diese wohl mehr durch eine Inversion des Alten als in freier schöpferischer Tat, wie man gemeint hat, zustande gekommen ist. Die Merkmale der Abstoßbewegung blieben auch in den leidenschaftlichsten Aufschwüngen noch unverkennbar. Trotzdem aber hat sich hier ein neues Weltgefühl Bahn gebrochen, dem nichts wichtiger war als — um mit einem Titel Sternheims zu reden — „tabula rasa" zu machen, und es wäre kulturell audi dann noch von der größten Bedeutung

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gewesen, wenn es nie vermocht hätte, sich in gültigen Formen dichterisch niederzuschlagen. Wir müssen uns ja hüten, geistige und seelische Vorgänge zu sehr nach dem Wert ihrer gestalteten Äußerungen zu beurteilen: auch der deutsche Naturalismus war schon in Ansätzen stecken geblieben, die ihre wahren Energien erst in der langsamen Kettenreaktion gezeigt haben, in der sie später schöpferisch fruchtbar geworden sind. Wir wissen heute, daß das neue Lebensgefühl der expressionistischen Jugend nur in der Lyrik einen adaequaten Ausdruck gefunden hat 2 ; in allen anderen Gattungen ist man über das Stadium des Experimentierens kaum hinausgekommen. Das große Denkmal, daß diese Jugend sich gesetzt hat, ein Denkmal von sicher bleibendem historischem Wert, ist die Anthologie von Kurt Pinthus „Menschheitsdämmerung". In ihr klingt das Grundthema schon im Titel an: Menschheit, im Sinne von Mensch-sein. Und wenn wir uns vielleicht wundern möchten, warum ein von Anfang an dem Drama verfallener Dichter wie Georg Kaiser so weit in den Bereich des Lyrischen verlockt werden konnte, dann müssen wir nur bedenken, wie stark auch auf ihn — und gerade auf ihn — die rhapsodisch verkündete Verheißung von der Mensdiheitsdämmerung gewirkt hat. „Wo ist der Mensch?" ruft er, fast in freien Rhythmen, „Wann tritt er auf — und ruft sich mit Namen: — Mensch? Wann begreift er sidi — und schüttelt aus dem Geäst sein Erkennen? Wann besteht er den Fluch — und leistet die Schöpfung, die er verdarb: — den Menschen?!"3 Der Mensch bricht auf, auch bei Kaiser. Er wird von der allgemeinen Bewegung fortgerissen und löst sich in scheinbar freier Entscheidung von der Materie, die ihn bisher gefangen hielt. Himmelfahrten finden statt, von deren Möglichkeiten die kleine Hannele und ihr Dichter zwanzig Jahre vorher noch keine Vorstellung gehabt hatten. Vergleichen wir aber die sich so leidenschaftlich über alle Widerstände hinwegsetzenden MenschheitsProjektionen des expressionistischen Kaiser mit dem, was ihm, als jungem Dichter, in früheren Jahren vorgeschwebt hatte, dann begreifen wir diese eruptive Befreiung der dramatischen Form und ihrer Gegenstände als eine Selbstbefreiung; eine Selbst-

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befreiung freilich, die am Ende ihren illusionären Charakter nicht verbergen konnte. Ein ungeheurer und — geben wir es nur zu: verdächtiger — Aufwand ist jeweils nötig gewesen, um den Menschen sich über die Materie erheben zu lassen. Denn auch der irrationale Mensch braucht, wenn er als Mensch sichtbar werden soll, eine Abstoßfläche, zum mindesten auf der Bühne. Der Himmel, den er sucht, wölbt sich immer noch über der Erde. Wie sehr die Gravitationskraft dieser Erde den Aufschwung des Menschen behindert — ja, ver-hindert — hat Kaiser in seinen expressionistischen Dichtungen fast dokumentarisch belegt. Beschränken wir uns auf ein einziges, freilich entscheidendes Beispiel, um anzudeuten, wie undurchsichtig in diesen expressionistischen Versuchen Kaisers die Fäden verschränkt sind, welche unerträglichen Spannungen hinter ihrer scheinbar so kalten Oberfläche gespielt haben müssen. Der Milliardär in der „Koralle" an dem schon so viel herumgedeutelt worden ist, kann von seiner Jugend nicht loskommen. Bis ins reife Alter hinein hat sie jeden seiner Schritte, jeden seiner Gedanken beherrscht und bestimmt. Eine solche dichterische Konstellation ist — das wissen wir heute — psychologisch bedingt, gleichgültig auf welchen speziellen Voraussetzungen in der Lebensgeschichte des Dichters sie beruht. Prinzipiell unterscheidet sich daher das, was Kaiser in der „Koralle" zu gestalten versucht hat, sehr wenig von den entsprechenden Äußerungen anderer Dichter, etwa Rilkes. Und doch: wie weltenweit entfernt ist die „Koralle" von den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", und zwar nicht nur was Form und Diktion betrifft. Ein guter Teil dieses Unterschiedes besteht darin, daß Rilke in einer Art dichterischer Selbstanalyse sein Unterbewußtes hervorgezogen hat, während Kaiser sich sichtlich bemühte, alles Private hinter einer blendenden dramatischen Konstruktion wie hinter einer Fassade zu verbergen. Was sein Milliardär als Kind erlebt hat, ist das Entsetzen schlechthin. Alle Anstalten, die er trifft oder bereits getroffen hat, gelten der Flucht vor diesem Ur-Entsetzen, wobei wir uns allerdings sofort daran erinnern müssen, daß nicht nur der Milliardär, sondern mit ihm eine lange Kette Kaiserscher Helden auf der Flucht ist. Schon deswegen wäre es wichtig zu wissen, was sich im einzelnen

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hinter dieser beängstigenden Fluchtlinie, besonders in der „Koralle", verbirgt. Daß der Milliardär seinen so unpersönlichen Namen gleichsam seiner Fluchtrichtung verdankt, legt die Vermutung nahe, daß er mit Hilfe seines maßlosen, um nicht zu sagen krampfhaften Erwerbs materieller Güter eine Angst vor rein materieller Not, vor Hunger also und Elend, von sich abzuschütteln sucht. Dem aber ist nicht so. Die Worte, mit denen der Milliardär dem „Herrn in Grau" seinen Lebensweg schildert, lassen keinen Zweifel darüber, daß es hier in Wirklichkeit nicht um eine äußere, sondern um eine innere Not geht, die, ganz allgemein ausgedrückt, darin besteht, daß dem Kind früh unter dem Druck von ihm noch nicht verstandener Verhältnisse wichtige menschliche Verbindungen zerrissen sind. Auch der Vater schon war geflohen: „An einem Montag — am Lohntage — kam er nicht nach H a u s e . . . Uns hätte er ja nicht mehr ernähren können. An diesem Abend nahm sich meine Mutter das Leben. Ich hörte irgendwo im Hause einen Schrei — ich lief nicht hin — ich wußte alles — ich war acht Jahre alt. In dieser Minute pflanzte sich mir das Entsetzen ein." Man erkennt noch die typischen Handlungselemente naturalistischer Belletristik, von Kaiser aber in brutaler Unpersönlichkeit zu bloßen Chiffren verkürzt, die nichts mehr mit sozialem Protest zu tun haben, sondern für etwas ganz anderes stehen: die Not des Kindes, seine existentielle Verlassenheit. Aber es ist, als ob der Milliardär, der doch dieses Kind selbst einmal gewesen ist, den Sinn des Vorganges selbst gar nicht begriffen habe oder vielleicht nicht begreifen wolle, denn er verbringt sein Leben auf schaurige Weise damit, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. Er substituiert für die menschliche Not eine ökonomische, um sie mit entsprechenden ökonomischen Mitteln auslöschen zu können, wobei er im Menschlichen wiederum völlig versagt, was ihm durch die Handlungsweise nicht nur seines Sohnes, sondern auch seiner Tochter gründlich klar gemacht wird. Ein geistiger Kurzschluß ohne Frage, aber eben ein nicht nur für den Helden, sondern audi für seinen Dichter psychologisch höchst bedeutsamer. Wir wollen uns davor hüten, mit ungeübten Händen tiefer in

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diese seelischen Zusammenhänge einzudringen: wir ahnen die besonderen Nöte eines solchen Menschen und dürfen die Dinge damit auf sich beruhen lassen. Auf der rein dichterischen Ebene dominieren sie das Geschehen überhaupt weniger, als man erwarten möchte, denn sie werden verdeckt — und damit doch auch wieder unterstrichen — durch scheinbar ganz andersartige Stoffmassen: einmal durch das rätselhaft, aber doch letzten Endes unbefriedigend ausgesponnene Doppelgängermotiv4, auf das Kaiser audi später noch immer wieder zurückgegriffen hat, dann durch die Wiederholung und Fortsetzung der inneren Fluchtlinie des Helden in der äußeren Form des Dramas. So wie sich der Milliardär nämlich in den Besitz geflüchtet hat und nun diesen seinen Besitz wie nur irgend ein Kapitalist verwalten muß, hat auch Kaiser selbst seine Problematik verkehrt und die primäre durch die sekundäre überwuchern lassen. Der Vorgang muß mitten in der Arbeit an der „Koralle" eingesetzt haben, denn er verleiht dem Stück seine eigentümliche Gespaltenheit. Mit seinem Milliardär hat er sich in den Bereich sozialer und politischer Zeitproblematik abdrängen lassen und durch die Ausweitung der „Koralle" zur Trilogie (mit „Gas I" und „Gas II") sein ursprüngliches Anliegen unter einer Masse assimilierten Stoffes begraben. Was bedeutet das alles nun für den Dichter Georg Kaiser und sein Werk? Eines ist sicher deutlich geworden: es geht hier um mehr als adoleszente Selbstprojektionen. Kaiser lag nichts an der Herstellung eines analytischen Literaturpräparats, nichts an einem feierlichen Abstieg in die eigene Seele. Niemand wird in der Jugendgeschichte des Milliardärs nach autobiographischen Zügen seines Dichters suchen wollen. Kaisers Jugend hat anders ausgesehen. Nichts ist hier leichthin identifizierbar, und was uns nach all unseren Überlegungen in den Händen bleibt, ist nicht viel mehr als das Gefühl für die ganz offenbare Ambivalenz des noch jungen Dichters seinen frühen Lebenserfahrungen und damit überhaupt seiner Umwelt gegenüber: dieses Zurückverlangen nach dem „temps perdu", dieses Heimweh, bei gleichzeitig heftiger Aversion gegen das Gesuchte. Der Milliardär, als echter Kaiser-Held, haßt, was er liebt, greift nach dem, was er verwirft,

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und bewegt sich geistig wie emotionell augenscheinlich in Kreisen, aber doch in Kreisen um einen festen Punkt, und der liegt in dem Komplex „Jugend", von dem sich der Milliardär ebenso wenig zu distanzieren vermag wie sein Dichter. Es war für beide naheliegend und fast selbstverständlich, daß sie glauben mußten, sie hätten das Fehlende oder Nichtgeglückte noch „zu leisten" — um in Rilkes Vokabular zu reden. In der „Koralle" werden daher tatsächlich sehr verschiedene Möglichkeiten solcher ErsatzLeistungen erwogen und erprobt. Man könnte den Lebensweg des Helden geradezu als die Geschichte seiner Versuche deuten, die innere Gespaltenheit seines Seins in der nachträglichen Korrektur des Urerlebnisses aufzuheben, wobei wir freilich bedenken müssen, daß es solche Korrekturen gar nicht gibt. Die Vorgänge auf der Bühne summieren sich deswegen zu dem Bild eines Mannes, der seinen Kopf aus einer Schlinge zerren will und sich dabei erdrosselt. Der Vorgang ist gewiß traurig, aber kaum tragisch, denn das Naturgesetz nimmt ungehindert seinen Lauf. Der Tod des Milliardärs bereinigt einen nur in der Pflege des Psychiaters noch hoffnungsvollen Fall, denn auch die Korallensymbolik, an die er sich im Tode klammert, hat, wie immer wir sie interpretieren wollen, ihre mysteriöse Bedeutung lediglich für ihn selbst. Wir müssen noch einen Augenblick länger bei diesem für Kaiser so bedeutsamen Stück verweilen, denn dessen Problematik berührt ja noch eine ganz andere, wenn auch mit dem Gesagten eng zusammengehörende Seite der Kaiserschen Dichtung, und zwar so sehr, daß man versucht kein könnte, diese ausschließlich von hier aus zu interpretieren, auf die Gefahr hin freilich, sie unerträglich zu verflachen. Wir müssen uns nämlich daran erinnern, daß Kaiser gerade in den expressionistischen Jahren seines Schaffens unter bedrückenden wirtschaftlichen Verhältnissen zu leben hatte, gleichgültig, ob diese nun durch bloßen Leichtsinn, Weltfremdheit oder eine hemmungslose Abenteuerund Experimentierfreude verursacht worden waren. Die Erklärung, er habe sich selbst, bewußt oder unbewußt, aus Erlebnishunger systematisch in die verzweifelte Situation hineinmanövriert, bis sie ihn schließlich mit den Gerichten in Konflikt brachte, ist psychologisdi gesehen sicher nicht ganz von der Hand zu wei-

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sen. Die frühe Ambivalenz dem Gegebenen gegenüber wäre demnach zu dieser Zeit bereits nicht nur zu einem Leiden, sondern zu einem Leiden-Wollen an der Wirklichkeit geworden. Das wäre immerhin Grund genug für ihn gewesen, die Frage nach dem Sinne einer Ordnung aufzuwerfen, die ihm, wie er glauben mußte, zum persönlichen Schicksal geworden war. Nun ist aber zu betonen, daß es weder in den expressionistischen Stücken noch an anderen Stellen in Kaisers Werk jemals zu einer wirklich gültigen Darstellung des ökonomischen oder politischen Zeitkomplexes gekommen ist. Die Frage liegt tatsächlich nahe, ob er so etwas überhaupt jemals auch nur ernsthaft in Betracht gezogen hat: Kommunismus, Sozialismus, Rousseauismus, Diktatur des Kapitals oder des Proletariats, Bankwirtschaft, Polizei, Gefängniswesen: an welche Erscheinungsform man sich auch halten möchte, nirgendwo findet sich mehr als eine skurrile Verzeichnung der Gegebenheiten, die gerade noch so viel Wahrscheinlichkeit haben, daß sie erkennbar bleiben. Und mit ihnen treibt der Dichter nun sein eigentümliches Gedankenspiel. Er greift Fragen und Probleme auf, aber doch auch wieder nicht wirklich; sie sind da, aber sie bleiben ganz im Schemenhaften — „die Formel s t i m m t . . . und sie stimmt nicht", wie er das selbst einmal auf so eindrückliche Weise in „Gas" formuliert hat. Wollte man versuchen, all diese sozial oder politisch kolorierten Elemente seines dramatischen Spiels nachträglich in ein System zu fassen, so könnte das doch nur den Zweck haben zu zeigen, wie bedeutsam auch bei ihm der Bruch zwischen Dichtertum und Gesellschaft gewesen ist, der, wie wir heute wissen, das Schrifttum um die Jahrhundertwende charakterisiert 5 . Man würde aber erkennen, daß in seinem Falle ein allgemeines Phänomen auf eine sehr individuelle Art zugespitzt war, und vor allem verstehen, wie und warum Kaiser schon früh, nach einem kurzen, ganz epigonalen Auftakt, in ein ironisches Verhältnis zu seinen Stoffen gezwungen wurde 6 . Wenn man diese Ironie dann aber aus der Ästhetik der Romantik ableiten will, übersieht man, daß es sich bei ihm eben nicht um einen freien schöpferischen Akt, sondern um einen Zwang, um die Not des Geistigen in unserer Zeit gehandelt hat. Eine objektive Spiegelung und Erfassung der Reali-

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tat war ihm ganz unmöglich. Geduldige Einzeluntersuchungen der letzten Jahre haben nachgewiesen 7 , daß ihm jedes sachliche Verständnis für die Dinge dieser Welt gefehlt hat. Wenn er aber dann die Ergebnisse seiner ironischen Weltbetrachtung noch einmal ironisch verkehrt und gleichsam mit falschen Vorzeichen versehen hat, wenn er mit der Forderung vor sein Publikum getreten ist, es habe diese Phantasien ernst zu nehmen, dann hat er sein Werk — besonders sein expressionistisches — aufs schwerste belastet, was er später selber auch wohl noch eingesehen hat („Klawitter") 8 . Nicht sachlich, nur psychologisch kommen diese Schichten seines Dramas in Betracht. Psychologisch gesehen nämlich wird deutlich, wie hier Seelisches durch Materielles ausgedrückt worden ist, und daß im Geld und seinen mannigfaltigen Erscheinungs- und Wirkungsformen nicht etwa das kapitalistische System, sondern eine persönliche, existentielle Instabilität ihr Symbol gefunden hat. E s ist noch jedem Leser Kaisers aufgefallen, wie sehr er bis fast zuletzt, am unmittelbarsten aber doch nicht zufällig in den Komödien, durch das Phänomen „ G e l d " fasziniert gewesen ist 9 . Wo fänden wir wohl in der Literatur seit Balzac einen ähnlichen T a n z um das goldene K a l b ? Aber hat Kaiser etwa jemals den Typus des modernen Geschäftsmannes wirklich ernsthaft zu analysieren versucht? Was bei ihm durch den Anblick des Geldes fasziniert wird, ist eigentlich immer die Unschuld vom Lande, und wenn ihr finanzielle Ströme zufließen, hat sie das nicht ihrer Tüchtigkeit zu verdanken, sondern gewöhnlich dem großen Los. Es ist erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit Kaisersche Komödienfiguren das große Los ziehen, und welche Verwicklungen sich jedesmal ergeben. D a s Geld ist eben die moderne Form des Schicksals für Kaiser, unter dem der Mensch steht, das er sucht und gleichzeitig flieht, von dem er sich das Paradies erhofft, so lange es noch in weiter Ferne liegt, das ihm aber in den Fingern brennt, wenn er es besitzt. So gesehen ist natürlich das Geld der UrstofF der modernen Komödie, nur daß Kaiser eben nie gewußt hat, wo da die Komödie anfängt und wo sie schon wieder verlassen wird. Ein gutes Beispiel für diese Verwischung der Grenzen findet sich gerade in der „ K o ralle". Der Milliardär ist, von seiner Angst getrieben, in den Reich-

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tum geflüchtet und muß nun erleben — ganz ähnlich wie viele Jahre später Balvesen mit seinem großen Los — daß damit keins seiner Probleme gelöst worden ist. Wir erkennen noch einmal den sekundären Charakter der ganzen Fragestellung, hinter die wir zurückgreifen müssen, um sie ihrer wahren Natur nach zu begreifen. Dann aber sehen wir auch, daß nicht die Gestaltung irgendwelcher Daseinsformen des Reichtums, sondern der Armut das ursprüngliche Anliegen des Dichters war. Die Landschaft solcher „Armut" aber hat er uns selbst sehr genau beschrieben, und zwar schon in so frühen Stücken wie „Der Fall des Schülers Vehgesack" und „Der Geist der Antike": es ist die bürgerliche Welt schlechthin, seine eigene Welt, in der er aufgewachsen und mit der er zeit seines Lebens verwachsen war, die er niemals zu verlassen mochte, so zweifelhaft ihm auch alle ihre Wertungen geworden waren. Es ist eine rätselhafte Erscheinung, daß sich das Bürgerliche, als Lebensform, vielleicht durch das Unbürgerliche (Wedekind), nicht aber durch das Antibürgerliche aufheben läßt. Dabei kann gar nicht genug betont werden, daß der junge Kaiser an sich überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, sich an seine Umwelt anzupassen, wie das etwa bei Rilke, Kafka und vielen anderen jungen Dichtern seiner Generation der Fall war. Und doch scheinen sich diese Unterschiede in weiterer Sicht zu verlieren, weil die persönlichen Anpassungsschwierigkeiten symptomatisch waren für einen allgemeineren Zustand. Nur so ist es zu verstehen, daß ein Wort von Kafka etwa so oder ähnlich auch von Kaiser hätte geschrieben werden können, vorausgesetzt, daß ihm derartige Selbstbeobachtungen gelegen hätten: „Die Entwicklung war einfach. Als ich noch zufrieden war, wollte ich unzufrieden sein und stieß mich mit allen Mitteln der Zeit und der Tradition, die mir zugänglich waren, in die Unzufriedenheit . . . Ich war also immer unzufrieden, auch mit meiner Zufriedenheit. Merkwürdig, daß aus Komödie bei genügender Systematik Wirklichkeit werden kann." 10 Der Widerspruch bei Kaiser war ein innerlicher, psychologisch gewiß durch seine besondere Veranlagung begünstigt, aber doch erst befruchtet durch bestimmte geistige Zeitströmungen, die sich heute genauer aufzeigen lassen. Oder anders ausgedrückt: der Widerspruch war

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nicht so sehr die Folge irgendwelcher tatsächlich unleidlicher Verhältnisse wie deren Veranlassung. Kaisers verschiedene vergebliche Versudie, nach Beendigung der Sdiulzeit einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, sind die ersten deutlichen Anzeichen jener ein wenig gepflegten Lebensuntüchtigkeit, die Jahrzehnte später zum öffentlichen Skandal werden sollte und sich auch in seinen Dichtungen auf mannigfaltige Weise spiegelt. Die Strömungen aber, die wir im Auge haben, lassen sich im wesentlichen, direkt oder indirekt, auf Nietzsche zurückführen, mit dessen Werk Kaiser schon früh, und zwar wahrscheinlich durch seinen Freund, den späteren Plato-Forscher Kurt Hildebrandt, bekannt wurde11. Vertieft und erweitert wurde diese Sicht dann schon bald durch die Bekanntschaft mit den Werken Wedekinds und Georges; dem George-Kreis kam er für eine kurze Zeit durch seine Freunde auch persönlich etwas näher. Die Richtigkeit des hier intellektuell Erlebten wurde ihm aber gleichzeitig audi unmittelbar und gewissermaßen zu Hause bestätigt, als er sich der Dichtung zuwandte und erfahren mußte, daß die durch das Bürgertum vermittelte literarische Tradition nicht mehr trug. Sie gab nadi, als er sie — mißtrauisch wohl schon — erprobte. Ein Verhältnis seligen Vertrauens zu ihr jedenfalls konnte von Anfang an nicht mehr Zustandekommen: die ironisierende Selbstdistanzierung ergab sich als die einzig mögliche Lösung des hoffnungslosen Dilemmas. Die Komödie bot sich ihm sozusagen als das gegebene dichterische Medium an, und ihre Anziehungskraft war für ihn so groß, daß er auch später immer wieder auf sie zurückgegriffen hat. Wahre Komödie aber entsteht nicht aus Negation allein, sondern lebt aus dem Geiste echter — nicht künstlich konstruierter — Polarität. Sie kommt dadurch zustande, daß das Gegebene mit höheren Maßstäben gemessen, von einem festen und werthaltigen Punkt aus beleuchtet wird. Gleichzeitig aber müssen das Bejahte und das Verneinte sich doch audi wieder berühren, sich entsprechen, einen gemeinsamen Nenner besitzen: und dieser gemeinsame Nenner ist das Wirkliche, das Leben an sich. Auf vorbildliche und einzigartige Weise ist das bei Moliere der Fall — auf ebenso vorbildliche Weise n i c h t dagegen in der deutschen

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romantischen Komödie, die daran scheitern mußte, daß ihre Dichter völlig Inkommensurables zueinander in Beziehung zu setzen versuchten. Ihre Linien trafen sich erst im Unendlichen. Für den modernen Dichter dagegen besteht die Schwierigkeit darin, daß er weder im Wirklichen noch im Unwirklichen zu Hause ist, seine Komödie also fast notwendig von der Negation ausgehen und ihr Korrelat entweder ganz offen lassen muß, indem er nur mit komischen Situationen arbeitet, oder es nur ganz unverbindlich als Möglichkeit mit vagen Umrissen und blassen Farben andeutet. Diesen letzteren Weg ist vor allem Carl Sternheim gegangen — sicher der bedeutendste Komödiendichter seiner Generation. Sternheim hat seine Werte erst durch eine Invertierung der jeweiligen Komödiensituationen gewonnen, ein nicht nur unbefriedigender, sondern audi im höchsten Maße gefährlicher Vorgang, der bei rechtem Lichte besehen in nichts anderem besteht als der nihilistischen Gleichsetzung von Gut und Böse („Man muß dem Bürger Mut zu seinen Lastern machen."). Die literarischen Perspektiven sind bereits hinreichend gekennzeichnet, wenn man für das Dilemma der modernen Komödie den Geist Nietzsches verantwortlich macht. Dem Bürger Mut zu seinen Lastern machen, wie Sternheim das zu tun vorgibt, ist nicht nur eine moralische Frivolität, es ist eine geistige Verlegenheit, als dichterischer Appell völlig sinnlos. Kaiser war, das darf man betonen, niemals in Gefahr, einer solchen mephistophelischen Sophistik zu verfallen, obwohl auch er, wie Sternheim, von Nietzsche herkam. Der Name Nietzsche steht ja für vieles und o f t sehr Gegensätzliches. Was für Kaiser wohl entscheidend war, war die Tatsache, daß ihm zuerst der „positive" Nietzsche begegnet war, der „Zarathustra", so daß seine frühe Nietzsche-Begeisterung zum Beispiel noch sehr wohl mit einer unverkennbaren Wagner-Verehrung zusammenfallen konnte, wie uns das (durch Wolfgang Fix) bezeugt ist. Wenn ihm Nietzsche daher auch die Augen für die gegenwärtige Zeitsituation kritisch geöffnet hat, so hat er ihm gleichzeitig die Maßstäbe an die Hand gegeben, mit denen hier zu operieren war: das Evangelium vom neuen Menschen und damit die Vergöttlichung des Lebens12. Aber es kann doch auch keine Frage darüber

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bestehen, daß für Kaiser dies alles zunächst eine recht literarische Angelegenheit blieb. In seinen frühen Stücken (etwa dem „Fall des Schülers Vehgesack" oder dem „Geist der Antike") wurde der Mensch zwar bereits kritisch aus der Perspektive des bürgerlichen Alltags visiert, ging aber in den Handlungsverlauf selbst noch nicht ein. In dem Milieu, das Kaiser aus der Erfahrung kannte und das er daher zunächst zu gestalten versuchte — besonders die Schule — konnte die „blonde Bestie" alles mögliche Unheil anrichten, aber sichtbar wurde sie nicht. Kaiser brauchte noch lange Jahre, bis er aus den entlehnten Vorstellungen sich sein eigenes Bild vom Menschen zu prägen fähig wurde. Dann aber ließ es sich nicht mehr im Rahmen einer Komödie gestalten, sondern verlangte nach dem Schauspiel und der Tragödie. Auch für ihn blieb die Komödie daher eine Form, in der das Stoffliche dominiert, und es ist ein für Kaiser höchst bezeichnender Vorgang, wenn sich ihm Komödien gleichsam unter der H a n d in Schauspiele umformten. Vielleicht wäre hier der Punkt, vor der Überbetonung des Ironie-Elementes in Kaisers Werk zu warnen 13 . Daß es für Kaiser von primärer Bedeutung gewesen ist, die Grundlage seiner ganzen dramatischen Dialektik, soll nicht geleugnet werden. Aber es ist doch nicht so, als ob in dieser Ironie nun alles bei ihm aufgelöst worden wäre, in der Verwischung der Beziehungen nichts mehr seinen festen Wert zu behalten vermocht hätte. Das Bild vom Menschen wächst tatsächlidi in seinem Werk zu monumentaler Größe heran und über alle Paradoxe des Lebens hinaus. Während diesem Menschen in Kaisers expressionistischen Dramen noch etwas Doktrinäres anhaftet, lebt er in den späten Werken auf und wird zu Fleisch und Blut. Wenn er nun Unbegreifliches tut auf seinem Weg, so geschieht das aus der Absolutheit seines Seins heraus und nicht aus einem Drang nach Selbstwiderlegung in der Ironie. Ironisch und paradox bleibt sein Verhältnis zur Umwelt, doch in den größten dramatischen Augenblicken löst sich die Ironie ins tragische Pathos rein auf, verschmilzt mit einer das Persönliche transzendierenden Botschaft der Menschlichkeit: so in den „Lederköpfen", aber besonders im „Soldaten T a n a k a " , denn für die Gestalt Tanakas ist ja nicht 2 Pulsen

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die ironische (oder satirische) Umkehrung der Verhältnisse in der Geriditsszene entscheidend, sondern die Tat des sich gegen die Unmenschlichkeit empörenden Menschen. Tanaka, der den Kaiser auffordert, sich zu entschuldigen, findet die große Geste des Menschlichen, die sich über alle bloß realistische Wahrscheinlichkeit einmalig erhebt. Von den Begriffen „Mensch" und „Leben" war der junge Kaiser ausgegangen, indem er sich zunächst darauf beschränkte, die Unzulänglichkeit der Gegenwart zu demonstrieren. Das Ergebnis war konventioneller Theater-Realismus. Um den „neuen Menschen" sichtbar werden zu lassen, bedurfte er eines umfassenderen Rahmens, und den suchte er zunächst auf dem Boden des geschichtlichen Dramas. Schon hier tastete er sich aber früh auf ein überhistorisches Gelände vor, das man vielleicht am ehesten als Stilbühne bezeichnen könnte. Dann aber geschah das für ihn zunächst Entscheidende: er stieß auf die Tendenzen der frühen Expressionisten, die er freudig aufgriff. Denn nicht nur in formaler, auch in weltanschaulicher Hinsicht kamen ihm die neuen Bestrebungen entgegen. Die rätselhafteste Periode seines Schaffens begann. Wohl niemals vorher oder nachher hat er sich so vorbehaltlos mit den Bestrebungen anderer identifiziert wie hier. Aber sein Weg sollte ihn schließlich doch über die expressionistischen Utopien hinausführen, in nicht nur abgründigere, sondern audi persönlichere Bereiche des Menschlichen. Im Expressionismus hat er begonnen, sein dramatisches Gebäude zu errichten, vollenden konnte er dieses jedoch erst, nachdem er seine dichterische Freiheit wiedergewonnen hatte. Die Wendung aber geschah doch schon in diesen expressionistischen Jahren, wenn auch nicht in den expressionistischen Werken selbst. Erinnern wir nur an den „Brand im Opernhaus", wo einmal auf eine ganz andere Weise als im „Gas" etwa von der „Sucht nach dem Menschen" gesprochen wird, „der rein und gelungen ist" 1 4 . Dinge werden da beschworen, die mit einem Hinweis auf expressionistische Glaubenssätze nicht mehr zu erschöpfen sind. Nicht zwischen Mensch und Umwelt im Sinne aller sozialen Dichtung, sondern im Menschen selbst und darüber hinaus dann in der Begegnung von Mensdi und Mensch als einmaligem, und doch

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immer wiederholbarem Ereignis liegt für ihn hier das Mysterium des Daseins, in sichtbarster schicksalhafter Reinheit zwischen Mann und Frau. Der Blick in den Menschen wird zum Einblick des Diditers in sich selbst, und wir werden uns kaum wundern, wenn die Ichbezogenheit der späten Dichtungen Kaisers eine das Pathologische streifende Intensität gewinnt. In diesem Prozeß aber wird gleichzeitig die ursprüngliche Antinomie von Mensch und Welt hinfällig, denn die Welt, wie Kaiser sie jetzt sieht, ist der Raum der reinen und gelungenen Menschlichkeit und damit des Lebens selbst. Jetzt kann kaltblütig gemordet werden, wie im „Gärtner von Toulouse", „um nicht die Schändung dieser Welt zu mehren" 15 . Doch schon im „Oktobertag" wußte er, daß man „ein Grab audi über Lebenden schließen kann, wenn deren Taten unerträglich werden". Eine Umwertung aller Werte ist auch hier Voraussetzung, aber in einem über Nietzsche weit hinausweisenden Sinne. Es ist die eigentliche Dichtungswelt Kaisers, zu der alles andere Vorstufe blieb. Den Weg in diese Welt wiederzufinden, in kritischem Nacherleben, ist unsere Aufgabe. Auf die gebräuchlichen Kategorien der Literaturwissenschaft können wir uns dabei mehr verlassen, als man bisher gemeint hat — ganz ausreichen wird freilich keine. Der Weg, das wissen wir heute, führte den Dichter zum Menschen, aber es war kein geradliniger, sondern ein im Geistigen abenteuerlich verschlungener, der auch die Bereiche des heute wieder so sehnsüchtig gesuchten Humanismus berührte, ohne in ihnen aufgehen zu können. Denn der Mensch, den Kaiser fand und erkannte, war kein geordnetes Staatswesen im Kleinen, kein Mikrokosmos, keine selig im All schwebende Monade, sondern ein erschreckendes und doch wieder auch beglückendes Rätsel, Gott und Teufel zugleich. Es ist der Mensch, den am Ende noch jeder Dichter nur in sich selbst gefunden hat, wie sehr er sich audi bemüht haben mag, ihn, so lange es ging, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sein Anblick ist schmerzhaft, noch in der Rückerinnerung. „Denn wie soll man einen Mensdien achten", wird er in der „Villa aurea" später fragen, „der nidit mit Schrecken auf die erlebten Jahre zurückblickt? Alles im Leben ist furcht2*

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bar — wer denkt und empfindet, vergißt die sinnlosen Folterungen nie"18. Verstehen werden wir das Wesen dieser Dichtung erst ganz, wenn es uns gelungen ist, sie aus ihrem entwicklungsgeschichtlichen Werden zu begreifen — wo nötig, auch gegen den ausdrücklichen Willen ihres Dichters. Oder war er vielleicht gar nicht so sicher, wie er behauptet hat und uns glauben machen möchte, daß sein Werk dem Gesetz des Werdens nicht unterworfen sei — war das vielleicht nur ein Manöver, dazu angetan, uns zu verwirren? Denn wer ließe sich gerne auf die Finger sehen? Ganz sidier nicht ein Mensch, der so instinktiv vor jeder Berührung mit der Außenwelt zurückschreckte wie Kaiser. Wir werden uns also nicht durch ihn beirren lassen17, sondern versuchen, sein weitschichtiges Werk zunächst einmal entwicklungsgeschichtlich zu begreifen, um es dann in das Gefüge der deutschen Literaturtradition hineinzustellen. Vielleicht werden wir auf diese Weise nicht nur einen besseren Gesamtüberblick über sein Werk, sondern auch einen zuverlässigeren Einblick in dessen Grundlagen gewinnen. Viel wäre schon erreicht, wenn dabei das Organische dieses Werkes stärker in Erscheinung träte und der Eindruck des Bizarren, Eigenwilligen und Willkürlichen ein wenig berichtigt würde.

II DAS WERK Die Schwierigkeiten, die dem Versuch einer entwicklungsgeschichtlichen Erfassung des Kaiserschen Werkes begegnen, bestehen weniger in dessen rätselhafter Vielfältigkeit und scheinbaren Willkür der Formgebung, als in der Tatsache, daß vieles darin audi heute noch in ein Halbdunkel gehüllt ist, in dem wir uns in hohem, vielleicht zu hohem Maße unserem Tastsinn anvertrauen müssen. Das trifft besonders — freilich keineswegs ausschließlich — auf Kaisers Frühwerk zu, das zwar im großen und ganzen gerettet werden konnte, uns aber mit wenigen Ausnahmen noch nicht unmittelbar zugänglich geworden ist. Es war jedoch bereits möglich, an Hand des Nachlasses die Werk-Chronologie soweit sicherzustellen, daß die Interpretation in Zukunft auf wilde Spekulationen und unhaltbare Behauptungen verzichten kann. Die dichterischen Anfänge Kaisers mögen bibliographisch und philologisch aufschlußreich sein und auch auf das Biographische neues Licht werfen, für die Einsicht in die eigentliche Leistung des Dichters werden sie — soviel steht heute schon fest — nur von untergeordneter Bedeutung bleiben. Kaiser war kein Frühvollendeter wie Hofmannsthal oder selbst Thomas Mann, er ist langsam gereift wie Sternheim. Der früheste erhaltene Versuch des 17jährigen Dichters, das einaktige Versdrama „Schellenkönig" (1895/6 entstanden), zeigtuns jedoch bereits eine hochentwickelte Sensibilität für ästhetische Werte und läßt kaum einen Zweifel, daß für ihn damals dichterisches Tun, im Stile der Neuromantik und des Impressionismus, noch vornehmlich eine Sache der feinen Nerven und der seelischen Einfühlung gewesen ist. Es liegt nahe, bei der Lektüre des „Schellenkönig"18 an die frühen lyrischen Dramen Hofmannsthals zu denken, auch wenn es schwer fallen

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sollte, unmittelbare Beziehungen oder Abhängigkeiten nachzuweisen, und bei genauerem Zusehen ergibt sich vielleicht sogar des Trennenden mehr als des Verbindenden. Schon der Untertitel »eine blutige Groteske" weist ja in ganz andere Bereiche. Man wird bei Kaiser nichts von der Stimmungsmalerei und lang austönenden Wortmusik Hofmannsthals finden, statt dessen vielmehr bewegte Handlung vom ersten Vers an. Ein starkes atmosphärisches Fluidum, rokokohafte Theaterfreudigkeit ist da, aber die auf die Bühne gebannte Illusion wird nicht ausgenossen, die Nuancen werden nicht geschmeckt, sondern immer wieder durch Parodie und Groteske ins Gelächter aufgelöst. Es ist klar: der junge Dichter spielt nur mit dem Spiel, die Vorgänge sind nicht Spiegelungen seines Ich und in diesem Sinne nicht von absoluter, sondern nur von relativer Gültigkeit. Während der junge Hofmannsthal nämlich seine Figuren so stellt, daß sie einen ruhigen, aber doch schicksalsschweren Ausblick auf den von ihnen zurückgelegten Weg und damit zugleich einen tiefen Einblick in ihre verborgensten Reaktionen auf das Erlebte tun können, wählt sich der junge Kaiser instinktsicher die dramatische Konfliktsituation. Der Schellenkönig — der Name muß in Anlehnung an Hofmannsthals Worte vom „schellenlauten" Tor ("Tor und Tod") geprägt worden sein — ist ein an das höfische Zeremoniell marionettenhaft gebundener Märchenkönig, in dessen hermetisch abgeschlossene Welt die Wirklichkeit in der Gestalt eines aufsässigen Bedienten, eines richtigen Theatersozialisten, eindringt. Zuerst ist der König beglückt von der neuen rousseauistischen Botschaft, denn das bloße, in leeren Formen erstarrte Repräsentieren ist ihm nur eine Last. Er schickt sich an, zum Entsetzen aller Höflinge, seine von Tanzschritten und Operettentönen durchzogene Scheinwelt zu verlassen, bis er merkt, daß er damit dem Chaos Tür und Tor öffnet. Das Volk erkennt den zu ihm herabsteigenden König nicht, der Aufruhr droht. In plötzlicher, die Überraschung auf sehr Kaiserische Weise bis zum letzten Augenblick aufsparender Wendung ersticht er den Bedienten und kehrt an seinen angestammten Platz zurück: Kleider machen Leute, oder wie Kaiser das ausdrückt:

W o l f g a n g P a u l s e n : Georg K a i s e r . Di P e r s p e k t i v e n s e i n e s Werkes. M i t ei· η em A n h a n g ; Das' d i c h t e r i s c h e und ei s a d i s t i s c h e Werk Georg K a i s e r s . Eir h i s t o r i s c h - k r i t i s c h e В i h l i o g r a p h i e . 1960. 8 ° I I I , 184 S e i t e n

Der Schriftleitung

.DIE.... T H E A T E R G E M E I Ν D E

auf Verlangen - überreicht mit der Bitte u m baldige Besprechung und Zusendung von zwei Belegen.

geh. D M

kart. D M

GKvd. M Ö w d . geb. D M

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Sollte eine Besprechung nicht erfolgen, bitte ich u m Rücksendung des Exemplars.

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Doch ein Betrüger ist, wer ungestüm den Tempel schändet in entfachter Wut, den Altar umstößt und die Bilder stürmt, die Kerzen löscht und lüftet frei die Wolken wirrenden Weihrauchs und die Hallen leert von Kranz und Kelch und brünstigem Gebete und läßt sie leer! Bei Kaiser wird also, wie bei Hofmannsthal, eine Welt des schönen Scheins aufgebaut, aber während der Wiener um deren tiefe menschliche Fragwürdigkeit weiß, sie gestaltet, um sie zu überwinden, geht der junge Mann aus Magdeburg den umgekehrten Weg: sein Spiel läuft, trotz aller parodistisch sich gebärdenden Skepsis, auf eine Rechtfertigung dieses Scheins hinaus, und zwar nicht auf Grund irgendwelcher ästhetischer, sondern höchstens kulturpolitischer Überzeugungen. Die Warnung „noli me tangere" könnte als Motto den Vorgängen vorausgeschickt werden. Denn der Formalismus einer gegebenen Ordnung mag lächerlich sein, er hat doch — wie das Spiel vom „Schellenkönig" uns lehrt — eine höhere Berechtigung. Mit Hofmannsthal hat das alles freilich nichts zu tun, sondern gehört in die Gedankengänge des deutschen 19. Jahrhunderts, entstammt dem Bereich des bürgerlichen Konservativismus. Doch auch in der Diktion ist der Hofmannsthalsche Tonfall eigentümlich gebrochen, wie schon die wenigen angeführten Verse deutlich machen. Man glaubt aus Ton und Wortwahl viel mehr George herauszuhören: „wer ungestüm den Tempel schändet", „Wolken wirrenden Weihrauchs", „von Kranz und Kelch und brünstigem Gebete" und ist versucht, die erste Begegnung Kaisers mit Georges Werk nodi weiter zurückzuverlegen, als das gewöhnlich geschieht. Daß ihm die damals noch ausschließlich privat für den Kreis gedruckten Dichtungen Georges zugänglich geworden sind, auf welche Weise auch immer, ist ja an sich nidit undenkbar. Wenn sich diese Vermutungen bestätigen ließen, würde die Zwitterhaftigkeit des ganzen Spiels vom „Schellenkönig" überhaupt verständlicher, und der junge Dichter stünde da als einer der ersten, die sich um eine Verschmelzung der beiden so verschiedenen dichterischen

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Möglichkeiten, der Georges und der Hofmannsthals, bemüht hätten. Die Bedeutung Hofmannsthals für die frühe Entwicklung Georg Kaisers würde dadurch aber keineswegs verringert, denn so ungreifbar sie vielleicht im „Schellenkönig" noch bleibt, so behält die Hofmannsthal-Welt für ihn doch noch lange eine magische Anziehungskraft. Zunächst freilich scheint er in einer entgegengesetzten Richtung fortzustreben, aber der gereifte Dichter wird sich doch gerade auf diesen Teil seines geistigen Erbes später immer wieder schöpferisch besinnen. Im „Schellenkönig" wird also der Zusammenstoß zweier Welten lyrisch-dramatisch skizziert. Bereits in diesem ersten Versuch verfährt der junge Dichter nicht analytisch oder introspektiv, sondern konstruktiv. Er läßt nicht nur zwei soziale Schichten, sondern zwei Gesellschaftsformen, zwei Zeitalter im Konflikt aufeinanderstoßen und beweist damit, daß er seinen Hebbel gut gekannt haben muß. Hebbels geschichtsphilosophische Voraussetzungen hat er sich freilich nicht angeeignet, dessen Glauben an die Möglichkeit und progressive Notwendigkeit einer Synthese teilt er nicht, aber in der Herausarbeitung von These und Antithese ist er ihm gefolgt. Er tat das um so leichter, als eine solche dramatische Polarität seinem eigenen Weltempfinden offenbar entgegenkam. Denn Kaiser gestaltete im „Schellenkönig" ja nicht zwei als absolut erkannte historische Momente im Konflikt, sondern er brachte die beiden Seiten seines eigenen, noch unausgeglichenen Wesens in einem Spiel zur Anschauung, dessen Lösungen daher auch nur tentative Gültigkeit haben konnten. Die Möglichkeit einer Synthese wurde durch ein entschiedenes Entweder-Oder ersetzt. Das Verfallensein der Schönheit, dem Bereich reiner, in sich seliger Ästhetik sah sich herausgefordert durch das „Leben". Noch einmal hat Kaiser der Ästhetik dem Leben gegenüber recht gegeben, aber man spürt doch sehr deutlich, daß die gefällte Entscheidung einer Revision bedurfte, und wir werden uns deswegen nicht wundern, wenn er sich schon bald auf die Seite derer stellte, die im Namen der Natürlichkeit gegen die Un-Natur zu Felde zogen. Nachdem die Umwertung einmal vollzogen war, konnte der Weg in gerader Linie, wenn auch über eine Reihe noch wenig gelungener Vorversuche, bis zu

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jenem bürgerlichen Rousseauismus führen, der in „Gas" die industrielle Problematik mit der Anlage von Schrebergärten lösen mödite. Es ist dem jungen Dichter noch nicht gelungen, sein innerstes Anliegen zu erschöpfen, oder auch nur in eine gültige Form zu gießen. Dazu war er als Dichter noch nicht fähig, wie sich ihm ja auch die Form des lyrischen Dramas noch nicht wirklich erschlossen hatte. Im Aufbau des Stückes herrscht zwar bereits eine erstaunliche strukturelle Symmetrie, aber die Verse sind noch spröde und oft geradezu schlecht — sie werden ihm erst gegen Ende seines Lebens mit innerster Notwendigkeit und Freiheit in die Feder fließen. Trotzdem aber war das schöpferische Erlebnis als soldi es, das ihm diese erste Dichtung verschaffte, sicher sehr groß. Was er im „Schellenkönig" erstmalig zu sagen versuchte, reifte Jahre später dann in den drei Einaktern, im „König Hahnrei" und im „Protagonisten" aus und schwingt noch in vielen anderen, und zwar gerade seinen größten Dichtungen als Grundton mit. Die lyrisch-dramatische Schau, die für den „Schellenkönig" Voraussetzung ist, war sicher eine der Möglichkeiten Kaiserschen Dichtertums, aber doch nidit die bestimmende. Das geht schon daraus hervor, daß er die hier eingeschlagene Richtung zunächst nicht weiter verfolgt hat. Rein literarische Spielereien folgten, Übungsstücke und Gelegenheitsprodukte, deren tiefere Berechtigung wohl in der Befriedigung jenes Spieltriebes liegt, von dem Schiller gesprochen hat. Literarisch waren sie insofern, als der junge Dichter in ihnen und mit ihnen versuchte, dramatische Formen und Möglichkeiten, die er vorfand, parodistisch und damit doch auch wieder imitativ zu bewältigen. 1897 entstand so eine Faust-Parodie19, in der Wagner sädiseln muß, und bald darauf eine Wildenbruch-Parodie unter dem Titel „König Heinrich": das Geschichtsdrama des 19. Jahrhunderts, und zwar in dessen letzter, aber gerade damals aktueller Form, zwingt ihn zu einer ersten Stellungnahme, die nicht seine letzte bleiben sollte. Diese Dinge wollten langsam reifen, aber schon nach sechs oder sieben Jahren finden wir ihn sehr ernsthaft mit ausführlichen Quellenstudien — wie er sie später bei geschichtlichen Stoffen

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nicht mehr getrieben hat — zu einem Drama über Artaxerxes III. (unter dem Titel „Der Dolch", 1904) beschäftigt: er scheint den Weg von Wildenbruch zurück zu Hebbel (wenn nicht zu Grabbe) gefunden zu haben. Auf die Wildenbruch-Parodie jedodi folgte 1898 zunächst jene einaktige Skizze „Ein Feierabend" mit dem Epilog „Arno Holz, Tagebuchblätter 13"20. Und hier nun begegnen wir zum ersten Male der für den jungen Kaiser so bezeichnenden Arbeitsweise, an der er fast zehn Jahre lang und im Grunde, in modifizierter Form, immer festgehalten hat: ein Stoff wird aufgegriffen, ausgearbeitet und dann beiseite gelegt, um erst Jahre später wieder hervorgeholt, vollkommen neu durchgestaltet, aber auch dann noch nicht aus den Händen gegeben zu werden — ja, es ist nicht ausgemacht, ob Kaiser die Produkte dieses seines ersten schöpferischen Jahrzehnts selbst überhaupt jemals veröffentlicht hätte, wenn er nicht (besonders um 1914) durch äußere Umstände dazu gezwungen worden wäre21. Seine künstlerischen Ansprüche an sich selbst, sein Wissen um die Bedingnisse der Form bewegten sich bereits auf einer Höhe, der die Ergebnisse seiner Bemühungen nodi nicht zu genügen vermochten. In der Anwendung seines Wissens war er noch epigonal behindert durch das literarische Erbe seiner Zeit. Diese seine Befangenheit äußert sich wohl am unmittelbarsten in seiner Unsicherheit den Stoffen gegenüber. Unter dem Eindruck vor allem Wedekinds, dessen Werk gleich nach seiner Rückkehr aus Südamerika (spätestens 1902) in seinen Gesichtskreis getreten sein muß, hat er lange nicht begriffen, daß sich das ihm vorschwebende dichterische Kunstwerk nicht an Wedekind-Stoffen und nicht in der WedekindWelt realisieren ließ. Wenn ihm bei George, lange vor seiner Begegnung mit Wedekind, die entscheidenden Einsichten in das Wesen der Form gekommen waren22, so muß der werdende Dramatiker doch von der leichteren Anwendbarkeit der Wedekindschen Mittel für eine Weile fasziniert gewesen sein. Dichterisches Arbeiten ist für ihn also schon jetzt in erster Linie eine Angelegenheit der Disziplin und der Form und nicht ein Mittel zur Selbstaussage. Autobiographische Elemente mögen in seinem Frühwerk häufiger sein als später, ausschlaggebend

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sind sie auch hier nicht. So entsteht im Laufe der folgenden Jahre — vor allem seit seiner Rückkehr aus Südamerika im Jahre 1901 — eine verwirrende Fülle von Entwürfen und vorläufigen Fassungen zu dramatischen Werken, deren letzte Ausgestaltung immer wieder verschoben wird. Das eine oder andere greift er gelegentlich wieder auf und entwickelt es weiter, aber zu einem wirklichen Abschluß kommt keins. Selbst wenn den so entstandenen Stücken die letzte Vollendung versagt blieb, so geben sie, in ihrer Gesamtheit, doch die Fundamente ab, auf denen das Gebäude seiner Dichtung fest und sicher ruht. Sie dürfen uns vor allem als Beweis dafür dienen, daß es diesem Dichter von Anfang an um die Wiedergewinnung der großen dramatischen Form ging. Noch fünf Jahre nach der Ausarbeitung der Skizze „Ein Feierabend" finden wir Kaiser damit beschäftigt, sie in enger Anlehnung an Gerhart Hauptmann in eine fünfaktige Tragikomödie unter dem Titel „Die melkende Kuh" umzugießen. Bis in Einzelheiten folge diese dem „Biberpelz", wird uns berichtet23, aber weitere drei Jahre vergehen, bis er sie mit einem Begleitschreiben Gerhart Hauptmann vorzulegen wagt 24 . Selbst ohne Kenntnis des Textes dürfen wir vermuten, daß dieses erste Ringen um die dramatische Großform, auch wenn Kaiser das Stück später wohl nicht zu seinen besten Jugendarbeiten geredinet hat, als schöpferisches Ereignis nur mit der Entstehung des „Schellenkönigs" verglichen werden kann. Ein neuer, entscheidender Schritt war getan. Kaiser hatte die Arbeit gleichsam mit Holz begonnen und sie mit Hauptmann beendet, und zwischen diesen Beginn und diesen (vorläufigen) Abschluß hatte sich die fruchtbare und verhängnisvolle Begegnung mit Wedekinds Drama geschoben. 1901/2 war der „Fall des Schülers Vehgesack" und im folgenden Jahr, spätestens 190425, der „Rektor Kleist" entstanden, zu denen zweifellos „Frühlingserwachen" Pate gestanden hatte. Aber nun weitet sich das Bild schnell: Kaiser hat ersten Boden unter den Füßen gewonnen und baut auf ihm fort. Noch vor der Wiederaufnahme seiner Arbeit am „Feierabend" entwirft er 1904 die ersten Skizzen zu den „Dornfelds" und der „Hete Donat", die aber beide erst 1909 ausgearbeitet wurden, zur „Jüdischen

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Witwe", die bis 1908 liegen blieb, und zu einem „Herrn der Erde", dessen Manuskript nicht erhalten ist. 1905 folgen die Entwürfe zum „Geist der Antike" 28 (1922 bearbeitet und veröffentlicht), zum „Präsidenten" (191427, und ein zweites Mal 1927 bearbeitet) und schließlich zum „David und Goliath" 28 (1914 und 1920 bearbeitet). Bedenken wir nun ferner, daß diese beachtliche Liste von Titeln 1906 nodi durch den „Zentaur" und 1907 durch den „Mutigen Seefahrer" vermehrt wurde, denen sdiließlich 1909 bis 1910 zum ersten Male Entwürfe folgen sollten, die schon im ersten Guß voll und ganz gelangen, nämlich die Komödie „Die Sorina" und kurz darauf die „Muttergottes", die wir heute als „Die Versuchung" kennen29, dann begreifen wir, daß hier der entscheidende Durchbruch stattgefunden hat. Fühlen wir uns immer noch durch die Vielfalt dichterischer Aussagen verwirrt? Oder beginnen wir bereits zu ahnen, daß hier keinesfalls ein mit gewöhnlichen Maßen nicht meßbares Genie in einer Art schöpferischer Trance Werke aus sich herausgestellt hat, deren Entstehung er als geheimnisvoll ausgeben möchte, sondern ein junger Dichter, der um seine Berufung weiß und sich in zäher Selbstzucht seine eigene Welt erbaut? Früh wird die Saat gesät, die erst spät reift, um dann ihre mannigfaltigen, doch auch sehr ungleichartigen und ungleichwertigen Früdite zu tragen. Von dem, was Kaiser zwischen 1903 und 1907 entwirft, wird er als Dichter noch zehn Jahre später leben — ja, noch 1934 kann er auf den „David und Goliath" zurückgreifen, um ihn im „Los des Ossian Balvesen" völlig neu durchzugestalten. Wenn wir uns nun dieses Frühwerk Kaisers in seiner Gesamtheit vor Augen führen, wird uns zweierlei klar: einmal, daß die Komödie alle anderen Formen überragt, und daß sie trotzdem schon aus dem Grunde immer wieder scheitern mußte, weil sie auf falschen ästhetischen Voraussetzungen beruhte. Es ist eine lange Reihe von Fehlgeburten, die vielleicht nur deswegen nicht ganz vergeblich waren, weil sie schließlich — und fast möchten wir sagen: zufällig — zur „Jüdischen Witwe" geführt haben, der ersten wirklich eigenen Leistung Kaisers auf diesem Gebiet. Seine mangelnde Einsicht in das Wesen der großen Komödie hat ihm hindernd im Wege gestanden. Um sich frei entfalten zu können,

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genügt der Komödie nicht ein noch so komischer Stoff, sondern sie will sicher verankert sein im Charakter, und zwar in einem Charakter, der bei aller Lächerlichkeit doch so stark ist, daß er sich alles Stoffliche zu assimilieren vermag und noch darüber hinausragt. N u r so kann der Mensch zum Symbol von Zuständen werden, wie das im „Zerbrochenen Krug" und im „Biberpelz" geschehen ist. Im „Schüler Vehgesack" aber und im „Rektor Kleist" und dem „Geist der Antike" bleiben die Charaktere völlig im Typischen und Entlehnten hängen, sind insgesamt Figuren, die ihr Dasein nur dem Zweck verdanken, den sie in bestimmten stofflichen Zusammenhängen zu erfüllen haben. Selbst in der „Jüdischen Witwe" noch ist Kaiser, wie ein Wunder, mit einem menschlichen Minimum ausgekommen, auch hier ist er ganz offensichtlich von einer komödienhaften — oder doch ins Komödienhafte gewandelten — Fabel ausgegangen, in die seine Heldin dann aber im Verlaufe der weiteren Ausführung hineingewachsen ist. Der Stoff dominiert noch immer das Ganze, aber nun nicht mehr nur handlungsweise, sondern gleichzeitig — und darin liegt wohl das zutiefst Uberzeugende der Leistung — atmosphärisch. Was die zeitnahen Stoffe der anderen Komödien nicht vermocht hatten, ist Sage und Geschichte gelungen: an der Notwendigkeit, Zeit und Raum beschwören zu müssen, ist Kaiser zum Dichter geworden. Doch nun geschah das Sonderbare: gerade dadurch, daß der Charakter solchermaßen mit dem Stoff verwuchs und in dem Gefüge die menschliche Gestalt als solche in ihrer ganzen Einmaligkeit sichtbar wurde, ist dem Dichter der Komödiencharakter seines Stückes zweifelhaft geworden. Denn während die erste Auflage noch den Untertitel „eine biblische Komödie" trug, wurde die zweite einfach als „Bühnenstück in fünf Akten" bezeichnet. Das wirft ein scharfes Licht auf die Hintergründe der Kaiserschen Komödie überhaupt, es fixiert sie soziologisch und geistesgeschichtlich. Denn komisch sind für ihn immer nur Vorgänge und Zustände, und die Menschen nur insofern sie sie repräsentieren. An den ganzen und gelungenen Menschen reicht das Gelächter nicht heran. Die „Jüdische Witwe" aber zeigt, wie der Mensch, wenn er in an sich un-menschlichen Zusammenhängen

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ersteht, den komischen Rahmen zerbricht und das Dasein mit Leben durchflutet — in diesem Sinne also humanisiert. Hinter dem Bereich des Komischen beginnt sich jener andere abzuzeichnen, in dessen Erfassung Kaiser später seine eigentliche dichterische Aufgabe sehen wird. Er hatte das Lachen nur gelernt, um sich von dem Verlachten innerlich zu befreien. Wenn es nun aber stimmt, daß Kaiser die endgültige Fassung der „Jüdischen Witwe" bereits 1908 abgeschlossen hat30, dann wären weitere drei Jahre bis zu ihrer Drucklegung vergangen, und der Dichter hätte sich also seinem Manuskript gegenüber auf ganz ähnliche Weise verhalten, wie vor ein paar Jahren noch gegenüber dem der „Melkenden Kuh", wobei die Möglichkeit einer letzten Überarbeitung nicht von der Hand zu weisen wäre. Außerdem aber hätten sich zwischen Vollendung und Veröffentlichung des Stückes noch zwei weitere Arbeiten geschoben, die jedoch das künstlerische Niveau der „Jüdischen Witwe" nicht wieder erreicht haben, was immer man auch zu ihrem Gunsten anführen möchte: die Komödie „Die Sorina" und die „Tragödie unter jungen Leuten" „Muttergottes" (resp. „Die Versuchung"). Sie unterscheiden sich von allen frühen dramatischen Versuchen Kaisers vor allem durch ihre entscheidende Abkehr von Wedekind, die in der „Jüdischen Witwe" ein für allemal vollzogen worden war; denn wenn Diebold diese auch noch als „Fleischkomödie" bezeichnet hat, so ist sie das doch in einem ganz unwedekindschen Sinne, und man könnte hier geradezu von einem invertierten Wedekind sprechen: was Kaisers Judith so lächerlich schwer fällt, hat noch jede Frau bei Wedekind spielend fertig gebracht! Noch größer ist die Entfernung von Wedekind dann in der „Versuchung" geworden, in der auf eine auch für Kaiser überraschende Weise moralische Skrupel zu dramatischen Verknüpfungen führen. Eine Frau, die ein Kind haben will und sich dazu nach Lehrbüchern den besten Vater aussucht, hat vielleicht zu viel Nietzsche gelesen, aber ihren Wedekind hat sie völlig vergessen. Man bemerkt die größere Sicherheit, mit der Kaiser in diesen beiden Stücken ihm selbst wesensfremde Welten auf die Bühne zu bringen wußte, besonders in der „Sorina". Aber man empfin-

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det doch gleichzeitig auch dieses Wesensfremde als solches: Kaiser war in Rußland ebenso wenig zu Hause wie in Wien. Die Komik der „Sorina" ist dem russischen Theater nachgebildet wie die Tragik der „Versuchung" dem österreichischen, besonders dem Schnitzlers. Auf wirklich eigenem Boden stand Kaiser noch nicht. Aber wenn sich hinter diesen beiden Stücken auch deutlich die an der "Jüdischen Witwe" gesammelten Erfahrungen erkennen lassen, die direkten Linien führen doch von der biblischen Komödie hinüber zum „König Hahnrei", in dem man mit Recht insofern ein Seitenstück zu ihr gesehen hat, als Markes Tragödie — oder ist es seine Komödie? — in Wirklichkeit die Tragödie Manasses ist31. In mehr als bloß stofflicher Hinsicht mußten die Gewichte freilich verschoben werden, um den Übergang aus der Welt Judiths in die König Markes möglich zu machen. Dem Dichter kam dabei zustatten, was er in der Arbeit an der „Jüdischen Witwe" gelernt hatte: die Fähigkeit, dramatischen Raum atmosphärisch auszugestalten. Aber während sich ihm, über alle Ironie der Detailschilderung hinaus, die Welt der jüdischen Kleinstadt von der Figur Judiths her mit Leben gefüllt hatte, mußte er die mittelalterliche Szene an Markes Hof mit den ihm ja längst vertrauten Mitteln der Neuromantik künstlich beschwören und konnte es doch nicht verhindern, daß sie am Ende im Literarischen stecken blieb. Einen sentimental stilisierten Raum versuchte er nach bewährtem Muster mit nur leicht skizzierten Menschen zu füllen, deren Schattendasein den alten Mann in ihrer Mitte, Marke mit seiner an sich schon heiklen Problematik, schwer belasten. Hat der Dichter die Tragödie Markes wirklich ganz ernst genommen, oder ist auch hier Tragisches wieder aus der Komödie, auf dem Umweg über die Tragikomödie, zustandegekommen? Man möchte es vermuten, wenn man bedenkt, daß die Bezeichnung „Tragödie" sich erst in der zweiten Auflage findet: die erste hatte noch keinen Untertitel gehabt. Von allen Stücken Kaisers ist der „König Hahnrei" wohl am schwersten zu deuten, und zwar nicht nur der auf den ersten Blick scheinbar forcierten Problematik wegen, die es ihm beim Publikum so schwer gemacht hat, daß es erst rund 20 Jahre

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später uraufgeführt werden konnte, sondern weil hier sehr verschiedene dramatische Faktoren wirken, die jeder geradlinigen Interpretation im Wege stehen. Denn wenn der „König Hahnrei" auch als eine Art Seitenstück neben die „Jüdische Witwe" gehört, so trennt die beiden Stücke dodi, trotz aller offensichtlichen Gemeinsamkeiten, ein fast unübersehbar tiefer Abgrund. Die „Jüdische Witwe" war das letzte Substrat aus Kaisers früher Entwicklung gewesen, in ihr hatte er seine Lehrjahre mit einer eindrucksvollen Meisterarbeit zum Absdiluß gebracht. Der „König Hahnrei" konnte ihre Ergebnisse (besonders die thematischen) verwenden, aber er biegt sie um in etwas durchaus Neues, Zukünftiges, mit dessen völliger Auswertung und Assimilation der Dichter noch lange beschäftigt sein sollte. Vergegenwärtigen wir uns nur das Eine: daß hier die technischen Vorbereitungen für den „Geretteten Alkibiades" getroffen wurden — mit anderen Worten das, was Kaiser später als seinen dramatischen Piatonismus bezeichnet hat. Mit philosophischem Platonismus hat das nichts zu tun, wie schon ein erster Blick auf die Vorgänge des „König Hahnrei" deutlich genug zeigt32. Nicht um Inhalte, sondern um Formen handelt es sich zunächst. Der Fortschritt gegenüber der „Jüdischen Witwe" besteht deswegen darin, daß hier nicht mehr konventionell in Bildern, Szenen und Episoden gedadit wurde, nicht nur in einer dramatischen Architektur von Entsprechungen und Parallelismen, sondern daß der Gedanke selbst sich ins Spiel setzte und schöpferisch wurde, sich seine Welt reiner seelischer Intellektualität schuf. Nicht aus Szenen, sondern aus Zellen setzt sidi das Stück zusammen; was Marke, Tristan oder Isolde an sich und durch sich erleben, ist nicht so wichtig wie das freie Wechselspiel ihres Erlebens, in dem sich die normalen Wertungen des Tuns unter der Hand und aus unbegreiflichen Gründen immer wieder in ihr Gegenteil verkehren: ein Hexensabbath des Denkens, aber auch des Lebens, und deswegen letzten Endes eigentümlich kommensurabel. Alles, auch die Psychologie — und diese wohl zuerst — untersteht dem freien Fluß des sich seinen Gegensatz progressiv ständig schaffenden Gedankens, so daß ein seltsames dramatisches Gewebe von menschlichen Paradoxien zustande kommt, von denen jede ein-

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zelne für sich genommen vielleicht unsinnig sein mag, deren Gesamtheit aber kaleidoskopisch in ein rätselhaftes Bild des Wirklichen zusammenfällt. Nicht, daß Kaiser mit Paradoxen arbeitet, ist das Besondere, sondern daß er die Linie dieser Paradoxe in immer neuer Abwandlung und Verwandlung bis zu dem Punkt verfolgt, an dem sie sich im doppelten Paradox aufheben — in jenem Augenblick nämlich, da Marke die Liebenden an den Hof zurückholen muß, weil er ihr Fernsein nicht mehr erträgt, die Zurückgekehrten sich aber den Verlust ihrer Liebe einzugestehen haben: und jetzt, da sich alles selbst zu lösen scheint, vollzieht Marke die Strafe, ohne aber doch die Strafe selbst zu vollziehen, denn er löscht nur das sinnlos Gewordene aus. Doch noch einmal überschlägt sich die Handlung, die Tragödie findet zurück in die Komödie, als Marke nachträglich Tristans Untreue an Isolde erkennt. Im wilden Gelächter Markes endet das Spiel: Der „Schlingel Tristan — hat mit der Magd — gelegen —! — indes die Herrin mit ihrem Herrn lag — N i c h t s von all den Problemen wird gelöst, ja man könnte geradezu meinen, daß jedem Lösungsversuch sorgfältig ausgewichen würde, aber gerade dadurch wird dem Spiel der Paradoxe eine Eindringlichkeit verliehen, die es ins Symbolische hinüberführt. Das aber sind Dinge, für die wir vielleicht heute wohl mehr Sinn haben als die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Besonders schwer — und vielleicht auch unnötig — ist es, den „König Hahnrei" psychologisch zu deuten oder wenigstens in seinen Grundlinien zu erfassen. Denn selbst wenn wir annehmen, daß das Stück wirklich ursprünglich als Komödie konzipiert worden war, so bleibt es doch rätselhaft, was einen jungen Mann, der gerade das dreißigste Lebensjahr überschritten hatte, bewegen konnte, sich so eingehend mit dem sexuellen Dilemma des alten Mannes zu beschäftigen — und das gleich in doppelter und dreifacher Ausführung. Denn den Gestalten Manasses und Markes schließt sich ja, wenn auch nun ganz ins BeschwingtSpielerische gewendet, die des König Agenor in der „Europa" an: ein drittes Mal greift Kaiser hier, in einer dem Mythos lebendig verwachsenen Komödie, das Problem der Impotenz auf, erweitert nun aber über das Individuelle hinaus ins GesellЭ Paultcn

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schaftliehe und Menschliche überhaupt. Als „Tanzspiel" hat er sein Stück bezeichnet, wohl um damit den wesentlichen Unterschied von all seinen bisherigen Komödien und Tragikomödien anzudeuten, und tatsächlich laufen die verschiedenartigsten Strömungen in ihm zusammen, von der Parodie und Satire bis zum mythologischen Scherz. In der „Europa" spricht zum ersten Male der Dichter, dessen Werk, nach langen und verschlungenen Umwegen, in einer schöpferischen Besinnung auf die Antike („Griechische Dramen") gipfeln sollte. Angesichts einer solchen Eindringlichkeit der dramatischen Fragestellung aber liegt es nahe, hinter der Symbolfigur des „alten Mannes" eine Konfliktsituation zu vermuten, die über allen rein literarischen Oppositionismus hinaus zutiefst Kaisers eigene gewesen sein muß. Wir dürfen nur die Figur nicht als solche, nicht wörtlich nehmen, sondern müssen uns zunächst einmal daran erinnern, welche Bedeutung sie überhaupt für die neuromantische Generation, der Kaiser in eben diesen Jahren zu entwachsen begann, gehabt hat. Wir können dabei beobachten, wie sehr Kaiser hier wie überall Persönliches in rein Literarisches aufzulösen verstand. Denn hinter Manasse, Marke und Agenor steht der Alte oder Alternde der Hofmannsthal-Generation, dem das Leben unbemerkt entglitten ist, der Einsame und Verlassene, der „am Leben hin" zu leben Verurteilte mit seinem durch den Verlust geschärften Sinn für die Rätsel des Daseins, menschlicher Schatten bereits, aber doch auch menschliches Schicksal schlechthin. Soziologisch gesehen erscheint dieser Typus in den verschiedensten Spielarten, die doch alle auf ihre Weise immer wieder dasselbe aussagen: als Don Juan (man denke besonders an Sternheims Dichtung) oder Anatol, vor allem aber als der bürgerlich untüchtige Künstler wie bei Thomas Mann, Hauptmann oder Hesse. In diesem Lichte gesehen ist Hofmannsthals viel und doch nicht das Richtige wissender Claudio — auch er an der Grenze der Jugend bereits ein Alternder — seinem Wesen nach Dichter wie Tonio Kröger. Aber während der Neuromantiker so gerne die Maske des verblühenden Menschen aufgriff, weil er durch sie das entgleitende Leben wenigstens in der Vorstellung zu genießen vermochte, fehlt dem alten Mann in Kaisers Dichtun-

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gen jede derartige sentimentale Magie. Weder Manasse noch Marke kennen jenen Blick in die Vergänglichkeit allen Seins, und nichts liegt ihnen ferner als die Klage über die „temps perdu". Das Symbolhafte an ihnen weist auf eine völlig andere Welterfahrung: der Abgrund, der sich vor ihnen auftut, ist nicht der Abgrund zwischen Mensch und Sein, sondern zwischen Mensch und Mensch. Nicht das Leben entschwindet ihnen — sie glauben ja, es mit allen möglichen Künsten festhalten zu können — sondern die menschliche Beziehung, verkörpert in der mit allen Sinnen begehrten Frau. Aber das ist nun wieder nicht nur die besondere Problematik Manasses oder Markes, es ist die Problematik des Kaiserschen Mannes überhaupt, der sein Versagen gegenüber der in ihrem Empfinden so lapidaren Frau tragisch erlebt. In den drei „Komödien", von denen hier zunächst die Rede ist, wird der naturhafte Gegensatz von Mann und Frau, die verschiedene menschliche und sittliche Höhe ihres Seins, durch den Altersunterschied ins allzu Offensichtliche verschärft. Das Entscheidende ist, daß Judith, Isolde und Europa Wesen sind, an denen gemessen jeder Mann, gleichgültig welchen Alters, gleichgültig wie lächerlich oder wie für den Augenblick erhaben auch seine Erscheinung sein mag, zu einem Nichts zusammenschrumpft. Gewiß, sie sind nicht alle „Heldinnen" von Judiths etwas beängstigendem Kaliber, Amazonen oder Dämonen (obgleich den größten unter ihnen das Dämonische selten ganz fremd ist), aber sie haben doch alle diese aus dem Instinkt geborene Sicherheit des Wissens, die sie in keinem Augenblick verläßt; sie können in ihr zur scheinbaren Marmorkälte erstarren wie Isolde, aber sie können sich auch bedenkenlos zum Opfer bringen wie Sylvette (im „Brand im Opernhaus"), ja selbst die raffiniertesten Morde können sie begehen auf dem ihnen einmal vorgeschriebenen Weg (wie Rosamunde Floris). Die Sicherheit des Gefühls kann ans Pathologische grenzen — aber das sind Dinge, von denen der junge Georg Kaiser noch nichts weiß. Es wäre für uns nicht ganz unwichtig zu wissen, warum und auf welche Weise Kaiser damals die Judith-Marke- und EuropaStoffe aufgegriffen hat. Eine ursprünglich rein parodistische Absicht, die ja dem jungen Dichter ohnehin gemäß war, wäre gewiß 3·

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Hebbel und Wagner gegenüber, mit denen er sich irgendwann hat auseinandersetzen müssen, nicht von der Hand zu weisen. Die Parodie ist zudem eine Waffe, nach der junge, ihrer selbst noch nicht sichere Dichter immer gerne gegriffen haben, und es hat Augenblicke gegeben — wie etwa zur Zeit des Dada — in denen eine junge Dichtergeneration derartige laxative Bilderstürmereien kollektiv betrieben hat. Anspruch und Forderung der weit über die Musikgeschichte hinaus bedeutsamen Schöpfung Wagners, sowie Hebbels technische und dichterische Leistung haben um die Jahrhundertwende augenscheinlich jeden werdenden Dramatiker zur Besinnung gezwungen. Was Hebbel für den jungen Georg Kaiser bedeutet hat, werden wir noch wenigstens anzudeuten haben. Wagner aber ist der ganzen neueren deutschen Geistesgeschichte überhaupt zum Schicksal geworden, wobei aber sofort ergänzend hinzugefügt werden muß, daß sich gerade in Hinsicht auf Wagner die Reaktionen von der neuromantischen zur expressionistischen Generation bedeutsam verschoben haben. Denn während die Neuromantiker, die über den Symbolismus hinaus mit Wagners Welt und Werk schon genetisch verbunden waren, noch kaum einer kritischen Stellungnahme zu ihm fähig gewesen sind, hat die Jugend um Kaiser in dem Augenblick, als sie sich selbst gefunden hatte, mit Wagner gebrochen, ihn nicht mehr als ästhetisches, sondern nur noch gewissermaßen als soziologisches Phänomen nehmen wollen: Wagners Musik wurde für sie zu einem typischen Ausdruck deutscher Bürgerlichkeit, und zwar in rein negativer Bedeutung. Wir vergegenwärtigen uns diese tiefgreifende Wandlung vielleicht am leichtesten, wenn wir Heinrich Manns Lohengrin-Persiflage (im „Untertan") neben die Gestaltung des Wagner-Erlebnisses in Thomas Manns „Buddenbrooks" halten: beide Deutungen sind für ihre jeweiligen Zeitpunkte ganz sicher gleichermaßen berechtigt gewesen. Auch an Robert Musils spätere, an der Position des Expressionismus noch durchaus festhaltende Verarbeitung des „ W a g n e r Themas wäre zu erinnern. („Mann ohne Eigenschaften"). Kaisersche oder Sternheimsche — aber auch schon Wedekindsche — Komödienfiguren jedenfalls hämmern Wagnersche Melodien auf Л е т Klavier, um die emotionale Unzurechnungsfähigkeit des

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deutschen Philisters zu illustrieren. Der Name Wagners fällt, und jedermann ist schmunzelnd im Bilde. Solche Brüskierung von immerhin entscheidenden kulturellen Erscheinungsformen beruht jedoch zumeist auf einer sehr ambivalenten Einstellung zu ihnen; Die Abkehr von Wagner war für die jungen Leute im Banne des Expressionismus — um einmal an dieser etwas elastischen Bestimmung festzuhalten — symptomatisch für den Bruch mit der eigenen Vergangenheit. Das wird sehr deutlich, wenn wir uns die frühen Entwicklungsstufen bei Kaiser oder Sternheim ansehen. Beide haben in ihren Anfängen vor den Altären Wagners ihre Opfer dargebracht. Den Wendepunkt bei Kaiser bedeutet der „König Hahnrei", was sich schon daran erkennen läßt, daß ein Tristan, der das Absolute seiner Liebesfähigkeit einbüßt, an die Seite der dem Geschmack der Zeit viel gemäßeren Casanova und Don Juan rückt. Dieser Brudi mit der fraglos durch Wagners Oper propagierten mythologischen Konvention war für den jungen Dichter eine Notwendigkeit gewesen33, aber es fragt sich doch, ob es genügt, darin nicht mehr zu sehen als eine dichterische Umschaltung auf den Zeitgeist. Mit dem geistesgeschichtlichen Vorgang mußte sich ein persönliches Anliegen verbinden, um den ganzen Fragenkomplex erst dichterisch zu befruchten. Wenn der Glaube an die mögliche Stabilität des Gefühls (Tristan) sich in einen erotischen Impressionismus (Casanova — Don Juan) auflöste, so entsprach das dem Wissen des gereiften Dichters um die tragische Unfähigkeit des Mannes zur Liebe33®, oder doch ihrer Erhaltung, zur Treue. Die romantische Verherrlichung des Gefühls, das Schwelgen in ihm, ist einer tiefen Skepsis gewichen, das Absolute dem Relativen. Damit ergab sich ihm doch aber auch wieder ein ganz neuer Zugang zur Tragödie (um den Sternheim in seinem „Don Juan" so vergeblich gerungen hatte, weil er seinen Gegenstand nur zu genießen, nicht aber ihn tragisch zu durchdringen vermocht hatte) — ein ganz neuer Zugang zunächst vor allem zum Tristan-Stoff. Denn der alte Marke, der den jungen Liebhaber seiner Frau ermordet, als dieser mit liebeleeren Händen vor ihn hintritt, verhindert mit dieser Tat den Einbruch der Wirklichkeit in seine illusionäre Welt. Man mag sich an der opernhaften Stilisierung des Vor-

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gangs stoßen, aber man wird sich kaum dagegen verschließen können, daß die weitausholende schauspielerische Geste, deren Kaiser sich hier bedient, eine sehr komplexe dramatische Situation verhüllt. Gewiß, was an der Handlungsweise Markes als erstes in die Augen springt, ist die in der realen Welt zwar ungültige, im Bereich des Psychologischen — oder sollte man sagen: des Pathologischen? — aber doch sinnvolle Selbstbefreiung und damit der Durchbruch des Mannes Marke in die Beständigkeit. Ihm gelingt, was Tristan versagt war: das Festhalten am Gefühl, die Treue — wenn auch nur in der Illusion. Wäre die Beseitigung Tristans aber lediglich unter solchen Gesichtspunkten erfolgt, so wäre sie doch wieder nur Mord und für Marke Schuld. Es ist aber unverkennbar, daß sich in Kaisers Interpretation Marke ebenso wenig an Tristan vergeht, wie sich dieser vorher an Marke vergangen hatte. Denn Tristan hat mit seiner Liebe Marke nicht beraubt, sondern vielmehr ihm, dem Alten, seine eigene ungebrochene Männlichkeit und Liebesfähigkeit geliehen. Marke und Tristan sind für Kaiser nicht dramatische Gegenspieler, sondern männlich-menschliche Entsprechungen. Einer ganz ähnlichen Frage ist später Thomas Mann in der indischen Legende von den „Vertauschten Köpfen" nachgegangen, die ebenso wenig wie Kaisers „König Hahnrei" ihre Herkunft aus der Welt der Neuromantik verleugnen kann. Markes Schuld ist daher auch Tristans Schuld, und wenn von beiden nur Tristan diese Schuld sühnen muß oder zu sühnen scheint, so liegt das daran, daß die Schuldfrage durch die grelle Überbelichtung der Seelenstudie eines notorischen Hahnreis verdunkelt wird. Das eigentliche Drama verliert sich — ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt — in dem breiten Schatten, den Markes Figur auf die Bühne wirft. Eine solche Verschiebung der dramatischen Werte und Akzente ist aber für den Dramatiker Kaiser typisch — in der „Koralle" hat er, um nur ein Beispiel zu nennen, und zwar das bekannteste, auf ganz ähnliche Weise sein dramatisches Urproblem von einer sekundären Problematik überwuchern lassen. Es hieße deswegen, die Frage nach der Bedeutung des „König Hahnrei" völlig falsch stellen, wollte man die Antwort bei Marke selbst suchen. Die Problematik des „alten Mannes" bleibt letzten

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Endes eine Scheinproblematik. Viel wichtiger wäre es zu wissen, was Kaiser vermodit hat, die Gestalt eines Tristan zu beschwören, da ihm an Liebestrank und Liebesnot doch offensichtlich nicht viel gelegen war — gerade diese Elemente des alten Stoffes werden bagatellisiert, ins Episodische wegrationalisiert. Aus der Perspektive von Neuromantik und Wiener Schule gesehen, sollte man sich am ehesten noch wundern, daß Kaiser nicht gleich einen Casanova- oder Don-Juan-Stoff aufgegriffen hat, anstatt Tristan in einen solchen erst umzubiegen. Geschah das etwa wieder nur aus jugendlich frivolem Übermut? Nun ist aber doch festzustellen, daß bei aller eigenwilligen Verwandlung die TristanFigur doch nicht einfach zu einem Casanova geworden ist — oder bestenfalls: daß er an dieser Verwandlung gerade am Ende scheitern muß. Weder für Casanova noch für Don Juan, diese Prototypen des Biologisch-Männlidien, wäre der Verlust einer Geliebten, das Absterben des Gefühls, Anlaß zu besonderer Tragik gewesen. Auf reizvolle Schilderungen amüsanter Liebesabenteuer hat Kaiser sich zudem ja auch nie eingelassen. Sein Tristan ist kein Anatol. Es wäre deswegen vor allem daran zu erinnern, daß es im „König Hahnrei", trotz aller — wenigstens bei Kaiser — heiklen Qualitäten des Gegenstandes, gänzlich ohne Frivolitäten abgeht, was um so bemerkenswerter ist, als zum mindesten der Komödiendichter Kaiser keine besondere Aversion gegen das Frivole an den Tag gelegt hat. Man ist aber nicht frivol, wo man seiner selbst so wenig sicher ist. Und hier haben wir denn auch den Punkt, an dem Judith und Tristan sich grundsätzlich und wesensmäßig voneinander unterscheiden. Denn wenn Judith so lange nicht ihr Ziel erreicht, so liegt das, wie bereits angedeutet, sicherlich nicht an ihr, sondern an den anderen; von ihr aus gesehen ist die dramatisch so grandios gestaltete Frivolität am Ende ihrer Laufbahn auch gar nicht frivol, sondern der natürliche Ausdruck der Unbekümmertheit, mit der sie, als typische KaiserFrau, über Konventionen und alle männlichen Unzulänglichkeiten hinwegschreitet. Nicht frivol ist es, sondern ironisch — auf eine freilich auch vor den letzten Dingen nicht haltmachende Weise. Denn der Mann, der Judith schließlich erfüllt, ist ja auch wieder kein Mann, da der Hohepriester als ein solcher gar nicht

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in Frage kommen sollte und auch auf die Dauer gar nicht in Frage kommt. (Wir wollen dabei nicht entscheiden, wie weit diese großartige Schlußszene, die mit dem symbolischen Vorgang des Opfers auf eine so menschlich-allzu-menschliche Weise spielt, auf christlichen anstatt auf jüdischen Vorstellungen vom Priestertum aufgebaut ist.) Die Zukunft der Heldin und ihres „Erlösers" liegt schon wieder außerhalb des Rahmens der „Jüdischen Witwe", aber es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, wie diese für Judith ausgefallen ist: auch der Hohepriester wird, wie Tristan vor Isolde, mit leeren Händen vor ihr stehen. Was aber ist mit dem Mann anzufangen, wenn selbst so vollkommene Exemplare des Männlidien versagen? Nicht er, nur die Frau, vermag, Liebe und Glück, vermag einen anderen Menschen im tiefsten menschlichen Erlebnis festzuhalten. Sie ist bei Kaiser das beständige Element im dramatischen Konflikt, so daß man geradezu die Feststellung machen könnte, alles kreise in vollkommensten Schöpfungen um die Frau, und zwar nicht nur in den Werken der Frühzeit, sondern vor allem und in zunehmendem Maße dann in den späteren Dichtungen. Während nämlich in der „Jüdischen Witwe" die Frage noch offen bleibt, wer hier opfert und wem ein Opfer gebracht wird, wird die Selbstaufopferung später zu dem eigentlichen Selbstausdruck der Frau. Im Opfer, dessen der Mann nicht fähig ist — und darin besteht seine Tragik — bewährt sie jeweils ihre reine Menschlichkeit. Jeanne d'Arc (in „Gilles und Jeanne") wird diese weibliche Qualität rund zehn Jahre später ins Denkmalhafte steigern; aber Jeanne spricht uns gerade deswegen weniger an als fast jede andere Heldin Kaisers: das Monumentale ist hier zu sehr schon ihre Voraussetzung, so daß sie für uns im Historischen befangen bleibt. Am sublimsten erwächst die Tat der Frau bei Kaiser wohl immer dort, wo ihr solche Prädispositionen fehlen, wo sie nichts ist als weibliches Wesen von Fleisch und Blut. Nur einmal hat Kaiser diese seine dramatische Urproblematik wirklich invertiert und eine Frau zum Phänomen existentieller Unbeständigkeit werden lassen, und zwar in der „Flucht nach Venedig". Aber was er uns in George Sand vor Augen führt, ist ja gerade nicht

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die Frau „an sich", sondern die aus dem weiblichen Bereich herausstrebende Dichterin. Kaiser operiert hier gewissermaßen experimentell mit umgekehrten Vorzeichen, aber das gibt ihm die Möglichkeit, die Gestaltung einer gebrochenen Frauenfigur in eine Kritik an ihr umzubiegen — eine in seinem Werk ungewöhnliche Situation. Interessant wäre es nun zu wissen, inwieweit auch schon die ersten dramatischen Versuche Kaisers um diese Problematik kreisen. Im „Schellenkönig" gibt es noch keine tragende Frauenrolle: das Fießende der ausschließlich männlichen — freilich einer einigermaßen neuromantiseh-eflfeminierten — Welt entbehrt noch des weiblichen Kontrapunktes. In den „Dornfelds" (und hier müssen wir uns auf die reichlich sarkastische Darstellung bei Schütz verlassen) 34 scheinen die beiden Schwestern, bei aller sexuellen Pervertiertheit, doch bereits auf den Judith-Charakter hinzutendieren, jedenfalls fallen die beiden Brüder in ihrer H a l t losigkeit scharf gegen sie ab. Schütz macht auf Ibsen und Strindberg als Vorbilder aufmerksam, aber die Konstellation der Figuren erinnert doch eher an Hebbels „Maria Magdalena". Klarer liegen die Dinge schon in „Hete D o n a t " , wie bereits aus dem Motto hervorgeht, das Kaiser seinem Stück vorangestellt hat, jene Zeilen nämlich aus dem ersten A k t von Kleists „Käthchen von Heilbronn". DER GRAF VOM STRAHL

Was fesselt dich an meine Schritte an? KÄTHCHEN

Mein hoher Herr! Da fragst du mich zuviel. : ich weiß es nicht. Aus der Darstellung bei Schütz 35 wird deutlich, daß es sich hier im wesentlichen um ein Künstlerdrama im Stile des N a t u ralismus handelt. Donat, ein „sich angeblich zum Bildhauer berufen" fühlender „Tunichtgut" (Schütz), lebt vom Vermögen seiner Frau, die er trotzdem „in jeder Beziehung" belügt und betrügt. Sie will nicht wahrhaben, daß er „ihrer überdrüssig geworden ist", und hält an ihm fest. A l s ihm die Möglichkeit ge-

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boten wird, „nach Ubersee zu fahren und dort neu zu beginnen, widersetzt sich Hete in ihrer Besessenheit." Es ist nicht schwer, all dieses rein Literarische zu durchschauen und Kaisers dramatische Grundsituation bereits zu erkennen: die Lüge als Daseinsform des Mannes konfrontiert mit der Besessenheit einer unbeirrt ihren Weg zu Ende gehenden Frau. Die Frau hat das „Vermögen", von dem der Mann lebt: bei ihr liegen augenscheinlich die gültigeren Werte, audi wenn der junge Dichter sich noch ganz konventionell müht, die Schuld im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit objektiv zu verteilen. Die auf die „Jüdische Witwe" und den „König Hahnrei" folgenden und die impressionistisch-neuromantische Linie fortsetzenden Stücke der nächsten Jahre lassen dann gar keinen Zweifel mehr darüber, wie entscheidend das Erlebnis der Frau — in diesem urtümlichen, das Sexuelle transzendierenden Sinne — schon damals gewesen ist. Man sollte sich nicht wundern, daß ein dem dramatischen Rationalismus später so verfallender Dichter wie Kaiser jemals in die Nähe Wedekinds hat geraten können, sondern vielmehr über die geradezu traumwandlerische Sicherheit, mit der er so jung seine Eigenart der Wedekind-Magie gegenüber zu wahren gewußt hat. Was wir an Hand der „Jüdischen Witwe" und des „König Hahnrei" herauszuarbeiten versucht haben, wird in den Stücken vom „Brand im Opernhaus" über das „Frauenopfer" und vieles andere hin bis zum (1927 entstandenen) „Oktobertag" immer wieder dramatisches Ereignis. Nach den schlechthin menschlichen Möglichkeiten wird gefragt und gesucht, die aber an der Unfähigkeit des Mannes zum glaubenden Vertrauen in der Liebe immer wieder zerbrechen müssen. Denn auch im „Oktobertag" muß der Mann erst umständlich auf die rechte Spur gebracht werden, und ob er sich in dem großen Geschehen seines Lebens bewähren wird, ist keineswegs ausgemacht: Kaiser läßt die Frage nach dem Ausgang offen, verwischt sie geradezu in einem alle Wirklichkeit aufhebenden Illusionismus am Ende des Stückes und tut, als ob die Polizei da nicht ihr Wörtchen mitzureden hätte. Damit deutet sich aber doch auch schon wieder eine entscheidende Verschiebung der dramatischen Gewichte an. Aus dem Mann, der

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sich in unfaßbarer Blindheit immer wieder seinen Traum selbst zerschlägt, wird eine Marionette des Schicksals, ein Etwas, das zu schieben glaubt, bis es gelernt hat, daß es geschoben wird. In Kaisers Spätwerk stehen sich Mann und Frau dann ganz anders gegenüber. Die Frau ist zwar immer noch die aus ihrer innersten „Besessenheit" heraus Handelnde und damit das Schicksal gleichsam Herausfordernde. Sie ist erstaunlicher Taten fähig, die sie mit einer fast spielerischen Sicherheit auszuführen vermag: mitten im Krieg findet sie durch Schnee und Eis ihren Weg bis an die russische Front, um sich dem Mann in mystisch-somnambulem Geschehen zu verbinden („Agnete"); sie kann morden, und gleich mehrfach, wenn es sein muß, ohne auch nur den leisesten Skrupel zu empfinden („Alain und Elise", „Rosamunde Floris"). All das ist Ausdruck ihrer absoluten, das menschliche Maß weit hinter sich lassenden Unmittelbarkeit des Gefühls, und in einer solchen Welt des Gefühls ohne Grenzen und Hemmungen stehen sich Mann und Frau nun im Grunde wieder gleichwertig, wenn auch auf ihre Art verschieden, gegenüber. Liebe — das weiß Kaiser nun — ist mehr als Leidenschaft und gläubiges Vertrauen, sie ist ihrem Wesen nach Magie und als solche jenseits von Gut und Böse. Tragik ergibt sich dem Dichter nicht direkt aus der Hybris des Gefühls, nicht aus einem Versagen des Herzens, sondern aus dem Schicksal. Denn das Schicksal ist eine Macht, die sich wenig um die Absolutheiten zweier Liebender kümmert; von außen her greift es in die Vorgänge ein, sei es nun als bloßer Zufall („Adrienne Ambrossat"), um vor allem komische Wirkungen zu erzielen, oder als unvermeidlicher Widerstand von Seiten der realen Welt. Was immer es ist, es ist unbegreiflich, und der Mensch muß es hinnehmen. Von solchen dramatischen Positionen aus aber war es nur noch ein Schritt in die Schicksalsgläubigkeit der griechischen Tragödie, den Kaiser am Ende seines Lebens denn auch getan hat. So ergibt sich uns das Bild von der dichterischen Entwicklung Kaisers in zwingender Notwendigkeit von den ersten Anfängen bis zu dem großen Finale seines Werkes. Er hatte ungewöhnlich lange nach der ihm gemäßen dramatischen Form und Sprache zu suchen, denn Form und Sprache waren für ihn nichts Primäres,

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wie man wohl gemeint hat, sondern sie ergaben sich ihm erst, nachdem er den Schlüssel für das zentrale Geschehen seines dramatischen Wollens gefunden hatte. Nicht mit seiner Dramaturgie, nicht mit irgendwelchen sprachlichen oder technischen Errungenschaften hat Kaiser sein Drama als einmalige Leistung vor sich und uns aufzuführen vermocht, sondern dadurch, daß er schließlich auf den Ansatzpunkt gestoßen ist, von dem aus sich seine Welt dramatisch bewegen ließ, auf das ihm und seinem dichterischen Wesen zutiefst entsprechende Urphänomen seines dramatischen Schaffens: das Mißverstehen, in dessen weitestem Wortverstand, als Ausdruck eines von Kaiser wohl selbst tief erlebten Versagens im menschlichen Kontakt. In vielen und immer wieder neuen Spielarten tritt es bei ihm in Erscheinung, vom unbewußten Nicht-wissen bis zum bewußten Nicht-wissenwollen, das in den Bereich der Lüge hinüberspielt. Die Vermutung liegt nahe, daß sich ihm das Miß verstehen als dramatisches Prinzip aus verschiedenen Faktoren ergeben habe, nicht zuletzt auch aus Wedekinds Technik des Aneinandervorbeiredens, denn Menschen, die sich mißverstehen, reden ja wirklich in einem tieferen Sinne „aneinander vorbei". Aber was für Wedekind, bei aller Virtuosität seiner Dialogführung, letzten Endes doch ein recht äußerliches Mittel geblieben war, hat Kaiser vertieft und zum wesentlichen Träger der dramatischen Handlung gemacht. Das Miß verstehen läßt nämlich nicht nur eine Fülle von dramatischen Verwicklungen zu, es ist auch durchaus fähig, innerste Schichtungen der menschlichen Seele bloßzulegen, das Sein hinter dem Schein zur momentanen Anschauung zu bringen, den Menschen „an sich" unter seiner furchtbaren Daseinsverkrustung. Das sind Dinge, die Wedekind mit seinen doch noch ganz dem Naturalismus verpflichteten Methoden nicht fassen konnte, und auch bei Kaiser gibt es Augenblicke, in denen das Unbewußte des Mißverstehens viel zu bewußt gehandhabt wird, um seine volle Wirkung zu tun. Andererseits verschafft es ihm doch aber die Möglichkeit, die Abgründigkeit des menschlichen Herzens zur Anschauung zu bringen, oder doch wenigstens ahnen zu lassen, und in den größten Momenten wird der auf solchem Mißverstehen beruhende Vorgang zu einem gültigen Ausdruck für

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die innere Widersprüchigkeit des Daseins. Im „Gärtner von Toulouse" weiß Frau Th6ophot davon, wenn sie auf diabolische Weise ihre Einsicht in diese Dinge so formuliert: „Du mißverstehst mich, liebes Kind, doch brauchen wir die Miß Verständnisse, um uns erträglicher zu verständigen."88 Es ist Kaiser zuerst schwergefallen, das Verhängnis des Mißverstehens und der Lüge aus seinen Charakteren erwachsen zu lassen. Wenn etwa Herr von *** (im „Brand im Opernhaus") Sylvette bei ihrer Lüge ertappt und nun, im Gefühl der Erschütterung, sie so auslöscht, daß er sie angeblich nicht einmal mehr sieht, und wenn er weiter, in seinem Zustand seelischer Erstarrung, nicht versteht oder nicht verstehen will, was nun in Sylvette vor sich geht, wird uns die Konstruktion all dieser Begebenheiten Schwierigkeiten machen. Herr von *#* brauchte nur einen Augenblick der Besinnung, meinen und hoffen wir bis zuletzt, um das tragische Miß Verständnis aufzulösen. Schon von Anfang an ist die Situation schief, denn welches Recht hat dieser Herr von *** auf eine Frau, menschlich gesehen, die er sich mehr oder weniger zu seinem Spezialvergnügen gekauft hat? Audi hier werden die Zusammenhänge erst ganz klar, wenn man versteht, wie sehr die Problematik der Frau die des Mannes nur verdeckt. Sylvettes Opfertod ist nicht Sühne (oder doch nur zum kleinsten Teil), sie geht nicht an ihrem Fehltritt zugrunde, sondern daran, daß ihr Erlebnis sie zum wahren Menschen erwachsen läßt, während ihr Mann, der Herr von ***, vom Menschlichen bis zuletzt, bis es zu spät ist, unberührt bleibt. Es ist also das Problem der „Trägheit des Herzens" (Wassermann), ein sehr „expressionistisches" Problem, mit dem Kaiser sich auseinandersetzt. Das Zwingende seiner Dichtung, ihr trotz allem unvergleichlicher Wert, liegt daher nicht so sehr in der Konsequenz der Themenentwicklung, in der dramatischen Beantwortung einer damals sehr aktuellen Frage, sondern in dem von Szene zu Szene sich immer mehr verdichtenden Eindruck der Unmöglichkeit jedes Verstehens von Mensch zu Mensch. Wieder gipfelt das Spiel in einem alles offenbarenden Paradox: So lange Sylvette nur Sylvette blieb, konnte der Herr von %* nichts als die Kurtisane in ihr sehen; als sie dann aber, in jäh erwachendem Entschluß, wirklich

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die Geschichte der Kurtisane des Königs auf sich nimmt und sich ins Feuer stürzt, in dem jene umgekommen ist, wird sie für ihn zur Alceste, die für den geliebten Mann in den Tod zu gehen vermag — genau wie die Gräfin Lavalette im „Frauenopfer". Sie stirbt, damit er leben könne — so dürfen wir wohl den letztenAusruf des Herrn von *** („Alceste!!") deuten, in Anlehnung eher an Hofmannsthal als an Euripides. Nicht sie ist schuldig, sondern er. Ganz anders hat Kaiser diese Dinge dann zehn Jahre später im „Oktobertag" angefaßt. Catherines Mißverstehen liegt, obgleich es an sich — das heißt: real genommen — viel unwahrscheinlicher ist, tief in ihrer Natur begründet. Sie braucht nicht erst mit ihrem Schicksal zu verwachsen, wie Sylvette, nicht wandeln muß sie sich, nidits hinzulernen — sie hat nichts anderes zu tun, als sich selbst treu zu bleiben. In diesem Fall liegt die Wandlung ausschließlich beim Mann: er wird ihr ebenbürtig dadurch, daß er in ihre auf dem Boden des Besser-wissens, resp. des notwendigen Mißverstehens, beruhende Wirklichkeit einzugehen vermag. Herr von*** wäre zum Menschen geworden, wenn er den Weg Costes zu gehen fähig gewesen wäre. Die Verhältnisse liegen also umgekehrt: während Sylvette zu Beginn ihres Stückes als das „reine Mädchen" dasteht, ohne es wirklich zu sein, ist Catherines Daseinsform für Coste anfänglich die einer unbegreiflichen Lüge. Er versteht nicht, „daß jemand mit der unschuldvollsten Miene eines Engels raffinierter lügt als jeder Gauner mit der Fratze eines Affen" 37 . Dem Herrn von *** zerfällt die angebliche Wahrheit in den Händen zur grauenvollen Lebenslüge, während für Coste im Vertrauen, in der Überwindung seiner „Trägheit des Herzens", die scheinbare Lüge zur Wahrheit wird, angesichts derer alles andere, selbst die im Wege stehenden Menschen, belanglos ist. Es ist nun aber zu betonen, daß das Miß verstehen bei Kaiser nichts Zufälliges ist, nicht einmal nur eine Fehlleistung, selbst wenn man diese in ihrer ganzen seelischen Notwendigkeit begreift. Das Mißverstehen, wie es uns in seinen Dramen begegnet, beruht auf einem andersartigen Werten der Dinge der Welt sowie dem Zwang, diese Andersartigkeit durchsetzen. Die bei-

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den Pole, um die es kreist, sind Reinheit und Lüge — in jedem Fall aber grenzt es an die Lüge, so daß diese zu einem sehr ernsten Problem wird37". Die Lüge spielt in Kaisers Werk eine so dominierende Rolle, daß es jedenfalls völlig verfehlt wäre, in ihr lediglich ein technisches Hilfsmittel zu sehen. Der Schluß liegt wohl nahe, daß wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das, um ganz gedeutet zu werden, aus der Psychologie des Dichters heraus verstanden werden müßte. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, wie die Lüge seine Menschen immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt bringt und vor den Stuhl des Richters führt, der dann freilich doch wieder nicht als zuständige Instanz in Frage kommt. Rechtsprechung erstreckt sich bei Kaiser auf einen weiten Umkreis des Menschlichen und geht in den größten Augenblicken über ins Rituelle: sie wird zur Zeremonie in den „Bürgern von Calais" und zur Farce in „Alain und Elise". Dabei fällt auf, daß schon in Kaisers Frühwerk (zum Beispiel im „Fall des Schülers Vehgesack" oder im „Rektor Kleist"), lange bevor er selbst, im Jahre 1921, seine verhängnisvollen Erfahrungen mit der Justiz zu machen hatte, Gerichtsverhandlungen in irgendeiner Form eine wichtige Rolle im Aufbau der Stücke spielen. Der Kaisersdie Mensch steht eben existentiell vor Gericht, er ist zur Verantwortung aufgerufen wie der Kafkas. Es trifft nicht zu, daß erst Kaisers eigene Erfahrungen diese dichterische Disposition geschaffen hätten, wenn sie sie auch sicher konkretisiert und verschärft haben. Genau das Gegenteil ist richtig: Kaiser hat bei all seinen Verfehlungen — wie sehr sie auch durch die finanzielle Notlage bedingt gewesen sein mögen — unter einem Zwang gehandelt, er hat die persönliche Konfrontierung mit dem Richter triebhaft gesucht, es auf das Erlebnis vor dem Richterstuhl, mehr noch als auf die Erfahrungen im Gefängnis, wie er es selbst dargestellt hat, angelegt. Nicht das Gefängnis — mit dem er sich in dem völlig mißlungenen Stück „Noli me tangere" schon während der Inhaftierung viel zu vorschnell auseinanderzusetzen versuchte —, sondern das Gericht ist für sein späteres Werk daher auch zu einem entscheidenden Handlungssymbol geworden. Man darf sidi nur nicht von dem Ton täuschen lassen, mit dem er sich selbst einst vor

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Gericht verteidigt hat: in jenem Augenblick hat er die Rolle in einem seiner eigenen Dramen — in seinem Lebensdrama — vor aller Öffentlichkeit agiert. Nicht was er in maßlosen Übertreibungen ausgesprochen, sondern was er dabei verschwiegen hat, rührt wirklich an den Kern seines Wesens. Das wird deutlidi, wenn man die Vorgänge in seinem eigenen Prozeß mit den Gerichtsszenen in seinen Dramen, besonders den späteren, vergleicht. Wie verschieden auch die Anlässe in den einzelnen Fällen sein mögen, in denen Kaiser Menschen vor ihren irdischen Richter stellt, es wird da mit Maßen gemessen, die Kaiser für sich selbst damals ausdrücklich abgelehnt hatte: mit denen der Moral. Dadurch kommt das Groteske in so viele dieser Szenen: Kaisers Verhältnis den gegebenen Werten gegenüber ist in solchen Augenblicken nicht ironisch, sondern ambivalent: die Ironie unterstreicht bestenfalls die Gespaltenheit seines Werturteils, sie veranlaßt sie aber nicht. Der Richter hat recht und unrecht, ebenso wie der Angeklagte recht und unrecht hat, denn der Richter ist nicht nur Wächter über die gesellschaftliche Ordnung, sondern auch Sinnbild der höchsten, göttlichen Instanz, wie der Mensch Teil seiner Gesellschaft ist und gleichzeitig einmaliges mikrokosmisches Wesen. Wenn Kaiser daher mit solcher Vorliebe Gerichtsszenen in seine Stücke einbaut, so übernimmt er nicht nur die Technik der gängigen nachnaturalistischen Gesellschaftsdramatik, sondern strebt darüber hinaus auf eine Erneuerung des Mysterienspiels hin, wie es ihm aus Hofmannsthals Diditung bekannt war. So gesehen gewinnen die „Bürger von C a lais" — ein Jahr nach dem „Jedermann" entstanden 38 — eine ganz neue Bedeutung innerhalb der Kaiserschen Dichtung, indem sie das Ewige (hier: Menschheitliche) des gerichtlichen Prozesses noch den realen Verhältnissen anzupassen suchen, also eine Verengung des Vorganges vornehmen, während Kaiser sich später immer darum bemüht hat, die gegebenen Formen der Gerichtsbarkeit zu benutzen, um sie von innen her aufschwellen zu lassen. Die Lebensgeschichten der Menschen, die Kaiser vor Gericht stellt, mögen verschieden sein, ihre „Schuld" aber ist doch eigentlich immer wieder dieselbe: hinter ihrer Tat steht das Miß-

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Verständnis, und wenn jetzt über diese ihre Tat verhandelt wird, klären sich die Irrtümer nicht etwa auf, werden die Lügen nicht enthüllt, sondern ein für allemal besiegelt. Denn besonders die Lüge, als der äußerste Punkt des Mißverstehens, ist ja nicht nur menschliches Schicksal, sie ist auch — das weiß Kaiser sehr genau — aufgehobene Wahrheit, und der Mensch, der sie auf sich nimmt, steht vor der Iphigenie-Entscheidung seines Lebens. Vor die Wahl gestellt, wird er sich — das ist sein Schicksal — für die Lüge entscheiden, aber er wird erfahren, daß der Zweck die Mittel nicht heiligt, unter gar keinen Umständen. Wenn er also die Lüge auf sich nimmt, erklärt er sich gleichzeitig zur Sühne bereit: man spürt das Nachwehen traditioneller deutscher Dramatik, man hört Schiller und Hebbel im Hintergrund, der Unterschied ist nur der, daß bei Kaiser die Sühne nicht die Schuld bereinigt, sondern vielmehr den Menschen über sich selbst hinauswachsen läßt. Nicht die Sühne, sondern das liebende Verzeihen, die Auflösung des Mißverstehens in ein tieferes Verstehen stellt die gestörte Harmonie wieder her, allerdings nicht im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft, sondern nur in dem von Mensch zu Mensch. Aber dies ist eben das einzige Verhältnis, das für Kaiser noch sinnvoll ist. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß diese Problematik nur in Kaisers Dramen und Tragödien in solchem Lichte erscheint, nicht aber in seinen Komödien. Im Rahmen der Komödie, die auch bei ihm im wesentlichen Zeitsatire ist und somit das Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft zu bereinigen hat, hat das liebende Verzeihen keinen Platz, gibt es keinen jenseitigen Bereich gelöster Harmonie, keinen Ausblick auf die Liebesverbundenheit als ein mythisches Geschehen. In den Komödien müssen die Menschen den Weg ihrer Verfehlungen paradoxerweise meist bis zum tragischen Untergang zu Ende gehen („Napoleon in New Orleans") 39 . Mit der Lüge wird also die Frage nach der Wahrheit zur Diskussion gestellt und damit vom Dichter eine im wesentlichen moralische Position bezogen. Ahnen wir, in wie hohem Maße auch für Kaiser nodi Dichten „Gerichtstag über sich selbst halten" bedeutete? In dem späten Künstlerdrama „Vincent verkauft ein Bild" fallen, viele Jahre nach den 4

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verhängnisvollen Vorgängen im Münchener Geriditssaal, noch die vielsagenden Worte: „Genie ist eine Frage des Charakters". Wir wissen, wie teuer dem Dichter die Genievorstellung war, und wir können sie in allen Perioden seines Schaffens eindeutig belegen. Wir sehr aber muß er sich selbst — sein Genie — gefährdet gefühlt haben, wenn es ihm derart zwischen Wahrheit und Lüge beheimatet war. Denn der Maler Abel Parr, der sich in diesem Stück seine Existenz als Künstler auf Diebstahl und Betrug aufbaut, ist ein Sdiwindler, gleichgültig, ob der Künstler in ihm sich durch sein Werk zu rechtfertigen vermag oder nicht. Es bleibt durchaus offen, ob er sein Ziel erreicht. Zu einer Apotheose des Künstlertums auf der Lebensbasis des Betrugs kommt es jedenfalls nicht, wie ja auch dem Dichter Ernst Hoff („Klawitter") der vielleicht politisch, aber doch nicht moralisch verzeihliche Schwindel wenig hilft. Immer wieder besteht da in Kaisers Werken eine sonderbare Disproportioniertheit in der Darstellung und Ausmalung betrügerischer Machenschaften und ihrer Ergebnisse. Mit ingeniöser Akribie geht der Dichter den Wegen des „Bösen" nach, läßt er sich Lüge aus Lüge entwickeln — man denke nur an das lawinenhafte Anschwellen der Lüge in „Adrienne Ambrossat" —, während der Mensch am Ende allein dasteht, in eisiger Einsamkeit, die sich einer ähnlich detaillierten Darstellung entzieht. — Wir haben weit vorausgegriffen, in der Uberzeugung, daß das in den frühen großen Dramen Erreichte die dichterische Entwicklungslinie Kaisers bis zum Ende bestimmt hat. Der Weg vom „König Hahnrei" bis zu den letzten Stücken war ein konsequenter und organischer, aber er war kein gerader. Mit ganz ähnlichen Mitteln wie in Markes Drama hat Kaiser zunächst nodi in den beiden Einaktern „Claudius" und „Friedrich und Anna" gearbeitet, die unmittelbar danach (1910/1) entstanden sind40 und erst sieben Jahre später durch den Nachzügler „Juana" zu einer Einakter-Trilogie ergänzt wurden. Auch die Don Juan-Komödie „Der spanische Gast", die 1911 geplant aber nicht ausgeführt wurde, würde allem Anschein nach aus demselben Geiste gelebt haben. Es sieht fast so aus, als ob Kaiser

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sich auf dem Boden der Neuromantik häuslich niedergelassen hätte. Und doch sind auch diese Dichtungen nur Vorarbeiten gewesen, Studien und Übungen, ein Ausdruck dafür, daß der Diditer immer noch mit Formen und Inhalten experimentierte. Er war seinem Ziele nähergekommen, gewiß, aber er hatte es nodi nicht erreicht: die Abhängigkeit von Vorbildern bleibt durchaus zu spüren. Gerade in der Farbgebung stimmt etwas nicht, Lyrismus und Stimmung, die er zu beschwören und festzuhalten suchte, ersticken immer wieder die Entfaltung des Dramas, auch wenn er ihm sprachlich eine noch so komprimierte und stilisierte Form zu geben wußte. In der Entwicklung gerade der sprachlichen Mittel — das zeigt der „König Hahnrei" deutlich — ist Kaiser bereits weiter gekommen als in der der dramaturgischen. Wie Hofmannsthal wiederum mußte er sich wohl zeitweise der Oper nähern41. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn er in diesem Augenblick seinem Richard Strauß begegnet wäre. Schon sehr bald sollte sich aber zeigen, worauf das alles letzten Endes hinauswollte. Denn gerade die „Bürger von Calais" (1912/3 entstanden), die stofflich ihre Herkunft aus der Welt der Neuromantik nidit verleugnen können, zeigen, daß Kaiser in der neuromantischen Welt gar nicht so sehr nach Stoffen gesucht hatte wie nadi Formen, mit denen sich die menschliche Figur im dramatischen Gefüge neu visieren ließe. So sehr ging es ihm um das Element „Mensch", daß er zunächst unfähig war, es dramatisch-dialektisch in verschiedene Komponenten zu zerlegen; das ist ihm erst im „Geretteten Alkibiades" gelungen, in dem er dann auch mit Recht einen großen Triumph für sich und seine Kunst gesehen hat. Zunächst flöß ihm das Menschliche noch in eine unteilbare Gestalt zusammen, wie ja schon die „Jüdische Witwe" neben Judith keine Figur mit ähnlich unbedingtem Lebensanspruch hatte aufkommen lassen: das Drama Manasses hatte sich aus Judiths Umgebung lösen und verselbständigen müssen, um voll zur Geltung zu kommen. Auch in den „Bürgern von Calais" überwiegt noch der Mensch Eustache de St. Pierre alle anderen Gestalten, so daß das Drama der Stadt und ihrer 4·

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Bürger zuerst einmal sein eigenes Drama ist. Die dramatische Handlung kommt nicht dadurch zustande, daß zwei menschliche Prinzipien miteinander in Konflikt geraten, sondern durch eine Abfolge von Willensemanationen des einen Menschen auf seine Umgebung. Das aber heißt, daß der Aufbau des Dramas, der seine Fundamente in der einen überragenden Mittelpunktsfigur hat, in das Ordnungsprinzip verlegt ist, nach dem dieser Wille sich äußert — mit anderen Worten: in die Form. Die Bürger der Stadt Calais sind nur Menschen, insofern sie das Menschliche vertreten (und zu dem Zweck bleiben ihre Namen unwesentlich, sie können als Bürger ruhig numeriert werden), darüber hinaus aber, dramatisch gesehen, nichts als Figuren in Eustaches Hand. N u r so ist es sinnvoll, wenn die sieben Bürger zu ihrer menschlichen Läuterung zweimal auf die Probe gestellt werden — ein Vorgang, an dem Diebold so großen Anstoß genommen hatte, weil ihm der Parabelcharakter des Geschehens nicht aufgegangen war. (Mit demselben Recht hätte er sich über die „Tierquälerei" in Lessings Parabel von den drei Ringen entrüsten müssen.) Wir werden Linick im Prinzip zustimmen, wenn er zu dem Schluß kommt, daß Kaisers Dramen „ eigentlidi als dramatische' Monologe aufgefaßt werden" 42 müßten, auch wenn uns die Frage nach den psychologischen Hintergründen vielleicht weniger interessiert als ihn. Nun schiebt sich aber entwicklungsgeschichtlich zwischen die impressionistisch-neuromantischen Dichtungen und die „Bürger von Calais" das erste der sogenannten „expressionistischen Meisterwerke", das bereits 1912 entstandene, aber erst 1916 veröffentlichte „Von morgens bis mitternachts". Man gewinnt sofort den Eindruck, Kaiser habe hier nun wirklich einen entscheidenden Schritt vollzogen und sich gleichsam „über Nacht" von allen ihn bedrängenden Einflüssen befreit. Eine Befreiung bedeutete dies Stück ohne Frage. Aber so ganz aus sich heraus ist auch die neue Verwandlung keineswegs zustande gekommen. Das Echo des Strindbergschen Stationendramas, das eben damals in Deutschland seine großen Erfolge feierte, ist kaum zu überhören. Sein Vorbild konnte aber wohl nur deswegen so fruchtbar und gleichzeitig so verhängnisvoll auf ihn wirken, weil ihm die

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Grundform von dessen Drama schon aus dem Mysterienspiel, zum mindesten in seiner Erneuerung durch Hofmannsthal („Das kleine Welttheater", „Jedermann"), vertraut war. Denn ein Drama, das nicht aus dem Konflikt zweier, gegensätzliche Ideen oder Interessen verkörpernder Protagonisten erwachsen ist, sondern wesentlich biographisch die Erscheinung eines einzigen Menschen auf der Bühne festhält, dessen Beziehungen zur Umwelt registriert und analysiert — und das ist ja jeweils auf sehr verschiedene Weise möglich —: dieses Drama tendiert bereits aus sich selbst auf das Stationendrama zu. Von den drei Einheiten des klassischen Theaters, die die neuromantisdie Dramaturgie ohnehin schon verwischt hatte, brauchte nur die Einheit des Raumes wirklich aufgegeben, die der Zeit nur großzügig gehandhabt zu werden, und die Grundstruktur der ganzen, an Strindberg orientierten (oder doch, an ihn erinnernden) Dramatik des Expressionismus ergab sich folgerichtig43. Daß die Wirklichkeit, in die der Held hier gestellt wurde, durch eine solche Verschiebung des dramatischen Geschehens ins Subjektive und Biographische — einschließlich des Seelen-Biographischen — zerbröckelte, in disparate Stücke zerfiel, darf nicht wundernehmen, denn auch das war schon durch die neuromantische Auflösung des Gegebenen in Stimmungen vorbereitet worden. Der Expressionismus hat diesen Desintegrationsprozeß also keineswegs eingeleitet, er hat ihn nur fortgesetzt und überspitzt, im Glauben, durch die Zertrümmerung des Gegebenen den Menschen — will sagen: das Ich im Dichter — befreien zu können. Kaiser ist diesen Strömungen nur eine kurze Strecke des Weges gefolgt, denn es ging ihm gar nicht um die Befreiung seines oder irgendeines anderen Ich, aber er hat trotzdem die Animosität der jungen Generation gegen die Realität, die sich im Laufe des positivistischen 19. Jahrhunderts immer bedrängender um den einzelnen gelegt hatte, geteilt und sich schon deswegen mit den Bestrebungen seiner Zeit in zunehmendem Maße identifizieren können. Das alles ändert jedoch an der Tatsache nichts, daß sein dichterisches Wachstum vom „König Hahnrei" zu „Von morgens bis mitternachts" ganz organisch war, und daß die hier laufenden Fäden sich bis in seine frühesten Versuche zurückverfolgen lassen. In

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der Welt, die Kassierer von morgens bis mitternachts wie ein Gehetzter durchläuft, sind einzelne Elemente aus seinen ersten Komödien noch deutlich zu erkennen. Was Kaisers Drama nun aber an Wirklichkeitsgehalt eingebüßt hat — ein Verlust, den er selbst empfunden haben muß — wurde auf eine sehr zeitgemäße Weise wettgemacht, indem er die fehlende Kohärenz der Dinge durdi eine merkliche Besdileunigung des dramatischen Tempos ersetzte, wie sie am unmittelbarsten in der von ihm nun herausgebildeten Sprache, zu der sich die ersten Ansätze auch schon früher finden, zum Ausdruck kommt. Kaiser hätte diese Richtung wohl auch ohne den rings um ihn her aufblühenden und bald genug ins Kraut schießenden Expressionismus eingeschlagen. Es ist aber die Frage, ob er ohne diese für ihn ganz unnötige Bestätigung von außen so lange bei den ersten Früchten seines Tuns verweilt hätte, so lange auf halbem Wege seiner dichterischen Bestimmung stehen geblieben wäre. Später jedenfalls, in den letzten Jahren seines Lebens, war er sich darüber im klaren, daß der Erfolg, den er in diesen Jahren in so überwältigendem Maße genoß, eine Verführung war, der er nicht hätte nachgeben dürfen. Für die Geschichte des deutschen Dramas war »Von morgens bis mitternachts" ein großes Ereignis, aber es ist keineswegs sicher, ob auch Kaiser selbst unmittelbar von der Gültigkeit seiner Leistung überzeugt war. Es gibt zum mindesten zu denken, daß wiederum vier Jahre vergehen mußten, bis es im Druck erschien. 1913 hatte Kaiser seinen Lesern den „König Hahnrei" vorgelegt, 1914 „Die Bürger von Calais" und im folgenden Jahr sogar die erst zwei Jahre nach „Von morgens bis mitternachts" entstandene und formal wieder ganz auf das vorexpressionistische Drama zurückgreifende „Europa" — „Von morgens bis mitternadits" aber wurde zurückgehalten, und das zu einer Zeit, in der er augenscheinlich mehr denn je auf erhöhte Verlagseinnahmen angewiesen war. Denn es sind dies die Jahre (besonders 1913 und 1914), in denen er, unter dem Druck der Verhältnisse, tief in seinen Schreibtisch griff und veröffentlichte, was nicht niet- und nagelfest war, und zwar auf eigene Kosten: die ganze Reihe seiner Jugendwerke („David und Goliath", „Der

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Kongreß", „Der Fall des Schülers Vehgesack", „Rektor Kleist" — denen bis 1918 noch drei weitere Bearbeitungen nachgeschickt wurden). Wir kennen dieses Zögern Kaisers neuen Arbeiten gegenüber, mit denen er erprobte Gelände verließ. Er muß sich ihrer erst ganz vergewissern, ehe er sie aus der Hand gibt. Das Erscheinen des Stückes findet ihn dann aber auch bereit, den neuen Weg weiterzuverfolgen. Noch im selben Jahr (1916) entsteht „Die Koralle", im nächsten „Gas" (freilich auch der „Gerettete Alkibiades", um andere, nicht weiter ausgeführte Pläne gar nicht zu erwähnen), denen 1918 „Gas, Zweiter Teil" und „Hölle Weg Erde" folgen (aber auch „Der Brand im Opernhaus" und „Juana") und 1920 „Noli me tangere" (aber auch „Der Protagonist"). Danach schwoll die expressionistische Welle bei Kaiser wieder ab. In „Gilles und Jeanne" (1922) und „Gats" (1924), die man gewöhnlich bedenkenlos den expressionistischen Dichtungen zuordnet, ist das Expressionistische bereits zu einem bloßen technischen Hilfsmittel geworden, und auch das verschwindet nach 1924 fast spurlos aus Kaisers Werk. Es ist in unserem Zusammenhang nicht möglich, Kaisers expressionistische Dichtungen im einzelnen zu untersuchen und jene grundlegende Neudeutung zu versuchen, die heute so dringend geboten scheint. Gerade diese Phase seines Werkes ist ja auch auf ihre expressionistischen Gehalte hin bereits gründlich geprüft worden, so daß hier im einzelnen wahrscheinlich nicht viele neue Einsichten zu gewinnen sind. Das Paradox sei erlaubt: wir wissen vielleicht überhaupt schon viel zu viel über den Expressionismus, wir haben ihn zu sehr unter die Lupe genommen, ihn aus zu kurzer Sicht heraus betrachtet. Es ist an der Zeit, ein paar Schritte zurückzutreten, so daß die weiteren Zusammenhänge ins Bild einzugehen vermögen. Die notwendige Korrektur wird sich dann wie von selbst ergeben: der Raum des sogenannten Expressionismus wird erheblich schrumpfen, und vieles, was uns bisher noch so eminent expressionistisch anmutete, ersdieint, in weiteren historischen Perspektiven betrachtet, in neuem Licht. Wir sind bereits auf einige solche Phänomene gestoßen; sie werden sidi im Laufe der Zeit vermehren. Die Kritik hatte letzthin mehrfach Gelegenheit zu erkennen, daß manche

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Dichter (wie etwa Kafka oder Barlach), die man bisher dem Expressionismus zuzuordnen pflegte, in ganz anderen geistigen Regionen zu Hause sind. Was aber Kaisers Ausweichen in den Expressionismus betrifft, ist es notwendig, das beinahe Unumgängliche des Vorgangs zu begreifen. Rein äußerlich zunächst gesehen, stellte ihm der neue Stil — wenn wir den Expressionismus einmal als solchen hinnehmen wollen — Mittel zur Verfügung, die ihm gelegen kamen, ja, die er zu einem guten Teil sogar, wie wir gesehen haben, antizipiert hatte. Aber an diese Mittel waren Inhalte gebunden, deren Tragweite er kaum zu durchschauen vermochte, die er aber seinen eigenen dichterischen Erfordernissen glaubte anpassen zu können. Geistige Inhalte haben jedoch ihr eigenes Leben, und so war dies wohl der Punkt, an dem ihm der Expressionismus zum Schicksal werden mußte. Wie sehr er sich auch um ihre Assimilation bemühen mochte, sie assimilierten ihn mehr als er sie. Das läßt sich am deutlichsten an der gebrochenen Struktur der „Koralle" ablesen. Andererseits aber dürfen wir nicht übersehen, daß er sich dem neuen Kunstprinzip nie völlig verschrieben hat, sondern selbst in den Jahren, in denen er seine lauten expressionistischen Proklamationen ins Land schickte, Werke schuf, die niemand als expressionistisch bezeichnen dürfte. Wir können uns des Eindrucks kaum erwehren, daß er seine eigentliche dichterische Leistung bewußt hinter schrillen Demonstrationen zu verbergen suchte. Wie immer man auch Kaisers expressionistisches Werk betrachtet, welche Rolle man ihm in der Gesamtheit seines Schaffens zuweist, es wird schwer sein, sich auf die Dauer gegen den Eindruck einer sonderbaren Ambivalenz des Dichters dem Expressionismus gegenüber zu verschließen. Die neue Sprache mag ihn „entfesselt" haben, aber sie hat ihn nicht „befreit", jedenfalls überträgt sich das Gefühl der Befreiung, wenn der Dichter es gehabt hat, nicht leicht auf seine Leser. Wenn irgendwo in diesen Jahren bei Kaiser von Befreiung die Rede sein kann, dann ist es in den Stücken, die scheinbar im Schatten des Expressionismus entstanden sind, obgleich auch in ihnen alles andere als reine Seligkeit herrscht: „Europa", „Das Frauenopfer", „Der gerettete

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Alkibiades", „Brand im Opernhaus", „Die Flucht nach Venedig" — Abgründigkeiten überall, aber ohne die beklemmende Unrast der Diktion, dafür eine aus den Gegenständen erwachsene, und ihnen nicht von außen her aufgezwungene Sprache. Diese ungelöste Dissonanz der expressionistischen Stücke Kaisers ist wohl dadurch zu erklären, daß sein Verhältnis nicht nur zum Expressionismus, sondern auch zu dem Erbe, das er angetreten und bisher zwar eigenwillig, aber doch verantwortungsbewußt verwaltet hatte, zwiespältig war. Denn er hatte bisher eine Form gepflegt — oder besser ausgedrückt: sich in hartem Ringen und unter großen Widerständen angeeignet, in die er nicht hineingeboren war, wie etwa die jungen Wiener in die ihre. Wir haben diesen langwierigen Prozeß verfolgen können und haben wohl verstanden, welche Belastung das für ihn gewesen sein muß. Was Kaiser entwicklungsmäßig erfahren hat, ist wohl im Ganzen typisch für jeden wirklichen Dichter in Zeiten tiefgreifender Stilverschiebungen und der damit verbundenen Unsicherheiten im Geschmack. Es ist das Schicksal des großen Dichters in Übergangszeiten und läßt sich auch bei anderen seiner Zeitgenossen, bei Sternheim etwa, deutlich verfolgen. Der Punkt wird erreicht, an dem etwas zur Last Gewordenes abgestreift werden soll, während diese Last doch gleichzeitig auch das Gewohnte ist und das Bewährte. Das Neue aber ist das Unbewährte, Unsichere. Wir haben bisher immer wieder nur den Gewinn betont, den Kaiser aus der Aneignung der neuromantischen Formsprache für sich gezogen hatte. Aber spüren wir nicht auch gleichzeitig die innere Resistenz des jungen Dichters gegen den Zwang? Es bleibt immer etwas Fremdes in den Lösungen, die er findet, in der erfüllten Form etwas diese Form audi wieder Sprengendes. Schon der „Schellenkönig" war kein reiner „Tor und Tod" geworden, sondern eine „blutige Groteske". Die Sprache der „Jüdischen Witwe" war nicht weich und atmosphärisch, sondern geballt und intellektuell zugespitzt. In den Einaktern vollends, die dem neuromantischen Impressionismus doch am nächsten kommen, herrscht eine eisige Kälte, in der weder Sprache noch Stimmung gedeihen können: die stilechte Theatersituation wirkt wie ein hergestelltes Präparat. Wir ver-

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stehen, wie verlockend es für den Dichter gewesen sein muß, all das endlich hinter sich zu lassen, in neue Formen auszubrechen, Gebilde aufzuführen, die in ihrer bewußten Konstruiertheit allen Vergangenheitsballast abwarfen. Wir verstehen den Reiz, gründlich mit der Tradition zu brechen — oder jedenfalls so zu tun, als ob mit ihr gebrochen werden könnte. Sternheim hatte sich in denselben Jahren vor die gleiche Entscheidung gestellt gesehen, als er seine fruchtlose Beschäftigung mit dem impressionistischneuromantischen Dramenmonstrum „Don Juan" abschloß und sich in plötzlidier Wendung gegen das Bürgertum kehrte, dem er an seinem Versagen insgeheim die Schuld gab44. Es handelt sich hier also nicht um persönliche Erfahrungen, weder bei Kaiser noch bei Sternheim, sondern um wichtigste historische Vorgänge. Aber die Erschütterungen, die diese beiden Dichter erfuhren, waren doch auch wieder ein Zeichen dafür, daß ihnen der Umbruch zum Schicksal geworden war. Unverkennbar hat sich bei Kaiser nun seit 1912, während er sich solchermaßen mit den durch den Expressionismus aufgeworfenen Formfragen auseinandersetzte, audi eine neue Problemschicht über das Werk geschoben. Schon „Von morgens bis mitternachts" war ihm zu einem Drama mit doppeltem Wirklichkeitsboden geworden, und damit hatte sich ihm eine ganz neue dramatische Konfliktsituation ergeben, die bald darauf das Spiel von der „Koralle" mehr und mehr beherrschen sollte. Denn als der Milliardär vor dem Anblick der absoluten Vereinsamung, des hoffnungslosen Ausgeliefertseins aller menschlichen Kreatur an das Nichts, die Flucht ergriff, blieb ihm als Zufluchtsort nur noch die Gesellschaft. Das war neu, und was noch mehr in die Augen springt, es hatte auch mit den Gedankengängen des Expressionismus nicht viel zu tun, denn der vor dem Nichts angekommene Expressionist hatte ja gerade der Gesellschaft den Rücken gekehrt und sich in sein eigenes Ich eingegraben, von dem aus er bestenfalls auf ein hypothetisches „Wir" vorstoßen zu können hoffen durfte. Mit anderen Worten, weltanschaulich hatte sich im Expressionismus der Neuromantik gegenüber nichts prinzipiell geändert, der Subjektivierungsprozeß war nur radikalisiert worden. Kaiser aber mußte vom Expressionismus gerade

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das Gegenteil erwarten: die Befreiung von der Ichhaftigkeit, eine neue Weltschau von objektiver Gültigkeit. In den Endresultaten freilich reduzieren sich diese Unterschiede wieder, denn die Flucht in die Gesellschaft war für den modernen, allen sozialen Gegebenheiten gegenüber seit langem so feinfühlig-skeptischen Dichter nicht mehr durchführbar. Dem Milliardär wäre das Glück seines Lebens zuteil geworden, wenn eine sinnvoll geordnete bürgerliche Gesellschaft ihn im entscheidenden Augenblick mit offenen Armen aufgenommen hätte. Die Rolle des verlorenen Sohnes, die andere Zeitgenossen des Dichters so wirkungsvoll nachgedichtet und nachempfunden haben, würde von ihm sehr eindrucksvoll gespielt worden sein. Eine solche Ordnung gab es nicht, und die Welt, in die der Milliardär fliehen konnte, mußte daher von ihm erst künstlich für seine eigenen Bedürfnisse hergestellt werden, eine Welt verläßlicher, mathematisch-exakter Funktionalität, die viel mehr den neu-sachlichen Geist der 20er Jahre vorwegnahm als sie den des Expressionismus erfüllte. Das Nichts, dem der Milliardär von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, ist das existentielle Nichts45, vor jeder menschlichen Begegnung. Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir verstehen wollen, was in einem solchen Menschen vorgeht, etwa im Herrn von % *, wenn er das Versagen so leidenschaftlich gesuchter menschlicher Bindungen erlebt: er zerbricht nicht erst am andern, sondern an sich selbst. Der andere ist nur der Wegweiser, der ihn auf sich selbst zurückführt. Auch neben dem Milliardär steht nämlich kein ihm ebenbürtiger Mensch, audi er steht allein. Er hat zwar einen Sohn und eine Tochter (durch die sich seine Lebensgeschichte in ein ganzes Familiendrama fortspinnt), aber keine Frau. Das Erlebnis der Frau ist für ihn und sein persönliches Drama fortgefallen. War es nicht nötig, weil sich das Nichts auch ohne sie aufgetan hatte? Oder könnte es vielleicht sein, daß dem Sekretär, als dem vollkommenen Doppelgänger, die Rolle der Frau in seinem Leben zugefallen ist? Dann würde sein Tod dem Isoldes, Sylvettes oder der Gräfin Lavalette entsprechen und ein versteckter Liebestod sein, ein Opfer, das das Ich dem Ich bringt, wie andererseits das Sterben der Frauen

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jeweils verhüllte Selbstmord wäre. „Das Chaos tut sich auf . . . darum rette sich auf einen festen Fleck, wer kann", heißt es in der „Koralle" 46 . Wenn wir feststellen können, wie das auch immer schon geschehen ist, daß mit Kaisers Hinwendung zum Expressionismus — und vielleicht auch schon mit dem „König Hahnrei" 47 , der sich damit noch einmal als wichtiges Übergangsstück und Verbindungsglied zu erkennen gäbe — das Motiv der Flucht zu einem entscheidenden Element seiner Dramatik geworden ist, dann müssen wir gleichzeitig hervorheben, daß seinem Frühwerk eine solche Problematik noch durchaus fremd war 48 . Andererseits aber liegt die Vermutung nahe, daß von diesem Augenblick an die Flucht auch dort, wo sie nicht so augenfällig in Erscheinung tritt, insgeheim noch eine bedeutsame Rolle spielt. Wir denken etwa an den Opfertod Eustaches, in den die rituellen Vorgänge der „Bürger von Calais" auslaufen. Und flieht nicht auch Sokrates, um Alkibiades zu retten, vor sich und seiner eigenen Lebensproblematik in den Tod? Flieht nicht auch Alkibiades vor Sokrates? „Flucht — Flucht ist das Schlimmste", lesen wir noch im „Schuß in die Öffentlichkeit" 49 . Angesichts solchen Zwanges zur Flucht ist Tod wohl die letzte Erlösung. Die Flucht wäre in Kaisers Dichtung also doppelt begründet: einmal als Flucht vor dem Ich, das heißt in einem traumatischen Erlebnis, das zwar nadi dichterischer Gestaltung drängt, aber doch niemals durch sie gelöst werden kann; andererseits als Flucht vor dem Wirklichen, hervorgerufen durch eine negative Reaktion des Dichters auf eine Umwelt, der er sich nicht mehr anzupassen weiß. Auf diese Doppelschichtigkeit der dichterischen Grundsituation, die in manchen Dramen deutlich zu spüren ist, lassen sich die meisten der Unstimmigkeiten zurückführen, an denen sich die Kritik seit Diebolds Tagen immer wieder gestoßen hat. Hierher gehören die vielfältigen Trugschlüsse und logischen Unebenheiten, vor allem aber die o f t so unbefriedigenden Schlußakte, wie etwa in „Gats". Der Kapitän lebt nämlich, wie der Milliardär, auf zwei Ebenen, und sein Drama ist daher ein doppeltes: der letzte Akt ist, weit davon entfernt, ein bloßes Anhängsel zu sein, das Schlußstück zu seinem privaten Drama,

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während das gleichsam öffentliche Drama, der Reflex des inneren Vorgangs nach außen, mit dem zweiten schon zum Abschluß gekommen war. Freilich dürfen wir zugeben, daß durch die Einsidit in diese Zusammenhänge soldie Stücke ästhetisch noch nicht gerettet sind 60 . Die Flucht trieb also den aufgestörten Menschen zunächst in die Gesellschaft, die er nun nach seinem eigenen Bilde und ein wenig überstürzt umzumodeln versucht, ehe er ihr in begreiflicher Enttäuschung wieder den Rücken kehrt. Viel ideologisches Unheil hat Kaiser in kurzer Zeit mit seinem expressionistischen Sozialismus angerichtet, aber das war damals wohl an der Tagesordnung und konnte deswegen leicht zu ernst genommen werden. Daß seine Reformvorschläge zum Scheitern verurteilt waren, hat er sich in seinen Stücken selbst vorgerechnet, doch wie weit seine Berechnungen stimmten, ist heute eine müßige Frage geworden. Das Positivste an seiner dramatischen Soziologie war wohl der Gedanke persönlicher Verantwortlichkeit im gesellschaftlichen und staatlichen Leben: er war dem Milliardär fast unversehens in der Gestalt seiner Kinder begegnet. In dialektischer Weiterentwicklung ergab sich dann daraus der Rest der „Gas"-Trilogie. Stofflich aber reichte das nicht aus für ein Drama, geschweige denn für eine Trilogie. Wie recht hat Diebold mit seinem Urteil gehabt, daß „Gas, Zweiter Teil" „das magerste Drama der Weltliteratur: ein Skelett" sei51. Es ist wohl nicht zufällig, daß diese Dinge von Kaiser erst in seiner nadi-expressionistischen Dramatik wirklich durchgestaltet worden sind: in dem nun schon ganz neu-sachlichen Volksstück „Nebeneinander" (1923) und dann vor allem im „Silbersee" (1932). Wichtiger ist wohl, daß Kaiser, im Gegensatz zur gängigen expressionistischen Praxis, keinen Augenblick im Interesse solcher Mission auf die Pflege der Form verzichtet hat. Tatsächlich liegt für uns heute die innerste Berechtigung dieser expressionistischen Stücke in dem unschätzbaren Formgewinn, den ihr Dichter an ihnen gemacht hat. Bei aller Kritik an ihnen müssen wir nämlich mit Bewunderung feststellen, daß wohl nodi niemals in der Geschichte des deutschen Dramas so imposante Strukturen errichtet worden sind, wenn auch um einen Kern fast völliger

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Leere. Denn der Mensch, um den es Kaiser sonst immer geht, und der von ihm auch hier mit lauter Stimme und etwas deklamatorisch „gefordert" wird, ist an einer erschreckenden Atrophie erkrankt. Es ist, als ob der Dichter demonstrieren wollte, wie wenig sich der nur denkende Mensch von der Maschine unterscheidet, die er geschaffen hat. Der Ausbilde auf den wahren und ganzen Menschen fehlt also nidit, aber er erhebt sich kaum über das Negative. Am größten war dieser Formgewinn dort, wo er nicht auf die neuen, sondern vielmehr auf die alten Inhalte angewandt worden ist. Das geschah zum ersten Male in den „Bürgern von Calais", die man deswegen auch immer mechanisch den expressionistischen Stücken zugerechnet hat. Sie sind, abgesehen von rein äußerlichen Formelementen, so wenig expressionistisch wie sie aktivistisch sind. Sie sind Drama großen Stils, weil in ihnen Form und Inhalt zu einem organisdien Ganzen verschmolzen wurden, an dessen Teilen man vielleicht, wie Diebold das getan hat, Kritik üben kann, ohne doch den Gesamtbau in Frage zu stellen. Die verschiedenen, so oft disparat auseinander strebenden Faktoren der Kaiserschen Kunst sind hier eine Synthese eingegangen, die in der modernen deutschen Dichtung ihresgleichen sucht. Die „Bürger von Calais" bilden den ersten großen Höhepunkt in Kaisers Sdiaffen, angesichts dessen auch die „Jüdische Witwe" zu einem bloßen Vorspiel herabsinkt. Ihm folgten andere, in stattlicher Reihe. Und wenn wir nun die Gipfelleistungen Kaisers in ihrer Gesamtheit betrachten, können wir feststellen, wie sich in ihnen immer wieder derselbe synthetisierende Vorgang wiederholt hat, und wir erkennen, daß es vielleicht Kaisers Schicksal gewesen sein mag, in einer Zeit zum Künstler herangereift zu sein, die einen einheitlichen Stilwillen nicht mehr besaß, aber daß es ihm auch gegeben war, das Auseinanderstrebende noch einmal zusammenzufassen und in seinen Dienst zu zwingen. Ein Gipfel aber ist ein höchster Punkt nur deswegen, weil er sich, über wenig«: hohe erhebt. Auf den Aufstieg muß notwendig ein Abstieg folgen. Dabei drängt sich folgende Uberlegung auf: vergleicht man einmal die Entwicklungskurve eines

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modernen Dichters wie Kaiser mit der einer der großen Gestalten aus der klassisch-romantischen Zeit, dann stellt sich der eingetretene Stilverlust geradezu graphisch dar. Denn wenn etwa Schiller als Dichter (wie überhaupt als Kulturträger) von einem bestimmten Augenblick an — und dieser Augenblick liegt früh — nicht mehr unter ein gewisses, sicher nicht genau meßbares, aber darum doch sehr deutlich spürbares Stilniveau absinken konnte, weil der Stil eben unter anderem die Funktion besitzt, Boden zu sein, der trägt, so zeigt Kaisers schöpferische Kurve eine solche Festigkeit nicht mehr. Sie steigt nicht mehr im Großen und Ganzen gleichmäßig an, nur geringen Schwankungen unterworfen, sondern ist vielmehr wild bewegt wie eine romantische Gebirgslandschaft, in der das betrachtende Auge sich nicht sofort orientiert. Der Grund dafür liegt nicht in einem wesentlichen Gradunterschied dichterischer Begabung, denn wären Begabungen statistisch oder sonstwie zu messen, dann würde sich die Kaisers, als absoluter Wert, vielleicht sogar als die größere herausstellen. Schillers Leistung ruht fest auf den Stilfundamenten seiner Zeit, des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts; was Kaisers Werk dagegen an Stilhaftigkeit besitzt, war von ihm im wesentlichen von Fall zu Fall neu zu gewinnen. Oder doch nicht ganz: denn gerade eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung seines Werkes zeigt, daß der Stil — oder besser: die Stile, die er sich jeweils zu assimilieren vermochte, noch eine tragende Funktion von wenigstens begrenzter Verläßlichkeit und Dauer besessen haben. Nur so erklärt sich sein zähes Festhalten an neuromantisch-impressionistischen Formen, noch dazu in einer Zeit, in der er intensiv mit ganz neuen Medien experimentierte, so daß er am Ende den Eindruck erwecken konnte, die Sprache zweier verschiedener Generationen gleichmäßig zu beherrschen. Aber auch die Gegenprobe aufs Exempel läßt sich an Hand seiner Entwicklung machen. Denn auf das Abschwellen seines expressionistischen Impetus in den frühen zwanziger Jahren, das auf sehr bezeichnende Weise mit seiner Aufgabe der neuromantischen Positionen, an denen er immer noch festgehalten hatte, zusammenfällt, folgen in seiner Werkgeschichte lange

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Jahre ausgesprochener Stil-Unsicherheit und damit reduzierter Schaffenskraft. Nicht, daß ihm bedeutsame Leistungen nicht mehr gelungen wären, aber wenn man das Große und Gelungene dieser Jahre in den Zusammenhang des schöpferischen Gesamtprozesses bei ihm stellt, will es doch scheinen, als ob in jedem Fall besondere Glücksmomente eine beachtliche Rolle gespielt haben — wobei freilich zu bedenken bleibt, daß er auf Grund des von ihm erreichten dichterischen Niveaus nun in der Lage war, diese glückhaften Begegnungen voll auszunutzen. Dabei fällt zunächst dem früheren, doch auch nicht gerade geschlossen und einheitlich dastehenden Werk gegenüber eine ungleich größere Mannigfaltigkeit der Formen auf, die nun in bunter Reihe — fast ist man versucht zu sagen: wahllos — aufeinander folgen. Schauspiele wechseln mit Revuestücken („Zwei Krawatten"), die gelegentlich nur gar nicht so leichtfertig sind, wie sie sich geben („Nebeneinander" — das allerdings auch kein Revuestück im engeren Sinne des Wortes ist52); große historische Aufmachungsstücke („Gilles und Jeanne") treten neben skrupellos auf die Bühne gebrachte Reißer („Kolportage"), Opernlibretti („Der Zar läßt sich photographieren" — das Libretto zum „Protagonisten" hatte sich Kurt Weill selbst aus dem ursprünglichen Einakter ausgezogen) neben leichte Gesellschaftsspiele („Hellseherei") und Lustspiele („Papiermühle")53, und selbst der Film wird erstmalig als Medium ernsthaft in Betracht gezogen („Zweimal Oliver" ist aus einem solchen Filmtext hervorgegangen). Noch mehr verwirrt sich das Bild, wenn man auch die nicht weiter ausgeführten Entwürfe dieser Jahre heranzieht. Der gemeinsame Nenner für all dies ist wohl Kaisers Faszination durch das Theater, das Spiel um des Spielens willen, und ein wenig audi das Bedürfnis, den so schwer errungenen Erfolg auszukosten. Auf die Jahre intensiver Mühe um die Form folgten Jahre der schöpferischen Entspannung, des Genießens der eigenen Kräfte. Man mag da von der Tendenz sprechen, eine entdeckte Goldmine systematisch zu bearbeiten, eine Hausse auszunutzen. Aber welcher Dichter hätte das, so oder so, nicht getan? Rilke schrieb in unproduktiven Zeiten Briefe — Kaiser weitere Stücke. Der prinzipielle Unterschied ist gering.

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Fast einsam stehen die wenigen wirklich großen Dichtungen da in dem wild wuchernden Werk dieser Jahre: „Oktobertag" (1927), „Die Lederköpfe" (1927), „Mississippi" (1928) und als schwächste — „Der Silbersee" (1932). Es ist so gut wie unmöglich, Verbindungslinien zwischen diesen Stücken herzustellen, wie sie sich bei den großen Frühwerken fast von selbst ergeben. In stofflicher wie formaler Hinsicht gibt es keine Brücken zwischen ihnen, und selbst ihre geistige Orientierung, ihre Funktion im Gesamtwerk, ist grundverschieden. Das eigenwilligste und vielleicht audi bedeutendste ist gleich das erste, in dem man denn mit einigem Recht auch so etwas wie einen Wendepunkt in Kaisers Schaffen gesehen hat 54 . Im „Oktobertag" gelingt ihm der große Wurf, dem schon früh im Bannkreis der Neuromantik erlebten Daseinsanspruch des Scheins die seinem Dichtertum ganz entsprechende Gestalt zu geben. Schein ist nun nicht mehr, traumhaft oder tragisch, Illusion, nicht spielerisch mit der Wirklichkeit auswechselbar, sondern Wirklichkeit selbst, zwar nur einmal dem einen Menschen, Catherine, gegeben, unlösbar gebunden an ihr Wesen als der ihr natürliche und gemäße Lebensraum, aber deswegen doch auch wieder möglich als menschliches Ereignis schlechthin. Nichts wäre irreführender, als von Catherine — oder einer der anderen großen Gestalten aus Kaisers Spätwerk — als von einem „Ausnahmefall"55 zu sprechen: einmalige dichterische Erfassungen des menschlichen Daseins bleiben, aus der Perspektive des normalen Behaviorismus gesehen, immer Ausnahmefälle, ob sie nun durch ein Gretchen oder eine Marquise von O. verkörpert werden. Der Mann Marrien tritt neben Catherine in den Schatten, er ist der fast zufällige Gegenstand, an dem Catherine sich selbst erfüllt, freilich auch wieder ihre notwendige Ergänzung, an dem sidi ihr Dasein erst bewahrheitet, die Scheinform ihrer Wirklichkeit zur Wirklichkeit selbst wird. Im Sieg ihres Scheins über sein bloßes — d. h. ganz normales, geheimnisloses und daher sinnloses — Sein schafft sie für sich beide eine neue Welt, und es ist die Möglichkeit soldier erhöhter Lebensformen, um die es Kaiser in seinen Hauptwerken von nun an immer wieder geht. Der Weg dahin ist schwer, denn er führt durch die absolute Verneinung menschlicher All5 Faulten

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täglichkeit, durch Lüge, Mord und Intrige. Was die Wirklichkeit des Scheins, die eben nicht Schein, sondern höhere Wirklichkeit ist, dem Menschen auferlegt, das ahnen Catherine und Marrien noch kaum, denn sie brauchen nur einen Erpresser, jemanden also, der sich ohnehin ins Unrecht gesetzt hatte, aus dem Wege zu räumen. Rosamunde Floris wird eines Tages noch ganz andere Taten kaltblütig auf sich nehmen und zur Megäre des Glaubens werden. Kaiser wird es uns sehr viel schwerer machen, den Sinn ihres Tuns zu begreifen — aber zu begreifen ist es ja auch nicht, selbst für Rosamunde nicht, denn auch sie wird nicht ans Ziel kommen, ebenso wenig wie Catherine und Marrien. Die Tragik dieser Menschen besteht eben nicht im Konflikt von Schein und Wirklichkeit — den kennen sie nicht mehr — sondern in der letzthinnigen Unerfüllbarkeit ihres Glaubens, in der Unerreichbarkeit ihres Zieles. Die Ursituation dieser Menschen ist religiös551, freilich auf eine sehr unchristliche Weise religiös, und man sollte deswegen dodi wohl nicht zu voreilig von Kaisers Rückkehr in die Religion sprechen; die rein religiösen Stoffe, die in seiner Spätzeit auftaudien, sind entweder Fragmente geblieben, oder als Varianten des eigentlichen Themas aufzufassen. Daß eine Annäherung des Dichters an christliche Vorstellungen nidit stattgefunden hat, zeigt wohl am deutlichsten das „Floß der Medusa", ein gewiß eigentümliches (und ästhetisch keineswegs befriedigendes) Werk, das vom Zentrum seines Dichtens wegführt und nur richtig zu verstehen ist als ein (allerdings notwendiger) Versuch, sidi mit der politischen Wirklichkeit Deutschlands auseinanderzusetzen; es ist gleichzeitig entstanden mit dem „Englischen Sender" (1940). Aber es gibt tatsächlich doch ein Ziel für diese von ihrem Glauben getriebenen Mensdien, und das liegt, wie das christliche, im Jenseits. Nur eine einzige der Kaiserschen Gestalten hat es erreicht: Bellerophon. „Gestern habe ich das dritte hellenistische Stück vollendet: Bellerophon", schrieb Kaiser am 2. April 1944 an Caesar von Arx. „Mein Schwanengesang. Ich habe mich selbst in die Sterne versetzt... Möge Sie die Dichtung nicht enttäuschen — es ist ein sehr persönliches Werk."56 Auf mythologischem Boden also, in den Sternen. Hier löst sich das

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Rätsel, erscheint das Paradigma, das von allen anderen Lebensschicksalen nur abgewandelt wird. Bellerophons und Myrtis* Weg in die Sterne geht, wie der Rosamundes, Elises („Alain und Elise"), Agnetes oder Catherines unbekümmert über Leichen, ist absolutes Dasein, unerreichbar für jede behavioristische Auslegung. Wenn wir das aus der Geschichte Bellerophons, in Kaisers Deutung, noch nicht verstanden haben, dann wird Apollon es uns — und Bellerophon — am Ende noch genau erklären: Denn nur dies bedeutet die gewährte Erdenfrist: dir die Gefährtin zu erlesen für den einsamen Verein der Ewigkeit... Zu jüngstem Stern verbindet Ihr euch so und seid entrückt in unerreichte Weite des Lichts, das unverloschlidi sternenhell... Zur Himmlischkeit tragen euch Flügel. Seid zum Sternenflug bereit. Das ist also der Sinn des schweren und unbegreiflichen Weges dieser Menschen: Sternenflug, mythisches Sein — und das Ziel: der einsame Verein der Ewigkeit. Die liebende Begegnung der Menschen war die Vorbedingung für den „Verein", ohne den die letzte Einsamkeit in den Sternen vollkommen wäre und unerträglich. Diese Sternenexistenz reicht aber bereits ins irdische Leben hinein und wird da zum „Schein", zu einer Lebensform völliger Inkommensurabilität. Nur ein Dichter der Einsamkeit konnte solche Lebensräume schaffen und solche Menschen in sie hineinstellen. Wir begreifen, wie persönlich die BellerophonDichtung war, wie persönlich aber auch schon der „Oktobertag", „Rosamunde Floris", „Alain und Elise" und alle diese anderen rätselhaften Schöpfungen aus Kaisers Spätzeit. In eine ganz andere Richtung weisen die „Lederköpfe", im selben Jahr entstanden wie der „Oktobertag". (Welches von beiden den chronologischen Vorrang besitzt, läßt sich bisher noch nicht erkennen, ist aber auch nur von untergeordneter Bedeutung.) Man könnte zunächst versucht sein, hier nach einem ähnlichen mythologischen Zusammenhang zu suchen, denn schließ5·

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lieh hat Kaiser seinen Stoff ja der dem Mythos wesensverwandten Sage (Herodot) entnommen. Die Dinge liegen aber ganz anders, denn Mythos und Wirklichkeit stehen hier im genau umgekehrten Verhältnis zueinander. Wenn wir die Lebensgeschichten Catherines oder Rosamundes als Gleichnisse für ein urewiges Geschehen nehmen durften, so wird jetzt im Gegenteil die Sagenwelt gleichnishaft in einen ganz realen Raum hineinbezogen, um die politische Situation des modernen Menschen sub specie aeternitatis zu bestimmen. Es ist ein gewaltiges, aber auch gegewaltsames Stück, dessen dichterische Hintergründe nur sehr unzureichend geklärt werden, wenn man es zu dem Tanzspiel „Europa" in Beziehung setzt. Denn noch die „Lederköpfe" sind im Grunde ein Tanzspiel, wenn auch nicht mehr ein Spiel um das Thema „Tanz". In beiden Fällen symbolisiert der Tanz eine Lebensform, der der Dichter kritisch gegenübersteht, obgleich sie ihn auch wieder lockt, so daß er sie, allen seinen sdiweren Einwänden zum Trotz, in der „Europa" voller Grazie hatte erstehen lassen können. Kaiser lächelt über den tanzbesessenen Hof König Agenors und theoretisch sympathisiert er mit Europa und allen in Frage kommenden blonden Bestien, trotzdem aber ist er doch auch etwas in die sdiöne Illusion verliebt, diesen Restbestand neuromantisch-impressionistischen Theaterdaseins. In den „Lederköpfen" wird der Tanz dann zu einem reinen Strukturelement, zu einem Symbol für den Byzantinismus im Leben des Stadthauptmanns. Erst im Kontrast mit der in tänzerisches Formenspiel aufgelösten Wirklichkeit bleibt das Grauen, das von dem entstellten menschlichen Gesicht hinter der Ledermaske ausgeht, beinahe erträglich — erträglich und doch audi wieder besonders akzentuiert. Man könnte also von einer doppelten ästhetischen Orientierung des Stückes reden, denn als Dichter mußte Kaiser auf Milderung bedacht sein, auf vorsichtige Verteilung der seelischen Gewichte, als „Denker" aber, als Prophet, auf eine möglichst scharfe Herausarbeitung der Hauptlinie seines Argumentes. Hier könnte nun sicher die Kritik einhaken und feststellen, daß eine solche Symbolik im „Raum des klassischen Dramas" keinen Platz mehr habe, weil ein Mensch, der sich aus letztlich sinnleeren Gründen das Gesicht entstellt, auch wenn die

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Entlarvung solcher Sinnlosigkeit das eigentliche Anliegen des Dichters war, nicht auf Mitleid rechnen könne. Aber der Feldhauptmann, dessen innere Wandlung die Handlung bestimmt, ist gar nicht der „Held" im konventionellen Sinne des Wortes. Der Held ist die Idee. Die Idee vom Menschen, die Humanitätsidee. Das Geschehen auf der Bühne bleibt dafür ein Gleichnis: für Basileus kann man Hitler (oder irgendeinen anderen Diktator unserer Tage) setzen, für den Stadthauptmann jeden x-beliebigen Gauleiter oder Statthalter, für die Tochter die neue Generation (die in „Gas" noch geboren werden sollte!) oder das Prinzip reiner Menschlichkeit, mit durchaus progressiven Intentionen und zukunftsgläubig, die selbst unter den unwürdigsten Bedingungen noch aufzublühen vermag. Zur Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit war damals wohl jeder Dichter gezwungen, der etwas von der „Forderung des Tages" wußte. Für Kaiser lag sie besonders nahe, denn schon seine expressionistischen Stücke hatten sich auf ihre Weise mit den dringenden Fragen der Zeit beschäftigt. Es mag vielleicht stimmen, daß die humanitären Ideen Kaisers mit der Humanitätsidee der Klassik nichts gemein hatten, aber vor die Entscheidung gestellt, und angesichts der völligen In-FrageStellung des Menschen durch die „Revolution des Nihilismus", mußten expressionistischer Glaube an den Menschen und traditionsbewußter Humanismus auf dieselbe Weise reagieren. Kaiser hat protestiert wie Thomas Mann protestiert hat. Aber wie verschiedene Wege sind sie beide gegangen. Oberflächlich gesehen hat Kaiser 1933 zunächst eine Position bezogen, die man später als „innere Emigration" bezeichnet hat. Es ist schwer zu sagen, warum er nicht sofort die notwendigen Konsequenzen zog, als man sein Werk verbot, und ihm damit praktisch jede Lebensmöglichkeit genommen wurde. Seine Haltung wirkt ein wenig wie Trotz. Aber der Glaube hat augenscheinlich mitgewirkt, daß die Tage des tausendjährigen Reiches gezählt seien, und daß es daher gelte, seinen Platz zu behaupten und auszuharren. Kaiser kapselte sich ein und — schrieb. So entstand, in schöpferischem Crescendo, eine Reihe von Stücken, denen zunächst die Funktion zufiel, dem Dichter die realen Gegebenheiten zu verdedien. Er

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vergrub sich in die Arbeit, wenn auch wohl nicht ganz ohne Nebenabsichten, denn die Hoffnung blieb, nach dem Zusammenbruch der Diktatur nicht mit leeren Händen dastehen zu müssen. Solche Arbeitsbedingungen darf man, milde gesagt, als ungünstig bezeichnen, obgleich natürlich dem schaffenden Menschen am Ende jede Voraussetzung produktiv werden kann. Man versteht jedoch, daß dem Dichter nach seiner Flucht und Befreiung das auf diese Weise Geleistete fragwürdig werden mußte. Er hat die Stücke dieser Jahre tatsächlich nach 1938 sehr summarisch und im ganzen unberechtigterweise verworfen. In gewisser Hinsicht bedeutet diese Zeit, die man die „VerbotZeit" zu nennen sich angewöhnt hat, zunächst also ein erzwungenes Stehenbleiben bei erreichten Werten, eine Behinderung des organischen Wachstums. Schon gleich der erste Schritt, den Kaiser unternahm, belegt den Vorgang: er griff auf einen seiner frühen Stoffe zurück und machte sich an eine ganz im Handwerklichen befangene Bearbeitung des „David und Goliath" („Das Los des Ossian Balvesen"). Es scheint aber, daß die Arbeit sich selbst befruchtete. Nicht nur, daß Kaiser augenscheinlich die erlangte Stufe des Könnens schöpferisch genoß, der zögernd unternommene Rückzug schlug ihm in neue, nun nicht mehr zu behindernde Entfaltung um. Es gab eben doch dringendere Aufgaben für ihn, als dem Zauber des großen Loses, der Magie des Geldes nachzufragen. Vielleicht hätte er, unter günstigeren Lebensbedingungen, jetzt wieder an die Themenwelt der „Lederköpfe" angeknüpft, aber jede direkte Aussage über das Zeitgeschehen war ihm, dem Verdächtigten, versagt. Er hätte sich ja auch nicht einmal Gehör zu verschaffen vermocht. Wenn er sich daher nun statt dessen auf die Ergebnisse des „Oktobertag" besann und den Möglichkeiten absoluten menschlichen Seins weiter nachzuspüren begann, dann war die zunehmende Intensivierung der dichterischen Blickrichtung auf den jeweils einen Menschen gewiß mitbedingt durch den erzwungenen Verzicht auf die Gestaltung eines weiteren sozialen Raumes. Die Verkürzung der Perspektiven in den nun entstehenden Werken, das Element der Verkrampfung, ist ja unverkennbar, und was Kaiser trotzdem an neuen dramatischen Werten gewann, war der Not abgerungen.

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Diese Not bleibt im Hintergrund der Werke spürbar57, sie ist in sie als wesentlicher Bestandteil eingegangen, und der Augenblick mußte kommen, da das mühsam Verschmolzene wieder hervorquoll. Wir kennen den inneren Vorgang, der ihn zu diesem Punkte führte, nicht und können ihn auch nicht erraten: wir wissen nicht einmal, wie weit er dem Dichter überhaupt bewußt geworden ist. 1937 jedenfalls, also noch vor der Flucht in die Schweiz, hat er die erste Möglichkeit gefunden, zur deutschen Zeitgeschichte dichterisch Stellung zu nehmen. Er tat das scheinbar Naheliegende und griff nach dem großen europäischen Vorbild aller Diktatur, nach Napoleon. Oder war es in seinem Fall doch nicht ganz das Naheliegende? Denn er widerstand der Versuchung, die napoleonische Geschichte bloß zu Staffagezwekken zu verwenden. Ja, er gestaltete Napoleon zunächst überhaupt gar nicht unmittelbar, sondern nur in der schattenhaften Wirkung auf andere, den Napoleon-Reflex, und er tat das in doppelter Indirektion: einerseits verschob er den durchaus tragischen Stoff ins Komische, das Unerträgliche also ins gerade noch Ertragbare, während er sich andererseits mit einem Randereignis der Napoleon-Legende begnügte, die an das Phänomen Napoleon im Grunde gar nicht heranreichte. Kaiser schrieb seine vielleicht gelungenste Komödie — obgleich er sie nicht einmal als eine solche bezeichnet hat — er schrieb seinen „Napoleon in New Orleans". Kaiser redet also wieder über Deutschland, aber doch nur im Gleichnis. Man könnte versucht sein zu meinen, er habe aus denselben Gründen zur Komödie gegriffen, wie später offenbar Werfel („Jakobowski und der Oberst") oder Zuckmayer („Des Teufels General"), als sie sich ihrerseits mit der Zeit auseinanderzusetzen versuchten: um sich hinter das Gelächter zu retten. Sicher ist, daß das absolute menschliche Nichts sich der dichterischen Gestaltung entzieht. Die Figur Hitlers ist nicht ohne Peinlichkeit zu beschwören, und die Massen um ihn herum lassen sich nicht in Menschen auflösen. Es war gut für Kaiser, daß er damals gar nicht in die Versuchung kommen konnte, sich mit all diesen Fragwürdigkeiten auf der Bühne zu beschäftigen. Als er ihr einige Jahre später, in der Freiheit seines Schweizer Asyls,

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dann doch erlag („Kkwitter", 1939, und »Der englische Sender", 1940), waren die Resultate leidenschaftlich erregte polemische Stücke, aber gewiß keine Dichtungen. „Napoleon in New Orleans" aber lebt, als Kunstwerk, noch in einer andern Hinsicht aus ungelösten und unlösbaren inneren Spannungen. Nicht nur, daß hier Aktuelles ins Historische entrückt und unerträgliche Tragik ins Komische umgebogen wurde, Napoleon war in Kaisers Augen auch mehr als das Paradigma für Adolf Hitler. Das Auftauchen der Napoleon-Figur in Kaisers Spätwerk wird uns noch zu beschäftigen haben. Es muß an dieser Stelle genügen, darauf hinzuweisen, daß Kaisers Haltung sich aus einer eigentümlichen Mischung von Bewunderung und instinktiver Reserve zusammensetzte. Ein Dichter, dem Nietzsche so sehr und so früh zum Erlebnis geworden war, konnte etwas das gewöhnliche Maß des Menschen derart Überragendes wie Napoleon nicht aus der Perspektive eines noch so humanistisch orientierten Sozialismus sehen. Aber wenn man genauer zusieht, dann sind Kaisersche Helden ja immer irgendwie ungewöhnlich, einsam dastehend in ihrer menschlichen Statur, wenn auch gerade nicht als Soldaten. Führt nicht eine Linie des Menschentums vom Ingenieur („Gas") über den Kapitän („Gats") bis hin zu diesem Napoleon, zum mindesten wie er dann im „Pferdewechsel" (1938) uns im Augenblick des Scheiterns — sie alle scheitern ja! — vor Augen tritt? Welche Rolle Napoleon in Kaisers Denken tatsächlich gespielt hat, geht schon daraus hervor, daß seine Napoleon-Bewunderung auch durch den bedingungslosen, seine politische Haltung von Grund aus bestimmenden Pazifismus nicht beeinträchtigt worden ist. Nicht Napoleon, wohl aber seine Nachläufer, diese durch das Große nur geblendeten Kleinen, Schwärmer mit potentiell gefährlichen Träumereien, denen Zukünftiges unter den Händen immer zur Reaktion erstarren muß, waren vor ein Tribunal zu ziehen, dessen humanitäre Gesetzhaftigkeit im Pazifismus notwendig verankert lag. So hat sich Kaiser seinen Stoff glücklich gewählt. Er versetzt uns in eine Gegend, die den napoleonischen Schauplätzen schon geographisch völlig entlegen ist: In New Orleans hat ein geflüchteter französischer Baron seine Villa in ein Napoleon-Museum verwan-

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delt, in dem er dem glanzvollen Siegeszug seines Abgottes nachträumt. Laufend und nach Bedarf versorgt ihn eine phantastisch zusammengewürfelte Gaunerbande, Abschaum der Gesellschaft, mit den notwendigen Requisiten, von denen einige beispielhaft vor unseren Augen fabriziert werden. Aber der letzte Schwindel übersteigt alle vorhergegangenen: man erbietet sich, gegen entsprechende Bezahlung, Napoleon selbst von Helena zu befreien und dem Baron ins Haus zu liefern. Wir erleben, wie der grotesk herausstaffierte angebliche Hofstaat des Kaisers in der Villa einzieht und alles in Besitz nimmt, die Tochter des Barons als Beigabe, und wie dem Baron, als die Nachricht von Napoleons Tod dem Treiben ein jähes Ende bereitet, die ganze falsche Illusion über dem Kopf zusammenschlägt. Es ist eine schauerliche Komödie, aber selten hat Kaiser bei der Gestaltung seiner Figuren sicherer aus dem Vollen geschöpft. Wir sind weit entfernt von allem Expressionismus und spüren die großen Vorbilder im Hintergrund, vor allem Büchner. Hier wird nicht gepredigt, sondern gestaltet, sichtbar gemacht; nidit konstruiert und errechnet (wie großartig auch immer), sondern gedichtet, Wirkliches schöpferisch ver-dichtet. Der Komplex, der in den „Lederköpfen" zur Diskussion stand, wird noch einmal ins Auge gefaßt, aber aus weiterer Perspektive. Aber die Botschaft, die Kaiser am Herzen lag, war in „Napoleon in New Orleans" durch den bizarren Komödienstoff eben dodi verdeckt worden, so daß hier ein Verhältnis von Form und Inhalt herrschte, das, gleichgültig wie befriedigend die Resultate in ästhetischer Hinsicht auch ausgefallen sein mochten, dem Dichter Georg Kaiser nicht wirklich gemäß war. Denn in seinem spezifischen Dichtertum waren ästhetische und — sagen wir: prophetische Elemente auf eigentümlidie und einmalige Weise gemischt. Form und Gestalt waren zwar immer schon sein besonderes Anliegen gewesen, wie wir gesehen haben, aber sie hatten doch jeweils der Befruchtung durch die Idee bedurft, um sich frei entfalten zu können, und diese Idee war, zum mindesten in Kaisers wesentlichsten Dichtungen, weniger ein Gedanken- als ein Glaubensinhalt gewesen. Daher darf man auch seine viel berufene Rationalität („der Denkspieler"), die ja selbst

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schon wieder sehr emotionell bedingt war, nicht überbetonen, wie das im Gefolge Diebolds so oft geschehen ist. Ein Denkprozeß, eine logische Abfolge war ihm in erster Linie eine Sache der Disziplin und also unlöslich verbunden mit dem Willen zur Form. Hier haben wir den Punkt, von dem aus sich sein Dichtertum sehr genau fixieren läßt, denn groß war er vor allem dort, wo ein dramatischer Stoff an die Quellen seines geistigen Menschentums heranreichte, das persönlichste Anliegen in ihm freilegte. Kaiser hat deswegen zwar dichterische Indirektion, Verschiebung der Gehalte in Gestalten, geübt wie jeder Dichter, aber sie widersprach trotzdem im Grunde seinem innersten Wesen. Den Beweis dafür liefert wohl der „Soldat Tanaka", diese erste dramatische Dichtung, die er bald nach seiner Ankunft in die Schweiz aufgriff, und die zu einer der großartigsten Manifestationen seiner humanistischen Lebensidee werden sollte. Ungleich gewaltiger noch als in den „Lederköpfen" hat er hier seinen Glauben an den Menschen als Menschen gestaltet, denn jetzt konnte er auf alles Schauerliche, auf alle stoffgeborenen Uberspitzungen verzichten und statt dessen, auch wenn er uns in die exotische Landschaft des Orients führt, die Bühne mit einem Leben füllen, das in seiner rudimentären Einfachheit allgemein verständlich bleibt. Freilich, eine gewisse Indirektion ist damit auch hier gegeben, denn das lebensfeindliche Prinzip der Diktatur, das vor Gericht gezogen wird, bleibt durchaus im Hintergrund; man sieht lediglich die Schlagschatten, die es auf das Leben der einfachen Menschen wirft. Die Tragödie des japanisdien Bauernsohnes Tanaka erwächst aus dem Spannungsverhältnis zwischen seiner eigenen Lebensform und dem „System". Das heißt, er ist kein „Charakter", der sich entwickelt. Was zunimmt, ist nur seine Einsicht in die Verhältnisse — und dadurch unterscheidet er sich natürlich von Büchners Woyzeck, dem er nachgebildet ist, aber doch nicht deswegen, weil Kaiser seine Vorlage etwa mißverstanden hätte! Eine bloße Erneuerung konnte ihm unmöglich genügen. Er mußte versudien, wenn seine Bemühungen irgendeinen Sinn haben sollten, die menschliche Situation seines Vorbildes in die bewußtere und zielstrebigere Denk-

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form eines Proletariers im 20. Jahrhundert umzudeuten. Zwischen Woyzeck und Tanaka liegt schließlich die Entfaltung des Sozialismus, dessen grundsätzliche Lebensanschauung Kaiser längst zu der seinen gemacht hatte. Tanakas Einsicht wächst im Verlaufe des Stückes stufen- und stoßweise, bis sie den Punkt erreicht, an dem sie in die Tat umschlagen muß, auch wenn diese T a t praktisch völlig sinnlos zu sein scheint. Mit unendlicher Ruhe und fast beschaulich setzt das Stück ein, um von Akt zu Akt anzuschwellen bis zu jenem Augenblick, da Tanaka in beredter Hybris das Kaiser-Symbol zerschlägt — denn das tut er, auch wenn er dafür mit dem Leben bezahlen muß. Man versteht Kaisers Argumentation erst ganz, wenn man in ihr die expressionistische Vorstellung nachschwingen hört, der zufolge die Tat eines reinen Menschen fähig wäre, die Welt aus den Angeln zu heben (man denke etwa an Rubiners „Die Gewaltlosen"). Im ersten Akt steht Tanaka zunächst noch da als das Kind seiner Zeit und seiner Umgebung, das er ist. Er nimmt die Empfangsfeierlichkeiten, mit denen er bei seinem Urlaubsbesuch zu Hause begrüßt wird, als das Natürliche hin. Soldat des Kaisers sein, verschafft ihm eine Sonderstellung, an der ihm noch keinerlei Zweifel kommen. Daß der relative Wohlstand, den er vorfindet, nur durch den Verkauf der Schwester in die Prostitution ermöglicht werden konnte, erfährt er erst später, nach seiner Rückkehr in die Garnison; aber die Entdeckung, die er dann im Bordell machen wird, liegt mit ihrer ganzen inneren Notwendigkeit doch schon von Anfang an in der Luft, sie ist das Mittel, an dem sich die dramatische Spannung konkretisiert. Wird Tanaka unter dem Eindruck solcher Erlebnisse gewandelt? Die Frage ist fast müßig. H ä t t e er zu Beginn gewußt, was er später weiß, er wäre früher aufgerüttelt worden. Nicht er, sondern seine Einsicht wächst, bis sie sich in der spontanen Tat — der Tat des typischen Kaiser-Helden — befreit. Denn die Helden Kaisers planen ihr Tun nicht, sondern werden zu ihm getrieben, und zwar weniger durch äußere Umstände als von innen her. Die Logik ihres Tuns ist, beinahe kleistisch, die Logik ihres Gefühls, nur daß dieses Gefühl bei Kaiser komplexer ist und erst gewissermaßen in der Reibung

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mit der Außenwelt generiert wird. Denn warum ermordet Tanaka im Bordell nicht nur den Offizier, der die Schwester verlangt, sondern auch die Schwester selbst? Es verlohnt sich vielleicht, dieser Frage nachzudenken, denn die Schwester ist wieder eine jener Kaisersdien Frauen, deren Leben sich im Opfer — im Frauenopfer — erfüllt. Aber ihr Tod ist auch Reinigung, und insofern Buße im fast konventionellen Sinne des Wortes. Als Tanaka wegen Insubordination vor Gericht gestellt wird — die Ermordung der Schwester fällt da nicht weiter ins Gewicht — scheint er für einen Augenblick sein Schicksal, wie nur je ein Schillerscher Held, in der Hand zu haben: wenn er den Kaiser um Entschuldigung bittet, wird er frei sein, denn dann wäre die gestörte Ordnung wiederhergestellt. Aber diese Freiheit der Entscheidung ist doch nur eine Illusion, eine Halluzination, denn Tanaka ist an sein Menschentum gebunden und deswegen gar nicht in der Lage, sich zu entscheiden. Ein Tanaka, der audi nur die Möglichkeit besäße, sich durch eine solche Selbsterniedrigung zu retten, wäre kein Tanaka mehr, und sein Drama würde gar nicht zustande kommen können. Für sein Wissen und sein Tun muß er den Tod auf sich nehmen — ja, ihn herausfordern, ohne daß sein Verhalten deswegen audi nur das geringste mit Selbstmord zu tun hätte68. Die Geschichte schlägt über ihm zusammen, gewiß, weil der einzelne sich nicht über sie zu erheben, nicht aus ihrem Zusammenhang herauszutreten vermag. Die zugrunde liegende Geschichtsphilosophie hat nichts mehr mit den diesbebezüglichen Naivitäten der Expressionisten zu tun, so daß das Bild des Menschen Tanaka sich auf ihrem Boden monumental in ganzer Notwendigkeit zu erheben vermag. Noch einmal haben wir darauf hinzuweisen, daß dem Dichter die Auseinandersetzung mit dem deutschen Zeitgeschehen, wie sehr er auch selbst hineinverwickelt worden war, nicht in unmittelbar zugreifender Anklage, sondern nur in der Entrükkung sub specie aeternitatis möglich gewesen ist. Auch der „Tanaka" macht da keine Ausnahme, obwohl wir es hier auf den ersten Blick nicht mit einer Verschiebung des Stoffes in historische oder mythologische Perspektiven zu tun haben. Die Verpflanzung des sehr zeitnahen Bühnenvorgangs ins Orientalische kommt

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aber einer solchen Mythologisierung des Stoffes gleich. Der Dramatiker bedarf der Distanz zum Schicksal, besonders wenn dieses Schicksal sein eigenes gewesen ist. Nicht von irgendwelchen individuellen Geschehnissen her, aus dem Blickwinkel des Persönlichen, war der Hitlerismus dichterisch zu erfassen — was Kaiser an den Stücken „Klawitter" und „Der englische Sender" und mit ihm andere Dramatiker an ähnlichen Versuchen erleben mußten —, sondern nur in der menschheitlichen Sicht. Der Punkt war zu finden, von dem aus der Bereich des Bösen voll zu überschauen und abzugrenzen war. Im Gang durch das Inferno mußte sich ein Ausblick auf das Paradiso gewinnen lassen, durch alle Hoffnungslosigkeit hindurch doch wieder fern und klar die Hoffnung, die das Grauen erst befruchtet. Der Dichter muß die Sdiatten, die der Mensch wirft, weil er Mensch ist, ganz in den Blick bekommen, denn jenseits der Schatten liegt das Licht, auch für Georg Kaiser. In den letzten Lebensjahren hat er dann die politische Grundsituation des Menschen, um die es in all diesen Stücken geht, in der Amphitryon-Dichtung der „griechischen Dramen" noch einmal ganz neu durchgestaltet. Wie beim „Soldaten Tanaka" auf Büchner, so hat er hier auf Kleist zurückgegriffen59 und sein Vorbild auf ähnliche Weise leidenschaftlich aktualisiert. „Zweimal Amphitryon" zeigt wieder, wie sehr bei einer solchen Erneuerung dem Dichter fremdes Gut organisch mit seinem eigenen Werk verwachsen mußte, um zu neuer Dichtung werden zu können — ein außerordentlicher Vorgang, wenn man bedenkt, wie zwingend diese Vorbilder, als Gipfelleistungen ihrer Art, im Raum der Geschichte dastehen und auch für Kaiser dagestanden haben. Man darf sich ja nicht durch seine scheinbar überraschende Rückkehr zum Versdrama verwirren lassen und darin etwa eine Konzession an Kleist sehen wollen. Der Vers, der die dramatische Aussage rhythmisch bindet, hatte ihm im Grund immer nahegelegen: von ihm war er ausgegangen, in seinem Bereiche hatte seine formalistische Prosa der neuromantischen Zeit gestanden, und zu ihm ist er während der letzten Schaffensperiode dann auch äußerlich mehr und mehr zurückgekehrt. In den ersten Schweizer Jahren schon — und selbst während der „Verbot-

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zeit" — tendierte seine Prosa in großen szenischen Augenblicken auf den Vers hin. Wenn im Sprachlidben sich die Entwicklungslinie solchermaßen leicht nachzeichnen läßt, so liegt sie, was den Stoff angeht, geradezu auf der Hand. Bereits der Bau des „Amphitryon" weist alle Merkmale Kaiserscher Kunst auf: die Handlung entwickelt sich nicht aus sidi selbst, sondern sie wird von außen her geführt durdi Parallelismen und Symmetrien, in deren Spiel Gegenstände sich bis zum Symbol zu verdichten vermögen. Der Schafspelz, in den sich Amphitryon und Zeus verkleiden, hat eine ganz ähnliche Funktion wie der Dorn, den sich Sokrates im „Geretteten Alkibiades" in den Fuß tritt. Und auch die Menschen: wer würde sie nicht auf den ersten Blick als typische Schöpfungen Kaisers erkennen? Bei Kleist fand er zwar bereits eine seinem Empfinden sehr gemäße Besinnung auf den Menschen vor, auf den „inneren" Menschen mit den Abgründen des Gefühls, noch nicht dagegen aber die dem modernen Dichter sich aus solcher Gestimmtheit beinahe notwendig ergebende Konsequenz des prinzipiellen Pazifismus. Wie fern lagen dem Romantiker (falls wir Kleist als einen solchen gelten lassen wollen) Vorstellungen, wie sie sich dem Dichter rund hundert Jahre später, als das Soldatische den letzten Bezug auf das Ritterliche verloren hatte, als dessen völlige Entromantisierung vollzogen war, fast automatisch schon aus dem bloßen Anblick einer Uniform ergeben mußten. An Kaisers Amphitryon wird deutlich, was in dieser Hinsicht seit Kleists Tagen geschehen ist: die Uniform — in diesem Falle die Rüstung, die ihm die Generale zur Hochzeit schenken — wird sein Schicksal, verschiebt sein Dasein aus der menschlichen in die militärische Lebensebene. Dadurch wird die Identifizierung Amphitryons mit dem Symbol auf seinem Körper zwar aufs eindrücklichste vollzogen, aber der Mensdi in ihm erstickt unter der schweren Gehaltmasse und kann sich bis zuletzt nicht entfalten. Nicht er, sondern seine Uniform handelt vor unseren Augen auf der Bühne: man erlebt die Verwandlung der Rüstung in den Schafspelz und die sich dadurch ergebenden Vorstellungen — vor allem, daß Betrug nicht in jedem Falle Betrug ist, Lüge nicht immer Lüge, und man gedenkt der vielen anderen Menschen Kaisers, die mit diesen Dingen

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fertig zu werden suchten. Denn es ist offenbar etwas anderes, ob Zeus oder Amphitryon ihr Ziel auf den berüchtigten „krummen Wegen" verfolgen. Der Betrug zum Guten ist vielleicht doch nicht dasselbe wie der Betrug zum Bösen — eine moralische Perspektive auf das alte Problem scheint sich aufzutun, wenn auch nur im weitesten Sinne des Wortes. Denn auch Zeus kommt ja bei Kaiser nicht zu Alkmene, um sich zu amüsieren, sondern aus Rührung über den einen guten Menschen — aus biblischen also und nicht aus olympischen Gottesmotiven. Ist Amphitryon überhaupt der Held in dem seinen Namen tragenden Stück? Ist es nicht vielmehr Alkmene, die es erst von innen her aufleuchten läßt, indem sie auf all die unmenschlichen Vorgänge menschlich reagiert? Diese Alkmene ist wieder ganz KaiserFigur. Durch alle Rätsel des Geschehens hindurch ruht sie sicher in ihrem Gefühl, zur Hingabe bereit wie zum Opfer, unbeirrbar in ihrer Liebe und ihrer Treue. Und so dürfen wir feststellen, daß in diesem ungleichen Paar, das im Verlaufe des Dramas denn auch gar nicht zueinander hinfinden kann, die beiden Hauptlinien in Kaisers später Dramatik zusammenfließen. Wieder ist die Frau, wie schon früher, das tragende Element, der Lebens-Mittelpunkt, und wieder stellt sie, wie schon in der „Gas"-Trilogie, die Geburt des neuen Menschen in Aussicht, nicht aber die eines Milliardär-Enkels, sondern des Herkules — und sie unternimmt die Verkündigung auch nicht selbst, sondern diese geschieht ihr und wird dadurch wirklich zum Wunder. Der Kreis hat sich auf mythologischem Boden geschlossen, und so konnte denn audi der Gott wieder in Erscheinung treten, der bei Kaiser schon einmal Europa besucht hatte — ein griechischer Gott, gewiß, doch seit damals gereift und etwas angechristlicht. Wir haben den Gang durdi Kaisers Werk beendet und sind uns dessen bewußt, viele und oft sich geradezu aufdrängende Ausblicke nicht ins Auge gefaßt zu haben. Uberall wird es Gelegenheiten geben, das Gesamtbild vom einzelnen her weiter auszubauen. Aber es sind ja nicht einmal nur diese Ausblicke, nicht nur die positiven Befunde, an die wir uns zu halten haben, wenn wir das Phänomen der Kaiserschen Dichtung in seiner Totalität, in all seinen inneren und äußeren Bezügen zur litera-

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risdien Tradition begreifen wollen, sondern ebenso sehr deren Nichtvorhandensein, wo man sie erwarten würde. Es ist uns klargeworden, daß wir es bei Kaiser mit einem Dichtertypus zu tun haben, für den der schöpferische Ansatzpunkt jeweils nicht im Subjektiven liegt, jedenfalls nicht in dem seit Goethe und den Romantikern fast selbstverständlichen Sinne des Wortes. Seine Dichtungen sind nicht Teile einer großen Konfession — und schon gar nicht ich-hafte „Schreie", Explosionen aus Seelennot, wie sie der Expressionismus in letzter Zuspitzung romantischen Seins geliebt hat. Es ist so gut wie unmöglich, von den einzelnen Dramen Kaisers direkte Schlüsse auf ihren Diditer zu ziehen — und so überraschend und verwirrend das oft auch sein mag, es ist sidier gut so. Kaiser hat, darin ganz Erbe der Schiller-Hebbel-Tradition, von sich fort gedichtet, seine Werke in Lebenskreise gestellt, die sich mit seinem eigenen, persönlichen und privaten fast gar nicht berühren. Das erhellt wohl am ehesten noch aus seinem Verhalten der zu seiner Zeit so aktuellen Dichterproblematik gegenüber: die soziologischen Verschiebungen zu Anfang unseres Jahrhunderts, die die Frage der Dichter nach ihrer Funktion in der Gesellschaft so dringlich werden ließen, haben den schöpferischen Menschen vielleicht am schwersten getroffen, und darin liegt eine gewisse Ironie. Denn der Dichter (oder überhaupt der Geistige) hatte wie keiner sonst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die Säkularisierung der geistigen Grundlagen betrieben. Damit aber hatte er sidi doch nur selbst den Boden unter den Füßen weggegraben, weil der einmal eingeleitete Vorgang sich ja nicht auf halbem Wege aufhalten ließ, sondern nach seiner Erfüllung im Extrem strebte, in der restlosen Entzauberung des Seins im konsequenten Materialismus. Die Materie als Maß aller Dinge setzte die Ausschaltung des Dichterischen ebenso voraus wie die des Religiösen. Dem Dichter, der sich an diesem Punkt angelangt sah, blieb nicht viel anderes übrig, als eine ständige, in Dichtung umgesetzte Bestandaufnahme seiner unbequemen Situation. Gerade das aber hat Kaiser, als einer der wenigen Dichter seiner Generation, sehr auffällig vermieden — oder er hat daran doch nur auf eine Weise teilgenommen, die nicht in das typische Schema paßt. Dabei ist es ja nicht etwa so,

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als ob ihm sein Verhältnis zur Gesellschaft nicht problematisch gewesen wäre. Viel eher könnte man der Meinung sein, es wäre ihm sogar so problematisch gewesen, daß er allem fast ängstlich aus dem Wege ging, was an diese Frage hätte rühren können. Worin immer in seinem Werk man mehr oder weniger versteckte Anspielungen auf diese Dinge sehen möchte, sie schrumpfen doch zu einem unbedeutenden Nidits angesichts der maßlosen Feststellungen, mit denen Kaiser seinerzeit sein Publikum vor Gericht überraschte: „Tut dem Geist nidit weh; denn Geist ist schon eine unheilbare Wunde! — Unsinnig ist der Satz: ,Alles ist gleich vor dem Gesetz'. Ich bin nicht jeder." Trotzdem aber verlohnt es sich, nach dem Dichter (oder Künstler) in Kaisers Werk zu fragen. Schon früh tritt er ja einmal kurz in sein Blickfeld, und zwar im Rahmen seiner Bemühungen um das naturalistische Drama („Hete Donat"), um mit ihnen audi wieder zu verschwinden. Denn wenn dann 1915 ein Mozart-Drama („Die Probe in Prag") und 1917 ein KleistDrame („Der verlorene Groschen") geplant aber nicht ausgeführt wurden, ist es keineswegs sicher, daß hier wirklich das Phänomen des Künstlertums zur Darstellung drängte. 1920 aber entsteht schließlich der Einakter „Der Protagonist", dem 1922 das Musset-George Sand-Drama „Die Flucht nach Venedig" und 1926 die Literaturkomödie „Papiermühle" folgte. Nur in dem Einakter jedoch kommt das Künstlertum als solches zur Anschauung, aber doch noch ganz innerhalb der Denkformen der Neuromantik. Wenn der Protagonist daran zugrunde geht, daß er zwischen Sein und Schein nicht zu unterscheiden vermag, so handelt es sich dabei im Grunde um dieselbe geistige Konstellation wie bei König Marke und dem Herrn von ***,um eine optische Delusion, die eine innere Angelegenheit des Künstlers bleibt, nicht aber um eine irgendwie geartete Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Der soziale Rahmen, der hier zudem noch ins Historische verschoben ist, wird gar nicht greifbar. Und das ist noch eindeutiger der Fall in der „Fludit nach Venedig". Kaisers Musset scheitert nicht so sehr an der Dichterin, wie an der Frau George Sand. Auch er verwechselt Sein und Schein, genauer ausgedrückt: ihr Naturell mit seinem. 6

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Wollte man in diesem Stück nach Elementen der Künstlerdramatik suchen, dann müßte man sich an George Sand halten, aber man würde auch bei ihr enttäuscht werden. Sie ist von einer derart konzentrierten animalischen Egozentrizität, daß es für sie einen Konflikt zwischen ihrem Künstlertum und der Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Ihre Umwelt tritt so gut wie gar nicht in Erscheinung: es ist, sehr schattenhaft, das Venedig Hofmannsthals und Thomas Manns, ein reines Literatur-Venedig. — So bleibt uns nur die „Papiermühle", die aber in diesem Zusammenhang schon deswegen nicht in Betracht kommt, weil es sich hier lediglich um eine Satire auf den Kritiker handelt, gegen den Kaiser eine lange unbeglichene Rechnung — wie er glaubte — anzumelden hatte. All das wird erst anders nach 1933, in dem Augenblick also, als für Kaiser die Problematik des Künstlertums hinter einer anderen, weltgeschichtlichen zurücktreten mußte. Ein umgekehrtes Verhältnis scheint zwischen tatsächlich erlebten, den Menschen Kaiser bedrängenden Nöten und deren dichterischer Gestaltbarkeit zu bestehen. Erinnern wir uns kurz an die ständig anschwellende Reihe von Künstler- und Dichter-Figuren, die nun in seinen Werken erscheinen, wobei wir uns nur an die ausgeführten Stücke halten, die vielen Fragmente und Entwürfe dieser Jahre aber nicht heranziehen können. Da ist zuerst Stefan M. in der „Agnete" (1935); ihm folgen Abel Parr in „Vincent verkauft ein Bild" (1937), Alain in „Alain und Elise" (1938), Flanagan in „Der Schuß in der Öffentlichkeit" (1938), Ernst Hoff in „Klawitter" (1939) und schließlich, sie alle überragend, Pygmalion in den „griechischen Dramen" (1934). Aber hat sich denn wirklich an Kaisers Problemstellung etwas geändert? Hat er vielleicht nicht doch nur seine alte Scheu überwunden, schöpferische Menschen, die ihm unter der Hand zu seinem Spiegelbild werden könnten, auf die Bühne zu bringen? Zunächst fällt auf, daß auch jetzt noch gerade die Dichter unter den gestaltenden Künstlern selten sind. Wir dürfen wohl Stefan („Agnete) als einen solchen nehmen, obgleich wir kein genaues Bild von seiner Tätigkeit gewinnen; zum mindesten ist er Schriftsteller, „geistiger Arbeiter". Nun erwächst ihm seine

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Lebensproblematik natürlich, allgemein gesprochen, aus seinem Verhältnis zu anderen Menschen und damit zur Umwelt, aber diese Umwelt ist für ihn beschränkt auf wenige, im Grunde nur auf Agnete und ihr Kind. Es steckt etwas sonderbar Ibseneskes in der ganzen Konzeption und Ausarbeitung des Stückes, das überrascht, auch wenn wir die dem Dichter Kaiser eigentümlichen Merkmale nicht verkennen. Aber das Stück ist ja nicht in erster Linie Stefans Drama, sondern das Agnetes, die einst blind dem Ruf ihres Herzens gefolgt war und sich nun zwischen zwei Männern entscheiden muß. Sie tut, was ihre Schwestern bei Kaiser eigentlich nie vermögen: im Kampf zwischen Neigung und Pflicht folgt sie der Pflicht. Wohl nirgendwo in seinem Werk hat Kaiser sich so deutlich auf die europäische Theatertradition besonnen wie hier. Von Stefan aus gesehen aber stellen sich die Dinge anders dar: er ist an Agnete durch das Kind gebunden, mit dessen Augen der Erblindende gleichsam die Welt neu zu sehen gelernt hat. Stefans Bindung an dieses Kind hat etwas beklemmend Heftiges und gleichzeitig auch wieder gerade in seiner befremdenden Intensität Rührendes. Man spürt: da drückt sich mehr aus als Vaterliebe, die es in Kaisers umfänglichem Werk ja auch sonst gar nicht gibt. Diese Liebe erinnert viel mehr an die magische Besessenheit zweier Kaiserscher Liebender, an die metaphysische Hörigkeit von Mann und Frau. Das Vater-SohnVerhältnis ist zum mindesten schwer belastet durch die Kompliziertheiten eines labilen Mannes, der die Befruchtung seines einsamen Werkes im menschlichen Kontakt sucht. In diesem Sinne zerlegt sich das Stück in zwei Schichten, zwei Problemkreise, die erst im Kompromiß des Schlußaktes wirklich ineinander verwachsen, und es ist schwer zu sagen, welcher von beiden tiefer in das Innere des Kaiserschen Denkens hineinführt. Zum mindesten ist es wahrscheinlich, daß Kaiser sich — wohl instinktiv — bemüht hat, die Not des der Kunst ausgelieferten Menschen hinter einer „interessanten" Fabel zu verbergen. Ganz ähnlich liegen die Dinge bei näherem Zusehen im „Schuß in die Öffentlichkeit", einem wahren Kriminalstück um die Gestalt eines Dichters, in dem sich die autobiographischen Züge kaum übersehen lassen. Das Temperament Flanagans ist Kaisers, be6·

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sonders aber sein Verhältnis zu Geld und Reichtum. Aber auch hier wieder wird das eigentliche Problem versteckt hinter einer zweiten Fabel, die den Buchhalter der Verlagsfirma zum Helden hat. Autobiographisch ist gleich der Einsatzpunkt, den man etwa so formulieren könnte: was tut ein an den Erfolg gewöhnter, durch ihn verwöhnter Dichter, dem plötzlich die Mittel entzogen werden — oder vielmehr: was könnte er tun, wenn er es verstünde, aus seiner Lage die nötigen Konsequenzen zu ziehen? Die Wirklichkeit wird nicht gegeben, wie sie ist, sondern in der phantastischen Korrektur durch den Mann, der mit ihr nicht fertig wird — also ganz ähnlidi wie etwa in der „Koralle". Und der Vorgang wiederholt sich dann in der Komödie „Klawitter": Flanagan und Hoff sind eigentlich in derselben Lage. Aber während sich herausstellt, daß Flanagan die Tat gar nicht begangen hat, er also gewissermaßen moralisch absolviert wird, verbeißt sich Hoff in seine Katz-und-Maus-Komödie mit den Leuten der „Partei": er betrügt die Betrüger und läßt sich damit auf ihr Niveau herab. Es ist schwer zu verstehen, daß Kaiser die geistige Integrität seines Doppelgängers derart aufs Spiel setzen konnte, denn es gibt für Hoff keine Rettung aus dem moralisdien Dilemma, in das er sich mit seinen abstrusen Skrupellosigkeiten selbst hineinmanövriert hat. „Klawitter" kann deswegen als Protest gegen Barbarei und Ungeist nicht ernst genommen werden, obgleich man natürlich hinter den zweifelhaften Vorgängen auf der Bühne die eigentlichen Nöte des Dichters spürt. Die politisdi-menschliche Motivreihe hat die wahre Problematik Hoffs verdeckt und erstickt. Nicht an Hand von Dichtergestalten, sondern von Malern und Bildhauern hat Kaiser in diesen Jahren das Phänomen des schöpferischen Menschen umrissen, daß heißt aber: wieder in fast instinktiver Indirektion. Diese Substitution des dichterischen Elementes durch das malerische ist an sich eine aufschlußreiche kulturhistorische Erscheinung, die sich auch bei anderen Dichtern der Kaiser-Generation findet, am ausgesprochensten wohl wieder bei Sternheim („Gauguin und van Gogh" usw.). Sie ist charakteristisch für den Dichter, der in jungen Jahren die Entdeckung des französischen Impressionismus und besonders van Goghs

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erlebt hatte, dieses Malers, der wie kein anderer den Übergang aus dem Impressionismus in den Expressionismus markiert. Van Gogh war der Abgott der jungen deutschen Avantgardisten gewesen, und zwar nidit nur weil seine Art des Sehens der ihren entsprach, sondern weil er ein Künstlertum verkörperte, das sich genial über die Realität zu erheben vermochte. Um sich für van Gogh zu begeistern, bedurfte es ebensowenig einer kunsthistorischen Vorbildung, wie man einst für Wagner hatte schwärmen können, ohne viel von Musik zu verstehen. Von einer besonderen Vorliebe Kaisers zur Malerei kann wohl kaum die Rede sein, und es überrascht uns deswegen nicht, wenn gleich in seinem ersten Malerdrama der Geist van Goghs, in der Prägung der Kaiser-Generation, die Handlung beherrscht. Man darf sich Kaisers Maler sicher alle als Schüler van Goghs oder auch Gauguins denken — der Maler-Freund Alains, Frocquenard („Alain und Elise"), zieht sich auf eine Südseeinsel zurück! So auffallend diese Maler-Gestalten bei Kaiser aber auch sind, sie biegen das Künstlerproblem doch immer wieder dadurch um, daß sie es mit ihren persönlichen Anliegen verschmelzen. Das wird schon an Abel Parr deutlich, dem Helden von „Vincent verkauft ein Bild". Denn wenn Parr ein Bild van Goghs fälscht, um sich aus dem Erlös seine eigene Künstlerexistenz jenseits von Gut und Böse aufzubauen, so handelt er zwar auf seine Weise im Geiste des genialen, mit Nietzscheschen Augen gesehenen Malers und im Dienste der Kunst, aber zu einem Konflikt mit der Gesellschaft, in welcher Form auch immer, kommt es dadurch nicht. Nicht die Gesellschaft, sondern er selbst wird einer Belastungsprobe unterzogen, und zwar letzten Endes im sozial luftleeren Raum. Ein Experiment wird durchgeführt, um den Brechpunkt der Moral festzustellen, die Grenze ihrer Tragfähigkeit, und wenn Parr dabei auf den Widerstand seiner Frau stößt, so vertritt doch auch sie nicht etwa die Außenwelt, sondern spricht als sein alter ego. Ja, diese (übrigens sehr blasse) Frauengestalt ist deswegen so unlöslich mit Parr verbunden wie er mit ihr, weil sie seine menschliche Ergänzung ist. Parrs Wille zur Kunst steht dabei keinen Augenblick zur Debatte, einen Zweifel an sich kennt er nicht, weder an seinem Können noch an seinem

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Wollen. Was am Künstlertum für ihn problematisch ist, ist lediglich dessen ökonomische Determiniertheit, die er nur als unwürdige Fesselung zu sehen vermag und daher zerbrechen möchte. Wäre das möglich, so würde er als Maler seine schöpferische Apotheose erleben: „Wenn ich alles hätte, was ich zum Sdiaffen brauchte: ich würde einen Schöpfungstag beginnen, so rauschend geht die Sonne nidit auf", erklärt der gescheiterte Maler Buxton. Das meint auch Parr. Sein Verhältnis zur Gesellschaft — soweit es ein solches überhaupt gibt — ist also auf entwaffnende Weise naiv, und das Stück lebt einzig und fast lyrisch aus dem intimen Spannungsverhältnis zwischen Abel und Kate Parr, dem Auf und Ab ihres Ringens um die Begriffe Wahrheit und Lüge. Es ist vielleicht nicht Zufall, daß gerade in diesem Nebenwerk autobiographische Züge sich häufen, wie denn das Bild, das Kaiser von seinem Maler entworfen hat, in gewisser Hinsicht eine Selbstprojektion ist, eines seiner möglichen Schattenbilder. „Alain und Elise" dürfen wir aus der Betrachtung des KünstlerThemas in Kaisers später Dramatik ausschließen, denn daß Alain Maler ist, gehört zwar zu den Voraussetzungen der Handlung, berührt aber nicht die eigendiche Problematik des Stückes. Es geht weniger um Alain als um Elise, und es ist denn auch sie, die das Geschehen vorwärts treibt, als eine echte Schwester der Catherine, Agnete und Rosamunde, absolute Frau ganz im Kaiserschen Sinne des Wortes. Aus einem völlig unbeirrbaren, man möchte sagen: mystischen Wissen um ihre Bindung an Alain geht sie ihren scheinbar krummen, in Wahrheit aber doch schnurgeraden Weg, der, wenn man Kaiser ein wenig kennt, weniger rätselhaft ist als das Ziel, zu dem er hinführt, denn dieses Ziel bleibt ungreifbar — ein Sternenziel wie das Bellerophons, jedoch ohne den Stern wirklich sichtbar werden zu lassen: durch Gefängnismauern und Ozeane getrennt — denn Alain hat die Schuld Elises auf sich genommen und büßt für sie — bleiben sie doch eins. Sie bleiben eins, wie Pygmalion und Chaire von Anfang an eins und unzertrennlich sind, schon in der ersten Szene des

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„Pygmalion" denselben Traum träumen. In diesem zweiten der griechischen Dramen ist Kaiser nun die für ihn gültige Gestaltung des Künstlertums wirklich gelungen, und zwar dadurch, daß ihm hier die Frau, als das alter ego des Mannes, mit dem geschaffenen Kunstwerk zusammenfiel. Dabei aber fand eine eigentümliche Verkehrung von Kaisers ursprünglicher Problemstellung statt. Denn wenn bisher seine Frauen immer dadurch ihr spezifisches Gewicht erhielten, daß sie gleichsam die Rolle des Mannes, seine Initiative, übernahmen und in leidenschaftlicher Hingabe an ihre Aufgabe das Absolute in die Wirklichkeit hereinholten, so fällt dem Manne Pygmalion nun die ihm natürliche Rolle wieder zu, und die Frau kehrt in die zarteste Weiblichkeit zurück. Er aber kann das Unmögliche leisten, weil sein Mannsein mit seinem Künstlertum identisch geworden ist, das eine aus dem anderen folgt. Pygmalion hat sein Werk geschaffen — er nennt die Gestalt „Chaire", d. h. Anmut, Grazie, Gnade (nicht Galatea, wie bei Ovid) — und die Göttin vollzieht das Wunder der Belebung, um ihn vor dem drohenden Untergang zu retten. Wieder einmal also war die Wahl des Stoffes ein besonderer Glücksfall, denn nur in dieser einmaligen Konstellation, in der die Orientierung des Künstlers sich mit der des Mannes deckt, konnte die wahre Tragik des Kaiserschen Künstlertums dichterisch sichtbar werden: Pygmalions Verhältnis zur Umwelt wird erst durch das Werk gestört, nicht durch ihn selbst. Erst als Chaire mit wirklichem Lebensanspruch da ist, in die Mitte des Lebens hineintritt, das Kunstwerk also gewissermaßen einen Gleichberechtigungsanspruch stellt, widersetzt sich das Leben, das in solcher Transformation nur einen Betrug sehen kann. Der Schein vermag nicht, Sein zu werden, wie notwendig die Verwandlung für den Künstler selbst auch sein mag. Pygmalion verstrickt sich hoffnungslos in den sich daraus ergebenden Vorgängen und muß sich und sein Werk noch einmal von der Göttin retten lassen. Chaire wird in die Statue zurückverwandelt, und Pygmalion folgt der Witwe nach Korinth. Es ist schwer zu sagen, ob die letzten Worte Pygmalions „Ich komme" als endgültige Resignation des Künstlers aufzufassen sind. Eine Bescheidung liegt wohl sicher darin. Aber in der

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leeren Werkstatt „schimmert die Scheingestalt im Mondlicht" — der Schein ist wiederhergestellt und bleibt. Man sieht: wieder hat Kaiser einen alten Stoff aufgegriffen, um ihm eine ganz neue Form und einen sehr persönlichen Gehalt abzugewinnen. Er hat sich an ihm — so dürfte man urteilen — als Dichter bewährt. Und doch liegt vielleicht gerade hier das Reizvolle nicht nur in der originellen Leistung, sondern in der so vollkommen gelungenen Verschmelzung verschiedenster Elemente. Nicht nur, daß man Anklänge aus Kaisers eigener Diditung vernimmt, vertraute Töne — kennen wir nicht etwa die Gerichtsverhandlung schon ähnlich aus dem „Geretteten Alkibiades"? Gerade der Vers, den Kaiser verwendet, hat audi andere Erinnerungen in das Werk eingehen lassen. Die Erkennungsszene zwischen Pygmalion und Chaire im ersten Akt — wer dächte nicht an die entsprechende Stelle im zweiten Faust, da sich Faust und Helena im Reim gleichnishaft gebunden sehen? Die dichterische Tradition fließt tatsächlich in einem breiten Strom in Kaisers Spätwerk ein. Eine Reihe von diesbezüglichen Feststellungen haben wir bereits machen können; weitere Belege würden sich unschwer beibringen lassen. Wir könnten auf einige Stücke verweisen, wie etwa auf das Schauspiel „Mississippi", in denen Kaiser einen unmittelbaren Anschluß an das traditionelle Theater gesucht zu haben scheint. Auch diese Züge in Kaisers Werk sind bedeutsam und verdienen, genauer herausgestellt zu werden, um den Platz Kaisers in der Geschichte des deutschen Dramas eindeutiger zu bestimmen.

III TRADITION UND GESCHICHTE Georg Kaiser „sei ohne jegliche Tradition", hatte Diebold seinerzeit gemeint, und ihn „modern in furchtbarster Bedeutung" 60 genannt. Ein solches Urteil war aber doch nur möglich gewesen, weil man den Sinn der expressionistischen Stilübungen Kaisers völlig verkannt hatte. Wie sehr dieser Dichter in Wirklichkeit der Tradition verhaftet war, haben wir schon hier und da erkennen können: ganz verstehen werden wir es erst, wenn wir auch jenen Komplex ins Auge fassen, der seit je der Merkstein deutscher Dramatik gewesen ist: das Verhältnis des Dichters zur Geschichte. Wir erinnern uns dabei dankbar an die Anregungen, die wir von Friedrich Sengles wertvoller Darstellung des deutschen Geschichtsdramas61 empfangen haben, wenn es auch zunächst den Anschein haben könnte, als ob unser spezielles Problem mit seinen Kategorien nicht zu erfassen wäre. Denn wenn Sengle das Geschichtsdrama als die Geschichte eines Mythos begreift, wie er ausdrücklich hervorhebt, so geht er von Voraussetzungen aus, die auf das 19. Jahrhundert zutreffen, hier sozusagen zu Hause sind, seit Nietzsche jedoch nicht mehr in dieser Form bestehen. Sengles Darstellung mündet denn auch in Nietzsches Antihistorismus und ist damit zu einer Art Nachruf auf das Geschichtsdrama geworden62. Damit hat er aber die Perspektiven auf die moderne Literatur in einer Weise verkürzt, die der Korrektur bedarf, denn es wäre durchaus möglich, diese seine Schlußfolgerungen schon rein statistisch zu widerlegen. Nach wie vor haben deutsche Dramatiker nämlich geschichtliche Stoffe aufgegriffen63, und zwar gerade diejenigen, denen die Begegnung mit Nietzsche einmal zu einem entscheidenden schöpferischen Erlebnis geworden war. Es ist wohl so, daß seit Nietzsche die Hinwendung eines Dichters zur Geschichte, gleich-

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gültig in welcher Form, eo ipso eine Absage an den Geist des naturalistischen Positivismus bedeutet, wie ja auch auf dem Boden des Naturalismus selbst das Geschichtsdrama nicht hat gedeihen können, jedenfalls über forcierte Ansätze nicht hinausgekommen ist. Was Georg Kaiser betrifft, so war schon sein mit groben Pinselstrichen historisch kolorierter Erstling „Der Schellenkönig" deutlich antinaturalistisch intentioniert gewesen, und mit seinem ersten wahrhaft historischen Drama, der „Jüdischen Witwe", hat er die spätnaturalistische Welt Wedekinds verlassen. Ohne Frage, die Geschichte ist für den modernen Menschen, den Dichter wie sein Publikum, nicht mehr dasselbe, was sie für den des vergangenen Jahrhunderts noch gewesen war. Die Frage, was sich denn innerhalb einer Generation so fundamental geändert habe, hat schon viele Köpfe beschäftigt und kann hier nur in großen Linien beantwortet werden. Es handelt sich wohl in der Hauptsache um einen durch verschiedene Faktoren bedingten plötzlichen Autoritätsverlust der Geschichte, um eine Verschiebung der alten historisch orientierten Denkformen in wissenschaftliche und damit zeitnahe und zeitverbundene. Der Mensch des technischen Zeitalters ist auf das Seiende und Kommende hin ausgerichtet, nicht auf das, was war, Tradition und Humanismus. Ermutigt durch das bereits Geleistete hat er sein Denken auf einen positivistischen Fortschritt hin festgelegt, der zwar nicht mehr teleologisch ist, im Prinzip aber mit den Grundlagen der Aufklärung im 18. Jahrhundert mehr gemeinsam hat als mit dem Historismus des neunzehnten. Es ist nun für den Dichter nicht mehr selbstverständlich, für die große Form des Dramas große geschichtliche Gegenstände zu wählen. Nicht, daß er sich von der Geschichte vollkommen abwendet, aber er zieht sie ins Gegenwärtige hinüber, indem er sie diesem nebenordnet, ins Episodische auflöst. Selbst die großen Leistungen des historischen Dramas werden auf diese Weise enthistorisiert: die Theater spielen sie nun im Zeitkostüm und stilisieren das Gegenständliche. Damit lockert sich der historische Kern, verliert das Exemplarische, wird zur Atmosphäre, Arabeske, Anekdote. Das aber bedeutet für den Dichter keineswegs nur Verlust, denn es

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verschafft ihm die Möglichkeit zu ganz neuen Ansätzen und zu einer eigenen Freiheit des Ausdrucks. Betrachtet man die neuere Geschichtsdramatik, so gewinnt man den Eindruck, daß sich hier tatsächlich etwas dem 20. Jahrhundert zutiefst Entsprechendes durchgesetzt hat. Das Verhältnis des Dichters zur Geschichte ist respektloser aber auch intimer und persönlicher geworden. Er begnügt sich nicht mehr mit der Herausarbeitung pompöser Wahrheiten von nationaler Bedeutung, sondern trägt in jedem Falle etwas in den gewählten Stoff hinein, was nicht schon selbstverständlich in ihm enthalten war, eine „unhistorische" Perspektive — oder aber er öffnet die Geschichte ins Mythologische, gleicht das Geschichtsdrama dem Mysterienspiel an. Nicht zu verkennen ist, daß die Diskreditierung des romantischen und reaktionären Nationalismus die Auflösung des Geschichtsdramas ins Private unterstützt hat (während der Nazizeit wurde diese Entwicklung auf kurze Zeit freilich künstlich zurückgedreht) : ein dramatischer Besuch in Sanssouci wird nidit gleich zu einer vaterländischen Demonstration. Das wirklich Fruchtbare aber war doch nicht die Subjektivierung des geschichtlichen Stoffes, seine Durchdringung mit den jeweils sehr persönlichen Anliegen der Dichter (man denke etwa an Fritz von Unruhs „Louis Ferdinand"), sondern der Drang nach dessen Sublimierung im Symbol. Die entscheidenden Anregungen dazu hat die Neuromantik gegeben, unterstützt durch die gerade damals aufblühende Theaterkultur in Deutschland, und von ihnen hat das europäische Drama bis in unsere Tage gezehrt. Die historischen Gestalten auf der Bühne mögen an objektiver Gültigkeit vieles eingebüßt haben, aber sie haben dafür eine innere Leuchtkraft gewonnen, eine symbolische Transparenz, die dem neueren Dramatiker Möglichkeiten verschafft haben, die das 19. Jahrhundert noch nicht kannte. Das Besondere dabei ist nicht so sehr, daß der Dichter seine Freiheit der Geschichte gegenüber, die ihm ja immer schon, wenn auch oft widerstrebend, zugestanden worden war, nun auf die Spitze treibt und sich damit zum Herrn der Geschichte aufwirft — wie bekanntlich Kaiser das in seiner „Flucht nach Venedig" getan hat — sondern daß er gerade das, was hinter dem mehr oder

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weniger verifizierbaren „Fall" liegt, ins Auge faßt und damit seine Gestalten von einem Licht durchleuchtet werden läßt, das nicht von ihnen selbst ausgeht. Das aber kommt eben doch einer Entwertung der Geschichte gleich, der Unterminierung jedenfalls einer positivistischen Geschichtsauffassung durch etwas dem gleichzeitigen Zug in die Geistesgeschichte Entsprechendes, denn die geschichtlichen Tatsachen werden relativiert, sobald nicht mehr das, was etwas ist oder doch sein könnte, entscheidend ist, sondern das, was etwas bedeutet. Die Verschiebung oder Auflösung des Historischen ins Symbolische, auf die all dies hinausläuft, und die, wie wir heute wissen, bereits mit Hebbel begonnen hat®4, ist wohl ein Teil jenes Säkularisierungsprozesses, dem man in unseren Tagen eine so faszinierte Aufmerksamkeit zuwendet. Dafür ist aber Voraussetzung, daß sich auch die Funktion des Symbolischen selbst gewandelt und gewiß erweitert haben muß — ein Vorgang, den man bisher weniger beachtet zu haben schieint, und der wohl dadurch zu erklären ist, daß das Kunstsymbol das religiöse Symbol verdrängt und dessen Magie weitgehend absorbiert hat. In der modernen Lyrik sind diese Dinge begreiflicherweise am leichtesten zu fassen, aber auch im Drama liegen sie offen zutage, und zwar am deutlichsten dort, wo man in gefiihlshaft-einseitiger Anknüpfung an den „Faust" (und unter Berufung auf Hölderlin und Richard Wagner) dramatische Mysterienspiele zu schaffen unternahm, die mit dem aristotelischen Theater gründlich aufräumen und gelegentlich mit einem unverhüllten religiösen Anspruch vor ihr Publikum treten. Viele Faktoren, unter denen die Ergebnisse der neueren, mythologisch orientierten Psychologie besonders ins Auge fallen, haben hier zusammengewirkt, um eine ganz neue Situation zu schaffen. Selbst wenn wir diesem zeitgenössischen Mysteriendrama bestenfalls nur den Charakter einer Mischform zuerkennen können, so etwas wie eine „Gesamtreligion", so können wir uns doch nicht gegen die Tatsache verschließen, daß auch das legitime Theater von diesen Vorgängen beeinflußt worden ist. So wäre zum Beispiel festzustellen, daß die einst streng durchgeführte Unterscheidung von historischen und mythologischen Stoffen bereits zu einer fast akademischen

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Frage geworden ist und für unser Gefühl nicht mehr zu Recht besteht. Die Geschichte scheint im selben Maße mythologisiert worden zu sein, wie sich die Mythologie durch die Ergebnisse neuerer Forschungen mehr und mehr historisiert hat. Ein Drittes hat sich zwischen ihnen herausgebildet, das als Kunstwerk den offensichtlichen Weltverlust durch ästhetische Illusion ersetzen wollte. Von hier aus verstehen wir auch vielleicht Kaisers gelegentliches Spielen mit religiösen Symbolen besser: Kassierers Tod vor dem Kreuz, die dem Christlichen ungeschickt entlehnte Symbolik von „Noli me tangere" und vieles andere. Es ist keineswegs so, als ob er hier mitten im Expressionismus plötzlich fromm geworden wäre, denn gerade die expressionistische Generation liebte ja solche leicht eingehenden Geheimnisse, und auch hier berief man sich heimlich, auf den „Faust"®5. Aber diese seelischen Vorgänge haben weite Kreise geschlagen, wie ein Seitenblick auf die Epik, nicht zuletzt auf Thomas Mann, erhellen würde88. Manns schöpferische Leistung liegt ja gerade, alles in allem genommen, in seiner epischen Wiedergewinnung mythischen Bodens. Nicht nur in den Josephsromanen, sondern auch — und in unserem Fall, das Historische betreifend, noch einleuchtender — in „Lotte im Weimar" sind Geschichte und Mythos eine solche Verbindung eingegangen, und zwar auf Grund einer bewußten Rückkehr in den Humanismus. Der Begriff „mythologischer Humanismus" ist möglich geworden. Diesem Drang ins Klassisch-Humanistische auf dem Boden mythologisierterGeschichte— das von manchen Dichtern der Generation zu einem Gegenstand fast religiöser Verehrung erhoben wurde — begegnen wir auch bei Kaiser, am deutlichsten in seinen mittleren, „expressionistischen" Jahren: die „Bürger von Calais" wollen sicher in diesem Lichte gelesen sein. Für das moderne deutsche Drama haben sich durch diese Tendenzen Bedingungen ergeben, die denen der frühklassischen Zeit wieder erstaunlich nahe kommen87 und die Entwicklung klassischer (oder doch klassizistischer) Formen gefördert haben. Der Grad derMythisierung des Historisch-Realen hat das Streben nach festen Formen jedenfalls weitgehend mitbestimmt. In den symbolischen Welten Barlachs etwa oder des

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frühen Werfel („Bocksgesang") können Menschen von Fleisch und Blut mit Geistern und Gnomen unter einem Dach leben und das Gefühl für Zeit und Raum verlieren, während bei Kaiser Gestalten aus Mythologie, Sage und Geschichte sich unbehindert im selben Raum bewegen, damit aber das Wirkliche nicht in Frage stellen, sondern erweitern. Selbst dort, wo Geschichte noch als solche gesucht zu werden scheint, läßt sich dieselbe Auflösung des Konkreten und dokumentarisch Belegbaren feststellen: die alte Differenzierung zwischen Geschichte und bloßer geschichtlicher Fabel oder Anekdote fällt weg88. Für den modernen Dramatiker besitzt das nur Erfundene und irgendwie an die Geschichte Angelehnte ebensoviel Wahrheit, wie die handfesteste Tatsache. Die stoffliche Textur ist für ihn in beiden Fällen dieselbe. Wieder ist der Dichter — um mit Lessing zu reden®9 — „Herr über die Geschichte" geworden, freilich auf Grund ganz anderer Voraussetzungen als bei ihm. Wir verstehen dieses Verhältnis zur Geschichte vielleicht am besten, wenn wir es aus dem entgegengesetzten Blickwinkel ins Auge fassen und beobachten, daß die Verwischung der stofflichen Grenzen für ihn weniger bezeichnend ist als vielmehr die Tatsache, daß er trotz seines offenbar reduzierten Geschichtssinnes doch immer wieder an der Geschichte festgehalten hat, und zwar gerade zu dem Zweck, der völligen Relativierung und Atomisierung des Kunstwerkes vorzubeugen. Dadurch ergibt sich die scheinbar paradoxe Situation, daß der Dramatiker unseres Jahrhunderts, soweit er noch den Willen zur großen Form besitzt, das historische Drama ablehnt und es dennoch sucht, daß er mit Lessing meint, Herr über die Geschichte zu sein, und mit Goethe weiß, daß für den Dichter „keine Person historisch" ist. Diese Ambivalenz des Dramatikers der Geschichte gegenüber läßt sich nun bei Kaiser nicht nur demonstrieren, sondern geradezu belegen. „Man stellt den Unsinn der Historie fest", lesen wir in seinem viel zitierten programmatischen Essay „Historientreue" aus dem Jahre 1923, „Stirnrunzelnd liest man in Wälzern des kleinen Moritz Weltgeschichte — steht man vor der Zeitgeschichte: was hat sich die Historie dabei gedacht? Das ist ein Nacheinander von Vorfällen, die sinn- und zwecklos

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keinem zunutze sind. Ein hingeschmissener Steinhaufen, aus dem das Haus zu bauen nunmehr beflisseneren Händen überlassen ist. Die Hände legt der Dichter an." Auf den ersten Blick fühlen wir uns bei solchen Worten an Hebbel erinnert, der die materielle Geschichte einmal ganz ähnlich einen buntscheckigen ungeheuren Wust von zweifelhaften Tatsachen genannt hat, und ein anderes Mal von ihr als einem verdächtigen „Conglomerat von Begebenheiten-Skizzen und Gestalten-Schemen" sprechen konnte70. Das sind aber doch nur milde Seufzer im Vergleich mit Kaisers Ausbruch, und wir dürfen wohl vermuten, daß sich hinter seinen lauten Demonstrationen eine ungleich größere Unsicherheit, eine vielleicht für ihn selbst oft unerträgliche Zwiespältigkeit verbirgt, auch wenn man geneigt sein sollte, seinen langen Aufenthalt im Berliner Klima als mildernden Umstand für den „ton qui fait la musique" anzuführen. Der Unterschied zwischen Hebbel und Kaiser ist jedoch nicht nur ein emotionaler. Denn während Hebbel die materielle Geschichte noch vom Geist und der Idee aus wertet, sieht Kaiser sie aus der Perspektive der Zeitgeschichte, so daß er Geist und Materie gar nicht mehr als verschiedene Kategorien erkennt. Aber wenn Kaiser die Geschichte von der Gegenwartsproblematik her begreift, so geschieht das doch insofern vor allem negativ, als er sie als Mittel zur Gegenwartsdeutung ablehnt. Besonders aber in seiner expressionistischen Zeit — hier jedoch eben auch wieder nur in den expressionistischen Stücken selbst — ist seine Einstellung das, was man gemeinhin als geschichtsfeindlich bezeichnen würde. „Wie eine Kreuzigung lastet das auf uns — diese Masse der Vergangenheit", heißt es in der „Koralle" einmal. Die Geschichte belehrt nicht und erklärt nichts, es ist aus ihr keinLidit für die Gegenwart Zugewinnen — oder, wie Goethe das einmal formuliert hat: es ist dabei doch „nichts herausgekommen". Daher sind auch Kaisers Geschichtsdramen keine Parabeln, und wir werden mit Zurückhaltung jenen Interpretationen etwa der „Europa" begegnen, die dieses Stück einfach als eine Satire auf das Berliner Literatenwesen lesen wollten71. Wenn Kaiser eine derartige Polemik, im Stil seiner frühen Komödien („Die Falle"), wirklich im Auge gehabt hat, so hat er sie doch

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auf eine Weise in seine Dichtung eingehen lassen, daß der heutige Leser sie kaum noch merkt. Kaiser baut sich nicht eine historische Welt auf, um von ihr aus die Gegenwart kritisch zu beleuchten. Wenn er es aber in den Jahren der Reife immer verschmäht hat, f ü r irgendeinen seiner Stoffe genauere Studien zu treiben und sich mit einigen wenigen Anhaltspunkten jeweils begnügte, um den gesuchten Raum dann aus eigener K r a f t auszugestalten 72 , so ist doch festzustellen, daß er ursprünglich durchaus von der konventionellen historisdhien Methodik ausgegangen ist, denn für das geplante Jugenddrama über Artaxerxes I I I . („Der Dolch") haben sich eingehende Quellenstudien erhalten. Es handelt sich also bei dem Verhältnis des späteren Dichters zur Gesdiidite um eine neugewonnene Position. Trotzdem aber ist es nicht so, als ob Kaiser es im Prinzip vorgezogen hätte, seinen Standort in der Gegenwart zu suchen. Audi die Zeitgeschichte ist ihm letzten Endes nodi Geschichte gewesen. Abgesehen von den meisten seiner frühesten Versuche, in denen er als Dichter noch unselbständige Wege ging, ist eigentlich nur seine expressionistische Dichtung wirklich gegenwartsnah gewesen. Selbst in der expressionistisch-aktivistischen Streitschrift „Historientreue", von der die Rede war, hat Kaiser sein tieferes Anliegen zum Schluß doch nicht ganz verschweigen können und in einem schönen, sprachlich harmonischen Bekenntnis ausklingen lassen: „Fließend und unstet sind Natur und Geschichte — beständig ist nur der Mensch." Kaisers Verhältnis zur Geschichte ist also komplexer, als der Aufsatz „Historientreue" anzudeuten scheint, der seine Entstehung ja audi weniger einem echten Bedürfnis nach theoretischer Klärung verdankt als der Notwendigkeit, sich gegen seine Kritiker zu verteidigen 73 . Er war eine reine Verteidigungsaktion und ist als soldie cum grano salis zu nehmen. Aber die Theorie war überhaupt Kaisers Sache ebenso wenig wie sie die zum Beispiel Hauptmanns war. Er vermochte nicht, sich gedanklich über die Ebene seines dichterischen Schaffens zu erheben. Seine Meinungen wie seine Dichtungen sind daher voller Widersprüche, was die in ihnen enthaltenen Selbstaussagen betrifft, und es ist o f t schwer, sich durch die wechselnden Positionen des Dichters

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einen Weg zu bahnen. Der Widerspruch liegt tief in seinem Wesen begründet. Erst im Widerspruch wird ihm das Dasein lebendig, und so ist es nicht verwunderlich, wenn er zeitweise hat glauben können, die ihm gemäße Methode dramatischer Stoffentwicklung wäre eine an Piatons Dialoge sich anlehnende Dialektik 74 . Aber er hat doch scheinbar sehr bald erkannt, daß Piaton nicht das Urbild des Dramatikers war, für das er ihn in seiner ersten Begeisterung gehalten hatte. Der grundsätzliche Lebens-Widerspruch wollte gestaltet, nicht dramatisch-philosophisch gelöst sein. Streng genommen war ja auch schon der „Gerettete Alkibiades" nicht dialektisch, sondern antithetisch aufgebaut worden. Ein solcher gedanklicher Widerspruch besteht zum Beispiel zwischen den Aussagen über die Geschichte aus dem Jahre 1923 und folgendem Passus über Plutarch, wie er sich in der „Agnete" (aus dem Jahre 1935) findet: „Schicksale werden uns geschildert — großartig und befremdend. Das ist doch ungeheuerlich, daß ihre zeitliche Beziehung ins Unauflösliche geweitet ist. Wir nehmen am Verschollenen teil, als wäre es unsere Gegenwart, die das gebiert. Verwandelt sich der Mensch so wenig?" Wieder wird historisches Geschehen vom Standpunkt des Heutigen aus visiert, nur eben nicht von dem der sogenannten „Zeitgeschichte". Der Vorgang ist insofern aber ein anderer, als der Dichter hier nun etwas Spezifisches im historischen Moment, das Symbolträchtige gleichsam, aus dem Rahmen des Geschehens heraushebt und in den Raum des Reinmenschlichen rückt, in dem jeder Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit hinfällt. Der so gesehene Mensch ragt aus dem Historischen ins Mythische hinüber, in eine von allem Stofflichen freie Welt des menschlichen Seins, die „ins Unauflösliche geweitet" ist. Es ist derselbe Mensch, von dem Kaiser zwölf Jahre vorher hatte schreiben können, er sei das beständige Element. Wenn nun aber Kaisers Verhältnis zur Geschichte auf solche Weise und aus den Perspektiven des 19. Jahrhunderts gesehen als geschichtsfremd bezeichnet werden darf, so wäre doch auch gleich wieder daran zu erinnern, daß das bei ihm keineswegs immer so gewesen ist, ja daß er, wie wir bereits feststellen konnten, wie 7 Paulicn

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noch jeder deutsdie Dramatiker an der Geschichte recht eigentlich erst zum Dichter geworden ist; und wir dürfen ferner nicht vergessen, daß er sich auch aktuellen Stoffen gegenüber in den entscheidenden Jahren seines Werdens nicht anders verhalten hat. Der Aktualisierung der Geschichte entsprach bei ihm das Bedürfnis nach Vergeschiditlichung — oder doch wenigstens nach Entzeitlichung des Aktuellen. „Die Entnahme des Stoffes aus der Zeit, die gegenwärtig ist, enthebt diesen Stoff über die Zeit", meinte er schon in dem Essay „Ein Dichtwerk in der Zeit" (1922)75, wobei er durchaus die Vorzüge eines solchen Stoffes dem Geschichtlichen gegenüber zu schätzen wußte, denn „das Mittel (ungegenwärtiger) Historie", erklärte er weiter, „läßt das Thema nicht zur prägnantesten Deutlichkeit hin. Es bleibt ein zäher Rest von Kostüm und Kulisse, den ins Wesentliche aufzulösen nicht gelingt". Die Erfassung des Wesentlichen aber ist die eigentliche Aufgabe. Fassen wir nun unsere Ergebnisse zusammen, so müssen wir zunächst in Kaisers mittleren, d.h. den „expressionistischen" Jahren einen offensichtlichen Widerwillen des Dichters gegen das Geschichtliche konstatieren, und wir dürfen schließen, daß dieser Widerwille schon deswegen nicht grundlos war, weil ihm die Umsetzung reiner Geschichte in Dichtung, die Transformation rohen Stoffes in sein eigenes Medium, bisher nicht recht hat gelingen wollen (auch in „Gilles und Jeanne" noch nicht, das schwer unter dem historischen Ballast leidet). Er vertrug historische Tatsächlichkeit als Dichter nur in kleinen, assimilierbaren Dosen. Trotzdem aber hat er sich doch auch über seine Aversion immer wieder hinwegzusetzen gewußt und eine Reihe seiner gültigsten Gebilde gerade aus historischen Stoffen zu gewinnen vermocht. Schon aus diesem Grunde sind auch seine eigenen Bindungen an die deutsche Literaturtradition, nämlich an das deutsche Geschichtsdrama, nie abgebrochen, und fast alle Kritiker haben irgendwann einmal seine Nähe zu diesem oder jenem seiner großen Vorgänger deutlich empfunden. „Es ist, als ob sich in Kaisers Werk die Entwicklungslinie des deutschen Dramas seit Schiller wiederhole", hat einer unter ihnen sogar einmal gemeint76. Der

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Gedanke ist durchaus richtig, auch wenn er insofern unglücklich formuliert ist, als er die Vorstellung erwecken könnte, Kaiser habe, von Schiller ausgehend, den Entwicklungsweg des deutschen Geschichtsdramas — oder den des deutschen Dramas überhaupt — in seinem Werk wiederholt. Schiller muß früh, wohl schon in der Schulzeit, zu seinem selbstverständlichen geistigen Besitz geworden sein, wenn es auch schwer fällt, das im einzelnen zu belegen. Aber es ist bei Kaiser ja immer wieder derselbe Vorgang: nichts Konkretes wird aufgegriffen, keiner spezifischen Anregung gefolgt, aber dem schöpferischen Fluidum, dem Geist des Dichters, ist er offen. Befruchtungen können stattfinden, auch wo Kaiser sich — in unschöpferischen Augenblicken — von seinem Vorbild demonstrativ distanziert. Sehr deutlich wird das im Falle Georges: während sich in seinen späten Briefen violente Ausfälle gegen George finden, schwingt in seiner Lyrik Georgescher Tonfall ganz unmißverständlich nach — ja, man könnte geradezu meinen, daß seine kritische Stellungnahme diesen Eindruck nur verwischen sollte. So wird ihn denn auch bei Schiller nicht das Technische oder irgendwelche Problemstellung fasziniert haben, sondern das Zwingende des dramatischen Werkes als solches. Schon Diebold meinte 77 , in Kaisers Hang zum Pathos, besonders in den Dramenschlüssen, bleibe Schiller spürbar — ja, er glaubte, auch in Kaisers Moralismus etwas Schillersches erkennen zu können, was wir dahingestellt sein lassen wollen. Wo sich aber direkte Bezüge auf Schiller finden78 — und sie sind vielleicht gar nicht so selten —, gehen sie augenscheinlich und sehr begreiflicherweise auf den jungen Schiller zurück. Kaisers eigentliche dramatische Ansätze aber liegen doch, nach Uberwindung der ersten Anregungen aus der Welt Hofmannsthals und Georges, von denen schon die Rede war, in der Nähe Hebbels und nicht Schillers, wie überhaupt wohl die Auseinandersetzung mit Hebbel für die junge Dramatiker-Generation, die durch den Expressionismus hindurchzugehen hatte, fruchtbarer gewesen ist, als unsere Literaturgeschichten wahrhaben wollen 79 . Es ist ja wohl nicht Zufall, daß die „Jüdische Witwe", in der Kaiser seine eigene Sprache erstmalig gefunden hatte, stofflich auf Hebbels „Judith" zurückgeht80. Der junge Dichter stößt 7·

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sich von Hebbel gleichsam ab, indem er ihn zu überbieten trachtet, wie er das auch später noch, etwa im Falle Büchner, getan hat. Vorbildlich wurde Hebbel für ihn aber doch durch etwas ganz anderes: die Grundtendenz seines Dramas nämlich, den Stoff jeweils von der Form her zu erfassen und zu beleben. Hebbels Drama war für die Kaiser-Generation die letzte große Formleistung vor dem Naturalismus gewesen, von dem man wieder fortstrebte, und wenn man daher auf Hebbel zurückgriff, folgte man im Grunde der Weisung Georges, war man zum mindesten konsequent. Das Spezifische der Kaiserschen Form ist in den Grundzügen tatsächlich sehr hebbelisch. Wir werden Diebold zustimmen, wenn er einmal von dem Gesetz der „Dreifaltigkeit" bei Kaiser spricht und von dessen „Instinkt für dramatischpsychologische Dreiheit von ,Spannung', ,Hemmung' und ,Lösung' " 81 , nur werden wir ihm nicht folgen, wenn er dann im selben Atemzug diese Gesetzhaftigkeit des Kaiserschen Dramas auf Hegel bezieht. Hebbels hegelisierende Geschichtsspekulationen lagen ihm recht fern. Löst man aber Kaisers Gesetz der dramatischen „Dreifaltigkeit" — oder wie immer man es bezeichnen möchte — aus diesen philosophischen Zusammenhängen heraus, dann wird es deutlich, daß hinter dem Hebbelschen Theater nicht nur Hegel, sondern die deutsche klassische Theatertradition überhaupt steht. Was Hebbel für Kaiser bedeutet hat, erhellt daher aus den „Bürgern von Calais" unmittelbarer als aus der „Jüdischen Witwe": der zum Ritus gesteigerte Prozeß der Handlungswiederholung und thematischen Korrespondenzen, auf denen das Stück strukturell aufgebaut ist, geht sicher (in der Brechung durch die Hofmannsthal-Welt) auf „Herodes und Mariamne" zurück, und ganz ähnlich verhält es sich mit dem anderen Neugewinn Kaisers in den „Bürgern von Calais": der ihm so eigenen Formsprache. Gerade am Hebbel-Stoff der „Jüdischen Witwe" hatte er sie sich ja erarbeitet, um sie nun mit großer Virtuosität zu handhaben. Gewiß hat er sich in der Folge sprachlich sehr durch den Expressionismus bestimmen lassen, aber doch eher im einzelnen als im Prinzip 82 , denn das Wissen um die Notwendigkeit sprachlicher Straffung hatte er doch sdion aus Hebbel gewonnen, dem bereits sehr bewußt war, daß „vom Drama nun

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einmal ein gewisser Laconismus unzertrennlich" sei. Hebbels Form also ist dem werdenden Dichter ganz sicher ein entscheidendes Erlebnis gewesen, während ihm aber, wie wohl überhaupt seiner Generation, jedes tiefere Verständnis für Hebbels Gedanken fehlte. Den Impressionisten des Geistes, denen alle festen Denkgefüge zerbrochen waren, mangelten die inneren Voraussetzungen für synthetisierendes geschichtsphilosophisches Denken. Die Welt ordnete sich ihnen nicht mehr in ein System. Ordnung und Form waren für sie jeweils aus dem Bild schöpferisch neu zu leisten. Sie mußten versuchen, das Leben, auch in seinen historischen und daher — wie das 19. Jahrhundert geglaubt hatte: objektiven — Manifestationen „am farbigen Abglanz" zu erkennen. Oder ließe sich vielleicht bei Kaiser doch ein Nachklingen der philosophischen Gedankengänge Hebbels nachweisen? U n d zwar zu allen Zeiten seines Lebens? Könnte man nicht zum Beispiel in der „Gas"-Trilogie so etwas wie einen invertierten Ablauf von These, Antithese und Synthese feststellen, einen Geschichtsverlauf jedenfalls, der zu seiner Vollendung der Dreistufigkeit bedarf? Oder denken wir an das in Kaisers Diditung eigentümlich dastehende Stüde „Mississippi" mit seiner antithetischen Zeitvorstellung von Gottesreich und Menschenreich. Wo man hingreift, immer wieder stößt man auf sonderbare innere Beziehungen. Fix hat einmal darauf aufmerksam gemacht, daß Kaiser dadurch zu Piaton gefunden habe, daß er wie Nietzsdie und im Gefolge Nietzsches „die Sokrates-Figur an den Beginn eines neuen Aeons" 8 4 gestellt habe. Das ist durchaus zutreffend und bleibt der gültige Ansatzpunkt für jede Interpretation des „Geretteten Alkibiades". Aber steht hier denn Hebbel so ferne? L ä u f t das nicht hinaus auf das Wissen Kaisers um die dramatische Bedeutung der Zeitwende? Man könnte geradezu vermuten, daß ihm Nietzsches Sokrates-Kritik so fruchtbar werden konnte, weil sie auf Vorstellungen beruhte, die ihm aus Hebbel bereits bekannt waren, so daß sein Weg in den Piatonismus, auf den er sich zeitweise soviel zugut getan hat, recht eigentlich die logische Folgerung aus dem ihm durch die Tradition vererbten Hebbelianismus gewesen wäre.

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Die Unterschiede aber bleiben trotzdem groß. Selbst wenn sich dem Dichter Kaiser der geschichtliche Verlauf derart aufspalten kann, weil ja der dramatische Vorgang der Antithese nicht entbehren und nur völlig nihilistische Hoffnungslosigkeit ohne synthetisierende Ausblicke auskommen kann, haben sich die philosophischen Ansichten gründlich geändert. Adolf M. Schütz hat einmal bei der Betrachtung der „Lederköpfe" von deren „historisch-zeitloser" Geschichte gesprochen85 — eine glückliche Formulierung, die wir auf Kaisers Geschichtsbild ganz prinzipiell anwenden möchten, denn durch die Erweiterung ins Zeitlose hebt Kaiser die Geschichte in den Mythos vom Menschen. Der Vorgang läßt sich als Tendenz bestimmen, die durch die Konvention scheinbar gesicherten historischen Figuren mit rein menschlichen, fast privaten Schicksalen zu überlagern und so zu relativieren. So steht in dem großen historischen Schauspiel „Gilles und Jeanne" nicht Jeanne d'Arc im Mittelpunkt des Geschehens, sondern Gilles, und zwar ein sehr kaiserrischer Gilles, der mit der Geschichte nicht viel zu tun hat, und ebenso im „ Frauenopfer " zunächst noch Lavalette und nicht Napoleon. Doch auch schon in den früheren Dramen sind die Verhältnisse zwischen historischen Haupt- und Nebenfiguren auf ähnliche Weise invertiert, obgleich der Dichter hier der literarischen Tradition noch im allgemeinen folgen konnte. Eine sehr moderne Judith drängt nicht nur Nebukadnezar, sondern auch Holofernes in den Hintergrund, und Marke überschattet vollkommen Tristan und Isolde (im „König Hahnrei"). Schon Judith war ja, obwohl sie als jungfräuliche Witwe ihre Abhängigkeit von Hebbel nicht verleugnet, keine wirklich Hebbelsche Figur mehr gewesen, wie überhaupt die Frau bei Kaiser nun eine ganz andere Rolle spielt. Sie ist zwar auch bei ihm noch fähig zur großen selbstaufopfernden Tat, nicht aber aus dem Bedürfnis, irgendeinem Prinzip zum Siege zu verhelfen und dabei über den Mann hinauszuwachsen, sondern aus einem Wissen um die letzte Unlösbarkeit ihres Lebensrätsels und oft genug geradezu aus einem Verlangen nach Selbstauslöschung. Kleist steht hier zum mindesten näher als Hebbel, wenn auch der OpferBegriff bei Kaiser dadurch kompliziert wird, daß er sich mit

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anderen Faktoren kreuzt, zum Beispiel dem Phänomen der Lüge. Agnete war zum Opfer durchaus bereit gewesen, aber das Schicksal hat es nicht angenommen, und was ihr am Ende übrig blieb, war die Resignation — die freilich auch wieder Opfer ist. Ihren Grund hat diese Akzentverschiebung darin, daß die Beziehung zwischen Mann und Frau nicht mehr nur ethisch bewertet wird, sondern aus einer Vielfalt seelischer und körperlicher Spannungen besteht, die der Mensch nicht zu entwirren vermag. So sterben Sylvette (im „Brand im Opernhausβ ) 8 β und die Gräfin (im „Frauenopfer"). Zwischen Mann und Frau liegt der Abgrund des Liebeserlebens. Wir dürfen mit dem bescheidenen Gewinn unserer Überlegungen zufrieden sein, denn wir wollen ja aus Kaiser weder einen Schiller- noch einen Hebbel-Schüler machen. Wichtig ist uns lediglich die Feststellung, daß die großen Leistungen der Vergangenheit nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind, oder er an ihnen — daß sie ihn vielmehr auf eine eindrücklichere Weise gebildet haben, als das irgendeine direkte Entlehnung zu tun vermocht hätte. Zwischen Kaiser und dem 19. Jahrhundert, Schiller so gut wie Hebbel, Kleist, Büchner oder Grabbe, liegt nun aber nicht nur der Naturalismus, mit dem sich auseinanderzusetzen für den jungen Dichter eine Selbstverständlichkeit war, dazwischen ragt vor allem die Gestalt Nietzsches, dieser so deutsche Wendepunkt im geistigen Geschehen der Zeit. Unser Bild wäre ohne den erneuten Hinweis auf Nietzsche nicht vollständig, nicht einmal richtig, denn was Kaiser sich auch im Verlaufe seines Lebens geistig angeeignet hat, es wurde immer wieder durch dieses frühe und bestimmende Erlebnis gefiltert und gewandelt. Wir kennen die Geschichte dieser frühen großen Erschütterung in Kaisers Jugend zum mindesten in ihren Umrissen87. Wichtiger aber als die Frage, wer ihn mit Nietzsche vertraut gemacht hat und wann, oder welche Schriften ihn insbesondere beschäftigt haben, ist die, was ihm Nietzsche überhaupt bedeutet hat, die Frage also nach der Art dieses Nietzsche-Erlebnisses. Es ist für Kaiser wohl bezeichnend, daß ihn an Nietzsche nichts so berührt zu haben scheint wie der Eindruck der großen, pathetischen Geste, das, was

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wir heute gerne als das Blendende und damit doch auch wieder Äußerlichste an der Erscheinung Nietzsches zu sehen geneigt sind: die melodramatische Übermenschen-Gebärde. „Oh, meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!" lautet das Motto, das er der „Jüdischen Witwe" vorausgeschickt hat, damit die Komödie von Judith und ihren einzigartigen Schwierigkeiten unter das Gebot Nietzsches stellend. Die Geschichte von Einflüssen ist eben auch immer schon eine Geschichte von Mißverständnissen oder doch sehr persönlichen Interpretationen. Bei Kaiser fällt die Beharrlichkeit auf, mit der er sein ganzes Leben lang an dieser Linie festgehalten hat. „Warum ich Werke veröffentliche? Um nicht in den Verdacht zu geraten: mit den anderen einverstanden zu sein" — also sprach Georg Kaiser, nicht lange vor seinem Tode noch88. Wieder also handelt es sich um eine sehr formale Anregung, um eine Beeindruckung durch etwas im wesentlichen Visuelles, auf der Ebene des Gefühls, Geist nicht als Gedanke, sondern als Erscheinung — und dies wäre wohl der Punkt, von dem aus das so wirkungsvolle Clich£ Diebolds vom „Denkspieler Kaiser" endlidi überwunden werden könnte. Kaisers Reaktion auf Umwelt wie Geschichte — und Nietzsche bedeutete ihm beides — war primär ästhetisch-emotionaler, nicht reflektiver Natur, eben weil er seinem ganzen Wesen nach Dichter war — Ver-Dichter, und nicht Denker. So ist sein Verhältnis zu Nietzsche denn auch ein von Grund aus anderes gewesen als etwa das von Schiller zu Kant oder von Hebbel zu Hegel, und man kann ihn nur im weitesten Sinne des Wortes einen „Jünger Nietzsches"89 nennen, denn wenn er ihm auch irgendwie und irgendwo nachgefolgt ist, sich in seinem Kielwasser bewegte — ein „Schüler" Nietzsches ist er nicht gewesen. Nirgendwo läßt sich bei ihm ein tieferes Eindringen in Nietzsches Gedankenwelt belegen, ein Sachverhalt, der übrigens auf viele expressionistische Dichter (zum Beispiel ganz sicher auf Sternheim!) zutrifft. Man hat sich Nietzsche und andere DichterPropheten hier meist durch Osmose angeeignet. Heinrich Mann etwa oder Reinhard Sorge, bei denen das nicht zutrifft, sind da durchaus Ausnahmen. Rein gedanklich war es wohl hauptsächlich Nietzsches Sokrates-Kritik, die schon den jungen Kaiser,

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wie wir gesehen haben, wirklich unmittelbar beschäftigt hat und ihm einen sehr persönlichen, wenn auch höchst subjektiven Zugang zu Piaton — Piaton, dem Dichter! — ermöglichte. Der Gedanke führte ihn also zur dichterischen Schau, zum Bild zurück. Aber das bezeugt doch eben nur, wie fruchtbar die Anregung gewesen war: sie wies ihm die Wege nicht nur zum „Geretteten Alkibiades", sondern auch in die griechische Welt der späten Dramen, audi wenn es in ihnen nun nicht mehr um die Gestalt des Sokrates selbst ging. Was er gelegentlich des „Geretteten Alkibiades" einmal schreiben konnte, gilt auch noch für die griechischen Dramen: „Ich glaube — fühle — weiß: daß ich fast Unmögliches geleistet habe. Der ganze Piaton ist darin — der ganze Nietzsche" — man beachte diese nicht zufällige Nebeneinanderstellung!—„und alles aufgelöst in szenischer blutvollster Gestaltung. Ich habe Griechenland neu geschaffen — und das des Goethe, Winckelmann umgestürzt. Die Menschheit muß mir danken — oder es gibt sie nicht." 90 Diese Dinge liegen auf der Hand, und doch befriedigen sie uns nicht ganz. Die Rechnung geht nicht so auf, wie man sich das wünschen möchte. Denn was hätte der gerade dem expressionistischen Drama Kaisers zugrunde liegende, freilich ganz gefühlshafte Sozialismus91 mit Nietzsche zu tun, was die dem Christentum entlehnten Erlösungsvorstellungen, was das Wissen des Dichters, in späteren Jahren, um das Mythische der menschlichen Begegnung? Bestenfalls in dem Moment des „Aufbruchs", das so viele Kaisersche Helden erleben, könnte man ein Echo aus Nietzsches Welt erkennen, aber auch dem Christentum liegt das ja nicht fern. Es ist wohl so, daß die Begegnung mit Nietzsche nur ihm bereits Eigenes befruchtet, auf eine nicht weiter beschreibbare Weise ihn zu sich selbst hingeführt hat. Deswegen ist es auch nicht weiter verwunderlich, ihn manchmal in deutlicher Opposition zu Nietzsche zu finden, und man hat ihn gelegentlich sogar einen Antipoden Nietzsches nennen können 92 . Die Linien verschwimmen offenbar in einer sehr allgemeinen Bewunderung, die audi durch den Widerspruch nicht behindert wird: ein recht Kaisersches „Sowohl-Als auch" also und im tieferen Sinne Nietzsche doch wieder sehr gemäß. Der Schluß aber,

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der sich daraus ergibt, ist der, daß Kaisers Dichtung weniger unter dem Eindruck oder Einfluß Nietzsches gestanden hat als Kaiser selbst, als Mensch wie als Dichter — jener Kaiser nämlich, der auf so stolze Weise sicher war, über dem Durchschnitt des Menschlichen zu stehen und in seinen diesbezüglichen Äußerungen auch vor der Arroganz nicht zurückschreckte. In seinen direkten Verlautbarungen, seinen Essays und selbst noch den letzten Aphorismen, begegnen wir dem Nietzsche-Tonfall in seiner reinsten Form: da redet ein Prophet, ein Zarathustra, nicht ein Dichter, der irgendwelchen Forderungen des Tages nachkäme. Aber auch hier gleich wieder der Zug ins scheinbare Paradox: denn ist eine derart überspitzte und aggressive Selbstsicherheit nicht im Grunde nur ein überkompensierter Inferioritätskomplex? Von Nietzsche bis zur Neurose 93 scheint es bei Kaiser nur ein Schritt zu sein. Das brauchte uns des weiteren nicht zu bekümmern, wenn es sich dabei um einen Einzelfall handelte: tatsächlich aber liegen die Dinge zum Beispiel bei Sternheim auf erschreckende Weise ähnlich®4. Nur in einer Hinsicht scheint die Gestalt — und wieder nicht das Werk — Nietzsches auch in der Dichtung Kaisers, und zwar gerade in der historischen, eine deutliche Spur hinterlassen zu haben, und es ist sicher kein Zufall, daß das gleichzeitig eine der wenigen Stellen ist, wo sich bei ihm dichterische und persönliche Lebenswelt überschneiden: wir meinen seine dramatischen Bemühungen um die Figur Napoleons. Einzigartig steht sie da in seinem Werk, mit keiner sonst vergleichbar. Jede andere historische Größe, die in seinem Werk auftaucht, ist entweder vom Menschlichen her relativiert (Sokrates, Alkibiades, Gilles), oder aber als das lebensfeindliche Prinzip an sich verurteilt worden (Basileus in den „Lederköpfen"). Historische Größe, besonders wenn sie in Uniform auftritt, scheint ihm instinktiv suspekt gewesen zu sein, wenn sie nicht geradezu als das Prinzip des Lebensfeindlichen und damit des Bösen auftritt. Wir werden uns darüber nicht wundern, wenn wir bedenken, daß Kaiser sein Leben lang ein leidenschaftlicher Pazifist war, wie ja wohl auch sein 1929 erschienener Dialog „Die Ächtung des Kriege(r)s" 9 5 der äußere Anlaß für seine In-Acht-Erklärung durch den

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Nationalsozialismus gewesen ist. Aber wenn er Pazifist war, so war er es mit einer scheinbar unüberwindlichen Schwäche für Napoleon. Der Widerspruch löst sich erst auf, wenn man erkennt, daß Kaiser in Napoleon nicht in erster Linie den General und überhaupt nicht einen gewissenlosen Machtpolitiker sah, sondern das in der Geschichte einmalig sichtbar gewordene schöpferische Prinzip, den Übermenschen aus Fleisch und Blut. Im (1915—16 entstandenen) „Frauenopfer" scheint er zum erstenmal auf der Bühne Kaisers zu erscheinen98, zunächst noch ganz als Hintergrundsfigur, ein ,deus ex machina' bestenfalls, schicksalhaft-elementar in das Leben der Menschen im Vordergrund hineinragend. Eine magische Wirkung geht von ihm aus, der sich der Dichter ebensowenig wie seine Menschen zu entziehen vermag. Über zwanzig Jahre lang fällt dann der Name Napoleons bei Kaiser nicht mehr, er bleibt, physisch und schöpferisch, audi im Hintergrund seines Werkes. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, wie oft bei ihm gewisse Stoffe erscheinen, um dann auf lange Zeit hin wieder unterzutauchen (etwa der Kleist-Stoff), so möchte man gerade deswegen der auf diese Weise zurückgenommenen Gestalt einen besonderen Platz in seinem dichterischen Werk zuweisen. Kaiser hat diesen Vorgang selbst augenscheinlich so wenig verstanden, daß er ihn auf schöpferische Urvisionen hat zurückführen wollen, die dem Gesetz der Entwicklungsgeschichte nicht unterworfen seien97. Erst 1938 hat er dann wieder auf die Napoleon-Figur zurückgegriffen, und nun gleich zweimal: zuerst für seine Komödie „Napoleon in New Orleans", dann für das in seinem Spätwerk mit so eigentümlicher Schönheit dastehende historische Schauspiel „Pferdewechsel". Wieder einmal ging die komische Behandlung der eigentlichen voraus 98 , wenn man bei zwei so gelungenen Werken überhaupt einen Unterschied von Eigentlich und Uneigentlich machen kann: jedenfalls aber hat sich das Leichte vor das Schwere geschoben. Die innere Beziehung der Napoleon- und Nietzsche-Figuren zueinander wurde dann schon im nächstfolgenden Jahre durch das Auftauchen von Plänen zu einem Nietzsdie-Drama unter dem Titel „Ariadne" noch unterstrichen. Die erneute Aktualisierung des Stoffes ist ohne Zweifel unter

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dem Eindruck und in der konkreten E r f a h r u n g mit Hitler geschehen, und z w a r weil für ihn das Napoleonische durch das Hitler-Phänomen nicht etwa legitimiert, sondern im Gegenteil v o n G r u n d aus in Frage gestellt worden ist. Seine Beschäftigung mit N a p o l e o n konnte jetzt nur den Sinn haben, das frühe, in der N a p o l e o n - F i g u r sublimierte Zarathustra-Erlebnis v o m Nihilismus zu reinigen, den wahren Ubermenschen v o m falschen zu unterscheiden. D a s für ihn nach wie vor gültige S y m b o l , das ja in der deutschen Geistesgeschidite überhaupt eine außerordentliche Rolle gespielt hat, w a r ein für allemal sicherzustellen". In dem nun einsetzenden Schaffensprozeß wurde von Kaiser nicht nur der konventionelle Napoleonismus scharf v o m Hitlerismus abgerückt, sondern auch die Napoleon-Idee selbst geläutert: die bei ihm bisher immer noch neuromantisch v a g e gebliebenen Ansichten v o m Ubermenschen präzisierten sich zum genialen und d a m i t notwendig tragischen Menschentum und flössen zusammen mit seinem Bild v o m U r t y p u s des Künstlers. Gleichzeitig k n ü p f t e Kaiser damit jedoch auch an die seit dem S t u r m und D r a n g festliegenden Grundvoraussetzungen deutsdier K u l t u r tradition wieder an. Es läge vielleicht nahe, bei Kaisers N a p o leon-Kult an G r a b b e zu denken, aber wenn derartige Linien schon gezogen werden müssen, gehen sie doch eher zu Büchner als zu G r a b b e : Kaisers N a p o l e o n (im „Pferdewechsel") ist ein Geistesverwandter des Danton, aber nicht der Grabbeschen Kolossalfigur. K a i s e r trauert der versunkenen Größe des französischen Kaisers nicht nach, sondern sucht sie nachzuzeichnen im mensdilichen K o n t a k t . Sein N a p o l e o n ist nicht groß auf dem Schlachtfeld und steckt die H a n d höchstens in unbeobachteten Augenblicken zwischen die Westenknöpfe, er ist groß durch die wahren, mensdilichen Gefühle, die er hervorzurufen vermocht hat, d a s echte G e f ü h l , groß also eigentlich im kleinsten und privatesten Bereich. Solche Größe ist ewiges menschliches Vorbild, und sie bleibt, auch wenn er selbst v o m Schauplatz abtreten muß, denn Kaiser hat seinen N a p o l e o n nie im Aufstieg, immer nur v o m E n d e her gestaltet, im „Pferdewechsel" sogar auf der Flucht, in der f ü r so viele Kaisersche Figuren charakteristischen Lebenssituation. Überhaupt lassen sich die typischen Merkmale

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von Kaisers später Dramatik unschwer in diesem NapoleonSchauspiel wiedererkennen: nicht nur die Beherrschung der Szene, die symbolistische Heraushebung des e i n e n Requisits (die Uniform), die Zusammendrängung der Handlung auf ein Minimum, der Dialog — die Menschen selbst sind unverkennbar Glieder der einen großen Kaiser-Familie. Napoleon, angesichts des Untergangs, versinkt in Kleinmut, um durch den Glauben einer starken und unbeirrten Frau zu sich selbst zurückgeführt zu werden und mit den letzten Worten wieder ganz er zu sein: „Entlassen Sie midi aus meiner Schuld mit einem würdigen Versprechen: Der Wanderer wird den Berg des Mutes — den Berg des Trotzes ersteigen — ohne eine Stufe auszulassen — und oben, wo der Schneewind pfeift, noch lodern — wie eine Fackel, die den Toten leuchtet!" Es ist das Napoleon-Versprechen des an der Welt leidenden und in Augenblicken der Niederlage verzweifelnden Künstlers: auszuharren bis zum Ende, mutig und stolz. Es ist klar, Kaiser brauchte dem Pazifismus nicht abzusagen, um seinen Napoleon zu rechtfertigen. Und es ist ebenso klar, auf Grund welcher Maßstäbe er als Dichter so genau zwischen Napoleon und seinen Nachläufern unterscheiden konnte, zwischen der inneren Größe des Genius und der äußerlichen Masquerade seiner Anbeter. Wir verstehen, warum die beiden Stücke des Jahres 1938 zu Napoleon - Apotheosen werden konnten. Kaiser hat die Faszination durch Napoleon mit seinen großen Vorläufern unter den Geschichtsdramatikern, insbesondere mit Kleist, Grabbe und wohl auch Büchner geteilt. Während f ü r diese aber Napoleon noch direkt oder indirekt erlebte, zu persönlichem Schicksal gewordene Geschichte gewesen war, fußte Kaisers Anschauung auf längst objektivierten und neutralisierten Vorstellungen, die dem Dichter nun wieder als Material für die Sichtbarmachung ganz subjektiver Erfahrungen im Symbol zur Verfügung standen. Es ist somit ein subjektiv-willkürliches Verhältnis zur Geschichte, das sich hier äußert, dem die Zusammenhänge, in denen etwas steht, wenig oder nichts bedeuten: atomisiertes Geschichtsempfinden ohne Frage, Geschichte als hingeschmissener Steinhaufen für die bauenden Hände des Künstlers,

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und deswegen doch nicht wirklich eine Ablehnung der Geschichte. Der geschichtlidie Raum ist nur unendlich leer und weit geworden, aufgeräumt und von allem lediglich interessanten Plunder befreit, ein kalter und beängstigender Raum vielleicht, aber doch ein Raum, den es gibt, und der, im richtigen Geiste betreten, nicht nur viel, sondern alles zu bieten hat: Vergangenheit, überhöhte Gegenwart und Zukunft. Kaisers Verhältnis zu Kleist und Büchner bestand auf ähnliche Weise aus subjektiv-literarischen und historischen Elementen. Besonders in Kleist scheint er früh das Dynamische der historischen Künstlerpersönlichkeit und damit etwas ihm selbst zutiefst Verwandtes empfunden zu haben. Schon der junge Kaiser schrieb (1904) eine „Hete Donat" 1 0 0 , eine Abwandlung des Käthchen-Motivs. Es wird interessant sein festzustellen, inwieweit hier der für den späten Kaiser so bezeichnende Typus der in ihrer Liebe irrational-unbedingten Frau schon vorweggenommen ist, womit sich auch eine unmittelbare Beziehung der Dramen vom „Oktobertag" 1 0 1 an zu Kleist ergeben würde. Wieder sähen wir dann einen Urtypus früh in sein Blickfeld treten, den er seinem Werk nur in einem sehr langsamen Assimilationsprozeß einzuordnen vermochte. Bestärkt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, daß Kaiser mehr als zehn Jahre später (1917) ein Kleist-Drama unter dem Titel „Der verlorene Groschen" 1 0 2 skizziert hat, das aber nie ausgeführt wurde. Wenn wir dem Titel trauen dürfen, sollte auch hier wieder der Gegenstand zunächst als Komödie gestaltet werden. Wir verstehen das Interesse des um die Komödie so schwer ringenden Dichters am „Zerbrochenen Krug", aber es besteht für uns doch wohl kein Zweifel, daß es ihm bei Kleist um mehr ging als das noch so Vorbildliche von dessen Lustspiel. Das wird deutlich, wenn man Kaisers lakonisches und doch so gefühlsgeladenes Bekenntnis zu Kleist aus dem Jahre 1927 103 betrachtet, wo er seiner unbedingten Verehrung durch den Hinweis Nachdruck verschaffen wollte, er habe seit zwanzig Jahren ein „Schauspiel um die Person Heinrich von Kleist" skizziert. Zwanzig Jahre — diese ungenaue Angabe weist doch eher auf die „Hete D o n a t " zurück als auf den

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„Verlorenen Groschen", aber in der Rückerinnerung fiel ihm eben beides in eins zusammen. Die ungeheure Fruchtbarkeit der Kleistschen Dichtung für den spät und auf weiten Umwegen zu sich selbst findenden Kaiser kann hier nur angedeutet werden. Sie ist nicht mit dem Hinweis auf Kaisers „Amphitryon" (in den „Griechischen Dramen") erschöpft. Ein Vergleich der beiden Dichtungen würde wohl ergeben, daß hier das Trennende das Gemeinsame bei weitem überwiegt, ja, es ließe sich darüber streiten, ob in den Charakteren überhaupt noch etwas Kleistisches übriggeblieben ist. Aber Kaiser hat Kleist ebenso wenig „erneuern" wollen wie kurz vorher, im „Soldaten Tanaka", Büchner. Es wäre sogar durchaus denkbar, daß Kaiser auch ohne die Kleistische Vorlage einen „Amphitryon" geschrieben hätte, denn er fand bearbeitete wie unbearbeitete Stoffe auf demselben Steinhaufen der Geschichte vor. Die Berührungspunkte der beiden Dichter liegen tiefer, in einem sehr wesensverwandten Verhältnis nämlich zu Welt und Umwelt. Sie hatten beide die existentielle Isoliertheit des Menschen als Schicksal erlebt, und beide verlangten leidenschaftlich, sie zu durchbredien. Verstand und Gefühl lagen in ihnen in unlösbarem Konflikt, denn während sie dem Verstände die Führung über sich anvertrauten, wurden sie in Wirklichkeit vom Gefühl getrieben. Beide mußten sie lernen, diesem Gefühl zu vertrauen und doch die Kontrolle über sich nicht aus der Hand zu verlieren. Es ist verständlich, daß nach dem furchtbaren Zusammenbruch der Illusion, die durch den Nationalsozialismus so nachdrücklich bestätigt worden war, Büchner dem Dichter näher lag als Kleist. Der grauenhafte Geschichtsfatalismus des „Danton" mußte ihn ansprechen, und wir haben Aussagen aus Kaisers letzten Jahren, die den Büchnerschen Formulierungen an Bitterkeit in nichts nachstehen. Und doch ist für ihn der „Danton" dichterisch weniger fruchtbar geworden als der „Woyzeck"104. Auch noch im Zustand schlimmster Desillusionierung konnte er die Welt nidit fallen lassen. Sein Dichtertum bewährte sich immer am eindruckvollsten nicht an der Darstellung der Verzweiflung, sondern ihrer Überwindung. Es scheint ihn gedrängt zu haben,

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seine Botschaft in die Form von leidenschaftlichen Protesten, von Appellen an das menschliche Gewissen zu fassen: ein solcher Appell ist etwa das „Floß der Medusa" (1940), auch wenn es als Kunstwerk zweifelhaft bleibt. Als Kaiser daher den WoyzeckStoff aufgriff, war es für ihn notwendig, den dramatischen Determinismus seiner Vorlage zu überwinden, und das bedeutete den Sieg des humanistischen Gedankens über alle materialistischen Begrenzungen. In diesem Sinne hatte er vollkommen recht, wenn er seinen „Soldaten Tanaka" „mehr als Woyzeck" nannte 105 . Wenn wir uns nun die verschiedenen Aspekte, die das Historische in Kaisers Werk angenommen hat, noch einmal rückblikkend zu vergegenwärtigen suchen, so fühlen wir vielleicht, daß es sich dabei um mehr handelt als eine gelegentliche Stellungnahme des Dichters zur Stoffwelt der Vergangenheit, gleichgültig, wie weit oder wie eng wir diesen Begriff auch fassen mögen. Die Geschichte, als Seinslage, berührt die innersten Schichten seines Werkes wie seines Wesens, und zwar so sehr, daß wir hier eine besondere psychologische Disposition dafür vermuten dürfen. Wir stimmen Linick deswegen zu, der Kaisers „Sehnsucht nach Vergangenheit" für so groß hielt, daß er sich ihrer nur erwehren konnte, „indem er diese Vergangenheit meistens als verabscheuungswürdig" darstellte 106 . Die Frage bleibe offen, wieweit er das wirklich getan hat, oder innerhalb welcher Grenzen, aber auf die expressionistische Periode, in der damals, als Linick sein Buch schrieb, immer noch der Höhepunkt von Kaisers Schaffen gesehen wurde, trifft die Beobachtung sicher zu, ja, sie beleuchtet nodi einmal grell das Untergründige der Beziehungen zwischen dieser expressionistischen Form und dem eigentlichen Wesenskern des Kaiserschen Dichtertums. Der eigentliche Wesenskern des Kaiserschen Dichtertums: es gilt ihn zu erkennen, wenn sein Werk uns nicht verloren sein soll. Was bedeuten im Grunde alle diese formalen Experimente und technischen Errungenschaften angesichts des e i n e n großen Dranges, der seine ganze Dichtung belebt, und dem sich der Leser gar nicht entziehen kann? „Der Weg zum Menschen ist weit", heißt es einmal in „Gilles und Jeanne", und wir dürfen

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hinzufügen: er ist nicht nur weit, sondern auch verschlungen und schwer. In seinen größten Werken finden wir Kaiser auf den Strecken und Absätzen dieses Weges, in den „Bürgern von Calais" ebenso wie in der „Europa", im „Geretteten Alkibiades" wie im „Oktobertag", den „Lederköpfen", dem „Soldaten Tanaka" und schließlich den griechischen Dramen, seinem schöpferischen Testament. Nicht persönliche Nöte und letzten Endes nur verallgemeinerte persönliche Anliegen, wie sie die Dichter seiner Generation mit Vorliebe ausgemalt haben, sondern ewiges menschliches Geschehen lebt in ihnen, und damit stehen sie ganz unverkennbar in der humanistisch orientierten und die große Form anstrebenden deutsch-klassischen Literaturtradition.

8 Ρωΐκα

ANMERKUNGEN 1

Klabund, Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde, Leipzig-Gaschwitz, 1920. Der Vorwurf wird im selben Atem audi gegen Sternheim und — Herbert Eulenberg erhoben. 1 Das hat kürzlich auch Ludwig Marcuse festgestellt: „Eine Renaissance des deutschen Expressionismus?", The German Quarterly, X X I (1958), 2, S. 114 ff., und ganz deutlich wird das aus Richard Brinkmanns Referat „Expressionismus Probleme", DVS, X X X I I , 1 (April 1959), S. 105 ff. ' Gas, Ausgabe Potsdam, 1927, S. 117. — Mit diesem Motiv vom Aufbrudi des neuen Menschen, in dem man immer wieder und zum Teil mit Recht ein expressionistisches Kern-Element (nicht nur) der Kaiserschen Dichtung gesehen hat (so noch kürzlich Eberhard Lämmert, „Kaiser: Die Bürger von Calais", in Das deuts