Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel: Über die Chancen und Grenzen ganzheitlicher Lebensführung 9783839449059

The limits and opportunities of holistic living with Georg Simmel - a philosophy of freedom.

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German Pages 606 Year 2019

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Table of contents :
Inhalt
1 Danksagung
2 Einleitung
3 Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel
3.1 Selbstreflexivität: die Einheit in der Differenz
3.2 Philosophie – Geld – Leben
3.3 Religion – Einheit – Leben
4 Philosophie des Lebens
4.1 Zusammenfassung
4.2 Werk- und zeitgeschichtliche Einordnung
4.3 Form und Formen des Lebens
4.4 Ontologische Individualität: die Form individuellen Lebens
4.5 Individuelle Freiheit und Bindung an die Form
5 Philosophie der Kultur
5.1 Zusammenfassung
5.2 Die Einheit der Kultur
5.3 Entfaltete Vielheit: die Welten der Kultur
5.4 Zweck und Funktion
5.5 Entfaltete Einheit: das »individuelle Gesetz«
6 Lebenssoziologie
6.1 Zusammenfassung
6.2 Kultur und Gesellschaft
6.3 Die Erkenntnistheorie der Gesellschaft
6.4 Individuelles Leben und soziale Formen
7 Religion
7.1 Zusammenfassung
7.2 Die Form der Religion
7.3 »Die Wendung zur Idee«
7.4 Religiöse Evolution in der Moderne
8 Wirtschaft
8.1 Zusammenfassung
8.2 Die Form der Wirtschaft
8.3 Die Transzendenz des Geldes
8.4 »Die Wendung zur Idee«
8.5 Geld als die umfassende Einheit von Leben und Form
9 Zum Schluss: Simmel – Durkheim – Weber
9.1 Durkheim – Simmel
9.2 Weber – Simmel
10 Literaturverzeichnis
10.1 Primärliteratur- und Siglenverzeichnis
10.2 Sekundärliteraturverzeichnis
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Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel: Über die Chancen und Grenzen ganzheitlicher Lebensführung
 9783839449059

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Pascal Berger Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel

Sozialtheorie

Meinen Eltern

Pascal Berger (Dr. phil.), geb. 1985, forscht und lehrt an der RWTH Aachen auf dem Gebiet der allgemeinen soziologischen Theorie mit einer Spezialisierung auf Wirtschafts- und Techniksoziologie.

Pascal Berger

Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel Über die Chancen und Grenzen ganzheitlicher Lebensführung

Die vorliegende Publikation wurde 2019 von der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen als Dissertation angenommen. D 82 (Diss. RWTH Aachen University)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Korrektorat: Pascal Berger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4905-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4905-9 https://doi.org/10.14361/9783839449059 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de

Inhalt

1

Danksagung | 7

2

Einleitung | 11

3

Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel | 29

3.1 Selbstreflexivität: die Einheit in der Differenz | 30 3.2 Philosophie – Geld – Leben | 35 3.3 Religion – Einheit – Leben | 43 4

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Philosophie des Lebens | 59 Zusammenfassung | 59 Werk- und zeitgeschichtliche Einordnung | 60 Form und Formen des Lebens | 64 Ontologische Individualität: die Form individuellen Lebens | 73 Individuelle Freiheit und Bindung an die Form | 78

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Philosophie der Kultur | 91 Zusammenfassung | 91 Die Einheit der Kultur | 92 Entfaltete Vielheit: die Welten der Kultur | 94 Zweck und Funktion | 107 Entfaltete Einheit: das »individuelle Gesetz« | 111

6

Lebenssoziologie | 127

6.1 6.2 6.3 6.4

Zusammenfassung | 127 Kultur und Gesellschaft | 128 Die Erkenntnistheorie der Gesellschaft | 135 Individuelles Leben und soziale Formen | 144

7

Religion | 175 Zusammenfassung | 175 Die Form der Religion | 179 »Die Wendung zur Idee« | 242 Religiöse Evolution in der Moderne | 288

5

7.1 7.2 7.3 7.4

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Wirtschaft | 299 Zusammenfassung | 299 Die Form der Wirtschaft | 305 Die Transzendenz des Geldes | 342 »Die Wendung zur Idee« | 393 Geld als die umfassende Einheit von Leben und Form | 436

9

Zum Schluss: Simmel – Durkheim – Weber | 507

8

9.1 Durkheim – Simmel | 508 9.2 Weber – Simmel | 518 Literaturverzeichnis | 579 10.1 Primärliteratur- und Siglenverzeichnis | 579 10.2 Sekundärliteraturverzeichnis | 583 10

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Danksagung

Das vorliegende Buch – »Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel« – ist das Resultat meiner Promotionsarbeit, die sich deutlich länger hinzog, als ich es ursprünglich vorgehabt habe. Der Umfang der Arbeit ist mir fast über den Kopf gewachsen, und mit ihrer Struktur tat ich mich lange Zeit sehr schwer. Am Ende bin ich aber ganz zufrieden. Die weitere, erst zur Objektivität führende Beurteilung gebührt nach wissenschaftlichen Standards nicht mir, sondern den Leserinnen und Lesern. Wer über »Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel« schreibt, kommt meines Erachtens kaum umhin, das eigene Schaffen als ein Nehmen und ein Geben zu begreifen, in welchem die eigene Individualität Gestalt annimmt. Jedenfalls verhält es sich bei mir so. Dieses Buch darf deshalb in einem simmelianischen Sinne begriffen werden: sowohl persönlich als auch sachlich, als eine Sachaussage, die zugleich – in ihrer Lesart Simmels – eine gegenständliche Artikulation meiner Individualität ist. Meine Promotionsarbeit besaß Züge einer ›splendid isolation‹, gleichzeitig jedoch getragen und geprägt durch soziale Kreise, durch die hindurch meine Arbeit erst das werden konnte, was sie ist, an denen und aus denen ich erst zu dem wachsen konnte, was ich bin. Diesen Kreisen sind die nun folgenden Worte gewidmet. Zuallererst gebührt mein Dank jenem Mann, der mein Promotionsvorhaben ermöglicht, gefördert und in die rechte Bahn gelenkt hat: meinem Doktorvater Thomas Kron. 2008 nahm er mich als studentische Hilfskraft in sein Lehrstuhlteam auf, 2010 eröffnete er mir die Aussicht, nach erfolgreichem Master-Abschluss 2012 an seinem Lehrstuhl promovieren zu dürfen. Dass ein Vorgesetzter und Doktorvater seinem Promovenden ein Bodybuildingbuch zu Weihnachten schenkt (»Der Wille zur Kraft«), kommt wohl – zumal in den Geisteswissenschaften –, so schätze ich, nicht allzu häufig vor. Sollte es vielleicht aber, denn Georg Simmels Philosophie des Lebens und – so der Autorenname besagten Bodybuildingbuches – Christian Zippels Philosophie von Körper und Geist (»den Geist verkörpern, den Körper begeistern«) teilen einen gemeinsamen Vorfahren, nämlich Friedrich Nietzsche (über den ich zu meiner persönlichen Schande viel zu wenig weiß). Und wie das »individuelle Gesetz« Simmels geht Christian Zippel von der Selbsterhöhungsfähigkeit des menschlichen Individuums aus, sich entwickelnd und entfaltend in der täglichen Überwindung innerer wie äußerer, physischer wie psychischer Widerstände (für Simmel: Distanzen). Leben ist Form, Leben ist Entwicklung – werde, was du bist! Anfang 2014 hätte ich mein Promotionsvorhaben beinahe abgebrochen, hätte Thomas Kron mich nicht vom Gegenteil überzeugt. Ich empfinde dies heute als richtig so. Zwei Jahre später, im Januar 2016, las er mir nach einem von mir sehr schlecht vorbereiteten und

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unprofessionell gehaltenen Vortrag im Rahmen eines am 20. Januar 2016 veranstalteten Institutionskolloquiums die Leviten. Und auch dies war richtig so. Bis heute denke ich an an diesen Tag. Ich nehme ihn als Zäsur in meinem Leben wahr, und zwar in einem ganzheitlichen Sinne persönlicher Entwicklung. Lieber Thomas, ich danke dir von ganzem Herzen. Ebenso gebührt ein herzlicher Dank meinem Zweitgutachter Matthias Junge schon allein dafür, eigens für mich und meine mündliche Promotionsprüfung aus Rostock nach Aachen anzureisen. Selten habe ich eine vor intellektueller Begeisterung und Begeisterungsfähigkeit geradezu überströmende Person kennengelernt. Meine E-Mail-Anfrage nach der Bereitschaft seinerseits, mein Zweitgutachter sein zu wollen, bejahte er in weniger als 24 Stunden, und dies um – ich habe noch einmal nachgeschaut – 5:12 Uhr morgens. Die anregende Diskussion über Parsons, Weber, Luhmann und den Pragmatismus nach meiner mündlichen Promotionsprüfung und bei gutem Essen – vom AKL Aachen natürlich – ist mir auch heute noch in lebhafter Erinnerung. Herr Junge, ich danke Ihnen sehr. Sie sind fantastisch. Ich wünsche Ihnen noch viele Jahre aufregenden Forschens. Es ist mir eine große Freude und Ehre gewesen, Sie kennengelernt zu haben. Guido Meyer aus dem theologischen Institut der RWTH Aachen übererfüllte seine Rolle als Prüfungsvorsitzender und dritter Berichter meiner mündlichen Promotionsprüfung. Warmherzig in Stimme und Gestus, wohlwollend, gewinnend wie pädagogisch souverän in der Moderation – »role making« at its best, und dies trotz einer kräftigen Erkältung. Lieber Herr Meyer, schade, dass ich Sie nicht bereits vorher kennengelernt habe. Sie waren wunderbar. Dankeschön! Bei allen dreien, Thomas Kron, Matthias Junge und Guido Meyer möchte ich mich schließlich für eine fantastische Disputation bedanken. Ich fühlte mich erregt, euphorisch, wie auf einer Welle – vielen, vielen Dank. Es war einer der schönsten Momente meines Lebens. In den letzten Monaten meiner Dissertation waren vor allem zwei Menschen von fundamental praktischer Bedeutung für mich: Hannes Engelhardt und Anna Hermsdorf, die zwei studentischen Hilfskräfte meines Lehrgebiets. Beide sorgten für eine schnörkellose, zuverlässige, zupackende und rasche Literaturbeschaffung auch in Zeiten, wo ich größere Mengen zeitpunktkonzentriert benötigte. Wenn es an der Basis nicht funktioniert, kommt auch kein intellektueller Überbau zustande. Und umgekehrt. Anna, Hannes – habt vielen herzlichen Dank. Liebe Anna: Auf deinen Schritten in die Selbständigkeit im Designfeld wünsche ich dir viel Erfolg. Lieber Hannes, dir wünsche ich viel Erfolg beim Abschluss deines Studiums. Ein tiefer Dank meinerseits gebührt einem Mann, der mich sehr früh in seinen Seminaren – wie auch bei Gesprächen zwischen Tür und Angel – für die Theoriearbeit begeisterte und damit einen ganz bedeutsamen Beitrag zu der Entscheidung für jenen Pfad leistete, den ich letzen Endes einschlagen sollte: Athanasios »Atha« Karafillidis. Ob Seminare in Organisationssoziologie oder ein Bruno-Latour-Lektürekurs: Es war eine herrlich schwere Herausforderung, bei dir Seminare zu belegen und sich durch die Texte zu kämpfen. Selten habe ich so gute, so schöne, so anregende Veranstaltungen besucht, und dies ist maßgeblich dem leitenden Dozenten zuzuschreiben, der fernab von intellektuellem Dünkel in purer Leidenschaft für die ›Sache‹ das wissenschaftliche »principle of charity« vorlebte. Manchmal ist eben das Individuum die Differenz, die eine Differenz auszumachen oder besser: eine Form mit Leben aus-

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und überzuerfüllen vermag. Atha – ich fande dich einfach hervorragend, durch und durch. Danke, dass du mein Dozent warst, danke, dass ich dein Student sein durfte. Ich wünsche dir weiterhin alles erdenklich Gute, nun in Hamburg. Ferner möchte ich mich bei einer Frau bedanken, mit der ich fast fünf Jahre lang ein Büro teilen durfte und die ihrerseits so manche Eigenheit von mir kennenlernen durfte: Bettina Mahlert. Von ihrer gleichermaßen toughen, aufrichtigen wie integren und zu einer herrlichen Selbstironie fähigen Art habe ich viel mitnehmen können, manches habe ich mir von ihr abgeschaut. Liebe Bettina, ich hoffe, es war nicht allzu kompliziert mit mir. Gerne habe ich mit dir gelacht. Ich hoffe, dass du mittlerweile einen Trick für dich entdeckt hast, nie mehr deinen Schlüssel zu verlegen. Du wirst mir fehlen, Bettina. Dankeschön. Außerdem bedanken möchte ich mich bei Bianca Prietl. Ihre Professionalität hat mich beeindruckt, ihr Ehrgeiz hat mich angesteckt. Die Gespräche während manch langer Spaziergänge durch die Aachener Lande waren eine Herausforderung, und an Herausforderungen wächst man(n). Liebe Bianca, ich danke dir von Herzen. Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und viel Erfolg auf deiner akademischen Laufbahn. Ausführlichkeit und Form des dritten Kapitels in diesem Buch sind einem kritischen Einwand Roger Häußlings auf den bereits oben erwähnten Vortrag meinerseits am 20. Januar 2016 geschuldet. Häußlings Ansicht nach fallen die »Philosophie des Geldes« und die »Lebensanschauung« konzeptionell auseinander. Kritiken sind essenziell für die wissenschaftliche Arbeit, und sie fördern die Schärfung des eigenen Arguments. So war es auch in diesem Fall: Die Kritik ließ mir keine Ruhe, schließlich ging und geht es um den Kern und Keim meiner Arbeit. Lieber Herr Häußling, ich bin Ihnen zu tiefem Dank verpflichtet. Ihnen widme ich das dritte Kapitel. Bei der Gestaltung und Positionswahl meiner Zusammenfassungen zu Anfang der einzelnen Kapitel habe ich mich von Elena Espositos Buch »Die Zukunft der Futures« inspirieren lassen. Ich fande und finde diese Idee meines Dafürhaltens nach didaktisch so genial, dass ich es für unredlich empfinden würde, nicht den nötigen Tribut an Frau Esposito zu zollen. Wo auch immer Sie gerade sein mögen: mille grazie. Danken möchte ich dem »WortWert«-Team, einem Journalistenbüro in Köln – mittlerweile mit Dependance in London –, wo ich 2010 mein Bachelor-Praktikum absolvieren durfte. Hier lernte ich es, komplexe Sachverhalte möglichst simpel und allgemeinverständlich zu formulieren, die Dinge ganz konkret auf den Punkt zu bringen, Ross und Reiter klar zu benennen – was meines Erachtens keine Selbstverständlichkeit innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften ist. Meine Scheu vor Telefonaten mit ›hohen Tieren‹ hatte ich schnell abzulegen, als ich im Rahmen einer »BRICS«-Berichterstattung ein englischsprachiges Telefonat in die Türkei führen durfte. Von dem Praktikum profitiere ich noch heute, und dies in mehr als nur einer Hinsicht. Dankeschön, dass Ihr mir die Chance gegeben und mich gefordert habt. Schließlich habe ich zu danken: Geoffrey, Johannes, Matthias und Julia. Die Abende mit euch waren die perfekte intellektuelle Abwechslung für mich, die freigeistliche Atmosphäre mit euch habe ich sehr genossen: Herzlich, deftig, ehrlich und kontrovers, nur eines nicht: langweilig. Lieber Johannes, dein Laptop hat den Tag meiner mündlichen Promotionsprüfung gerettet. Das war eine ungeheure psychologische Entlastung – ich danke dir vielmals. Bleibe so aufregend aufgeweckt, wie du bist. Lieber Matthias, dein Gespür für gepfefferte Pointen ist einfach unnachahmlich,

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herrlich wie ehrlich. Liebe Julia, du hast auf eine so wunderbar elegante Art und Weise gemeinen Witz mit Intelligenz gepaart. Lieber Geoffrey, ich komme zu dir. Fast acht Jahre lang teilten wir eine gemeinsame Etage, die wir nicht selten wie eine studentische Wohngemeinschaft betrachteten, nur mit eben zuweilen störenden Türen zwischen den Wänden auf dem Flur. Zum Leidwesen der Nachbarn. Nicht nur einmal hast du mir – auf deine unverwechselbar direkte, energische wie gleichermaßen humorvolle und doch nie unhöfliche Art – in den mittlerweile mehr als elf Jahren unserer Freundschaft angezeigt, worauf ›es‹ im Leben ankommt. Du hast einen ganz maßgeblichen Beitrag zu meiner Entwicklung geleistet, die sich vom Persönlich-Charakterlichen über das Optische bis ins Intellektuelle erstreckt. Du sagst auch einmal Dinge, die einem zunächst nicht schmecken, aber ihre tief sitzende Richtigkeit besitzen. Mit dir kann man exzellent streiten – Tabus gibt es nicht. Du hast ein Auge für die manchmal verschwindend kleine, aber doch mitentscheidende Nuance. Du nimmst den anderen ernst, ohne dich mit ihm gemein zu machen. Dein zuweilen zum Zerbersten lautes Lachen ist einfach ansteckend. Bei dir kann ich tatsächlich felsenfest behaupten: Es gibt nichts, was ich dir nicht sagen kann. In deiner Gegenwart fühle ich mich vollständig frei und bei mir selbst. Mich verbindet mit dir ein echtes Urvertrauen. Du bist ein echter Freund im idealtypischen Sinne Max Webers. Ein Stück von dir steckt in diesem Buch. Meiner Lebensgefährtin Katrin möchte ich aus tiefstem Herzen danken für die Geduld und Toleranz mir gegenüber, mich über so viele Jahre alltagsfernen Dingen wie der Theoriearbeit widmen zu dürfen. Liebste Katrin, mit umso größerem Interesse lauschte ich deinen Erzählungen aus deinem Berufsallag, um doch wenigstens einmal am Tag ›Boden unter die Füße‹ zu bekommen. Partout nicht lassen konnte ich es, meine ›theoriegeleiteten‹ Analysen deiner Schilderungen zum Besten zu geben. Nicht nur einmal hast du mich in Momenten persönlichen Selbstzweifels geborgen. Du glaubtest und glaubst an mich. Verzeihe mir bitte, dass der eine oder andere Urlaub wegen meiner Schreiberei entfallen musste. Nur unvollkommen in Worte zu kleiden ist der Dank, wie ich ihn für meine Eltern Angelika und Uli empfinde, die immer für mich da waren und dies auch heute noch sind. Mama, Papa – dankeschön für die tiefe emotionale Geborgenheit, die ihr mir seit Erblicken dieser Welt habt zukommen lassen. Zu guter Letzt möchte ich dem Team des transcript Verlages danken für die stets sehr zuvorkommende Betreuung meiner Veröffentlichungsarbeit. Ich habe mich super aufgehoben gefühlt, von Anbeginn an. Nicht vergessen werde ich die Kulanz, mit der mir meine Projektmanagerin Anne Sauerland und Stefanie Hanneken in einer vertragstechnisch sehr verzwackten Situation unbürokratisch weitergeholfen haben. Ich empfand dies als eine immense psychologische Erleichterung. Vielen, vielen Dank. Für die im Text noch verbliebenen Fehler in Inhalt und Form trage ich selbstverständlich vollumfänglich die Eigenverantwortung. Aachen, im Mai 2019 Pascal Berger

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Einleitung

Die Aufgabenstellung meiner Arbeit ist die Erkundung der Beziehung von Wirtschaft und Religion im Werk von Georg Simmel. Meine Forschungshypothese lautet wie folgt: Geld realisiert den Vitaldualismus aus individuellem Leben und überindividueller Form, und diese Konstellation ermöglicht ein religiöses Leben, präziser: ein säkular-religiöses Leben. Was Simmel in der »Lebensanschauung« als allgemeinen, ahistorischen Dualismus zwischen der Individualitätsform des Lebens und der überindividuellen Form beobachtete, sah er im Geld historisch materialisiert. Die Geldform verselbständigt die Individualität des Lebens wie die Kultur- und Sozialgebilde gegeneinander und ermöglicht von dort aus eine erneute, eigenselektive Synthese, in der das jeweilige Gegenüber zum Element der eigengesetzlichen Reproduktion werden kann. Die Alternative zum Verfolgen und Durchsetzen der individuellen Eigenlogik ist die Vereinnahmung des individuellen Lebens durch die Eigenlogik der überindividuellen Form zwecks Reproduktion der überindividuellen Form. Leben ist nach Simmel die sich in fortwährender Formzerstörung- und schöpfung entfaltende absolute Einheit des Seins. Die Geldform wird zum materiellen Symbol dieser SeinsEinheit. Simmel diagnostiziert um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein religiöses Begehren, welches sich weder in den althergebrachten Institutionen der beiden Großkirchen befriedigt sieht, noch in einem anderen spezifischen Gebiet, wie der Kunst oder auch der Wissenschaft. Überhaupt kann kein bestimmter, vor allem kein vorgegebener Inhalt mehr zur religiösen Sinnstiftung taugen. Das religiöse Begehren ist nach Simmel umfassender Natur: Statt von einem Sinnbedürfnis spricht Simmel von dem Sehnen nach »Einheit«, alternativ auch von »Vollendung« und »Geschlossenheit«. Und Simmel meint, diese Einheit und Vollendung könne das Individuum gegenwärtig nur noch in sich selbst finden: Ein säkularer Heilsweg steht in Frage. War das Verhältnis – die Einheitsform – zwischen individuellem Leben und überindividueller Form bis zum 19. Jahrhundert a priori fixiert durch äußerliche, inhaltlich bestimmte Vorgaben, gelten nun neue Spielregeln. Das Leben gewinnt seine Einheit nach wie vor an den Inhalten der Formen der Vergesellschaftung wie der Kultur, diese Einheit ist aber nicht mehr aus diesen Inhalten herauszulesen. Das Geldsymbol substituiert das Gottessymbol: Einmal ist das religiöse Individuum absolut gebunden an Gottes Gesetze, und doch ist es in dieser Bindung frei und selbstverantwortlich vor Gott – die Befolgung des Heilspfades deckt sich mit der Befolgung des eigenen, »individuellen Gesetzes«, die individuelle Freiheit und die Bindung an das umfassende Überindividuelle Gottes konvergieren. Wie die Beziehung

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des religiösen Individuums zu Gott, so die Beziehung des Individuums zum Geld: Mit Herausdifferenzierung der Geldwirtschaft wird die Totalität des individuellen Lebens aus der urwüchsigen Verflechtung mit der Ökonomie befreit. In der Bindung und nur in der Bindung an die Überindividualität der Geldform wird das Individuum aus der Ökonomie erlöst und gewinnt die Möglichkeit zur eigenselektiven Bindung an Kultur und Vergesellschaftung. Geld wirft das individuelle Handeln und Erleben auf die Eigenverantwortlichkeit des »individuellen Gesetzes«. Ausdrücklich nicht Hypothese meiner Arbeit ist die Identifizierung von Geld und Religion, Wirtschaft und Religion oder gar Kapitalismus mit Religion, wie es auf Letzteres bezogen die These Walter Benjamins war (vgl. Benjamin 2009). Quelle wie Ziel der Religiosität ist und bleibt für Simmel ausschließlich die Individualität des Lebens. Eine jenseits des Lebens zu verortende Transzendenz Gottes schließt Simmel für die Moderne aus. Die Transzendenz ist dem Leben immanent – Gott wohnt im Individuum. Und dafür wiederum ist das Geld das Symbol und die Herausdifferenzierung der Geldwirtschaft die empirische Bedingung. Ebenso nicht Hypothese meiner Arbeit ist eine kausalgenetische Interpretation des Wechselwirkungsverhältnisses von Religion und Wirtschaft bei Simmel, wie es Weber mit den materiellen Analysen der »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« sowie der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« durchgeführt hat (vgl. Weber 1988a).1 Mit meiner Arbeit betrete ich insofern Neuland, als dass die wechselseitige Bezugnahme von Wirtschaft und Religion ein in der Simmel-Forschung noch weitgehend – wenn auch nicht vollständig – unbearbeitetes Feld ist. Etwas anders verhält es sich bei einem isolierten Blick auf beide Seiten der Wechselwirkung. Die »Philosophie des Geldes«, Georg Simmels Opus Magnum zur Geldwirtschaft, ist international breit rezipiert, »und sie ist das Werk Simmels, über das am meisten geschrieben und geredet wurde und wird, wenn man ganz pragmatisch auf die Menge der Sekundärliteratur und die Zahl der Konferenzen achtet.« (Rammstedt 2003b: 27).2 Methode und Vorhaben Simmels in der »Philosophie des Geldes« (vgl. Lichtblau 1993; 1994a; Rammstedt 2003b), Kontinuität und Diskontinuität im Denken Simmels von der »Psychologie« zur »Philosophie des Geldes« (vgl. Cantó i Milà 2003), über private wie geistige Nähe und Verwandtschaft mit dem Nationalökonomen und »Kathedersozialisten« Gustav Schmoller (vgl. Dahme 1993a; Schullerus 2000), bis hin zur vergleichenden Betrachtung mit der politischen Ökonomie Karl Marx’ (vgl. Busch 2000; Fitzi 2003a) und der Wirtschaftssoziologie Max Webers (vgl. Turner 1991; Deflem 2003) – zu diesen Themen ist mittlerweile viel geschrieben worden. Geht man allein nach dem Buchtitel, sortiert sich Simmels »Philosophie des Geldes« neben den Arbeiten Karl Marx’ und Max Webers mittlerweile ein in eine Reihe von »Schlüsselwerken der Wirtschaftssoziologie« (vgl. Kraemer 2017). Noch in Richard

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Einschränkend ist zu sagen, dass Passagen Simmels zum religiösen Ursprung des Geldes in dieser Arbeit aufgegriffen werden. Diese Passagen besitzen im Verhältnis zu der hier vorgelegten Argumentation peripheren Charakter. Simmel selbst hat diesem Thema kaum Aufmerksamkeit geschenkt und es auch zu keinem eigenen System ausgearbeitet. Vgl. für eine Auflistung der allein bis 2003 erschienen internationalen Sekundärliteratur zur »Philosophie des Geldes« Rammstedt 2003a: 315-42.

Einleitung | 13

Swedbergs »Grundlagen der Wirtschaftssoziologie« nimmt der Eintrag zu Simmel in quantitativer Hinsicht eher kursorischen Charakter an (vgl. Swedberg: 2009: 53-55). Mal besitzen die Rezeptionen umfänglicheren Charakter, mal schneiden sie einen spezifischen Aspekt oder Vergleichsgesichtspunkt heraus. Sammelbände wie die von Geßner/Kramme (2002) oder Backhaus/Stadermann (2000) sind interdisziplinär angelegt, versammeln kulturphilosophische, soziologische und ökonomische Perspektiven. Der Vielfältigkeit der Zugriffsperspektiven entspricht dabei durchaus, wie Lichtblau herausgearbeitet hat, der – auch in der vorliegenden Arbeit intendierte – umfassende Symbolisierungscharakter des Geldes (vgl. Lichtblau 1994a). Es ist das genuin Philosophische am Geld, welches die Einheit für eine Vielfalt an intellektuellen Zugriffsmöglichkeiten bietet. Innerhalb der Wirtschaftssoziologie finden Autoren in Simmels Geldphilosophie eine Ideenquelle fruchtbarer Verwertung für weiterführende Überlegungen. Für Axel T. Paul ist Simmel neben dem Ökonomen John Maynard Keynes Gewährsmann für seine These, die moderne Gesellschaft sei keine heterarchisch, funktional differenzierte Gesellschaft, wie die Systemtheorie luhmannscher Provenienz es behaupte, stattdessen bilde die Geldökonomie das Steuerungszentrum der Gesellschaft (vgl. Paul 2012). Christoph Deutschmann greift unter anderem auf die simmelschen Überlegungen zum Geld als einem absoluten Zweck zurück, um seine These von der religiösen Natur des Kapitalismus zu stützen (vgl. Deutschmann 1999; 2000; 2002; 2008). Eine Auseinandersetzung mit dem werkimmanenten Verhältnis von Religion und Wirtschaft bei Simmel findet sich bei Deutschmann jedoch nicht. Die 2008 durch den Zusammenbruch des Marktes für Subprime-Kredite ausgelöste Finanzkrise war der Geldsoziologie Anlass für neuerliche Überlegungen zur institutionellen Natur des Geldes (vgl. Kellermann 2013). Ein Beispiel dafür ist Nigel Dodds 2014 publiziertes Buch »The Social Life of Money«, welches sich in breitem Umfang auf Simmels geldphilosophische Überlegungen stützt. »Current sensibilities in the wake of global economic crisis and the demise of some of the more euphoric sociologies of globalization of the last two decades«, so schreiben Austin Harrington und Thomas M. Kemple 2012, auf einem der Höhepunkte der Euro-Krise, »provide a timely setting for a reappraisal of Simmel’s important thinking about how money economies […] become displaced from lived realities.« (Harrington/Kemple 2012: 8) Vielleicht ist es ja die realökonomische Rezession mancherorts, welche auch Simmel zu einer Hochkunjunktur verholfen hat. Vereinzelt hat die »Philosophie des Geldes« auch den Eingang in volkswirtschaftliche Diskussionsstränge gefunden (vgl. Laidler/Rowe 1980; Backhaus 1999). Mit Simmel argumentiert Paschen von Flotow beispielsweise dafür, dass und wie eine Wirtschaft nur Geldwirtschaft sein kann (vgl. von Flotow 1995). Hajo Riese erkennt in der »Philosophie des Geldes« die Konturen einer Verpflichtungsökonomie, in der Freiheit und Verpflichtung zwei notwendig aneinander haftende Kategorien sind (vgl. Riese 2002). Was Simmels theoretische Arbeiten über die Religion anbelangt, hat deren Rezeption erst in jüngster Zeit an Fahrt aufgenommen. Zustimmen würde ich nach heutigem Stand Dominika Motaks Urteil, »Simmel’s work on religion continues to be neglected – especially by comparison with that of Durkheim and Weber« (Motak 2014: 129). Noch das Einführungswerk in die Religionssoziologie von Hubert Knoblauch z. B. widmet Simmel nur eine kleine Nebenpassage innerhalb der Darstellung

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der Religionssoziologie Emile Durkheims (vgl. Knoblauch 1999: 65-68). Hans Joas – dabei im Gesamten überaus wohlwollend gegenüber Simmel – zog in seinem Urteil über Simmels Religionstheorie in Erwägung, dass diese »vielleicht kaum den Namen einer Theorie der Religion verdient.« (Joas 1997: 117; Hervorhebung PB) Volkhard Krech gebührt der Verdienst, mit seiner Monographie zum ersten Mal eine umfassende Analyse sowohl der werkgeschichtlichen Entwicklung der Religionstheorie Simmels vorgelegt, als auch deren Verortung im zeitgenössischen wie auch gegenwärtigen Diskussionskontext vorgenommen zu haben (vgl. Krech 1998a). Soweit ich selbst in Teilen nicht die exegetische Position Krechs teile, gilt doch für mich: Ohne seine umfangreiche Vorarbeit wäre das in diesem Buch vorliegende Kapitel zur Religionstheorie Simmels kaum möglich gewesen. Unter Umständen begünstigt sowohl durch Krechs systematische Darstellung der Religionstheorie Georg Simmels, als auch durch die englische Übersetzung vieler Aufsätze Simmels zur Religion durch Horst Jürgen Helle im Jahr 1997 (»Essays on Religion«) hat gerade die internationale Simmel-Rezeption auf dem Gebiet der Religion in jüngster Zeit einen Aufwind erfahren.3 Zu nennen sind hier die Aufsätze von John McCole (2005), Rudi Laermans (2006), Frédéric Vandenberghe (2010), Austin Harrington (2011), Francesca Montemaggi (2017a und 2017b). Aber auch über die Religion hinaus gilt: Simmel ›boomt‹ in der internationalen Fachliteratur, was meines Dafürhaltens nach auch – wohl aber nicht nur – auf die Übersetzung weiterer Werke ins Englische zurückzuführen sein dürfte. Die »Lebensanschauung« ist 2010, die »Philosophie des Geldes« ist 2004 ins Englische übersetzt worden; Simmels Aufsätze zur Religion immerhin schon 1997. Dabei sind nun einige bemerkenswerte Abhandlungen entstanden, die Simmels Theorien zu Religion, Wirtschaft, Leben, Kultur und Gesellschaft innovativ ineinander zu verschalten versuchen. Einige seien hier exemplarisch genannt. Silver/Lee/Moore (2007) interpretieren Simmels »Lebensanschauung« als eine Antwort auf die Kulturfrage nach neuen Fundamenten religiöser Sinnstiftung, in der zugleich auch das eigene, individuelle Werden Simmels eine eigengesetzliche Gestalt annimmt.4 Biographie und Werk, Leben und Form verschalten sich dabei. Ähnlich erkennt Donald Levine eine lebenslange Beschäftigung Simmels mit dem Dualismus von Leben und Form (vgl. Levine 2012). Francesca Eva Sara Montemaggi bezieht Simmels Religionstheorie und Lebensphilosophie aufeinander, indem sie ein religiöses Leben interpretiert als den eigenlogischen Pfad des Individuums zu seinem authentischen Selbst (vgl. Montemaggi 2017a). Dieser Weg, so Montemaggi, ist permanente Selbsttranszendenz, oder auch: Selbstüberwindung. Zwei Aufsätze jüngeren Datums nehmen sich des Zusammenhangs von Geldwirtschaft und Religion bei Simmel aus theorieimmanenter Sichtweise an: Daniela Motak (2014) und Daniel Silver/Kristie O’Neill (2014). Daniela Motak erkennt eine Homologie zwischen Geld, Gott und Gesellschaft, und das ihnen gemeinsame Raster

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4

Relativierend ist hinzuzufügen: Die englische Übersetzung von Simmels »Zur Soziologie der Religion« erschien bereits 1905 im »American Journal of Sociology« unter dem Titel »A Contribution to the Sociology of Religion«. Die Autoren griffen zu dem Zeitpunkt nach eigener Aussage auf eigene Übersetzungsarbeiten zurück (vgl. Silver/Lee/Moore 2007: 265, Fn. 1).

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sei die Idee von Einheit (»The idea of unity«, Motak 2014: 132). Gott sei eine Antwort auf ein Begehren nach Einheit, welches sich aus sozialen Konflikten sowie dem Wunsch nach Vereinigung mit anderen ergebe (ebd.: 137). Geld einerseits binde die Gesellschaftsmitglieder durch die arbeitsteiligen Abhängigkeiten aneinander zu einer Einheit (vgl. ebd.: 133), andererseits weise das Geld die vereinheitlichenden Charakteristika von Gott auf (vgl. ebd.: 140-42). Motaks Essay unterstützt meine in Kapitel 3.3 dieses Buches vorzustellende Arbeitshypothese, dass mit und ab der »Philosophie des Geldes« die Arbeiten Simmels zu Kultur, Gesellschaft, Religion und Wirtschaft ihren Quell- und Fluchtpunkt in der Einheit des individuellen Lebens besitzen. Motak schlussfolgert zum Ende ihrer Überlegungen, die Homologie von Geld, Gott und Gesellschaft führe logisch (»logically«, ebd.: 143) zur Identifikation von Kapitalismus und Religion. Diese Schlussfolgerung, die Motak einerseits deduktiv, andererseits biographisch mit dem Simmel-Schüler Walter Benjamin aus Simmels Überlegungen ab- und herzuleiten meint, teile ich jedoch nicht (vgl. ebd.: 143-46). Sie beruht meines Erachtens auf falschen Prämissen: Geldphilosophie und eine Analyse kapitalistischen Wirtschaftens bilden in der simmelschen Perspektive analytisch gesehen zwei unterschiedliche Paar Schuhe (vgl. dazu Kapitel 8.4 in diesem Buch). Allein die »Philosophie des Geldes« ist auch religionsphilosophisch relevant in simmelscher Perspektive. Einen anderen Weg gehen Silver/O’Neill 2014. Sie interpretieren religiöse Motive in der »Philosophie des Geldes« durch Simmels eigene Religionstheorie. Geld behandelt das Autorengespann nicht als Objekt religiöser Verehrung, sondern als ein Objekt mit religiösen Kapazitäten. Als Prämisse ihres Argumentes firmiert im Hintergrund ihre bereits oben genannte, 2007 aufgestellte Hypothese, die »Philosophie des Geldes« sei eine Etappe Simmels gewesen auf seinem Weg zu seiner »Lebensanschauung«. Der Dualismus von Leben und Form, so die Autoren, werde in der »Philosophie des Geldes« mit religiösen Motiven traktiert. Ihr Aufsatz ist der erste und einzige mir bekannte, der systematisch versucht, Wirtschaft, Religion und Leben bei Simmel aufeinander zu beziehen. Auch wenn mich später meine Argumentation von jener Silver/O’Neills abführen wird: Ihre Idee vom religiösen Kapazitätscharakter des Geldes hat mir geholfen, die Konturen meiner eigenen Hypothese zu entwickeln und besser zu verstehen. Ihr Aufsatz ist Gegenstand meiner Analyse zu Beginn von Kapitel 8.3.1 in diesem Buch. Ein Muster der Interpretation sticht ganz besonders in den beiden zuletzt genannten Aufsätzen hervor, in denen es um die wechselseitige Bezugnahme und Verflechtung scheinbar ganz heterogener Kontexte geht: Nicht geht es Simmel um ein kausalgenetisches Verhältnis zwischen Wirtschaft und Religion, sondern viel mehr um eines der Analogie, Entsprechung, Ähnlichkeit bis hin zur Substitution. Mit Max Weber könnte man von »Wahlverwandtschaften« sprechen, allerdings eben nicht im historisch-genetischen Sinne (Weber 1988a: 83; vgl. 2010: 259). Vielleicht auch ließe sich, wenn auch mit einer gewissen Vorsicht im Transfer einer Methode von einem Denksystem in das andere, von einer Art funktionalen Äquivalenz zwischen Religion und Wirtschaft sprechen im systemtheoretischen Sinne à la Luhmann (vgl. Luhmann 1984: 84-91; 2010). Die Einheit des Dualismus von Leben und Form wäre dann das die Lösungsmöglichkeiten beschneidende Bezugsproblem, Gott und Geld dessen mögliche Lösungen. Simmel hat sich um eine Explikation dieser Sache nicht bemüht, was das hier vorgezeichnete Unterfangen erschwert. Dazu ist ebenso gleich

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hier auf die folgende Komplikation hinzuweisen: Wirtschaft und Religion sind Formen des Lebens neben anderen Formen. Zugleich aber besitzt die Religion einen umfassenden, vereinheitlichenden Sinn – anders als die Wirtschaft. Muss Wirtschaft nach Simmel gleich Geldwirtschaft sein, so ist das Geld mehr als Wirtschaft (= Mehr-als-Wirtschaft). Diese Annahme steckte hinter der Konstruktion der »Philosophie des Geldes«. Nicht umsonst ist sie keine Philosophie der Wirtschaft (oder gar: des Kapitalismus). Details erfolgen später. Die rahmende Theorie meiner Arbeit ist die Lebensphilosophie Simmels, wie er sie in ihrer reifsten, wie wohl auch abstraktesten Form in der »Lebensanschauung« dargelegt hat. Diese Prämisse impliziert eine lebensphilosophische Rekonstruktion sowohl der Religions- wie der Geldwirtschaftstheorie Simmels. Die Lebensphilosophie Simmels ist zugleich die Bedingung für ein Aufeinander-Beziehen von Wirtschaft und Religion im Werke Simmels: Religion und Wirtschaft konstituieren Formen des Lebens, und im Leben kommen sie zur Einheit. Ich meine – und werde beweisen –, dass Simmel bereits mit Abfertigung der »Philosophie des Geldes« eine Wende von der Psychologie zur Lebensphilosophie vollzog. Die Lebensphilosophie als intellektuelle Prämisse impliziert nicht nur die Grenze meiner Analyse. Ferner steckt sie auch die Punkte ab, an denen mein Weg mich jeweils von Interpretationen aus der Sekundärliteratur sachbedingt abführen wird. Ich hoffe, diese Sachbezogenheit fernab von jeder allein aus dem Willen zur Distinktion geborenen Kritik durchzuhalten. Der Aufbau meiner Argumentation ist wie folgt: Kapitel 3 widmet sich einer – hier nur angedeuteten – werkgeschichtlich immanenten Begründung meines Vorgehens, und d. h.: Begründung meines Vorhabens aus dem Leben Simmels. Ich entwickele die selbstreflexive Hypothese, dass Simmel mit Erscheinen der »Philosophie des Geldes« einen gemeinsamen Flucht- und Ankerpunkt für seine Theorien zur Religion, zur Kultur, zur Gesellschaft und schließlich zum Leben entwickelt, und zwar: Einheit. Genauer: die Einheit des individuellen Lebens. Simmel diagnostiziert um die Jahrhundertwende ein religiöses Sehnen nach einer umfassenden, in keinem singulären Gebiet sich genügenden Einheit. Diese Einheit sieht Simmel nur noch in und aus der eigenlogischen Individualitätsform des Lebens selbst zu begründen, da die Formen der Kultur und Vergesellschaftung aus sich heraus keine das individuelle Handeln a priori bindende Einheit von Leben und Form mehr vorgeben können. Die ab der »Philosophie des Geldes« entwickelten Theorien zur Religion, Kultur, Gesellschaft und zum Leben machen die Einheit des Individuums zu ihrem Leitmotiv: das Seelenheil, der Weg zu sich selbst, die »Kreuzung der sozialen Kreise«, das »individuelle Gesetz«. Die »Philosophie des Geldes«, so weiter die These, ist »Philosophie«, sofern sie die Einheit des Seins auf einen Gegenstand zurückzuführen versucht: das Geld. Die Geldform verselbständigt die Individualität des Lebens einerseits und die überindividuellen Formen aus Kultur und Gesellschaft andererseits gegeneinander. Reflexiv gewendet: In der Form der Geldphilosophie »kreuzen« sich die Kreise aus Kulturphilosophie und Soziologie – so, wie die Dinge nach Simmel in Gott zur Einheit kommen.5 Dieser Aspekt ist von Bedeutung, soll Geld die allgemei-

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Hartmann Tyrell meint, Simmel lege in der »Soziologie Wert auf Abstand zur Philosophie des Geldes« (Tyrell 2007:11; Hervorhebung im Original). Was nur insofern stimmt, als

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ne dualistische Einheit von Leben und Form materialisieren; denn sowohl die Soziologie als auch die Kulturphilosophie Simmels haben jeweils Spezifikationen des allgemeinen Dualismus von Leben und Form zu ihrem Gegenstand. In dem letztgenannten Umstand begründet sich der in dieser Arbeit zu nehmende Umweg: Sowohl für Simmels Soziologie wie für seine Kulturphilosophie ist zu zeigen, dass sie das gleiche Problem traktieren, wenn auch unter einer jeweils differenten Perspektive der Formung. Schließlich ist dann zu zeigen, inwiefern sich diese spezifischen Problemperspektiven auf Simmels Religionstheorie und Geldphilosophie beziehen lassen. Kapitel 4 stellt die Lebensphilosophie Georg Simmels vor: Leben ist die dualistische Einheit aus Leben und Form. Ich destilliere aus Simmels Lebensbegriff die These heraus, dass Simmels Lebensphilosophie eine jenseits der zwei Individualitätsideale des qualitativen und quantitativen Individualismus stehende dritte Form von Individualität kennt: Individualität als ontologische Form des Lebens, in welche sich das Leben überhaupt gestalten muss, um zu sein. Diese ontologische Individualität ist Form des Lebens, und deshalb aus sich heraus Einheit. Dafür findet Simmel die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung »Entelechie«. Die Lebensphilosophie einer aus sich heraus seienden Einheit individuellen Lebens, so zeige ich weiter, hat Simmel mit der »Philosophie des Geldes« am empirischen Gegenstand einer ausdifferenzierten Kulturwelt der Geldwirtschaft entdeckt: Die Mittelbarkeit des Geldes befreit das individuelle Leben aus der unmittelbaren Verflechtung mit der ökonomischen Form und »presst« ein eigenverantwortliches wie eigengesetzliches Leben heraus, welches einer ebenso eigenen Gesetzen folgenden Ökonomie gegenübersteht. Im Dualismus von individueller Freiheit und der Bindung an die überindividuelle Form materialisiert sich der allgemeine Vitaldualismus von Leben und Form. Die »Philosophie des Geldes«, so beschließe ich Kapitel 4, ist das Role Model für das dualistische Verhältnis von Leben und den Formen der Kultur und Vergesellschaftung. Kapitel 5 stellt die Kulturphilosophie Simmels als einen möglichen Dualismus zwischen Leben und Form vor. In der Kulturphilosophie geht es um den Dualismus zwischen dem individuellen Leben und den überindividuellen Formen oder auch Welten der Kultur. Der Dualismus besitzt seinen Ursprung in apriorischen Formungskräften des individuellen Lebens: Die Einheit des Lebens objektiviert sich in eine Vielfalt eigenlogischer, in sich geschlossener Welten der Kultur. An den Inhalten der differenziellen Kulturwelten kultiviert sich das individuelle Leben: Das Leben schafft sich selbst eigenlogische, sich verselbständigende Objekte, um an ihnen – seiner individuellen Eigenlogik gemäß – eine höhere Form der Einheit werden zu können. Das ist die Formel der Kultur: Der Weg der Seele zu sich selbst, über die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit. Ich interpretiere das »individuelle Gesetz« als in-eins-fallend mit Simmels Verständnis von individueller Kultivierung. Eine »Tragödie der Kultur« entsteht aufgrund der aus dem Leben selbst geborenen, deshalb konstitutiven Differenz vom Gesetz des Lebens einerseits und den Gesetzen der Form andererseits. Ihre Wege sind, jeweils als Totalitäten genommen, andere, doch

dass die Distanz eine durch die differente Formungsperspektive bedingte ist. Eine Negation der intellektuellen Position der »Philosophie des Geldes« in der »Sache« ist die »Soziologie« nicht.

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Leben und Form benötigen einander, um sich jeweils ihrem Gesetz gemäß zu entfalten. Kapitel 6 stellt Simmels Soziologie vor. Hier geht es um die Darlegung eines meines Dafürhaltens nach die »Soziologie« von 1908 durchziehenden, dualistischen Prinzips aus individuellem Leben und Gesellschaft. Wie die Welten der Kultur entstammen auch die Formen der Vergesellschaftung konstitutiv der Schöpfungskraft individuellen Lebens: Das individuelle Leben objektiviert ein »Du«, um mit diesem eine Form der Wechselwirkung zu bilden. Die modernen Formen der Vergesellschaftung geben die Möglichkeit einer eigenselektiven sozialen Bindung an die Hand. Der Preis für die Freiheit der eigenselektiven Bindung ist die Möglichkeit, zwischen den nicht mehr a priori auf das Leben abgestimmten sozialen Forderungen zerrieben zu werden. Exemplifizieren werde ich den Dualismus zwischen individuellem Leben und überindividuellen Formen des Sozialen anhand der sozialen Formen der Arbeitsteilung wie der Konkurrenz, schließlich an Simmels Sozialtheorie von der »Kreuzung sozialer Kreise«. Auf alle drei Motive – Arbeitsteilung, Konkurrenz und die »Kreuzung sozialer Kreise« – werde ich im weiteren Verlauf der Arbeit zurückgreifen. Die Kapitel 7 und 8 bilden die Hauptteile der vorliegenden Untersuchung. Kapitel 7 macht die Religionstheorie Georg Simmels zum Gegenstand der Überlegungen. Die Funktion der Religionsform ist die Herstellung einer absoluten Einheit aus Leben und Form. Die Form der Religion, so die These, traktiert den allgemeinen Dualismus aus individuellem Leben und überindividueller Form – jenen Dualismus, der zuvor bereits Gegenstand der vorangegangenen Kapitel gewesen ist. Religion löst diesen Dualismus prozessual auf in die Form eines religiösen Heilsweges, indem sie die individuelle Bindung an die unbedingt geltenden Gesetze des allumfassenden Gottes zum Reich individueller Freiheit macht. Simmel greift auf ideengeschichtliche Semantiken des Christentums zurück, entkoppelt seine religionstheoretischen Analysen dennoch von einer konfessionell-inhaltlichen Bindung. Stattdessen, so werde ich zeigen, konvergiert Simmel Idee vom religiösen Heilsweg sowohl mit der säkularisierten Metaethik des »individuellen Gesetzes« als auch mit der Eigenlogik individueller Kultivierung. Beispielhaft demonstriere ich die simmelsche Theorie im Verhältnis von Religion und Gesellschaft: Gesellschaftliche Institutionen haben aus der religiösen Formungsperspektive eine bloße Mittlerfunktion: Die soziale Bindung an andere geschieht allein nach Maßgabe der Gesetze Gottes. Im Beweisgang dazu greife ich erneut auf die sozialen Formen von Arbeitsteilung und Konkurrenz zurück. Dies ist wichtig nicht allein zur Demonstration des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft. Ferner ist ein Sinn und Zweck des Rückgriffs auf die Formen von Konkurrenz und Arbeitsteilung, das Tor zur funktionalen Äquivalenz Gottes mit dem Geld zu öffnen: Wenn gezeigt werden kann, wie Religion nach Simmel sowohl idealiter als auch realiter Arbeitsteilung und Konkurrenz seiner Eigenlogik – dem individuellen Heilsweg gemäß den Gesetzes Gottes – entsprechend umformen kann, sind zugleich die Bedingungen gestellt, unter denen auch das sich aus der Wirtschaft herausdifferenzierende empirische Geld die gleiche Leistung zu verbringen vermag, wie es Gott idealiter zugeschrieben wird. Gott wie Geld entspricht das auf sich gestellte, freie wie eigenverantwortliche individuelle Leben: Gerade indem jeweils jede weitere Weltbeziehung vorrangig an die Logik der Geld- oder Gottesform gebunden ist, kann das Leben seinem Gesetz folgen. In einem weiteren Schritt gehe ich auf den Verselbständigungsprozess der Religion ein: Die Transzendenz Gottes differenziert sich allmäh-

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lich aus der Unmittelbarkeit der Verhältnisform von Individuum und Gesellschaft heraus, bis im Christentum die Transzendenz eines allumfassenden Gottes steht, der gerade aus der Transzendenz alles Leben nach seiner Logik zu regulieren strebt. Von Bedeutung ist es hierbei, dass die Realisierung des auf Allumfassung pochenden Ideals nur widersprüchlich funktioniert. Das religiöse Prinzip ›prallt‹ auf die Eigenlogiken der Vergesellschaftung. Die soziokulturelle Empirie der Religion bleibt deshalb tendenziell ›unrein‹ und ›unvollkommen‹ – wie es sich beispielhaft in der Dogmatisierung und Standardisierung eines eigentlich individualisierten Heilsbegriffs zeigt. Wichtiger noch: Es entstehen sowohl arbeitsteilige Differenzierung als auch Streitund Konkurrenzstrukturen innerhalb der Welt der Religion. Die Ausführungen zur Ausdifferenzierung einerseits und internen, arbeitsteiligen Differenzierung der Religion andererseits sind kein Selbstzweck, sondern sie dienen erneut dazu, die im achten Kapitel erfolgenden Überlegungen zur funktionalen Äquivalenz von Gott und Geld vorzubereiten durch veranschaulichende Spezifikation der Bedingungen, unter denen sich ein bestimmtes Prinzip realisiert. Der Schlusspunkt des siebten Kapitels setzt sich mit Simmels Analysen der religiösen Lage seiner Zeit auseinander. Der Glaube an ein transzendentes Reich Gottes habe heute seine Glaubwürdigkeit verloren. Die einzig reale Möglichkeit einer durch und durch religiösen Lebensführung sieht Simmel nur noch im individuellen Leben begründet. Dafür bedarf es der Inwendung der Transzendenz in die Immanenz des Lebens. Diese Möglichkeit besteht deshalb, da Religion schon immer eine selbst geschaffene Form des Lebens gewesen ist. Eine religiöse Lebensführung lebt immer noch an und in Formen, der Weg innerhalb der Formen wäre aber ein aus dem Gesetz des Lebens selbst kommender, säkularer Heilsweg. Kapitel 8 führt die Stränge aus den Kapiteln 4-7 in einer lebensphilosophischen Lesart der »Philosophie des Geldes« zusammen. Zunächst weist einmal nichts darauf hin, dass die Wirtschaft eine Kapazität religiöser Lebensführung besitzt. Die Welt der Religion formt das Absolute im Individuum – sein Heil und seine vollkommene Einheit. Diametral entgegengesetzt dazu bildet die Wirtschaft eine Welt relativer Natur: Im Tausch wägen die Individuen Gewinn und Verlust gegeneinander ab. Der Preis einer Ware – sei es eines Produktionsgutes, sei es ihrer eigenen Arbeitskraft – hat sich aus dem Leben verselbständigt in die Welt der Ökonomie, in der sich die Waren unabhängig vom individuellen Begehren wechselseitig und untereinander ihren Wert bestimmen. Das die Tauschsynthese empirisch erst zustande bringende Geld koordiniert die sozialen Interdependenzen in der Form arbeitsteiliger Differenzierung und des Wettbewerbs, die religiöse Beziehung zu Gott dagegen kennt weder eine Heilskonkurrenz – das Heil ist kein knappes Gut –, noch eine Interdependenz von anderen, sondern nur und ausschließlich die eigenverantwortliche Beziehung zu Gott. Allerdings: Mit der Verselbständigung der Ökonomie trennt sich die Wirtschaft von der Gesellschaft. Elemente der Wertform sind Dinge, nicht Menschen – die Totalität des individuellen Lebens bleibt außen vor. Der Gewinn einer aus sich seienden Entelechie ist das exakte Korrelat zur tauschförmigen Verselbständigung der Ökonomie, individuelles Leben und Wertform der Ökonomie stehen sich gegenüber. Selbst in die Ware Arbeitskraft geht allein das für die eigenlogische Reproduktion der Ökonomie erforderliche Maß an Energie. Der »Rest« bleibt frei. Der Mensch besitzt einen absoluten Wert. Mit der Differenzierung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft entkoppelt sich auch die Wertform der Ökonomie von den Vergesellschaftungsfor-

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men der Arbeitsteilung und Konkurrenz: Konkurrenz ist eine soziale Form, mittels derer sich Ökonomie realisiert, und umgekehrt ist die Ökonomie ein Inhalt unter mehreren, als die sich die Konkurrenzform realisiert. In die Realität übersetzt wird das Tausch-Prinzip erst durch das Geld: Wirtschaft ist immer Geldwirtschaft, so Simmels These. Konsequenz der Geldförmigkeit des Tausches ist einmal die individuelle Disponierungsfreiheit über den Tausch, und damit: über die Bindung an die Ökonomie. Sie gewinnt eigenselektiven Charakter. Freigesetzt ist damit – dem Prinzip nach – das Gesetz des Individuums. Jedes sich am Tausch beteiligende Individuum tut dies aus eigener Kraft. Deshalb bedeutet die eigenselektive Bindung an den geldförmigen Tausch trotz und wegen dessen Eigenständigkeit einen Mehr-Wert (= Mehr-Leben) auf beiden Seiten des Tausches. Damit wird die Geld-Ökonomie (erneut) Role Model des Kultivierungsprozesses: Auch hier geht es um ein MehrLeben, und zwar Mehr-Leben entlang des Pfades eigenlogischer Entfaltung. Weil beide am Tausch beteiligten Individuen einen Mehr-Wert gewinnen bei gleichzeitiger Wertäquivalenz, schafft Simmel zufolge der geldvermittelte Tausch eine zum religiösen Wert des gottvermittelten Heils analoge Form der Nicht-Knappheit des ökonomischen Wertes, wie es sich mit dem religiösen Wert. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Konkurrenz würden durch die Geldförmigkeit gedämpft: Sie ist monetär versachlicht, die Individualität des Wettbewerbers ist nicht Inhalt der Beziehung, sondern die Objektivität des Publikums. Schließlich versuche ich zu zeigen, dass und wie die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft das individuelle Leben befreit aus den unmittelbaren Verflechtungen mit der ökonomischen Tätigkeit und dadurch, zur anderen Seiten hin, die Möglichkeit für eigenselektive, nicht-ökonomische Bindungen in den Formen von Kultur und Gesellschaft schafft. Geld wird empirisch zur Einheit des Seins, weil es nun auch die nicht-ökonomischen Aspekte von Gesellschaft und Kultur vermittelt. Geld erlöst das Individuum aus der Ökonomie, gerade indem alle Weltbeziehungen auf Geld gestellt werden – ganz ähnlich, wie das Individuum durch seine alleinige Beziehung zu Gott aus den Friktionen des Sozialen erlöst wird. Weil alle von Geld abhängig sind, sind alle vor dem Geld gleich – und auch hier: ganz ähnlich, wie vor Gott alle Menschen gleich sind. So kann eine allumfassende, aber abstrakte Bindung an Geld mit der konkreten Individualgesetzlichkeit kombiniert werden. Möglich sind nun eine eigenselektive Vergesellschaftung sowie individuelle Kultivierung. Zu ersterem zählen beispielsweise der Gewinn territorialer Bewegungsfreiheit und individualisierte Liebe. Es muss nur noch überhaupt, aber nicht mit inhaltlich bestimmten, a priori festgelegten Berufen Geld verdient werden, seien es Berufe ökonomischer wie nicht-ökonomischer Natur. Dadurch können Talente zur Entfaltung kommen. Die arbeitsteilige Spezialisierung in der Kultur-Produktion setzt auf der anderen Seite Kräfte frei für den eigenlogischen Kulturkonsum von Inhalten, die wiederum andere Individuen produziert haben. Geld verselbständigt aber auch korrelativ zum individuellen Leben die »Forderungskreise« aus Gesellschaft und Kultur, die ihrerseits jeweils das Individuum zur Eigenreproduktion zu beanspruchen versuchen: Es entsteht der allgemeine Dualismus zwischen Leben und Form. Die Verselbständigung von Leben und Form gegeneinander entspricht Simmels Gegenwartsdiagnose, dass es keine substanzielle Einheit zwischen Leben und Form mehr gibt, die deren Zusammenspiel fixiert, wie es in der ständischen Gesellschaftsverfassung noch der Fall war. Es bleibt einzig die rein funktionale Geldform als Einheit des Dualismus von Leben und Form. Eine vollendete Einheit in einem nun säkularisierten, reli-

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giösen Sinne kann das Individuum nur noch in sich finden – nicht im Geld. Die Alternative zur Eigenständigkeit ist die Vereinnahmung des Lebens durch die Form in dem keinen Erfolg versprechenden Versuch einer Außenorientierung des Lebens: dem, was Simmel generalisiert als Materialismus bezeichnet. Vereinnahmung kann im Beruf wie im Sozialen geschehen, ebenso in der Verführung und Überladung durch die Produkte der Kultur, die nun ihren eigenlogischen Weg geht – Inhalt um Inhalt neuschöpfend –, nicht aber das Leben zu dessen säkularen Heil führt. Am Ende kommt es für Simmel darauf an: Ob und wie das individuelle Leben es vermag, sein Ideal an den Kulturwelten auszugestalten oder sich von diesen mitreißen zu lassen und zum bloßen Vehikel der Reproduktion der Formen zu werden. Kapitel 9 – das Schlusskapitel – gilt einem Vergleich Georg Simmels mit Max Weber und Emile Durkheim unter dem Vergleichsgesichtspunkt des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft. Dazu einige Bemerkungen vorweg. Vergleiche zwischen Simmel einerseits, Weber oder Durkheim andererseits sind bereits Gegenstand der Sekundärliteratur gewesen. Dies gilt einmal für jeweils eine Seite der Gleichung, für Geld und Ökonomie einerseits (vgl. Deflem 2003; Turner 1991), für Religion andererseits (vgl. Krech 1995; 1998a: 193-96; Motak 2014: 13839; Tyrell 1992: 174-79). Kein Vergleichsgesichtspunkt gewesen zwischen den Denkern ist bis dato das Zusammenhangsverhältnis von Religion und Wirtschaft. Jim Faughts Vergleich zwischen Weber und Simmel nimmt Bezug auf beide Bereiche, einen Zusammenhang zwischen ihnen stellt er nicht her (vgl. Faught 1985). Diese Leerstelle möchte ich zu füllen versuchen. Nicht genannt habe ich hier Vergleichsarbeiten allgemein-theoretischer Natur, die teilweise erkenntnistheoretische Aspekte betreffen (vgl. Bevers 1985: 120-140; Gerhardt 1998; Lichtblau 1994b; Schwinn 1993). Ich berufe mich selektiv auf deutschsprachige Einführungsbücher in die soziologische Theorie, wonach Emile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber zu den Gründungsvätern des Fachs Soziologie gehören (vgl. Endreß 2012; Münch 2002; Schimank 2007), gleichwohl Weber erst spät und mit anfänglicher Reserve gegenüber der Soziologie zu eben jener Disziplin fand, wohingegen Simmel – gewissermaßen Webers Weg entgegengesetzt – gegen Ende der 90er Jahre nach eigenem Zeugnis mental, dann auch zunehmend in seinem Wirken sich manifestierend von der Soziologie Abstand nahm (vgl. Lichtblau 1994b: 533; Weiß 1988). Ein ähnliches genetisches Verhältnis lässt sich mit spezifischem Hinblick auf die Wirtschafts- und die Religionssoziologie konstatieren. »The Handbook of Economic Sociology« von Neil J. Smelser/Richard Swedberg (2005) sowie der Einführungsaufsatz Jens Beckerts, »Wirtschaftssoziologie als Gesellschaftstheorie« (vgl. Beckert 2009), nennen die drei Intellektuellen als Klassiker der Wirtschaftssoziologie – und niemanden sonst –, Volkard Krechs Einführungsbuch »Religionssoziologie« (1999) zählt die gleichen Namen – und niemanden sonst – zu den Gründungsklassikern der Religionssoziologie. Volkhard Krech und Hartmann Tyrell nennen zwar nicht allein, aber zuvorderst Durkheim und Weber als Klassiker der Religionssoziologie (vgl. Krech/ Tyrell 1995), ebenso verfährt Knoblauch (1999).6 Die »Beschäftigung mit Fragen der

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Volkhard Krech und Hartmann Tyrell vermerken zu einer noch Simmel ausnehmenden Sonderstellung Max Webers und Emile Durkheims in der Konstituierung der Religionsso-

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Religion«, so Volkhard Krech, gehörte »zu den Konstitutionsbedingungen der Soziologie« (Krech 1999: 6). Bis zur Institutionalisierung der Soziologie ab ca. 1890 habe die Soziologie beansprucht, an die Stelle von Religion zu treten. Sie nahm einen wertbezogenen Standpunkt ein. Ab 1890 geriet Religion zu einer – mit Durkheims Worten – sozialen Tatsache, mit der es von nun an zu »rechnen« galt (ebd.: 8). Ebenso hatte ab 1890 und dann in einem bis 1920 dauernden Zeitraum – womit implizit eine Verbindung zu Webers Todesjahr besteht – eine soziologische Beschäftigung mit Wirtschaft ihren take-off, so jedenfalls die Herausgeber von »The Handbook of Economic Sociology«, Neil. J Smelser und Richard Swedberg (2005: 7). Die sich gerade erst institutionalisierende Soziologie habe, so Tyrell und Krech, auf die gesellschaftliche Binnendifferenzierung ihrerseits mit einer Differenzierung in Subdisziplinen reagiert (vgl. Krech/Tyrell 1995: 13). Simmels Soziologiekonzept freilich sei davon abgewichen (vgl. ebd.: 13). Ihre institutionelle Gestalt in Form von eigenen Zeitschriften, Vereinen, Veranstaltungen und Lehrstühlen gewinnt die Soziologie, so Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, mit dem Verlust eines allgemein in Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit verbreiteten, linear bis gesetzhaft gedachten Fortschrittsglaubens einerseits und dem erwachten Kontingenzbewusstsein sozialer Ordnung andererseits (vgl. Dahme 1988; Rammstedt 1985; 1988a). Die in den Folgejahren sich zu einer (Real-) Wirtschaftskrise aufgipfelnden, über Europa bis in die USA reichenden Finanzkrise 1873 – die sogenannte »Gründerkrise« (Henning 1996: 792; Hervorhebung im Original) – hatte in der Schicht der unternehmerisch Tätigen einen Pessimismus zur Folge, der auch anhielt, als Ende der 70er Jahre die Ökonomie wieder auf Wachstumskurs war. Rammstedt gemäß war Folge der »Großen Depression« das »Gefühl der Ohnmacht und des anonymen Mächten Ausgeliefertseins« (Rammstedt 1988a: 275; 1985). »Wirtschaft und Gesellschaft« bilden getrennte Sphären, die Bürger nehmen »die Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Zirkulationsprozesses« wahr, der »Zweck des Ganzen und der der Teile« – der Individuen – »war nicht mehr als identisch aufzufassen.« (Ebd.: 485) Im nicht-unternehmerisch tätigen Bildungsbürgertum hingegen erwuchs der gleiche Pessimismus aus einer gleichsam konträren Wurzel, nämlich das, was als Symptome und Folgeerscheinungen der Industrialisierung wahrgenommen wurde: »Materialismus, Hedonismus, Vermassung, Anspruchsinflation, allgemeine ›Bequemlichkeit‹ – und nicht ökonomische Absatzkrisen – ließen dem Bildungsbürgertum die Gegenwart nicht mehr als Fortschritt erscheinen, zumindest nicht mehr als linearen.« (Dahme 1988: 227; Hervorhebung PB) Und: »Der bildungsbürgerliche Fortschrittspessimismus […] entstand als Reaktion auf den Materialismus und den Optimismus der ›Gründerzeit‹.« (Ebd.: 226-27; Hervorhebung PB) Beklagt worden seien die »Ökonomisierung der Welt« (ebd.: 250) sowie eine »Wertkrise der Moderne« (ebd.: 251). Intellektuelle klagten über die geringer werdende Überschaubarkeit der Verhältnisse infolge arbeitsteiliger Spezialisierung, über die von der Sozialdemokratie forcierten Ansprüche der Arbeitnehmerschaft, über Wissenschaftler, die bezahlte Vorträge in Salons halten; außerdem nehme die Qualität

ziologie: »[B]eider soziologisches Engagement in Sachen Religion hat, unter den ›frühen Soziologen‹ sonst keine Entsprechung; es gibt – Ernst Troeltsch (aber eben von der Theologie her) ausgenommen – keinen ›Dritten im Bunde‹.« (Krech/Tyrell 1995: 20)

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wissenschaftlicher Forschung ab und infolge wachsender Mechanisierung sei das Durchsetzungsvermögen des starken Einzelnen immer weniger gefragt (vgl. ebd.: 227-28). Vor dem Hintergrund, die Kontingenz und das Zustandekommen des gesellschaftlichen Seins anstelle der Gewissheit über den nächsten Schritt zu deuten, institutionalisiert sich die Soziologie in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Mit den europäischen Kulturkampferfahrungen zwischen Staat und Kirche im Gepäck wird Religion nun, zuvor »als vorwissenschaftliche Weltanschauung« und im Konflikt mit wissenschaftlicher Rationalität gesehen, zu einem »Sinnstiftungs- und Deutungssystem« und zum Gegenstand der Forschung (ebd.: 252). Eine affirmative wie negierende Stellungnahme zur Religion gehörte nicht dazu, es galt das »Postulat der Wertfreiheit« (vgl. Rammstedt 1988a: 281; 1988b; Knoblauch 1999: 35). Die Arbeiten Durkheims, Simmels und Webers galten der »Brüchigkeit des Wertsystems«, den »Folgen für die Individuen und die soziale Ordnung.« (Rammstedt 1988a: 288) Religion und Wirtschaft sowie ihr Zusammenhangsverhältnis bildeten in unterschiedlicher Gestalt und mit unterschiedlicher Gewichtung einen Gegenstand der Analysen Max Webers, Georg Simmels und Emile Durkheims. Was Letzteren anbelangt, gehe ich mit Hans Joas, demzufolge Durkheims werkgeschichtliches Schaffen die theoretische Antwort auf die Frage nach der Quelle einer neuen, die Gesellschaft integrierenden Moral gewesen ist: »Man kann die treibende Kraft hinter den theoretischen Wandlungen Durkheims in seiner anhaltenden Suche nach einer neuen Moral sehen – einer Moral, die der französischen Republik und der modernen Gesellschaft schlechthin einen sozialen Zusammenhalt sichert, der zugleich die Werte des Individualismus gegen die Kritik eines restaurativen Katholizismus in Schutz nimmt.« (Joas 1997:89)

Bereits die »Arbeitsteilung« von 1893 begriff die Soziologie als »die Wissenschaft der Moral« (Durkheim 1988: 76). Durkheim veröffentlichte keine eigens der Ökonomie gewidmeten Arbeiten, sondern inkorporierte jede Auseinandersetzung mit Ökonomie und deren Denkkategorien innerhalb umfassenderer Arbeiten, wie der Studie zur »Arbeitsteilung«, zum »Selbstmord« und schließlich zu den »elementaren Formen des religiösen Lebens« (vgl. Smelser/Swedberg 2005: 10-11). Das Phänomen wie die Kategorie der Arbeitsteilung entnimmt Durkheim explizit unter Berufung auf Adam Smith der Wirtschaftswissenschaft, um ihren Anwendungsbereich dann auf die Gebiete der Politik, des Rechts, der Kunst wie der Wissenschaft auszuweiten (vgl. Durkheim 1988: 83-84). Weiterhin beispielhaft für selbiges Vorgehen Durkheims ist seine Kritik an der Reduktion von Sozialität auf eigennütziges Handeln. Dieses sei – für sich genommen – »das am wenigsten Beständige auf der Welt.« (Ebd.: 260). Ferner nimmt mit wachsender Arbeitsteilung die Menge der durch individuellen Eigennutz motivierten Vertragsbeziehungen mit anderen zu, aber die Gesellschaft ist kein Netz aus Kontrakten (vgl. ebd.: 263) Es bedarf eines den Vertrag auch durchsetzenden, institutionalisierten Regelwerks, welches gesellschaftlichen und eben nicht mehr individuellen Ursprungs ist (vgl. ebd.: 267-76). Individualinteressen bewegen sich innerhalb gesellschaftlich vorgegebener Schienen. Dafür steht Durkheims berühmte Formel, »nicht alles ist vertraglich am Vertrag« (ebd.: 267). Ebenso dafür steht Durkheims Kritik an »der Politischen Ökonomie«, Arbeitsteilung

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sei das Ergebnis des individuellen Glücksbedürfnisses (ebd.: 290). Der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, wiederkehrende ökonomische Krisen wie eine »Entfesselung der Begierden« (Durkheim 1983: 292) waren ferner für Durkheim Symptome einer gesellschaftlichen Anomie: für das Fehlen einer hinreichenden gesellschaftlichen Regulation, die einst unter anderem in den Funktionsbereich der Religion fiel, bevor sie ihre Machtstellung verlor (ebd.: 291). Der rote Faden im Umgang Durkheims mit der Ökonomie – im Sinne einer ausdifferenzierten Wissenschaft einerseits, sowie im gegenständlichen Sinne eines sozialen Systems andererseits – ist es, der ökonomischen Reduktion (auf die individuelle Nutzenverfolgung) eine Reduktion auf das umfassend Gesellschaftliche entgegenzustellen. Durkheim ›soziologisiert‹; etwas, was man mit Simmel – und etwas polemisch – als »extreme[n] Soziologismus« bezeichnen könnte, in welchem dem Individuum »keine Produktivkräfte« zugestanden werden (GOE: 153). Die 1912 publizierten »elementaren Formen des religiösen Lebens« bildeten schließlich den Kulminationspunkt in Durkheims soziologischem Schaffen (vgl. Durkheim 2007). In der Religion wird die Gesellschaft sich ihrer selbst bewusst, die Funktion der Religion ist gesellschaftliche Integration über affektual bindende Ideale. Gesellschaft und Religion kommen so fast zur Deckungsgleichheit (vgl. Krech 1998a: 265; 1999: 9). Philippe Steiner hat den Versuch gemacht, die Reflexion der Wirtschaft innerhalb von Durkheims Soziologie, einschließlich seiner Religionssoziologie freizulegen (vgl. Steiner 2010; 2012). Interessanterweise schrieb Durkheim eine Rezension zu Simmels »Philosophie des Geldes«. Zum Ende der Arbeit versuche ich über Durkheims Rezension einen Vergleich Simmels und Durkheims in Bezug auf das Zusammenhangsverhältnis von Wirtschaft und Religion zu konstruieren. Was die Einordnung Max Webers angeht, berufe ich mich erneut auf Hans Joas. Weber, so Joas, sei getrieben gewesen »von seinen eigenen, fast manisch verfolgten Interessen am Verständnis des modernen Kapitalismus, seiner Entstehung und seiner kulturellen Wirkungen sowie der religiösen Dimension dieser Prozesse« (Joas 2017: 202). Mehr Kapitalismus, kaum jedoch Religion waren zu Anfang die Themen Webers – und vor allem: Kampf. Bevor sich Max Weber ab oder seit der »Protestantischen Ethik« allmählich der Soziologie und dem historisch-genetischen Zusammenhangsverhältnis von Wirtschaft und Religion zuwendete – die »Protestantische Ethik« wird, in der Tendenz und ex post als Einstieg Webers in die Soziologie gesehen, zusammen mit seinem Aufsatz zur »Objektivität der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Erkenntnis« (vgl. Gerhardt 1998: 120) –, war sein Schwerpunkt eher politisch-ökonomischer Natur. Seit 1888 Mitglied im »Verein für Sozialpolitik«, dem noch heute existierenden Zusammenschluss deutscher Ökonomen, publizierte Weber zunächst mit politisch-ökonomischem Schwerpunkt. So stehen sowohl seine wissenschaftliche Analyse der Börse von 1894 als auch die vom »Verein für Sozialpolitik« in Auftrag gegebenen empirischen Studien zu Situation und Entwicklung der Landwirtschaft von 1893 und 1894 unter der Berücksichtigung deutsch-nationaler Interessen (vgl. Kaesler 2014: 347, 413-16). »Die Börse« richtet ihren Wunsch um Aufklärung an die deutsche Arbeiterschaft (vgl. ebd.: 415). Über die historische Entwicklung von der Subsistenzwirtschaft hin zur marktwirtschaftlichen Arbeit und Produktion für andere stellt Weber die spezifische Funktionsweise der Börse als einem Handelsplatz für Naturalienprodukte einerseits sowie für Wertpapiere wie Anleihen und Aktien andererseits vor, wobei eine Eigenart der Börse in der Zukünftig-

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keit oder auch: Nicht-Gegenwärtigkeit der zu handelnden Ware liegt, wie beispielsweise die Verabredung des Preises einer zukünftig zu liefernden Getreidemenge (vgl. Weber: 1988b: 260-67).7 Weber betont das nationalpolitische Interesse an einer Börse: Es mache einen Unterschied, ob Russland und Italien Kredite in Paris oder Berlin aufnehmen (vgl. ebd.: 316). Die nationale Attraktion von Kapital wie auch die negativen Begleiteffekte der Spekulation erachtete Weber als zu zahlenden Tribut im ökonomischen Machtkampf der Nationen gegeneinander – »als Teil der Kriegskosten im Ringen der Nationen um die ökonomische Herrscherstellung« (ebd.: 320). Seine Studie zur »ländlichen Arbeiterverfassung« thematisiert die Verdrängung deutscher durch polnische und russische Lohnarbeiter in der ostdeutschen Landwirtschaft. Deutsche Arbeiter, so Weber, seien »konkurrenzunfähig«, gerade weil sie auf einer höheren »Kulturstufe« stünden und die damit einhergehenden höheren Ansprüche die Arbeiterschaft »schwächer [stelle] im Kampf ums Dasein gegenüber der niedriger stehenden Kultur.« (Weber 1988c: 457). Ein Sinken des Kulturniveaus und das Verschwinden des Deutschtums seien die langfristigen Folgen. Weber spricht deshalb auch von einer »Polonisierung des Ostens« (ebd.: 452). Der expliziten Äußerung nach Wunsch »des absoluten Ausschlusses der russisch-polnischen Arbeiter aus dem deutschen Osten« (ebd.: 456; Hervorhebung im Original) folgt die Diskussion möglicher Mittel für die dann notwendig werdende, kompensatorische (Wieder-)Zufuhr von Arbeitskräften in die Landwirtschaft, so beispielsweise über die Einschränkung der erst im 19. Jahrhundert gewonnenen Freizügigkeit, was Weber dann aber doch für zweckuntauglich – nicht aber für moralisch unstatthaft – hält. Seine zweite empirische Studie, »Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter«, beobachtet einen Transformationsprozess in der Landwirtschaft. Bedingt durch eine inländische Statuskonkurrenz mit dem städtischen Bürgertum einerseits, der Weltmarktkonkurrenz andererseits entwickelt sich aus der traditionalen Art des Wirtschaftens feudalherrschaftlicher Art ein rational-kapitalistisches Wirtschaften. Der Gutsherr wird Unternehmer, und an die Stelle der Naturalentlohnung wie der »Anteilrechte« des Arbeiters (ebd.: 480) tritt »das auf die Dauer unentbehrliche Korrelat jeder auf rein geschäftlicher Grundlage ruhenden Wirtschaftsverfassung«, der »Geldlohn« (ebd.: 478; Hervorhebung im Original). Persönliche Herrschaft wird ersetzt durch formal freie Arbeit. Die nationale »Kulturfrage« hebt Weber (ebd.: 505) erneut hervor: Der Rückgriff östlicher Gutsbesitzer auf polnische Saisonarbeiter sei »im eigentlichsten Sinne Kampfmittel in dem hier schon antizipierten Klassenkampf, gerichtet gegen das erwachende Selbstbewußtsein der Arbeiter« (ebd.: 502), und: »Die Fortwanderung ist latenter Streik, die Poleneinfuhr das entsprechende Kampfmittel dagegen.« (ebd.: 503) Der noch anderswo sich findende Rückgriff Webers auf die darwinistische Semantik wie jener vom »wirtschaftlichen Kampf ums Dasein« (Weber 1988d: 12) bleibt auch – nun bereits soziologisch gerahmt – ein Zug seiner »Wirt-

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Weber im Wortlaut: »[A]n der Börse wird ein Geschäft geschlossen über eine nicht gegenwärtige, oft noch unterwegs befindliche, oft erst künftig zu produzierende Ware, zwischen einem Käufer, der sie regelmäßig nicht selbst behalten, sondern (womöglich noch, ehe er sie abnimmt und bezahlt) mit Gewinn weitergeben will und einem Verkäufer, der sie regelmäßig noch nicht hat, meist nicht selbst hervorbringt, sondern mit Gewinn erst beschaffen will.« (Weber 1988b: 260-61)

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schaft und Gesellschaft«, wenn Weber vom »Marktkampf« spricht und »Geldpreise« als »Kampf- und Kompromißprodukte« bezeichnet, als »Erzeugnisse von Machtkonstellationen« (Weber 2010: 77) – und das bei gleichzeitigem Einschluss der »Eigengesetzlichkeit« auf dem Gebiet der »nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person« kennenden »nackten Marktvergemeinschaftung« (ebd.: 490). Auf das Vokabular von Konkurrenz, Kampf ums Dasein sowie Differenzierung als Form der Konkurrenzvermeidung griff auch Durkheim (1988: 325-26, 463) zurück, teilweise unter explizitem Rückbezug auf Darwin. Die Semantik – wie auch die bei Weber teilweise durchscheinende Identifizierung von Kultur und Rasse – kann wohl als zeitgeschichtlichen Umständen geschuldet betrachtet werden, andererseits ist Webers Politisierung im Unterschied zu Durkheim oder gar Simmel kaum zu übersehen, und das bei gleichzeitiger Betonung der Wertfreiheit in der wissenschaftlichen Analyse. Obgleich sich Weber mit der »Kulturbedeutung des Protestantismus« und der Vermutung, »dass es einen Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kapitalismus geben könne« (Kaesler 2014: 517), bereits vor der Jahrhundertwende beschäftigt habe, sollen – folgt man Dirk Kaesler – die Eindrücke eines zehnmonatigen Rom-Aufenthalts den entscheidenden Impuls in seiner Entwicklung gegeben haben. Dort soll Weber auch Simmels »Philosophie des Geldes« gelesen haben (vgl. ebd.: 514). Rom war Erholung und intellektuelle Inspiration Webers nach dem Ausbruch seiner Depression 1897. Kaesler spricht von 1897 deshalb als einem »Wendejahr im Leben Max Webers.« (Ebd.: 522) Als gedanklicher Impuls zu seiner »Protestantismus«-These soll Weber gerade der Kontrast des gelebten Katholizismus in Italien gedient haben (vgl. ebd.: 516-17). Die »Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, 1904 und 1905 in zwei Teilen veröffentlicht, war das Resultat. Später vertiefte und generalisierte Weber den Zusammenhang von Wirtschaft und Religion über den Protestantismus hinaus in seiner »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«. Weber entdeckte nun auch die »Eigengesetzlichkeit« auf dem Gebiet der Religion (Weber 2010: 341). Anders als die noch bescheidenen Anfänge in der SimmelExegese zum Zusammenhangsverhältnis von Wirtschaft und Religion ist die universalgeschichtlich-vergleichende Forschung Webers zum Verhältnis der Wirtschaftsethiken der Weltreligionen, sozialer Schichtung und Lebensführung mittlerweile gut erforscht (vgl. Graf/Schluchter 2005; Schluchter 2009; Schulz-Schaeffer 2010; Tyrell 1990; 1993). Noch Webers berühmte »Zwischenbetrachtung« zum Verhältnis zwischen der eigengesetzlichen Wertsphäre Religion einerseits und den ebenso eigengesetzlichen weltlichen Sphären von Wirtschaft, Politik, Erotik, Kunst und Wissenschaft betont den potenziellen Kampfcharakter zwischen den Sphären, aber auch die mögliche Aufhebung einer Spannung zwischen Religion und Welt. Georg Simmels Lebensphilosophie zum Verhältnis von Religion und Wirtschaft, so ist meine Hypothese mit Hinblick auf einen Vergleich mit Emile Durkheim und Max Weber, nimmt eine intellektuelle Zwischenposition ein, sie bezeichnet ein Drittes. Wo Durkheim die konstitutionstheoretische Quelle und Lösung einer gesellschaftlichen Malaise in der Gesellschaft und deren Religion sucht – auf das Deckungsverhältnis von Gesellschaft und Religion ist noch einzugehen –, verortet Simmel die zeitgenössische Krise in der monetären Entbindung des individuellen Lebens, sieht aber auch nur noch in der dadurch ermöglichten individuellen Selbstbindung eine Lösung jener Krise. Simmels Philosophie ist – trotz und angesichts aller vitaldualistischen Wechselwirkung – individualzentriert. Darin ähnelt Simmel Max

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Weber: Dieser ging vom sinnhaft sich verhaltenden Subjekt aus, ohne jedoch einen der Subjektivität inhärenten Dualismus zu unterstellen, wie Simmel es mit seiner Ontologie des Lebens als Dualismus der Prinzipien Leben und Form tat. Ferner: Simmel ordnete das geschichtliche Material – die Inhalte – der Zeitlosigkeit der Form unter. Webers Fragestellung nach dem wechselseitigen Beeinflussungsverhältnis von Wirtschaft und Religion war nicht allein geschichtlicher Natur. Auch waren Weber, anders als Simmel, die Inhalte wichtiger als die Form: Die religiösen Inhalte – die Konfessionen – machen einen maßgeblichen, kulturbedeutsamen Unterschied in der Herausprägung kapitalistischen Wirtschaftens. An die Stelle der kapitalistischen Differenz von Arbeit und Kapital setzt Simmel die Geldform: Simmels Geldphilosophie ist der Versuch, intellektuell an einem Gegenstand trotz und in aller unüberschaubar gewordenen Realität doch eine Einheit, und zwar: eine eigenlogische, religiössäkulare, individuelle Einheit wiedergewinnen zu können. Das Schlusskapitel 9 dieser Arbeit wird den hier skizzierten Vergleich der Positionen Durkheims und Webers mit der Position Simmels unter der Zusammenhangsperspektive auf Religion und Wirtschaft erneut aufgreifen. Sinn und Zweck ist es, an meines Dafürhaltens theorieentscheidenden Stellen Konvergenzen wie Divergenzen zwischen den Denkern sichtbar zu machen. Der Kontrast dient der stilisierenden Herauspräparierung der simmelschen Position, um die es ja eigentlich in dieser Arbeit geht. Bis zum Erreichen des neunten Kapitels erfolgen Abgleiche mit und Verweise auf Weber wie Durkheim immer wieder en passant. Diese Art meines Vorgehens ist eher der Architektur der Arbeit geschuldet, mit der ich – zugegeben – sehr lange zu kämpfen hatte. Einen Anspruch auf Vollständigkeit des Vergleichs, gar der Darstellung der weberschen und durkheimschen Position vertrete ich damit nicht. Ich vermag es auch nicht. Dennoch hoffe ich, an hinreichend vielen kritischen Stellen zu einem Stück Klassiker-Aufklärung beizutragen.

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Aus Abschiedsbriefen an seine Freunde kurz vor seinem Tode am 26. September 1918 gehen Hinweise hervor, dass Simmel mit Abschluss seiner »Lebensanschauung«, seinem sogenannten »philosophischen Testament«1, seinen Kultivierungsprozess abschließen und sein Leben zu einer vollendeten Einheit führen konnte – in und trotz aller Fragmentarität. In einem Brief an Sabine Lepsius vom 11. September 1918 betonte Simmel, er beklage den nahenden Tod nicht, er empfinde sein Leben vielmehr als etwas Abgeschlossenes: »Mein Leben erscheint mir, grade mit diesem Abschluß, als ein in sich fertiges u. gerundetes, was noch gekommen wäre, wäre nichts Wesentliches mehr gewesen, grade im letzten Augenblick habe ich mein letztes Buch noch unter Dach gebracht. Die Welt hat mir gegeben u. ich habe ihr gegeben, was meinen Kräften entsprach. Ich scheide mit tiefer Dankbarkeit u. mit der Überzeugung, daß es der richtige Moment ist u. aufrechten Hauptes. Das Leben hat mich nicht besiegt.« (GSG 23: 1015; Hervorhebung PB)

In einem weiteren Abschiedsbrief an Marianne und Max Weber vom 15. September 1918 liest es sich ganz ähnlich: »Mein Leben stellt sich mir in einer unerwarteten Geschlossenheit dar. Ich habe mein letztes Buch: ›Lebensanschauung‹ gerade noch unter Dach gebracht [,] es erscheint demnächst. Die Welt hat mir gegeben und ich habe ihr gegeben […]. In all meiner jetzigen Jämmerlichkeit fühle ich mich als Günstling der Götter, trotz alles Verfehlten, Leidvollen, Bruchstückhaften, tief

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Allein um die Bedeutung des Testamentbegriffs, auf den Simmel in einem Brief an Hermann Graf Keyserling vom März 1918 zurückgriff, gibt es auseinandergehende Deutungen. Gregor Fitzi deutet den Testamentcharakter der »Lebensanschauung« in einem doppelten Sinn: Testament sei sie »einerseits als erkenntnistheoretisch-metaphysischer Entwurf und andererseits als ethische Orientierung […], die den Neuanfang der Kulturwelt nach dem Krieg sichern sollten.« (Fitzi 2002: 262) Daniel Silver, Monica Lee und Robert Moore interpretieren die »Lebensanschauung« als Höhepunkt und Zusammenfassung von Simmels Leben zugleich: »As Simmel’s ›testament‹, Lebensanschaung would testify to the person he was, sum up his work as a whole. It would say: this is who I was and here is what I did.« (Silver/Lee/Moore 2007: 265; Hervorhebung im Original)

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dankbar dafür, dass ich dies Leben führen durfte und dass es sich so abschliesst.« (Ebd.: 1024; Hervorhebung PB)

»Das Leben hat mich nicht besiegt« – In diesen an Sabine Lepsisus gerichteten Worten fand Simmel eine auf sein Leben bezogene positive Antwort auf die von ihm selbst 1912 in seinem Goethebuch formulierte »Kardinalfrage der Lebensanschauung«, ob »das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens [ist], […] es seinem Wesen als Individuum nach schöpferisch [ist]; oder […] es ein Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller Provenienz [ist]« (GOE: 154; Hervorhebung PB). Die der Kardinalfrage zugrundeliegende Dualität zwischen der »überindividuellen Provenienz« und dem »Individuum« machte Simmel in der »Lebensanschauung« zur Ontologie des Lebens: Leben ist der Dualismus aus Leben und Form. Leben kann nur sein in der Form der Individualität. Die Form, selbst ein Leben, ist mit seiner Existenz dazu bestimmt, durch das Leben überwunden zu werden. Unter bestimmten kulturhistorischen Voraussetzungen widerstrebt die individualisierte Form allerdings ihrer Funktion, »eine Welle in dem durch sie hin weiterrauschenden Lebensstrom zu sein.« (LA: 227) So mag es sich auch mit Simmel nach eigener Auskunft zugetragen haben.

3.1 SELBSTREFLEXIVITÄT: DIE EINHEIT IN DER DIFFERENZ In jüngster Zeit war es Donald Levine, der die Hypothese aufgegriffen hat, Simmels Werk besitze nicht nur einen einheitlichen, die Periodisierungsversuche übergreifenden Charakter, sondern sei zudem selbstreflexiver Natur, d. h. Simmels Leben ist Gegenstand seiner eigenen werkgeschichtlichen Entwicklung (vgl. Levine 2012). Wiederkehrend greife Simmel auf Kant und Goethe zurück und habe beide jeweils einer distinkten Seite des Vitaldualismus von Leben und Form zugeordnet (Goethe = Leben und Kant = Form). Die Einheit des Lebens ist immer ganz in den unterschiedlichen Formen, in denen es lebt, und dieser von Simmel selbst in der »Lebensanschauung« formulierte Gedanke lasse sich auf seine Entäußerung in seinem Schaffen selbst anwenden: »In this vein we can say that, for Simmel, the themes of Form and Life are always compresent. The theme of vital forces engaging with mental forms appear already in both of Simmel’s dissertation but in strikingly different ways.« (Ebd.: 33) Levine beschließt den Aufsatz mit Überlegungen zur Selbstreflexivität in Simmels eigener Theoriebildung, indem er Simmel in dessen eigenen Gegenstandsbereich verortet: als eine in den differenten Lebensformen werdende, eigenlogische Einheit: »If any notion could be said to dominate his life and thought, it is the Nietzschean dictum, Werde was du bist – Become What You Are.« (Ebd.: 42; Hervorhebung im Original) Levine übersetzt Simmels Metaethik des »individuellen Gesetzes« mit, kurz gesagt, dem Gewinnen von »Authentizität« und meint schließlich, dass Authentizität das Leben Simmels bis zur Form seines Todes charakterisiert habe: »To the last, Simmel lived in keeping with his view of Life and Death. In truth, and thanks be to God – Gott sei Dank! – just as he lived his own authentic life, and in

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contrast to so many in the generation that followed him, he did finally have his own death – er hat ja seinen eigenen Tod bekommen.« (Ebd.: 43)2 Levine selbst schließt mit seiner Selbstreflexivitätsthese an einen Aufsatz an von Daniel Silver, Monica Lee und Robert Moore (2007). Diese argumentieren, die Arbeiten bis zur »Lebensanschauung« ließen sich ex post als »proto-forms« (ebd.: 266) begreifen, dann aber, biographisch wie der Sache nach, auf die ihnen zugrundeliegende Einheit des Lebens zurückführen, das nur in Formen sein kann (ebd.: 288-89). Damit hätte Simmel gleichzeitig seine »own diverse inquiries under a single theme« gebracht, »revealing the Individual Law under which they stood, however implicity, throughout the career.« (Ebd.: 288) Dass die Arbeiten Simmels ein einheitliches, sie durchziehendes Grundmuster aufweisen, gilt, wenn man mit Matthias Junge geht, in der Exegese als Mainstream (vgl. Junge 2009a: 81). Er selbst sieht die Einheit in Simmels Beschäftigung mit »der Möglichkeit von Individualität und Persönlichkeit in der Moderne« (ebd.: 80). Antonius Bevers sieht die Einheit des Werkes durch das Prinzip der Wechselwirkung einerseits, sowie durch die Unterscheidung nach Form und Inhalt andererseits hergestellt (vgl. Bevers 1985). Wilfried Geßner sieht die Einheit von Simmels Schaffen in der sich aus völkerpsychologischer Provenienz sich herausentwickelnden Kulturphilosophie (vgl. Geßner 2003). Eine die Unterschiedlichkeit der Schaffensperioden prononcierende Perspektive wird, geht man mit Junge (1997: 4), Landmann (1987: 78) oder Fitzi (2002: 56-57), auf den Philosophen Max Frischeisen-Köhler zurückgeführt (vgl. Frischeisen-Köhler 1920). Unterschieden wird beispielhaft zwischen drei Phasen, einer positivistischen, einer transzendentalphilosophischen und einer lebensphilosophischen Werksphase.3 Bereits bei Frischeisen-Köhler findet sich allerdings der Hinweis auf eine die unterschiedlichen Werksphasen übergreifende Einheitlichkeit. Simmels Werkgeschichte stelle »eine Entwicklung dar, die durchaus folgerichtig und organisch verläuft.« (Ebd.: 9; Hervorhebung PB) In Wort und Sinn ähnliche Hinweise auf eine organische Entwicklung späterer aus früheren Schriften finden sich auch bei anderen Autoren (vgl. Geßner 2003: 20-24; Schlitte 2012: 178). Die Feststellung der Differenz, so könnte man auch mit Simmel sagen, wirft zurück auf die Frage nach deren Einheit – und vice versa, denn die Einheit ist nicht selbstgenügsam (vgl. PDG: 107-08). Ich nehme die Korrektheit der ›Mainstream-These‹ Junges an dieser Stelle für gegeben an. Ich widme mich weiterhin der Selbstreflexivitätsthese zu. Auch diese halte ich für zutreffend. Mein eigenes Einverständnis kommt mir selbstverständlich gelegen, da ich das Zusammenhangsverhältnis von Wirtschaft und Religion bei Simmel lebensphilosophisch studieren möchte. Leben ex post als Prämisse der Analyse zu postulieren, verspricht jedoch zunächst wenig nutzbringend zu sein für eine Untersuchung der Beziehung von Religion und Wirtschaft. In der »Lebensanschauung« bilden sie Kulturwelten, die überschneidungsfrei nebeneinander stehen, jede auf

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In der Vergangenheit bestimmte Levine die Einheit in der Methode Simmels über die vier Prinzipien Relationalität, Dualismus, Distanz und Form (vgl. Levine 1971: xxxi-xxxvi). Junge setzt anstatt der »transzendentalphilosophischen« die »soziologische« Phase (Junge 2009a: 79-80). Ich beanspruche keine Vollständigkeit mit der Benennung unterschiedlicher Möglichkeiten zur Einteilung des simmelschen Werkes in der Sekundärliteratur.

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den Inhalt in ihrer eigenen Sprache zugreifend (vgl. LA: 238). Einen »Kampf der Götter« à la Max Weber gibt es auf der Ebene des Lebens zunächst einmal nicht (vgl. DR: 41-42). Abgesehen von – noch zu thematisierenden - eher peripheren Bemerkungen hat Simmel auch kein eigenes kausalgenetisches Narrativ der Wechselbeziehung von Wirtschaft und Religion anzubieten, wie man es bei Weber findet. Historische Inhalte werden entlang jeweils einer Formungsperspektive – Wirtschaft oder Religion – geordnet; aber nicht oder kaum: zwei Formen in ihrer historischen Bedingtheit aufeinander bezogen. Hier bedarf es einer Abzweigung. Geht man mit Heinz-Jürgen Dahme, ist eine werkgeschichtliche Zäsur durch die 1900 erschienene »Philosophie des Geldes« »in allen Arbeiten bemerkt worden, die sich um eine Periodisierung des Gesamtwerks bemühten.« (Dahme 1993b: 74, Fn. 21) An dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage hat sich, soweit ich das sehen kann, bis heute nichts geändert. Es scheint eher so zu sein, dass die späteren Werke als bereits in der »Philosophie des Geldes« enthalten und frühere Arbeiten in ihr mündend gesehen werden, so dass die Einheitlichkeit des Werkes Simmels mit der werkgeschichtlich eher mittig zu verordnenden »Philosophie des Geldes« zu stehen und zu fallen scheint.4 Wilfried Geßner bezeichnet die »Philosophie des Geldes« als eine »Achsendrehung« in Simmels »Werkgeschichte«, durch die er sich als Individualität von seinen ihn prägenden intellektuellen Kreisen verselbständigt, wie Simmel es selbst für die Herausdifferenzierung der Kulturwelten aus den unmittelbaren Verflechtungszusammenhängen des Lebens gezeichnet habe (Geßner 2003: 16). Die »Achsendrehung« in sachlicher Hinsicht stellt parallel dazu die »Philosophie des Geldes« dar: Die Geldwirtschaft sei der Musterfall einer verselbständigten Form, derer der Mensch nur noch mittelbar am Geldsymbol habhaft werden kann. Klaus Christian Köhnkes behauptet in seinem Buch »Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen« einerseits eine Schlüsselposition der »Philosophie des Geldes« im Werkleben Simmels, andererseits verwebt er diese Behauptung mit der bereits genannten Hypothese einer Selbstreflexivität der Theorie Simmels. Meines Wissens nach stammt auch diese Hypothese ursprünglich von Köhnke. Geßner beispielsweise beruft sich auf ihn (vgl. Geßner 2003). Köhnke zeigt anhand von Briefen Simmels, dass dieser sämtliche der »Philosophie des Geldes« vorangehend veröffentlichten Werke innerlich verwarf: »ich habe fuer das buch (gemeint sind die zwei, 1892 und 1893 erschienenen Bände der ›Moralwissenschaft‹; Anmerkung PB), wie fuer alles, was ich vor der ›philosophie des geldes‹ geschrieben habe, das interesse verloren. erst dieses ist wirklich mein buch, die andern erscheinen mir ganz farblos u[nd] als koennten sie von jedem beliebigen geschrieben sein.« (Zitiert aus Köhnke 1996: 507; alles klein geschrieben im Original)

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Er zeigt sich auch implizit in aktuelleren Versuchen wie beispielsweise jenem Axel T. Pauls, Simmels Analysen sozialer Differenzierung auf seine Geldphilosophie zu beziehen und diese dann »als Antwort auf Simmels grundsätzliche Frage zu lesen, wie Gesellschaft möglich sei.« (Paul 2012: 74) Leider ist Paul auf den »Exkurs« zu den Möglichkeitsbedingungen von Vergesellschaftung nicht mehr zurückgekommen.

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Die Distanzierung von dem eigenen Schaffen aber, so Köhnkes Interpretation, habe keine innere Verleugnung, sondern eine Aufhebung der positivistischen Phase in etwas Neuem dargestellt. Die positivistische Phase habe im Kern ein »psychophysischer und soziologistischer Begriff von Individualität« dominiert (ebd.: 505). Diesem Verständnis zufolge ist das Individuum ausschließlich ein Produkt der Beziehungen, in denen ist steht. Später bezeichnete Simmel diese Art von Sichtweise auf Individuen als »extreme[n] Soziologismus« (GOE: 153; vgl. auch KDMK: 188). Gegen diese Reduktion von Individualität auf soziale Formen habe sich Simmel mit Abscheu gewandt. Er bezeichnete sich selbst als »bis zu seinem 35. Jahre eigentlich dumm« (Köhnke 1996: 506). Damit bezieht Simmel sich auf das Veröffentlichungsjahr 1893 des zweiten und letzten Bandes seiner »Moralwissenschaften«, die Simmel rückblickend als »Jugendsünde« bezeichnete (Geßner 2003: 24). In seinen Worten artikulierte sich Simmels Selbsterkenntnis, sich mit seinen Schriften zum bloßen Produkt wissenschaftlicher Strömungen und akademischer Denkgepflogenheiten gemacht zu haben, wie Köhnke meint mit Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung der »Socialen Differenzierung« und der Erstausgabe der »Probleme der Geschichtsphilosophie« (vgl. Köhnke 1996: 509). Simmel war also eine »Kreuzung intellektueller Kreise«. Mit der innerlich-biographischen Abwendung von äußerlichen Konventionsformen suchte und fand Simmel die theoretische Möglichkeit einer von den überindividuellen Formen verselbständigten Eigengesetzlichkeit der Individualität (vgl. ebd.: 510-11). Dies entspricht der Entdeckung der dualistischen Perspektive zweier widersprechender und einander bedingender, aber nicht aufeinander zu reduzierender Prinzipien, der von Leben und Form. Das individuelle Leben gewinnt seine Einheit in den Formen, in und durch die es lebt, ist aber nicht auf sie reduzibel. Dies stellte einen Bruch mit früheren erkenntnistheoretischen Annahmen dar, wonach Individualität ein Kompositum ist – der »Kreuzung sozialer Kreise« – und Einheit nur relativ zur Wahl der Untersuchungsperspektive ist. 5 Die aus sich heraus seiende Einheit ist widerständig und fügt sich nicht so einfach der Eigenlogik der Formen. Frühere Arbeiten wie die »Moralwissenschaft« werden zum Keim einer aus sich wachsenden Individualität Simmels, der über erkenntnistheoretische Studien die »transzendentalphilosophische Wende« in seiner Philosophie des Lebens in seine theoretische Konsequenz einer aus sich seienden lebendigen Einheit führt (ebd.: 511). Köhnkes Hypothese ist nun, Simmels Theorie der Moderne sei eine selbstreflexive Theorie, insofern Simmel Gegenstand seiner eigenen Theorie ist (ebd.: 508). Simmel beobachtete sich selbst unter der von ihm entwickelten Theorie des »individuellen Gesetzes«. Köhnke belegt dies beispielhaft mit einem klagenden Brief Simmels an Margarete Susman aus dem Jahre 1913:

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Referenz für diese Behauptung ist das Kapitel »Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaft« aus der »Socialen Differenzierung« von 1890. Dort heißt es: »[S]o erscheint jene absolute, metaphysische Einheit des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist vielmehr die Summe und das Produkt der allermannigfaltigsten Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann, dass sie zu einer Einheit zusammengehen.« (ÜSD: 127; Hervorhebung PB). Ich werde auf den Wandel von Simmels Individualitätsverständnis in Kapitel 4.4 dieses Buches zu sprechen kommen.

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»Ich erfahre am eigenen Leibe, eine wie schwere u[nd] eigentlich unlösbare Aufgabe es selbst unter meinen relativ günstigen Lebensumständen ist, nach dem ›individuellen Gesetz‹ zu existieren u[nd] zu der Kontinuität im Gestimmtsein u[nd] Denken zu kommen, die doch schließlich die Bedingung des geistigen u[nd] produktiven Lebens ist, wenn es werden soll, was es werden kann; ich bin über die Zersplittertheit des Tages, über das Durchreißen der eben angesponnenen Fäden oft bis zur Raserei, ja, bis zur Resignation verzweifelt.« (Zitiert aus ebd.: 511-512; Hervorhebung im Original)

Finanzielle Unabhängigkeit ist hilfreich, aber kein Garant für die Entfaltung der Individualgesetzlichkeit, und der Alltag wird als fragmentiert und wenig einheitlich empfunden – Aspekte, die Simmel auch in seinen eigenen Arbeiten aufgreift. Ebenso wenig aber scheinen Zersplitterung und Zerreißung per se jeder individualgesetzlichen Vollendung im Wege zu stehen, führt man sich die zu Anfang dieses Kapitels vorgestellten Briefe Simmels nur fünf Jahre später vor Augen, in denen er die Geschlossenheit seines Lebens dokumentierte. Klaus Christian Köhnke stellt zum Ende seines Buches ein Postulat an eine werkund phasenübergreifende Perspektive auf das simmelsche Werk auf: »Voraussetzung und Kriterium für das Verständnis von Simmels Schriften wäre dann der Grad des Gelingens einer integrativen Sicht des Werkes insgesamt – oder anders gesagt: die Frage, inwieweit sich all die einzelnen – und manchmal prima vista widersprechenden – Aspekte seines Oeuvres dem Gesamtbild eingliedern, so daß das Gesamtbild seiner Entwicklung das Fragmentarische und Einzelne zugleich erhellt, wie es aus ihm gewonnen wurde. Und dies dann so, daß also auch der ›junge Simmel‹ die späte Philosophie des Lebens auch als Philosophie seines Lebens verstehbar macht – als meines Erachtens ›klassische‹ Leistung von Selbstreflexivität in der Moderne, die es nachzuvollziehen lohnt.« (Ebd.: 514; Hervorhebung im Original)

Trifft die Hypothese einer selbstreflexiven Theoriebildung zu – was ich annehme –, dann impliziert das in der »Philosophie des Geldes« verkörperte »Achsendrehungsmoment« die Öffnung zweier Ebenen, die der Sachform der Aussagenebene einerseits und der Individual- oder Personalform der Lebensebene Simmels andererseits. Simmel entdeckt das »individuelle Gesetz«, an sich und für andere – mit und an der Geldform. Wenn auch freilich noch unfertig und weiter zu beweisen, möchte ich bis hierhin folgendes festhalten: Die »Philosophie des Geldes« nimmt chronologisch, biographisch wie in der Sache eine Mittelstellung ein: An ihr, durch sie und mittels ihrer fand Simmel zur Philosophie des Lebens überhaupt wie seines Lebens. Noch immer ist aber nicht klar, was das Ganze mit Religion zu tun haben könnte. Um eine dementsprechende Klarheit zu verschaffen, bedarf es eines Umweges über das sogenannte »Achsendrehungsmoment« der simmelschen Geldphilosophie: Was an der »Philosophie des Geldes« macht sie zur »Philosophie«?

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3.2 PHILOSOPHIE – GELD – LEBEN »If in this our time we come upon a book that shows nothing of the spirit of caste in philosophy, but tries to be nothing else than a philosophical image of the world as it is seen by an individual eye, this fact alone is sufficient to attract our attention. We are not rich in philosophical minds; only a small number of those who teach philosophy at the universities can lay claim to this title of honour. Men like Mack or Dilthey, Wundt or Spencer, belong to their number; of the younger philosophers, certainly Georg Simmel. His work, of which we are going to speak here, the Philosophy of Money, is so absolutely an image of his personality that we cannot forbear to consider the temperament through which he saw a fragment, or more than a fragment of life. Nervous to the fingertips, of the almost frightening sensibility of the neurasthenic, Simmel is one of the most ingenious interpreters of psychic emotions, incomparable in the gift to feel the most subtle vibrations of the soul.« (Altmann 1903: 46; Hervorhebung PB)

»Ein Bild seiner Persönlichkeit«, »Nervös bis in die Fingerspitzen, mit der schon fast beängstigenden Sensibilität eines Neurasthenikers« – dieses Zitat entstammt einer Rezension der »Philosophie des Geldes«, und ihr Autor Samuel Paul Altmann ist nur einer unter mehreren, der in Simmels Schaffen eine Synthese aus der Form sachlicher Entäußerung einerseits und der Artikulation eines ganzheitlichen, individuellen (Er-) Lebens erblickt. Der Ökonom Georg Friedrich Knapp, dessen Buch über die Bauernbefreiung in Preußen Simmel 1888 ausführlich rezensierte und der bekannt geworden ist für seine 1905 veröffentlichte »Staatliche Theorie des Geldes« – auf die sich auch Max Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« berief –, meinte nach Lektüre der »Philosophie des Geldes«, das Buch handele am »allermeisten aber […] von Simmel: dieser höchst originelle Autor schildert darin sein inneres Leben. Das muss und soll der Philosoph.« (Zitiert aus Schullerus 2000: 225; Hervorhebung im Original) An anderer Stelle meint Knapp, Simmel sei »im Augenblick der höchste Ausdruck des Modernen« (zitiert aus Rammstedt 2003c: 8; Hervorhebung PB).6 Eine ähnliche Äußerung über das Schaffen Simmels werde ich weiter unten am Beispiel der Veröffentlichung seiner »Soziologie« zeigen. Ganz zu Anfang seiner Vorrede zur »Philosophie des Geldes« bestimmt Simmel, dass jede Fachwissenschaft zu zwei Seiten hin an die Philosophie angrenzt. Entsprechend ergeben sich zwei unterschiedliche Aufgabenbereiche für die Philosophie: Ein Bereich kümmert sich um die Klärung der Voraussetzungen eines bestimmten Gegenstandsbereiches. Simmel spricht von den »Voraussetzungen des Erkennens« oder den »Axiome[n] jedes Sondergebietes« (PDG: 9). Der andere Bereich der Philosophie, so Simmel, sei eine Art auf Ganzheit zielender Spekulation. Die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse werden im »Überschlag« und »zu einem Weltbild« ergänzt und damit »auf die Ganzheit des Lebens« bezogen (ebd.: 9). Selbst wenn es ein vollständiges Wissen über die Welt gäbe, bedürfte es vielleicht noch dieser Spekulation.

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Allgemein und über die »Philosophie des Geldes« hinausgehend meinte David Frisby, »Simmel’s own social experiences were the foundation for his account of modernity« (Frisby 1985: 76).

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Der Zwei-Grenzen-Charakter der Philosophie ist eine mit der »Philosophie des Geldes« eingeführte Neuheit Simmel.7 Der genannten philosophischen Arbeitsteilung entspricht die Einteilung der »Philosophie des Geldes« in einen »analytischen Teil« (Kapitel 1 bis 3) und einen »synthetischen Teil« (Kapitel 4 bis 6).8 Dem »analytischen Teil« geht es, sehr allgemein, um die Konstitutionsbedingungen des Geldes als eigenständiger Form. Darunter fasst Simmel »die Voraussetzungen […] in der seelischen Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und der Werte« (ebd.: 10). Gegenläufig verfährt der »synthetische Teil«. Gegeben eine herausdifferenzierte Geldform, untersucht Simmel die Auswirkungen des Geldes auf Individuum, Gesellschaft und Kultur. Die Untersuchung ist spekulativer Natur, weil sie teils empirisch, teils »im allgemeinen Überschlag« verfährt (ebd.: 10). Das Geld steht im Fokus, nicht die Ökonomie, auch wenn, wie Simmel bereits in der Vorrede anklingen lässt, das Geld zuvorderst dem ökonomischen Bereich entstammt. Es geht aber nicht in ihr auf. So sagt Simmel beispielhaft, Geld sei »nicht nur die Gleichgültigkeit rein wirtschaftlicher Technik, sondern [ist] sozusagen die Indifferenz selbst« (ebd.: 12). Geld ist Mehr-als-Ökonomie. Gegeben diese arbeitsteilige Eingrenzung einer Fachwissenschaft – hier der Nationalökonomie – durch die Philosophie, stellt sich natürlich die Frage nach der Einheit in der Differenz, durch welche sich Simmels Geldbuch als eine Philosophie des Geldes qualifiziert. Was für Simmel eine Philosophie zur Philosophie qualifiziert, war Gegenstand eines eigenen Kapitels der von Simmel 1910 veröffentlichten »Hauptprobleme der Philosophie« (sowie der im selben Jahr veröffentlichen Kurzfassung, dem Aufsatz »Das Wesen der Philosophie«). Eine Philosophie ist für Simmel die Reaktion eines individuellen Seins auf die Vielheit der Welt in der Form eines Weltbildes. Philosophie zeichnet für Simmel eine Haltung aus, nicht irgendeine, sondern eine Verarbeitung der Totalität oder Ganzheit des Seins gemäß dem eigenen, »individuellen Gesetz«. Nicht Aufgabe der Philosophie ist hingegen das Aufstellen wahrheitsfähiger Sätze, auch wenn sie wahrheitsfähige Sätze produzieren mag.9 Einen oder vielleicht den gleichen Inhalt auf seine em-

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Vor Erscheinen der »Philosophie des Geldes« vertrat Simmel allerdings bereits die Ansicht, Philosophie habe eine erste Ahnung über die Dinge zu geben, bevor sie von der Wissenschaft in empirische Erkenntnisse überführt werden könne (vgl. Dahme 1984: 223). Vgl. dazu auch Oakes 2002: 64. Uta Gerhardt interpretiert die Anlage der »Philosophie des Geldes« als eine dialektische, verfahrend nach dem Prinzip These, Antithese und Synthese (vgl. Gerhardt 2003). Ich spekuliere ausgehend von eigenen Erfahrungen im Philosophie-Studium und der philosophischen Lektüre, aber mit dieser Annahme dürfte Simmel in einer verschwindenden Minderheit sein. Jede Argumentation innerhalb der Philosophie, wie der Metaphysik und der Philosophie der Erkenntnis, lebt, wenn nicht von der Unterscheidung nach wahr oder falsch, dann aber von ihrer logischen Konsistenz. Ohne Validitätskriterium wären Diskussionen um beispielsweise die Implikationen der empirischen Hirnforschung für die Philosophie des Bewusstseins nicht möglich. Ferner wäre die Frage an Simmel zu richten, ob er mit seiner Wesensaussage über Philosophie nicht selbst zumindest einen Wahrheitsanspruch hegt – und wenn ja, ob er sich mit dieser Aussage innerhalb oder außerhalb der Phi-

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pirische Korrektheit hin zu überprüfen, dies sei Aufgabe der Wissenschaften (vgl. HPH: 29). Der philosophische Ganzheitlichkeitsanspruch ist dann zu unterscheiden von der immer nur Fragmentcharakter besitzenden Erkenntnisproduktion der Einzelwissenschaften. Wissenschaften beherrschen immer nur einen limitierten Bereich, welcher ihre Disziplin definiert. Den Philosophen, so Simmel, könne man deshalb »vielleicht als denjenigen bezeichnen, der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins hat.« (Ebd.: 16; Hervorhebung PB)10 Er besäße »einen Sinn für die Gesamtheit der Dinge und des Lebens« sowie »die Fähigkeit, diese innere Anschauung oder dieses Gefühl des Ganzen in Begriffe und ihre Verknüpfungen umzusetzen.« (Ebd.: 16) Die Fähigkeit »echten« Philosophierens scheint, geht man mit Simmel, nicht allen gegeben – eher ist sie Sache eines philosophischen Virtuosentums, um es in Anlehnung an Worte Max Webers zu sagen. Da die »Totalität des Seins« als solche nicht gegeben ist, bestehen Kunst und Wesen des Philosophierens darin, das Sein an einem individuellen Gegenstand beobachtbar zu machen (ebd.: 17). Aus der unfassbaren Komplexität des Seins, in dem alles mit allem zusammenhängt, wird ein »Fragment« herausgegriffen und dies zu einer die anderen Elemente umfassenden Einheit erklärt, welche »das Ganze zusammenhält, von dem alle andern abgeleitet sind« (ebd.: 32). Die anderen Seins-Elemente, die zuvor noch ungeschieden mit dem nun selektierten Element den kosmischen Seins-Komplex konstituierten, erhalten den Status des Derivativen, des Sekundären – Simmel spricht auch von »Unwesentlichem«, »Schein«, »eigentlich Nichtvorhandenem oder bloßen Umsetzungen jenes allein Realen« (ebd.: 32). In dem Akt der Wahl des die Totalität des Seins sichtbar machenden Gegenstandes drückt sich Simmel zufolge die Individualität des Philosophen aus (vgl. ebd.: 32). Allerdingt erfolgt die Wahl des die Seins-Einheit umfassenden Gegenstandes nicht willkürlich (vgl. ebd.: 27). Selektionskriterium ist die eigenlogische Form der Individualität, oder, wie Simmel schreibt, »das innerlich Objektive einer durchaus nur dem eignen Gesetz gehorchenden Persönlichkeit.« (Ebd.: 29; Hervorhebung PB) Jedes Individuum ist, als Individuum, Form, die eine – unabhängig von jeder inhaltlichen Bestimmung – Eigenlogik impliziert. Wer philosophiert, folgt seinem »individuellen Gesetz«. Philosophieren findet Form in einer Sachaussage, die wahr oder falsch sein kann, ihren Sinn als Philosophie erhält die Form aber aus der Eigengesetzlichkeit des individuellen Lebens. Philosophen haben ein Organ für die Ganzheit des Seins, so Simmel. Dies bedingt für Simmel, dass es überhaupt erst ein Bedürfnis nach einer philosophischen Seins-Deutung geben kann. Einen Bedarf an Philosophie scheint es dann zu geben, wenn die Formen sich in einem – wie auch immer näher definierten – bestimmten Grad aus der Individualität verselbständigt haben und eine Differenz zwischen Leben und Form zurücklassen:

losophie bewegt. Eine kritische Diskussion von Simmels Philosophiekonzept ist hier allerdings nicht meine Intention, sondern allein ihr Verstehen. 10 In der »Philosophie des Geldes« schreibt Simmel, dass eine Beziehung zur »Totalität des Seins« nur in der Form von »allgemeinen Gefühlen« herstellbar sei (PDG: 58).

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»[E]s gilt, die Einheit zu gewinnen, deren der Geist gegenüber der unermeßlichen Vielheit, dem Bunten, Zerrissenen, Unversöhnten der Welt bedarf. Unter welchen Kategorien immer das philosophische Denken sagt, was die Ganzheit der Welt ihm ist – […] immer erfüllt diese Behauptung auch das formale Bedürfnis, einen Einheitspunkt in all den Wirrnissen und Gegensätzlichkeiten der Erscheinungswelt zu bieten, eine Stelle, an der die Fremdheit der Realitäten vor ihrer Verwandtschaft zurückweicht.« (Ebd.: 35; Hervorhebung im Original)

Einheit stiften kann der philosophische Geist wiederum, weil der Geist als Form des Lebens aus sich heraus Einheit ist. Einheit überhaupt, so Simmel an Gedanken Kants anknüpfend, ist primär und vorrangig eine Funktion des geistigen Lebens. Die Dinge an sich kennen dagegen kein Miteinander, erst der lebendige Geist stiftet Einheit: »Diese Vereinheitlichung ist eine schlechthin unvergleichliche Fähigkeit des Geistes, ja, es ist sein eigentliches ihn konstituierendes Wesen, sie zu vollziehen.« (Ebd.: 35) Dass etwas aus sich heraus Einheit ist, nennt man Entelechie. Diese EntelechieHypothese findet sich bei Simmel durchgängig ab der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG: 246), aber auch im »Goethe« (vgl. GOE: 151) und in der »Lebensanschauung« (vgl. LA: 364). Die Prämisse ist gleichbedeutend mit Simmels an Kant anknüpfende Annahme einer Gesetzlichkeit auf der Ebene des Individuums. Doch dazu später. Hier ist von Bedeutung, dass Philosophie Einheit schafft, indem sich das ganze Individuum in einer Form objektiviert. Um Einheit in der Vielfalt zu schaffen, nimmt die philosophische Reduktion die Form eines Begriffes oder eines Gegenstandes an. Welche konkrete Form die Philosophie auch annimmt, sie muss nach Simmel das Begehren nach einem umfassenden, einheitlichen Grund des Seins befriedigen, der der Differenz zwischen der Außenwelt der Form und der Individualität geistigen Lebens zugrundeliegt: »Der Metaphysiker findet sich in der Welt vor, als objektive, sicherste Tatsache, und fragt […]: wie muß die Welt aussehn, damit diese Tatsache in ihr, als in einer verständlichen, harmonischen Einheit, möglich sei?« (HPH: 33) Beispielhaft nennt Simmel Schopenhauers Willenslehre: Die Deutung des Daseins am Willensbegriff bedeute keine Psychologisierung der Natur, sondern umgekehrt sei das subjektive Phänomen des Willens nur eine individuelle Form, in der sich der umfassende, metaphysische Wille ausgestalte (vgl. ebd.: 34). In dieser Art des Betreibens von Philosophie zeigt sich ein für Simmels Lebensphilosophie noch zum Tragen kommender paradoxer Zug. Die Frage nach der das Individuum ermöglichenden, kosmischen Einheit stellt sich erst, weil Einheit als Form primär die Leistung des individuellen Geistes ist. Simmels Lebensphilosophie begreift das Überindividuelle als etwas aus dem Leben geschaffenes, das Überindividuelle ermöglicht dann aber auch die Form des Individuellen. Eine Philosophie stellt eine ganzheitliche Objektivation eines Individuums in der Aussagenform über einen bestimmten Gegenstand dar. Die »Behauptungen gehen auf irgendwelche Realitäten, aber jene Persönlichkeit drückt sich in ihnen aus« (ebd.: 30). Mit Worten aus Simmels Kulturphilosophie formuliert finden in der Philosophie das individuelle Leben und die Form zu einer Einheit: »Man könnte diese Auffassung der Philosophie in die Formel zusammenfassen, daß das philosophische Denken das Persönliche versachlicht und das Sachliche verpersönlicht.« (Ebd.: 30) In »der Sprache eines Weltbildes«, so Simmel, drücke sich »das Tiefste und Letzte einer persönlichen Attitüde« aus (ebd.: 30).

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Simmel geht so weit zu behaupten, das noch gegenwärtig andauernde Interesse an im wissenschaftlichen Sinne widerlegten Philosophien von Sokrates, Platon oder Nikolaus von Kues erkläre sich aus dem Wert des sich in den philosophischen Systemen objektivierenden, individuellen Seins. Und hier zählten die erkennbare geistige »Richtung und Verfassung« sowie das Maß an »Ehrlichkeit, Tiefe und Deutlichkeit dieser Dokumentierung« (ebd.: 31). Ob diese sehr streitbare Behauptung über das Wesen der Philosophie Simmels selbst überhaupt Wahrheit beansprucht, ist nicht mein Thema. Dennoch sollte darauf hingewiesen werden, dass Simmels Philosophiekonzept zumindest einen bestimmt gearteten Objektivitätsanspruch vertritt – sie ist keine »Selbstbespiegelung eines Kopfes, sondern die Welt, wie sie sich in ihm malt« (ebd.: 30). Die »Totalität der Dinge«, so drückt Guy Oakes es sehr schön aus, sei in Simmels Konzept der Philosophie »gebrochen durch die einem Prisma ähnliche Vorstellungskraft« (Oakes 2002: 66). Gebrochen werde das Nebeneinander der Totalität durch die Eigengesetzlichkeit des Individuums, nicht durch subjektive Willkür. Diesen Unterschied betont auch Simmel (vgl. HPH: 30). Da Simmels Philosophie des »individuellen Gesetzes« keine epistemischen Kriterien an die Hand gibt, ist die Unterscheidung von Objektivität und Subjektivität praktisch allerdings schwer zu ziehen. In einem umfassenderen Zusammenhang begründe und erläutere ich Simmels Philosophie vom »individuellen Gesetz« in Kapitel 4.5 dieses Buches. Nun zurück zur »Philosophie des Geldes«. Sofern und nur sofern der »Philosophie des Geldes« ein und dasselbe Verständnis vom Wesen der Philosophie zugrunde gelegen hat, wie Simmel es zehn Jahre später in den »Hauptproblemen« expliziert hat, dann handelt es sich bei der »Philosophie des Geldes« um eine selbstreflexive Theorie des Seins: Die Individualgesetzlichkeit Simmels gewinnt an der Philosophie über das Sachlichkeitssymbol par excellence die Form ihrer Einheit. Die »Philosophie des Geldes« wäre das Mittel der Individualität Simmels zum Gewinn seiner Einheit, die er begehrt.11 Gehen wir erneut zur »Vorrede« der »Philosophie des Geldes« und messen Simmels angekündigtes Vorhaben an dem von ihm selbst aufgestellten Maßstab des Philosophierens. Es ist ja nicht ohne weiteres zu erwarten, dass ein zehn Jahre später postuliertes Konzept auch früher schon Geltung hatte. Es ist dann erwartbar, wenn dem Wechsel des Labels von der »Psychologie« zur »Philosophie des Geldes« eine Zäsur entspricht. Wir stoßen auf folgende Bemerkung: »Die Einheit dieser Untersuchungen liegt also nicht in einer Behauptung über einen singulären Inhalt des Wissens und deren allmählich erwachsenden Beweise, sondern in der darzutuenden Möglichkeit, an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden.« (PDG: 12). Simmel konkretisiert dies ganz im Sinne der »Hauptprobleme«, wenn er sagt, dass er das Geld als ein Element aus dem Lebensbereich der Ökonomie auswähle, um dann aber

11 In einem gemeinsam mit Thomas Kron und Andreas Braun veröffentlichten Aufsatz ist in einer Fußnote vermerkt, Simmel hätte das Etikett »Philosophie« »u. a. deshalb gewählt, weil er sich dadurch mehr Aufmerksamkeit versprach.« (Kron/Berger/Braun 2013: 81) Zu welchem Anteil auch immer diese Motivlage tatsächlich mitspielte: Zum Verstehen der inneren Bewegungslogik der Werksentwicklung Simmels ist dieses Motiv meines Erachtens ebenso vollständig vernachlässigbar wie für die Einordnung der »Philosophie des Geldes« als Philosophie.

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»durch seine Erweiterung und Hinausführung zur Totalität und zum Allgemeinsten« die »Gesamtheit des Daseins« zu deuten (ebd.: 12-13). Dem entspricht die Einteilung der »Philosophie des Geldes« in einen »analytischen« und einen »synthetischen Teil«: Die Geldform aus dem Leben zu verstehen, das ist Aufgabe des »analytischen Teils«, das ganze Leben umgekehrt aus den Rückwirkungen der Geldform zu erklären, ist Aufgabe des »synthetischen Teiles«. Als umfassende Seins-Einheit ermöglicht und formt das Geld die gesamte Existenz des zeitgenössischen Individuums. Das Geld verbleibt also nicht in der Sphäre der Ökonomie, sondern wird zum Symbol der Einheit des Seins, von dem andere Elemente den Schatten des Derivativen tragen (vgl. ebd.: 695-96). »Analytischer« und »synthetischer Teil« stehen in einer Wechselwirkungsbeziehung zueinander: Einmal ist Geld abhängige, einmal unabhängige Variable, ohne dass die eine Perspektive auf die andere reduzibel wäre. Es bedarf auch dann noch des tragenden Geistes und der staatlichen Institutionen, wenn sich die Geldwirtschaft einmal verselbständigt hat. In dieser wechselseitigen Konstitutionsbeziehung zwischen individuellem Leben und der überindividuellen Geldform findet die Einteilung zwischen dem bereits genannten »analytischen Teil« und dem »synthetischen Teil« der »Philosophie des Geldes« ihre Einheit. Wenn Simmel von »Alternierung und Verschlingung der begrifflich entgegengesetzten Erkenntnisprinzipien« spricht, in der »die Einheit der Dinge« für uns erst »praktisch und lebendig« werde (ebd.: 13), dann wird auch das Weltbild bereits sichtbar, welches er am Geld greifbar zu machen gedenkt: den eines absoluten Relativismus. Identisch mit ihm ist die Annahme universaler Wechselwirkung zwischen den Elementen (vgl. Lichtblau 1997: 182; Rammstedt 2003c: 15-16). Ausführlich arbeitet Simmel seine »Weltformel« im dritten Unterkapitel von »Wert und Geld« aus (PDG: 93). Nach dieser Weltformel finden die Elemente des Seins ihre Bedeutung aneinander in der relationalen Form der Wechselwirkung, nicht für sich, und dies gilt bereits für die Anlage der »Philosophie des Geldes«. Da Relativismus oder Wechselwirkung universalen Charakters sind, erschöpfen sie ihre Bedeutung nicht in einer einzigen Dimension. Wechselwirkung zwischen Elementen gibt es im zeitlichen Nacheinander, im Mit- wie Gegeneinander, wie auch im Wechsel der Perspektiven. Ich komme später auf diesen Punkt zurück. Ich wage ein Zwischenfazit: Die »Philosophie des Geldes« bezeichnete Simmel als das erste Buch, welches wirklich sein Buch sei. In der »Philosophie des Geldes« reagiert Simmels ganzheitliche Individualität auf die Totalität des Seins gemäß seinem »individuellen Gesetz«. Er gewinnt die Einheit zwischen seinem Leben und der Welt anhand des Geldes, auf welches er die Vielheit der Erscheinungen zurückbezieht; am Geld, so scheint Simmel zu meinen, lässt sich die Beschaffenheit des Seins deuten, welche seine individualgesetzliche Existenz schließlich erst möglich macht. Die Philosophie ist eine Objektivation individuellen Seins, nimmt aber Sach- und Aussagenform an: »Die Persönlichkeit des Philosophen ist nicht der Inhalt ihrer Behauptungen; sondern diese Behauptungen gehen auf irgendwelche objektiven Realitäten, aber jene Persönlichkeit drückt sich in ihnen aus« (HPH: 30; Hervorhebung im Original). Trifft die Annahme der Selbstreflexivität auf Simmels Werk zu, bestünde eine mögliche Verknüpfung zwischen der Personal- und der Sachebene in deren inhaltlicher Parallelisierung: Wenn Simmel es vermag, über eine Philosophie des Geldes sein »individuelles Gesetz« auszuleben, liegt die logische Implikation auf der Sachaussagenebene nahe, Geld ermögliche auch anderen das Verfolgen ihres »individuel-

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len Gesetzes«. Diese Hypothese lässt sich noch präzisieren mit einem Blick auf die Verknüpfung zwischen der Geld- und Lebensphilosophie Simmels: Geld ist Form und Mittel, über welches Simmel nicht nur zu seiner Lebensphilosophie fand, sondern auch zu der Vollendung seines Lebens. Der »Achsendrehungsmoment« der »Philosophie des Geldes« bestünde dann in einer doppeldeutigen Wendung hin zum Leben. Erhärten und verdichten lässt sich diese These zunächst mit einem Blick auf die 1976 erschienene metaphorologische Studie der »Philosophie des Geldes« Hans Blumenbergs.12 Blumenberg verfolgt in ihr die These, das Geld als eine »Protometapher« des Lebens zu verstehen, durch die Simmel zu seiner Lebensphilosophie gefunden habe (Blumenberg 1976: 130).13 Die Begriffe von Welt, Sein oder Leben seien so allgemein, dass sich sinnvoll über sie nur anhand eines weniger abstrakten Gegenstandes sprechen lasse. Je allgemeiner der Gegenstand ist, von dem wir sprechen, so Blumenberg, desto eher wählen wir einen Umweg über eine Metapher, die uns das Abstrakte erschließen hilft (vgl. ebd.: 122-23). Geld ist dann sozusagen das Medium, durch das wir uns die Wirklichkeit des Lebens so unverfälscht wie möglich erschließen können, ohne das Leben selbst zu »haben«, ähnlich einer infinitesimalen Annäherung. Zum Beleg seiner Hypothese nennt Blumenberg »die für Simmel charakteristischen gemeinsamen Merkmale von Geld und Leben«, und zwar »Erstarrung und Liquidität, Gestalt und Auflösung, Festhalten und Verschwinden, Institution und Freiheit, Nivellierung und Individualität.« (Ebd.: 123) Blumenberg stellt interessanterweise die Frage, ob es »gestattet [sei], von der Philosophie des Geldes als einer der späteren Formen säkularisierter Theologie zu sprechen?« (Ebd.: 131; Hervorhebung PB). Dies zwar nicht, so Blumenberg – dafür sei aber die Lebensphilosophie Simmels umso mehr »wie eine der Philosophien des werdenden Gottes« (ebd.: 131; Hervorhebung PB). Über das Instrument der Metapher begründet auch Blumenberg aus der Form simmelschen Schaffens heraus einen einheitlichen Zusammenhang zwischen »Philosophie des Geldes« und »Lebensanschauung«. Kritische Würdigung erfuhr Blumenbergs Metaphern-Hypothese durch Volkhard Krech (1993). Einmal, so einer von zwei Kritikpunkten Krechs, besitze die »Philosophie des Geldes« deskriptiven, die Lebensphilosophie metaphysischen Charakter (vgl. ebd.: 175). Zweitens sei Geld zwar Form des Lebens, aber nicht Leben. Geld verselbständige die Kulturformen gegen das Leben – damit zielt Krech ab auf die »Kulturtragödie« Simmels –, könne aber nicht, wie das Leben, die Kluft zwischen Leben und Form überwinden (vgl. ebd.: 175). Anders die Religion, die den Dualismus von Leben und Form zu überwinden vermag (vgl. Krech 1998a: 147). In seinem Buch über Simmels Religionstheorie bestärkt Krech seine Lesart: Bei aller Analogie, aller vermeintlichen oder tatsächlichen Substituierbarkeit zwischen Geld und Gott besitze das Christentum im Unterschied zur Geldwirtschaft eine metaphysische Di-

12 Dieser These Blumenbergs von der Protometapher haben sich später Daniel Silver und Kristie O’Neill in ihrer religionsphilosophischen Interpretation der »Philososophie des Geldes« zu eigen gemacht (vgl. Silver/O’Neill 2014). Auf sie komme ich später zu sprechen (vgl. Kapitel 8.3.1 in diesem Buch). 13 Simmel soll es von Kritikern – ironischerweise – zu einem Vorwurf gemacht worden sein, mit der »Philosophie des Geldes« lediglich eine einzige Metapher zu entwerfen (vgl. Paul 2012: 205).

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mension, das Geld bloß eine faktische (vgl. ebd.: 83, Fn. 3). Geld- und Lebensphilosophie, so Krech, kämen aber darin zusammen, dass das Geld als Mittel zur Verwirklichung individueller Eigengesetzlichkeit zu interpretieren sei (vgl. Krech 1993: 178). Einmal kann Krech entgegengehalten werden, dass Simmel selbst wortwörtlich für das Geld konstatiert, es sei »metaphysischen Wesens« (PDG: 281). Zum anderen widerspricht Krech sich selbst: Wenn Geld Mittel zur Verwirklichung der Individualgesetzlichkeit ist, impliziert dies eine durch das Individuum selbst gewonnene Einheit von Leben und Form. Anders jedenfalls vermag auch die Religion nicht die – hier noch nicht näher definierte – Kluft zwischen Leben und Form zu schließen. Die hier bereits anklingende, funktionale Äquivalenz von Geld, Leben und Religion werde ich später weiter herausarbeiten (vgl. vor allem Kapitel 7.3 in diesem Buch). Mit Krech lässt sich allerdings folgende Aussage Blumenbergs besser greifen: »Insofern ist der Weg von der Philosophie des Geldes zur Philosophie des Lebens seinerseits ein Paradigma der letzteren.« (Blumenberg 1976: 131) Mit Krech: Geld ist nicht bloß Verbildlichung oder Symbolwerdung des Lebens, es ist auch ein Mittel zum Leben. Weder Blumenberg, noch Krech rekurrieren auf Simmels Philosophieverständnis. Beide vertreten meines Dafürhaltens nach zueinander komplementäre Rezeptionsvarianten zu einer Verknüpfung von Geld- und Lebensphilosophie. Beide münden darin, dass Geld ein Medium oder Mittel darstellt, zum Leben oder zur Lebensphilosophie. Ich meine, dass sich von hier aus – und mit Blumenberg – sagen lässt, dass die »Lebensanschauung« Simmels nur durch die »Philosophie des Geldes« zur Philosophie wird; und: vice versa. Eine Philosophie ist Philosophie, weil sie die Einheit des Seins durch die Selektion eines Gegenstandes gewinnt; und ausschließlich mittels dieser Selektionsleistung kann eine Einheit gewonnen werden, und Simmels Wahl trifft auf das Geld. Ich möchte den ökonomischen Unterton hervorheben, der doch mitschwingt, wenn Simmel selbst schreibt: Einheit gewinnen (vgl. HPH: 35). Denn ich möchte fragen, was es mit Simmel rechtfertigt, die »Lebensanschauung« eine Philosophie zu nennen, wenn nicht gerade als erlangter »Gewinn« für die philosophische »Zahlung« mit der Geldphilosophie. Eine für die Philosophie typische Reduktion, eine Rückführung auf einen Gegenstand, ein Element oder einen bestimmten Zug des Seins, auf den alle anderen hin als abgeleitet behandelt werden, findet in der »Lebensanschauung« ja gar nicht statt. Die Kapitel zwei bis vier nämlich, so Simmels eigene Aussage, werden »nun alle von dem metaphysischen Lebensbegriff, den das 1. Kapitel darlegt, zusammengehalten […] und [beziehen] als Teile von dessen möglicher Entfaltung ihren letzten Sinn«, dies, so Simmel, sei das »Entscheidende« (LA: 236, Fn. I). Das Leben selbst müsste also die philosophische Reduktion sein, auf die Simmel alle Fäden des Seins hin bezieht. Im ersten Kapitel ist der Leser aber mit einer Vielheit von beispielhaften Annäherungen an den Vitaldualismus von Leben und Form konfrontiert, ohne das Leben in seiner Unmittelbarkeit zu »schauen«. Simmel betont keinen besonderen Charakterzug, kein Element, wie es für eine Philosophie in seinem Sinne unabdingbar wäre. Simmel weist stattdessen auf die Unvollkommenheit seiner Beschreibungsversuche hin in Formulierungen wie »symbolisch und unvollkommen genug« (ebd.: 228), »nur symbolisch, nur mit einer wahrscheinlich verbesserungsfähigen Hinweisung« (ebd.: 223), »das Gefühl, daß das Leben ganz rein zu sich selbst gekommen ist, wird man symbolisch so beschreiben können« (ebd.: 225), und er beschließt seine Ausführungen mit dem Eingeständnis der mit »dem begrifflichen Aus-

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druck« verbundenen »logischen Schwierigkeiten«, »das Leben zu schauen« (ebd.: 235). Der »Lebensanschauung« unterliegt eher das abstrakte Konzept eines werdenden Seins (vgl. ebd.: 225), auf welches Simmel auch in seinen »Hauptproblemen der Philosophie« hingewiesen hat: Die Einheit des Seins und die Prozessualität des Werdens zusammenzudenken, so Simmel in den »Hauptproblemen«, sei nämlich nur möglich, »sobald der Weltprozeß als das organische Sich-Entwickeln eines einheitlichen Kernes vorgestellt wird.« (HPH: 61) Dafür, so Simmel weiter, sei das »Leben [...] die einzige uns bekannte Existenzform« (ebd.: 61; Hervorhebung PB). Eine Vergegenständlichung eines abstrakten Prinzips sieht jedenfalls anders aus. Natürlich lässt sich sagen, dass Simmel in der »Lebensanschauung« das Leben ja doch durch abwechselnde Begriffe bzw. Begriffspaare sichtbar zu machen versucht, und die Kapitel zwei bis vier haben zum Gegenstand eine Ebene von bereits materieller Natur. Die Kulturwelten, Tod und Unsterblichkeit sowie das »individuelle Gesetz« begreift Simmel aber gerade als Gestaltwerdungen des ihnen gemeinsamen, sie umfassenden Prinzips Leben. Kurz gesagt: Meiner Meinung nach kann die »Lebensanschauung« für sich genommen nicht Philosophie in Simmels eigenem Sinne sein. Sie wird Philosophie, wenn sie – wie Blumenberg es tat – in einen konstitutiven Wechselwirkungszusammenhang mit der »Philosophie des Geldes« gestellt wird. Dann ist das selbst abstrakte Geld der Gegenstand, über den Simmel zum Leben fand, dann ist die »Philosophie des Geldes« die Durchgangs- und Passierstation Simmels, durch die Simmels Entwicklung notwendigerweise hindurch »wachsen« musste, wollte er zum dann nicht mehr gegenständlichen Sein vorstoßen. Simmel hatte an einem empirischen Beispiel zu zeigen, dass sich wirklich und in der Sache das Sein auf das Geld zurückbeziehen und aus ihm heraus deuten lässt. Weder ist die »Philosophie des Geldes« dann ohne die »Lebensanschauung« als Philosophie zu verstehen, noch umgekehrt ist die »Lebensanschauung« ohne die »Philosophie des Geldes« als eine Philosophie zu verstehen. Und mit dem Schlussstein der »Lebensanschauung« vollendete Simmel schließlich dann auch sich selbst als philosophische Individualität, gab sich Form und Einheit. Aus der Perspektive der Selbstreflexivität betrachtet, impliziert diese Hypothese über die personale Ebene für die Gegenstandsebene dann genau die Annahme Volkhard Krechs: Der Weg zur eigenen, individuellen Einheit von Leben und Form bedarf des Geldes.

3.3 RELIGION – EINHEIT – LEBEN Nun ist es an der Zeit, der Religion ihren Platz in Simmels Werkleben zuzuordnen. Ich meine, dass sich Simmels philosophisches Schaffen durchgängig als eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten einer religiösen Lebensführung in der Moderne beschreiben lässt. Genauer gesagt, wenn Simmel von dem Begehren nach einer »Einheit« spricht und sie im philosophischen Pfad vom Geld zum Leben zu gewinnen meint, dann steht dahinter eine zu befriedigende religiöse Sehnsucht nach einer umfassenden Einheit, die sich nicht mehr in einem bestimmten Inhalt – sprich: Dogma –, sondern nur noch im Leben selbst finden lässt. Ich befinde mich hier auf einer Linie mit einer These der Autoren Silver/Lee/Moore (2007). Ihnen zufolge ließen sich Simmels gesamte Arbeiten – die bereits oben genannten »proto-forms« – bis zur

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»Lebensanschauung« als Pfad zu einer Antwort auf die Frage deuten, welche Form eine sinnhafte Existenz in einer post-christlichen Zeit noch besitzen könnte: »Our claim is that what guides Simmel along this path is an attempt to understand what a postChristian, post-Enlightenment, form of existence would be, what it means to live after the Christian God and Mechanical Nature have ceased to provide the metaphysical center of being as a whole. ›The View of Life‹ was Simmel’s last word on this subject.« (Ebd.: 282; Hervorhebung im Original)

In der Tat ist es ja so, dass Simmel in der »Lebensanschauung« zur Bezeichnung des ersten Kapitels, in welchem Simmel das den nachfolgenden Kapiteln zugrundeliegende und sie umfassende Lebensprinzip beschreibt, auf die religiöse Semantik bzw. zumindest religiös konnotierte Semantik der »Transzendenz des Lebens« zurückgriff. Das Sich-selbst-Transzendieren ist Wesenseigenschaft des Lebens selbst. Zwar fand Simmel unterschiedliche synonyme Bezeichnungen desselben – weil keine Bezeichnung das Leben wirklich in die Form eines Begriffs zu bringen vermag –, wie das Grenzsetzen und -durchbrechen, Leben und Form, aber eben auch die Selbsttranszendenz des Lebens im Widerspiel von Mehr-Leben und Mehr-als-Leben. Simmels Philosophie des »individuellen Gesetzes« konnte dann auch keine inhaltliche, nach Kriterien geordnete Anweisung zur individuellen Selbstfindung einer abgerundeten Lebenseinheit geben. Diese Einheit konnte Simmel zufolge nur aus dem Leben selbst kommen. Dass Simmel diesen Weg einschlug, hängt erneut mit dem philosophischen Wesen der »Philosophie des Geldes« zusammen. Die philosophische Reaktion ist nicht beliebig, sondern an die jeweilige historische Bedingungen geknüpft, auf die ein Philosoph mit seinem Gespür für die Ganzheitlichkeit des Seins antwortet. Denn es ist ja eine bestimmte, eine empirische Totalität mit »Charakter« sozusagen, die sich an der Eigenlogik des Philosophen bricht und auf die das philosophierende Individuum mit einem Weltbild antwortet. Die antike griechische Philosophie beispielsweise hat nach Simmel in der Vorstellung eines substanziellen, festen Seins einen Halt- und Fluchtpunkt vor den realen gesellschaftlichen Umwälzungen gesucht (vgl. HPH: 64-65; PDG: 301). Parmenides habe den Raum mit Materialität identifiziert. Eine Bewegung im Raum war folglich nicht möglich – und damit »Werden und Vergehen trügender Schein« (HPH: 48). Selbst die Werdens-Philosophie Heraklits konnte noch nicht das Sein als Wechselseitigkeit zwischen Elementen denken, sondern beruhte auf der Annahme eines seine Gestalt wandelnden, aber mit sich identisch bleibenden substanziellen Seins (vgl. ebd.: 62-63). Die historische Situierung der individuellen philosophischen Situation trifft auch auf Simmel selbst zu. Der am Geld Gegenstand gewordene absolute Relativismus Simmels war Resonanz auf das, was er in seiner Selbstdarstellung einmal beschrieben hat als die »zeitgeschichtliche Auflösung alles [sic!] Substantiellen, Absolute[n], Ewigen in den Fluß der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit«, in »die lebendige Wechselwirksamkeit« (Lichtblau 1997: 18182). Werfen wir dazu einen Blick in den 1902, also nur zwei Jahre nach der »Philosophie des Geldes« erschienen Text »Tendencies in German Life and Thought«. Der Text blickt auf die seit der Reichseinigung 1871 vergangenen drei Jahrzehnte zurück.

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Simmel tut dies nicht zufällig, sondern er meint ganz explizit, er beschreibe eine »period that has just passed« (TGLT: 172). Es muss also zu einer irgendwie gearteten Wende gekommen sein, bzw. die Geschichte muss sich Simmels Meinung nach in einem Wendeprozess befunden haben, unter Umständen in der Ablösung einer alten und der Schaffung einer neuen Lebensform. 1918 meint Simmel im »Konflikt der modernen Kultur«, in »jeder großen, entschieden charakterisierten Kulturepoche kann man je einen Zentralbegriff wahrnehmen, aus dem die geistigen Bewegungen hervorgehen, und auf den sie zugleich hinzugehen scheinen« (KDMK: 186). Dieser Begriff oder diese die Denkbewegungen ordnende, zentrale Semantik müsse nicht für jeden klar erkennbar sein, und es mag gegenwirkende Prinzipien geben. Ein Zentralbegriff, daran könne man ihn erkennen, bildet den jeweils höchsten Wert und das höchste – oder letzte, im Sinne von Letztrealität – Sein (vgl. ebd.: 187). Für das christliche Mittelalter sei der Zentralbegriff beispielsweise Gott gewesen: Aus ihm kommen die Dinge, und in ihn sollen sie auch wieder zurückgehen (vgl. ebd.: 187). Das 19. Jahrhundert aber – »in der bunten Vielfalt seiner geistigen Bewegungen« (ebd.: 188) – habe einen solchen vereinheitlichenden Begriff nicht gefunden. Dies habe sich erst mit Anbeginn des 20. Jahrhundert geändert: »Erst um die Wende des 20. Jahrhunderts schienen weitere Schichten des geistigen Europa gleichsam die Hand nach einem neuen Grundmotiv für den Aufbau einer Weltanschauung auszustrecken: der Begriff des Lebens strebt zu der zentralen Stelle auf« (ebd.: 188; Hervorhebung im Original). Für die Philosophiegeschichte – Philosophie nun nicht im simmelschen Sinne – trifft dies zu: Der Philosoph Heinrich Rickert, Zeitgenosse und Briefkorrespondent Simmels wie auch Freund Max Webers, bezeichnete die Lebensphilosophie als eine »Modeströmung« seiner Zeit (Rickert 1922: vii). Rickert berief sich sogar bestätigend auf Simmels Beobachtungen im »Konflikt der modernen Kultur«. Als den Lebensphilosophien gemeinsame Tendenz sah Rickert, das »Leben [...] in den Mittelpunkt zu stellen, und alles, wovon die Philosophie zu handeln hat, ist auf das Leben zu beziehen. In ihm glaubt man, den Schlüssel zu jeder Türe des philosophischen Gebäudes zu besitzen.« (Ebd.: 5) Die Dinge kommen aus dem Leben, und sie münden wieder im Leben. Rickerts Absicht ging auf Kritik, um selbst Raum für seine eigene Philosophie des Lebens zu schaffen (vgl. ebd.: x-xi). Rickert meinte, eine Philosophie des Lebens kommt »mit dem Leben allein nicht [aus]« (ebd.: vii). Sie müsste »mehr als eine Philosophie des bloßen Lebens [sein]« (ebd.: vii; Hervorhebung im Original). Das Postulat Rickerts ist deshalb so interessant, weil es augenscheinlich wesentliche Motive der simmelschen Lebensphilosophie verarbeitet: mit dem Leben – oder der Lebensphilosophie – über das Leben hinauszugehen. Rickert attestiert Simmel, die logische Unmöglichkeit einer reinen Lebensphilosophie demonstriert zu haben, weil diese, als Form der Reflexion, das zu beschauende Leben doch selbst wiederum in die Form des Begriffs – also: Form überhaupt – bringen müsste: »Simmel hat es, wenn wir ihn recht verstehen, mit vorbildlicher intellektueller Ehrlichkeit ausgesprochen, daß es unmöglich ist, seine Gedanken logisch zu Ende zu denken und so mit dem Leben allein das Problem des Lebens zu lösen.« (Ebd.: 70; Hervorhebung im Original) Zurück zum »Tendencies«-Aufsatz. Dort schreibt Simmel, die Philosophie hätte noch nicht ihre Pflicht getan, und diese bestehe in der Schaffung einer »new theory of life. The great synthesis that shall unite all the currents of existence as known to us into consistent ideas, that shall convert all external reality into spiritual values, and

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satisfy all the needs of the spirit with the results of knowledge, – this great synthesis we still await.« (TGLT: 200; Hervorhebung im Original) »satisfy all the needs«, eine »great synthesis we still await.« – Es geht also eine Epoche ihrem Ende zu, und Simmel hatte auch bereits eine Ahnung, welche Gestalt die Kulturentwicklung annehmen werde. Konzeptionell lasse sich diese Gestalt bei der Heterogenität der zu umgreifenden Gebiete und Interessen nur noch als Leben begreifen, und zu dessen Begreifen bedurfte es eines lebensphilosophischen Konzeptes. Aber welches – und wessen – Begehren meint Simmel, auf das eine Lebensphilosophie Antwort zu sein mag? Den »Tendencies«-Text durchzieht Simmels Diagnose einer Veräußerlichung des Lebens oder auch – was für Simmel gleichbedeutend ist – eines allgemeinen Materialismus. Beide, auch nicht den Materialismus, versteht Simmel in einem engen ökonomischen, sondern einem sehr generalisierten Sinne, sieht aber eine Dominanz ökonomischer Motive, und er sieht in diesen auch den Grund für die allgemeineren, umfassenderen Tendenzen. Simmel meint die Beobachtung zu machen, dass die äußerlichen Dinge – Simmels Sphäre der Kulturwelten – sehr weit entwickelt sind, während die Kultivierung der Innenwelt der Individuen dahinter zurückbleibe (vgl. ebd.: 16768, 170). Die verfeinerte Sachkultur, von der vor allem die Mittelschicht, mittlerweile aber auch die Arbeiterklasse profitiere, sei eng verbunden mit der Reichseinigung und dem ökonomischen Aufstieg des Deutschen Reiches seit 1871 (vgl. ebd.: 168, 171). Deutschland ist vom Agrar- zum Industriestaat aufgestiegen, stehe aber auch in der Lage einer außerordentlichen nationalen wie internationalen Konkurrenzsituation (vgl. ebd.: 168-71). Deutschland habe die politische Bühne der Weltmächte betreten (vgl. ebd.: 168). Ohne dies näher zu begründen meint Simmel, dass mit dem ökonomischen Wachstum und der durch den Wettbewerb gewachsenen Abhängigkeit nach außen hin Gewinninteressen eine bis dahin nicht dagewesene übergeordnete Stellung eingenommen haben (vgl. ebd.: 169). Wie Simmel es in der »Philosophie des Geldes« macht, führt Simmel das materialistische Motiv aus der Enge der Ökonomie in die umfassende Weite von Lebensinteressen überhaupt, so dass beispielsweise auch die Wissenschaften wie die Künste als materialistisch beobachtet werden (vgl. ebd.: 196-99). Die radikalste Ausprägung dessen, so Simmel, sei die These des Historischen Materialismus, wonach alle Wandlungen des historischen Lebens in letzter Konsequenz auf ökonomische Prozesse zurückzuführen seien (vgl. ebd.: 201-02). Auf Seiten der Philosophie steht der Versuch, Bewusstsein und Veränderungen auf der Ebene des Bewusstseins auf physische Veränderungen zurückzuführen (vgl. ebd.: 198-99). In der Kunst habe es eine feststellbare Tendenz hin zur Herausarbeitung und Perfektionierung der Technik gegeben. Anstatt das künstlerische Individuum hervorzuheben, habe sich die Kunst auf die Komposition in der Musik oder das Zusammenspiel von Raum und Farbe, Licht und Atmosphäre konzentriert (vgl. ebd.: 169-70). Allerdings habe man auf dem Feld der Kunst rascher als anderswo festgestellt, dass künstlerische Techniken in Literatur, Musik oder Malerei bloßes Mittel zum Ausdruck künstlerischer Objektivation sind (vgl. ebd.: 170). Den Materialismus beobachtete Simmel auch auf dem Gebiet der Religion, auf dem Simmel eine Kluft zwischen den mächtiger werdenden, dem Leben aber äußerlich bleibenden religiösen Institutionen der Kirche einerseits und dem religiösen Begehren andererseits feststellte. Bis zu den Siebzigern des 19. Jahrhunderts seien Macht und Einfluss der Kirche zurückgegangen, seit der Reichseinigung sei der Trend jedoch wieder umgekehrt verlaufen

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(vgl. ebd.: 191). Die politische Antwort auf Bismarcks Kulturkampf, den kirchlichen Einfluss auf Schule, Ehe und Familie zu beschneiden, sei die katholische Zentrumspartei gewesen, die im Deutschen Kaiserreich zu einer der mächtigsten Parteien geworden ist (vgl. ebd.: 191-93). In ihr als politischer Organisation vermische sich aber ihre religiöse Basis mit dem Anspruch auf politische Herrschaft. Reine Religiosität verkörpere sie nicht. Dazu würden die dogmatische Rigidität und Autorität des klerikalen Katholizismus sowie die religiösen Ansprüche der Menschen divergieren. Die protestantische Kirche ihrerseits, so Simmel, würde mehr und mehr illiberal und predigte den Menschen Obrigkeitshörigkeit (vgl. ebd.: 193-94). Neue Kirchengebäude würden gebaut, Geistliche sind in öffentlichen Debatten präsent, während sich das religiöse Gefühl vieler Individuen von den äußerlich bleibenden Formen entfremde (vgl. ebd.: 194-95). Das gleichwohl lodernde religiöse Begehren versuche sich stattdessen an anderen Feldern auszuleben – »new religious conceptions«, wie Simmel sagt (ebd.: 196). Ein Substitut des religiösen Dogmas war Simmel zufolge zeitweilig und ab den 1880er Jahren das über die Klassengrenzen hinweg wirkende Ideal sozialer Gerechtigkeit. Interesse und Mitgefühl am Schicksal der Arbeiterklasse speisten sich demnach aus dem Mangel unbedingter Werte: »The lack that men felt of a final object, and consequently of an ideal that should dominate the whole of life, was supplied in the eighties by the almost instantaneous rise of the ideal of social justice. Suddenly men became aware of the miserable estate, crying almost to Heaven, of the proletariat, the plundered condition of the working classes, the injustice done them, the destruction of their family life, their physical and mental degeneration, consequent particularly upon the labor of women and children« (ebd.: 175-76).

Das schlussendliche Abflauen des Interesses an der sozialen Frage in den »upper and middle classes« sei dann daher gekommen, dass sich soziale Gerechtigkeit nicht zu einer Art des religiösen Substituts eignete (ebd.: 177). Es nahm lediglich eine Leerstelle ein, die es aber nicht dauerhaft zu füllen wusste. Ähnlich beobachtet es Simmel für die Kunst. Das verbreitete, wachsende Interesse an Kunst ist Ausdruck religiösen Begehrens, welches einen Inhalt seiner Befriedigung suche in »new religious conceptions« (ebd.: 196). In »the fundamental needs of our souls […] lies the real reason for the passionate aesthetic interest that such large numbers of persons have suddenly developed« (ebd.: 195). Die Individuen würden aber schnell feststellen, dass die Kunst »too limited« sei, um (allein) das religiöse Begehren zu befriedigen, und ähnlich verhalte es sich mit der Wissenschaft, »that is silent as to everything final« (ebd.: 195). Insgesamt würden die Menschen – ohne dass Simmel hier eine Aufzählung anstrebt – in »all sorts of struggles« eine Antwort auf ihr religiöses Begehren suchen, »all seekung a reply to the anxious question about the meaning of life and the salvation of the soul.« (Ebd.: 195-96). Es bleibe »the deepest religious yearnings of the soul« (ebd.: 194), ein »longing in many souls for a profounder unification of life, beyond all the oscillations and the fragmentariness of empirical existence«, und dieses Sehnen habe »an irresistible power« gewonnen (ebd.: 195). Simmel spricht von einem religiösen Sehnen nach einer jenseits der Fragmentarität einzelner Dinge liegenden Einheitlichkeit des Lebens, und diese Einheitlichkeit, so viel scheint der Aufsatz nahe zu legen, erschöpft sich nicht in einem bestimmten Kulturgebiet. Mag die

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christliche Gottesvorstellung dem Leben einmal die Idee einer transzendenten Einheit gestiftet haben, sie ist verloren gegangen. Die ersehnte, »all the currents of existence« verknüpfende Theorie oder besser: Philosophie des Lebens scheint jene umfassende Synthese zu sein, in der Simmel eine mögliche Befriedigung des religiösen Begehrens nach Einheitlichkeit zu sehen scheint. Simmel meint, dass sich das Ende der von ihm beschriebenen, 1871 mit der deutschen Reichseinigung entfesselten materialistischen Epoche an einer Tendenz der Entmaterialisierung und Vergeistigung festmache, und zwar zuvorderst in der Wissenschaft. Diese stelle nämlich erstens fest, dass sie in ihrer Basis metaphysischer Natur sei. Sie greift nicht nur auf »working hypothesis« wie das Atom zurück (ebd.: 198). Sondern die Wissenschaft sei in ihren Möglichkeitsbedingungen überhaupt auf die formende Kraft des Geistes angewiesen, »it is a product of the human power to form ideas of things, and is dependent upon the inner laws of this power« (ebd.: 199). Zweitens könne die Wissenschaft trotz ihrer »brilliant practical results« (ebd.: 196) keine die einzelnen Wissensgebiete umfassenden Wert- und Sinnfragen beantworten (vgl. ebd.: 200). Deshalb gebe es »the need of great generalizations, uniform points of view, all-embracing philosophical ideals«, welche hinaus gehen über die »disconnected empirical investigations.« (Ebd.: 200) Mit diesen beiden Punkten, der metaphysischen Grundlage und der eingeforderten Synthese, rekapituliert Simmel die »twofold boundary« (ebd.: 199) jeder Wissenschaft, welche aus der Perspektive Simmels die Einheit der Philosophie konstituiert. Simmel meint nicht, dass der Materialismus überhaupt seinem Ende zugehe; eher, dass sich konfligierende Richtungen anbahnen zwischen »anti-spiritual phenomena« mit einem »less degree of vitality« und den »more excellent, more moral, more spiritual phenomena that stand in conflict with them.« (Ebd.: 202) Simmel enthält sich einer Zukunftsprognose, der hier zitierte Ausblick auf einen Konflikt entspricht gleichzeitig aber in seiner Struktur Simmels Philosophie eines Vitaldualismus zwischen Leben und Form. Noch 1918 meinte Simmel ja, das Prinzip Leben befinde sich im Kampf gegen das Prinzip Form (vgl. KDMK: 185). Zwei Jahre nach Erscheinen der »Philosophie des Geldes« meinte Simmel also, einen Epochenwandel zu beobachten, auf die »Achsendrehung« im persönlichen Schaffen 1900 folgt die Konstatierung eines geschichtlichen Epochenwandels seiner Zeit; und nochmal: der personalen Zäsur entspricht die Zäsur in der Sache. Das religiöse Begehren hat sich von den institutionalisierten Formen der Religion gelöst und ersehnt eine neuerliche Sinnstiftung und Erlösung. Synonym dafür spricht Simmel auch von einem Sehnen nach Vereinheitlichung, einer »unification« des Lebens, dessen Befriedigung durch bestimmte Inhalte nicht mehr möglich ist. Ich halte an dieser Stelle fest: das Sehnsuchtsmotiv der Vereinheitlichung durchzieht Gesellschaft und Kultur ungefähr mit Erscheinen der »Philosophie des Geldes«. Dies ist, so meine ich, die entscheidende Diskontinuität bei gleichzeitiger thematischer Kontinuität des Motivs der Entsubstanzialisierungsprozesse. Was bleibt und bleiben soll, ist: die Einheit, die keine greifbare, fixe Substanz mehr ist, sondern das werdende Leben. Ich demonstriere dies in aller Kürze. Die historische Auflösung des Festen, substanziell Beharrenden in Fluss und Relativität war bereits vor 1900 Gegenstand von Simmels Analysen, so wenn Simmel das Phänomen des Übergangs am Beispiel des Wechsels von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Epoche an »Dantes Psychologie« von 1884 personalisiert sieht (vgl.

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DP: 93). Philosophische Aufklärung und Wissenschaft, ebenso wie das Tempo der Wirtschaft identifizierte Simmel als Gründe für die zeitgenössische Entsubstanzialisierung des Lebens (vgl. EM II: 30; PSYDG: 63-64). Religiöse Inhalte erscheinen als unglaubwürdig, mit den Inhalten der Religion erlösche aber nicht das Begehren selbst, es bleibe ungestillt. Mit »Über sociale Differenzierung« betrieb Simmel die »Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber« (ÜSD: 130). Diese erkenntnistheoretische Entsubstanzialisierung auf dem Gebiet der Soziologie ordnete Simmel erneut einer allgemeinen, das Einzelgebiet der Soziologie übergreifenden »Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt [ein]: das Feste, sich selbst Gleiche, Substanzielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzulösen und in allem Sein den historischen Prozeß seines Werdens zu erkennen.« (Ebd.: 130) 1895 wandte Simmel das Muster des Auflösens der Substanz in Funktion und Relation auf die Wissenschaft als »ein selbständiges Gebiet mit ausgebildeten Kriterien« an (UBSE: 63). Der einzelne Inhalt erhält seinen Wahrheitswert nur in Relation zu anderen Wahrheiten (vgl. ebd.: 67-68). Das »Ganze der Erkenntnis«, d. h. das gesamte Kulturgebilde der Wissenschaft, sei »nicht in der gleichen Bedeutung wahr, wie die Einzelheiten innerhalb seiner, da es nichts Theoretisches sich gegenüber hat, woran seine Wahrheit sich erweisen könnte« (ebd.: 68; Hervorhebung im Original). Wissenschaft als Ganze besitze ihr Tauglichkeitskriterium in der Wechselwirkung zwischen der Umwelt des individuellen Organismus und dem individuellen Organismus selbst. Über einen evolutionären Selektionsprozess hätten sich unsere apriorischen Formungskräfte herausgebildet. Diese Aprioris der Erkenntnis bilden die Möglichkeitsbedingung jeder Wissenschaft. Zuerst 1889, dann wieder ab 1895 arbeitete Simmel zunächst an einer »Psychologie des Geldes«, ab 1897 an einer »Philosophie des Geldes«. Bei Kontinuität des Topos, jede Substanz aufzulösen in Bewegung und Relation, muss Simmel zunächst gemeint haben, diese Entwicklungstendenz auf Psychologie rückbeziehen zu können. Welche Bedeutung die Geldstudien für Simmel zu diesem Zeitpunkt hatten, ist (mir zumindest) unklar. Anfang der 1890er Jahre verstand Simmel sich vorrangig als Soziologe, der die 1894 veröffentlichte Schrift »Das Problem der Sociologie« als den programmatischen Grundstein für eine eigenständige Soziologie ansah, nicht dagegen seine vier Jahre zuvor erschienene »Über Sociale Differenzierung« – welche noch die Psychologie im Untertitel14 trug –, auch nicht seine »Moralwissenschaft« (vgl. Rammstedt 1992a: 4). Simmel publizierte ab 1894 »in den führenden soziologischen Fachzeitschriften« und »war Mitglied und sogar Vizepräsident des Pariser ›Institut International de Sociologie‹«, lehrte Soziologie an seiner Berliner Universität (Dahme 1993b: 48). 1898 erschien auch die erste, allein der Religion gewidmete Schrift, »Zur Soziologie der Religion«. Zu dieser Zeit war Simmel auf der Hochphase seiner Arbeit an der »Philosophie des Geldes«, die er noch 1895 und bis 1897 als eine »Psychologie des Geldes« konzipierte.15

14 Vollständig lautet der Titel der Monographie: »Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen«. 15 »Zur Soziologie der Religion« erschien im Februar-Heft der »Neuen Deutschen Rundschau«. In einem Brief vom elften April an Wilhelm Schuppe von der »Zeitschrift für immanente Philosophie« lehnte Simmel eingehende Anfragen nach fachphilosophischen Bei-

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In der Sekundärliteratur zu Simmel ist die in Briefen selbstbekundete Entfremdung Simmels vom soziologischen Schaffen gegen Ende der 90er des 19. Jahrhunderts dokumentiert.16 Bis 1898 sich noch als Soziologe verstehend, brach Simmel innerlich mit diesem Selbstverständnis und bezeichnete sich fortan als Philosoph, die Soziologie wurde Nebengeschäft (vgl. Rammstedt 1992a: 6). Ab 1897 bereits hatte Simmel vor, anstatt einer »Psychologie des Geldes« eine »Philosophie des Geldes« zu schreiben. Ob es mehrere oder einen, zumindest hervorragenden, Grund gibt, ist nicht sicher. Zu den möglichen Gründen gehören – trotz Anerkennung – der mangelnde Erfolg seiner soziologischen Forschungsrichtung, psychologische Verstimmungen, politische Gründe wie die unsicheren Aussichten auf eine Karriere in der Soziologie im Unterschied zu einer solchen in der Philosophie (vgl. ebd.: 7-8; Dahme 1993b: 48-49). Welche biographischen Wechselwirkungen zwischen der Abfassung der »Philosophie des Geldes« und Simmels gewandeltem Selbstverständnis im Detail herrschten, kann und will ich hier nicht weiter erörtern, und es ist für meine Ausführungen auch nicht von Belang. Jedenfalls hat Simmel mit der »Philosophie des Geldes« eine bereits Jahre zuvor entdeckte geistesgeschichtliche Tendenz zum Inhalt seines Weltbildes gemacht, dessen Seins-Totalität Simmel am Geld greifbar zu machen glaubte. Wahrheit mag genauso relationaler Natur sein wie der Preis, und Wissenschaft auf transzendentale Prinzipien genauso angewiesen zu sein wie der Tausch. Im Unterschied zur relational konstituierten Wahrheit bedingt der geldvermittelte Tausch aus seinem Prinzip heraus zusätzlich noch die Güterbewegung vom einen Individuum zum anderen. Der geldvermittelte Tausch bildet das formgewordene Weltbild von Relation, Bewegung, Entwicklung, Funktionalisierung und Entsubstanzialisierung. »One constantly comes across the term ›unity‹ throughout Simmel’s writings down to his last writings«, so Mike Featherstones zutreffende Beobachtung (vgl. Featherstone 1991: 5). Ab der Veröffentlichung der »Philosophie des Geldes« wird das religiöse Motiv der Vereinheitlichung omnipräsent. Was nun auffällt, ist ein sehr hohes Maß an Selbstähnlichkeit zwischen seiner Religionsphilosophie, seiner Kulturphilosophie, seiner Soziologie und schließlich, als Kulminationspunkt, seiner Lebensphilosophie. Jeweils entfaltet Simmel einen Dualismus zwischen individuellem Leben und überindividueller Form, der aus dem Leben kommt und nur noch im Leben Sinn und Bedeutung hat. Ich exemplifiziere auch diesen Punkt in aller Kürze, um den Gedanken schließlich in den Kapiteln 4-8 dieses Buches ausführlich darzulegen. 1898 veröffentlicht Simmel seine »Soziologie der Religion«, seine weiteren Schriften zur Religion datieren allesamt aus den Jahren nach der »Philosophie des Geldes«. Seine Erkenntnistheorie der Religion entstammt dem Jahr 1901, seine philosophische Auseinandersetzung mit der ›anderen Seite‹ – statt der TranszendentalDimension von Religion der Transzendenz-Dimension von Religion –, der Heilsvor-

trägen ab mit dem Hinweis auf seine Absorption durch die Arbeit an der »Philosophie des Geldes« (vgl. GSG 5: 589). 16 In der nicht bruchlosen und ambivalenten Haltung zur Soziologie besitzt Georg Simmel eine Gemeinsamkeit mit Max Weber (vgl. Weiß 1988: 38). Ihre Wege hin zur bzw. weg von der Soziologie liefen aber zeitlich invers zueinander (vgl. Lichtblau 1994b: 533).

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stellung, erfolgte im Jahr 1902. 1906 und 1912 erschien die Erst- bzw. Zweitauflage seiner Monographie »Die Religion«. In seinem Religionsbuch lesen wir von einem religiösen Begehren, dessen Wesensbeschreibung dem philosophischen Bedürfnis recht nahe kommt: »Jene Bedürfnisse nach der Ergänzung des fragmentarischen Daseins, nach der Versöhnung der Widersprüche im Menschen und zwischen den Menschen, nach einem festen Punkt in allem Schwankenden um uns herum, […] nach der Einheit in und über seiner verworrenen Mannigfaltigkeit […] – alles dies nährt die transzendenten Vorstellungen: der Hunger des Menschen ist ihre Nahrung.« (DR: 46).

Simmel entwickelt ein von konfessionellen Vorstellungen entkoppeltes Verständnis von Religion, dessen Ausformungen sich auf ein religiöses Apriori im individuellen Leben zurückführen lassen. Er greift auf ideengeschichtliche Motive der christlichen Konfession zurück, entkleidet sie aber von deren Substanz. So verfährt Simmel 1902 mit dem Heilsmotiv. Dieses bezeichne »den Einheits- und Treffpunkt all jener Bestrebungen und Regungen […]: er besteht nicht für sich als etwas, worauf unsere Sehnsucht sich richte, sondern er ist der Name für den Ort unserer Sehnsüchte.« (HDS: 109; Hervorhebung PB) Das Heil ist auch kein andauernder Zustand, sondern ein individuelles Streben. Es bestehe im »Sich-ausleben nach der Idee und dem Gesetz des Ich« und sei zugleich »Gehorsam gegen den göttlichen Willen, zugleich das Leben nach seiner Norm, zugleich die Uebereinstimmung mit den letzten Werten des Daseins überhaupt« (ebd.: 112; Hervorhebung im Original). Der Gehorsam gegen die Form Gottes ist Gehorsam gegen das eigene, »individuelle Gesetz«. Simmels Vorstellung vom Heilsindividualismus deckt sich mit seiner Philosophie vom »individuellen Gesetz«. Dieses wiederum liegt der philosophischen Reaktion auf die Totalität des Seins zugrunde. Streben und Einheit bilden ebenfalls die definierenden Merkmale von Kultur. Simmel war mit dem Kulturbegriff seiner akademischen Lehrer Moritz Lazarus und Heymann Steinthal vertraut, den beiden Begründern der akademisch marginal bleibenden Völkerpsychologie. Auf ihren Vorarbeiten begründete sich Simmels Kulturbegriff vom Anbeginn seines Schaffens.17 Wilfried Geßner zufolge verdanken sich gerade Simmels Vorstellungen von der Überindividualität der Arbeit Moritz Lazarus’. Geßner verweist auf einen Brief, den Simmel 1894 an Lazarus anlässlich dessen 70. Geburtstages verfasst hat (vgl. Geßner 2003: 20-21). Lazarus habe ihn, so Simmel, »eindringlich auf das Problem des Überindividuellen u. seine Tiefen hingewiesen, deren Erforschung wohl die mir noch bleibende Arbeitszeit ausfüllen wird.« (GSG 22: 132) Viele der Simmel-Sekundärliteratur geläufige kulturphilosophische Vorstellungen und Gedanken finden sich bereits im völkerpsychologischen Schriftgut. Moritz Lazarus entwickelte einen Begriff von Kultur als Wechselwirkung zwischen einer subjektiven und objektiven Kultur, wonach die Subjekte die objektiv Kultur produzieren, um dann wieder von dieser beeinflusst zu werden, indem sie sich

17 Den Einfluss der lazarusschen und steinthalschen Völkerpsychologie auf Georg Simmel haben in zwei Aufsätzen verfolgt Alberto Meschiari (1997) und Natàlia Cantó i Milà (2002).

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die durch die Masse der Subjekte produzierte objektive Kultur wieder aneignen (vgl. Lazarus 2003: 31-32, 190-98, 207-09). Damit hatte auch der Name »Völkerpsychologie« zu tun: Der objektive Geist eines bestimmten Volkes sind dessen aufgespeicherte und wieder angeeignete und in diesem Verfahren institutionalisierte Gesetze, Institutionen, Normen und Ideen (vgl. ebd.: 175-79). In Analogie zur Nationalökonomie als einer Wissenschaft von der Arbeit und der materiellen Produktion sei die Völkerpsychologie die »Wissenschaft von der Gesamtheit des producierenden Geistes« (ebd.: 40). Das Prinzip der »Verdichtung« (ebd.: 27, 31) sichere die Möglichkeit subjektiver Aneignung: So komprimiere die Uhr das abstrakte physikalische Prinzip der Zeit und mache es handhabbar (vgl. ebd.: 33-34). In der Fabrikmaschine – dieses Beispiel taucht später wiederholt bei Simmel auf – sammele sich der Erfindergeist vieler innovativer Individuen: »In jeder Dampfmaschine arbeiten die Geister James Watts, aller seiner Vorgänger und aller derer, welche eine Maschine verbessert haben.« (Ebd.: 182) Als Teil der objektiven Kultur ist die Maschine dann zu verwenden und wiederholt aufs Neue zu reproduzieren, ohne dass die sich in ihr konzentrierenden Ideen alle fortwährend neu durchdacht und verstanden werden müssten. So sehr Simmel an diese Gedanken bereits vor 1900 anschließt, wie beispielhaft in seiner »Über sociale Differenzierung«, formuliert Simmel seinen reifen Kulturbegriff mit der »Philosophie des Geldes« bzw. dem im selben Jahr veröffentlichten Aufsatz »Persönliche und sachliche Kultur«. Neu war nun der Gedanke der Kultivierung einer individuellen Ganzheitlichkeit, welche den Maßstab der Aneignung der Kulturprodukte dem zu entwickelnden individuellen Leben selbst entnahm (vgl. PDG: 619). Die Ausbildung bestimmter Fähigkeiten oder eines bestimmten Wissens per se bedeutet noch keine Kultivierung (vgl. TDK: 196). Kultur, so Simmel, bezeichne den »Weg der Seele zu sich selbst« (ebd.: 194), »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« (ebd.: 196) Weiter spricht Simmel auch von der »Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit« (ebd.: 196) und einer »Logik der Persönlichkeit« (ebd.: 213). Das Individuum objektiviert sich in Kulturformen wie der Wissenschaft, Kunst oder Religion, die, als Form oder Welten, ihrer eigenen Logik folgen. Sie sind produktiv gemäß ihren eigenen Standards. Ihren Kulturwert hingegen, so betont Simmel, besitzen diese überindividuellen Gebilde in dem Beitrag ihrer Inhalte zur Kultivierung der individuellen Ganzheitlichkeit (vgl. ebd.: 196). Selbstreflexiv gewendet hatte Simmels Pfad von der Geldphilosophie zur Lebensphilosophie zu zeigen, dass jede der von ihm passierten Formen ein Beitrag zu der Entwicklung seines Lebens ist. Dieser Pfad ist durchaus als ein religiöser zu lesen – nur eben nicht, und dies ist bedeutsam, im Sinne einer überindividuellen und standardisierten Form der Religion, sondern in einem individuellen, säkular-religiöse Sinne. Simmel unterscheidet deshalb auch zwischen individueller Religiosität und den Formen der Religion (vgl. Kapitel 6.1 in diesem Buch). Eine Religion, welche standardisierte Heilswege vorschreibt anstatt vom Individuum auszugehen, ist lediglich eine – wenn auch einen umfassenden Anspruch erhebende – Kulturform neben anderen, das seiner Natur nach ebenso umfassende religiöse Begehren bedient sie nicht. Hier sei als biographische Notiz angefügt, dass Margarete Susman, eine Philosophie-Schülerin Simmels, die religiöse Mystik als »die allertiefste Grundlage von

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Simmels Denken« beschrieb (Susman 1959: 8).18 Simmel hat die Seins-Schau des Mystikers Meister Eckhardt in die Nähe der Philosophie gerückt. Nack Eckhardt gebe es einen »Mittelpunkt« in der Seele jedes Menschen, an dem er »überhaupt nicht mehr von Gott geschieden« sei und darin eins mit der Welt sei (HPH: 18). So wie der Philosoph in der Form eines bestimmten Begriffes die umfassende Einheit des Seins greifbar mache, finde der Mystiker im Glauben an Gott »das Ganze der Welt« (ebd.: 18). Der Unterschied zwischen Philosophie und Mystik besteht – scheinbar – darin, dass erstere im Unterschied zu letzterer intellektueller Natur ist, weil sie den Weg über den Begriff geht. Beide, Mystik und Philosophie, scheinen in der In-Wendung zur eigenen Seele aber ein Tertium Comparationis, einen gemeinsamen Urgrund zu finden: »Die philosophische Attitüde, die ein Verhältnis des Geistes zum Ganzen der Welt bedeutet und angesichts der Maße des Individuums und der Welt als ein Widersinn, ja, ein Irrsinn erscheinen könnte, erhält damit eine metaphysische Rechtfertigung, sie erscheint als die intellektuelle Wendung jenes, wie es scheint, in allen Epochen des tieferen Menschheitslebens auftauchenden Gefühls: daß wir in den Grund der Welt gelangen, wenn wir uns in den Grund der eignen Seele versenken.« (Ebd.: 19; Hervorhebung PB)

Simmels Entwicklung hatte den Formen, an denen er sich ausbildete, durchaus ihren Beitrag abzutrotzen. Ich meine, das prominenteste Beispiel dafür ist die Produktion der »Soziologie« von 1908. Nach eigener Aussage ist ihm, der sich noch knapp vor der Jahrhundertwende vorrangig als Philosoph verstand und Soziologie eher als Nebenbeschäftigung betrieb, die Fortführung seines soziologischen Programms zur Last geworden (vgl. Rammstedt 1992a: 6-7). Dass er die »Soziologie« trotzdem schrieb – also: den Faden zu Ende führte –, interpretierte Köhnke als von seinem eigenen »individuellen Gesetz« auferlegt (Köhnke: 1996: 511). Die einmal geschaffene soziologische Form wirkte verpflichtend auf Simmel zurück. Als 1908 die »Soziologie« erscheint, kommentiert der Philosoph Wilhelm Windelband, die »Soziologie« Simmels sei »ein stark persönliches und dabei ausgesprochen sachliches Buch« (SOZ: 904; Hervorhebung PB). Der Form und dem Inhalt nach also dieselbe Reaktion wie sie Altmann und Knapp wenige Jahre zuvor bei Veröffentlichung der »Philosophie des Geldes« zeigten. Eine Integration seiner Soziologie in den roten Faden seiner Lebensphilosophie kann als ein Versuch Simmels interpretiert werden, als Philosoph die soziologische Form, die ihm doch fremd geworden war, (erneut) in sein Leben zu integrieren. In dem Ringen mit der von ihm selbst geschaffenen und ihm zur Pflicht gewordenen Form der Soziologie ging es denn darum, sie zu einem organischen Beitrag seiner ganzheitlichen Entwicklung auszugestalten. Selbstredend, einzelne ausgewählte Stimmen besitzen den Wert von anekdotischer Evidenz. Es lassen sich aber unabhängig davon Merkmale finden, welche die »Soziologie« in eine philosophische oder besser: lebensphilosophische Perspektive rücken, wie Simmel es mit der »Philosophie des Geldes« zuerst getan hat, so dass sich sagen lässt: Die »Soziologie« entfaltet einen Dualismus aus individuellem Leben und sozialen Formen. So begegnen

18 Zur Mystik als Quelle von Simmels religionsphilosophischem Denken vgl. Krech 1998a: 210-26.

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wir dem gleichen Muster der Unterscheidung zweier philosophischer Grenzen einer Fachdisziplin (vgl. ebd.: 39). Statt um ökonomische geht es um gesellschaftliche Verhältnisse; eine nicht unbedeutende, später zu erläuternde Differenz hinsichtlich der miteinander in Wechselwirkung stehenden Entitäten.19 Simmel unterscheidet zwischen einer »Erkenntnistheorie« und der »Metaphysik der fraglichen Einzelgebiete.« (Ebd.: 40) Die sozialphilosophische Erkenntnistheorie fragt nach den individuellen Bewusstseinsvoraussetzungen der Vergesellschaftung, die Metaphysik synthetisiert den »fragmentarischen Charakter der Einzelerkenntnisse« über die »Spekulation« zu einer »Einheit eines Gesamtbildes« (ebd.: 40). Daneben frage die sozialphilosophische Metaphysik nach dem »Sinn oder« dem »Zweck« dieses einheitlichen »Gesamtbildes« Gesellschaft (ebd.: 40). Gleichbedeutend damit sei die Frage nach dessen »religiöse[r] Bedeutung.« (Ebd.: 40). Allerdings besitzt die »Soziologie« nicht die gleiche Anlage wie die »Philosophie des Geldes«, in der sich die philosophische Zweiseitigkeit in der strukturellen Zweiteilung in einen »analytischen« und »synthetischen Teil« artikuliert, die sich dann wiederum wechselseitig aufeinander beziehen lassen. Auf das Einheits- und Vollendungspostulat eines individuellen Lebens stoßen wir einmal im »Exkurs« zu den Bewusstseinsvoraussetzungen von Vergesellschaftung. Das »individuelle Gesetz« ist strukturierendes Element aller drei Aprioris. Der Dualismus zwischen einem eigengesetzlichen Individuum und einer ebenso eigengesetzlich prozessierenden Gesellschaft ist Gegenstand des zweiten Aprioris, und die Vollendungsform der Gesellschaft als vollständige Objektivation des individuellen Seins bildet den Kern des dritten Aprioris (dazu mehr in Kapitel 5.3 dieses Buches). Die materiellen Studien der »Soziologie« zeichnen die Realisierung dieser Aprioris nach als eine wachsende Objektivation und Verselbständigung der sozialen Formen aus dem individuellen Leben. Die Formen und Beziehungen zwischen Individuen bilden eigenlogische Zusammenhänge und wirken fordernd auf das Individuum zurück. Parallel dazu wird das individuelle Leben als Leben frei – damit aber auch dessen Individualgesetzlichkeit. Voraussetzung dafür ist ebenso eine entpersonalisierende Versachlichung von Sozialbeziehungen, wonach der Grund für Vergesellschaftung weniger das konkrete Gegenüber ist, sondern umgekehrt wird das Gegenüber funktionalisiert für bestimmte Sachgründe, die nun in wachsendem Maße ausschlaggebend sind für Vergesellschaftung mit anderen. An diesem Punkt der Sozialevolution kann die Individualität ihrem »individuellen Gesetz« folgen und damit ihrer eigenen Vollendung zustreben, aber auch von den differenten Sozialformen »aufgesogen« oder zwischen ihren Ansprüchen zerrieben werden. Simmel begründet Vergesellschaftung im Leben und eröffnet die Chance, dass Vergesellschaftung in ihrer reifen, ausdifferenzierten Form ein Medium eigenselektiver Gestaltwerdung des Individuums wird. Den genaueren Erweis zur vitalphilosophischen Anlage der »Soziologie« Simmels werde ich mit Kapitel 6 in diesem Buch erbringen. Gesellschaft und Kultur sind unterschiedlich definiert. Simmel skizziert auf beiden Gebieten aber eine zueinander komplementär und unterstützend verlaufende Entwicklung. Simmel konstruiert Gesellschaft und Kultur so, dass sie, in lebensphilosophischen Termini, zwei unter-

19 Simmel zufolge stehen in der Ökonomie nicht Individuen, sondern Sachen miteinander in Wechselwirkung. Vgl. dazu Kapitel 8.2.2 in diesem Buch.

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schiedliche Zugriffsweisen auf ein und denselben Inhalt in der Form eines Dualismus von Leben und Form beschreiben. Diesen Unterschied werde ich in den Kapiteln 5.3 und 6.2 in diesem Buch aufgreifen. Wenn tatsächlich – wie hier skizziert – ein Zusammenhang zwischen Kultur, Gesellschaft und Geld im Leben Simmels derart existiert, dass sie sich auf einer Entwicklungslinie der Individualitätswerdung Simmels anordnen lassen, dann müssen sich die Formen der Kultur wie der Gesellschaft auch der »Sache« nach auf die »Philosophie des Geldes« zurückführen lassen. Wenn Simmel meinte, über das Geldsymbol die Einheit des Seins aufschlüsseln und greifbar machen zu können, folgt daraus, dass sich die jeweils spezifischen Formen der Vergesellschaftung und Kultur auf eine schöpferische Einheit der allgemeinen Geldform zurückführen lassen müssen, dessen Ausgestaltungen sie dann sind. Jeweils geht es um eine unterschiedliche, partikulare Form des Dualismus, in welchem das individuelle Leben steht. Wie das Geld für Simmel der Gegenstand war, über den er zu seiner Lebensphilosophie fand, ermöglicht die individuelle Beziehung zum Geld ein Leben nach dem »individuellen Gesetz« ebenso wie die Vereinnahmung durch die Formen. Für das Individuum stellt sich die schon zu Anfang dieses Kapitels genannte »Kardinalfrage der Lebensanschauung«. Wie verhält es sich nun mit der Religion? An die These von Silver/Lee/Moore (2007) anknüpfend gehe ich von der Annahme aus, dass sich Simmels Pfad von der Geldphilosophie zur »Lebensanschauung« als der Versuch einer Antwort auf die Frage nach der gegenwärtig einzig noch verbliebenen Möglichkeit einer religiösen Lebensführung lesen lassen kann. Simmels Formel von der »Transzendenz des Lebens« lädt natürlich ein zu einer begrifflichen Identifizierung von Religiosität und Leben. Das Leben besitzt als Leben eine religiöse Dimension. Die historischen Religionsformen mögen einmal einen umfassenden Zugriff auf das Leben haben, in der sich die Religiosität auch befriedigt findet. Für seine Gegenwart sieht Simmel dies allerdings anders. Aus der Differenz zwischen einem religiösen Leben und historischer Religionsform erklärt sich auch das Auftauchen von Religion als einer Kulturform neben Wissenschaft, Kunst oder Wirtschaft: Der Anspruch des religiösen Lebens ist umfassender und weitreichender, als die institutionalisierten Formen es zu befriedigen vermögen. Das umfassende religiöse Einheitsbegehren sieht Simmel nicht mehr in der historischen Religion zu befriedigen, sondern nur noch in der individuellen, eigenselektiven Gestaltwerdung an den Formen der Kultur und des Sozialen. Auf den Auflösungsprozess von Religion in die Religiosität des individuellen Lebens reagierte Simmel mit seinen kultur- und gesellschaftstheoretischen Studien. Er verfasste sie unter der religiösen Frage- und Problemstellung seiner Zeit. Und es passt dazu vielleicht die Beobachtung Konrad Thomas’, dass der Seelenbegriff geradezu omnipräsent ist in Simmels Arbeiten (vgl. Thomas 2011: 111).20

20 Thomas im Wortlaut: »Welchen Platz die Seele und das Seelische in Simmels Erörterung einnehmen, ließe sich an unzähligen Stellen belegen. Das ganze Werk ist davon durchzogen wie von einer unbezweifelbaren Selbstverständlichkeit (die dennoch in der SimmelRezeption merkwürdig wenig Entsprechung gefunden zu haben scheint – als müsse das Wort ›Seele‹ gemieden werden).« (Thomas 2011: 111)

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Ebenso ›fragend‹ verfuhr Simmel in seiner Theorie der Religion, und daraus ergeben sich auch die Anforderungen an eine Darstellung der Religionstheorie Simmels. Er beobachtet Religiosität als einen ganzheitlichen, umfassenden Impuls im Leben. In der Ausformung und »Bedienung« dieses Impulses haben die religiösen Institutionen aller Zeiten auch ihren religiösen Kern gehabt, unabhängig von dem Umstand, dass die kirchlichen Träger ebenso von nicht-religiösen Motiven, wie solchen der politischen Herrschaft beispielsweise, durchdrungen waren. Dies – die Mischung von Religiösem mir Nicht-Religiösem – gilt für Simmel bis in seine Gegenwart. Die Evolution des Christentums interpretiert Simmel beispielsweise als eine »Antwort« auf ein religiöses Begehren. Dieser Weg steht seines Erachtens heutzutage aber nicht mehr zur Verfügung. Simmel reflektierte mit der Differenz von Leben und Form, Religiosität und Religion eine religiöse Situation der inneren Lösung von den traditionalen Institutionen (dazu später mehr in Kapitel 7 in diesem Buch).21 Damit verbunden ist das lebensphilosophisch grundierte Charakteristikum der religionsphilosophischen Studien Simmels, die religiösen Motive vom Seelenheil, von der Kirche oder von Gott von ihrem schöpferischen Ursprung, von ihrer – sozusagen – Lebensquelle her als etwas zu deuten, was einmal, mit ihrer Entstehung als konstitutive Elemente der Religion, Antworten auf ein und dasselbe Lebensproblem lieferten, bevor sie sklerotische, erstarrende Formen angenommen haben. Was die kirchlichen Heilsanstalten an Sinnversprechen nicht mehr zu geben vermochten, wurde anderswo gesucht. Dies muss nicht unbedingt in der Form von Philosophie geschehen, sondern

21 Simmel gibt keine bzw. kaum schichtspezifische oder andere gruppenbezogene Auskünfte über das religiöse Begehren. So erwähnt Simmel in »Das Problem der religiösen Lage« – die für die hier angesprochene Problematik wohl erste Adresse – gewisse »geistig hochstehende Kreise der Gegenwart« (PRL: 149), und er unterscheidet zwischen »der spezifisch religiösen Natur« (ebd.: 158) – mit Max Weber gesprochen: »religiösen Virtuosen« (Weber 2010: 421; Hervorhebung im Original) – und der bedürftigen »Masse« (PRL: 160). Diese Differenz bezieht Simmel jedoch nicht auf andere soziale Differenzen. Diese Frage ist bereits eine inhaltliche Frage, eine Frage nach den unterschiedlichen Gründen für oder gegen einen religiösen Glauben. Hier liegt gleich eine deutliche Differenz zu Max Weber, der schichtspezifische Affinitäten zu bestimmten Formen des Glaubens analysiert und konstatiert: dass beispielsweise eine Zugehörigkeit zur (herrschenden) Oberschicht eher nach Legitimation verlange, minder privilegierte Schichten sich dagegen nach (Hoffnung auf) Erlösung sehnten (vgl. Weber 1988a: 242-45; 2010: 375, 385). So schreibt Weber, dass »das moderne Proletariat« durchaus ein »Erlösungsbedürfnis« hege (ebd.: 386). Ein solches Erlösungsbedürfnis könne die »Erlösung von der Klassenherrschaft« durch die sozialistische »Revolution« sein, getrieben von dem »religionsartigen Glauben an die sozialistische Eschatologie« (ebd.: 403). Der weitverbreitete Unglaube an einen allmächtigen Gott unter den Arbeitern habe sich vorrangig nicht aus Aufklärung und wissenschaftlicher Kritik gespeist – obgleich diese den Arbeitern verfügbar war –, sondern aus dem Empfinden einer ungerechten diesseitigen Weltordnung (vgl. Weber 1988a: 247). Die individuelle Partizipation an der überindividuellen sozialistischen Bewegung und der Glaube an die sozialistische Erlösung sind für Simmel inhaltlicher, deshalb schon nicht mehr rein religiöser, sondern religioider Natur. Vgl. dazu die Ausführungen zur Unterscheidung von Religion und Religiosität in Kapitel 7.2.1 in diesem Buch.

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kann, ja muss ebenfalls in den Ausformungsprozessen der Gesellschaft und Kultur gefunden werden können; und dass dem so ist, ist für Simmel mit der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft verknüpft. Ich werde zeigen, dass Simmel noch innerhalb seiner als Religionsphilosophie im engeren Sinne ausgegebenen Schriften explizit darauf hinweist, dass die Zukunft einer religiösen Lebensführung nur in einer InWendung der Transzendenz in die Immanenz des Lebens liegen kann. Was einerseits – darauf haben bereits Silver/Lee/Moore (2007) hingewiesen – als Vorgriff auf die »Lebensanschauung« gelesen werden kann, wird dann andererseits rückblickend den Pfad der individuellen Lebensgestaltung durch die sozialen wie kulturellen Formen des Lebens zu einer religiösen Frage machen. An dieser Stelle sei auf einen sehr interessanten Aufsatz Daniela Motaks verwiesen, dessen Annahmen sich inhaltlich mit den meinen zum Teil decken (vgl. Motak 2014). Ihrem Aufsatz »Religion and Monetary Culture in the Sociology of Georg Simmel« unterlegt sie die Hypothese, die »idea of unity« sei die »common matrix« von Geld, Gott und Gesellschaft bei Simmel (ed.: 132). Geld wird mit Gesellschaft, Gesellschaft mit Gott und Gott mit Geld in ein Verhältnis annähernder Entsprechung gebracht, einer Homologie. Zu dieser Interpretation gelangt Motak durch die Analyse des zirkulären Deutungsschemas Simmels: a wird durch b, b durch a erklärt. Dies impliziere, so Motak, »a specific circular style of reasoning« (ebd.: 131) – eben jene genannte Homologie zwischen Geld, Gott und Gesellschaft. Allerdings ist es bei Motak nicht das indivividuelle Leben, um dessen Einheit es geht.22 Ferner leugnet sie zumindest implizit die logische Möglichkeit einer Äquivalenz oder Substitution des Gottessymbols durch das Geld, wenn sie Simmel die These vom Geld als einem »false God« unterstellt (ebd.: 142). Schießlich ist es ihre Annahme, die »Money/God homology leads logically to the claim of isomorphy of religion and modern economic system: in other words, to the claim about the religious character of modern capitalism.« (Ebd.: 143) Diese Schlussfolgerung Motaks teile ich nicht. Dass es in Simmels geld- und lebensphilosophischen Studien meines Erachtens ausdrücklich nicht – auch nicht implizit – um das Verhältnis von Religion und Kapitalismus geht, darauf hatte ich bereits in Kapitel 2 in diesem Buch hingewiesen. In Kapitel 4.5 dieses Buches argumentiere ich erneut für meine Position. Die Beobachtung einer strukturellen Homologie der unterschiedlichen Formen bei Simmel teile ich mit Motak, generalisiere sie aber: Auch die Formen der Kultur müssen inkludiert werden. Es besteht kein Grund, die Homologie-Annahme auf die Bereiche Gott, Geld und Gesellschaft zu beschränken. Zum Schluss zwei Hinweise in methodischer Sicht. Erstens: Diese Arbeit wird nicht werkchronologisch, sondern der Sache nach geordnet vorgehen: Am Anfang steht die Einführung in die Lebensphilosophie Simmels, dann widme ich mich der Kulturphilosophie, dann der Soziologie, und schließlich erfolgt der Schwenk auf den Hauptteil mit den zwei Kapiteln zur Religions- und Wirtschaftstheorie Simmels. Jeweils steht hinter den Kapiteln das finale und reife, lebensphilosophische Konzept

22 Freilich muss gesagt sein: Motak sagt, dass Simmel mit anderen deutschen Klassikern der Soziologie »the Nietzscheanian presumption« teilt, »that human beings are driven by the need for self-realisation« (Motak 2014: 139). Diese Aussage verknüpft Motak jedoch leider nicht mit ihren Überlegungen zur Homologie von Geld, Gott und Gesellschaft.

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des jeweiligen Ausschnitts. Gelegentlich weise ich auf Verschiebungen und Kontinuitäten innerhalb des werkgeschichtlichen Verlaufs hin, die Einheitlichkeitsperspektive ragt aber heraus. Das diachron entstandene Material ist aus dieser Sichtweise zeitloser Inhalt, den ich nach ihrer Einfügsamkeit in die jeweilige Formungsperspektive selektiere. Entsprechend werde ich auch »Stoff« aus früheren Schriften der 80er oder 90er Jahre einpflegen, sofern und unter der Voraussetzung, dass sie sich eingliedern in die reife Form. Zweitens: Die Kapitel werden zueinander eine mehr oder minder starke Tendenz zur Selbstähnlichkeit aufweisen.23 Das ist einerseits gewollt, andererseits – so meine ich – aus der Sache geboten. Wo Heilsstreben, »individuelles Gesetz« und individuelle Kultivierung aus augenscheinlich unterschiedlichen Gebieten entstammen, trotzdem aber eine strukturelle Homologie aufweisen, hat auch die Darstellung der Theorie jenem Umstand Rechnung zu tragen. Die konstitutionstheoretische Quelle der Selbstähnlichkeit ist natürlich der Vitaldualismus zwischen Leben und Form selbst: Stets ist es das Leben, welches der Form bedarf, ohne sich in der Singularität einer bestimmten Form genügen zu können und deshalb: über sie hinauszuschreiten hat. Es liegt in der Konsequenz der Annahme einer Homologie, dass die Kapitel jeweils mit einer sehr ähnlichen – wenn auch nie vollständig identischen – Konstellation enden: der Entfaltung des Vitaldualismus von Leben und Form. Das nachfolgende Kapitel 4 wird Simmels finale Version der Lebensphilosophie vorstellen und versuchen zu zeigen, wie Simmels »Philosophie des Geldes« die empirische Realisierung des Vitaldualismus als eine Einheit der Unterscheidung aus Freiheit und Bindung zu beobachten erlaubte.

23 Wie es Andrew Abbott mit seinen »Fractal Distinctions« beispielhaft gezeigt hat (vgl. Abbott 2001: 3-33).

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Philosophie des Lebens 1

4.1 ZUSAMMENFASSUNG In dem nun folgenden Kapitel geht es mir einmal um die Präsentation des theoretischen Rahmens dieser Arbeit, der Lebensphilosophie Georg Simmels. Theoretisch wie begrifflich greife ich auf die reife Letztfassung des Lebensbegriffs zurück, wie ihn Simmel im ersten Kapitel der »Lebensanschauung« entfaltet: Leben ist der Dualismus aus Leben und Form. Jede partikulare Lebensform ist eine Ausformung dieses allgemeinen, umfassenden Begriffs vom Leben und muss sich auf ihn zurückführen lassen. Leben »ist« aber nicht einfach, sondern es »ist«, indem es »wird«. Der dem Leben inhärente Widerspruch aus Form und Leben dynamisiert das Leben in einen schöpferischen Formzerstörungs- und Schöpfungsprozess. Diese Philosophie liegt den gesamten Ausarbeitungen der noch folgenden Kapitel zugrunde. Leben ist immer Form in der Form der Individualität. Daraus leitet sich ein ontologisches Individualitätskonzept ab: Qua Form ist Individualität eine Einheit aus sich heraus. Als solches besitzt sie ein eigenes Gesetz seiner Entwicklung. Von Simmels Begriff ontologischer Individualität ziehe ich eine gleichermaßen logische wie genealogische Linie zur »Philosophie des Geldes«. Zu zeigen ist, dass Georg Simmel das dualistische Lebensprinzip an der »Philosophie des Geldes« erstmals an einem Gegenstand – der Geldform – ausbuchstabierte, und zwar in der Geldform des Dualismus aus freier, eigenlogischer Individualität einerseits und der Bindung an die Eigengesetzlichkeit der Ökonomie. Erwiesen wird damit die philosophische Einheit aus der »Philosophie des Geldes« und der »Lebensanschauung«. Meine Argumentation in diesem Kapitel lautet wie folgt: In Kapitel 4.2 skizziere ich den ideengeschichtlichen Strom, in welchen Simmels Lebensphilosophie sich einfügt. Er betritt kein unbearbeitetes Land, sondern hat Vorläufer vor und Mitstreiter in seiner Zeit. Zu letzteren gehört Henri Bergson. Die Lebensphilosophie Simmels – und damit auch Simmel als individueller Philosoph des Lebens – formte sich an den intellektuellen Kreisen vor und zu seiner Zeit. Er entnahm ihnen, was er bedurfte, um schließlich seine Philosophie des Lebens zu artikulieren, dadurch sich zu kultivieren, und so schließlich: zu sich selbst zu finden. Kapitel 4.3 wendet sich der Analyse des Vitaldualismus zu. Leben kann nur sein in der Form der Individualität. Individuell sind Formen als in sich geschlossene Formen, sie setzen eine nicht weiter qualifizier-

1

Teile dieses Kapitels gehen auf zwei gemeinsam mit Thomas Kron verfasste Aufsätze zurück (vgl. Kron/Berger 2016; 2018).

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te Grenze zur Umwelt. Ich nenne dieses abstrakte Individualitätsverständnis ontologische Individualität: Sie ist ein Derivat des Vitaldualismus aus Leben und Form. Wie ich zu demonstrieren versuche, ist dieses ontologische Individualitätsverständnis zu unterscheiden von einer früheren, atomistischen Vorstellung von Individualität, deren Charakteristikum es ist, eine zusammengesetzte Einheit zu sein. Ontologische Individualität ist Entelechie: Sie ist Einheit aus sich heraus, weil sie nicht nur einfach Form, sondern Lebensform ist. Simmels lebensphilosophische Wende, so zeige ich in Kapitel 4.4, ist eine Wende im simmelschen Individualitätsverständnis von Individualität als einem zusammengesetzten Produkt von Vergesellschaftungsprozessen hin zu einem Konzept ontologischer Individualität, in welchem Individualität nicht in den Formungsprozessen der Vergesellschaftung aufgeht, sondern etwas Eigenes, Widerständiges ist. Wie ferner zu zeigen sein wird, ist die Idee ontologischer Individualität nicht gleichzusetzen mit den Ideen des quantitativen wie qualitativen Individualismus. Ontologische Individualität bezeichnet ein Drittes. Das Konzept einer aus und in sich geschlossenen Form der Individualität gewann Simmel jedoch nicht erst mit seiner »Lebensanschauung«, sondern mit der »Philosophie des Geldes«. Die Wende im Individualitätskonzept geschieht über ein altes metaphysisches Problem: die philosophische Kompatibilität von menschlicher Freiheit und jeder Form gesetzeshafter Determination, seien es die Gesetze Gottes oder der Natur. In Kapitel 4.5 zeige ich, wie Simmel mit der »Philosophie des Geldes« beide Seiten des metaphysischen Problems – Freiheit und Gesetz – entfaltet und ausdifferenziert. Individuelle Freiheit und die Bindung an das Gesetz kommen zusammen, indem sie einander bedingen. In der »Philosophie des Geldes« demonstriert Simmel, wie das Paradox einer freien, aus und in sich geschlossenen, selbstdeterminierten Form von Individualität zusammengeht mit der gleichzeitig sehr hohen Bindung an die Eigenlogik der Wirtschaft. Das Geld, so meine These, macht die Entfaltung dieses Paradoxes möglich: Eine gleichzeitige Steigerung von Freiheit und Bindung, Verselbständigung und Abhängigkeit. Simmel legt mit der »Philosophie des Geldes« den Keim zur Metaethik des »individuellen Gesetzes«. Die »Philosophie des Geldes« wird damit gleichzeitig zum Role Model der Kulturphilosophie und Soziologie Simmels. Sie demonstriert an einem empirischen Gegenstand die materielle Seins-Möglichkeit des Dualismus von Leben und Form.

4.2 WERK- UND ZEITGESCHICHTLICHE EINORDNUNG Über »das commercielle Leben« (BSP: 31; Hervorhebung von mir), das »Wirthschaftsleben« (ebd.: 32; Hervorhebung PB), das »Vereinsleben« (ÜSD: 247; Hervorhebung PB), »Klosterleben« (ebd.: 273; Hervorhebung PB), aber auch – etwas komplexer – über »die Befreiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens« (ebd.: 253; Hervorhebung PB) lesen wir bei Simmel schon früh, im Übergang von den 80er zu den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Lebenssemantik tritt gehäuft auf, ohne dass allerdings die Bedeutung der Semantik selbst einer theoretischen Reflexion unterworfen wird. »Leben« trägt bei Simmel zunächst eine nicht weiter definierte, eher diffuse Bedeutung, geht aber auch über den biologischen Sinn von »Leben« hinaus – anders, als es beispielsweise Rammstedt und Dahme für diese Schaffenszeit Simmels vermuten (vgl. Rammstedt/Dahme 1983: 15). Zu einem expliziten Lebensphiloso-

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phen ist Simmel nach Ansicht von Michael Landmann erst mit der ab 1908 einsetzenden Rezeption Henri Bergsons geworden, er sei aber bereits zuvor mit seinen Kant- und Goethestudien für seine lebensphilosophische Wende präpariert gewesen (vgl. Landmann 1976: 4-5 und Landmann 1987: 8). In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Gregor Fitzi in seiner Studie zum Einfluss Henri Bergsons auf Georg Simmel (vgl. Fitzi 2002). Neben Kant und Goethe nennt Fitzi Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer als Wegbereiter geistiger Vorbereitung (vgl. ebd.: 122-29). Volkhard Krech meint, in Simmels Ende 1906 veröffentlichter philosophischer Ausdeutung Friedrich Nietzsches und Arthur Schopenhauers (»Schopenhauer und Nietzsche«) einen für den »Wende«-Charakter der Philosophie Simmels entscheidenden Aspekt herauslesen zu können: die Vorrangstellung der Leben-Form-Unterscheidung einerseits und die konstitutive Zurückführbarkeit von Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst oder Religion auf die ihnen gemeinsame Einheit geistigen Lebens andererseits (vgl. Krech 1998a: 121-22). Ich schlage hingegen vor, Simmels Werden als lebensphilosophische Individualität als eine selbstreflexive Gestaltwerdung Simmels zu begreifen, der sich seinem »individuellen Gesetz« gemäß an den Inhalten seiner Zeit formte, ohne dass ein bestimmter Inhalt – ein bestimmter Philosoph bzw. dessen Philosophie – eine dominant prägende Bedeutung besitzt. Die Philosophie des Lebens ist die Artikulation des simmelschen Lebens in der Form der Sachaussage. Doch der Reihe nach. Ideen- und theoriegeschichtlich reihte sich Genese und Konstitution von Simmels Lebensphilosophie einer Denkströmung ein, die laut Robert Josef Kozljanič ihren »Diskursbegründer« in Friedrich Schlegel um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gehabt habe (Kozljanič 2004: 11).2 Schlegel habe als erster dem zuvor bereits in Alltag und Literatur verwandten Begriff der Lebensphilosophie jene Bedeutungskonturen verliehen, auf die auch die späteren Lebensphilosophien Schopenhauers, Nietzsches oder auch Simmels zurückgegriffen haben (vgl. ebd.: 31, 37-39). In Abgrenzung wie unter gleichzeitigem Einschluss der analytisch-logisch verfahrenden Philosophie gehe die Lebensphilosophie stets vom ganzheitlichen Erleben von Welt aus. Methodisch zeige sich dies darin, so Kozljanič, über Analogien organischer und natürlicher Entwicklung die Phänomene des Lebens zu verstehen und zu erweisen anstatt zu beweisen (vgl. ebd.: 34).3 Es geht also nicht um die Reduktion auf Rationali-

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Anders Seyfert, demzufolge Charles Darwins Veröffentlichung der »Origin of Species« die »Geburtsstunde der Lebensphilosophie« gewesen sei (Seyfert 2008: 4685). Analogien gehörten wesentlich zum argumentativen Repertoire Simmels (vgl. Pyyhtinen 2016: 107). Ontologisch basierte das Analogie-Verfahren Simmels auf der Annahme eines Zusammenhangs von allem mit allem. Ihre finale Rechtfertigung kann die Analogie bei Simmel deshalb nur im Leben gewinnen, aus dem die Dinge kommen und in dem sie wieder zusammenkommen, aus dem sie schließlich die ihnen gemeinsam zukommenden und eine Analogie ermöglichenden Attribute erhalten. Ich widerspreche damit Volkhard Krech, demzufolge – freilich unter Bezug auf Simmel – das »Analogie-Verfahren […] vielmehr eine an die Gegenstände zu heuristischen Zwecken angelegte Methode [darstellt]« (Krech 1998a: 192). Beatrix Maria Wessel hat 1987 eine Diplom-Arbeit über »Die Analogiebildung als Methode bei Georg Simmel« geschrieben (vgl. Wessel 1987). Max Weber kritisiert, dass in die Analogien Simmels nicht das aus einer jeweiligen Fachwissenschaft We-

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tät versus Irrationalität, sondern um deren umfassende Form. »Basis« lebensphilosophischer Reflexion ist die Unmittelbarkeit der »Lebenserfahrung« (ebd.: 13). Die »sinnlich-ganzheitliche und unreduzierte Lebenserfahrung ist Ausgangs- und Ankerpunkt: in ihr finden die verschiedenen Lebensbegriffe ihre organisch-lebendige Einheit.« (Ebd.: 17) Wenn auch auf Schlegel zurückgehend, habe sich die Lebensphilosophie in der Folge ausdifferenziert, so Kozljanič. Lebensphilosophien unterschieden sich nach der Begriffs- und Anwendungsbreite des Lebensbegriffs. Dieser könne von der biologischen über die geistige Ebene reichen bis hin zu der Annahme eines geistiglebendigen Universums (vgl. ebd.: 16). In letzterem Falle könne man von »›AllLeben‹ sprechen.« (Ebd.: 16). Auch letzterer Punkt findet sich bei Simmel wieder: Menschliche Individualität ist eine Form des Lebens und deshalb zu Überwindung und Auflösung durch das Leben selbst bestimmt. Donald Levine, der bei Simmel eine bereits den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstammende Kontinuität zwischen dem Zusammenhangsmotiv von Leben und Form ausmacht, führt dessen Annahme eines zur Gestaltwerdung drängenden Lebens auf eine über Kant oder Goethe vermittelte Lektüre des Vitalisten Johann Friedrich Blumenbach zurück (vgl. Levine 2012: 34). Heinrich Rickert, der der Lebensphilosophie skeptisch gegenüberstehend und sie als »Modeströmung« bezeichnete (vgl. dazu Kapitel 3.3 in diesem Buch), merkte an, dass die Philosophie des Lebens zu unterscheiden sei von dem philosophischen Prinzip des Monismus, demzufolge alles Sein auf ein einziges Prinzip zurückgeführt werden könne, und »bei dem man, falls er der Name für eine Weltanschauung sein soll, sich fast alles und daher nichts Bestimmtes mehr denken kann.« (Rickert 1922: 6). Dennoch, so Rickert: Es mache »einen guten und klaren Sinn, zu behaupten, [...] daß das Wesentliche in Welt und Leben ›das Leben‹ selber sei, und daß man daher auch in der Philosophie nichts anderes als ›das Leben‹ brauche.« (Ebd.: 6). Im Sinne Simmels verstand Rickert das Leben deshalb als etwas, was sein Gegenteil produziere, »starre Hüllen« und »Unlebendigkeit« wie »lebenshemmende Fremdkörper« (ebd.: 7). Statt Monismus also der Dualismus widerstreitender Prinzipien als ein bedeutsames Attribut des Lebens. Robert Seyfert sieht als einen »der bedeutendsten Beiträge der Lebensphilosophie und des Vitalismus [...] das Strukturmoment der Emergenz und Eigengesetzlichkeit« (Seyfert 2008: 4685; Hervorhebung PB). Emergenz sei »eine originäre Erfindung der Lebensphilosophie« (ebd.: 4684-85). Die Sphäre von der Eigengesetzlichkeit des organischen Lebens unterscheidet Seyfert vom Anorganischen (vgl. ebd.: 4685). Auch dieses Element findet sich in Simmels Philosophie des Lebens wieder: Er entwirft, an die Unterscheidung des Organischen vom Anorganischen anknüpfend, die Hypothese der Entelechie, wonach nur und alleine Leben aus sich heraus eine in sich geschlossene Form einheitlicher Individualität ausbildet, die nach eigenen Prinzipien funktioniert. Neben Simmel nennt Seyfert auch den Namen Henri Bergsons als Beitragenden einer Theorie der Emergenz (vgl. ebd.: 4685). Für die Übersetzung des Werkes Bergsons aus dem Französischen ins Deutsche durch seine Freundinnen Margarete

sentliche oder, mit Webers Worten, Eigengesetzliche an einem Inhalt hineinfließt (vgl. Weber 1991: 10-11).

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Susman und Gertrud Kantorowicz hatte sich Simmel eingesetzt (vgl. Fitzi 2002: 203228). Für Simmel selbst blieb Bergsons Philosophie ein Element unter mehreren, welches er in seine dualistische Konzeption des Lebens integrierte. Bergson war für Simmel ein für die Deutschen (durch sprachliche Übersetzung) zu gewinnender Inhalt der Kultur, welcher sich auch für Simmels eigenlogischer Aneignung zur Verfügung stellte (vgl. ebd.: 209-10). Eine überragende Bedeutung in Simmels Gestaltwerdung als Lebensphilosoph kommt Bergson meines Erachtens aber nicht zu. Besonders eindrücklich wird dies in dem 1914 publizierten Aufsatz Simmels zu Bergson. Gegen Ende seines Aufsatzes nämlich sagt Simmel explizit, dass er Bergsons Lebensphilosophie nur auf einer Seite einer umfassenden Einheitlichkeit verortet: »Die geistige Sehnsucht der Menschen pendelt zwischen dem Festen und dem Fließenden und für eines als das Definitive scheint sie sich schließlich entscheiden zu müssen. Von Parmenides und Heraklit bis zu Bergson spielt dieser Prozess sich ab: dem Festen, das das wahrhaft Wirkliche und Letzte ist, soll das strömend sich Ändernde, das nicht schlechthin verneint werden kann, irgendwie abgelauscht werden, das Fließende andererseits, sobald mit ihm das schlechthin Wahre ergriffen wird, soll irgendwie das Stabile und Bleibende hergeben. Auch Bergson steht nicht wirklich über diesen Parteien, sondern auf der Seite der einen, nach der Seite der anderen hin unvermeidlich eine Unbefriedigtheit hinterlassend.« (BRG: 69)4

Simmel deutet dann die Richtung einer möglichen philosophischen (Weiter-)Entwicklung an. Diese könnte darin bestehen, die von ihm als möglich identifizierten zwei Formen philosophischer Lebensanschauung, Fluss, Bewegung und Entwicklung einerseits, Starre, Form und Gesetzhaftigkeit andererseits, in der Philosophie eines dualistischen Lebens zur Einheit zu bringen, der zufolge der Widerstreit zum Wesen dieser Einheit gehört: »Vielleicht wird die Philosophie ihren nächsten Schritt mit der Eroberung eines Begriffes vom Leben tun, mit dem dieses sich wirklich jenseits jener Gegensätze stellt, in eine Höhe, von der aus das Fließen des Realen wie des Idealen und die Festigkeit beider die Absolutheit ihres Gegensatzes verlöschen und als die Offenbarungsweisen einer für jetzt noch unsagbaren Einheit des metaphysischen Lebens erschaut werden.« (Ebd.: 69)

Anders als Bergson, so hat es Annika Schlitte hervorgehoben, fand Simmel jedoch nicht primär über die Biologie seinen Zugang zur Lebensphilosophie, sondern über die Beschäftigung mit den Formen des Überindividuellen aus Gesellschaft und Kultur (vgl. Schlitte 2012: 182).5 Und diese bedeutsame Weichenstellung in Simmels Leben ging von völkerpsychologischen Impulsen aus (vgl. Kapitel 3.3 dieses Buches). Das werkgeschichtlich jüngste, die metaphysische Klammer der »Lebensan-

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Diese philosophische Überparteilichkeit schafft Simmel zum Ende der »Philosophie des Geldes«: Das Geld, so Simmel, habe »an jenen beiden Grundformen [teil], die Wirklichkeit auszudrücken«, und diese Grundformen sind jene »absoluter Bewegtheit« und »das ideelle System zeitlos gültiger Gesetzlichkeiten« (PDG: 715). Das Argument für eine in großen Teilen von Bergson unabhängige Entwicklung seiner Lebensphilosophie findet sich auch in Geßner 2003: 233.

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schauung« konstituierende Kapitel zur »Transzendenz des Lebens« berief sich denn auch nicht auf Bergson, sondern auf Nietzsche, Schopenhauer, auch Heraklit. Bergsons Name taucht nur ein einziges Mal in der »Lebensanschauung« auf (vgl. LA: 252), die Namen Goethes, Nietzsches und Schopenhauers umso öfter; was nicht implizieren soll, dass diese der Lebensphilosophie Simmels näher stehen als Bergson. Sondern: Ihre Philosophien stehen in gleicher Distanz – wie Nähe – zur simmelschen Idee einer inhärent dualistischen Einheit des Lebens. In diesem Sinne zu verstehen ist die schon von Heinrich Rickert konstatierte Beeinflussung durch »Nietzsche als auch von Bergson, [...] ohne irgendwie seine Selbständigkeit zu verlieren.« (Rickert 1922: 26) Die Beiträge der Philosophien Kants, Goethes, Hegels wie Schlegels, Nietzsche wie Schopenhauers und schließlich auch jener Bergsons sind als inhaltliche Wegstrecken von Simmels Kultivierung anzusehen, durch deren eigenselektive Verarbeitung er seine Philosophie des Lebens als eigengesetzliche Formgebung seiner Individualität begreifen konnte. Passend dazu steht Kurt Röttgers Einschätzung von Simmels Kant-Rezeption. Simmel, so meint Röttgers, habe sich selbst zu einem Kantwissenschaftler stilisiert (vgl. Röttgers 2011: 75). Dabei habe Simmel Kant gegenüber »von Anfang an eine aus Ignoranz und Eigenständigkeit gemischte Distanz« zur Kantschen Philosophie eingenommen (ebd.: 75). Simmel habe Kants Ideen nur selektiv zur Kenntnis genommen, »nämlich soweit sie zu den ›Lebensproblemen‹ seiner Zeit, Simmels Zeit, in einem produktiven Bezug stehend gedacht werden könne.« (Ebd.: 70) Simmel einer bestimmten (lebens-)philosophischen Denkschule – und sei es der Kantschen – einzuordnen, funktioniert deshalb nur bedingt; so auch übrigens Max Webers Einschätzung Simmels (vgl. Weber 1991: 10). Sondern umgekehrt geschah Simmels Zugriff auf die ›intellektuellen Kreise‹ eigenselektiv und selbstreflexiv, in der Form eines in der Zeit sich entfaltenden, organischen Werdens. Am Ende stand die »Lebensanschauung«.

4.3 FORM UND FORMEN DES LEBENS Leben ist der Dualismus von Leben und Form (vgl. LA: 227). Synonym begreift Simmel ein und denselben Dualismus des Lebens als »Selbsttranszendenz« (ebd.: 229) oder als dualistische Einheit aus »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben« (ebd.: 229, 234). Die Schwierigkeit, Leben zu definieren, liegt im Wesen der Sache selbst begründet, denn Sprache selbst bringt das Leben bereits in eine Form, die Dinge außerhalb ihres Ausschnitts belässt. Leben erschöpft sich per definitionem in keiner bestimmten Form, auch wenn sein Dasein an die Gestaltwerdung in einer Form überhaupt gebunden ist. Das Leben entzieht sich auch in der Beschreibung seiner Festlegung. Symbolische Umschreibung ist deshalb, wenn auch wiederum aus dem Leben selbst heraus begründete – weil Form – Sisyphusarbeit, die das Leben ›an sich‹ nicht begreifen kann. Bedeutsam ist hierbei zunächst, das Prinzip des Dualismus zu begreifen. Als philosophisches Konzept bedeutet Dualismus, dass das Sein sich konstituiert über zwei einander widerstreitende oder sich widersprechende, in diesem Widerspruch sich zugleich wechselseitig bedürfender Prinzipien, wie beispielsweise Yin und Yang in der

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chinesischen Philosophie, Gut und Böse oder Leib und Seele (vgl. Gessmann 2009: 179).6 Für Simmel ist das Leben die allem Sein zugrundeliegende Letzteinheit. Der Dualismus zwischen Leben und Form ist auch die einzig mögliche Existenzform des Lebens. Er herrscht konstitutiv, nicht akzidentell, eine bestimmte inhaltliche Ausgestaltung ist mit dem Konzept aber nicht impliziert: »This dual aspect of life is always there wherever there is life« (Silver/Lee/Moore 2007: 270). Eine äußere Realität oder – wie auch immer im Näheren zu bestimmende – Grenzen werden damit nicht verneint, aber sie sind Formschöpfungen des Lebens selbst, welche das Leben dann selbst wieder durchbricht. In diesem Sinne spricht Simmel von der – dem Kapitel seine Bezeichnung gebenden – »Selbsttranszendenz des Lebens« (LA: 229). Wahlweise sagt Simmel auch, »daß dem Leben die Transzendenz immanent ist« (ebd.: 224). Simmel findet unterschiedliche, synonyme Worte zur Bezeichnung ein und desselben, aber Simmel hat sich dennoch dafür entschieden, das jüngste und erste Kapitel seiner »Lebensanschauung« »Die Transzendenz des Lebens« zu nennen. Das mag Zufall sein, erscheint mir aber unplausibel, denn zu »belastet« ist der »Transzendenz«-Begriff (nicht nur) durch Simmels eigenen, religionstheoretischen Zugriff auf ihn. Die Konnotation zur Transzendenz des Schöpfer-Gottes liegt doch zu nahe.7 Die letzte Passage des »Transzendenz«-Kapitels beginnt Simmel denn auch mit einer erkenntnistheoretischen Demarkation seiner philosophischen Position: Die Realität »gewisser Glaubensobjekte« werde nun in das Leben verlegt »durch eine ungeheure Achsendrehung des Lebens« (ebd.: 234). Die Transzendenz steht weder im losgelösten Jenseits, noch ist sie eine aufzuklärende Illusion, sondern das Transzendieren in eine eigengesetzliche Ordnung ist ein wesenhafter Tatbestand des Lebens. Hier reflektiert sich Simmels Beobachtung, dass philosophische Kritik den Inhalt religiösen Begehrens zwar widerlegen kann, nicht aber die Form der Transzendenz. Zwei die Religionsphilosophie Simmels zum Gegenstand machende Aufsätze machen die Inwendung der Transzendenz auch zum Thema ihrer Schrift (vgl. Geyer 1991 und Vandenberghe 2010). Simmel schließt damit – mit der Inwendung der Transzendenz – in lebensphilosophischer – und somit: gewissermaßen säkularer – Form an seine eigenen religionstheoretischen Überlegungen zur religiösen Lage seiner Zeit an (vgl. dazu ausführlich Kapitel 7.4 in diesem Buch). Ein anderes Beispiel für den Formschöpfungs- und Selbstgrenzsetzungs- wie Durchbrechungscharakter des Lebens ist die mit dem Leben selbstgesetzte Abhängigkeit von äußerlich zuführbaren Ressourcen. Musterhaft ist hier die nach eigenen Gesetzen verlaufende Form der Geldökonomie (Mehr-als-Leben): Die moderne Arbeitsteilung stellt den Menschen in dem Stammesmenschen noch unbekannte Abhän-

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Leib und Seele können natürlich nur dann dualistisch zueinander stehen, wenn sie unterschiedlicher Beschaffenheit sind. Philosophische Spielarten, die die Eigenheit geistiger Zustände negieren, wie beispielsweise der sogenannte »eliminative Physikalismus«, stehen konträr zu den Voraussetzungen eines Dualismus von Leib und Seele. Einen Vergleich zwischen Selbsttranszendenz als Essenz des Lebens und individueller Selbsttranszendenz als Kerneigenschaft von Religiosität hat Francesca Eva Sara Montemaggi zum Gegenstand eines Aufsatzes gemacht (vgl. Montemaggi 2017a).

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gigkeitsverhältnisse, ist aber auch die Bedingung für das Selbst-Sein des Individuums. Aber: Allzu oft erzeugt die Kultur auch von dem Pfad zur Kultivierung ablenkende, künstliche Bedürfnisse nach Dingen (vgl. PDG: 672-74; TDK: 217). Weil die Seins-Einheit des Lebens sich nicht in einer bestimmten Form erschöpfen kann, drängt sie zur Überwindung der partikularen Form, nur um eine neue Form zu schaffen. Das Leben kann man sich übersetzen in eine a priori unerschöpfliche Potenzialität, die gleich einer innewohnenden Triebkraft zur (Selbst-)Bestimmung in Formen drängt. Eine singuläre Form ist Aktualisierung eines für sich nicht bestimmbaren, aber zur Bestimmbarkeit drängenden Horizonts einer schöpferischen wie zerstörerischen Lebensbewegung: »Indem es Leben ist, braucht es die Form, und indem es Leben ist, braucht es mehr als die Form.« (LA: 231) Man kann sich die Form des Lebens auch vorstellen wie ein Spannungsgefälle, welches sich entlang der Differenz von Potenzialität und Form-Aktualisierung aufbaut und dann zum Ausgleich drängt, der aber mit keiner singulären Form final erreicht, sondern nur – wie ein Horizont, nur nicht teleologisch gedacht – angestrebt werden kann. Leben ist immer mehr als das, was es gerade bezeichnet. Über den dynamisierenden Dualismus von Leben und Form versucht Simmel, die Einheit des Seins mit dem metaphysischen Werdens-Prinzip zusammenzudenken, wie er es in den »Hauptproblemen der Philosophie« dargelegt hat. Ich gehe im Folgenden auf ein von Simmel selbst gewähltes Beispiel ein, den Dualismus des Geistes. Wird die Ebene des Geistes betreten, dann spricht Simmel von Kultur, in Unterscheidung zum organischen Leben (vgl. KDMK: 183). Das Bewusstsein ist einmal eine Aneinanderreihung von Vorstellungen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Obgleich Schöpfung des Bewusstseins, besitzen seine Inhalte nach Simmel »einen eigenen Sinn […], einen logischen Zusammenhalt, irgend eine Gültigkeit oder einen Bestand, unabhängig von seinem Erzeugt-Sein und GetragenWerden durch das Leben.« (LA: 232) Jede einzelne Vorstellung ist eine irgendwie sich aus dem Flussprozess des Bewusstseins heraushebende, ihn unterbrechende Vorstellung, obgleich der Bewusstseinsstrom immer weiterfließt und jede einzelne durchbricht.8 Die Welt mag unsere Vorstellung sein, in dem Akt des Vorstellens ist sie aber bereits mehr als unsere Vorstellung. Wir erleben die Dinge als eigenständige Realität. Wir empfinden beispielsweise einen Widerstand, welches sich unserem Be-

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Der Begriff »Bewusstseinsstrom« wurde geprägt von einem Zeitgenossen Simmels, dem US-Amerikanischen Psychologen und Philosophen William James: »Consciousness, then, does not appear to itself chopped up in bits. Such words as ›chain‹ or ›train‹ do not describe it fitly as it presents itself in the first instance. It is nothing jointed; it flows. A ›river‹ or a ›stream‹ are the metaphors by which it is most naturally described. In talking of it hereafter, let us call it the stream of thought, of consciousness, or of subjective life.« (James 1984: 145; Hervorhebung im Original) Ähnlich wie Simmel spricht James auch von »›Substantive‹ and ›Transitive‹ States of Mind.« (Ebd.: 146). Simmel verwendet den Begriff des »Bewusstseinsstroms« einmal in der »Lebensanschauung«, und zwar im »Individuellen Gesetz« (vgl. LA: 372). Simmel bezieht sich dort ausdrücklich auf die »Vorstellungspsychologie« (ebd.: 372). Über eine Bekanntschaft oder wechselseitige Kenntnisnahme zwischen James und Simmel ist mir nichts bekannt. Lewis Coser zufolge hat James indirekt über den Postweg über Simmel erfahren (vgl. Coser 1977).

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gehren nach einem Gegenstand entgegenstellt, oder Forderungen zu bezahlender Preise oder zu beachtender religiöser Vorschriften (vgl. PDG: 34-35). Die Phänomenologie des Bewusstseinsstroms liefert die Blaupause für die Verselbständigung und den geschichtlichen Wandel der Kulturformen, wie sie Simmel in unterschiedlicher Größenordnung nachzeichnet. »Sklavenwirtschaft und Zunftverfassung, bäuerliche Schollenpflichtigkeit und freies Lohnarbeitertum« bezeichnen Simmel zufolge den inhaltlichen Wandel der Kulturform ökonomischen Lebens (KDMK: 184). Für eine Zeit lang mögen die Formen dem ökonomischen Leben angemessen sein, werden aber früher oder später durch »eine andere, diesen jetzigen Kräfte[n] angemessene« Form ersetzt, »in langsameren oder akuteren Revolutionen« (ebd.: 185).9 Die zeitlose ökonomische Form nimmt historisch unterschiedliche Inhalte an. Aus der Perspektive der Ökonomie oder, wie weiter oben, der Bewusstseinsform, sind die partikularen Inhalte zugleich Formen, welche zur Überwindung bestimmt sind. Die Begriffe Form und Inhalt können das gleiche bezeichnen, je nachdem, welche analytische Formungsperspektive eingenommen wird (vgl. ausdrücklich in SOZ: 492). Der im »Transzendenz«-Kapitel formulierten metaphysischen Form des Vitaldualismus zufolge könnte man von einer Zeitgleichheit »des Aufbauens und Durchbrechens« der Form ausgehen (LA: 228). Empirisch »wirkt« der Dualismus unterschiedlich rasch. Während die Vorstellungen des Bewusstseinsstroms kontinuierlich einander ablösen, können Kulturformen eine längere Zeit überdauernde, eigengesetzliche Kraft gewinnen. Wie das Wasser hinter einem Staudamm können Lebensenergien sich in einer Form stauen und sich häufen, bis sie bricht. Des Druckes der geballten Energien wegen kann es dann dazu kommen, dass die Energien sich zunächst entladen, ohne dass sie gleich eine neue sie begrenzende Form besitzen. So beobachtet es Simmel am ökonomischen Aufstieg des Deutschen Kaiserreiches. Die »Kleinstaaterei« Deutschlands, so Simmel, hätte Finanzwirtschaft, Handel und Produktion gehemmt (KGE: 24). Es hätte sich in der Folge »ein ungeheures Maß von wirtschaftlichen Spannkräften aufgehäuft, die keine rechte Entladung finden konnten«, bis die dem Deutsch-Französischen Krieg folgende Reichseinigung 1871 »diesen Bann löste« (ebd.: 24). Die ökonomischen Kräfte entluden sich mit voller Wucht, »aus dem Gefühl einer hemmungslosen Energie, die ihre Grenzen noch nicht erfahren hat.« (Ebd.: 25). Als das Krisensymptom dieser überschießenden ökonomischen Lebenskraft macht Simmel die nur zwei Jahre nach Reichseinigung 1873 einsetzende Finanz- und Wirtschaftskrise aus (vgl. ebd.: 25).10 Von den Formen der Kultur unterscheidet Simmel analytisch Formen der Vergesellschaftung, die, als Formen, ebenso Verselbständigungstendenzen gegenüber dem

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Gregor Fitzi weist darauf hin, dass Simmel den marxschen Gedanken vom Konflikt zwischen Produktionskräften einerseits und Produktionsverhältnissen andererseits zum allgemeinen Konflikt zwischen schöpferischem Leben und den Formen der Kultur generalisiert hat (vgl. Fitzi 2003a: 236-241). Zu dem gleichen Punkt vgl. auch Nedelmann 1984: 10103. Statt der marxschen Produktivkräfte ist das dem Dualismus von Leben und Form unterliegende Leben nach Nedelmann »the ultimate driving force of the process of cultural change.« (Nedelmann 1991: 172) 10 Eine Krise, die auch »Gründerkrise« genannt wird (Henning 1996: 792 und Ullrich 1999: 42; beide Male Hervorhebung im Original).

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individuellen Leben aufweisen. Ein Beispiel wäre die sich dem individuellen Leben entziehende Eigengesetzlichkeit der Konkurrenzform, die auf eine a priori im Bewusstsein angelegte antagonistische Triebfeder zurückgeht. Prozesse der Vergesellschaftung kennen Fehlpassungen zwischen Leben und Form nicht weniger, wie es Simmel bereits im »Kleinen« an der Zweierbeziehung zeigt (vgl. PDG: 202). Während die innere Beziehungsintensität zwischen zwei Menschen kontinuierlich ansteigen könne, würden die äußeren Formen der wechselseitigen Ansprache sich nur abrupt und diskontinuierlich wandeln. Ein mit Verzögerung eintretender Formwandel – Simmel bezieht sich auf den Wechsel vom Siezen zum Duzen – könne die Zweierbeziehung zumindest eine Zeit lang überfordern, bis das Leben »nachgezogen« hat. Manche Formulierungen Simmels lassen darauf schließen, dass er Vergesellschaftung selbst als Leben denkt; so beispielsweise, wenn Simmel das »Leben der Gesellschaft« als »ein ewiges Fließen und Pulsieren« beschreibt, welches »die Individuen verkettet« (SOZ: 32-33). Die Herausdifferenzierung eigenlogisch prozessierender Sozialorgane wie staatliche Bürokratie, Kirche oder Handelsstand zwecks gesellschaftlicher Selbsterhaltung bezeichnet Simmel als eine »Tragik jeder höheren sozialen Entwicklung« (ebd.: 638). Dies steht sowohl semantisch wie theoretisch nahe an der »Kulturtragödie« des geistigen Lebens: Die Formen verselbständigen sich aus dem individuellen Leben, drehen die Verhältnisse um und machen Letzteres zum Element seiner eigenen Reproduktion. Ausdrücklich ist meines Erachtens Simmels Hinweis zu beachten, dass alle Arten von Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit letzten Endes auf das Leben zurückzuführen sind (vgl. LA: 230-33). Die noch später zu besprechenden Formen der Kultur wie des Sozialen beziehen ihren Sinn und ihre Bedeutung als Formen einzig und allein aus dem Leben. Zwar bilden die Elemente innerhalb der Form einen vergleichsweise geschlossenen Wechselwirkungszusammenhang – das Korrelat ihrer Eigenständigkeit –, das Ganze oder die Totalität einer Form entstammt dem schöpferischen Leben.11 So seien die eigenlogischen Lebensformen der Kapitel 2 bis 4 »als Teile von dessen möglicher Entfaltung« zu sehen (ebd.: 234; Fn. I; Hervorhebung im Original). Das Leben ist die metaphysische Klammer jedweder Formbildung – darauf hatte ich bereits in Kapitel 3.2 in diesem Buch hingewiesen. Ebenso sei hier nochmals auf die eine sehr ähnliche Position vertretenden Lesarten Simmels bei Silver/Lee/Moore 2007 und Levine 2012 hingewiesen. Der Vitaldualismus von Leben und Form spielt sich auch »unterhalb« der geistigen auf der körperlichen Ebene ab.12 Kontinuierliche Zellneubildung sorge für die »physiologische Selbsterhaltung« des Körpers – sie ist Mehr-Leben (LA: 229). Der mit sich identisch bleibende Organismus überwindet und verändert im Wachstumsund Alterungsprozess zugleich seine jeweils aktuelle Gestalt – dies ist Mehr-alsLeben (vgl. ebd.: 221). Ein weiteres Beispiel für die Erzeugung der Form aus dem

11 Was der Grund dafür sein dürfte, dass beispielsweise Wilfried Geßner Simmels Lebensphilosophie vollständig als Kulturphilosophie interpretiert (vgl. Geßner 2003: 199-256). 12 Die Anführungsstriche fallen weg, sofern man die Hierarchisierung mitträgt und die Evolution des Geistes gegenüber der Welt des Körperlichen als einen Fortschritt bezeichnet. Simmel tat dies. Der Geist trägt Simmel zufolge eine höhere Ausdehnung als der Körper. Ich greife dies weiter unten in Kapitel 4.4 auf.

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Leben ist die sexuelle Zeugung von sich verselbständigenden »körperlichen Nachkommen« (ebd.: 232).13 Der Tod ist für Simmel nichts dem Leben Äußerliches, sondern eine aus ihm selbst kommende zeitliche Begrenzung seiner Existenz. Der Tod ist aber auch Möglichkeitsbedingung von komplexeren, die Stufe des Einzellers überwindenden Lebensformen (vgl. ebd.: 325). Der Tod, so Simmel, wirke nicht nur zur »Todesstunde«, sondern ist »formales Moment unseres Lebens« (ebd.: 299; vgl. auch ebd.: 307). Eine weitere, von Geist und Kultur unabhängige Form der Begrenzung wie Ermöglichung des Lebens ist die Abhängigkeit von Energiezufuhr. Der Organismus ist energetisch offen, formt die aus seinem Milieu entnommenen Stoffe aber gemäß seiner eigenen, körperlichen Bedürfnisse (vgl. PRP: 312-13). Der Dualismus von Leben und Form tritt selbstähnlich auf der organischen wie auf der geistigen Ebene auf. Im nun Folgenden konzentriere ich meine Darstellungsbemühungen auf Simmels Individualitätsbegriff. Dazu greife ich zunächst auf das Verhältnis zwischen der Einheit des jedem Dualismus zugrundeliegenden Lebens und den, je nachdem, organischen oder geistigen Formen zurück, in denen das Leben auftritt. In Hochkulturen, so Simmel, würden sehr individualisierte Menschen »eine sinkende Fruchtbarkeit aufweisen« (LA: 227). In der sinkenden Fruchtbarkeit würde sich »eine Feindseligkeit gegen ihre Funktion [zeigen], eine Welle in dem durch sie hin weiterrauschenden Lebensstrom zu sein.« (Ebd.: 227) War bis hierhin der Mensch sowohl in organischer wie in geistiger Hinsicht eine Form des Dualismus zwischen Leben und Form, ist der Mensch nun selbst eine sich gegen den Lebensstrom widersetzende Form innerhalb eines das individuelle Menschenleben umfassenden Dualismus des – allgemeineren, umfassenden – Lebens. Seiner theoretischen Funktion nach ist die Widerständigkeit menschlicher Form die gleiche, wie sie auch die Formen der Kultur aufweisen. Diesen Vergleich zieht Simmel explizit (vgl. ebd.: 226-27). Tod und Zeugung machen den Menschen zum Element innerhalb des organischen Lebensstroms; Produktion, Konsum und Reproduktion von Kultur wäre noch einmal das gleiche Prinzip übertragen auf die Ebene des geistigen Lebens. Dazu mehr in Kapitel 5 in diesem Buch. Der metaphysische Fluchtpunkt Simmels dahinter ist, so meine ich, das Verhältnis der Individualität zur Einheit des Seins, welches Simmel lebensphilosophisch deutet. Die Einheit des Seins ist Leben, indem es wird. Beides, Sein und Werden, kommt zusammen darin, dass das Leben Form annehmen muss, welche im gleichen Atemzug zur Überwindung bestimmt ist, weil keine singuläre Form das Leben ›an sich‹ zum Ausdruck bringen kann. Die Ungenügsamkeit jeder Form ist gewissermaßen vorprogrammiert. Für den Menschen heißt dies, dass er ein bedürftiges und sterbliches Wesen unter vielen ist. Diese aus dem Sein selbst hervorgetriebene Dynamik nennt Simmel eine nicht näher definierte Ausdehnung »der absoluten Einheit des Seins« (ebd.: 225). Was das Leben ›an sich‹ ist, zeigt sich erst im Formschöpfungsprozess, aber diese Formen sind Formen des Lebens, als die sich die SeinsEinheit artikuliert. Die Metaphysik des Vitaldualismus bildet den letzten Grund des Individualitätsverständnisses von Simmel. Folgend auf das oben zuletzt genannte Zi-

13 Das Thema Zeugung von Leben greift Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes« auf, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: als Form der »Erweiterung der Persönlichkeit« auf den von ihr gezeugten Nachwuchs (PDG: 434).

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tat, wonach sinkende Fruchtbarkeit eine in höheren Kulturen zu beobachtende Charakteristik sei, distanziert Simmel sich ausdrücklich von der Annahme, dass Individualisierung primär und vorrangig quantitativer oder qualitativer Natur wäre: »Das ist keineswegs nur ein anmaßliches Übersteigern ihrer persönlichen Bedeutung, eine Sicht, sich qualitativ aus der Masse herauszuheben, sondern ein Instinkt für den unversöhnlichen Gegensatz von Leben und Form [...]. Die [...] eigenschaftliche Besonderheit oder Einzigkeit [...] ist hier gar nicht das Entscheidende, sondern das Fürsichsein, Insichsein der individuellen Form in ihrem Kontrast gegen die allbefassende kontinuierliche Strömung des Lebens, die nicht nur alle formenden Grenzen löst, sondern es eigentlich gar nicht zu ihnen kommen läßt.« (Ebd.: 227)

Die Seins-Einheit des Lebens lebt in der Form des organischen wie geistigen Mensch-Seins, ohne ihre Schöpfungspotenz in einer singulären Form des Menschen zu erschöpfen. Was aus der Perspektive körperlichen Daseins die Leben ermöglichenden wie begrenzenden Formen von Zeugung und Tod sind, ist aus der Perspektive des umfassenden Lebensprozesses die sich in Zeit und Raum erstreckende Evolution der umfassenden Seins-Einheit. In der Folge identifiziert Simmel die Form der Form mit primärer Individualität: »Dennoch, die Individualität ist überall lebendig, und das Leben ist überall individuell.« (Ebd.: 227) Eine nähere Qualifizierung von Individualität ist mit dem metaphysischen Konzept nicht verbunden. Dies ist, sozusagen, erst sekundär Sache der Empirie. Wie das letztgenannte Zitat vor Augen führt, ist Simmel zufolge die Form der Individualität selbst Leben. Dies reichert die lebensphilosophische Hypothese an, wonach Leben in sich den die Seins-Einheit konstituierenden Vitaldualismus wiederholt: Leben ist und kann nur sein in der Form der Individualität, und als Leben ist Individualität zugleich aus sich heraus Form des Lebens. Bedeutsam ist das metaphysische Prinzip der Form, durch die sich jede Individualisierung des Lebens auszeichnet: »Form ist Grenze, Abhebung gegen das Benachbarte, Zusammengehaltenheit eines Umfanges durch ein reales oder ideelles Zentrum, auf das sich die ewig fortströmenden Inhalte oder Prozesse gleichsam zurückbiegen und das jenem Umfang einen Halt gegen die Auflösung in diesem Strom gewährt.« (Ebd.: 225) Ein Körper beispielsweise zeichnet einen irgendwie gearteten Umriss in die Welt, durch die er sich von seiner materiellen Umwelt unterscheidet. Die konkrete physiologische Beschreibung eines empirischen Körpers ist für Simmel allerdings nicht von Relevanz. Wichtiger ist Simmel, dass die Grenzziehung zum Außen durch das Lebewesen selbst geleistet wird und in diesem Akt der Grenzziehung Form gewinnt: »Das Geheimnis der Form liegt darin, daß sie Grenze ist; sie ist das Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind.« (Ebd.: 297)14 Das Leben als Form unterscheidet Simmel von dem sekundären PhänomenBereich des Nicht-Lebens. Zu Letzterem gehören beispielsweise Steine, Gläser, Sand oder Wasser – Phänomene also, die wir im Alltag als »Dinge« bezeichnen würden.

14 Zwar nicht von einem Geheimnis spricht Simmel in der »Philosophie des Geldes«, aber ganz ähnlich heißt es dort bereits: »Die rätselhafte Einheit der Seele« (PDG: 393).

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Die Kategorien, unter denen wir die wahrgenommene Realität packen, sind konstruktivistischer Natur. Unabhängig von der Sortierleistung unseres Verstandes, so Simmel, »müssten wir die Welt als ein Kontinuum vorstellen mit absoluter Wechselwirkung aller Elemente, deren rein naturgesetzliche Verkettungen und Abläufe von der Einteilung in einzelne ›Dinge‹ nichts wissen.« (Ebd.: 362) Erst der Geist schafft eine bestimmte Ordnung, in denen Dinge nach bestimmten Kategorien oder Begriffen sortiert werden. Welche Merkmale dies sein mögen, ist sekundär. Vorrangig geht es Simmel um die Einheit stiftende Funktion des Geistes: Mittels eines Begriffs schneiden wir aus dem ungeordneten Nebeneinander ein Ding heraus. Das Ding ist nun ein Element unter potenziell mehreren, ähnlichen Elementen, deren Verbindung durch die Kategorie zustande kommt. Elemente sind individuelle Elemente durch den Begriff. Simmel nennt diese Leistung des Geistes den »Erfolg einer ganz primären geistigen Funktion […], die wir mangels unmittelbarer Bezeichenbarkeit als Zusammenwirken von Unterscheiden und Verbinden benennen.« (Ebd.: 362) Besondere Bedeutung unter den geistigen Funktionen besitzen die apriorischen Formungsprinzipien, wie beispielsweise jene der Religiosität, des Ökonomischen oder des Sozialen. Zu diesen komme ich später. Bei Lebewesen verhält es sich nun grundsätzlich anders als bei unbelebten Dingen. So mag man einen Menschen zwar in eine bestimmte »Schublade« stecken. Er erschöpft sich aber nicht in ihr, und zwar a priori, weil er sich als Leben in keiner bestimmten Form erschöpft (vgl. ebd.: 364). Seine Einheit als individuelle, sich von innen nach außen hin abgrenzende Form schafft das Leben aus sich selbst heraus. Lebewesen, so Simmel, »haben vielmehr eine objektive, ihnen selbst immanente Einheit, durch ihre eigene Entelechie finden sie ihre formende Begrenzung; sie haben ein Zentrum in sich selbst, das sie der sozusagen gleichgültigen, alles in ein Kontinuum zusammenfassenden Strömung des Gesamtseins enthebt.« (Ebd.: 364; Hervorhebung PB) Eine nähere inhaltliche Qualifikation dieser aus sich seienden individuellen Form des Lebens lässt sich nach Simmel nicht geben, zumindest nicht a priori. Erst sekundär bildet sich eine empirische Individualität in Wechselwirkung mit den Inhalten sozialer und kultureller Formen, in denen es lebt. Umgekehrt sind diese Formen auf den schöpferischen Akt des individuellen Lebens zurückzuführen, welches die Form braucht, ohne aber in ihnen aufzugehen. Die aus der Sekundärliteratur geläufige Unterscheidung nach der Form des quantitativen wie der Form des qualitativen Individualismus reflektiert für Simmel die metaphysischen Lebensanschauungen von Individualität und Gesellschaft des 18. und des 19. Jahrhunderts – nicht des 20. Jahrhunderts (vgl. GS: 146). Hierbei beruft sich Simmel unter anderem auch auf Friedrich Schlegel, den oben genannten Begründer lebensphilosophischen Denkens (vgl. ebd.: 145, 147). Ihre Bildung zu einem Ideal der Individualitätswerdung steht jeweils in Wechselwirkung mit einer bestimmten Vergesellschaftungsform: die Konkurrenz mit dem quantitativen, die Arbeitsteilung mit dem qualitativen Individualismus (vgl. ebd.: 148). Explizit spricht Simmel von »Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts« im Titel des vierten Kapitels seiner »Grundfragen der Soziologie« von 1917 (ebd.: 122). Beide Ideale der Individualitätsbildung gehen nicht auf in dem lebensphilosophischen Verständnis einer ontologischen oder auch transzendentalen Individualität Simmels auf. Sein Individualitätsverständnis widerspricht dem quantitativen und qualitativen Individualismus nicht, sondern es steht als Einheit über bzw. unter beiden – so, wie Simmel Konkurrenz und Arbeitsteilung im Geld zur Einheit

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bringen wird (vgl. Kapitel 8.5.1 in diesem Buch). Es bildet ein Drittes.15 Bedeutsam ist auch, dass erst das ontologische Verständnis Simmels von Individualität als aus und in sich geschlossener Form jene Eigengesetzlichkeit impliziert, die Simmel zu seiner Metaethik des »individuellen Gesetzes« verarbeitet und deshalb zu unterscheiden ist sowohl von dem Ideal des quantitativen wie jenem des qualitativen Individualismus. Diese Unterscheidung ist in der Sekundärliteratur selten gezogen worden.16 Ich werde später auf diesen Aspekt zurückkommen und zeigen, dass es sich hierbei

15 Die Individualitätslogik Simmels von dem qualitativen und quantitativen Individualismus zu unterscheiden, darauf hat Klaus Christian Köhnke hingewiesen (vgl. Köhnke 1996: 51213). Dies hatte ich bereits in Kapitel 3 in diesem Buch thematisiert. 16 Regina Mahlmann, Heinz-Jürgen Dahme, Thomas Kron bzw. Thomas Kron und Martin Horáček sowie Heinz Abels tendieren zu einer mehr oder minder ausgeprägten Identifizierung von qualitativem Individualismus und »individuellem Gesetz« (vgl. Mahlmann 1983: 117; vgl. Dahme 1988: 243; vgl. Kron 2000; vgl. Kron/Horáček 2009; Abels 2017: 127139, 148). Heinz-Jürgen Dahme setzt qualitative Individualität mit dem »individuellen Gesetz« gleich. Ferner meint er, »Simmels individuelles Gesetz […] ist aus gesellschaftstheoretischer Perspektive Resignation und Rückzug auf ein ästhetisierendes Leben und sein Fluchtpunkt vor der von ihm in den Jahren zuvor diagnostizierten sozialen und kulturellen Entwicklung.« (Dahme 1988: 243). Von Rückzug und Resignation kann meines Erachtens – und wie ich vor allem in Kapitel 5.5 dieses Buches auszuarbeiten versuche – nicht die Rede sein. Simmel nimmt im Gegenteil das Individuum durch das Postulat einer ihm eigenen Gesetzeshaftigkeit in die vollständige Eigenverantwortung unter gleichzeitiger Verflechtung mit der Überindividualität der Welt aus Kultur und Gesellschaft. Kron/Horáček beziehen sich explizit auf jene in Kapitel 3 aufgegriffene Köhnke-Publikation von 1996, in welcher dieser auf die transzendentale Eigenheit der eigenlogischen Individualität als einem Drittem hinweist (vgl. Kron/Horáček 2009: 158, Fn. 8). Vgl. dafür erneut Köhnke 1996: 511. Kron/Horáček beziehen sich auf Köhnke 1996: 490-91. Sie schließen aus der Abweisung der Allgemeinheit – der Überindividualität – als meta-ethischer Begründungsquelle des Sich-Verhaltens auf die positive Anweisung hin zu einem qualitativen Individualismus. Dies negiert Simmel aber ausdrücklich. Auf diesen Punkt komme ich ebenfalls in Kapitel 5.5 in diesem Buch zu sprechen. Abels stellt zunächst den quantitativen und den qualitativen Individualismus Simmels vor (vgl. Abels 2017: 127-139). Wenn er schließlich von »dem dritten Konzept der Individualität« spricht, »das Simmel unter die Überschrift ›individuelles Gesetz‹ stellt«, scheint Abels doch eine dritte, die auch von mir bei Simmel behauptete Form von Individualität zu konstatieren. Dem ist aber nicht so. Abels leitet die Individualität des Sollens-Ideals aus der Einmaligkeit der Erfahrungsreihe ab, die jedes Individuum biographisch ansammelt (vgl. Abels 2017: 148). Um biographische Einzigartigkeit oder Einmaligkeit geht es Simmel aber nicht, auch wenn diese im Endeffekt gegeben sein mag. Simmel geht es um das Vitalprinzip der Individualitätsform, denn rein als Form ist dem Leben sein Gesetz gegeben. Auch dazu mehr in Kapitel 5.5 in diesem Buch. Flavia Kippeles Darstellung der Individualisierungstheorie bei Simmel dagegen erschöpft sich nicht in der typologischen Unterscheidung nach quantitativem und qualitativem Individualismus (vgl. Kippele 1998: 62-83). Sie zeichnet Individualisierung als Prozessverlauf bei Simmel nach, so dass sie beispielsweise auch den bei Simmel nachzuzeichnenden Übergang von Kollektiv- zu Individualverantwortlichkeit darunter subsumiert.

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um kein Spezifikum einer Spätphase der letzten Lebensjahre Simmels handelt, sondern um eine Entdeckung der »Philosophie des Geldes« – exakt zur Jahrhundertwende. Wichtig ist, im simmelschen Verständnis von Individualität auf eine der Selbstähnlichkeit in der Theorieanlage geschuldete Paradoxie hinzuweisen: (a) Individualität wird einmal als Entelechie begriffen, d. h. als etwas, welches aus sich heraus und für sich Einheit ist. In dieser Perspektive ist es Leben. (b) Dann aber ist Individualität Form der es übergreifenden, schöpferischen Einheit des Lebens, welche sich selbst nicht in der Form der Individualität erschöpfen kann und deshalb zu Überwindung und Neuschöpfung drängt – was sich prozessual in Zeugung und Tod, wie auch, auf geistiger Ebene, als Schöpfung und Reproduktion von Kultur manifestiert. Organisches und geistiges Leben erscheinen hier als abhängige Variable. Hier weist Simmels Philosophie des Lebens eine Nähe zum von Kozljanič beschriebenen »AllLeben« auf (vgl. Kozljanič 2004: 140-43).

4.4 ONTOLOGISCHE INDIVIDUALITÄT: DIE FORM INDIVIDUELLEN LEBENS Die bis hierhin vorgestellte dualistische Metaphysik der Konstitution von Individualität unterscheidet sich grundlegend von Simmels Annahme einer relativistischen Konstitution von Individualität, wie er sie noch in den 1890er Jahren vertreten hat. Eine Überwindung erfuhr diese relativistische Konzeption endgültig erst mit der »Philosophie des Geldes«: Mit Letzterer begründet Simmel an dem empirischen Fall der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft die Metaphysik der aus sich und in sich geschlossenen Form der Individualität. »Die rätselhafte Einheit der Seele« ist ein Resultat der Arbeit an der »Philosophie des Geldes« (PDG: 393). Eine Zwischenetappe führte über die »Moralwissenschaften«. Zum Nachvollzug des Wandels in den konstitutionstheoretischen Prämissen von Individualität lohnt sich ein Blick in die epistemologischen Ausführungen in der 1890 publizierten »Socialen Differenzierung«. Die Erkenntnistheorie bildet ein eigenes Kapitel (»Zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaft«), was sie für die vorliegenden Zwecke nützlich macht. Intention Simmels ist darin die Begründung eines eigenen Gegenstandsbereiches soziologischer Erkenntnis – und damit der Möglichkeit von Soziologie selbst. In der Argumentation verfährt Simmel so, dass er sich mit dem kritischen Einwand auseinandersetzt, Gesellschaft sei bloß eine Summe seiner Einzelteile, der Individuen, die »die eigentlichen Realitäten« seien (ÜSD: 126). Wären die Individuen die eigentlichen »realen Wesen«, dann müsste man auch lediglich deren Verhalten studieren, mit der Konsequenz, dass »der Begriff der Gesellschaft [sich] verflüchtigt« (ebd.: 126). Und Simmel weiter: »Und wirklich scheint es sich so zu verhalten.« (Ebd.: 126) Die Antwort auf die (antizipierte) Kritik lag damals nicht in Simmels Theorie universaler Wechselwirkung. Zwar stellt er zum ersten Mal die Hypothese auf, dass »Wechselwirkung die Gesellschaft konstituiert« (ebd.: 131). Ebenso postuliert er bereits »als regulatives Weltprinzip«, dass »Alles mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht« (ebd.: 130). Dann aber stellt sich gerade die Fra-

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ge, wie man dazu kommt, aus dem »Alles mit Allem« einen eigenen, isolierten Gegenstandsbereich herauszupräparieren. Simmel wählte damals den Weg, die Kritik an der Möglichkeit eines eigenen Gegenstandsbereiches von Soziologie – Gesellschaft – aufzunehmen und zu generalisieren. Auch »der einzelne Mensch«, so Simmel, sei »nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Realitäten rechnendes Erkennen fordert.« (Ebd.: 127). Für einen Physiologen beispielsweise, so Simmel, seien die den Körper bildenden Zellen aus praktischen Gründen die letzte Einheit. Aber auch die Zellen seien »eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer Urbestandteile« (ebd.: 128). Und dann kommt der entscheidende Satz: »Wenn man den Individualismus wirklich konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele konkret zu denken habe, weiß kein Mensch.« (Ebd.: 128; Hervorhebung im Original)

Individualität konstituiert sich damit relativ zur Auswahl einer bestimmten Beobachterperspektive. Dies gilt, auch wenn sich die Auswahl eines bestimmten Letztelementes, beispielsweise von sozialen Wechselwirkungen, empirisch zu rechtfertigen habe: Element ist, was sich mit Regelmäßigkeit als vergleichsweise einheitliche Wirkkraft herauskristallisiert (vgl. ebd.: 131). Wie Hannes Böhringer 1976 in einem Symposiums-Vortrag zu den »Spuren von spekulativem Atomismus in Simmels formaler Soziologie« referierte, war Simmels Ontologie geprägt von einer Annahme über die kleinsten Elementarteilchen, den »spekulativen Atomismus« des Physikers und Philosophen Gustav Theodor Fechner. Dieser habe sich ausgezeichnet durch das Denkpostulat »einfacher, eigenschaftsloser Atome […], die unendlich klein sind: mathematische Punkte, auf deren formale Beziehungen sich alle Erscheinungen von Kraft und Materie zurückführen lassen.« (Böhringer 1976: 105-06) Die gedankliche Rückführung materieller Erscheinungen auf immaterielle Kraftpunkte lassen sich bis in Simmels Dissertation von 1881 zurückverfolgen, in der er sich mit Kants Materiebegriff auseinandersetzt. Simmel sah Kant intellektuell in einer Übergangsphase hin zu einer Philosophie, wonach alle wahrnehmbare Bewegung nicht der Materie, sondern der Welt des sich der Beobachtung entziehenden »Dinges an sich« zukomme (vgl. WMKM: 35-39). Zwar zieht sich das atomistische Vokabular über die »Philosophie des Geldes« bis in die 1917 erscheinenden »Grundfragen der Soziologie«. In der »Philosophie des Geldes« greift Simmel die Idee »eines und desselben Grundstoffes« auf, dessen nur quantitativ sich unterscheidenden »Schwingungen«, »Oszillationen« oder »Schwebungen« die von uns schließlich wahrnehmbaren qualitativen Eigenschaften erst hervorbringen würden (PDG: 366-67). Beispielhaft dafür greift Simmel auf das Hören unterschiedlicher Töne und das Sehen unterschiedlicher Farben zurück (vgl. ebd.: 366-67). Und in den »Grundfragen der Soziologie« begegnen wir einer ähnlich wie in der »Socialen Differenzierung« geführten Diskussion um die Rückführbarkeit beobachtbarer Phänomene auf eine unfassbare, nur der Spekulation zugänglichen Realität (vgl. GS: 63-68). Die Kontinuität von Semantiken oder bestimmter inhaltsbezogener Überlegungen steht bei Simmel aber unabhängig von der Änderung des theoretischen Vorzeichens,

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die auch erstere einem Bedeutungswandel unterziehen. Und diesen Vorzeichenwechsel finden wir in der »Philosophie des Geldes«. Was Simmel nun nämlich macht, ist, zwischen einem wie auch immer beschaffenen, nicht näher bestimmbaren Nebeneinander der Dinge einerseits und deren Umformung zu einer wechselseitig aufeinander bezogenen Einheit zu unterscheiden. Zehn Jahre17 vor Erscheinen der »Hauptprobleme der Philosophie« lesen wir: »Denn das Wesen des Geistes ist, der Vielheit die Form der Einheit zu gewähren. In der sinnlichen Wirklichkeit ist alles nebeneinander, im Geist allein gibt es ein Ineinander. Vermittels des Begriffes gehen dessen Merkmale, vermittels des Urteils gehen Subjekt und Prädikat in eine Einheit ein, zu der es in der Unmittelbarkeit des Anschaulichen gar keine Analogie gibt. Der Organismus, als Brücke von der Materie zum Geist, ist freilich ein Ansatz dazu, die Wechselwirkung schlingt seine Elemente ineinander, er ist ein fortwährendes Streben nach einer ihm unerreichbaren vollkommenen Einheit. Erst im Geiste wird die Wechselwirkung der Elemente ein wirkliches Sichdurchdringen.« (PDG: 246)

Die Passage ist in ihrer Aussage, dass Einheit die Funktion des Geistes bzw. des Organismus ist, identisch mit der bereits weiter oben in Kapitel 4.3 in diesem Buch rezipierten Textstelle aus der »Lebensanschauung« (vgl. LA: 362). Von Bedeutung ist hier, dass Simmel vom »Wesen« spricht, und nicht von einer akzidentellen, auf andere Elemente rückführbaren Eigenschaft des Geistes, wie eben jenen spekulativen Atomen. Die noch in der »Socialen Differenzierung« verworfene – oder zumindest mit äußerster Skepsis bedachte – Hypothese einer aus und für sich seienden geistigen Einheit taucht in der »Philosophie des Geldes« wieder auf.18 Simmels ontologische Wende ist meines Erachtens nicht als Verwerfung, sondern als Weiter- oder Höherentwicklung früherer Positionen zu verstehen. Die Spuren kleinster, schwingender Teilchen bleiben bis in die Lebensphilosophie enthalten. Davon zeugt exemplarisch Simmels Rückgriff auf das Klangbild von Rhythmen zur Deskription des Lebensprozesses (»Färbung oder Rhythmus«, ebd.: 237; »Rhythmus des wollenden Lebens«, ebd.: 365). In der Form der Individualität wiederholt das Leben das Pulsieren und die Schwingungen der letzten Teilchen. Die Individualität schreibt sich sozusagen in das energetische Nebeneinander ein, »um es in ihr Leben zu verwandeln« (ebd.: 229). Es geht Simmel nicht um die Leugnung von Abhängigkeitsverhältnissen von der Außenwelt. Indem die Individualität der Form aber Schöpfung des Lebens ist, wird auch die Formung der Abhängigkeitsverhältnisse in die lebendige Individualität hinein verlegt. Wie das letztgenannte Zitat oben zeigt, hierarchisiert Simmel geistiges und organisches Leben. Die Einheit der Form, die der Organismus produziert, ist geringeren Grades als die des Bewusstseins. Dieser Punkt ist neben der Geldphilosophie auch

17 Die Aussage blieb zwischen der 1900er und der 1907er Ausgabe unverändert. Vgl. dazu PDG: 756. 18 Auch später im Buch erwähnt Simmel die »rätselhafte Einheit der Seele« (PDG: 393). Bereits zwei Jahre zuvor – in der Hochphase seiner Arbeit an der »Philosophie des Geldes« – zeigt Simmel keinerlei Berührungsprobleme mit der »geheimnißvollen Wirklichkeit […] unseres wahrsten, wirklichen Seins« und dem »Leben der Seele« (SG: 287).

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Gegenstand von Simmels religions- und lebensphilosophischen Überlegungen (vgl. PRP: 312-314; PG: 292-297; LA: 219, 364). Simmel begründet die Differenz im Bezug auf das Geschlossenheitsmaß. Form ist Einheit, weil sie Grenze zieht (»irgendeine Art von geschlossenem Umfang […], innerhalb dessen sie [die Individualität; Anmerkung PB] ein Selbständiges und Einheitliches ist.« GOE: 151). Der Organismus ist Einheit durch die funktionale Differenzierung seiner Organe. Die Organe weisen sich »Form und Funktion« wechselseitig zu in ihrem Beitrag zur Selbsterhaltung des Organismus (PG: 293). Ein Felsen oder ein Metallstück, so Simmels Beispiele, sind einheitliche Stücke durch unsere Begriffsbildung, aber nicht für sich. Deshalb könnten wir sie zerkleinern, und wir hätten im Grunde das gleiche Ergebnis im kleineren Maßstab: jeweils einheitliche Stücke bestimmter Materie, die sich von uns unter einen Begriff einordnen lassen (vgl. ebd.: 293). Gleiches sei aber nicht der Fall bei Lebewesen. Dividiere man einen Menschen in seine einzelnen Organe, so Simmel, seien diese nicht mehr im gleichen Sinne Einheit, wie sie es in der Form organismischer Wechselwirkung gewesen sind (vgl. ebd.: 293). Die Ebene des Geistes unterscheidet sich von der physischen Ebene dadurch, dass die Ursachen nicht spurlos in ihrer Wirkung aufgehen. Auf der physischen Ebene können wir aus einer Wirkung bzw. einem Phänomen nicht mehr auf eine bestimmte, sondern auf mehrere mögliche Ursachen schließen (vgl. ebd.: 293). In der »Erbmasse« des individuellen Organismus werde die Spurlosigkeit des Physischen bereits durchbrochen (LA: 219). Im Geist aber, so Simmel, komme zur zeitlichen Linearität von Kausalität die Immer-Gegenwärtigkeit des Bewusstseinsprozesses. Qua Gedächtnisfunktion wirken Erinnerungen auch gegenwärtig auf unser Handeln, umgekehrt beeinflussen gegenwärtige Erlebnisse den Zugriff auf die Erinnerung an vergangene Ereignisse (vgl. PG: 294-95; LA: 219-222; vgl. zur Wechselwirkung zwischen der Erkenntnis der Gegenwart durch Verständnis der Vergangenheit und Erkennen der Vergangenheit durch Verständnis der Gegenwart PDG: 109-110). Die Eigenheit geistigen Seins rührt also aus dem höheren Grad an Unabhängigkeit, mit der geistige Ereignisse ausschließlich geistige Ereignisse bedingen. »Wir wären also formal vollkommene Persönlichkeiten, wenn diese Wechselwirkung eine vollkommen geschlossene wäre und jedes seelische Geschehen eine vollkommen geschlossene wäre und jedes seelische Geschehen seine Veranlassung ausschließlich in eben diesem Umkreis hätte. Allein das ist nicht der Fall. Wir sind auch mit unserer Psyche, wie mit unsrem Körper, in die uns äußere Welt verwebt; es finden Wirkungen in ihr statt, die nicht aus ihr allein zu erklären sind, und es scheint auch, als ob gewisse ihrer inneren Vorgänge nach außen verliefen und sich nicht mit ihrer ganzen Wirkungsmöglichkeit in den psychischen Verlauf weitererstrecken.« (PG: 296; Hervorhebung im Original)

Stattdessen, so Simmel, stünden sowohl Körper als auch Geist »in fortwährenden Austauschverhältnissen mit [ihrem] Milieu« (ebd.: 293; selbiges auch in PRP: 313). Als ein weiteres Merkmal kommt gemäß Simmel hinzu, dass die Formgrenze des Körpers weniger undurchlässig ist als die des Geistes. Körperliche Grenzen kann man verletzen, geistige dagegen nicht – oder zumindest in einem eingeschränkteren

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Sinne.19 Die Perspektive des Ich-Erlebens weist nach Simmel eine durch keine Sprache oder andere Institutionen überwindbare »Brückenlosigkeit« auf, die man »mit niemandem teilen und niemandem mitteilen kann, die qualitative Einsamkeit des persönlichen Lebens« (LA: 415). Eine vollständige Geschlossenheit der Wechselwirkung zwischen Elementen, so Simmel weiter, weise nur die Gesamtheit des Seins auf, dessen Elemente wir zugleich sind (vgl. PRP: 314). In diesem Verhältnis zwischen der umfassenden, in sich geschlossenen Seins-Einheit und der Individualität der in sich geschlossenen Form liegt die Essenz des Vitaldualismus zwischen Leben und Form: Der Mensch erlebt, dass er Teil eines ihn übergreifenden Ganzen ist, zugleich aber, in der Form individuellen Lebens, treten wir diesem Ganzen als etwas Selbständiges gegenüber – wie auch immer in einem sekundären Schritt Selbständigkeit konkret definiert werden würde (vgl. ebd.: 318). Die Paradoxie dahinter ist die, dass letzten Endes Einheit eine Funktion des Lebens ist – und nicht einer Welt des Nebeneinanders der »Dinge an sich« –, sich aber, als Form, aus dem (stets individuellen) Leben verselbständigt und es umfasst.20 Das Universum wird so gedacht als unabhängig vom individuellen Leben existierende, allumfassende Form, die nun umgekehrt dieses individuelle Leben erst ermöglicht und von sich abhängig macht (es ist Mehr-als-Leben). Sei dies sehr konkret über ein die Mittel zur Befriedigung von Hunger und Durst bereitstellendes ökologisches Milieu, sei dies in sehr allgemeiner Form der Naturgesetze. Einen physikalischen Determinismus gegeben, sind wir vollständig unfrei und nur Teil eines Ganzen – und doch, qua konstitutivem Akt der sich dem umfassenden Sein gegenüberstellenden Individualität der Lebensform als in sich geschlossene Form, sind wir frei.21 Simmel formuliert damit die philosophische Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit lebensphilosophisch um: Freiheit und die Notwendigkeit des Gesetzes schließen sich aus und bedingen einander zugleich. Der Dualismus von Freiheit und Notwendigkeit liegt auch Simmels religionsphilosophischem Verständnis der Wechselwirkungsform zwischen Gott und dem religiösen Individuum zugrunde (vgl. DR: 88-89): Wir denken Gott als die uns umfassende Form der Seins-Einheit (Mehr-als-Leben). In dieser Perspektive läuft das irdische Geschehen nach göttlichen Gesetzen ab. Andererseits aber tritt Gott einer eigenstän-

19 Nicht gemeint sind psychologische Verletzungen wie Traumata, Ehrverletzungen etc. Diese Verletzungen rühren nicht an der fehlenden Möglichkeit, in die Einheitlichkeit des Erlebnisstroms direkt durchzugreifen in dem Sinne der Steuerung wie beispielsweise in der Telepathie. 20 Gleiches findet sich bereits in der »Philosophie des Geldes« im dritten Unterkapitel von »Wert und Geld« – einem Unterkapitel, in dem Simmel seine Weltformel des absoluten Relativismus darlegt. Die Welt, so Simmel, könne einmal als unsere Vorstellung bezeichnet werden. Dann könne aber gleichberechtigt aus einer historisierenden Perspektive nach dem geschichtlichen Ablauf gefragt werden, in der die Evolution so weit fortgeschritten ist, eben solche geistfähigen Wesen hervorzubringen. Beide Perspektiven stehen für Simmel in einem irreduziblen Wechselwirkungsverhältnis zueinander (vgl. PDG: 110-111). 21 Unabhängig von jeder weiteren empirischen Bestimmung der Komplexität gesellschaftlicher und kultureller Lebensformen liegt in diesem dualistischen Verhältnis des Individuums zur Seins-Einheit der Grund für die Wahrnehmung des individuellen Seins als fragmentarisch oder ausschnitthaft (vgl PRP: 314)

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digen Individualität gegenüber: Gott befiehlt, aber das religiöse Individuum begehrt auch die Vereinigung mit Gott, der es sich über das Heilsstreben annähert (MehrLeben) (vgl. ebd.: 98-99, 110-111; mehr dazu in Kapitel 7.2.5 in diesem Buch). Nuanciert, aber in der Schärfe relativiert schreibt Simmel anstatt von Freiheit und Notwendigkeit auch von Freiheit und Bindung (vgl. ebd.: 89). Aus lebensphilosophischer Sicht geht individuelle Freiheit mit der Bindung an die Form einher. Gott oder das Universum ist selbstgenügsam – Leben nicht. Es produziert die Ungenügsamkeit an sich selbst aus sich heraus. Es ist der Erwähnung wert, dass das philosophische Determinismusproblem bereits sehr früh Gegenstand von Überlegungen Simmels in den beiden Bänden seiner 1982 und 1893 erschienen »Moralwissenschaft« gewesen ist, die in quantitativer Ausführlichkeit und Detail die spätere, aber abstraktere Lebensphilosophie deutlich übertreffen.22 Es ist nun das Eine, die Existenz einer Gleichzeitigkeit zwischen dem In-Sich-Geschlossen-Sein der Individualität einerseits und der Bindung an die Gesetzesform andererseits zu behaupten. Das andere ist deren Erweis an einem empirischen Gegenstand. Dies tat Simmel mit der »Philosophie des Geldes«. Im Folgenden gehe ich auf zwei in der »Moralwissenschaft« enthaltene Überlegungen Simmels zum Freiheitsbegriff ein. Anschließend zeige ich, dass und wie Simmel mit der »Philosophie des Geldes« am empirischen Gegenstand, dem Geld, sein finales Verständnis von Individualität gewann.

4.5 INDIVIDUELLE FREIHEIT UND BINDUNG AN DIE FORM Einmal, so Simmel im ersten Band der »Moralwissenschaft«, beruhe Freiheit auf der Idee, »dass neben dem Wirklichen noch ein Mögliches denkbar ist.« (EM I: 277) Freiheit erschöpfe sich aber nicht im gedanklich simulierten Abweichen vom tatsächlichen Verlauf, denn selbiges ließe sich auch auf die Natur übertragen, ohne dass wir diese als frei denken. »Freiheit« muss dann darüber hinausgehend als »Freiheit von etwas« gedacht werden, d. h. relational (ebd.: 279; Hervorhebung PB). Damit meint Simmel, dass – unabhängig von der moralischen Bewertung des Ergebnisses – sich ein bestimmter innerlicher Antrieb gegen einen anderen durchsetze, und in diesem Widerstreit antagonistischer Willensbestrebungen konstituiere sich die individuelle Freiheit. Freiheit in dem bezeichneten antagonistischen Sinne sei »Selbstüberwindung«, so Simmel (ebd.: 280). Freiheit bestehe dagegen nicht in der Annahme eines zwischen beiden Antrieben entscheidenden Homunculus innerhalb der menschlichen Psyche, was das Freiheitsproblem ja nur verschieben, aber nicht auflösen würde. Bemerkenswerterweise bezeichnet Simmel die Prozesskonzeption von Freiheit als »Gesetzmässigkeit des seelischen Geschehens« (ebd.: 278). Gesetzhaftigkeit oder einen wie auch immer gearteten Determinismus meinte Simmel in eine Theorie individueller Freiheit integrieren zu müssen: Einmal ein Sein in die Welt gesetzt, mag von dann an alles deterministisch ablaufen (vgl. EM II: 137-38). Individuelle Freiheit kann nach Simmel deshalb nicht an einen bestimmten Akt oder einen bestimmten In-

22 Vgl. zum Determinismusproblem bei Simmel auch die Aufsätze von Karlsruhen 1995 und 1996.

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halt gebunden sein. Innerlicher Widerstreit ließe sich ebenso auf ein postuliertes Gesetz individuellen Handelns hin beziehen. Freiheit, so Simmels weitere Argumentation, könne dann nicht auf der Ebene konkreter Inhalte, sondern auf der Ebene der Form gefunden werden. Simmel zieht bereits in der »Moralwissenschaft« die analytische Konsequenz, dass nur ein »in sich abgeschlossenes Ganzes« die Form individueller Freiheit zu erfüllen vermag (ebd.: 139). Das partikulare Handeln und Erleben23 mag gesetzlich vorbestimmt sein, zugleich frei ist es dann und genau dann, wenn das Individuum die Form eines in sich geschlossenen Mikro-Kosmos besitzt. In der Geschlossenheit – der Form – liegt die Freiheit. Ganzheitlichkeit impliziert die Eigengesetzlichkeit, entlang derer Handlungen ablaufen. Im Hinblick auf äußere, empirische Verhältnisse verhält es sich dann so, dass Simmel dann von freien Handlungen sprechen möchte, wenn die identifizierte Handlung als ein Teil der individuellen Seins-Ganzheit zugeschrieben werden kann (vgl. ebd.: 136). Das Individuum macht über die ihm zugeschriebene Handlung einen Unterschied, was beispielsweise nach Simmel dann nicht der Fall ist, wenn es bloßer »Durchgangspunkt« für »physische Ereignisse« ist (ebd.: 144); oder aber, wenn in kultur-evolutionär vorgelagerten stammesgesellschaftlichen Verhältnissen noch eine Kollektivverantwortlichkeit herrscht, der zufolge nicht die Individualität, sondern das Kollektiv für eine bestimmte zu sanktionierende Handlung in Haftung genommen wird (vgl. ÜSD: 139-40). Letzteres zeigt anhand des von Simmel selbst ausgewählten Materials, dass die Empirie ganz offensichtlich den metaphysischen Überlegungen widerspricht. In welcher Ausprägung auch immer ist die in Anspruch genommene Seins-Ganzheitlichkeit des Individuums selbst doch irgendwie Teil eines es umfassenden Ganzen. Zu dessen Feststellung bedarf es nicht erst des weit ausholenden Ausgriffs in die Gesetze Gottes oder des Universums, sondern des Verweises auf soziale Interdependenzen, innerhalb deren sich das Individuum bewegt: »Ist also das Ich in der Welt beschlossen, so ist es auch als Ganzes nicht frei, wohl aber, wenn die Welt im Ich beschlossen ist.« (EM II: 139; Hervorhebung PB) Für beide Seiten beruft sich Simmel auf Philosophen: den Empirismus David Humes für den Determinismus, Kant und Fichte für die Freiheit des Idealismus. 24 Nach Kant besitzt der Mensch eine

23 Für die Unterscheidung »Handeln und Erleben« bei Simmel vgl. 1988a: 296-97; Nedelmann 1999: 135. Ähnlich hat auch Niklas Luhmann Konstellationen sozialer Systeme nach Handeln und Erleben unterschieden und die vier möglichen Konstellationskombinationen kreuztabelliert. Vgl. Luhmann 1981; 1997: 336. 24 Zum Zusammenhang von Freiheit und kausaler Notwendigkeit bei David Hume vgl. seinen »Traktat über die menschliche Natur«. Das Urteil, jedes Sein bedürfe notwendigerweise einer Ursache – die Bezeichnung von etwas als »Wirkung« rührt bereits aus der vorausgesetzten Relation von Ursache und Wirkung als einheitlichem Nexus –, ist nach Hume selbst auf Erfahrung zurückzuführen, jedoch nichts, was a priori in unserem Bewusstsein liegt (vgl. Hume 2004a: 94-97). Kausalität als ein Erfahrungsurteil zu beschreiben unterschied Hume von Kant, dem zufolge Kausalität ein synthetisches Urteil a priori ist. Über die Beeinflussung Simmels durch Hume ist mir nichts weiter bekannt. Simmel erwähnt Hume meines Wissens nach in der »Philosophie des Geldes« einmal, und zwar im zweiten Unterkapitel der »individuellen Freiheit« in der philosophischen Herleitung eines an Kant anknüpfenden transzendentalen Eigentumsbegriffs (vgl. PDG: 406-07). Eine weitere mögli-

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Doppelnatur, wonach er zwar einerseits den Gesetzen der Natur unterworfen sei, andererseits aber »die Idee der Freiheit« den Menschen »zu einem Gliede der »intelligibelen Welt« zugehörig mache, in der »alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden«(Kant: 1999: 84; Hervorhebung im Original). Zumindest denkbar und nicht widersprüchlich, so Kant in der »Kritik der reinen Vernunft«, sei eine Form transzendentaler, jenseits der naturgesetzlich verlaufenden Erscheinungen liegende Freiheit (vgl. ebd.: 548-555). Simmel schloss kritisch an Kants Philosophie an, generalisierte sie aber. In wechselnden Varianten wird Simmel fortlaufend von einem Dualismus zwischen individuellem Leben und Form sprechen, seien es Formen gesellschaftlicher oder kultureller Natur. Jeweils geht es aber darum, dass sich zwei Seiten gegenüberstehen, die gegeneinander Eigengesetzlichkeit beanspruchen, aus deren jeweiligen Perspektive das jeweils andere bloßes Element innerhalb der Form ist oder auch: zu sein hat, aber keine Eigenständigkeit aufweist. Freiheit ist dann keine Substanz mehr, sondern Prozess, und Freiheit etwas, was es zu erkämpfen, zu gewinnen wie zu verlieren gibt. Auf der metaphysischen Ebene blieb individuelle Freiheit freilich ein philosophisches Postulat, das mit der Empirie im Widerspruch stand, und Simmel machte auch nicht den Anstand, die Metaphysik vor der Empirie zu verschließen. Exemplarisch dafür steht Simmels »Skizze einer Willenstheorie« von 1896, der die Prämisse von dem im 19. Jahrhundert formulierten Satz der Energieerhaltung zugrundeliegt: Bei gegebener Energiekonstanz eines physisch geschlossenen Systems ist eine eigenständige Dimension der Einflussnahme durch ein psychisches System ausgeschlossen (vgl. SW: 131 und 144).25 Der werkgeschichtliche weitere Gang von Simmels Argumentation geht dann so, überhaupt nicht den metaphysischen Widerspruch von Freiheit und Bindung auflösen zu wollen, sondern darüber hinaus – und ersteres nicht negierend – Freiheit und Bindung als empirisches Wechselwirkungs- und Steigerungsverhältnis zu beobachten: Bindung macht Freiheit erst möglich – aber: bestimmte Formen von Bindungen erlauben bestimmte Formen und Ausmaße der Freiheit. Mit der in der »Philosophie des Geldes« entdeckten Geldform meinte Simmel, die empirische Realisierung des metaphysischen Widerspruchs- wie Steigerungsverhältnisses zwischen individueller Freiheit und Bindung einlösen zu können: Das Geld bringt zumindest annähernd – wenn auch nie absolut – ein in sich geschlossenes Individuum bei gleichzeitig umfassenden Abhängigkeiten zustande. Wie die gleichzeitige Steigerung von individueller Freiheit und Abhängigkeit möglich ist, war auch die Leitfrage von Emile Durkheims Studie zur sozialen Arbeitsteilung (vgl. Durkheim 1988: 82). Anders als für Simmel spielte das Geld in der Antwortfindung Durkheims jedoch keine tragende Rolle. Darauf machte Niklas Luhmann aufmerksam (vgl. Luhmann 1988b: 35). Diesen Punkt werde ich im Schlusskapitel 9 dieses Buches erneut aufgreifen.

che Nähe zu Hume könnte in Simmels Handlungstheorie liegen, wonach nicht die Einsicht in die objektive Beschaffenheit von Dingen eine Handlung motivieren, sondern aus »dem Charakter, der Stimmung, dem Interesse« folgen (ebd.: 294; vgl. dazu bei Hume 2004a: 417-21). 25 Das philosophische Problem besteht bis heute. Im deutschsprachigen Raum ist es auch bekannt unter der Bezeichnung »Bieri-Trilemma«.

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Parallel zur Konzeption der Geldförmigkeit des Dualismus von Freiheit und Bindung setzte sich Simmel ab und mit dem Erscheinen der »Philosophie des Geldes« mit zwei anderen Formen des Individualismus auseinander: dem quantitativen und qualitativen Individualismus. Dies geschah vor dem Hintergrund zweier miteinander zusammenhängender Intentionen: Erstens, deren beider Synthese im Fluchtpunkt Geld zu konstruieren und dadurch, zweitens, zu einer eigenen, beide zuvor genannten Formen des Individualismus einschließenden Lebensform eigengesetzlicher Individualität zu gelangen. Ihnen allen gemeinsam ist ihr Rückbezug auf das zugleich philosophische wie praktische Problem menschlicher Freiheit. Der Sache nach führte Simmel den quantitativen und qualitativen Individualismus bereits in der »Philosophie des Geldes« ein (vgl. PDG: 492-493), eine eigens ihnen gewidmete Ausarbeitung erhielten beide im 1901 erschienen Aufsatz »Die beiden Formen des Individualismus«. Eine quantitative wie qualitative Ausdehnung erfuhr die Thematik im Kapitel »Individuum und Gesellschaft in Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts« in der Monographie »Grundfragen der Soziologie«. Der Rückgriff auf die Semantik der »Lebensanschauung« ist meines Erachtens kein Zufall, greift doch Simmel bereits 1901 auf die Semantik von »Lebensauffassungen« (BFI: 53) bzw. »Lebensauffassung« (ebd.: 54) zurück zur allgemein-philosophischen Kategorisierung seiner Beobachtung von Individualitätsformen. Umgekehrt ist das genannte Kapitel aus den »Grundfragen« von Simmel im Inhaltsverzeichnis deklariert als ein »Beispiel der Philosophischen Soziologie« (GS: 61, 122). In diesem Sinne begreift Simmel den quantitativen und den qualitativen Individualismus vorrangig nicht als wahre oder falsche Hypothesen über die Welt, sondern als Philosophien, in denen sich jeweils der metaphysische »Ausdruck einer bestimmten historischen Lage« objektiviert habe (BFI: 49). Obgleich Lebensanschauungen, entstehen sie nicht im sozialen Vakuum, sondern in Wechselwirkung mit bestimmten gesellschaftlichen Formationen. Dabei ist zu beachten, dass Simmel die philosophischen Formen des Individualismus als Formen mit zwei Seiten begreift: Einmal danach, was ein Individuum ist und einmal danach, was es sein soll. So postuliere der quantitative Individualismus Freiheit und Gleichheit zwischen den Menschen, der qualitative Individualismus postuliere dagegen Freiheit und Ungleichheit.26 Ausgangspunkt von Simmels Überlegungen zum Individualismus ist die europäische Ständegesellschaft des 18. Jahrhunderts einerseits und deren Überwindung durch historische Ereignisse bzw. transformativ wirkende Prozesse wie die Französische Revolution, die Aufhebung feudalherrschaftlicher Verhältnisse sowie die Auflösung der Zunftbindungen. Diese können allesamt unter der Perspektive eines umgreifenden kulturellen Wandels gelesen werden, der unter dem Motiv der Liberalisierung firmiert. Simmel rahmt das historische Geschehen bereits 1901 explizit lebensphilosophisch als eine Überwindung einer sklerotisch gewordenen Kulturform durch die sich nicht mehr in der historisch überkommenden Form erschöpfenden Kräfte des Lebens:

26 Vgl. dazu Junge 1997: 17-19. »Beide Formen als Individualismus sind ideologische und kulturelle Hintergründe, in denen sich die Individualitätserfahrung des modernen Menschen artikulieren muß.« (Junge 1997: 19; Hervorhebung PB)

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»Denn es war eine Zeit, in der die individuellen Kräfte im unerträglichsten Gegensatz gegen ihre sozialen und historischen Bindungen und Formungen empfunden wurden. Als überständig und verrottet, als Sklavenfesseln, unter denen man nicht mehr atmen konnte, erschienen die Vorrechte der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel; die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassungen wie der unduldsame Zwang des Kirchentums; die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der Stadtverfassungen.« (Ebd.: 50; vgl. auch SOZ: 812)

Aus dieser und gegen diese Form ausgerichtet entstand Simmel zufolge die Vorstellung und Forderung freier wie gleicher Menschen. Ideengeschichtliche Wegbereiter sah Simmel beispielhaft in den Aufklärungsphilosophen Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant. Dem Ideal des quantitativen Individualismus zufolge sind die Unterschiede zwischen den Menschen oberflächlicher Natur und das Resultat der ständegesellschaftlichen Institutionen. Diese verdeckten das natürliche Sein der Menschen, weil sie den Menschen a priori bestimmten gesellschaftlichen Positionen zuwiesen (vgl. GS: 128, 136). Würden diese Institutionen beseitigt, würde sich der allen Menschen gleiche Wesenskern ausleben. In diesem Sinne interpretierte Simmel die Forderung Rousseaus, zur Natur zurückzukehren (vgl. ebd.: 135). Kant formulierte das ethische Prinzip des kategorischen Imperativs, wonach jenes Handeln ethische Eignung aufwies, dessen zugrundeliegende Maxime verallgemeinerbar war. Die Bedeutung der Handlung konstituiert sich aus einer überindividuellen Allgemeinheit, nicht aus der Individualität – beruhend auf der Voraussetzung, dass in ihrer transzendentalen, also der objektivierten Phänomenologie sozialen Lebens zugrundeliegenden Individualität die Menschen gleich seien. Die Gleichheit vor dem ethischen Gesetz war für Kant identisch mit Freiheit, da gerade im Akt der Selbstgesetzgebung, d. h. im Handeln gemäß den allen gemeinsamen ethischen Prinzipien praktischer Vernunft die individuelle ethische Autonomie lag. Und genau deshalb konnte Freiheit auch gleichzeitig zur Aufforderung an die in den ständischen Fesseln liegenden Menschen werden, den »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« zu gehen, jenem »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« (Kant 1784: 481). Kant nahm also die Unmündigen selbst in die Pflicht: Zu realisieren galt es, was der Mensch doch eigentlich ist. Simmel meint, das Ideal von Freiheit und Gleichheit habe unter einem auf die historische Form seiner Genese zurückführbaren blinden Fleck gelitten: Würden Menschen nämlich einmal in Freiheit entlassen, so Simmel, würde es zu erneuten Ungleichheiten kommen (vgl. SOZ: 811-12). Dies zeige sich schon in der Wirkkraft des liberalistischen Ideals der Ökonomie, wonach das freie Handeln aus Eigeninteresse eine Harmonie zwischen den Menschen und einen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt hervorbringe (vgl. BFI: 51-52). Denn die dem Sinn von Freiheit und Gleichheit adäquate Sozialform, so Simmel weiter, sei die Ausdifferenzierung der auf freier, individueller Bindungswahl beruhenden Konkurrenz (vgl. GS: 128, 148) – das »laissez aller«, die »volle ungehinderte Entfaltung« des »Kernes« von Individualität (IMZ: 253). Konkurrenz forciere die arbeitsteilige Differenzierung und treibe so die wachsende Interdependenz zwischen den Gesellschaftsmitgliedern voran. Ähnlich wie die Form der Konkurrenz ideengeschichtlich vorbereitet wurde durch die Ideen von Freiheit und Gleichheit, so ist die Arbeitsteilung nach Simmel flankiert gewesen durch ein sie vorantreibendes Ideal freier, aber ungleicher Individuen, die sich ihrem äußerlich wahrnehmbaren Handeln nach wech-

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selseitig voneinander unterscheiden wollen, was sie innerlich bereits tun (vgl. SOZ: 812; GOE: 152). Als ideengeschichtliche Wegbereiter des qualitativen Individualismus nennt Simmel Friedrich Schlegel sowie Friedrich Schleiermacher (vgl. GS: 14447). Schlegel – nach Kozljanič Begründer lebensphilosophischen Denkens (vgl. Kapitel 4.2 in diesem Buch) – sei nach Simmel gerade die »Antithese« zum egalitären Individualismus gewesen (ebd.: 145). »Individualität«, so Simmel Schlegel zitierend, sei »das Ursprüngliche und Ewige im Menschen« (ebd.: 145). Nach Schleiermacher weise jeder Mensch eine transzendentale, von anderen unterschiedene Eigenheit seines So-Seins auf, die sich empirisch übersetze in das auffordernde Ideal, sein »nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen.« (Ebd.: 146) Dahinter stehe die Annahme eines göttlichen Seins, welches sich »nur in der Form des Individuellen« artikuliere (ebd.: 146). Die Individualität sei »Ausdruck und Spiegel« des göttlichen Prinzips (ebd.: 146). Von Bedeutung sei der individuelle Beitrag zum Gelingen eines arbeitsteiligen Gefüges der Gesellschaft gewesen (vgl. ebd.: 145). Quantitativer und qualitativer Individualismus bilden in ihrer materiellen Realisierung nicht unbedingt einen Widerspruch zueinander. Neben der Durchsetzung einer ausgeprägten, arbeitsteiligen Differenzierung und materieller wie immaterieller Ungleichheit (vgl. PDG: 607 und 628-651; GS: 130-31 und 148-49) bilden formale Gleichheiten bleibende Kulturleistungen des quantitativen Individualismus. Dazu gehört es, dem Menschen als Form geistigen Lebens – das macht ihn in der Lebensanschauung des 18. Jahrhunderts zum Menschen – einen absoluten Wert zukommen zu lassen (vgl. PDG: 492-93). Damit verbunden ist der Anspruch auf und die Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte und -würde (vgl. ebd.: 493). Diesem Ideal nach, so Simmel, sei beispielsweise Sklaverei als Kauf des Menschen von Dritten gegen Geld verboten (vgl. ebd.: 489 und 493). Eine reale Konsequenz dessen ist die Herausdifferenzierung menschlichen Lebens aus der ökonomischen Sphäre der Relativität von Werten über die moderne Lohnarbeit: Bezahlt wird dann die – selbst Konjunkturen des Marktes unterworfene – Ware Arbeitskraft, nicht aber der ganzheitliche, einen absoluten Wert besitzende Mensch (vgl. ebd.: 376, 451-52, 493). Ebenso auf der Linie des quantitativen Individualismus liegen die Forderungen nach egalitären Rechten zwischen Mann und Frau vor dem Gesetz – »...the demand for the same rights that men possess« (TGLT: 187). Weder Konkurrenz noch Arbeitsteilung sind auf ihren ökonomischen Sinn zu reduzieren, sie sind Formen der Vergesellschaftung (vgl. PDG: 209; SOZ: 21). Dennoch besitzt Simmels Ideengeschichte des Individualismus eine ökonomische »Schlagseite«. Beide Ideale, Freiheit und Gleichheit einerseits, Freiheit und Ungleichheit andererseits, bezieht Simmel ausdrücklich in einen konstitutiven Wechselwirkungszusammenhang mit der ökonomischen Ausprägung von Konkurrenz und Arbeitsteilung: »Die beiden großen Prinzipien, die in der Wirtschaft des 19. Jahrhunderts zusammenwirken: Konkurrenz und Arbeitsteilung – erscheinen so als die wirtschaftlichen Projizierungen der philosophischen Aspekte des sozialen Individuums oder diese umgekehrt als die Sublimierungen jener ökonomisch-realen Produktionsformen« (GS: 148; Hervorhebung PB; vgl. BFI: 52).

Simmel stellt seinen ideengeschichtlichen Ausführungen zum quantitativen und qualitativen Individualismus den Ausblick auf eine mögliche dritte Form der Individuali-

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tät ans Ende. Zum Ende seines 1901er-Aufsatzes »Die beiden Formen des Individualismus« konstatiert Simmel eine »große Aufgabe der Zukunft«, diese bestünde in der Produktion einer »Lebens- und Gesellschaftsverfassung, die eine positive Synthese der beiden Arten des Individualismus schafft« (ebd.: 56). In ähnlicher inhaltlicher Stoßrichtung beendet Simmel seine Beobachtung der Lebensanschauungen des 18. und 19. Jahrhunderts in den »Grundfragen« (vgl. GS: 149). Die von sich selbst geforderte Synthese zwischen qualitativem und quantitativem Individualismus schuf Simmel – an seinen eigenen Maßstäben gemessen – bereits mit der »Philosophie des Geldes«. Simmel betreibt am Gegenstand Geld Philosophie, indem er die materielle Sozialphänomenologie des quantitativen wie qualitativen Individualismus auf den einheitlichen Fluchtpunkt des Geldes bezieht: So einmal, wenn eine Stammeskollektiv und Nation transzendierende Vorstellung allgemeiner Menschenrechte zusammengeht mit der Ausdehnung sozialer Beziehungen, welche letzten Endes nur durch das abstrakte Medium Geld getragen werde (vgl. PDG: 470, 493, 706). Leicht abgewandelt spricht Simmel auch von der durch die Geldwirtschaft erst ermöglichten »Vorstellung des Allgemein-Menschlichen« (GMC: 183; Hervorhebung im Original). Dem geht gerade der zunehmende inhaltliche Verzicht auf den Anspruch einer über konkrete Inhalte definierbaren Moral der Gesellschaft parallel. 27 Auch dies war ein die »Philosophie des Geldes« vorbereitendes Ergebnis der »Moralwissenschaft«. Man mag mit anderen keine Gemeinsamkeiten haben, aber das geldvermittelte Geschäft bleibt noch möglich. In dem den direkten Kampf substituierenden Wettbewerb um Dritte wird schließlich nach Preis und Qualität, nicht mehr nach Nase gekauft, die Individualität der Person bleibt außen vor – darin sind sich die Menschen gleich. Der qualitative Individualismus von Freiheit und Ungleichheit setzt wie der quantitative Individualismus von Freiheit und Gleichheit die »Vergrößerung des [sozialen] Kreises« voraus, innerhalb dessen die Individuen einen vorher undenkbar großen Freiheitsspielraum besitzen (SOZ: 812). Simmel meint, dass für die Korrelationsthese zwischen individueller Spezialisierung und sozialer Ausdehnung die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft das »größte weltgeschichtliche Beispiel« sei (ebd.: 831). Konkurrenz treibe die arbeitsteilige Spezialisierung voran (vgl. ebd.: 832). Wie Simmel in der »Philosophie des Geldes« betont, besteht zwischen Geld und Arbeitsteilung – obgleich letztere nicht reduzierbar ist auf ökonomische Zusammenhänge – eine »in der Tiefe ihrer Wurzeln« bestehende, wesenhafte Verbindung (PDG: 651; vgl. auch ebd.: 179). Wachsende arbeitsteilige Differenzierung bedarf eines allgemeinen Tauschmittels, da die von beiden Seiten in den Tausch zu gebenden Leistungen mit sinkender Wahrscheinlichkeit auf ein jeweils passendes Begehren stoßen (vgl. ebd.: 263, 650-51).28 Geld erlaubt aber auch eine maximal

27 Hier ähnlich Niklas Luhmann. Luhmann hob auch die Moral neutralisierenden Eigenschaften des Geldes hervor. Luhmann nannte es eine »Diabolik« des Geldes, »daß das Geld andere Symbole, etwa die der nachbarlichen Reziprozität oder die der heilsdienlichen Frömmigkeit, ersetzt und eintrocknen läßt.« (Luhmann 1988a: 242). 28 Simmel setzt eine positive Korrelation zwischen der Menge an Leistungen und der Menge an Bedürfnissen voraus. Vereinfacht übersetzt: zwischen Angebot und Nachfrage; und, noch mal anders: Das Angebot schaukelt die Nachfrage hoch, die Nachfrage schaukelt das Angebot hoch.

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mögliche inhaltliche Differenzierung der eigenen Tätigkeit und damit Freiheit in der Wahl zwischen den Leistungen, die in einen Tausch gegeben werden (vgl. ebd.: 41015). Ferner sind die Individuen gleich vor dem – sozusagen – »Gesetz« des Geldes, wenn die eigene Existenz unabhängig von Schichtungsmerkmalen abhängt von der Leistung anderer, auf die der individuelle Zugriff nur geldvermittelt stattfindet (vgl. ebd.: 634-36). Über diese materiellen Beispiele hinausgehend – sie aber einschließend – bestand die philosophische Leistung Simmels in der intellektuellen Bewältigung des gleichermaßen theoretischen wie praktischen Problems der Vereinbarkeit von individueller Freiheit und der Bindung an die Form des Gesetzes bzw. – was bei Simmel in der Tat das gleiche ist –, der Bindung an die eigengesetzliche Form: Die Verselbständigung einer nach eigenen Gesetzen operierenden Geldwirtschaft aus der Unmittelbarkeit des Verflechtungszusammenhangs des individuellen Lebens mit der gesellschaftlichen Form ermöglicht erst umgekehrt die Freiheit eigengesetzlicher Individualität. Dieser eine Gedanke beherrscht die »Philosophie des Geldes« von Anfang des »analytischen Teils« bis zum Ende des »synthetischen Teils« des Buches. Das wirtschaftliche Handeln und Erleben ist bloßer Funktionsträger in der Reproduktion ökonomischer Form. Weil jedoch – nach Simmel: tendenziell – alle personale Individualität aus dem ökonomischen Handeln und Erleben entfernt ist – ausgenommen der für die ökonomische Reproduktion notwendigen energetischen Leistung –, ist das Individuum als Individuum zumindest annähernd und fast vollständig aus der Eigengesetzlichkeit der Ökonomie befreit und steht dieser als geschlossene Form individuellen Lebens gegenüber; und das Vermittlungsglied der Wechselwirkung zwischen beiden Welten ist das Geld. Es abstrahiert die Bindung an andere in die Form der bloßen Geldförmigkeit von Wechselwirkungen. Diese geldförmige Abstraktion individueller Bindung bedeutet individuelle Freiheit. Die Sprache von Freiheit, Verselbständigung und Eigengesetzlichkeit der Form lässt sich in semantischer Variation, stets aber den gleichen Sinn intendierend in der »Philosophie des Geldes« finden: Die Ökonomie ist ein »durch einen selbsttätigen Mechanismus« bestimmtes »objektives Reich« (ebd.: 55), ist »Kosmos« (ebd.: 634). Das Individuum ist aus der Perspektive der Ökonomie »Träger oder Ausführender« (ebd.: 55), »Träger jener Funktionen« (ebd.: 392), ist »Geldgeber« (ebd.: 393), gehört zu den »Kapitalisten« (ebd.: 400 und 631), oder, wahlweise, ist »Arbeiter« (ebd.: 393 und 631) bzw. »Lohnarbeiter« (ebd.: 400); Die »kapitalistische Differenzierung« (ebd.: 631) in Arbeiter und Kapitalisten ist eine soziale Differenzierung der »Produktion« (ebd.: 630 und 31). Auf der anderen Seite wechseln die gleichen Individuen, die Kapitalisten oder Arbeiter sind, auf die Seite der »Konsumtion« (ebd.: 630 und 631). Produktion und Konsum sind nicht miteinander koordiniert: Niemand (oder kaum jemand) produziert mehr für den Eigenverbrauch. Simmel konstatiert eine »Vielheit unserer Abhängigkeiten« (ebd.: 396), das Individuum ist »von dem Ganzen der Gesellschaft sehr viel abhängiger« (ebd.: 396). Die Bindung an andere ist aber abstrakt, weil funktional und nur auf die Leistung bezogen, es besteht eine »Auswechselbarkeit der Personen« (ebd.: 398), Individuen sind »von jedem bestimmten Elemente dieser Gesellschaft außerordentlich unabhängig« (ebd.: 396; Hervorhebung im Original). Exakt symmetrisch zu der Eigengesetzlichkeit der Lebensform Ökonomie bildet sich »innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins« aus (ebd.: 397). Über Geld gestiftete Beziehungen, so Simmel, sorgten für den indi-

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viduellen »Abschluß allem Äußeren gegenüber«, ermöglicht werde »die Entwicklung ausschließlich nach den Gesetzen des eigenen Wesens, die wir Freiheit nennen.« (Ebd.: 402). Nun könnten Ökonomie und Individuum jeweils getrennt ihren »eigenen Gesetzen […] folgen« (ebd.: 449). Das Verhältnis von Ökonomie und Individuum ist nach Simmel eine durch das Geld geschaffene Doppelleistung: Trennung von ehemals untrennbar Verbundenem, dann Synthese des Differenzierten. Simmel drückt dieses durch das Geld konstituierte Verhältnis wahlweise als »Unabhängigkeit des Seins vom Haben und des Habens vom Sein« aus (ebd.: 410), synonym auch als einen geldvermittelten »Sonderungsprozeß zwischen der Person und der Sache« (ebd.: 462). Der von Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes«, dann in Essayform beschriebene Typus des großstädtischen Individuums weist in die ganz ähnliche Richtung innerer Abgeschlossenheitsform des individuellen Lebens seiner Außenwelt gegenüber auf: Eine »innere Grenze und Reserve« durchziehe die großstädtische Interaktion (ebd.: 665), »Reserviertheit« (GG: 122) paart sich mit Tendenz zu »Antipathie«, »verstecker Aversion« sowie zur »Fremdheit und Abstoßung« (ebd.: 123). Eine vollständige Entkoppelung von einem inhaltlich, in eine bestimmte Richtung hin nuancierten Empfinden findet dann doch nicht statt. Leben kann nur sein in der Form der Individualität; und Form ist Grenze, Abgeschlossenheit nach außen hin. Mit dem Geld findet Simmel die empirische Realisierungsform seines metaphysischen Vitaldualismus von Leben und Form. Ich wiederhole zur Veranschaulichung des Vergleichs den generalisierten Vitaldualismus zwischen dem individuellen Leben und der überindividuellen, das Individuum umgreifenden Form: (a) Einmal ist Individualität Entelechie, sie ist aus sich heraus Einheit. In dieser Perspektive ist es Leben: Es braucht die Form, um zu sein. (b) Dann aber ist Individualität selbst Form und Element der es übergreifenden, schöpferischen wie zerstörerischen Seins-Einheit des Lebens. Letzteres führt auf organischer Ebene zu Zeugung und Tod, auf geistiger Ebene zur Bildung und Reproduktion von Kulturformen. Machen wir von hier aus den Überschlag zur Kulturform der Geldökonomie: Die überindividuelle Form der Ökonomie verselbständigt sich aus dem Leben, um auf dieses den Gesetzen der ökonomischen Form gemäß zuzugreifen. Die Individualität des Lebens dient der Bildung und Reproduktion von Ökonomie; ihr Eigenformcharakter ist »überwunden«, er spielt keine Rolle. Aber auch die Individualität des Lebens verselbständigt sich: Individualität wird zur Entelechie, welche sich der ökonomischen Form gegenüberstellt. Die Entfremdung in der Position des Gegenübers ist die Freiheit aus der Form, die zugleich eine Bindung an die Form ist. 29 Es ist interessant, dass Max Weber eine – meines Wissens nach in der Sekundärliteratur übersehene – sehr ähnliche Position wie Simmel zum Zusammenhang von Geldbindung und individueller Freiheit vertrat, zumindest noch in seinen frühen, nationalökonomischen Studien zu den Entwicklungen in der ostdeutschen Landwirtschaft. So heißt es:

29 Simmel spricht wortwörtlich von »Selbstentfremdung des Lebens« als semantische Varianz für ein und denselben Prozess des Formwerdens des Lebens (LA: 232)

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»[D]ie Arbeiter suchen den Geldlohn, weil er sie am meisten von der Abhängigkeit von der Wirtschaft und dem guten Willen des Herrn befreit, trotzdem sie sich dabei wirtschaftlich schlechter stehen. Wie der Geldzins des Bauern im Mittelalter als das wichtigste Symptom seiner persönlichen Freiheit erscheint, so der Geldlohn des Arbeiters heute. Die Landarbeiterschaft opfert ihre materiell oft günstigere, immer aber gesichertere, abhängige Lage dem Streben nach persönlicher Ungebundenheit.« (Weber 1988c: 489; Hervorhebung im Original)

Der Vergleich mit Max Weber ist sogar noch ergiebiger. Weber, der in seinen Auftragsstudien für den »Verein für Socialpolitik« eine sehr kritische Sicht auf die polnische Migration in den deutschen Osten vertritt – er verlangte von der Politik eine vollständig Grenzschließung –, wollte nichtdestotrotz wissen, welche Intentionen die polnischen Wanderarbeiter auf die deutschen Gutshöfe trieb. Er hob dabei geradezu die schlechten Unterbringungsmöglichkeiten der Wanderarbeiter hervor. Zwar würden gerade wegen der harten, aber doch auch günstigen Wohn- und Lebensbedingungen polnische Arbeiter vergleichsweise Kosten sparen; dann aber beobachtet Weber gerade bei polnischen jungen Frauen eine außergewöhnlich hohe Arbeitskraft, zu der sie »in der Heimat kein noch so hoher Lohn« anspornen würde (Weber 1988c: 492). Weber pocht also geradezu darauf, dass das ökonomische Motiv mindestens nicht der alleinige Grund für die Arbeit in der Fremde sein kann, weshalb er es bevorzugt, von einer »Kombination wirtschaftlicher und psychologischer Momente« zu sprechen (ebd.: 493). Das psychologische Bewegungsmotiv ist der Freiheitsdrang der polnischen Arbeiter: »[E]s ist der dunkle Drang nach persönlicher Freiheit, welcher die Arbeiter zur Arbeit in die Fremde treibt. Sie opfern ihre gewohnten Lebensverhältnisse dem Streben nach Emanzipation aus der Unfreiheit: ihre stumpfe Resignation wird durchbrochen.« (Ebd.: 493) Ob und inwiefern es hier bereits Beeinflussungsverhältnisse zwischen Weber und Simmel – in beide Richtungen – gegeben hat, kann ich nicht sagen. Über die Bauernbefreiung aus den feudalherrschaftlichen Verhältnissen – also: ein Freiheitsthema – schrieb Simmel bereits 1888, und mit dem Verhältnis von Freiheit und Bindung beschäftigte sich Simmel bereits in den 1892 sowie 1893 publizierten zwei Bänden der »Moralwissenschaft«. Weber und Simmel verkehrten mindestens seit 1894 privat miteinander, und mindestens ebenso ab 1894 rezipierte Weber das Werk Simmels, wie Lawrence A. Scaff gezeigt hat (vgl. Scaff 1987: 260). Da Simmel 1889 seine »Psychologie des Geldes« schrieb, lagen die Materialien zur Synthese – Freiheit, Bindung, Geld – also bereits zur Hand. Dennoch dauerte es sieben Jahre, bevor Simmel erneut zum Geld-Thema veröffentlichte. Der hier zitierte Weber-Aufsatz zur Lage in der Landwirtschaft stammt aus dem Jahr 1894, zwei Jahre vor Simmels Aufsatz zum »Geld in der modernen Cultur«. In diesem Aufsatz hat Simmel den Dualismus von Freiheit und Bindung zum ersten Mal ausdrücklich auf das Geld bezogen. Meiner Ansicht nach sollte ernsthaft in Erwägung gezogen werden, dass nicht nur Simmel auf Weber in seinem Werden als Soziologe prägend gewirkt hat, sondern umgekehrt auch Webers nationalökonomische Studien Simmel Anstöße in seinem Werden als Philosoph gegeben haben. Natürlich kann es genauso gut sein, dass (mir) unbekannte Dritte als Quellen der Anregung in Frage kommen. Jedenfalls ist mir keine Sekundärliteratur bekannt, welche die Möglichkeit in Erwägung gezogen hat, dass Simmel manche Anregung zur »Philosophie des Geldes« Max Weber verdankt

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haben könnte. Darüber hinaus bleibt es bezeichnend für die Differenz wie die Konvergenz zwischen Max Weber und Georg Simmel, dass Weber die Prekarität, historische Kontingenz und die Pluralität der historischen Wurzeln der – durchaus real wirksamen – okzidentalen Idee individueller Freiheit betonte (vgl. Weber 1988d: 6465), andererseits sowohl vonseiten der politischen als auch der ökonomischen Entwicklungen her »das Gehäuse für die neue Hörigkeit« aufkommen sah (ebd.: 63). Eine Transzendental- oder Lebensphilosophie der Freiheit und (Selbst-)Bindung findet sich bei Weber allerdings nicht. Damit aber wieder zurück zu Simmel, denn das philosophische Bild ist noch nicht vollständig. Die »Philosophie des Geldes« ist »Philosophie«, weil sie die SeinsEinheit am Geld deutet, nicht aber an der Ökonomie. Simmel schrieb keine »Philosophie der Wirtschaft«, auch nicht des »Kapitalismus«.30 Geld erschöpft sich für Simmel nicht in der Ökonomie, es ist – sozusagen – Mehr-als-Ökonomie.31 Die durch Geld zustande gebrachte Befreiung der Individualität aus der Ökonomie sorgt für zweierlei: (a) die Implikation freier Bindungswahl nicht-ökonomischer Beziehungen, sowie (b) die Geldvermitteltheit individueller Beziehungen überhaupt. Freiheit aus und gegen die ökonomische Form ist strukturell auf Geld verwiesen, und deshalb sind die davon befreiten Bindungen nicht-ökonomischer Natur – Kunst, Religion, Intimität, Wissenschaft, Recht, Erziehung Freundschaften oder staatliche Bürokratie – ebenfalls: monetarisiert. Allgemeiner und mit Simmel gesprochen: Vergesellschaftung und individuelle Kultivierung kosten Geld. Darin erschöpft sich aber nicht der monetäre Gewinn individueller Freiheit, sondern ist sehr viel allgemeiner als der immer geschichtlich zu realisierende, zuweilen zu erkämpfende Gewinn des bereits besagten Für-Sich-Seins von Individualität als ein Frei-Sein von etwas; und für diese allgemeine Beziehung des Frei-Seins von etwas steht das Geld. Simmels Behandlung des Geldes als Gegenstand philosophischer Überlegungen besitzt eine Rückwirkung auf den Status der »Philosophie des Geldes«: Sie ist »Role- Model« für Simmels Lebens- und Kulturphilosophie wie auch für seine Soziologie. 32 Materiell zeigt sich dies in den wiederkehrenden Formulierungen Simmels, das Geld zur Reinform der unterschiedlichsten Ideen, Mechanismen oder Erscheinungsreihen zu erklären. Ein bestimmtes Motiv mag sich an unterschiedlichen Inhalten zeigen, aber auf einer gedachten Skalierung ist das Geld sein Idealtypus. Dieses Role-Model-Attribut erweist Simmel bevorzugt am Ende der jeweiligen Kapitel. Simmel »öffnet« jeweils die Überlegungen aus der »Enge« der Geldökonomie hin zur »Weite« anderer, nichtökonomischer Lebenssphären, an denen Simmel gleiche bzw. ähnliche Tendenzen oder Eigenschaften vermutet. Die konkreten Textbelege dafür liefere ich zwecks bes-

30 Beispielhaft für die Verwischung zwischen Geld und Kapitalismus bei Simmel stehen Uta Gerhardts wie auch Daniela Motaks Deutungen der Geldphilosophie Simmels (vgl. Gerhardt 2003 und Motak 2014). 31 Um eine bloße Wortspielerei meinerseits handelt es sich hierbei nicht. In Kapitel 7.5 zeige ich, warum. 32 So auch nach Wilfried Geßner, der das »Geld [als] das Paradigma für die Objektivität der Kultur überhaupt« bezeichnet (Geßner 2003: 84).

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seren Leseflusses in einer Fußnote.33 Das hier gewonnene Resultat setze ich im weiteren Fortgang meiner Überlegungen voraus. Ich widme mich nun der Kulturphilosophie Simmels.

33 Kapitel 1: Geld ist »die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins […], nach der die Dinge ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit der Verhältnisse […] ihr Sein und Sosein ausmacht.« (PDG: 136) Kapitel 2: »So erreicht auch hier eine der großen Tendenzen des Lebens – die Reduktion der Qualität auf die Quantität – im Geld ihre äußerste und allein restlose Darstellung; auch hier erscheint es als der Höhepunkt einer geistesgeschichtlichen Entwicklungsreihe, der die Richtung derselben erst unzweideutig festlegt.« (Ebd.: 371) Kapitel 3: »Insofern das Geld das beweglichste unter allen Gütern ist, muß es den Gipfel dieser Tendenz darstellen und ist nun auch tatsächlich derjenige Besitz, der die Lösung des Individuums von den vereinheitlichenden Bindungen […] am entschiedensten bewirkt.« (Ebd.: 481). Kapitel 4: »In der so gesteigerten praktischen Welt erscheint das Geld, die verkörperte Relativität der Dinge, gleichsam als das Absolute, das alles Relative mit seinen Gegensätzen umschließt und trägt.« (Ebd.: 562) Kapitel 5: »Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld.« (Ebd.: 714)

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Philosophie der Kultur

5.1 ZUSAMMENFASSUNG Die Kulturphilosophie Simmels beschreibt eine mögliche Dimension des Dualismus zwischen Leben und Form, und zwar den Dualismus zwischen dem individuellen Leben und den überindividuellen Welten der Kultur. Kultur ist nach Simmel definiert als ein Prozess der individuellen Kultivierung. Ich interpretiere die Verlaufslogik der individuellen Kultivierung als deckungsgleich mit der Form des »individuellen Gesetzes«. Jeweils gilt: Das individuelle Leben braucht die Form, und die Form braucht das individuelle Leben. Nur an der Form kann die Eigengesetzlichkeit des individuellen Lebens seine Gestalt finden. Gleichzeitig mit dem Aufeinander-Angewiesen-Sein beider Seiten gegeben ist ein Spannungsverhältnis zwischen Leben und Form: Das individuelle Leben wie die überindividuelle Form besitzen ihre eigene Verlaufslogik, es gibt keine Total-Konvergenz beider Seiten. Eine Folge davon ist eine mögliche Vereinnahmung des individuellen Lebens durch die Reproduktionslogik der Kulturwelten gegenüber. Diese Gefahr der Vereinnahmung ist der Preis für die Möglichkeit eines eigenselektiven Zugriffs auf die Kulturprodukte. Die in Kapitel 4 noch statische In-Sich-Geschlossenheit der eigenlogischen Form wird prekär: Die Frage des Gelingens individueller Kultivierung, nämlich Einheit zu werden, liegt für Simmel in den Händen des eigenverantwortlichen individuellen Lebens. Kapitel 5.2 stellt den simmelschen Kulturbegriff als einen Entfaltungsprozess der Einheit des Lebens vor: Transzendentale Triebkräfte des individuellen Lebens objektivieren sich in eigenständige Formen, durch die und nur durch die das individuelle Leben zu seiner empirischen Einheit kommen kann. Der kultivierende Entfaltungsprozess ist als ein über die aus dem schöpferischen Leben sich verselbständigenden Kulturwelten gehender Weg der Selbsttranszendierung des Lebens zu verstehen. Leben wird Mehr-Leben durch das Mehr-als-Leben. Kapitel 5.3 stellt das Funktionsprinzip der Kulturwelten vor. Die Eigenlogik der Kulturwelten geht auf unterschiedliche, apriorische Formungsprinzipien im Bewusstsein der Individuen zurück, die sich in den Welten objektivieren, d. h. vergegenständlichen. Das Prinzip der Form ist das Prinzip des Lebens, nur eben in der Form der dem individuellen Leben gegenübertretenden Eigenständigkeit. Die Eigenständigkeit der Kulturformen artikuliert sich in einer diversen Symptomatik: Sie treten dem Individuum mit einem Anerkennungsanspruch gegenüber, und die Elemente innerhalb der Form gewinnen ihre Bedeutung als Element in der Form in sich geschlossener Relationalität der Elemente zueinander, d. h. in Wechselwirkung. Die Form wird selbst produktiv, schöpferisch. Das Handeln und Erleben ist aus der Perspektive der Kulturwelten bloßer Träger der

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eigengesetzlichen Reproduktion der Formen, obgleich es deren Schöpfer ist. Das Gegenüber-Verhältnis von individuellem Leben und Form realisiert sich als ein symbolisches, nicht mehr als unmittelbares. Die Kulturwelten sind zu unterscheiden von den Formen der Vergesellschaftung, setzen aber eine ausgedehnte Arbeitsteilung voraus. Die soziale Form der Arbeitsteilung trägt die Verselbständigung der Form aus dem Leben, indem sie Produktion und Konsumtion der Form von der Individualität des Lebens (nicht: dem Leben überhaupt) entkoppelt. Kapitel 5.4 widmet sich in aller Kürze zwei Begriffen: dem Zweck- und dem Funktionsbegriff. Simmel kontrastiert die durch die Eigengesetzlichkeit einmal ausdifferenzierter Kulturwelten gewonnene individuelle Freiheit mit der ursprünglichen Zweckgebundenheit der apriorischen Bewusstseinsprinzipien: Die Eigenlogik der Form bedeutet Freiheit, da sich das individuelle Leben in den Formen einen Raum der Selbstdetermination geschaffen hat, welcher über die Enge der naturwüchsigen Zweckgebundenheit des Handelns hinausgeht. Eine Funktion haben Formen als Formen des Lebens: Das Leben kann nur sein in Formen, die jeweils auf apriorische Formungsprinzipien zurückgehen. In der Spezifik eines Vitalformungsprinzips besteht jeweils die partikulare Funktion einer Form. In Kapitel 5.5 konzentriere ich meine Analyse auf das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Form und führe die Theorie des »individuellen Gesetzes« ein. Das »individuelle Gesetz« interpretiere ich als ein mit dem bloßen Sein einer Individualitätsform des Lebens ontologisch mitgegebenes Ideal ihrer selbst. Dieses Ideal oder auch Gesetz entspricht, so meine These, dem eigenlogischen Weg individueller Kultivierung. Deshalb lässt sich meines Erachtens mit Simmel auch von einer allgemeinen Pflicht zur individuellen Kultivierung sprechen. Ein Spannungsverhältnis zwischen Leben und Form ergibt sich deshalb, da beide, Leben und Form, a priori unterschiedlichen Prinzipien folgen und das, gerade weil und obgleich das Prinzip der Kulturform dem Prinzip des Lebens entspricht. Die unterschiedlichen Kulturwelten folgen jeweils ihrer und nur ihrer Logik. Der eigenlogische Weg der individuellen Kultivierung dagegen besteht in der Teilhabe an einer Vielfalt von Kulturwelten. Eine Vereinseitigung kommt einer Verkümmerung der in sich geschlossenen Form individuellen Lebens und ihrer bloßen Funktionsträgerschaft gleich. Wie Simmel am Beispiel Goethes zu zeigen versucht, besteht die (Lebens-)Kunst der Kultivierung in einer Art des Ausbalancierens der eigenselektiven Aneignung der differenten Kulturprodukte einerseits, und der aus dem Zentrum des Lebens kommenden Selbstbegrenzung der Triebkräfte andererseits.

5.2 DIE EINHEIT DER KULTUR Simmels Philosophie der Kultur ist Philosophie, weil ihr Gegenstand die Einheitlichkeit, wahlweise auch die Ganzheitlichkeit des individuellen Lebens ist: »Kultur ist der Weg von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit.« (TDK: 196) »Weg« ist »Kultur« im Sinne eines Entwicklungsweges, den das Leben zurückzulegen hat, um seine Einheit zu erreichen, und zwar: ein Leben

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lang.1 Das Prinzip und der Weg der Kultur weisen eine dreistufige Logik auf: (a) die »geschlossene Einheit«, (b) die »entfaltete Vielheit« und (c) die »entfaltete Einheit«. Die Beziehung zwischen (a) und (c) beschreibt das »Freiwerden« der im individuellen Leben »selbst ruhenden Spannkräfte, die Entwicklung ihres eigensten, einem inneren Formtrieb gehorsamen Keimes.« (Ebd.: 195)2 Dezidiert sei hier gesagt: Ich gehe von der Einheitlichkeit des kulturphilosophischen Konzepts bei Simmel aus. Die Annahme verhindert selbstverständlich nicht unterschiedliche Gegenstände der Analyse innerhalb eines und desselben Theoriegebäudes.3 Doch nun zu den Punkten (a), (b) (Kapitel 5.2 und 5.3) und (c) (Kapitel 5.5) der Kultur. (a) In seinen – inhaltlich nicht näher definierten – »natürlichen Strukturverhältnissen« (WK: 365; Hervorhebung im Original), bzw. in seinem »Naturzustand« (PDG: 619) besitzt das individuelle Leben »Anlagen« (WK: 366), »Triebkräfte« (ebd.: 365), und dieser Naturzustand kann über seinen natürlichen in einen »kultivierten […] Zustand« überführt werden (ebd.: 365). Am Anfang steht die kategoriale Unterscheidung von Natur und Kultur. Die Selbsttranszendenz natürlichen Lebens durch Kultur ist also eine bereits im Leben selbst liegende natürliche Triebkraft des Lebens. Andererseits ist Natur oder die Erfassung von etwas als natürlich selbst ein geistiger Formungsakt, wie Simmel sagt (vgl. ebd.: 363). Unter der »entfalteten Einheit« versteht Simmel die Überführung des individuellen Lebens aus seiner transzendentalen Einheitsform in eine empirische Einheitsform.4 Simmel spricht hier von der »Vollen-

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Bis zum Tode. So hat es Simmel jedenfalls für Goethe interpretiert (vgl. Kapitel 5.5 in diesem Buch). Für ihn selbst liegt die gleiche Schlussfolgerung nahe. In seinen Briefen schien er aber zumindest die Möglichkeit von einer bereits erreichten Vollendung offen zu halten, die noch zu Lebzeiten geschehen kann. Die Trias dieser Struktur ist der Sekundärliteratur zufolge ein Überbleibsel der Beeinflussungen durch die evolutionstheoretischen Überlegungen Herbert Spencers (vgl. McCole: 2005: 17). Birgitta Nedelmann nimmt drei unterschiedliche Kulturtheorien bei Simmel an: (a) »Cultural Antagonism« (Nedelmann 1991: 172-177), (b) »Cultural Ambivalence« (ebd.: 178-184) und (c) »Cultural Dualism« (ebd.: 185-189). Meiner Meinung nach lassen sie sich allesamt unter eine einheitliche, in dem hier vorliegenden Kapitel vorgestellte Philosophie der Kultur einordnen: Das Leben wird Einheit in den Formen (der Kultur), weil es nur in Formen sein kann. In der (b) »Cultural Ambivalence« beispielsweise wird das Individuum zum Konsumenten von Kunst. In (c) »Cultural Dualism« spricht Nedelmann von »cultivation« als einem »feedback process between the individual level and the cultural level, starting from the individuals and going back to them after having passed the system of ›objective culture‹.« (Ebd.: 185) (b) und (c) lassen sich aber verklammern, und zwar über die arbeitsteilige Differenzierung zwischen der Kulturproduktion und Kulturkonsumtion. Diesen Aspekt berühre ich in diesem Kapitel nur kurz, ausführlicher dagegen in Kapitel 8.5.3 dieses Buches. Volkhard Krech interpretiert das Stadium geschlossener Einheit ausdrücklich biologisch (vgl. Krech 1998a: 133). Das ist meines Erachtens eine – wenn auch vielleicht naheliegende – Fehlinterpretation von Simmels »Naturzustand«. Wenn Simmel von Kultur spricht, meint er den Geist: »Sobald das Leben über das bloß Animalische hinaus zur Stufe des Geistes vorgeschritten ist und der Geist seinerseits zur Stufe der Kultur, wird in ihm ein in-

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dung des Menschen« (ebd.: 367), von der »Entwicklung unserer inneren Totalität« (ebd.: 370; Hervorhebung im Original). Kultivierung funktioniert nicht beliebig – sie muss »passen« und dem Individuum adäquat sein –, gleichzeitig meint Simmel, kein inhaltliches Kriterium für Kultivierung angeben zu können. Diesen Punkt werde ich in der Analyse der Metaethik des »individuellen Gesetzes« erneut aufgreifen (vgl. Kapitel 5.5). Mag empirisch die Kultur also an überindividuelle Formen der Objektwerdung gebunden sein, Ausgangspunkt und Bedeutung erfährt sie durch Rückbezug auf das individuelle Leben, aus dem nach Simmel alles Überindividuelle – das Objektive, die Sachkultur – entstammt (vgl. Ehrl: 2005: 8-9). Wie noch zu zeigen sein wird, gleichen sich in der Rückführung der Form auf die Transzendentalfunktion des Lebens Simmels Kulturphilosophie und seine Soziologie (vgl. Kapitel 5.3). Simmels Kulturphilosophie unterscheidet sich aber von kulturtheoretischen Ansätzen, deren Prämisse in Differenz und Vergleichbarkeit von Kollektiven liegt (vgl. Antweiler 2016). Zu letzteren zählen beispielsweise Max Webers vergleichend historische Studien zur Genese der Eigenart der westlichen Gesellschaft, wie er sie in seiner »Protestantischen Ethik« sowie, auf ersterem Werk aufbauend und mit diesem in einer Kontinuitätslinie stehend, in seiner »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« verfolgt hat (vgl. Kapitel 9.2 in diesem Buch). Vergleichend gelagert ist auch Emile Durkheims Selbstmordstudie, in der er unterschiedliche Formen des Selbstmords sowie deren quantitative Ausprägung bestimmten Gruppenmustern wie Kohäsion und moralischer Regulation zuordnet (vgl. Kapitel 9.1 in diesem Buch).

5.3 ENTFALTETE VIELHEIT: DIE WELTEN DER KULTUR Kommen wir zu (b), der »entfalteten Vielheit«. Inhaltlich-materiell gesprochen fallen unter die »Vielheit« die »kulturellen Welten« (LA: 256), »Kulturgebiete« (ebd.: 255), wahlweise auch »Kulturformationen« (WK: 368) der Kunst, Wissenschaft, Religion oder Wirtschaft (vgl. PDG: 618; WK: 368-69; TDK: 194; LA: 256), aber auch kleinere Welten wie die »Sprache, Sitte« (PDG: 618), die »Formen des Benehmens […], die Feinheit des Geschmackes, […] die Bildung des sittlichen Taktes« (WK: 368). Die Vielfalt der Kulturwelten besitzt ihre Relevanz als Vielfalt im Rückbezug auf die Kultivierungsmöglichkeit des Individuums: Sie bilden die »Wegstrecken« (PDG: 619), die »Stationen, über die das Subjekt gehen muß« (TDK: 198), bzw. »Stationen seines Verlaufes« (LA: 256). Das Individuum lebt – und kultiviert sich im besten Falle – nicht nur in einer Welt, sondern in mehreren. Die Welten bilden die gegenständliche Objektwelt, an deren Inhalten sich das Individuum kultiviert. Simmel spricht deshalb auch von einem »Vorrat an Inhalten« (ebd.: 256), einem »Vorrat aufgespeicherter Geistesarbeit der Gattung« (PDG: 626). Die Inhalte der Kultur – und damit Kultur überhaupt – werden gesellschaftlich vermittelt oder auch tradiert und eine ausgeprägte Arbeitsteilung ist für Simmel die gesellschaftlich-empirische Be-

nerer Gegensatz offenbar, dessen Entwicklung, Austrag, Neuentstehung den ganzen Weg der Kultur ausmacht.« (KDMK: 183) Ein geistiges Potenzial ist schließlich auch etwas natürliches, berührt aber eine andere Emergenzebene als die des rein Biologischen.

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dingung einer eigenständigen Kulturwelt. Seinem Prinzip nach geht Kultur aber nicht in der Struktur interindividueller Vergesellschaftungsprozesse auf. Simmels Kulturphilosophie repliziert eine von der Soziologie eigenständige Formungsperspektive. Sie bilden Form und Inhalt füreinander und sind analytisch voneinander zu unterscheiden.5 Damit hängt es zusammen, dass Arbeitsteilung im kulturphilosophischen »Wende«-Kapitel der »Lebensanschauung« gar nicht auftaucht, und selbst in den der »Philosophie des Geldes« folgenden kulturphilosophischen Arbeiten zwar peripher erwähnt wird – eben: als Bedingung –, aber nicht im Fokus der Untersuchung steht.6 Die analytische Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Kultur besitzt für Simmel eine empirische, in der »Lebensanschauung« aber nicht mehr näher erörterte Basis, und zwar die relative Unabhängigkeit der Formen von »dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind«, wie von »dem anderen, das sie aufnimmt« (LA 238). Das bedeutet: Die Form differenziert sich aus der jeweils individuellen Produktion und Konsumtion der Inhalte heraus, und damit aus der Kontrolle durch soziale Wechselwirkungen.7 Simmels »Über sociale Differenzierung« von 1890 war dagegen noch von einer Indifferenz von Kultur und Sozialem gekennzeichnet, gleiches gilt beispielsweise auch noch für den 1895 erschienen Aufsatz »Das Geld in der modernen Cultur«. In Kapitel 6.2 dieses Buches werde ich auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Kultur erneut zu sprechen kommen. Das Leben in explizit mehreren Welten ist Voraussetzung, aber nicht hinreichend für Kultivierung. Die Vereinseitigung der Lebensführung führt zumindest im Regelfall nicht zur Kultivierung. Zwischen der geschlossenen Einheit und der entfalteten Einheit passiert das Leben unterschiedliche Welten. Da die entfaltete Einheit eine Art Horizont ist, auf den ein Weg hinführt, ohne ein irgendwie substanziell fassbarer Zustand zu sein, kann man wohl sagen, dass das »eigentliche« Leben für Simmel in diesem »Zwischenreich« zwischen geschlossener und entfalteter Einheit stattfindet. Die Semantik von der »entfalteten Vielheit« weist auf einen weiteren, wichtigen Punkt hin. Denn sich »entfalten« in eine »Vielheit«, dies tut wiederum: das Individuum. Die Vielfalt der Kulturwelt ist Vielfalt in konstitutionstheoretischer Relation zum individuellen Leben, und stets geht es dabei um die identische Theorieform: Das Leben kann nur sein in der Form, aber mit der Schöpfung der Form gewinnt diese zugleich eine auf das Leben rückwirkende Eigenständigkeit. Die Kulturwelten sind Mehr-als-Leben; der durch die Kulturwelten hindurchführende Weg individueller Kultivierung ist Mehr-Leben, der »in uns zurückführende Werterhöhungsprozeß« (PDG: 618; Hervorhebung PB). Wir schaffen die Formen, um an ihnen selbst zu

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Zum Problem der Unterscheidbarkeit von Kultur und Gesellschaft vgl. die Ausführungen von Junge 2009b: 15-16. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Kultur hat Geßner expliziert (vgl. Geßner 2003: 150-52). Er beobachtet »›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹ als zwei quer zueinander liegende Perspektiven der Formung«, und »die konkrete Wirklichkeit [besteht] allerdings in der Einheit der sozialen Formen mit den kulturellen Inhalten […]. Insofern stellt die Unterscheidung von Kultur und Gesellschaft eine eminente Instanz für Simmels Konzeption perspektivischer Formungsweisen dar.« (Ebd.: 152) Simmels Kulturformen weisen eine Ähnlichkeit zu dem auf, was Thomas Luckmann objektivierte »Symbolwelten« nennt (Luckmann 1991: 80).

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werden (vgl. WK: 366-67). Semantisch gewendet, aber den religionsphilosophischen Bezug hergestellt, könnte man auch sagen: Wir schaffen die Formen, um uns selbst zu transzendieren. Interessanterweise wählte Simmel in seiner Geldphilosophie die – den ökonomischen Kontext überschreitende – Wachstumssemantik der Werterhöhung zur Definition eines Elementes von Kultur. Das »Wachsen aus eigener Wurzel« war noch 1918 die Formel für das »individuelle Gesetz« (LA: 415). Das gilt es zu merken (vgl. auch Kapitel 8.5.3 in diesem Buch). Die Semantik wechselt zwar: Simmel spricht in der »Lebensanschauung« sehr häufig von »Welt« oder »Welten« (ebd.: 236-293), dann von »Heiligkeiten«, »Systeme[n]« (LA: 238), vom »Kosmos« (PDG: 634; LA: 265) oder von den »Kulturformungen der Dinge« (TDK: 218), bezeichnet das gleiche auch als »für sich bestehenden Reiche« (WK: 372). Jeweils gemeint ist aber etwas vom individuellen Leben sich eigenständig entwickelndes, etwas, was sich nicht auf subjektive Willkür hin dieser hergibt. Die Eigenständigkeit drückt sich darin aus, dass die Elemente innerhalb der Kulturwelten – seien es Kunstwerke, Erkenntnisse, Waren oder religiöse Dogmen – eigenen Regeln unterworfen sind. Simmel spricht von »Gesetzen« (DR: 42; LA: 268), einer »Eigengesetzlichkeit« (ebd.: 265), »eigenen Bewegungsgesetzen« (PDG: 632), »einer inneren sachlichen Logik« (WK: 372), einem »autonomen Ideal« (PDG: 619) bzw. »Idealen und Normen«, denen die Elemente ebenso wie das individuelle Handeln innerhalb der Kulturwelten »unterstehen« (WK: 369). Hierbei ist es wichtig, auf eine nach Simmel inhärente Verknüpfung zwischen Eigenständigkeit der Form und deren Eigengesetzlichkeit hinzuweisen: »Man kann es geradezu als die Definition des geistigen Lebens aussprechen, dass es etwas erzeugt, was eigenbedeutsam und eigengesetzlich ist.« (LA: 232). Vereinfacht gesagt, ein empirisch wie auch immer gearteter Grad von Verselbständigung bedingt ein Maß von Autonomie in der Bildung und Anordnung von Elementen. Neben Religion, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft zählen für Simmel auch Sprache, Moral oder die Mode zur Welt der Kultur, und dies macht die Anwendung von universeller Geltung und Imperativität suggerierender Semantik ungewohnt. Dies gilt zumindest im Kontrast zu einer theoretischen Sichtweise, für die Sprache kein System, aber ein der Systemkonstitution sich zur Verfügung stellendes Medium ist (vgl. Luhmann 1997: 205-230). Diese Unterscheidung war für Simmels Kulturtheorie meines Erachtens nach nicht von Relevanz. Wie eine religiöse Konfession oder ein integriertes Marktsystem besitzt auch eine Sprache eine von keinem partikularen Individuum kontrollierbare Eigendynamik. Und man kann wohl auch von Regeln, wie beispielsweise der Grammatik oder Satzbauregeln sprechen, so wie die Warenproduktion dem Imperativ ihrer »einträglichsten Verwertung« (WK: 369) unterliegt und Preise »das Maß der Tauschbarkeit« von Waren untereinander anzeigen (PDG: 123). Ob Sprache einem funktional analogen Imperativ der Wortschöpfung unterliegt wie die Kreation von Waren, lässt sich bezweifeln, aber darauf kommt es mir hier nicht an. Ich komme zur zweiten Charakteristik von Kulturwelten: Die Vielfalt differenzierter Kulturwelten entstammt konstitutiv der transzendentalen Einheitsform des Lebens. Die Vielfalt unterliegt also einer konstitutionstheoretisch verstandenen, ursprünglichen Einheit. Von Bedeutung ist hierbei das Verhältnis zwischen Kulturwelt und Individualität: dass die differenziellen Strukturprinzipien der Kulturwelten auf entsprechende, differenzielle Prinzipien im individuellen Leben zurückgehen. In der

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Logik des zu Anfang dieses Kapitels genannten Dreierschemas gedacht: (b) geht auf (a) zurück. Es herrscht ein Korrelationsverhältnis zwischen der äußeren, gegenständlich wahrgenommenen Ebene der Kulturwelten und der innerlichen, geistigen Ebene: »Die Bedeutung dieses Gegenstandes dieser Funktionen der Liebe, der Kunst, der Religiosität ist nur die Bedeutung dieser Funktionen selbst.« (DR: 67) Letzteres sind geistige Funktionen.8 Neben dem Funktionsbegriff verwendet Simmel noch andere Begriffe, um den gleichen Sachverhalt auszudrücken. Mit »Apriori« (LA: 275; PDG: 112, 144) und »apriorischen Kategorien« (DR: 47) steht Simmel in begrifflicher Kontinuität zu Kant. Weiter spricht er aber auch von »geistigen Kategorien« (LA: 245), »Funktionsarten des Geistes« (ebd.: 238), bezeichnet dasselbe auch als »formende Kategorien« (DR: 43) oder schlicht als »Energien« (PDG: 618, 619). Die einheitliche theoretische Bedeutung hinter den unterschiedlichen Bezeichnungen ist die eines produktiven Weltbezuges des individuellen Bewusstseins: Die Aprioris formen die allein für sich genommen nicht zugänglichen Inhalte oder Stoffe – Kants Ding an sich – ihrem jeweiligen Prinzip gemäß um »zu einer jeweils in sich geschlossenen, einem unverkennlichen Gesamtprinzip untertanen Welt: die Welt in der Form der Kunst, in der Form der Erkenntnis, in der Form der Religion« (LA: 238). Im Prinzip kann dabei ein und derselbe Inhalt bzw. ein und dasselbe Material Gegenstand unterschiedlicher Welten sein, so wie beispielsweise Kunstwerke einen Preis erhalten, oder das Material einer Statue Gegenstand wissenschaftlicher Analysen sein kann (vgl. PDG: 51-52; LA: 238-40). Es kann auch »im einzelnen Grenzunsicherheiten« geben, ob sich etwas nach einem bestimmten Prinzip formen lässt (ebd.: 238). Aus einer anthropologischen Perspektive haben die Kulturwelten für Simmel den Sinn einer handlungspraktischen Abstraktion. In der Realität hängt alles mit allem zusammen – »ein einheitliches Ineinander« (PDG: 57) –, um aber »von uns bearbeitet zu werden, […] schneidet unsere Praxis aus der äußeren oder inneren Komplexität der Dinge einseitige Reihen heraus und schafft erst so die großen Interessensysteme der Kultur.« (Ebd.: 57-58) Die Verselbständigung der Kulturwelt eröffnet einen Verweisungshorizont, innerhalb dessen sich das Individuum nun bewegen und sein Handeln und Erleben ausrichten kann; die Formbildung ist die Seins-Bedingung individuellen Lebens, erst durch sie schafft es sich eine zu traktierende Objektwelt. Unter Verselbständigung versteht Simmel Objektivität; ein Begriff, der die abstrakte Bedeutung einer von uns unabhängigen, unser Handeln und Erleben in ihr aber formenden Eigenrealität trägt, obgleich und weil wir ihre Schöpfer sind (vgl. LA: 296). In seinen epistemologischen Ausführungen in der »Philosophie des Geldes« führte Simmel die Vorstellung von objektiver Realität auf den empfundenen Widerstand zurück, d. h. die Erfahrung von Nicht-Beliebigkeit (vgl. PDG: 34-35). Die Kulturformen sind Vergegenständlichungen des Bewusstseinsprozesses, die durch diesen Akt der Objektivation aber nicht mehr die »Reinform« des Lebensprozesses besitzen. Das Gerichtet-Sein auf einen außer uns liegenden Objektivierungszusammenhang ist bereits begrifflicher, geformter und nicht mehr ursprünglicher, unvermittelter Natur. Aber die Materialisationen eines apriorischen Funktionsprinzips geben »dem Men-

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Auf den Funktionsbegriff bei Simmel komme ich weiter unten in Kapitel 5.4 dieses Buches zu sprechen.

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schen erst seine Welt« (ebd.: 627); ganz ähnlich, wie ohne das Schema von Ursache und Wirkung nicht die Beobachtung von materiell identifizierbaren Ursache- und Wirkungsverkettungen möglich wäre, obgleich das Beobachtungsschema der Kausalität selbst nicht sichtbar wird (vgl. TGLT: 198-200).9 Das religiöse Apriori, beispielsweise, ist nach Simmel ein »Leben«, welches »auf eine bestimmte, nur ihm eigene Art lebt«, aber so, rein als Apriori beobachtet, sei dieses bloß »Prozeß«, jedoch »noch nicht Gebilde«, d. h. Form (DR: 47; Hervorhebung im Original). Eine Kulturwelt Religion entsteht, indem das religiöse Apriori seinem Prinzip gemäß formend auf die Inhalte zugreift: »Und jenes Leben, jene Funktion muß deshalb, wenn die bezeichenbaren, sozusagen objektiven Religionen entstehen sollen, Inhalte ergreifen und sie formen« (ebd.: 47; Hervorhebung im Original). In der Religion steht das religiöse Individuum religiösen Eigenrealitäten »des Glaubens, der Götter, der Heilstatsachen« (ebd.: 48) gegenüber, die sich durch Forderungen Gottes an das Individuum, aber auch durch dessen Sehnsüchte nach der Erfüllung des Ideals vom eigenen Seelenheil auszeichnen (vgl. ebd.: 95-96, 99).10 Aus der Reproduktionsperspektive der aus dem Leben verselbständigten Kulturwelten ist das individuelle Handeln und Erleben nur noch ausführender Träger partikularer Ideale und Normen. Die eigenlogischen Formen werden selbst »produktiv« (LA: 245), schöpferisch. Das individuelle Handeln ist dann »die Erfüllung einer sachlichen Forderung, […] das Nachzeichnen einer ideellen Vorzeichnung.« (PDG: 623). Auch in der »Lebensanschauung« spricht Simmel von »ideeller Vorzeichnung« durch die Welten, welche »wir mit jeder geistigen Produktivität mehr zu entdecken und zu erobern als zu erschaffen scheinen« (LA: 243). Das individuelle Handeln ist die Verwirklichung bestimmter Ideale (vgl. PDG: 624-25). Dabei handelt es sich immer um »sozusagen die Teilverwirklichung einer Ganzheit« (ebd.: 624).

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Simmels Konzept der Objektivation erinnert semantisch und in der Idee an den Sozialkonstruktivismus Berger/Luckmanns (1969). Objektivationen sind Berger/Luckmann zufolge inter-subjektiv zugängliche Ausdrücke subjektiver Intentionalität. »Das menschliche Ausdrucksvermögen besitzt die Kraft der Objektivation, das heißt, es manifestiert sich in Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit, welche sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt ›begreiflich‹ sind.« (Ebd.: 36) Objektivationen stellen erst eine gemeinsame soziale Wirklichkeit her (vgl. ebd.: 37). Objektivationen können materiale Gegenstände ebenso wie ein Sprach- bzw. Zeichensystem sein. Letztere sind besonders geeignet zur Standardisierung des Gebrauchs (vgl. ebd.: 39). Berger/Luckmann argumentieren nicht lebens- oder transzendentalphilosophisch, sondern über die anthropologische Weltoffenheit des Menschen und dem daraus folgenden Bedarf an Orientierung gebenden Institutionen (ebd.: 49-56). ›Den‹ ideengeschichtlichen Vorläufer Simmels wird es kaum geben. Eine wichtige Quelle Simmels wird die Völkerpsychologie Steinthals/Lazarus’ gewesen sein. 10 Francesca Eva Sara Montemaggi stimme ich vollkommen zu, wenn sie sagt: »Simmel does not abandon Kant, rather he integrates Forms with Leben.« (Montemaggi 2017a: 96; Hervorhebung im Original)

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Das überindividuelle Ideal der Kunst sieht Simmel im »l’art pour l’art« (ebd.: 619; APA: passim).11 Die Welt der Kunst entstammt den Vitalfunktionen des Sehens oder der zwischenmenschlichen Kommunikation (LA: 266-71, 275-76). Das sehende Auge beispielsweise konzentriert sich auf bestimmte Motive im Wahrnehmungsfeld, hebt sie hervor und lässt andere beiseite. Wir arbeiten visuell also immer schon mit dem »Rest, der nach dem Fortfall möglicher Bestandteile übrigbleibt« (ebd.: 269). Deshalb meint Simmel, sind wir immer schon »embryonale Maler« (ebd.: 270). Dies ist eine integrale Facette unseres ganzheitlichen So-Seins als menschliche Wesen. Eine »Wendung zur Idee« findet dem Prinzip nach dann statt, wenn wir ein Material nach einer bestimmten im Bewusstsein liegenden Idee – einem inhaltlich bestimmten Kunststil – umarbeiten, bis das gesehene Bild dieser Idee entspricht. Das für das Sehen typische Hervorheben, Konturieren und Weglassen findet auch jetzt statt, allerdings gemäß einer Idee, die es zu realisieren gilt (vgl. ebd.: 270-71). Als eine »Idee« auf dem Gebiet der Kunst bezeichnet Simmel »die innerlich aufsteigende Vision des Künstlers«, welcher sich das einmal fertige Kunstwerk mehr oder minder annähert (GK: 382). Künstler reproduzieren einen überindividuellen Stil, der »Formgebung« für das einzelne Werk ist, durch den Stil wird das Werk »einem allgemeinen Formgesetz untertan, das auch für andere gilt« (PS: 375). Wir beurteilen Kunstwerke nach der inneren Konsistenz, nach »Gleichheit und Symmetrie der Teile, Entgegengesetztheit und gegenseitige Ergänzung, durchgängiger Rhythmus, Spannung und Lösung, Steigerung und Senkung, Einheit des Größenmaßes, Beharren oder angemessener Wechsel der Stimmung« (GK: 392). Dabei ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Simmel noch einmal innerhalb der Kunst einen Dualismus feststellt: Das einzelne Kunstwerk neige seinem Sinn nach dazu, selbst ein in sich geschlossenes Ganzes zu sein, welches die überindividuelle Formgebung durch einen bestimmten Stil ablehnt und an dessen Stelle sein »individuelles Gesetz« setzt. In diesem Falle sind sie SeinsObjektivierungen von Künstlerpersönlichkeiten wie beispielsweise Michelangelo (vgl. APA: 10-11; PS: 374-79). Es ist dann ihr »individuelles Gesetz«, welches sich ganz im Kunstwerk objektiviert (vgl. PDG: 629-30). Simmels Beispiel für das Prinzip der Ideenwende auf dem Feld der Kunst ist ein Stein, der Ähnlichkeiten mit einem Fisch hat. Die wahrgenommene Ähnlichkeit sei zunächst nur »assoziativpsychologisches Ereignis« (LA: 270). Wenn wir mit dieser Idee im Bewusstsein aber nun an den Stein herangehen und diese Ähnlichkeit aktiv herausarbeiten, handeln wir künstlerisch: »Zuerst hat die Steingestalt zur Idee des Fisches geführt, dann aber die anschauliche Idee des Fisches zu einer Steingestalt.« (Ebd.: 270-71). Das Beispiel aus der Kunst, die Idee des Fisches an einem bestimmten Material herauszuarbeiten ist ferner repräsentativ für das Attribut der Kulturwelten, »produktiv« zu wirken (ebd.: 245). Sie werden zu »selbständigen Bildnern eigenwertiger Formationen« (ebd.: 255). Unabhängig von der Herausdifferenzierung einer Kunstwelt sind wir im Alltagsleben natürlich weiterhin auf das ›Normalfunktionieren‹ des Auges angewiesen. Eine »Ideenwende« bedeutet nicht Überflüssigwerden der ursprünglichen Lebensfunktion, aus der heraus sich eine Kulturwelt konstitutiv und historisch entwi-

11 Mir ist bewusst, dass meine Darstellung der Kunsttheorie Simmels im Rahmen dieser Arbeit nur eine unvollständige sein kann. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie Simmels verweise ich interessierte Leser auf das Buch von Ute Faath (1998).

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ckelt. Denn, um beim Beispiel zu bleiben, unser Sehapparat funktioniert ja nach wie vor noch. Anzunehmen ist aber nach Simmel, dass die Kunst auf unsere Art und Weise der optischen Wahrnehmung zurückwirkt (vgl. ebd.: 274-75; PDG: 615). Ähnlich, unter Umständen den Alltag durchdringender ist das analoge Phänomen aus der Wissenschaft, dass »eine feststehende Wahrheit da [ist], die es sich anzueignen und auf die es unser Handeln einzustellen gilt.« (LA: 260). Gluten und GlutenUnverträglichkeit werden als Grund chronischer Verdauungsbeschwerden lokalisiert, und Zubereitung von Essen wie Verzehrroutinen haben sich auf dieses Wissen einzustellen. Die Eigenständigkeit der Kulturwelt ist also zweiseitiger Natur: Nicht nur die ›Produzenten‹, sondern auch die ›Konsumenten‹ einer Kulturwelt zeichnen ein Ideal nach (vgl. PDG: 623; LA: 243). Auf die Wissenschaft bezogen besitzt das Erkennen ursprünglich die vitalpragmatische Bedeutung für den Organismus, eine »Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns« herzustellen (ebd.: 260). Wahrheit ist unsere Wahrheit, die sich daran festmacht, dass wir eben weiter leben (vgl. ebd.: 257). Leben ist Erkennen, der Organismus mitsamt seinem Erkenntnisapparat ist – um es salopp zu sagen – eine fleischgewordene Hypothese. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Simmel sagt, der Erkenntnisprozess sei »eine Szene des Lebens selbst« (ebd.: 258), »ein Stück dieses Verhaltens und dieser Welt« (ebd.: 257). Mit ein wenig Vorsicht könnte man diese Position Simmels im Sinne einer evolutionären Erkenntnistheorie deuten, zu der Simmel selbst 1895 einen Beitrag skizziert hat (»Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie«): Vorstellungsbasiertes Handeln erfährt Rückwirkungen durch die Umwelt, in der sich der Organismus bewegt. Wahr ist dann ursprünglich, was sich als dem (weiteren) Überleben dienlich herausselektiert wird: »Dass der Handelnde sich jetzt nach der erkannten Wahrheit richtet, und zwar mit gutem Erfolg, wird dadurch verständlich, dass sich ursprünglich die ›Wahrheit‹ nach dem Handeln und seinen Erfolgen gerichtet hat.« (UBSE: 73) Das Vitalkriterium des Überlebens bleibt auch später das externe Letztfundament des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses als Ganzem, denn Wissenschaft als Ganzes kann durch kein internes Kriterium als etwas Wahres erwiesen werden (vgl. LA: 263-64; PDG: 102-03).12 Die genannte externe Basis wissenschaftlicher Forschung gegeben, besitzt die Wissenschaft interne Regeln, nach denen Erkenntnisse produziert werden: »Kausalität, induktive und deduktive Erschließbarkeit, systematische Ordnung, Kriterien der Tatsachenfeststellung usw.« (LA: 261). Die Eigenständigkeit des »Wissenschaftskosmos« zeichne es aus, in einer »jede weitere Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren Gegenstand – als Inhalt der Wissenschaft – selbst [zu] schaffen.« (LA: 264; Hervorhebung im Original). Korrespondierend dazu charakterisiert Simmel die Kulturwelten als von »unbegrenzter Kapazität« (ebd.: 255). Es mag zwar eine intern definierte »Qualitätsgrenze« geben, aber keine »Quantitätsgrenze« von Inhalten (TDK: 219). Kulturwelten besitzen ihrem idealen Anspruch nach einen Allumfänglichkeitscharakter, gleichzeitig konstatiert Simmel eine historisch-empirische Kapazitätsgrenze: So bilde die Kunst unterschiedliche Kunststile aus, die jeweils nicht alle Inhalte in

12 Zur Aktualität von Simmels Erkenntnistheorie vgl. den Beitrag von Johannes Steizinger (2015).

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ein und dieselbe Form pressen können (vgl. LA: 240-41). Inhalte können also scheinbar eine Art ihnen innewohnende Widerständigkeit aufweisen, die sie einer bestimmten Form gegenüber sperrig erscheinen lassen. Ähnlich findet in der Wissenschaft eine »arbeitsteilige Zerlegung« der »Totalität des Dinges und der Dinge« in den perspektivischen Zugriff unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen statt (SOZ: 16). Das für Simmels Soziologie konstitutive Prinzip wissenschaftlicher Abstraktion nach Form und Inhalt ist ein Beispiel. Die empirische Realisierung des differenten Prinzips einer Kulturwelt funktioniert also nur unvollständig, was aber für Simmel nichts am ebenso real wirksamen Anspruch ändert, das Ideal an möglichst allen Inhalten zur gegenständlichen Form zu materialisieren. Mit Bezug auf die Wissenschaft beschreibt Simmel es als eine Art Möglichkeitshorizont des Ideals einer vollendeten Wissenschaft: »Wäre nun diese ideozentrische Einstellung an allen überhaupt möglichen Inhalten vollbracht; würden sie alle diejenige Form, denjenigen Gesamtzusammenhang zeigen, die die Alleinherrschaft der Erkenntnisgesetze ihnen auferlegt – so wäre die Wissenschaft vollendet.« (LA: 262) Paradebeispiel inhaltlicher Widerständigkeit gegen die monetär vermittelte Eintauschbewegung bildet in Simmels Geldphilosophie der kraft seines Materials beharrende und lange Zeit unverkäufliche bzw. schwer zu verkaufende Grund und Boden. Aber auch er unterliegt schließlich dem Einzug in den ökonomischen Kosmos. Zusammengefasst: Es existiert für Simmel eine Art Universalisierungsanspruch seitens der Welten, der auf eine materielle Widerständigkeit der Inhalte trifft, die aus einer anderen Perspektive betrachtet eine bestimmt geartete Form bilden. Ebenso bleibt die Totalität des Menschen der Ökonomie gegenüber außen vor: Die absolute Unantastbarkeit der Menschenwürde ist für Simmel interessanterweise das ethische Korrelat zur Amoral der geldwerten Ware Arbeitskraft (ausführlicher dazu in Kapitel 8.4.3 und 8.5 dieses Buches). Unabhängig von der bestimmten Methode begründen sich in der Wissenschaft Erkenntnisse durch Verweis auf andere Erkenntnisse (vgl. ebd.: 263; PDG: 99-103). »Wahrheit«, so Simmel, sei »ein Verhältnisbegriff« (ebd.: 100). Wenn Simmel von »Wahrheitswert« (ebd.: 102) oder von Menschen als Trägern des »Wahrheitswertes« (LA: 263) spricht, dann in jenem paradigmatischen Sinne der »Philosophie des Geldes«. Simmels in der »Philosophie des Geldes« zum ersten Mal ausbuchstabierte Werttheorie hatte vordergründig die Klärung der Frage zum Gegenstand, ob Werte subjektiver oder objektiver Natur sind.13 Den eigentlichen Knackpunkt verrät jedoch Simmels Briefwechsel mit Heinrich Rickert: Er sei in seiner Werttheorie auf das Problem gestoßen, dass »absolute und objektive Werthe Anspruch auf Anerkennung machten.« (PDG: 727) Dass der ökonomische, religiöse, künstlerische oder Wahrheitswert eines bestimmten Inhaltes sich relativ zu anderen ökonomischen, religiösen, künstlerischen oder Wahrheitswerten konstituiert, bildete denn auch nicht den Kern der Argumentation des ersten Kapitels von »Wert und Geld«. Es ging Simmel gerade darum, ob und wie angesichts der Feststellung absoluter Forderungen eine relativistische Theorie des Wertes aufrechterhalten werden könnte, wonach »der Werth

13 Ausführliches zur Werttheorie lässt sich nachlesen bei Natàlia Cantó y Milà 2000 und 2005. Soweit ich sehen kann, verknüpft sie die Werttheorie nicht mit der Konstitution von Kultur- und Lebensformen.

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von A auf den von B, oder der von B nur auf den von A gegründet ist« (ebd.: 727).14 Das Wechselwirkungstheorem war ja – wie schon gezeigt – bereits mit den einleitenden erkenntnistheoretischen Bemerkungen zur »Socialen Differenzierung« eingeführt. Hier lag nicht der Neuheitswert der »Philosophie des Geldes«, auch wenn Simmel – dies ist gleichfalls wichtig – das Wechselwirkungstheorem nicht über Bord geworfen hat. Sondern: Der Neuigkeitswert lag in der Möglichkeit der Verselbständigung eines eigenen, objektiven Wertbereiches aus der ursprünglichen Subjektivität des Wertes, derart, dass sich die Psychologie eines begehrenden bzw. geforderten Subjekts ausgestaltet; d. h. die Psyche wird zum Derivat seines eigenes Derivats – seiner Schöpfung. Und hierfür war die Relativität der Ökonomie nur das Musterbeispiel. Hierfür bedarf es eines modifizierten Blickes auf das allgemeine dualistische Wechselspiel zwischen dem individuellen Leben und der überindividuellen Form. Einheit ist eine Funktion des Geistes, so Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes« (vgl. ebd.: 246). Diese Grundannahme bewahrt sich Simmel in der »Lebensanschauung«: Der Geist objektiviert sich in einer durch seine »Formungskräfte […] vereinheitlichten ›Welt‹« (LA: 238). »Einheit im empirischen Sinne« aber, so Simmel, »ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen« (SOZ: 18; ganz ähnlich auch in PDG: 104). Im Unterschied zu früheren Konzeptionen verdankt sich die Einheitsform der Wechselwirkung ab der »Philosophie des Geldes« dem apriorischen Prinzip des Lebens, das sich in den nach einem jeweils bestimmten Ideal reproduzierenden Kulturwelten der Wissenschaft, Religion oder Wirtschaft objektiviert. Die Annahme jedoch, dass letztere aus und gegen das Leben sich verselbständigende Formen sind, impliziert das, was Simmel in der »Philosophie des Geldes« – mit Bezug auf das Geld – »Doppelrolle« (ebd.: 126), in der »Religion« die Gleichzeitigkeit des »Drinnen und Draußen« (DR: 86) nennt. Denn »doppelt« – und dualistisch – ist das Verhältnis des individuellen Lebens zur Form: Es objektiviert sich (a) in eine das Individuum umgreifende eigengesetzliche Form der Wechselwirkung, welche (b) dem Individuum zugleich gegenübertritt. Das singuläre Objekt, auf welches sich das Individuum bezieht und dem es gegenübersteht, erhält seinen Wert und seine Bedeutung aus dem die singuläre und konkrete Wechselwirkung übergreifenden Zusammenhang mit den anderen Objekten. Und dieser Zusammenhang wird im »letzten Grund« durch die aus dem Individuum kommende Funktion gestiftet.15 Umgekehrt gesehen funktioniert unser intentionaler Weltzugang Simmel zufolge nur in der Form des Konkreten, Singulären und Einzelnen, die ihren Sinn aus dem die Situation transzendierenden Objektivationszusammenhang ziehen. Mit diesen Überlegungen und musterhaft vorgeführt am Gegenstand des Geldes beendete Simmel seine werttheoretischen Überlegungen zum Geld (vgl. PDG: 135-138). Indem die Elemente einer Kulturwelt sich nur noch wechselseitig ihren religiösen Wert oder ihren Wahrheitswert zuschreiben, tritt die Kulturwelt dem Individuum als

14 Auf den Brief an Heinrich Rickert rekurriert die Sekundärliteratur regelmäßig, sobald es um Simmels Werttheorie geht (vgl. Deutschmann 2008: 44; Paul 2012: 84). 15 Diese von Simmel in der »Philosophie des Geldes« vollzogene lebensphilosophische Wende – nicht: Bruch – mit dem Wechselwirkungstheorem ist meines Erachtens in der Sekundärliteratur unbemerkt geblieben.

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eine nur noch symbolisch zugängige Totalität gegenüber. Beides, Distanz und relationale Konstitution, sind für Simmel untrennbar miteinander verflochten: »[E]rst die Relativität [schafft] den Wert der Objekte im objektiven Sinne […], weil erst durch sie die Dinge in eine Distanz vom Subjekt gestellt werden.« (Ebd.: 135) Obgleich der – nicht nur ökonomische – Wert aus dem Individuum kommt, gewinnt er eine vom Leben unabhängige Existenzform; der Wert kommt aber auch nicht den Dingen als inhärente Eigenschaft selbst zu: »Gewiß ist jeder Wert, den wir fühlen, insoweit eben ein Gefühl; allein, was wir mit diesem Gefühl meinen, ist ein an und für sich bedeutsamer Inhalt, der von dem Gefühl zwar realisiert wird, aber mit ihm nicht identisch ist und sich mit ihm nicht erschöpft.« (Ebd.: 36; Hervorhebung im Original) Das einzig »Subjektive« sei »hier nur der dynamische Akt des Vorstellens, die Funktion, die jenen Inhalt aufnimmt; er selbst wird gerade als etwas von diesem Vorgestelltwerden Unabhängiges gedacht. Unser Geist hat die merkwürdige Fähigkeit, Inhalte als von ihrem Gedachtwerden unabhängig zu denken – eine primäre, keiner weiteren Reduktion fähige Eigenschaft seiner; solche Inhalte haben ihre begrifflichen oder sachlichen Bestimmtheiten und Zusammenhänge, die zwar vorgestellt werden können, aber darin nicht aufgehen, sondern gelten, gleichviel, ob sie von meinem Vorstellen aufgenommen werden oder nicht […]: der Inhalt eines Vorstellens fällt mit dem Vorstellen des Inhalts nicht zusammen.« (Ebd.: 32; Hervorhebung PB)

Noch in der »Lebensanschauung« beschreibt Simmel das individuelle Erleben ähnlich: »Tatsächlich werden alle unsere Gedankeninhalte von dem mehr oder weniger deutlichen Gefühl begleitet: dass ein jeder sozusagen irgendwohin gehört. […] So sind also unsere sämtlichen, aktiv oder passiv erlebten seelischen Inhalte Fragmente von Welten, deren jedes eine besonders geformte Totalität von Weltinhalten bedeutet.« (LA: 243)

Dies beschreibt die Erlebnisform der sich aus dem Individuum verselbständigten Kulturwelten. Der Verselbständigungsakt der Form fühlt sich irgendwie an. Die Wertform von Elementen ist Mehr-als-Leben, weder subjektiv noch objektiv im Sinne von den Elementen selbst zukommender Eigenschaften. Die Wertform, so Simmel, »ist vielmehr ein Drittes, Ideelles, das zwar in jene Zweiheit [zwischen Subjekt und Objekt] eingeht, aber nicht in ihr aufgeht. […] Diese Form ist als Forderung oder Anspruch zu bezeichnen.« (PDG: 36-37; Hervorhebung PB) Die psychologisch empfundenen Ansprüche oder Forderungen sind Forderungen »des Anerkanntwerdens« (ebd.: 38) einer »Eigenwertigkeit« (ebd.: 619) seitens der Kulturwelten, »der ästhetischen, wissenschaftlichen, sittlichen, eudämonistischen, […] der religiösen Leistung« (ebd.: 619). Deshalb wird Simmel noch später als Typik psychologischer Teilhabe an den Kulturwelten das Gefühl einer »sachlichen Forderung« beschreiben (ebd.: 625). Für die Kunst schreibt Simmel über den »Maßstab rein künstlerischer Forderungen (WK: 369), die »immanenten Forderungen der Kunst« (LA: 277; Hervorhebung im Original), und »das künstlerische Gestalten« geschehe »nur um der Forderungen seiner eigenen Form willen« (ebd.: 272). Im

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Rechtssystem meint Simmel, eine »Absolutheit der Rechtsforderung« festzustellen, »fiat justitia, pereat mundus.« (Ebd.: 290)16 Ferner gebe es eine konstatierbare, wirksame »objektive Gerechtigkeitsforderung« nach »Realisierung einer Wertlogik« des Rechts (ebd.: 291). In der Wissenschaft gebe es die »Forderung«, die »als Eigenwerte betrachteten Erkenntnisformen auf die Inhalte anzuwenden« (ebd.: 262). Diese psychologische Empfindung von Forderungen und Ansprüchen geht auf die dualistische Konstellation der Wechselwirkung zurück: Das Individuum steht den Dingen gegenüber, auch wenn es zugleich Teil und Element eines eigengesetzlichen Ganzen ist. Erneut ist dies die Form, in der sich die Paradoxie von individueller Freiheit und Bindung an die Form praktisch entfaltet. So kann es in dem Reich eines allumfassenden Gottes eigentlich keinen Raum für Individualität geben. Die tatsächlich auftretenden »religiösen Affekte« seien dann aber »im wesentlichen daran gebunden, daß der Gläubige sich seinem Gotte gegenüber fühlt« (DR: 110). Das religiöse Individuum tritt in Wechselwirkung mit Gott, der ihn doch zugleich umgreift. Aus dieser Position des Gegenüber erst lässt sich überhaupt über die Disponibilität eines »ideellen Anspruches« auf »absolute Allumfassung« durch Gott sprechen (ebd.: 109); und es lässt sich auch erst das Phänomen erklären, dass ein allmächtiger Gott das individuelle Seelenheil erst »zu gewinnen gebietet«, wie auch den möglichen, aber nicht zwingenden »Gehorsam gegen den göttlichen Willen« (ebd.: 98-99; Hervorhebung im Original). Wenn auch ein – je nach Konfession inhaltlich und historisch unterschiedlich artikuliertes – Ideal, könne es eine vollständige Verschmelzung mit Gott, ein InEins-Sein mit ihm nicht geben, und dies gilt auch für die mystische Praxis (vgl. SOZ: 53-54). Komplementär zur Forderung entsteht mit dem Gegenüber einer eigenen Wertordnung das psychologische Empfinden eines Objektbegehrens: »[S]o ist die Möglichkeit des Begehrens die Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens.« (PDG: 34) Die Dinge müssen sich aus ihrer – wie auch immer im Näheren gearteten – Unmittelbarkeit der Verflechtung mit dem Leben gelöst und sich dem Leben gegenübergestellt haben, um dann wieder begehrt zu werden (vgl. ebd.: 33). Simmel verwendet dafür den symbolischen Begriff der »Distanz« bzw. »Distanzierung« (ebd.: 45, 48, 49), ohne sich damit auf eine allein räumliche oder allein sachliche Bedeutung festzulegen.17 Simmel fängt mit dem Begehren die alltagspsychologische Beobachtung ein, dass man gerade das besonders wertschätzen mag, was sich einem entzieht oder was man nicht hat (vgl. ebd.: 34, 43). Das Begehren ist nicht nur das psychologische Komplement zur Sachforderung, sondern korreliert mit der Verselbständigung einer eigenwertigen Objektwelt aus dem Individuum: »Der Wert«, so Simmel, entstehe »gleichzeitig mit dem begehrenden Ich und als sein Korrelat in einem und demselben Differenzierungsprozess« (ebd.: 35). Aus ihrer Struktur heraus ist nach Simmel »der Sinn jener Distanz […], daß sie überwunden werde.« (Ebd.: 49) Auf die Überwindung der Distanz zum begehrten Gegenstand erfolgt – in einem idealtypischen Sinne – »Be-

16 »Fiat justitia, pereat mundus« ist lateinisch und lässt sich folgendermaßen übersetzen: »Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.« 17 Ausführlich hat sich Klaus Lichtblau mit der philosophischen Theorie und den nietzscheanischen Wurzeln des Distanzbegriffs bei Simmel beschäftigt (vgl. Lichtblau 1984).

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friedigung« (ebd.: 43), alternativ spricht Simmel auch von »Genuß« (ebd.: 53; vgl. auch ebd.: 42). Neben dem ökonomischen Begehren nach Waren und deren – antizipierter wie echter – Befriedigung finden wir beispielsweise auf dem Gebiet der Kunst »das ästhetische Bedürfnis« (SÄ: 202) einerseits, eine »ästhetische Freude an der bloßen Form und Anschauung des Objekts« (PDG: 48) andererseits. Dabei verhalte es sich in der Kunst nach Simmel so, dass Kunstwerke »für die Befriedigung eines Bedürfnisses bestimmt sind, das sie selbst erst in dem Augenblick wecken, wo ihr Dasein es befriedigt.« (GK: 384) Für die Religion konstatiert Simmel, »das religiöse Bedürfnis« nach dem »Gewinn des Heils« (DR: 95-96). Die »Verringerung« der Distanz des religiösen Individuums zum göttlichen »Gegenüber« würde »ihr Glück und ihre Kraft steigern, aber mit seiner absoluten Aufhebung würde der ganze für uns ausdenkbare Sinn und Inhalt der Religiosität in nichts versinken.« (Ebd.: 111; Hervorhebung im Original) Versinken deshalb, weil Religiosität ihren Sinn gerade in dem Hin und Her zwischen religiösem Begehren und religiöser Befriedigung an einem Objektbereich der Kulturwelt Religion besitzt (vgl. PRL: 151-53). Ohne religiöses Begehren keine Religion. Es muss gesagt werden, dass dem Dual von Begehren und Befriedigung in der Kultur- und Lebensphilosophie Simmels nicht die gleiche Prononcierung seinerseits zuwächst wie seinem Insistieren auf Eigengesetzlichkeit. So lässt sich für die Wissenschaft oder »die Welt des Rechts« (LA: 289) keine entsprechende Dualität von Bedürfnis und Befriedigung finden. Andererseits schreibt Simmel in seiner »Kulturtragödie« sehr allgemein von den durch die Kulturprodukte erweckten »Velleitäten« (TDK: 220) – Wünschen –, den »Versuchungen« durch die »Dinge« und einem allgemeinen »Angeregtsein des Kulturmenschen« (ebd.: 222-23). Die zeitgenössische Verselbständigung der Kulturwelt schlug sich für Simmel auch in einer veränderten psychologischen Zuständlichkeit nieder. Das Erleben von Zuständen des Begehrens wie der Ansprüche und Anforderungen besitzt aus der Perspektive der Kulturwelten ihre einheitliche Funktion in deren Reproduktion: Sie bilden »das psychologische Vehikel« (PDG: 624), durch welches sich die nicht-greifbare Einheit der jeweils unterschiedlichen Ideale materiell realisiert: »Und so ist dies schließlich die Formel unseres Lebens überhaupt, von der banalen Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit: in allem Wirken haben wir eine Norm, einen Maßstab, eine ideell vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der Realität übergeführt wird.« (Ebd.: 624) Es ist also gerade wichtig, die hier vorliegenden Überlegungen Simmels zum psychologischen Erleben lebensphilosophisch umzuinterpretieren. Wahrheit besitzt so die Form einer durch Beweis herbeigeführten »psychologischen Konstellation«, sie ist ein »Fürwahrhalten«, »ein gewisses Gefühl« (ebd.: 623; Hervorhebung im Original), welches sich weiter als ein »Gefühl der Bejahung, der Zustimmung« psychologisch manifestiert (ebd.: 624) Die individuelle Psyche erfüllt ein »ideelles Programm« (ebd.: 624) – die schöpferische Reproduktion der Kulturwelten. Die Differenz von Begehren und Befriedigung wie die von Idealität und Realität etabliert sich als etwas Dauerhaftes, die nie vollständig abgearbeitet werden kann, denn die Einheit des Lebens kann nur sein im Werden an Objekten. Unser produktiver Beitrag besitzt anteilig gesehen das, was Simmel »Fragmentcharakter« nennt (LA: 243). Selbiges trifft

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auch auf unsere Fähigkeit zu, die bereits produzierten Kulturinhalte zu absorbieren. »Unsere praktische Existenz«, so Simmel an anderer Stelle, sei »unzulänglich und fragmentarisch« (PDG: 624). Die Differenz zur »Totalität« der Kulturwelten bleibt. Dieser Aspekt wird später von Wichtigkeit sein. Dass Menschliches Handeln und Erleben sich an Idealen orientiert und innerhalb dieser Ideale konkrete Interessen (= Begehren) ausbildet, diese Annahme teilt Simmel mit Max Weber.18 Während Weber weniger an einer transzendentaltheoretischen Begründung und mehr an einem inhaltlichen Vergleich kultureller Ideale interessiert war, galt Simmels Interesse eher umgekehrt der Formkonstitution denn den unterschiedlichen Inhalten der Form. Simmel lehnt eine hypostasierende Behauptung über den Status der Kulturwelten ab: Wenn sie idealer Natur sind, können sie nicht substanziellen Wesens sein. Die Substanz stellt Simmel umgekehrt in den Symbolisierungsdienst der Funktion. Beispiele dafür sind Geld und Kirche: Rein Funktional betrachtet besitzen sie ihren Sinn allein in der Synthese ökonomischer oder religiöser Wechselwirkungen (vgl. die Kapitel 7.2.6, 8.2.3, 8.2.4 in diesem Buch). Ebenso, wenn auch anders verhält es sich mit den Inhalten der Kulturwelten: Sie mögen auf materieller Grundlage beruhen. Ihre Bedeutung erhalten sie aus der objektivierten Idee bzw. der apriorischen Funktion, unter der sie erst miteinander einen Verflechtungszusammenhang, und d. h. eben eine Einheitsform bilden. Ebenso ist das materielle Begehren ein Begehren innerhalb der Schneise von Ideen. Simmel gibt keine abschließende Liste oder definitive Kriterien an die Hand, an der sich Kulturformen als solche identifizieren lassen. Dies zeigt sich beispielhaft an dem unklaren Status der Liebe bei Simmel. In seinem posthum erschienen Fragment »Über die Liebe« benennt Simmel die »Achsendrehung, durch die diese Anziehung [der Geschlechter] Liebe wird, d. h. in das Reich des Lebensgleichgültigen, gegen alle Zeugung und Vermittlung Fremden sich hebt.« (ÜDL: 135, Hervorhebung PB) Ursprünglich sei das Begehren des anderen Geschlechts eine Vitalfunktion der »biologische[n] Bedeutung der Anziehung der Geschlechter« (LA: 254), d. h. das Verlangen des anderen besitzt Reproduktionsfunktion, und das psychologische Begehren ist Derivat des Lebens. In der aus den Reproduktionszwecken des Lebens sich verselbständigten Form dagegen richtet sich das Begehren auf eine bestimmte Individualität, in deren Anerkennung als eine für sich seiende Individualität das Wesen der Liebe besteht (vgl. Lichtblau 1997: 108). Das Anerkennen des Für-Sich des anderen wird zur Bedingung des (legitimen) erotischen Begehrens: »Das eben ist doch das Wunder der Liebe, dass sie das Fürsichsein des Ich wie des Du nicht aufhebt, ja es zur Bedingung macht, unter der jene Aufhebung der Distanz, des egoistischen Rückkehrens des Lebenswillens auf sich selbst erfolgt.« (ÜDL: 118; Hervorhebung PB) Dieses Verhältnis zum Gegenüber ist keine Relation zu einer bestimmten Eigenschaft oder zu einem bestimmt qualifizierten Anderssein, sondern ein »Verhältnis zum Totalbild

18 Zum Gegenstand breiter exegetischer Deutung bei Weber ist der folgende Satz geworden: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ›Weltbilder‹, welche durch ›Ideen‹ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.« (Weber 1988a: 252) Zur Deutung dieses Satzes in der Weber-Exegese vgl. Tenbruck 1975: 684-85.

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des Menschen, dem eigentlichen Gegenstand der Erotik, das sich jeder Festlegung auf bestimmte Eigenschaften entzieht.« (Ebd.: 145; Hervorhebung PB) Simmel spricht im Kontext der Liebe denn auch von der »Eigengesetzlichkeit« der das Leben übergreifenden Form (ebd.: 144). Dennoch, weder Liebe noch Erotik sind Gegenstände der kulturphilosophischen Schilderungen eigenlogischer Formen, an denen sich das individuelle Leben kultiviert. Ebenso kommentiert Simmel in der »Lebensanschauung« unmittelbar nach dem Abschnitt zur – nicht ganz trennscharf gleichgesetzten – Liebe und Erotik, dass es sich dabei nicht um »jenes Erwachsen von ›Welten‹« handele (LA: 255). Liebe könnte deshalb unter Umständen keine Kulturwelt sein, weil sie ihrem Wesen nach eine soziale Form der Wechselwirkung ist. Sie nimmt nicht nur Soziales als Rohstoff in Anspruch – dies tun auch die (anderen) Kulturwelten –, sondern sie ist ihrem Prinzip nach auf das »Du« als Totalität gerichtet. Die Eigenständigkeit des »Dus« ist nach Simmel aber zugleich eine grundlegende Voraussetzung von Vergesellschaftung (vgl. Kapitel 6.3 dieses Buches). Wo Simmel von Forderungen, Ansprüchen und dem Eigenwertcharakter der Kulturwelten spricht, liegt ein Vergleich mit Max Webers Begriff des wertrationalen Handels nahe. Den Idealtypus wertrationalen Handelns definierte Weber als »ein Handeln nach ›Geboten‹ oder gemäß ›Forderungen‹, die der Handelnde an sich gestellt glaubt. Nur soweit menschliches Handeln sich an solchen Forderungen orientiert […], wollen wir von Wertrationalität reden.« (Weber 2010: 18) Das Handeln aus Glauben an einen bestimmten Wert unterliegt dem kulturtheoretischen Konzept der Wertsphären-Differenzierung bei Weber (vgl. Weber 1988a: 536-573; Schwinn 2001: 153-207). In Unterscheidung zu Weber möchte Simmel die Kulturwelten allerdings nicht als teleologische Gebilde begreifen. Er unterscheidet die Form von der Psychologie des Zweckhandelns. Diesem Punkt widme ich mich nun.

5.4 ZWECK UND FUNKTION Simmel begreift den Tatbestand historisch ausdifferenzierter Kulturwelten im Kantianischen Sinne als historische Erschließung eines Reiches menschlicher Freiheit: »Alle Gebilde des spezifisch menschlichen Daseins scheinen freilich […] die Stufe der Zweckmäßigkeit durchgemacht zu haben, ehe sie in die des reinen Fürsichseins, d. h. der Freibeit, aufgestiegen sind. […] Und frei sind wir in dem idealen Reiche […]. Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat. Freiheit ist nicht Lösung vom terminus a quo, sondern vom terminus ad quem. Daher der Eindruck von Freiheit bei Kunst, Wissenschaft, Moral, wirklicher Religiosität« (LA: 250-51).

Mit der Annahme, dass Freiheit und Zwang – oder Bindung an die Gesetzlichkeit der Form – sich nicht ausschließen müssen, dass die Bindung an die Eigengesetzlichkeit der Kulturwelten Freiheit erst hervorbringt, damit steht Simmel noch in der »Lebensanschauung« in der geistes-geschichtlichen Kontinuität seines eigenen Denkens. »Der Gegensatz zur Freiheit«, so Simmel, sei »vielmehr die Zweckmäßigkeit.« (Ebd.: 251). Unter Zweckmäßigkeit versteht Simmel aber nicht das zweckgerichtete

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Handeln, sondern die »Enge des Gebundenseins an die körperliche Apriorität« (ebd.: 248), die Beschränkung »auf die unmittelbare Auswirkung seiner Körperlichkeit« (ebd.: 247), die Geringfügigkeit des individuellen »Aktionsradius« (ebd.: 247). Simmel beschreibt Zweckmäßigkeit vorrangig in Termini biologischer Determination individuellen Verhaltens. Dafür spricht auch die Rede vom »vitalen Automatismus seines Leibes« (ebd.: 248). Im Gegensatz dazu könne »der bewusste Geist und Wille sich in beliebige Entfernung von den innerleiblichen, strukturgegebenen Bewegungen und ihrer ganz unmittelbaren Auswirkung« bewegen (ebd.: 247), worunter nicht nur die Bewegung im Raum falle, sondern ganz allgemein die »qualitativen und differenziellen Eingriffe des Menschen in die Umwelt.« (Ebd.: 248). In einem hypothetischen Gedankengang bemisst Simmel Ausmaß und Umfang individueller Freiheit an dem Ausmaß und Umfang der Vergeistigung der Welt: »Wären wir reiner Geist, d. h. wäre unser Verhalten gar nicht mehr als Teil oder Fortsetzung der unwillkürlichen Zweckmäßigkeit unserer körperlichen Organisation zu denken, so wären wir von der Kategorie des Zweckes prinzipiell unabhängig geworden.« (Ebd.: 249) Simmels »Wende zur Idee« unterliegt zwar explizit die Annahme eines historischen Prozesses (vgl. ebd.: 245). Simmel will aber der Sache nach – dies ist ein gewichtiger Unterschied zu Max Weber – nicht auf Geschichte hinaus, sondern auf das Funktionsprinzip der »Wende« für sich genommen: Wie »aus dem Wissen, das nur um praktischer Zwecke willen erworben wird, die Wissenschaft sich erhebt, aus gewissen vital-teleologischen Elementen die Kunst, die Religion, das Recht usw.« (Ebd.: 245) Das künstlerische Gestalten führt Simmel beispielsweise auf die Gegebenheit einer unmittelbaren Lokalgebundenheit eines psycho-physischen Lebens zurück, die die Sinneseindrücke von sich aus ordnet: Mit der Existenz eines individuellen Lebens sei ein »Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das gleichmäßige Nebeneinander der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder perspektivische Ordnung um den Kopf des Anschauenden herum überführt.« (Ebd.: 266) Die Selektivität des Sehens wie der Anschauung der Dinge ist »vitale Praxis« (LA: 271) und »vom Leben und seiner praktischen Eingerichtetheit« getragen (ebd.: 267). Sehen ist Leben. Auch das zunächst »vital bestimmte ›Erkennen‹« erfüllt eine »vitale Zweckmäßigkeit« (ebd.: 251). Dass wir beispielsweise Ereignisse nach Ursache und Wirkung wahrnehmen, ist »Form und Bedingung für unsere praktisch reale Wirksamkeit in der Welt« (ebd.: 261). Die intellektuellen Kategorien des Verstandes »ermöglichen […] die tatsächliche Verbindung zwischen den Inhalten der Welt und uns; um der dazu erforderlichen Bearbeitung der Inhalte willen sind sie da.« (Ebd.: 260) Denken und Erkennen, auch dies ist Leben, weil die Formen des Erkennens – wie das Sehen – Formen sind, durch welche sich das Leben vollzieht – »reale Pulsschläge realen Lebens« (ebd.: 258). Das Leben selbst ist die Hypothese seines eigenen Funktionierens. Schließlich gilt in konstitutionstheoretischer Hinsicht von Anfang an: Leben ist Form. Die Kulturwelten begründen sich in apriorischen Funktionen, die das Leben zunächst in der Unmittelbarkeit und Lokalität seiner Umgebung ausgebildet hat. Sie sind zweckmäßig, aber das individuelle Leben ist nicht frei. Sozialtheoretisch entspricht dem die Kontinuität, mit der Simmel gerade und im Unterschied zu dem sogenannten »Kulturmenschen« (PDG: 256) für den »Naturmenschen« (ebd.: 256) und die Ursprungsformen der Vergesellschaftung ein in fast jeder Hinsicht fast nicht vorhandenes Maß an individueller Freiheit konstatiert (vgl. ebd.: 469; SOZ: 797). Ebenso bewegt sich Simmel auf der Linie seiner Ausführungen in der »Lebensanschau-

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ung«, wenn Simmel in der »Philosophie des Geldes« einerseits eine bis in seine Gegenwart hineinreichende »steigende Vergeistigung des Geldes« (PDG: 246) beobachtet – das Geldmaterial dient der Funktion des Austausches –, andererseits dem Geld die Schaffung einer wirklich »welt«-umfassenden, individuellen Bewegungsfreiheit in der Raum-, Zeit-, Sach- und Sozialdimension zugestattet. In der Schöpfung der Geldform bewältigt der Geist die Welt, weitestgehend, wenn auch nie vollständig, entkoppelt von der biologischen Enge des eigenen Körpers. Zurückkommend zur »Lebensanschauung« erscheint es natürlich kontra-intuitiv, die »Kulturwelten« als Reiche der Freiheit zu bezeichnen. So beschreibt Simmel das Prinzip hinter dem historischen Wendeprozess von der Vitalzweckmäßigkeit zu verselbständigten – selbst freien – eigengesetzlichen Formen auf den ersten Blick wie die Umkehr eines Herrschaftsverhältnisses: »Die großen geistigen Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie noch ganz in ihm befangen sind, noch ganz in seiner Ebene liegen. Allein so lange haben sie dennoch etwas ihm gegenüber Passives, mittelhaft Nachgiebiges, ihm Untertanes, weil sie sich seiner Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten, modifizieren müssen. Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich produktiv; ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muß ihnen nachgeben.« (LA: 245; Hervorhebung PB)

Der Grund, wieso Simmel die jeweils einem bestimmten Ideal unterstehenden Kulturwelten dennoch als Reiche individueller Freiheit bezeichnen kann, ist ihr Ursprung im Individuum: Es ist der Geist individuellen Lebens, der seine Gesetzlichkeit in die Welt trägt; und deshalb ist diese Gesetzlichkeit seine Freiheit.19 Die einen eigenen Objektbereich bildenden apriorischen Formungskategorien schaffen in den Kulturwelten den Bewegungsspielraum zur Kultivierung ihrer eigenen Individualität. Individuelle Freiheit ist deshalb eine spezifische, mit der Geldförmigkeit aufkommende Form der Selbstbindung – ein Commitment. Nicht zu verwechseln ist die Individualgesetzlichkeit des Lebens mit Glücks- oder Zufriedenheitsempfindungen. Freiheit und Glück korrelieren nicht miteinander (vgl. PDG: 399-400). An dieser Stelle ein Wort zum Funktionsbegriff. Dass Simmel auf Funktionssemantik zurückgreift, ist bemerkt worden (vgl. Krech 1998a: 111, Fn. 2; Silver/O’Neill 2014: 394). Eine ›echte‹ Auseinandersetzung mit dem theoretischen Status der Funktionssemantik bei Simmel ist mir jedoch nicht bekannt. Volkhard Krech meint beispielsweise eher randständig in einer Fußnote, Simmel benutze den Funktionsbegriff »zur Bezeichnung einer internen Relation einzelner Elemente«, was »eher dem« entsprechen würde, »was soziologisch heutzutage als Struktur bezeichnet wird.« (Krech 1998a: 111, Fn. 2) Er bezieht sich zum Beleg seiner These auf Seite 104 im dritten Unterkapitel von »Wert und Geld« der »Philosophie des Geldes«. Krechs Behauptung ist aber nur in einem oberflächlichen Sinne zutreffend. Simmel verwendet spätestens ab der »Philosophie des Geldes« durchgehend einen Funktionsbegriff, der sich deckt mit dem Verhältnis von Leben und Form: Das Leben

19 Diesen Punkt übergeht Fitzi in der Darstellung der »Achsendrehung« (vgl. Fitzi 2002: 28485).

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braucht die Form, und es schafft sich die Form, die sich dann, mit dieser Schöpfung, verselbständigt. Simmel spricht so von den apriorischen »Funktionsarten des Geistes« (LA: 238), den »Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat«, welche dann aber »selbständig und definitiv [werden], dass umgekehrt das Leben ihnen dient« (ebd.: 244-45). Weiter lesen wir vom »Erkennen als Einzelfunktion« (ebd.: 264) oder der »Sehensfunktion« (ebd.: 268). Simmel scheint den Funktionsbegriff also nicht bloß als bessere Heuristik zu verstehen, sondern als eine ontologische Behauptung über das Leben selbst: Leben ist Funktion, weil es gerade sein Wesen ist, in Formen zu leben, die es selbst schafft. So sagt Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes«: »Es scheint, als ob unser Leben eine einheitliche Grundfunktion übte oder in ihr bestände, die wir in ihrer Einheit nicht erfassen, sondern in Analyse und Synthese zerlegen müssen« (PDG: 108-09). Die geschaffenen Formen mögen, wie Krech sagt, Formen der Wechselwirkung sein, welche die Weltinhalte relational ordnen. Aber Funktion sind diese Formen als Formen des Lebens, und insofern ›leisten‹ sie etwas für das Leben. Das Geld ist so beispielsweise »nichts als die reine Form der Tauschbarkeit« (ebd.: 138) – und Tauschen ist eine Lebensform, etwas, was das Leben als Leben ausübt. Ähnlich verhält es sich nach Simmel mit der Religion, die ihre Funktion in der Befriedigung eines vitalen Ganzheitlichkeitsdranges besitzt. Beidem widme ich mich später ausführlich. Es ist aber meines Erachtens von hoher Bedeutsamkeit, diesen Funktionsbegriff Simmels im Hinterkopf zu behalten. Er engt den Beliebigkeitsspielraum in der Interpretation der simmelschen Geldwirtschafts- und Religionstheorie ein. Funktionsaussagen müssen dann auf spezifische Relationen zwischen apriorischen Formen des individuellen Lebens einerseits und den von diesem Leben geschaffenen Objektivationsformen andererseits bezogen werden können. Wenn Funktionen als Funktionen des Lebens erkannt werden, können ihr Sinn und Zweck nicht (mehr) in dem Leben äußerlichen Vorgaben bestehen, sondern eben nur noch in dem Leben selbst. Werfen wir zum Vergleich einen Blick auf Emile Durkheims Auseinandersetzung mit dem Funktionsbegriff in seiner »sozialen Arbeitsteilung«. Ähnlich wie Simmel versteht Durkheim unter Funktion ein Entsprechungsverhältnis. Am Beispiel des biologischen Organismus bezeichnet Durkheim die Funktion als eine »Beziehung der Entsprechung […], die zwischen […] Bewegungen und bestimmten Bedürfnissen des Organismus bestehen. […] Wenn man sich fragt, welches Bedürfnis die Funktion der Arbeitsteilung ist, so möchte man damit untersuchen, welchem Bedürfnis sie entspricht.« (Durkheim 1988: 95; Hervorhebung PB) Durkheim unterschied die übergeordnete Kategorie der Funktion von der Teleologie des Handelns, wonach bestimmte Dinge intentional und zweckbewusst eingerichtet oder hergestellt werden mit »Hinblick auf die [zu erwartenden] Ergebnisse« (ebd.: 95; Hervorhebung im Original). Die Arbeitsteilung ist denn auch keine bewusst herbeigeführte soziale Tatsache, um beispielsweise das individuelle »Bedürfnis nach Glück« zu befriedigen (ebd.: 290). Stattdessen, so Durkheims Hypothese, habe die Arbeitsteilung »die Funktion […], den sozialen Körper zu integrieren und seine Einheit zu sichern.« (Ebd.: 109). Dabei handelt es sich übrigens um einen weiteren Aspekt der Auseinandersetzung Durkheims mit »der Politischen Ökonomie« (ebd.: 290; vgl. Kapitel 2 in diesem Buch) und ist exemplifizierend für seinen Versuch, die Dinge auf Gesellschaft als Expla-

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nans zurückzuführen – dies dann eine Differenz zu Simmel, dessen Konzentration der Einheit des individuellen Lebens galt.

5.5 ENTFALTETE EINHEIT: DAS »INDIVIDUELLE GESETZ« Das zeitgenössische Individuum, so Simmels Diagnose, nutzt die selbstgeschaffenen Reiche der Freiheit eher schlecht als recht aus. Es werde »dieser Freiheit doch so wenig froh« (PDG: 555), die »Freiheit des Liberalismus« habe »so manche Haltlosigkeit, Wirrnis und Unbefriedigung erzeugt« (ebd.: 555). Das Individuum wüsste mit den Kulturprodukten »nichts Rechtes anzufangen«, empfinde »sie oft genug als Belastungen und Gegenkräfte« (KDK: 191). Es sei »die typische problematische Lage des modernen Menschen«, sich »von dieser Unzahl von Kulturelementen wie erdrückt« zu fühlen und sie »weder innerlich assimilieren«, noch sie »einfach ablehnen« zu können (ebd.: 192). Die Kulturwelten vollendeten sich, während die Kultivierung der Individualität entweder auf der Strecke geblieben oder »vielfach sogar zurückgegangen« sei (PDG: 620; vgl. auch KDK: 193). Den Weg zur »entfalteten Einheit« verfehlt das Individuum, auch wenn es »untold exceptions to this extremely general impression« gebe (TGLT: 167). Ich komme damit zu Punkt (c) des zu Anfang dieses Kapitels genannten Dreierschemas des Kulturweges, der »entfalteten Einheit«. Von Bedeutung ist, dass die Kulturwelten einerseits und die Individuen andererseits für Simmel eine bereits ihrem Prinzip nach und nicht bloß zufällige Unterschiedlichkeit ihrer Entwicklungslogik besitzen. Unabhängig von der empirischen Nuancierung macht sich dies nach Simmel daran fest, dass die Ausbildung einer bestimmten Fertigkeit, der Besitz von etwas oder ein bestimmter Beruf per se nicht Kultivierung, d. h. Vollendung der Individualität ist; obgleich aber ein und dieselbe Tätigkeit innerhalb der Eigenlogik der Kulturwelten liegt: »[K]eineswegs ist die Kulturbedeutung des einzelnen Produktes genau derjenigen entsprechend, die es innerhalb seiner eigenen, durch seinen Sachbegriff, sein Sachideal bestimmten Reihe einnimmt. Ein Kunstwerk etwa untersteht ganz anderen Rangierungen und Normierungen, wenn es innerhalb der kunstgeschichtlichen oder der ästhetischen Reihe und Kategorie betrachtet wird, als wenn sein Kulturwert in Frage steht.« (WK: 368).

Es geht hier also noch gar nicht um eine wie auch immer definierte Masse von nicht absorbierbaren Kulturgütern – nicht einmal um Askese –, sondern bereits um das singuläre Produkt, welches je nach Wahl einer Perspektive – jener der Individualität oder der Kulturwelten – unterschiedliche Bedeutung haben kann. Ebenso wenig muss ein Produkt einen bestimmten, von den Kulturwelten gesetzten Qualitätsstandard aufweisen, um das Individuum zu kultivieren. Die Produkte »können sachlich, technisch, vom Blickpunkt der spezifischen Wesensprovinz aus unvollkommen und wenig bedeutsam sein« (ebd.: 369). Umgekehrt kann es aber auch sein, dass den »allerhöchsten Leistungen verschiedener Gebiete gegenüber […] der Gesichtspunkt ihres Kulturwertes verhältnismäßig zurücktritt.« (Ebd.: 370; Hervorhebung im Original). Die literarische Konsumtion einer Erkenntnis wie der darwinschen Evolutionstheorie ebenso wie die Anschauung der David-Skulptur Michelangelos mögen jeweils auf ih-

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rem Gebiet als intellektuelle oder ästhetische Höchstleistung geschätzt, aber deshalb nicht notwendigerweise zu individueller Kultivierung führen. Und, schließlich, geht es nicht um die technische Eignung bestimmter Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele: »Sie mögen unseren Einzelzwecken noch so vortrefflich dienen – darum kann ihr Ertrag für unsere Gesamtexistenz, für den nach Entwicklung ringenden Quellpunkt unseres Ich überhaupt sehr gering sein.« (Ebd.: 369) Die technische Frage nach Zweckdienlichkeit ist für Simmel bereits falsch gestellt, wenn sie sich in der Sphäre der Kulturwelten bewegt. Das partikulare Handeln und Erleben innerhalb einer Kulturwelt realisiert einen Ausschnitt – »Fragmente von Welten« (LA: 243) – trägt dadurch im, je nachdem arbeitsteiligen, Verbund mit anderen Individuen die Totalität einer Kulturwelt. Das individuelle Handeln mag dabei ein bestimmtes, selbstgesetztes Interesse verfolgen. Entscheidend ist für Simmel aber allein der Beitrag einer partikularen – wie auch immer beschaffenen – Leistung unter ihrem Gesichtspunkt der ganzheitlichen Vollendung eines Individuums.20 Darin besteht der Perspektivwechsel von der Reproduktion der Kulturwelten hin zur Kultivierung des Individuums: »Wir sind noch nicht kultiviert, wenn wir dieses oder jenes einzelne Wissen oder Können in uns ausgebildet haben; sondern erst dann, wenn all solches der zwar daran gebundenen, aber damit nicht zusammenfallenden Entwicklung jener seelischen Zentralität dient. Unsere bewußten und angebbaren Strebungen gelten zwar den partikularen Interessen und Potenzen, und darum erscheint die Entwicklung jedes Menschen, auf ihre Benennbarkeiten hin angesehen, als ein Bündel von Entwicklungslinien, die sich nach recht verschiedenen Richtungen und in recht verschiedenen Längen entfalten. Aber nicht mit diesen singulären Vollendungen, sondern erst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch.« (TDK: 196; Hervorhebung PB)

Eine inhaltliche Fassung der entfalteten Einheit, die den Zielpunkt individueller Kultivierung definiert, gibt Simmel nicht. Die Einheit kann deshalb nur formal, d. h.: rein als individuelle Form des Lebens, definiert werden. Einheit ist für Simmel aber Wechselwirkung zwischen Elementen, und darauf beruht folgende Definition Simmels von kultivierter Individualität: »Denn wie sich ›Einheit‹ überhaupt für uns nur als Wechselwirkung und dynamisches Ineinanderweben, Zusammenhang, Ausgleichung einer Vielheit darbietet, so ist jener Einheitspunkt in uns, dessen innere Bedeutung und Kraft sich im Kulturprozeß durch die Einbeziehung gesteigerter und vollendeter Objekte vollendet, explizite ausgedrückt dieses: daß unsere einzelnen Wesensseiten in enger Wechselwirkung stehen, jede die anderen tragend und von ihnen getragen, ihre Lebendigkeiten harmonisch ausgleichend und austauschend.« (WK: 369-70)

Es geht scheinbar nicht bloß um Wechselwirkung, sondern um eine irgendwie geartete Harmonie zwischen einer »Vielheit« unterschiedlicher Elemente, die nicht wie selbstverständlich im Begriff dieser Elemente selbst enthalten ist, sondern in der Form empirischen Handelns und Erlebens hergestellt werden muss. Es sind jene un-

20 Geßner meint irrtümlicherweise, daß die Individuen unter der Bedingung verselbständigter Formen automatisch »bloß äußerliche Fähigkeiten erwerben« (Geßner 2003: 172).

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terschiedlichen apriorischen Energien, die sich aus der geschlossenen-transzendentalen Einheit des Lebens in die entfaltete Vielheit der Kulturwelten objektiviert haben, die nun, als sich formendes Leben innerhalb der Kulturwelten bewegend, zu einer entfalteten, empirischen Einheit geführt werden müssen. Letzteres, die empirische Einheit, bildet nicht nur den als Horizont zu denkenden Endpunkt des Kultivierungsprozesses, sondern auch Simmels Vorstellung vom Imperativ des »individuellen Gesetzes«. Diesem Zusammenhang nähere ich mich nun Schritt für Schritt an, zunächst über die Frage, wie Simmel die Einheit in der Vielfalt der Kulturwelten konzipiert. Simmel betont, die Kulturwelten seien ihrem Ideal nach zu »keiner Mischung, keines Übergreifens, keiner Kreuzung fähig« (LA: 238). Ihr Zugriff auf Inhalte folgt einer jeweils »besonderen Sprache« (ebd.: 238).21 Die Hervorhebung der logischen Überschneidungsfreiheit ist keine Besonderheit der »Lebensanschauung«, sondern findet sich bereits früher (vgl. SN: 269; DR: 42; PDG: 57-58). Die Nicht-Mischung der Kulturwelten betrifft die Ebene der Objektivationsform, nicht jene des Lebens. Zur Kreuzung – um einen soziologischen Terminus Simmels aufzugreifen – kommen die differenten Kulturwelten im Individuum und nur im Individuum, dessen schöpferischen Kräften sie ursprünglich entstammen: »Innerhalb der Dynamik des Lebensprozesses sind sie verbunden, wie die Wellen eines Stromes; es ist jeweils ein Leben, welches sie als seine, von ihm nun nicht abtrennbaren und deshalb auch untereinander nicht schlechthin trennbaren Pulsschläge erzeugt.« (LA: 244; Hervorhebung im Original)22 Aus der Perspektive des individuellen Lebens ist es immer ein Leben, welches in den unterschiedlichen Formen lebt. Wie die einzelnen Kulturwelten bildet die Individualität eine »Totalität« (ebd.: 424). Aus der Perspektive der Kulturformen mag individuelles Handeln und Erleben zwar jeweils wie ein Teilausschnitt eines umfassenden Ganzen wirken. Aus der Perspektive des individuellen Lebens betrachtet, ist »die einzelne Tat der jeweilig vollständige Ausdruck dieses ganzen Lebens« (ebd.: 404; Hervorhebung PB; vgl. ebd.: 399). Ein »Gegenüber« zwischen aktueller Handlung und individueller Form des Lebens gibt es nicht, sondern die individuelle Form des Lebens lebt in der Individualitätsform der Handlung (vgl. ebd.: 392). Jede einzelne Handlung ist jeweils die ganze Form des Lebens. Dies lässt sich aus der Perspektive eigengesetzlicher Individualität erklären, in der sich die Bedeutung einer Handlung aus dem Verflechtungszusammenhang des individuellen Lebens konstituiert: Handlung ist die Gestalt, die die Form gerade annimmt: »Daß die Tat in diesem Augenblick geschieht, das bedeutet, daß das Leben in seinem kontinuierlichen Verlauf momentan gerade diese Form angenommen hat« (ebd.: 387). Die Individualität jeder

21 Zum Vergleich: Mit der Theorie funktionaler Differenzierung gesprochen etablieren sich mit Ausdifferenzierung operativ geschlossener Funktionssysteme zwischen den Systemen sogenannte »Schwellen der legitimen Indifferenz« (Tyrell 1978: 183; Hervorhebung im Original). 22 Der Analogie zur Soziologie von der »Kreuzung sozialer Kreise« entspricht meine Hypothese über eine funktionale Analogie beider Vorgänge, der »Kreuzung sozialer Kreise« wie der ›Kreuzung der Kulturwelten‹. In den beiden Fällen von Vergesellschaftung und Kultivierung kommt Simmel auf das Phänomen der Ansprüche von »Forderungskreisen« zu sprechen.

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Handlungsform ist mit der Individualitätsform des Lebens überhaupt impliziert. Dieser Gedanke lässt sich mit einer biologischen Analogie plastisch darstellen: Der menschliche Körper mag in unterschiedliche, funktional spezialisierte Organe differenziert sein. Das funktionale Zusammenspiel findet sein »Zusammen« aber an der einheitlichen Phänomenologie des Körpers, der auf Schritt und Tritt und trotz aller Stoffwechsel-, Wachstums- und Degenerationsprozesse immer ein irgendwie mit sich selbst Identisches, eine Einheit ist.23 Entsprechend ist auch das geistige Leben immer ganz, mit seinen vergangenen Erfahrungen und Hoffnungen auf die Zukunft, die in der Gegenwart in ihm zusammenlaufen: »[M]an kann seine Kontinuität nur dadurch zum Ausdruck bringen, daß jeder etwa besonders betrachtete Moment das ganze Leben ist – weil es die Form dieses Ganzen, seine Einheit, ist, sich in etwas, was man unter dem äußerlich zeitlichen Aspekt Vielheit nennen muß, auszuleben.« (Ebd.: 400; vgl. auch PDG: 419) Das »Vorher und Nachher« wirken zusammen, die »Vergangenheiten« wirkten aktuell »auf das Gegenwärtige ein, gehen mit ihm zu stetig sich wandelnder Einheit zusammen« (LA: 399). Simmel vergleicht diese Simultaneitätsform der Individualitätskonstitution mit der Bedeutungskonstitution des Kunstwerks, auf welchem »jeder Farbfleck nicht nur mit den benachbarten in Relation steht, sondern mit jedem andern derselben Leinwand, und dadurch jenes Netzwerk von Gegensätzen, Synthesen und Steigerungen entsteht« (ebd.: 399-400). Das Kunstwerk ist aber bloß »Gleichnis« (ebd.: 400). Weil die Individualität zu jedem Zeitpunkt das ganze Leben ist, kann man im strengen Sinne eigentlich nicht mehr zwischen Ganzem einerseits und miteinander in einer Wechselwirkung stehenden, jeweils voneinander unterscheidbaren Teilen dieses einen Ganzen andererseits unterscheiden (vgl. ebd.: 399). Die Vorstellung von Einheit als Wechselwirkung besitzt deshalb eher heuristischen, aber nicht mehr tatsächlichen Charakter (vgl. ebd.: 399-400). Um den Begriff der Wechselwirkung kommt eine Deskription des Geschehens kaum vorbei, auch wenn sich Leben für sich genommen jeder Formgebung entziehen mag. Dies gilt auch für die Beschreibung der Beziehungen der apriorischen Formungskräfte untereinander; jedenfalls dann, wenn man das Explanandum – die auf der Differenzialität von Kulturwelten aufbauende Kulturphilosophie Simmels – nicht gleich mit dem Eingeständnis der Unbeschreiblichkeit in der All-Einheit auflösen möchte, in denen Handlungen ihrem Wesen nach »Pulsschläge« des Lebens sind. Ich wende mich damit der Beziehung zwischen den den Kulturwelten unterliegenden, im Individuum zur Einheit kommenden Formungskräften zu. In seiner Monographie zu »Schopenhauer und Nietzsche« notiert Simmel: »Das fremde Nebeneinander dieser Welten, solange sie nach ihrer sachlichen Form, sozusagen nach ihrer Idee betrachtet werden, macht dem Füreinander der Funktionen Platz, in denen die Seele sie erlebt, dem gegenseitigen Zweck-und Mittel-Werden, mit dem sie zu der Einheit des Lebens verwachsen.« (SN: 269-70)

23 Das Theseus-Schiff-Paradox wirft die weitergehende Frage auf, was bei Auswechseln vieler bis aller Teile das Kriterium für die Selbstidentität eines Dinges, hier: eines Schiffes ist. Harry Deutsch hat dazu einen Eintrag in der »Stanford Encyclopedia of Philosophy« verfasst (vgl. Deutsch 2007).

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Die »intellektuelle Funktion«, so Simmel weiter, diene »der ökonomischen, aber dann auch die ökonomische der intellektuellen, gewiß haben die erotischen Triebe unzählige Male ästhetische Bemühungen hervorgerufen, aber ebenso hat der künstlerische Trieb die Kräfte der Erotik sich dienstbar gemacht.« (Ebd.: 269) Sehr ähnlich im Inhalt argumentiert Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG: 418-20). Das Zusammenwirken der Kräfte bezeichnet Simmel – die Begriffswahl leider nicht weiter klärend – als »innere Arbeitsteilung« (ebd.: 418). Die Verbindung zwischen den Kräften, so Simmel, dürfe nur allgemeiner, aber nicht spezifischer Natur sein. Die Intellektualität bedürfe beispielsweise der Willenskraft, diese dürfe aber auf kein inhaltlich bestimmtes Ergebnis hinwirken (vgl. ebd.: 419-20). Ebenso bedürfe die »künstlerische Produktion« ab einem bestimmten Niveau ein »höheres Maß intellektueller Ausbildung« (ebd.: 420). Auch hätten sich seit jeher religiöse Motive geeignet zur Aufnahme in das künstlerische Schaffen (vgl. CK: 264-66). Weitere von Simmel herangeführte Beispiele in der »Philosophie des Geldes« zum Zusammenspiel der apriorischen Energien gehen in eine ähnliche Richtung, auch wenn Simmel selbst die Subsumierung unter die Kategorie des innerlichen Wechselspiels nicht explizit vornahm. Dazu zählt Simmels Erklärung der individuellen Annahme von Geld durch die Mitwirkung religiösen Glaubens (vgl. PDG: 215-16). Auf dieses Beispiel werde ich in den Kapiteln 7.2.4 sowie 8.5.2 in diesem Buch ausführlicher zu sprechen kommen. Ein anderes Beispiel ist die Beobachtung Simmels, dass das regelmäßige Rechnen im Geldgebrauch eine »Präzision«, »Sicherheit« und »Unzweideutigkeit« (ebd.: 615) in »das praktische Leben« trage (ebd.: 614). Davon seien auch die »anderweitigen Inhalte« des Lebens betroffen (ebd.: 614). Das »rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit« ist für Simmel »die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus« (ebd.: 613). Das Handeln und Erleben im ökonomischen Kontext zeitigt Effekte im Individuum, die von dort aus die Partizipation in anderen Sphären beeinflussen. Beispielsweise stellt Simmel »eine mechanisierende, mathematisierende Tendenz« in der Kunst fest (APA: 9). Die Individualität formt seine Einheit in den Welten, in denen es erlebt und handelt. Aus dieser Perspektive liefern die Kulturformen den historischen Inhalt, d. h. die Ressourcen zur Gestaltung der ganzheitlichen Individualität. Leben, so Simmels Hypothese, ist aus sich heraus Einheit. Wie sich die Einheit der Kulturwelten jeweils durch ein bestimmtes Ideal konstituiert, so impliziert dies selbiges für die Individualitätsform des Lebens: Die Einheit der Vielfalt steht unter einem eigenen Ideal, und zwar allein aus der Tatsache, dass es Leben ist. So ist es Simmels Annahme: »Besteht einmal ein bestimmt individualisiertes Leben als eine in vollem Sinne objektive Tatsache, so ist auch sein ideales Sollen als ein objektiv gültiges da« (LA: 408). Dies ist die Annahme zum »Individuellen Gesetz«: Das Individuum kann dagegen verstoßen, kann es einhalten, aber als Form geistigen Lebens trägt es ein – quasi a priori – mit seiner »seelische[n] Totalität […] gegebenes Versprechen« (TDK: 195). Wieder an anderer Stelle schreibt Simmel von »den Forderungen jenes einheitlichen, zentralen Punktes der Persönlichkeit« (WK: 369). Das »individuelle Gesetz« versteht Simmel als eine metaphysische Erkundung der Konstitution individueller Handlungspflichten (vgl. LA: 351). Die theoretische Nähe zur Kulturphilosophie des sich kultivierenden Individuums ist aber kaum zu verkennen. So heißt es in der »Kulturtragödie«, »die Persönlichkeit als ganze und als Einheit trägt ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild in sich« (TDK: 195), und umgekehrt schreibt Simmel im »individuellen Gesetz« von »einem ganzen, ideell

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vorgezeichneten Leben« (LA: 403) sowie »der idealen Lebensgestaltung, die gerade diesem Individuum wie mit ideellen Linien eingewebt ist, der prinzipiellen Einzigkeit seines Lebenssinnes folgend« (ebd.: 351). Simmels »Kulturtragödie« greift ihrerseits auf die Sprache der individuellen Eigengesetzlichkeit zurück, wenn sie die »Logik der Persönlichkeit« ins Auge fasst, deren Funktion es ist, ihre »Lebensinhalte harmonisch […] um sich herum [zu ordnen]« (TDK: 213). Zusammengenommen scheint die Evidenz dahin zu gehen, dass Simmel eine individualgesetzliche Pflicht zur Kultivierung postulierte, die freilich historisch kontingenter Natur ist: Sie hängt an Möglichkeit und Praxis der Selbstreflexion als Persönlichkeit (vgl. ebd.: 212-13). In der »Philosophie des Geldes« meinte Simmel, eine sich über die Jahrhunderte entspannende ideengeschichtliche Entwicklung zu beobachten, in der das wissenschaftliche Verständnis von Naturgesetzlichkeit einerseits, die individuellen Freiheitsrechte andererseits parallel zugenommen hätten (vgl. PDG: 403). Überhaupt versteht Simmel Philosophie als an ihre historischen Seinsformen gebunden, darauf hatte ich ja bereits hingewiesen (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3 in diesem Buch), und daran bemisst er auch die Adäquanz metaethischer Vorstellungen. Die moralphilosophische Identifikation »von Tugend und Glückseligkeit« im antiken Griechenland führt Simmel auf die »von den unsern abweichenden socialen Verhältnissen« zurück (BSP: 33). Kants Pflichtethik attestiert Simmel schließlich im Bewusstsein historischer Gebundenheit metaethischer Theorien, »ein garnicht zu überspringendes Stadium der Kulturentwicklung« gewesen zu sein (LA: 413). In einem Akt selbstreflexiver Beobachtung erachtet Simmel seine eigene metaphysische Begründung des Sollens als die kulturgeschichtlich aktuell angemessene Philosophie (vgl. ebd.: 413-14). Die für den kategorischen Imperativ Kants charakteristische Begründung des Sollens aus der Form des überindividuellen Typus einer Handlung ist Simmel zufolge eine Formbildung gewesen, deren »Wiederauflösung [...] in die fließenden Relationen, die funktionellen Gesamtverbindungen der Lebenseinheit« mit dem soziokulturellen Wandel ebenso »unvermeidlich« sei (ebd.: 413). Seine Zeit dagegen ist strukturell von der Permanenz der Wiederauflösung einmal gebildeter Formen durchdrungen. Simmels Auseinandersetzung mit Kant gewinnt seine Kontur denn auch gerade vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Liberalismus, der in der Geldwirtschaft empirischen Ausdruck erhielt. Zu der monetären Verwirklichung des Liberalismus gehörte für Simmel, dem Individuum negative, aber keine positive Freiheit an die Hand zu geben (vgl. PDG: 549-555). Dies schlug sich in Simmels metaethischer Reflexion nieder: Sie blieb »reine« Form, frei von Inhalt. Eine materielle Ethik gab Simmel nicht an die Hand, ebenso wenig eine auszubuchstabierende Technik introspektiver Erkenntnis des richtigen Tuns (vgl. IG: 467-68). Simmel begnügt sich mit der Auskunft, dass das Gesetz individuellen Handelns »in einer gleichsam flüssigen, gefühlshaften« Gestalt unser Erleben begleite, es habe »›Bekanntheitsqualität‹« (LA: 357). Selten trete es uns als Gesetz so ausdrücklich vor Augen, wie die analytische Scheidung zwischen Sein und Sollen es suggiere (vgl. ebd.: 357). Die Ethik Immanuel Kants, so Simmel, könne eine gesollte Handlung nur unter Bezug auf ein überindividuelles Gesetz begründen. Die individuelle Handlungsmaxime müsse verallgemeinerungsfähig sein. In der Tat sagt Kant, dass »die Allgemeinheit des Gesetzes […] dasjenige ausmacht, was eigentlich Natur im allgemeinsten Verstande […] heißt«, so dass »der allgemeine Imperativ der Pflicht auch so lauten [könnte]: handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen

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zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte.« (Kant 1999: 45; Hervorhebung im Original) Ihre Bedeutung gewinnt die Handlung in dieser Perspektive aus ihrer Zugehörigkeit zu einem spezifischen Typus – einer Form – vergleichbarer, ge- oder verbotener Handlungen, wie z. B. dem Lügen oder dem Mord. Simmel meint, dies sei in Kants Annahme einer allen Menschen gemeinsamen und gleichen Vernunft begründet (vgl. LA: 355, 365-68). Da Kant ein sich selbst das Gesetz gebendes Individuum postuliert, kann dies mit einer überindividuellen Vernunftform der Gesetzesbegründung nur dann zusammenpassen, wenn die gemeinsame Vernunft zugleich das eigentliche, fundamentale Ich des Individuums konstituiert. Dies aber, so Simmel, habe zur Konsequenz, dass das Individuum in ein eigentliches und ein uneigentliches Ich geteilt werde, nämlich eines der Vernunft und eines der Sinnlichkeit. Kant unterschiede damit eine sittlich gute Vernunft von der sündigen Sinnlichkeit (ebd.: 356). Die Sinnlichkeit werde »außerhalb des Ich« verlagert, mit diesem Akt aber auch alle »anderen Seelenenergien« des »ganzen Menschen« (ebd.: 356). Dies nehme dem Menschen die Verantwortung für sein Handeln ab, Übel und Sinnlichkeit seien des Teufels. Der »Teufel ist die größte moralische Feigheit der Menschen, der Ausdruck dafür, daß man für das Böse, das man tut, nicht oder wenigstens nicht in vollem Maße eintreten will. Und die als Sünde geltende Sinnlichkeit, die das reine oder eigentliche Ich nicht berührt, ist nichts anderes als der verfeinerte und einigermaßen abgeschwächte Teufel.« (Ebd.: 356)

Damit wäre es um Kants Metaethik eines sich selbst das Sittengesetz gebenden Individuums aber, so Simmel, noch nicht geschehen, jedenfalls dann nicht, solange die Behauptung aufrechterhalten werden könne: die das Sittengesetz gebende überindividuelle Vernunft macht den Kern des Individuums aus. Was Simmel als die Schwachstelle der Kantschen Metaethik auszumachen meint, ist die Bedeutungskonstitution der sittlich zu bewertenden Handlung selbst: »Das All-Entscheidende scheint mir hier der Begriff der ›Handlung‹ zu sein« (ebd.: 371). Erfährt eine Handlung ihre Bedeutung durch den Typus, ist eine Handlung durch die Zugehörigkeit zu einem Typus zu bewerten. Erfährt eine Handlung ihre Bedeutung dagegen aus dem Leben, hat sie auch von dort aus ihre sittliche Bewertung zu erfahren. Ersteres würde eine Sinnverlagerung der Handlung in das Mehr-als-Leben der Kulturwelten implizieren. Letzteres markiert die Position Simmels. Danach ist die Handlung »ein Pulsschlag des unmittelbaren Lebens«, eine »Wellenhöhe«, eine »Szenenform des Lebens«, welche »die Kontinuität mit dessen Totalverlauf nicht unterbricht« (ebd.: 365).24 Was wir als Handlung bezeichnen, ist bereits sprachliche Form, als »Ding für sich« ist es schlicht eine nicht näher bezeichenbare, elementare Ausgestaltung des Lebensflusses.

24 Harald Delius zufolge ist Verallgemeinerung gerade das Prinzip der Ethik: »Denn die Rede von einem sittlichen Sollen oder einer sittlichen Norm […] ist die Rede von einem allgemein-verbindlichen Sollen, m. a. W. also Rede von einem Sollen, das, als eben dasselbe, für eine Vielzahl von Personen gilt.« (Delius 1964: 72) Simmel würde dann, im Sinne Delius, mit dem »individuellen Gesetz« kein Kriterium für sittlich angemessenes Handeln begründen.

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Simmel unterschied zwischen zwei primären Formen des Lebens, dem Sein und dem Sollen. Sie sind kategorial verschieden, weil das, was der Fall ist, nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmen muss, was der Fall sein soll. Dass sich das Sollen dem Sein fordernd gegenüberstellt, widerspricht nicht ihrem gemeinsam Ursprung in einem Leben, da die objektivierende Gegenüberstellung ein »Urphänomen« des Lebens ist (PDG: 31; vgl. auch LA. 347-48). Als reine Form ist das Sollen an keinen bestimmten Inhalt gebunden, auch nicht an eine bestimmte Summe von Inhalten. Ebenso wenig besitzt die Sollensform als Form einen Zweck, dem sie als Ganzes dient (vgl. ebd.: 350). Die einzelnen Handlungen innerhalb von Kulturformen nehmen aber die Form der stets vorläufigen (End-)Zwecksetzung an (ebd.: 405-06, 420). Eine Ableitung konkreten, inhaltlichen Sollens ist aus der Form des Sollens an sich ebenso wenig möglich. Für sich betrachtet ist die Individualgesetzlichkeit des Lebens deshalb eine für Formungsprozesse offene Hohlform. Auch im metaethischen Sinne gilt für Simmel also: Das Leben braucht die Form. Was aber nicht gleichzusetzen ist mit äußerlicher Determination, denn die entscheidende ethische Instanz ist die Einheit des Lebens. Der Inhalt individualgesetzlichen Handels ist sekundär, deshalb stellt das tatsächliche Leben in der Eigengesetzlichkeit der Kulturformen per se keinen Widerspruch dar: Die »Idealbildung«, so Simmel, »kann sich vielmehr, ohne ihre Quelle zu verleugnen, und durch sie gerade getrieben , in soziale, altruistische, geistige, künstlerische Gestaltungen ergießen und in diesen ihren jeweiligen Endzweck sehen; das Leben vollendet sein urtümlich eigenes, nur von seiner individuellen Wurzel genährtes Ideal seiner selbst unzählige Male, indem es sich von sich selbst entfernt, sich selbst aufgibt.« (Ebd.: 420)

Das gleiche Prinzip gilt für das gleichsam sekundäre Merkmal einer attributiven Differenz zu anderen im Sinne des qualitativen Individualismus (vgl. ebd.: 414-16). Als eine woher und von wem auch immer empfundene Forderung der Ausbildung eigener Individualität besitzt er materiellen Charakter. Zwar sei es empirisch so, dass sich die »Totalität eines Lebenslaufes […] sich sicher nicht ein zweites Mal [wiederholt].« (Ebd.: 415). Die Differenz zu anderen oder mit anderen geteilte Interessen ist für Simmel aber nur sekundär. Primär ist jener bereits erwähnte metaphysische Begriff von Individualität, der sich aus jenem des Lebens ergibt: Leben kann nur sein in der Form der Individualität (vgl. Kapitel 4.3 und 4.4 in diesem Buch). Ist sie gegeben, besitzt sie allein und qua Existenz ein ihr innewohnendes Ideal: »Nun bedarf der Begriff des individuellen Gesetzes der entschiedensten Feststellung, daß der zunächst sich aufdrängende Sinn der Individualität: das Anders- und Besonderssein, die qualitative Unvergleichbarkeit des Einzelnen – hier nicht in Frage steht. Nicht um die Einzigkeit, sondern um die Eigenheit […] handelt es sich« (ebd.: 414-15; Hervorhebung PB).25

25 Diesen Punkt übersieht beispielsweise Kron: »Der Lebensphilosophie des ›Individuellen Gesetzes‹ korrespondiert […] der qualitative Individualismus« (Kron 2000: 193). Kron setzt »Eigenheit oder Einzigkeit« gleich (ebd.: 193), weshalb er Simmels »Wachsen aus eigener Wurzel« (ebd.: 193; in LA: 415) als ein material definiertes Ideal der Differenzierung interpretiert. Psychologisch macht es einen Unterschied, ob man vorrangig an der Dis-

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Als Form ist das individuelle Leben frei, die einzelne Handlung dagegen ist gesetzhaft gebunden, weil sie bloß Element eines in sich geschlossenen Verweisungszusammenhanges ist. Das meint Simmel, wenn er sagt, »daß wir zwar im Ganzen des Lebens frei sind, das Einzelne aber determiniert ist.« (Ebd.: 404)26 Damit schließt Simmel noch zum Ende seines Lebens an seine Vorstellungen aus den »Moralwissenschaften« an. Das individuelle Handeln in den unterschiedlichen Welten wirkt wie ein Feedback auf ein und dieselbe individuelle Form schöpferischen Lebens zurück, aus der ihre Bedeutung entstammt. »Jede Handlung wirkt auf den – nicht mehr definierbaren – Grund zurück, aus dem unser Handeln überhaupt aufsteigt.« (Ebd.: 423) Die partikulare Handlung kann man sich vorstellen wie ein Element, welches seine Bedeutung in Wechselwirkung mit anderen Elementen – andere Erlebnisse in anderen Welten – gewinnt, und das individuelle Leben ist die Einheitsform dieser Wechselwirkung. Die gesollte Handlung bezieht ihre Bedeutung aus sämtlichen Erlebnissen der individuellen Totalität, die ihr Sollen bis in die Gegenwart geformt haben. Die aus der »Vielheit« sich fortlaufend inhaltlich aktualisierende Form der Individualgesetzlichkeit des Handelns ist eine andere als jene Logik der Kulturwelten, für die das individuelle Handeln nur ausführender Träger ihrer Realisierung ist. Diese Vorstellung ist meines Erachtens heuristisch hilfreich, auch wenn sie Simmels lebensphilosophische Annahme verzerrt, dass das individuelle Leben in jedem partikularen Akt des Handelns und Erlebens ganzheitlich ist. Die Kombination aus Eigendetermination und materieller Offenheit impliziert, dass das »individuelle Gesetz« in der inhaltlichen Bestimmung dessen, was das Leben soll, geschichtlich kontingent ist: Das »Absolute der Forderung [wird] in diesem Sinne ein Historisches« (ebd.: 422). Simmel folgert, dass die geschichtliche Werdung seines Sollens in der Verantwortung des Individuums liegt: Darum liegt schon in dem Gesolltwerden jedes einzelnen Tuns die Verantwortung für unsere ganze Geschichte.« (Ebd.: 423; Hervorhebung im Original) Diese Radikalisierung ethischer Selbstverantwortlichkeit bildet das Resultat und Komplement des monetär getragenen Frei-Setzungsprozesses aus den ständischtraditionalen Verflechtungen des 19. Jahrhunderts (vgl. SOZ: 832). Agatha Bienfait sprach in diesem Sinne mit Blick auf Simmels »individuelles Gesetz« meines Dafürhaltens nach nicht zu Unrecht von dem »Zwang zur einsamen Selbstverantwortung« des Individuums, zu dem sich die zunächst versprochene »Freiheit« entwickele (Bienfait 1993: 32). Die »vollständige Kriterienlosigkeit in Situationen der Wahl« würde das »Individuum in einen Zustand demotivierter, da ohnmächtiger Hilflosigkeit versetzen – von einigen unerschütterlichen Virtuosen abgesehen.« (Ebd.: 33)

tinktion zu anderen orientiert ist oder aber vorrangig das eigene Sich-Verhalten von einem – gar nicht unbedingt kontemplativ-mystisch gemeinten – In-Sich-Selbst-Ruhen geleitet ist. Dies wird empirisch auf eine wie auch immer geartete Differenz hinauslaufen. Diese Differenz entspringt aber dem organischen Wachsen aus dem Innersten des Individuums. Sie ist nicht das Resultat einer an einer inhaltlich bestimmt gearteten Differenz – in die Peripherie des Seins geschobenen – orientierten Beobachtung anderer. 26 Ähnlich meint Lichtblau, die Verknüpfung »von Individualität und Gesetzlichkeit« sei für Simmel »eine mögliche Versöhnung des spezifisch neuzeitlichen Gegensatzes zwischen ›Freiheit‹ und ›Notwendigkeit‹« gewesen (Lichtblau 1997: 97).

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Als »›Vollendung der eigenen Persönlichkeit‹« verstand Simmel im »individuellen Gesetz« das Befolgen des »mit dem Leben selbst vorschreitenden Ideal[s] seiner selbst« (LA: 420). Auf der gleichen Linie liegen die kulturphilosophischen Aufsätze Simmels: Das individuelle Leben dränge »von sich aus auf seine innere Vollendung« (TDK: 198), das Leben sei »etwas Drängendes«, besitzt »ein positives Gerichetsein; das Sollen und Können der vollen Entwicklung ist mit dem Sein der menschlichen Seele untrennbar verbunden.« (WK: 366) Simmel scheint die Form und die Imperativität des Sollens gleichzeitig als ein zu befriedigendes Bedürfnis zu sehen, nach dem es drängt; ein Trieb nach Einheitlichkeit, welcher sich aber nur als Weg individuellen Handelns und Erlebens, nicht als ein zu erreichender Zustand teleologischer Natur begreifen lässt: »Therefore, ethics does not lie in single acts, rather each act be understood as part of a whole of one’s life.« (Montemaggi 2017a: 106) Wer Simmels metaethische Theorie vom »individuellen Gesetz« sowohl besser einordnen als auch verstehen möchte, ist meines Erachtens am besten beraten mit Max Webers Analyse der calvinistischen Lebensführung, wie sie in seiner »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« zu finden ist. Im Abschnitt »Die religiösen Grundlagen der innerweltlichen Askese« finden sich hervorragende Parallelen zu Simmels Theorie vom »individuellen Gesetz«. Das weder vorauszusehende noch irgendwie zu beeinflussende – später aber dann doch wenigstens am Berufserfolg herauszulesende – Heilsschicksal des Puritaners bilde, so Weber, die »Wurzeln jenes illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus« (Weber 1988a: 95), das calvinistische Individuum habe das »Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums« (Weber 1988a: 93; Hervorhebung im Original), es gebe »eine innere Isolierung des Menschen« (ebd.: 95) und allein in »tiefer innerlicher Isolierung vollzog sich, trotz der Heilsnotwendigkeit der Zugehörigkeit zur wahren Kirche, der Verkehr des Calvinisten mit seinem Gott.« (Ebd.: 97). Während der katholische Priester dem Bußfertigen noch die »Sakramentsgnade […] als Ausgleich eigner Unzulänglichkeit« spenden konnte (ebd.: 114), war dieser Weg des Ausgleichs schwacher Stunden den Anhängern protestantischer Prädestinationslehren verwehrt. Calvinisten wie Puritaner unterwarfen ihr Leben »einer fundamentalen Umwandlung des Sinnes des ganzen Lebens in jeder Stunde und jeder Handlung« und damit hin »zu einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung« (ebd.: 115; Hervorhebung PB). Die Ausrichtung auf den Heilsgewinn führte zu einer vollständigen »Rationalisierung« und »Reflexion« in der Lebensführung (ebd.: 115). Es ist wichtig bereits hier erneut auf die Identität des »individuellen Gesetzes« und Simmels religionsphilosophischer Interpretation des Seelenheils hinzuweisen. Friedemann Voigt vermerkt nämlich mit Hinblick auf Simmels religionsphilosophische Konzeption, dieser verfahre »unverkennbar nach dem Vorbild kulturprotestantischer Theologie, wie sie klassisch in Adolf Harnacks berühmter Vorlesung zum ›Wesen des Christentums‹ zum Ausdruck gebracht wurde […]. Wie aus Briefen Simmels an Harnack hervorgeht, besuchte er diese Vorlesungen Harnacks.« (Voigt 2005: 164, Fn. 40) Ebenso meint Volkhard Krech, Simmels »kulturwissenschaftliche Behandlung des Theologumenons vom ›Heil der Seele‹ verrät den großen Einfluß des Kulturprotestantismus«, und er führt ebenso den Besuch Simmels von Harnacks Vorlesung an (Krech 1998a: 201). Und interessanterweise verweist Frédéric Vandenberghe darauf, Simmel selbst »was more of a secular Kulturprotestant who considered Judaism inferior to Christianity.« (Vandenberghe 2010: 6; Hervorhebung im Original) Was sich wiederum – mit Hinblick auf die

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Verbindung von Säkularismus und Religion – mit der in dieser Arbeit zugrundegelegten Selbstreflexivitätsthese deckt. Max Weber wiederum sah gerade die puritanische Wirtschaftsethik jener des Judentums hinsichtlich der Rationalisierung von Wirtschaft und Lebensführung dehalb als überlegen an, da das Judentum einerseits nicht asketisch gewesen sei, andererseits der Schriftgelehrte »das eigentliche Lebensideal« im Judentum gewesen sei (Weber 2010: 476). Der Kulturprotestantismus war neben dem Konservatismus eine Strömung innerhalb des Protestantismus zur Zeit des Kaiserreichs, war vergleichsweise (wirtschafts- und kultur-)liberal, individualistisch statt kollektivistisch, gab Wissenschaft wie Bildung den Vorzug vor Offenbarung und Dogmatizität (vgl. Hübinger 1993; 1998: 202-03). Damit gehe ich wieder zurück zum Thema eigenlogischer Kultivierung bei Simmel. Die »Selbstvollendung«, so Simmel zum Ende seiner »Kulturtragödie«, gelinge der Weg zu sich selbst »unzählige Male« (TDK: 223). Das Gelingen müsse das Individuum allerdings »mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer wachsender Beschleunigung und immer wachsendem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.« (Ebd.: 223) Tragisches besitzt die Kulturentwicklung, weil das die Kultivierung erst Ermöglichende – die Welt der Kultur – sich gegen dieses Individuum stemmt, obgleich diese Kulturwelt aus den Kräften des Individuums selbst stammen (vgl. ebd.: 219). Das Misslingen individueller Kultivierung ist aber kein Schicksal, sondern eine im Prinzip individuell vermeidbare »Gefahr« der Moderne (KDK: 191). Ein historisches Vorbild individueller Kultivierung im simmelschen Sinne ist Johann Wolfgang von Goethe. Simmel bezeichnete Goethe als Genie, und dieses Attribut schreibt er Goethe deshalb zu, weil es diesem gelungen sei, der Eigengesetzlichkeit seiner Individualität zu folgen und dabei gleichzeitig Reproduzierender der Kulturformen zu sein (vgl. GOE: 14, 241). Nicht aber war es die Qualität der Kulturleistungen, die Simmel Goethe den Status eines Genies zubilligen ließ. Stattdessen konstatiert Simmel neben dessen künstlerischen Höchstleistungen »soviel Minderwertiges, soviel theoretisch und künstlerisch Unzulängliches, in seiner Unzulänglichkeit kaum Begreifliches« (ebd.: 254). Goethe war »Dichter«, »Forscher«, Liebender und »Kulturschöpfer« (ebd.: 263). Seine Vollendung erreichte Goethe mit seinem Tod. Eine Vollendung liegt darin für Simmel, weil er seine »Kraft« und »seine Talente […] ohne Rückstand entfaltet« und »erschöpft« habe (ebd.: 269). Dass Goethe seine »Lebensakkus« entleerte, ist aber nicht hinreichende Bedingung gewesen für die Erlangung seiner eigenen Vollendung. Goethes Leben war vollendete Einheit, weil ihm die Entfaltung seines Lebens in »Harmonie zwischen seiner Kraft und seinen Talenten« gelang (ebd.: 269). Goethe sei zwar vielfältig engagiert gewesen, habe aber mit seinen Kräften gut gehaushaltet. Das, was man kann, habe man zu unterscheiden von dem, was man nicht kann – den »allerhand Ansprüchen« und »Nicht-dazu-Gehörigkeiten« der »Peripherie«, so Simmel (ebd.: 190). Goethe hatte sich zu beschränken, und zwar auf sich selbst durch sich selbst (ebd.: 190). Individualität ist Form, und Form ist nach Simmel »Begrenzung, ist Verzicht auf das, was jenseits der Grenze ist« (ebd.: 189). Die Form setzt sich selbst die Form, und dies geschieht nur in dem Maße, in dem man sich in sich selbst schließt gegen die Ansprüche, die der Entfaltung des eigenen Wesenskerns im Wege stehen. Simmel beschreibt dies als eine Form der aus der Entelechie selbst

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kommenden »Selbsterziehung« der Vielfalt der eigenen apriorischen Energien, deren »Tendenz auf jenes Übermaß« und »Egoismus« eingeschränkt und aufeinander abgestimmt wird (ebd.: 191). Die Beschränkung der Kräfte zielt nicht auf die Erfüllung äußerer Anforderungen ab, sondern geschieht »um der Einheit und Vollkommenheit des ganzen, sie tragenden Seins, und also schließlich um ihrer selbst willen« (ebd.: 191). Goethe blieb also, sozusagen, Herr im eigenen Hause, ohne zwischen den (äußerlichen) Ansprüchen an ihn zerrissen zu werden. In der »Philosophie des Geldes« ist es für Simmel wortwörtlich eine oder vielleicht die entscheidende Frage, »ob die Seele Herr im eigenen Hause ist oder wenigstens zwischen ihrem innersten Leben und dem, was sie als impersonale Inhalte desselben aufnehmen muß, eine Harmonie in bezug auf Höhe, Sinn und Rhythmus herstellt.« (PDG: 649-50) Gemeinsam sei Goethe mit anderen Menschen eine transzendentale Einheit gewesen, die das individuelle Sein qua Form individuellen Lebens bezeichnet (vgl. GOE 261-262). Sie ist Möglichkeitsbedingung für das In-der-Welt-Sein individuellen Lebens, und in ihr kommen die unterschiedlichen apriorischen Energien zusammen. Einen bestimmten historisch-empirischen Inhalt trägt die individuelle Form auf dieser Ebene nicht. Von der transzendentalen Einheit unterscheidet Simmel aber die »Einheit innerhalb des Empirischen« (ebd.: 262). Darunter scheint Simmel das empirische Erreichen der idealen Einheit im eigenen Lebensverlauf zu meinen. Leben ist also – als Leben ›an sich‹ – Form und hat noch, empirisch, (Einheits-)Form zu werden. Die ›Lösung‹ Goethe gibt eine Interpretationshilfe für Simmels Problembeschreibung der modernen kulturellen Entwicklung. Das Individuum ist materiell offen, deshalb benötigt es Inhalte zur Gestalt-Werdung seiner Eigengesetzlichkeit. Diese Inhalte »gehören nicht ihm allein«, sondern »sind ihm gegeben« aus den »anderen Welten« (TDK: 213; Hervorhebung im Original). Diese Welten, so Simmel, tendieren aus sich heraus dazu, »die Zentrierung der Inhalte um das Ich [zu] zerbrechen, um sie vielmehr nach ihren Ansprüchen zu formen.« (Ebd.: 213; Hervorhebung im Original) Das individuelle Leben bilde »sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises« (ebd.: 213). Simmels Problembeschreibung wirkt zunächst wie die von zwei unterschiedlichen Zentrifugalkräften, die ein und denselben Inhalt jeweils in ihre eigengesetzliche Bahn lenken wollen. Damit scheint eine Art ›Pari‹-Situation gegeben. Phänomenologisch drückt sich die »verhängnisvolle Selbständigkeit« vom »Reich der Kulturprodukte« darin aus, dass es »wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem andern hervor«, unabhängig vom »Willen […] der Produzenten« wie auch davon, von wie vielen diese »aufgenommen [würden]« (ebd.: 217). Letzteres impliziert die bereits angesprochene Eigenständigkeit der Kulturwelten gegen die Produktions- wie der Konsumtionsdimension.27 Das Wachstum der Kulturprodukte für sich genommen scheint nicht das Problem zu sein, sondern die Selektion der Kulturprodukte. Eine Prämisse von Simmels Über-

27 Kristie O’Neill und Daniel Silver (2017) haben mithilfe simmelscher Kultur- und Religionstheorie weibliche Kultivierung am Beispiel von wandelnden Schönheits- und Ernährungsidealen untersucht. Je nach Ideal ist den Individuen mehr oder minder Kombinationsspielraum gelassen. Religiöse Erlebnisse interpretieren sie als Artikulation von Authentizität in der individuellen Überwindung bestimmter Standards.

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legungen ist, dass die »Aufnahmefähigkeit« des individuellen Lebens »nicht nur nach Kraft und Lebensdauer begrenzt [ist], sondern durch eine gewisse Einheit und relative Geschlossenheit seiner Form«, weshalb es zwecks »seiner individuellen Entwicklung« eine »Auswahl mit determiniertem Spielraum« treffen müsste (ebd.: 219-220). Diese Prämisse gleicht jener im »Goethe«, dass das Erlangen empirischer Einheit an die Selbstbeschränkung durch und auf die eigene Form geknüpft ist. Von hier aus gesehen, so Simmel weiter, wäre die Masse an Kulturprodukten kein Problem, sondern eine Offerte. Die »Inkommensurabilität […] müsste nicht praktisch […] werden, indem es bei Seite liegen läßt, was seine Eigenentwicklung sich nicht assimilieren kann.« (Ebd.: 220) Aber: »Allein so einfach gelingt das nicht.« (Ebd.: 220). Es entsteht jene Konstellation, die Simmel im »Goethe« beschreibt: Es entstehen »Ansprüche an das Subjekt«, »Velleitäten« würden geweckt (ebd.: 220), ebenso der »Wunsch, es zu verwerten« (ebd.: 222). Es entstehen »Berührungen, Versuchungen, Verbiegungen« durch die Kulturobjekte (ebd.: 222). Konsequenz ist »das fortwährende ›Angeregtsein‹ des Kulturmenschen« (ebd.: 223). Und »nicht bedeutungslos«, obgleich doch in der Masse nicht durch uns zu absorbieren sind die Kulturprodukte, weil sie nach Idealen geformt sind, die unserem Leben entstammen. Sie sind – dies ist meine Interpretation – unseren formenden Kräften jeweils in ihren Prinzipien adäquat; so ist die apriorische Erkenntnisfunktion jeder materiellen Erkenntnis adäquat. Nur: Der Weg einer Formungskraft ist nicht der Weg des Individuums, welches eine Vielheit von Kräften in eine Einheit zu bringen hat. Eine Kraft für sich genommen mag eine »Tendenz auf Übermaß« besitzen, die sie im Objektivationsbereich der Kulturwelt auch entfaltet. Das Individuum hat eine Vielfalt solcher Kräfte zu bändigen. Ist bis hierhin eher die Konsumtionsseite angesprochen, gibt es für Simmel auch eine Vereinnahmung auf Seiten der Produktion. Der »im Fachfanatismus eingeschlossene Spezialist« (ebd.: 208) reproduziert die Kulturwelt, aber nicht sein eigenes Ideal. Die einseitige Beanspruchung des Individuums im Beruf lässt »die einheitliche Gesamtpersönlichkeit […] vielfach verkümmern, indem sie ihr ein für die harmonische Gestaltung des Ich unentbehrliches Kraftquantum entsaugt, oder sie entwickelt sich in andern Fällen wenigstens wie in Abschnürung von dem Kern der Persönlichkeit, als eine Provinz mit uneingeschränkter Autonomie, deren Erträge nicht der Zentralstelle zufließen.« (PDG: 628)

Den Grund dafür sieht Simmel in der die Spezialisierung forcierenden Arbeitsteilung (vgl. ebd.: 628). Die Annahme einer Verkümmerung der Individualität durch Vereinseitigung ist gekoppelt an Simmels gegenläufige Hypothese, dass ganzheitliche Vollendung die Ausbildung einer Vielheit von Kräften voraussetzt. Einseitigkeit geht letzten Endes auf Kosten des gesamten Organismus: Diese sehr organisch anmutende Überlegung zur Ausbildungsmöglichkeit des Individuums vertrat Simmel bereits in der »Socialen Differenzierung« (vgl. ÜSD: 283-87). Es ist aber wichtig darauf hinzuweisen, dass Arbeitsteilung per se nicht Grund für kulturelle Verkümmerung ist. Arbeitsteilung ist auch Grund für die Ausdehnung des Kreises schichtübergreifend zugänglicher Kulturprodukte (PDG: 630-31). Simmels Kulturphilosophie unterschied – wenn auch mal mehr, mal minder explizit – zwischen der Produktion und der Konsumtion von Kulturinhalten. Spezialisierung in der Produktion determiniert nicht notwendigerweise die Seite der Konsumtion, sondern umgekehrt korreliert die Spe-

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zialisierung in der Produktion mit der Möglichkeit wachsenden Kulturkonsums. Die allgemeine Chance auf ganzheitliche Ausbildung von Individualität ist nach Simmel unter arbeitsteiligen Bedingungen höher als in vorangegangenen, traditionalen wie ständischen Gesellschaftsformationen, und nicht: geringer. Das vom 18. zum 19. Jahrhundert lebende Genie Goethe lebte an einer Epochenscheide. Die »Blütezeit« Athens (ebd.: 628) mit seinem »Volk von unvergleichlich individuell angelegten Persönlichkeiten« war gerade zerklüftet in zwei Klassen, in welchen »die schwächeren niedergehalten und die starken zu den leidenschaftlichsten Selbstbewährungen angereizt wurden.« (GG: 125) Zumal der Antike, wie Simmel es selbst beschreibt, die moderne Vorstellung einer eigenständigen Individualität unbekannt war (vgl. PDG: 403). Von dieser Perspektive her wäre eine Chance auf ganzheitliche Gestaltung überhaupt ein historisch spätes Produkt einer ausgeprägt arbeitsteiligen und, wie ich später zeigen werde, monetarisierten Gesellschaft. Man muss allerdings sagen, dass Simmel hier keine Systematisierung des Klassen-, Schicht- oder Epochencharakters der Chancen auf individuelle Vollendung vorgenommen hat. Ich weise auf diesen bedeutsamen Punkt hier bereits hin, um ihn erneut in Kapitel 6 und ausführlich in Kapitel 8 aufzugreifen. Ein Determinismus individueller Verkümmerung allein aus Gründen arbeitsteiliger Spezialisierung existiert für Simmel jedenfalls nicht, sondern ein, um es recht salopp zu sagen, spannungsreicher Zustand zwischen innerlichen und äußerlichen Anforderungen.28 Es kommt auf die empirische Ausgestaltung zwischen den Zentripetalkräften des Lebens einerseits und den Zentrifugalkräften der Form andererseits an, während Leben und Form sich wechselseitig bedingen.29 Annika Schlitte kommentiert dies treffend: »Das Verhältnis zwischen beiden Polen der Kultur muss vielmehr immer wieder aufs Neue ausbalanciert und justiert werden.« (Schlitte 2012: 189) Die gleiche dualistische Form begegnet uns auch in Simmels soziologischer Argumentation: Hier sind es die Forderungen anderer Individuen, die überhand nehmen können. Dazu werde ich gleich kommen. Was dies alles konkret heißen kann, dazu hat Simmel wenig gesagt. Eine werkgeschichtlich frühe, aber interessante Ausnahme findet sich in der »Socialen Differenzierung«. Dort sind es »starke Charaktere«, die zweierlei vermögen: Erstens können sie ihren eigenen »Trieben halt gebieten« – sich also Grenzen setzen –, zweitens können sie eine von außen kommende »Forderung selbst so […] gestalten […], daß sie mit ihren eigenen Begehrungen übereinstimmt« (ÜSD: 287). Ein »starker Charakter« könne zu den »Verhältnissen ein Gegengewicht« bieten, ein »schwacher Charakter« dagegen nicht (ebd.: 287; vgl. dazu auch Mahlmann 1983: 103). Auf dieser Linie meint auch Gerhard Ehrl, dass Simmel die »Kultivierungsmöglichkeit […] individualisiert, das Gelingen hängt damit immer auch vom einzelnen ab, von dem, was dieser zur Vollendung braucht, von seiner Kraft, dem Hineingeris-

28 Anders sieht dies Geßner (2003: 194-98). Ihm zufolge führt allein schon »die Eigenlogik der Kulturgebilde zur Zerreißung subjektiver Integrität.« (Ebd.: 195). 29 Zur Nicht-Notwendigkeit oder Kontingenz der Kulturtragödie bei Simmel vgl. Lichtblau 1984: 257-59; Ehrl 2005. Ehrl betont allerdings, dass mit der Zeit Simmels Einschätzung zur Kultivierungsmöglichkeit des Menschen pessimistischer geworden sei (vgl. ebd. 2005: 32).

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senwerden in ausschließlich der Sachlogik folgenden Zusammenhängen Widerstand zu leisten und sich damit der Dezentrierung zu widersetzen; ebenso von seiner Fähigkeit, die benötigten Inhalte aus den jeweiligen Einheiten herauszubrechen und für sich zu nutzen« (Ehrl 2005: 31).

Natürlich kann man sich vieles darunter vorstellen: Seinem »individuellen Gesetz« etwa auch dann zu folgen, wenn es einen Rechtsbruch bedeutet; und Gehorsam und Konformismus – wie unter den Bedingungen eines totalitären Staates – nicht nur staatsrechtlich geboten, sondern auch komfortabler erscheint. Da ausgerechnet Simmels Antimilitarismusbeispiel inhaltlich – wenn auch dem Prinzip nach unabhängig davon – konform ging mit staatlichen Anforderungen, hat Simmel hier in materieller Hinsicht nicht sehr viel weiter geholfen. Simmels in Briefen geschildertes Ringen mit den Fragmentierungen seines alltäglichen Lebens – auch wenn er dieses Ringen nicht konkretisiert: mit wem? womit? – weisen zumindest darauf hin, zusammen mit dem Zeugnis kurz vor seinem Tode – sofern man ihm Glauben schenkt –, dass zwischenzeitliche Zerrissenheit und fremde Anforderungen auf dem Weg einer Vollendung dieser zumindest nicht final im Wege stehen müssen (vgl. Kapitel 3 in diesem Buch). Ich versuche ein vorläufiges Resümee. Meine lebensphilosophische Analyse in Kapitel 4 dieses Buches hat mich zu der Annahme geführt, dass Simmel die empirische Möglichkeit des Für-Sich-Seins lebendiger Individualität bei gleichzeitiger Bindung an die Form in seiner Geldphilosophie gewann. An der Empirie gewann Simmel seine Philosophie einer ontologischen Individualität. Meine Darstellung der simmelschen Kulturphilosophie lebt ebenso von einem Dualismus zwischen individuellem Leben und den Formen der Kultur: Das Für-Sich-Sein individuellen Lebens ist kein fester, substanzieller Zustand, sondern ist prekärer Natur, kann errungen und verloren werden, und dies gerade weil das Leben nicht ganz selbstgenügsam ist, sondern auf die Formen der Kultur verwiesen ist. Die Bedingung des Für-Sich-Seins besteht in der Eigenselektivitätsbeziehung zu den Kulturinhalten, nicht in der solipsistischen Autarkie eigener Vollendung; und genau diese Beziehung individueller Eigenselektivität bildet den Kanal, durch den das Leben durch die Form vereinnahmt werden kann. In Kapitel 8 in diesem Buch werde ich zeigen, dass und wie sich diese Konstellation mit Simmel auf die Herausdifferenzierung der Geldwirtschaft zurückführen lässt. Als nächstes widme ich mich Simmels Soziologie. Hier möchte ich selbstähnlich verfahren und zeigen, dass und wie Simmels Soziologie ein der Kulturphilosophie verwandter Dualismus von individuellem Leben und sozialer Form durchzieht.

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Lebenssoziologie 1

6.1 ZUSAMMENFASSUNG Die Soziologie Simmels stellt wie die Kulturphilosophie die Beobachtung einer möglichen Dimension des Dualismus von Leben und Form dar: Die Formen der Vergesellschaftung sind eigenlogische, aus dem individuellen Leben sich verselbständigende Gebilde. Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel soll zweierlei erwiesen werden: Einmal, dass der Dualismus von individuellem Leben und sozialer Form dem Leben selbst entstammt. Vergesellschaftung ist ein schöpferischer, dem Individuum entstammender Akt, ohne auf dieses reduzibel zu sein: Vergesellschaftung ist Mehr-als-Leben. Zweitens, die Ausdifferenzierung des Dualismus bringt eine Verselbständigung beider Seiten mit sich. Mit der wachsenden Herausbildung eigengesetzlicher Formen der Vergesellschaftung gewinnt auch das individuelle Leben in wachsendem Ausmaße die Freiheit, eigenselektiv soziale Bindungen einzugehen. Die beidseitige Verselbständigung von individuellem Leben und sozialer Form löst die fixierte Koordination zwischen beiden Seiten. Der Preis für die individuelle Eigenselektivität sozialer Bindungen ist deshalb die Möglichkeit der Vereinnahmung des Einzelnen durch jene sozialen Beziehungen, die ursprünglich ihm selbst entstammen. Ich führe meine These an drei materiellen Beispielen aus: der Form der Arbeitsteilung, der Form der Konkurrenz sowie der Theorie von der Kreuzung sozialer Kreise. Kapitel 6.2 führt die Eigenlogik des Sozialen ein: Vergesellschaftung ist ›dort‹, wo das individuelle Handeln und Erleben Wirkung wie Ursache des Handelns und Erlebens eines jeweils anderen Individuums ist. Die Eigenlogik des Sozialen ist zu unterscheiden von der Eigen- oder auch Sachlogik der Kulturwelten, denn in letzteren tritt das Individuum in eine Wechselwirkung mit Objekten. Wissen wird mitgeteilt, Heil vermittelt und Kunst in Auftrag gegeben: Trotz analytischer Trennung ist die Reproduktion von Kultur auf Gesellschaft angewiesen, und umgekehrt. Trotz der Differenz in der Objektreferenz, mit welchem das individuelle Leben in Wechselwirkung tritt, weist die Epistemologie von Simmels Soziologie eine mit seiner Kulturphilosophie identische Charakteristik auf. Kapitel 6.3 widmet sich den epistemologischen Grundlagen von Vergesellschaftung. Den Anknüpfungspunkt bildet die Unterscheidung zwischen der Psychologie und der Soziologie: Wie kann Vergesellschaftung aus dem Individuum begründet werden, ohne auf Psychologisches reduziert zu

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Teile dieses Kapitels gehen auf einen von mir und Thomas Kron (2018) gemeinsam verfassten Aufsatz zurück.

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werden? Mittels einer Analyse des »Exkurses« im ersten Kapitel der »Soziologie« zeige ich, wie Simmel die Eigengesetzlichkeit von Vergesellschaftung – die Einheit der Form – im individuellen Leben begründet. Letzten Endes, so die These von Kapitel 6.3, ist der Dualismus von Individuum und Gesellschaft a priori im Leben begründet. Der »Exkurs« zu den Möglichkeitsbedingungen von Vergesellschaftung arbeitet den Keim jeder sozialen Eigengesetzlichkeit heraus: das Apriori des »Dus«. Das individuelle Leben objektiviert ein Gegenüber, das »Du«, welches ein ebenso individuelles Für-sich-Sein ist. Das Für-sich-Sein entzieht sich jeder vollständigen Vereinnahmung, und doch gelingt eine soziale Beziehung zu diesem »Du« – eine Form der Vergesellschaftung (Mehr-als-Leben). Leben und Form der Vergesellschaftung gehen bereits in den Fundamenten dem Prinzip nach getrennte, eigenlogische Wege. Kapitel 6.4 differenziert den im »Exkurs« zugrundegelegten Keim der sozialen Eigengesetzlichkeit exemplarisch aus. Anhand von Arbeitsteilung (Kapitel 6.4.1), Konkurrenz (Kapitel 6.4.2) und der »Kreuzung sozialer Kreise« (Kapitel 6.4.3) versuche ich das zu demonstrieren, was meines Erachtens als der rote Faden der »Soziologie« anzusehen ist: Die Wende von einer ursprünglich kaum lösbaren Unmittelbarkeit zwischen dem Leben und den sozialen Formen, hin zu einer Versachlichung der sozialen Formen einerseits und einem Auf-Sich-Gestellt-Sein des Individuums andererseits. Der reduktiven Versachlichung sozialer Beziehungen auf eine zu erledigende Funktion korrespondiert eine Erlösung des individuellen Lebens: Zwar nicht Sozialität als solche lässt sich aufheben, wohl aber die unlösbare Bindung an bestimmte Formen, und zwar derart, dass dem individuellen Leben eine eigenselektive Bindungswahl eingeräumt wird. In allgemein-theoretischer Hinsicht steht die Lebensphilosophie im Hintergrund dieses Kapitels, spezifisch-soziologisch ist die 1908 erschienene »Soziologie« die entscheidende Referenz. Deshalb spreche ich auch von »Lebenssoziologie«. Wie bereits in Kapitel 3.3 angekündigt, werde ich auf ältere (in Teilen auch etwas jüngere) soziologische Werke Simmels zurückgreifen, sofern sich deren Inhalte einfügen lassen in die lebenssoziologische Formungsperspektive des vorliegenden Kapitels.

6.2 KULTUR UND GESELLSCHAFT Eine Arbeit, die sich mit Religion und Geldwirtschaft bei Georg Simmel auseinandersetzt, kommt an seiner Soziologie nur schwer vorbei. Religion ist »das objektiv geistige Gebilde« (DR: 112), ist »Welt« (ebd.: 48). Ebenso die Wirtschaft, sie ist »ein objektives Reich« (PDG: 55), ein »Kosmos« (ebd.: 634). Religion und Wirtschaft bilden Kulturwelten. Simmel sagt aber auch, dass »das Geld […] ganz und gar eine soziologische Erscheinung […], eine Form der Wechselwirkung unter den Menschen [ist]« (ebd.: 205). Selbiges gilt nach Simmel für den Tausch. Dieser sei »ein soziologisches Gebilde sui generis, eine originäre Form und Funktion des interindividuellen Lebens« (ebd.: 89). Ähnlich beschreibt Simmel es für die Religion. So sind es »die Relationen zwischen den Menschen, die in der Vorstellung des Göttlichen ihren substanziellen und idealen Ausdruck finden.« (DR: 112) Die christliche Kirche habe »als eine sozial-organisatorische Einheit […] die mystische Wirklichkeit des Heiles selbst [verkörpert]« (ebd.: 80; Hervorhebung im Original). Simmels Soziologie geht denn auch en tout von der Annahme aus, dass »der Mensch […] in seinem ganzen

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Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt [ist], daß er in Wechselwirkung mit andern Menschen lebt« (SOZ: 15). Der gleiche Wortlaut findet sich auch in den 1917 erschienen »Grundfragen der Soziologie« (vgl. GS: 72). Die Sozialisation in mit anderen Individuen geteilten Kreisen beeinflusst auch das individuelle Handeln in Einsamkeit. Bezeichnenderweise war es nun aber nicht das Aufwachsen in der elterlichen Kinderstube, die Arbeit auf dem Hofe des Feudalherrn oder die Sonntagspredigt, die ein Bewusstsein von der Eigenheit des Vergesellschaftet-Seins vermittelte, sondern das Erleben der modernen Gesellschaft als Gesellschaft im Sinne des Überindividuellen. Die zu seiner Zeit sich noch in der Frühphase ihrer Institutionalisierung befindende Soziologie sei, so Simmel, »die theoretische Fortsetzung und Abspiegelung der praktischen Macht, die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt haben.« (SOZ: 13)2 Die soziale Distanz zwischen den Klassen sei so groß, dass eine Beziehung zwischen beiden nur in dem abstrakten Sinne möglich sei, »›eine Gesellschaft‹ [zu] bilden.« (Ebd.: 13)3 Die »unteren Stände« wirkten »nur als einheitliche Masse« (ebd.: 13). Darin, nicht in der Wirkkraft des starken »Einzelnen« (ebd.: 14) bestand die Wahrnehmung der unteren Klasse. Damit spielt Simmel wohl auf das Verhältnis zwischen der besitzbürgerlichen Klasse einerseits – auch, aber nicht nur jener des Kapitals – und der besitzlosen Klasse der Arbeiter andererseits an, auch wenn er es nicht explizit sagt.4 Das Erleben einer anonymen Masse weckte auch »das theoretische Bewusstsein [...], daß überhaupt jede individuelle Erscheinung durch eine Unermeßlichkeit von Einflüssen aus ihrem menschlichen Umgebungskreise bestimmt ist.« (Ebd.: 14) Die Theorie der Gesellschaft konstituiert sich also mit zeitlicher Verzögerung im Verhältnis zur praktischen Lebenserfahrung – zuerst das Leben, dann die Form. Diesen time lag thematisierte Simmel bereits zu Anfang seiner sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie (vgl. ÜSD: 115, 117). Gesellschaft, so Simmels theoretische Reflexion des neuzeitlichen Bewusstwerdens vom Einfluss der Masse, realisiere sich dann, wenn »der eine etwas tut oder leidet, […] weil andre da sind und sich äußern, handeln oder fühlen« (SOZ: 37). Deshalb sind die religiöse Beziehung zu Gott oder das Hunger- wie Schlafbedürfnis, der ästhetische Genuss von Kunstwerken oder das Schreiben dicker Bücher jeweils für sich genommen – als Handeln und Erleben innerhalb der Kulturwelten – nicht sozialer Natur. Sie bewegen sich jeweils innerhalb eines durch ihre geistigen Funktionsprinzipien vorgegebenen Objektbezugs. Sie sind oder werden dann sozialer Natur, wenn der spezifische Objektbezug in irgendeiner Form vermittelt ist durch die wechselseitige Bezugnahme bewusstseinsfähiger Individuen: Die Gnade Gottes und das

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Die »Deutsche Gesellschaft für Soziologie« beispielsweise wurde erst 1909 gegründet, ein Jahr nach Veröffentlichung der »Soziologie« Simmels. Simmel spricht im Wechsel von Ständen und Klassen. Die Trennung bei gleichzeitiger Kreuzung beider Sphären beschrieb Simmel anschaulich in seiner »Soziologie der Sinne«. Die »soziale Frage«, so Simmel, sei »auch eine Nasenfrage.« (SOZ: 734; Hervorhebung im Original) Deutlich leichter würde es den oberen Ständen fallen, zugunsten der unteren Stände auf materiale Privilegien zu verzichten. Kaum erträglich sei für die oberen Stände aber die »körperliche Berührung mit dem Volke« (ebd.: 734; Hervorhebung im Original).

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Seelenheil werden vermittelt durch die Beziehung zur Priesterschaft, Brot und Obdach werden von anderen Individuen gegen Geld gewährt, welches gegen Verkauf der Ware Arbeitskraft auf dem Markt verdient wird, wissenschaftliche Erkenntnisproduktion hängt von den Vorarbeiten anderer ab. Das partikulare Kunstwerk »widerstrebt« zwar der »Aufteilung der Arbeit« unter einer »Mehrzahl von Arbeitern« (PDG: 629), ein ästhetisches Erleben vermittelndes Kunstmuseum oder eine Kunstschule ist aber bereits Vergesellschaftung.5 In diesem Sinne – »sensu strictissimo« (SOZ: 23) – ist es, wenn Simmel in der »Soziologie« zwischen den »Formen« der Vergesellschaftung einerseits und den »Inhalten« andererseits, an denen und durch die Vergesellschaftung zustande kommt, unterscheidet (vgl. ebd.: 18-21). Unter die Inhalte fallen »Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung« wie »Hunger«, »Liebe«, »Arbeit«, »Religiosität«, »Technik« und »die Funktionen und Resultate der Intelligenz« (ebd.: 18). Die individuellen Interessenmotive – die Inhalte – bilden dann Gesellschaft, wenn sie »das isolierte Nebeneinander der Individuen zu bestimmten Formen des Miteinander und Füreinander gestalten, die unter den allgemeinen Begriff der Wechselwirkung gehören.« (Ebd.: 19) Soziale Formen der Wechselwirkung sind solche der »Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach innen und des Abschlusses nach außen und unzähliges Ähnliches« (ebd.: 21). Ökonomische Bedürfnisse können erkundet und befriedigt werden durch staatliche Planung wie durch Marktwettbewerb – Effizienzaspekte außen vor gelassen –, ähnlich gelagert kann es in der Religion Streit und Wettbewerb zwischen Konfessionen ebenso geben wie – ersteres nicht ausschließend – zentralistische Vorgaben von Heilsdogmen durch die Hierokratie religiöser Organisationen. Hierarchien finden sich daneben in Familien, Wissenschafts- und Ministerialbetrieben, Nachahmung in der Schule, der Mode und in der Warenproduktion. Die Unabhängigkeit einer Vergesellschaftungsform von einem bestimmten Inhalt und die Unabhängigkeit eines Inhalts von einer bestimmten Form der Vergesellschaftung ist erst die empirische Legitimation des Postulats eines die Soziologie konstituierenden eigenen Gegenstandsbereiches, den sozialen Formen: »Wie also die Form die identische sein kann, in der die divergentesten Inhalte sich vollziehen, so kann der Stoff beharren, während das Miteinander der Individuen, das ihn trägt, sich in einer Mannigfaltigkeit von Formen bewegt; wodurch denn die Tatsachen [...] eben jene Legitimation des soziologischen Problems leisten« (ebd.: 21-22).

Ich werde weiter unten zeigen (vgl. Kapitel 6.4), dass Emile Durkheims Definition des soziologischen Tatbestandes einen scheinbar ganz ähnlichen Konstitutionsgrund in den interindividuellen Wechselwirkungen besitzt. Durkheims Annahme, dass Formen des individuellen Handelns selbst nicht individuellen Ursprungs, sondern

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Max Weber betont zu Beginn seiner religionssoziologischen Abhandlungen in »Wirtschaft und Gesellschaft« ähnlich, dass es ihm nicht um das »›Wesen‹ der Religion« gehe, Gegenstand seien stattdessen die »Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln« (Weber 2010: 317).

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letzten Endes auf überindividuelle Kräfte zurückzuführen sind, markiert bei scheinbarer Ähnlichkeit eine im Prinzip vollständig differente Herangehensweise. Simmel erfand für das Zusammenwirken zwischen Individualität, der Welt der Kultur und der – wenn man es so sagen kann – Welt der Vergesellschaftung ein von der »Soziologie« 1908 bis zu den »Grundfragen« 1917 geltendes Dreierschema. Demnach lässt sich die Totalität der an sich nicht zugänglichen Inhalte einmal (a) als Produkt der »individuellen Existenzen« begreifen, welche »die realen Träger der Zustände sind« (SOZ: 29), sie sind Produkte des »tätigen und aufnehmenden«, des »typischen oder einzigartigen Subjekt[s]« (GS: 78). Damit gemeint ist die Produktion von Geschichte durch konkrete historische Persönlichkeiten wie einem Napoleon Bonaparte oder Otto von Bismarck. In seinen geschichtsphilosophischen Studien – zu nennen ist das Buch »Die Probleme der Geschichtsphilosophie« – erarbeitete Simmel eine Theorie des Verstehens historischer Persönlichkeiten zwecks Beantwortung der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Geschichtswissenschaften (vgl. Kapitel 9.2.3). Eine Rolle innerhalb seiner Soziologie spielte Simmels Theorie des Verstehens nicht. Ferner (b) sind die Inhalte die Schöpfung der »formalen Wechselwirkungsformen« (SOZ: 29), sind »durch die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert« (GS: 77). Bereits in der »Philosophie des Geldes« spricht Simmel von »den Lebensprodukten der Gesellschaft« (PDG: 622) und dem »objektive[n] Geist der geschichtlichen Gesellschaft« (ebd.: 627). Schließlich (c) kann die Schaffung und Formung von Inhalten »nach ihrer rein sachlichen Bedeutung« hin beobachtet werden, »nach der Wirtschaft und der Technik, nach der Kunst und der Wissenschaften, nach den Rechtsnormen und den Produkten des Gefühlslebens.« (SOZ: 30)6 Die gesellschaftliche oder individuelle Bezugnahme »auf künstlerischem oder politischem, rechtlichem oder medizinischem, philosophischem oder überhaupt erfinderischem Gebiet hält eine gewisse Ordnung ein, die uns aus den sachlichen Verhältnissen ihrer Inhalte [...] verständlich wird.« (GS: 77). Diese »drei Gesichtspunkte verschlingen sich fortwährend«, was zumindest die »methodische Notwendigkeit« gebiete, »sie auseinander zu halten« (SOZ: 30). Empirisch gehen Form und Inhalt zwar immer zusammen (vgl. ebd.: 19-20). Aus anthropologischen Gründen schneidet die menschliche Praxis aus der Totalität einen bestimmten Ausschnitt heraus und bringt ihn in die Form einer Einheit, um die Inhalte gegenständlich und bearbeitbar zu machen. Das Leben in der Wissenschaft verfährt hier nicht anders als das durch erstere rekonstruierte Leben in den anderen Kulturwelten. In diesem Sinne auseinanderzuhaltender, formender Zugriffe auf die Totalität der Inhalte ist es auch gemeint, wenn Simmel später sagt, dass »Form und Inhalt nur relative Begriffe« seien, »Kategorien der Erkenntnis zur Bewältigung der Erscheinungen und ihrer intellektuellen Organisie-

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Dass Simmel hier – und nicht nur hier – fortwährend die Technik als einen eigenlogischen Zusammenhang erwähnt, entsprach der zeitgenössischen Wahrnehmung eines rasanten technischen Fortschritts. Mit dem Bild der sich ausbreitenden, bis dato unbekannten Elektrotechnik vor Augen meint der Historiker Joachim Radkau: »Die Vorstellung von ›der‹ Technik als gesetzmäßig zusammenhängendem Gebilde war um 1900 zum Gemeingut geworden, und durch die Elektrifizierung bekam die Technik gleichsam Nerven. Diese Technik präsentierte sich nunmehr als unendlicher Strom, in dem der einzelne wohl oder übel mitschwimmen mußte.« (Radkau 1998: 199)

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rung« (ebd.: 492). Je nach praktischer Relevanz müsse »dasselbe, was in irgend einer Beziehung, gleichsam von oben gesehen, als Form auftritt, in einer andern, von unten gesehen, als Inhalt bezeichnet werden« (ebd.: 492). Form und Inhalt sind so zwar nicht willkürlich gegeneinander austauschbar, sie gewinnen ihren Sinn in ihrer Ordnung schaffenden Kraft. So operiert Simmel in seinem Religionsbuch ebenfalls mit der Form-Inhalt Unterscheidung, nur eben unter einer perspektivischen Wendung. In den »soziologischen Relationen« – Simmel unterscheidet nicht trennscharf zwischen sozial und soziologisch – liegen »Gefühlsspannungen und Bedeutungen, die sie zur Aufnahme in die religiöse Form prädestinieren.« (DR: 59). Aus dem »Sozialen« bilde sich erst »das religiöse Gebilde« (ebd.: 59). Nochmal bekräftigt Simmel das Verhältnis von religiöser Form und sozialem Inhalt, wenn er sagt, dass zu »diesen Inhalten, durch die die Religiosität gewissermaßen hindurchgeht oder deren sie sich bemächtigt, [...] die soziologischen Gebilde [gehören]« (ebd.: 69). Das religiöse Apriori vergegenständliche sich in einer Welt von »Göttern und Heilsthatsachen«, dafür aber müsse sie »in diese Welt Formen von jenem Inhalte her hineintragen, die gleichsam an der religiösen Eigenbewegung abgeschattet sind und nun, von ihrem sozialen Stoff gelöst und wie freischwebend, sich im Transzendenten ansiedeln.« (ebd.: 69; Hervorhebung PB) Die Markierung im Zitat macht besonders deutlich, dass das, was der Kulturwelt Religion als Inhalt dient – der soziale Stoff – in anderer Hinsicht, auf die eigenständige Dimension der Vergesellschaftung hin besehen, soziale Form ist. Allerdings ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die perspektivische Unterscheidung für Simmel über den analytischen Charakter hinaus eine empirische Entsprechung besitzt: Die Kulturwelt der Religion wie die Kulturwelt der Ökonomie gehen nicht in Gesellschaft auf, und umgekehrt. Sie sind nicht reduzibel aufeinander. Die Kulturwelten verlaufen nach einer jeweils ihnen eigenen Logik, aber dies tut auch die Vergesellschaftung prinzipiell, in welcher partikularen Form dies dann auch immer geschehen mag. In diesem Sinne meint Simmel, dass der Soziologie die »Auffindung zeitloser Gesetzlichkeiten« sozialer Formen wie deren »geschichtliche[r] Entwicklung« obliege (SOZ: 26). Eines ist hier allerdings hervorzuheben: Die »geschichtliche Entwicklung« ist nicht in einem irgendwie sozialgeschichtlichen Sinne eines kausalgenetischen Narrativs gemeint. Welchen Beitrag einzelne inhaltliche, historisch zu verortende Episoden zur Schaffung einer Form wie beispielsweise der Konkurrenz oder Arbeitsteilung geleistet haben, ist nicht Simmels Thema. Wie Otthein Rammstedt gezeigt hat, weist die »Soziologie« von 1908 eine im Verhältnis zu seinem 1894 publizierten Aufsatz »Das Problem der Sociologie« veränderte, nun asymmetrische Beziehung zur Historie auf (vgl. Rammstedt 1992b: 25, 31). Die konzeptionelle Änderung muss sich gemäß Rammstedt um 1896, 1897 herum abgespielt haben (vgl. ebd.: 30). 1897 war es auch, dass Simmel erstmals von einer anzufertigenden »Philosophie des Geldes« statt einer »Psychologie des Geldes« gesprochen hat (vgl. Kapitel 8.3.2). Da meine Annahme diese ist, dass Simmel mit der »Philosophie des Geldes« zu seiner Lebensphilosophie gefunden hat, kann die Minderprivilegierung des Historischen in seiner Soziologie ein Reflex seiner lebensphilosophischen Wende gewesen sein: Mögen sich auch noch Spuren des Historisierenden in seinem 1908er Werk finden lassen, besitzen »die historischen Analysen nur noch illustrativen Charakter« (Rammstedt 1992b: 31). Vorrangig zählt nun die Zeitlosigkeit der eigenlogischen Form, die inhaltlich-historische Varianz ist sekundär, gleichwohl

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notwendig für das Verständnis der Form (vgl. Bevers 1985: 83-88). Machen wir uns das am Beispiel der Konkurrenzform klar (vgl. Kapitel 6.4.2). Weil Konkurrenz ein singuläre Bereiche übergreifendes soziales Phänomen sei – »Von Konkurrenz [...] erfahren wir auf den verschiedensten Gebieten, die Politik wie die Volkswirtschaft, die Geschichte der Religionen wie die der Kunst erzählen uns unzählige Fälle derselben.« (SOZ: 26) –, gehöre es bei der Unterschiedlichkeit seiner Inhalte »einem nach eignen Gesetzen geregelten und abstrahierungsberechtigten Gebiet [an]« (ebd.: 26-27). Der Abstraktion und der Geschichtlichkeit bedarf es, weil sich Konkurrenz nie in seinem erst durch die soziologische Beobachtung herzustellenden Idealtypus zeigt; dies einmal in Abhängigkeit von dem Inhalt, der sich unterschiedlich gut für Wettbewerb eignet, dann in Abhängigkeit vom geschichtlichen Verlauf, der Konkurrenzformen mal mehr, mal minder wohl gesonnen ist. Simmel sagt so zwar, dass die Ausdehnung von Konkurrenzstrukturen auf den unterschiedlichsten Kulturgebieten zusammenhängt mit der Durchsetzung des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Andere Zeiten dagegen versperren sich aus anderen, aber ebenso idealistischen Motiven dem Wettbewerb. Eine kausalgenetische Analyse der Etablierung und Durchsetzung von Konkurrenzformen findet sich hier aber nicht, stattdessen die Betonung von Korrelation, Wechselwirkung und Entsprechung. Eine Form setzt sich nicht widerstandslos durch, aber: überhaupt eine Eigenlogik besitzt sie als Wechselwirkung zwischen dem Handeln und Erleben von Individuen. Gleiches gilt für die Kulturwelten. Diese sind »von Gesellschaftlichkeit durchdrungen« (GS: 76) und »innerhalb der Bedingtheit und durch die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens realisiert«, während umgekehrt jede »gesellschaftliche Arbeit, die sich an irgendeiner Materie vollzieht, [...] sich deren Naturgesetzlichkeit fügen [muss]« (ebd.: 77). Gesellschaftliche Entwicklung werde durch die wirksamen Ideale der Kulturwelten »in bestimmten Richtungen und Schranken« gehalten (ebd.: 77). Es sind unterschiedliche Logiken am Werk, die einander bedingen, aber auch einander behindern können – wie beispielsweise eine die relationale Konstitution von Preisen durchkreuzende gesellschaftliche Preisbindung, wie es bei einem Mindestlohn oder der Buchpreisbindung der Fall ist. Andersherum bedarf es gesellschaftlich durchgesetzter Regeln, damit Märkte funktionieren. Wenn Simmel meint, dass Form und Inhalt in der Empirie immer zusammenwirken, dann impliziert dies ein Zusammenwirken der unterschiedlichen apriorischen Formungskräfte – wie auch immer dieses Zusammenwirken ausgestaltet ist. Die Objektbeziehung des Individuums kann zwar durch ein Formungsprinzip dominiert werden. Eine priesterlich vermittelte und in Kirche organisierte Beziehung zu Gott nimmt sozialisierende Energien in Anspruch, auch wenn der Sinn von Kirche und Priesterschaft vorrangig ein religiöser sein mag. Die religiösen Interessen oder wirtschaftlichen Zwecke, die sich in unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung realisieren, sind Materialisierungen ihres religiösen oder wirtschaftlichen Funktionsprinzips, mit denen Individuen formend auf die Welt zugreifen. Religiöse Sehnsucht, ökonomisches Begehren braucht Gesellschaft; und deshalb bringen erstere überhaupt erst – als Inhalte – die synthetische Einheit zustande, die Simmel Wechselwirkung nennt. Das praktische wie theoretische Bewusstsein, zusammen mit anderen so etwas wie Gesellschaft zu bilden, entstammt Simmel zufolge zwar der Erfahrung von anderen als einer anonymen Masse. Gleichwohl aber bestand für Simmel »kein Zweifel, daß Vergesellschaftung ein psychisches Phänomen ist« (SOZ: 37), und ebenso wenig

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Zweifel bestand für Simmel auch darin, dass es psychologisierender Formen der Beschreibung zum Verständnis sozialer Phänomene bedarf (vgl. ebd.: 38-39). Psychologisierung war die Kritik Max Webers an Simmel, als er sich im Zuge der Ausarbeitung seiner eigenen Theorie des Verstehens mit den entsprechenden Vorarbeiten Simmels in dessen »Problemen der Geschichtsphilosophie« auseinandersetzte. Weber spricht von einer »psychologistischen Formulierungsweise« Simmels und zweifelt daran, ob dessen »psychologische Beschreibung« dabei helfe, die von diesem selbst vollzogene Scheidung zwischen Sachaussage und dem individuellen Motiv der Sachaussage hinreichend »scharf« zu ziehen (Weber 1922: 94; vgl. Scaff 1987: 26568; Nedelmann 1988: 13-15). Simmel intendierte aber keine psychologistische Reduktion gesellschaftlicher Phänomene auf reine Psychologie. Die psychologische Beschreibung müsse ihre »Absicht nicht in psychologischen Erkenntnissen haben« (SOZ: 39). Der Bewusstseinsstrom sowie die psychologische Beschreibung sind Mittel zum Zweck der Erkenntnis, sie bilden nicht selbst den Erkenntniszweck. Als »soziologische Formung betrachtet, ist nicht die in jedem von zwei Individuen ablaufende seelische Reihe an sich von Interesse, sondern die Synopsis beider unter der Kategorie der Einung oder Entzweiung«, also der Wechselwirkung (ebd.: 38). So wie die psychische Beschreibung Mittel zum Zweck soziologischer Erkenntnis ist, wird der Bewusstseinsstrom zum Inhalt sozialer Formung. Das Verhältnis von individuellem Leben und gesellschaftlichen Formen ist analog zu jenem von Individuum und Kulturwelten zu begreifen: als Dualismus. Vergesellschaftung besitzt ihren konstitutiven Grund im individuellen Leben, verselbständigt sich dann, als Form, aus ihrem Schöpfer, umfasst ihn und bestimmt ihn dann nach seinen eigenen Gesetzen. Das individuelle Leben wird dann zum bloßen Träger der Reproduktion sozialer Formen, es dient der psychologischen »Realisierung« der »von den psychischen Vorgängen getragenen« Formen (ebd.: 38). Die »Sachlichkeit der Vergesellschaftung« wird »von den psychischen Vorgängen« getragen (ebd.: 3839). Dies widerspricht nicht, sondern entspricht der programmatischen Intention Simmels, Vergesellschaftung in ihrem »status nascens« zu zeigen (ebd.: 33), also dem Zeitpunkt ihrer Geburt und Schöpfung aus dem Leben. Bis dato habe sich die Soziologie nur auf »diejenigen gesellschaftlichen Erscheinungen beschränkt, bei denen die wechselwirkenden Kräfte schon aus ihrem unmittelbaren Träger auskristallisiert sind, mindestens zu ideellen Einheiten.« (Ebd.: 32) Dazu zählt Simmel »Staaten und Gewerkvereine, Priesterschaften und Familienformen, Wirtschaftsverfassungen und Heerwesen, Zünfte und Gemeinden, Klassenbildung und industrielle Arbeitsteilung«, die »großen Organe und Systeme«, welche »die Gesellschaft auszumachen [scheinen]« (ebd.: 32). Das Wirksamwerden von Gesellschaft als Masse – der Anfangspunkt soziologischer Reflexion – wird für Simmel nun zum Explanandum, aber nicht zum Explanans, und in den Fokus rückt Simmel die Logik des Konstitutionsaktes der Verselbständigung der sozialen Formen aus der Unmittelbarkeit des Lebens. Das individuelle Leben ist der ›Geburtsort‹ der sozialen Formen. Auf eine Uneindeutigkeit in der simmelschen Beschreibung möchte ich hierbei hinweisen. Manche Wortwahl Simmels weist darauf hin, dass Vergesellschaftung für ihn nicht bloß Formbildung, sondern selbst Leben ist. In einem vitalphilosophischen Duktus spricht Simmel vom »Leben der Gesellschaft«, dem »Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet«, von dem »Fluktuieren ihres Lebens«, der »Zähigkeit und Elastizität […] dieses so […] rätselhaften Lebens der Gesellschaft« (ebd.: 33).

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Dieses Vokabular kommentierte Scott Lash deshalb passend: »This is sociological vitalism. It is a metaphysics.« (Lash 2002: 158)7 Ob und inwiefern der synthetische Akt der Vergesellschaftung nicht nur im übertragenen, sondern auch tatsächlichen, lebensphilosophischen Sinne Simmels als Leben bezeichnet werden kann, dazu lässt sich meines Dafürhaltens nach bei Simmel keine explizite Stellungnahme finden.8 Davon unberührt bleibt die Aufgabe von Bedeutung, den synthetischen Akt der Vergesellschaftungsform mit anderen Individuen – das Mehr-als-Leben – aus dem Leben selbst zu erklären. Diesem Unterfangen diente Simmels »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?«

6.3 DIE ERKENNTNISTHEORIE DER GESELLSCHAFT Wie Klaus Lichtblau (1994b) und Uta Gerhardt (1998) zeigen konnten, waren Simmels erkenntnistheoretische Schriften eine Vorarbeit zu der verstehenden Soziologie Max Webers. Dazu gehörte auch das Verfahren idealtypisierender Abstraktion Webers (vgl. ebd.: 119). Ferner leisteten Simmels geschichtsphilosophische Arbeiten einen Beitrag zur Bedingungsmöglichkeit des Verstehens historischer Persönlichkeiten (vgl. ebd.: 121). Auch auf Durkheims religionssoziologische Erkenntnistheorie hatte Simmel Einfluss, wie ich später noch zeigen werde (vgl. Kapitel 7.2.6.1). Anders als in seinen geschichtsphilosophischen Arbeiten zur Verstehensmöglichkeit historischer Persönlichkeiten ist der Gegenstand von Simmels »Exkurs zu dem Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« nicht eine Theorie des Verstehens der Handlungsmotive anderer Individuen. Das sinnhafte Sich-Orientieren am Anderen und dessen Erwartungen ist nicht das Thema der soziologischen Erkenntnistheorie, auch nicht der Soziologie Simmels überhaupt (vgl. Fitzi 2002: 110). Mit dem »Exkurs« begründet Simmel die Eigenrealität gesellschaftlicher Objektivationen in dem konstitutiven Grund individuellen Lebens. Subjekt und Objekt fallen nicht ineinander – im Gegenteil –, können aber auch nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Klaus Lichtblau sagt, dass die für Simmels soziologische Untersuchungen der Vergesellschaftungsformen grundlegende Leitdifferenz jene »zwischen ›Ich‹ und ›Du‹« ist, »welche als Urphänomen eben jenseits des Gegensatzes von ›subjektiv‹ und ›objektiv‹ steht.« (Lichtblau 1994b: 549; Hervorhebung im Original). Die Objektivation einer Vereinheitlichungsform zwischen »Ich« und »Du« aus der Einheit des individuellen Lebens bildet die Welt der Sozialität, und dieser Konstitutionsakt: die Bildung einer Einheit als Wechselwirkung zwischen »Ich« und »Du« ist der Gegenstand von Simmels Erkenntnistheorie des Sozialen. Gregor Fitzi gebührt der Verdienst, den »Exkurs« meines Wissens nach erstmals dezidiert und ausführlich unter lebensphilosophischer Per-

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Scott Lash verpasst es allerdings, eine Linie von der Lebensphilosophie zur Soziologie Simmels zu ziehen, wonach die Verselbständigung der Form im Leben angelegt ist. Leben ist bei Simmel genau dann Leben, wenn es aus sich heraus Einheit ist, und dafür nicht erst äußerer, hinzutretender Kräfte bedarf, die die Einheit zustande bringen. Synthese ist eine erst äußerlich zustande gebrachte Einheit. Die Entelechie birgt die – wenn auch transzendentale – Einheit in sich, die sich dann erst in einem konstitutiv sekundären Akt zu objektivieren hat.

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spektive zu betrachten. Präziser gesagt: Simmel habe, so Fitzi, »unter einem Gesichtspunkt« gearbeitet, »der nah zu seiner späten Lebensphilosophie stand« (Fitzi 2002: 123; Hervorhebung PB). »Die Gesellschaft« sei »Lebensform der Individuen« (ebd.: 123). Aus bestimmten, der Länge wegen in einer Fußnote diskutierten Gründen meint Fitzi, dass die »Soziologie« Simmels von 1908 noch nicht vollständig eine Lebenssoziologie gewesen sei. 9 Ich halte seine Bedenken für nicht zutreffend. Fitzi übersieht meines Erachtens eine Prämisse des »Exkurses«, und zwar die, dass Simmel bereits mit der Annahme eines eigengesetzlichen Individuums arbeitet. Dies hätte seine Annahme, Simmel arbeite noch nicht streng lebensphilosophisch in seiner Soziologie, unter Umständen revidiert. Der Unterschied zwischen Natur und Gesellschaft besteht Simmel zufolge darin, dass im Unterschied zu den Elementen der Natur die Elemente einer sozialen Form zugleich diejenigen sein müssen, welche die Einheit der sozialen Wechselwirkung zustande bringen. Bereits vor dem »Exkurs« verweist Simmel auf die bereits im vorangegangenen Kapitel traktierte Eigenleistung der geistigen Entelechie, die Form der Einheit zu stiften: »[A]lle gesellschaftlichen Vorgänge und Instinkte [haben] ihren Sitz in Seelen […], […] Vergesellschaftung [ist] ein psychisches Phänomen […] und […] zu ihrer fundamentalen Tatsache: daß eine Mehrheit von Elementen zu einer Einheit wird – [gibt es] in der Welt des Körper-

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Um eine simmelsche Lebenssoziologie zu sein, so Gregor Fitzi, hätte Simmels Soziologie zusätzlich noch »die Grenzstruktur der menschlichen Erfahrung« berücksichtigen und zeigen müssen, »in welchem Sinn die objektiv geltenden Formen der Wechselwirkung als ein Bereich der Kultur zu betrachten seien.« (Fitzi 2002: 293) Was Fitzi als die »Grenzstruktur menschlicher Erfahrung« bezeichnet, ist in der »Lebensanschauung« aber lediglich ein inhaltliches Exempel für den Dualismus von Leben und Form bzw. Mehr-Leben (=Grenze überwinden) und Mehr-als-Leben (= Grenze setzen). Die Ausgestaltung individuellen Lebens in sozialen Formen ist aber eine durch das Individuum selbstgesetzte Grenze. Ferner ist Gesellschaft nicht gleich Kultur. Sie bilden unterschiedliche Logiken, die sich empirisch miteinander verzahnen. Diesen Punkt hatte ich weiter oben sowie in Kapitel 5.3 erklärt. Ein weiterer Kritikpunkt meinerseits betrifft ein meines Erachtens nur auf den ersten Blick peripheres, dann aber doch tiefgreifenderes Missverständnis Fitzis. Fitzi suggeriert eine falsche funktionale Analogie zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, wenn er meint: Das gegenseitige »Angewiesensein des individuellen Lebens und der sozialen Form« sei analog zu der »Geltung der [ökonomischen] Werte« und deren »gegenseitige[n] Begründung« (ebd.: 123). Was ist daran in meinen Augen falsch? Die ökonomische Wertform ist eine Objektivation des individuellen Lebens, so wie die soziale Form eine Objektivation des individuellen Lebens ist. Beide, ökonomische wie soziale Form, sind Formen, welche das Leben aus sich hervortreibt und sind inhaltlich differente Exempel dafür, dass das Leben nur in der Form sein kann. Die Wechselwirkung findet dann erst in einem logisch zweiten Schritt statt: Der ökonomische Wert konstituiert sich im relational konstituierten Austausch, die soziale Form konstituiert sich in der Wechselwirkungsform mit anderen Individuen.

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lichen nicht einmal eine Analogie […], da in dieser alles in das unüberwindliche Außereinander des Raumes gebannt bleibt.« (SOZ: 35; Hervorhebung PB)10

Diese Einheitsleistung bringt es zustande, weil es selbst aus sich heraus Entelechie ist: Es stellt seine Einheit sich selbst gegenüber in der Form der Objektivation. Eine extramundane Beobachterposition mag es geben, ist für sich genommen aber weder notwendige, noch hinreichende Bedingung, um Vergesellschaftung zustande zu bringen. Notwendige und hinreichende Bedingung für Vergesellschaftung ist die intentionale Bezugnahme geistigen Lebens auf ein anderes, individuelles geistiges Leben: »[D]as Bewusstsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit.« (Ebd.: 43; Hervorhebung im Original) Auch hier muss betont werden: Auch diese Einheit der Wechselwirkung mit anderen ist schöpferische Leistung des individuellen Lebens. Simmel verlegt den konstitutiven Formungsakt der Vergesellschaftung mit anderen in den »Kopf« des individuellen Lebens. Simmel geht es zu keinem einzigen Zeitpunkt darum zu leugnen, dass es psychologischer Hilfsmittel bedarf, um die Funktionsweise sozialer Formen verstehen zu können (vgl. ebd.: 35-39). Psychologie wird für Simmel aber mit der Unterscheidung zwischen dem psychologischen Prozessieren bestimmter Inhalte und der vom individuellen Bewusstsein getragenen und intendierten, aber ihre Subjektivität nicht erschöpfenden Sinn, den sie aus den »Beziehungsformen« ziehen (ebd.: 38; Hervorhebung PB). Konkret bedeutet dies, dass das individuelle Leben ein – wie auch immer näher definiertes – »Du« vorstellt, dieses »Du« aber in diesem einen Akt zugleich als sich gegenüber dem Ich verselbständigt vorgestellt wird. Auf das vorgestellte »Du« wird jene Selbstgewissheit projiziert, die das vorstellende Ich-Bewusstsein von seiner eigenen Existenz besitzt: »...fühlen wir das Du als etwas von unserer Vorstellung Unabhängiges, etwas, das genau so für sich ist, wie unsre eigne Existenz.« (Ebd.: 45; Hervorhebung im Original) An solcher und anderer Semantik wie »seelischen Zentren« und »selbständige Wesen« (ebd.: 44; Hervorhebung im Original) wird deutlich, dass Simmel von (mindestens) zwei in sich geschlossenen Individualitäten ausgeht, die miteinander eine Form der Gesellschaft zu bilden haben. Horst-Jürgen Helle liest das »Du« interessanterweise als eine implizite metaethische Stellungnahme Simmels: »Dem Du wird eine autonome Eigenexistenz zuerkannt – auch dies ist eine ethische Konsequenz aus Simmels erkenntnistheoretischer Position.« (Helle 2001: 96) Der geschichtliche Tatbestand des Für-Sich-Seins der Individualität spiegelt sich in der geistigen Vorstellung des anderen wider. Dies impliziert eine evolutionstheoretische Kontingenz der Aprioris der Vergesellschaftung.11 Dies ist keine Einsicht der »Soziologie«, und sie beschränkt sich nicht auf das Gebiet der Soziologie. Dass sich die geistigen Aprioris in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt herausbilden, ist ein Produkt

10 Damit bleibt Simmel auf der in der »Philosophie des Geldes« angelegten lebensphilosophischen Linie (vgl. PDG: 246). 11 Ausdrücklich macht Simmel diesen Punkt ebenso in der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG: 112-13). Auf die evolutionstheoretische Kontingenz der Erkenntniskategorien bei Simmel machten bereits andere aufmerksam. Vgl. dazu Boudon 1989: 415; Geßner 2003: 68.

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der Synthese Kants mit Darwin, wie sie Simmel explizit und beispielhaft in dem Aufsatz »Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie« von 1895 niedergeschrieben hat.12 Es erscheint wie ein paradoxes Unterfangen, aber erst, weil das Gegenüber als unabhängig von der eigenen Vorstellung gedacht wird, kommt es überhaupt zur Bildung eines intentionalen Objektes, mit dem das individuelle Leben in der Form einer wechselseitigen Einflussnahme steht. Das »Du« wird objektiviert, um dann von ihm Rückwirkungen zu erfahren. Die soziale Form der Wechselwirkung ist die sich gegenüber dem individuellen Leben verselbständigende Form (= Mehr-als-Leben), weil das Gegenüber sich dem Zugriff qua Form einer aus sich seienden Individualität entzieht. Simmel schafft mit diesem Gedankengang etwas Eigenartiges: Er verlegt den Dualismus aus individuellem Leben und sozialer Form in die Bedingungsmöglichkeit der Vergesellschaftung hinein. Eigentlich handelt es sich mit dem »Du« bereits um das basalste Apriori der Vergesellschaftung, ohne dass Simmel den intentionalen Bezug auf andere ein Apriori nennt. Uta Gerhardt spricht von der »Grundlage für die drei Aprioris«, denen sich Simmel nach dem »Du« widmet (Gerhardt 2011: 104). Die Besonderheit der drei Aprioris liegt, wie ich zu zeigen versuche, in deren besonderen lebensphilosophischen Imprägnierung: Sie machen jeweils das eigengesetzliche Individuum zur Voraussetzung von Vergesellschaftungsformungen. Das erste Apriori setzt die in sich geschlossene Form der Individualität voraus. Diese kann von keinem Gegenüber sozialer Wechselwirkung Punkt-für-Punkt rekonstruiert werden. Unser Zugriff überformt mit diesem Zugriff das Gegenüber (vgl. SOZ: 50). Sehr allgemein geschieht dies zunächst in zwei Richtungen: Einmal denken wir das lebendige Individuum als zugehörig zum »Typus Mensch«, zu welchem »seine Individualität ihn gehören läßt« (ebd.: 48; Hervorhebung im Original). Individualität besitzt immer Allgemeinheitscharakter. Warum? Die Form lebendiger Individualität ist Entelechie, als Geistwesen gehört es aber trotz ihrer In-SichGeschlossenheit der Gattungsform geistfähiger Menschenwesen zu. Man könnte auch von einem Lebensformtypus sprechen, der in einer jeweils formal-individualisierten Gestalt auftritt. Simmel führt damit in das erste Apriori Spuren des quantitativen Individualismus fort, nur eben lebensphilosophisch reformuliert. Von hier aus ergibt sich die zweite Richtung der Überformung: Weil das Mensch-Sein nur in der Form der Individualität möglich ist, besitzen alle Menschen, qua Mensch-Sein, ein Ideal – ihr »individuelles Gesetz«, unabhängig zunächst von jedem Inhalt. Unter diesem Ide-

12 Auf die Wirtschaft bezogen meint Simmel beispielsweise, dass sich die Vorstellung vom Geldsymbol statt dem Geld als einem unmittelbaren, konsumierbaren Wert erst allmählich und in Wechselwirkung mit der Ausdehnung der Sozialbeziehungen ausgebildet habe (vgl. PDG: 159-62). Mitglieder archaischer Gesellschaftsverbände würden die Kaufkraft des Geldes nach dessen sinnlicher Größe bestimmen. Was groß oder lang ist, ist entsprechend viel Wert. Sinnliche Parameter bilden die Äquivalenz. In ›reifen‹, geldwirtschaftlichen Tauschbeziehungen ist die Kaufkraft des Geldes unabhängig von dessen sinnlicher Größe, auch wenn die Quantitäten natürlich einen irgendwie sinnlichen Träger besitzen. Die Tauschwertäquivalenz von sinnlicher Größe zu entkoppeln nennt Simmel einen »der größten Fortschritte, die die Menschheit gemacht hat, die Entdeckung einer neuen Welt aus dem Material der alten.« (Ebd.: 162)

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al überformen wir das Gegenüber in der Wahrnehmung. Wir nehmen »das Bild [wahr], das er zeigen würde, wenn er sozusagen ganz er selbst wäre, wenn er nach der guten oder schlechten Seite hin die ideelle Möglichkeit, die in jedem Menschen ist, realisierte. Wir sind alle Fragmente, nicht nur des allgemeinen Menschen, sondern auch unser selbst.« (Ebd.: 49; Hervorhebung im Original). Wir erkennen nur einen Ausschnitt des anderen, deshalb ist das Ideal, unter das wir den anderen zu erkennen meinen, eine Extrapolation. Praktisch würde diese individuelle Epistemologie in der Regel nur ansatzweise wirksam werden. Das Gegenüber als Element des Typus Mensch und unter der Vorstellung seiner eigenen Vollendung zu denken, mutet innerhalb einer Erkenntnistheorie der Vergesellschaftung zunächst seltsam an, denn Formen der Vergesellschaftung sind mit ihnen nicht bezeichnet. Sie zeigen allerdings an, dass die Bedingung des In-Beziehung-Tretens mit anderen eine das Gegenüber formende Typisierung oder Einordnung bedingt, welche den Kontakt mit der ontologischen Reingestalt des anderen in ihren Voraussetzungen unterminiert. So sagt Simmel, dass »jene Veränderungen und Neugestaltungen, die diese ideale Erkenntnis seiner [des Gegenüber; Anmerkung PB] hindern, grade die Bedingungen [sind], durch die die Beziehungen, die wir allein als die gesellschaftlichen kennen, möglich werden – ungefähr wie bei Kant die Kategorien des Verstandes, die die unmittelbaren Gegebenheiten zu ganz neuen Objekten formen, doch allein die gegebene Welt zu einer erkennbaren machen.« (Ebd.: 50; Hervorhebung im Original)

Erst vor dem Hintergrund dieser Aussage sind Simmels Einlassungen zum Erleben anderer in empirischen Beziehungen zu verstehen. Wir beobachten das Gegenüber als Mitglied eines bestimmten sozialen Kreises, den wir mit ihm teilen – die allgemeine »Lebensbasis […], durch die man sich gegenseitig wie durch einen Schleier erblickt.« (Ebd.: 49; Hervorhebung im Original) Die gemeinsame soziale Form, deren Teil man ist, bedingt die Perspektive, unter der man dem jeweils anderen begegnet; sie ist die Bedingung der Möglichkeit, in Beziehung zum anderen zu treten, auch wenn dessen Individualitätsform nicht in seiner sozialen Rolle aufgeht (vgl. Ebd.: 50). Gregor Fitzi versteht unter den »sozialen Wissensformen« die durch die Vergesellschaftung erworbenen Kategorien sozialer Wahrnehmung des Gegenüber (Fitzi 2002: 114). Die empirisch wie auch immer geartete Kombination von Verallgemeinerung und Entindividualisierung einerseits und eigenlogischer wie -artiger Individualität andererseits bilden das erste Apriori der sozialen Beziehung. Mit einer Ergänzung: Im Falle der eigengesetzlichen Individualität ist das Allgemeine, wenn man so sagen will, das Gesetz des Individuums selbst, was nicht deckungsgleich ist mit der Zugehörigkeit individuellen Handelns zu einem überindividuellen und insofern allgemeinen Typus. Ich komme damit zum zweiten Apriori. Eine zweite Möglichkeitsbedingung von Vergesellschaftung ist es nach Simmel, »daß der Einzelne mit gewissen Seiten nicht Element der Gesellschaft ist […]: die Art seines Vergesellschaftet-Seins ist bestimmt oder mitbestimmt durch die Art seines Nicht-Vergesellschaftet-Seins.« (SOZ: 51; Hervorhebung im Original) Dies ist, wenn man es sehr knapp sagen möchte, die Fortschreibung des bereits oben genannten Dualismus zwischen einer eigenlogischen Individualität und einer eigenlogischen Form der Vergesellschaftung in die Bedin-

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gungsverhältnisse von Vergesellschaftung.13 Erneut greift Simmel zu einer Analogie, dieses Mal aus der Natur (vgl. ebd.: 54). Der Mensch ist vollständig Teil der Natur und deren Naturgesetze, und als solches besitzt er diesem Prinzip nach keinerlei individuelle Freiheit. »Und doch«, so Simmel, »hat die Seele das Gefühl eines von all diesen Verschlingungen und Einbeziehungen unabhängigen Fürsichseins, das man mit dem logisch so unsichern Begriff der Freiheit bezeichnet, all diesem Getriebe, dessen Element wir doch selbst sind, ein Gegenüber und Paroli bietend, das sich zu dem Radikalismus: die Natur ist nur eine Vorstellung in menschlichen Seelen – aufgipfelt.« (Ebd.: 54; Hervorhebung im Original)

Das Freiheitspostulat speist sich aus einer Gegenüber-Position, mit der wir die natürlichen Dinge erleben, sie als – in welcher Distanz auch immer befindliches – Objekt wahrnehmen. Die lebendige Entelechie ›schneidet‹ sich in den naturdeterministischen Lauf ein, bildet die Position eines Gegenübers zu einer ansonsten deterministisch geschlossenen Objektwelt, und dies ist Freiheit. Die aus der Philosophie stammende Paradoxie aus Freiheit und Bindung macht Simmel nun zum Baustein seiner Erkenntnistheorie des Sozialen (vgl. Fitzi 2002: 118). Das Individuum als individuelles, eigenlogisches Leben kann nicht vollständig in der Gesellschaft ›an sich‹ aufgehen. Das Leben braucht die Form, geht in ihr aber nicht auf (vgl. ebd.: 118). Es bleibt etwas Eigenes. Explizit führt Simmel nun den Dualismus aus individuellem Leben und sozialer Form ein: Aus der Perspektive der Gesellschaft sind wir in unserer Beschaffenheit als Individuum ein bloßes Produkt und Element gesellschaftlicher Reproduktion, »ein Gefäß, in dem sich zuvor bestehende Elemente in wechselnden Maßen mischen; denn wenn diese Elemente auch ausschließlich von Einzelnen produziert wären, so sei der Beitrag eines jeden eine verschwindende Größe und erst durch ihr gattungsmäßiges und gesellschaftliches Zusammenkommen erzeugten sich die Faktoren, in deren Synthese dann wieder die angebbare Individualität bestünde.« (SOZ: 54-55; Hervorhebung im Original)

Eine »für sich seiende Existenz« gibt es aus dieser Perspektive nicht (ebd.: 55; Hervorhebung im Original). Gleichberechtigt, aber ersterer Perspektive vollständig widersprechend könnte man die gleichen empirischen Inhalte, die zuvor als Produkt gesellschaftlicher Eigendetermination erscheinen, als Produkt einer in sich geschlossenen, autonomen Form der Individualität beobachten – »als Erlebnis des Individuums und völlig auf dieses hin orientiert.« (Ebd.: 55) Der Dualismus zwischen Individualität und Sozialität bildet für Simmel die Bedingung des individuellen Vergesellschaftet-Seins (vgl. ebd.: 56). Die individuelle »Existenz ist nicht nur […] partiell sozial und partiell individuell, sondern sie steht unter der fundamentalen, gestaltenden, nicht weiter reduzierbaren Kategorie einer Einheit, die wir nicht

13 Meine Interpretation weicht von der Fitzis insofern ab, als dass er die Formung der Inhalte »aus der Perspektive […] der individuellen Lebenseinheit« nicht als Individualgesetzlichkeit identifiziert (Fitzi 2002: 119).

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anders ausdrücken können als durch die Synthese oder die Gleichzeitigkeit der beiden logisch entgegengesetzten Bestimmungen der Gliedstellung und des Fürsichseins, des Produziert- und Befaßtseins durch die Gesellschaft und des Lebens aus dem eignen Zentrum heraus und um des eignen Zentrums willen.« (SOZ: 56; Hervorhebung im Original)

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen lebenssoziologischen Prämisse lassen sich die konkreten Vergesellschaftungen als dessen empirisch-materielle Exemplifizierungen verstehen. Teil der sozialen Form zu sein und zugleich der sozialen Form gegenüber zu stehen beeinflusst die konkreten Ausformungsprozesse, die Paradoxie ist ihre apriorische, sie fundamentierende Bedingung. Das Außerhalb beeinflusst das Innerhalb (und umgekehrt). Allerdings variiert nach Simmel empirisch das Maß, in dem soziale Form und Individualität sich gegenüber stehen. In Liebe und Freundschaftsbeziehungen fließt – tendenziell – die vollständige Individualität ein, »hier kann das, was das Individuum für sich reserviert […], sich quantitativ dem Grenzwert Null nähern« (ebd.: 52; Hervorhebung im Original). Annähernd, wohlgemerkt! Die mystische Verschmelzung mit Gott wäre gerade nicht »religiös fühlbar […], wenn er nicht von einem Fürsichsein des Subjekts ausginge: das Eins-Sein mit Gott ist in seiner Bedeutung durch das Anders-Sein als Gott bedingt.« (Ebd.: 53-54; Hervorhebung im Original) Ähnliches gilt für die Individualität eines katholischen Priesters, der fast vollständig in seiner Rolle als Funktionsträger der Religion aufgeht (vgl. ebd.: 52). Diametral anders auf dem Gebiet der Wirtschaft: Hier werden individuelles Leben und die Form austauschbarer Sachleistungen fast vollständig voneinander differenziert (vgl. ebd.: 52).14 Ausnahmen von dieser Regel stellten Führungspersönlichkeiten im Wirtschaftsleben dar (vgl. ebd.: 52). Wie auch immer empirisch realisiert, jede partikulare Vergesellschaftung bewegt sich innerhalb eines Spektrums zwischen fast vollständiger Entpersonalisierung der sozialen Beziehung – die ökonomische Beziehung – und fast vollständiger Seelenverschmelzung. Annäherungen sind möglich, ein vollständiges Erreichen eines der Pole würde jede Vergesellschaftung dagegen unmöglich machen (vgl. Fitzi 2002: 117). Damit komme ich zum dritten Apriori. Diesem zufolge ist das Individuum nur in dem Maße vergesellschaftet, in dem sich seine innerlichen Energien in der Gesellschaft objektivieren – »die durchgehende Korrelation seines individuellen Seins mit den umgebenden Kreisen« (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Andersherum: Soweit sich die Energien des Individuums nicht in den sozialen Formen wiederfindet, »ist es eben nicht vergesellschaftet« (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Auch das dritte Apriori setzt den Dualismus zwischen zwei eigengesetzlichen Totalitäten – Individualität und Gesellschaft – voraus. Mit Fitzi lässt sich Simmels Analyse des dritten Aprioris deshalb auch als Fortführung der Analyse des zweiten Aprioris verstehen, nämlich als Untersuchung der Bedingungsmöglichkeit der »Synthese der beiden logisch entgegengesetzten Bestimmungen der Gliedstellung und des autonomen Lebens.« (Fitzi 2002: 120; Hervorhebung PB) Ohne es zu wissen hat Fitzi mit dem Ge-

14 In der »Philosophie des Geldes« relativiert Simmel diesen Punkt. Wir würden uns nicht nur mit dem Geldäquivalent einer Tauschbeziehung zufriedengeben, sondern drängten auf »eine persönliche Anerkennung« (PDG: 557). Das Leben will in der Form zur Geltung, d. h. Eigengestaltung gelangen.

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danken einer Synthese von Leben und Form auf die religiöse Dimension in Vergesellschaftung verwiesen, doch dazu gleich mehr. Ausgangspunkt der Überlegung Simmels ist seine stilisierte Beobachtung, dass »phänomenologisch« betrachtet die Gesellschaft »eine Ordnung von Inhalten und Leistungen« ist, die sich wechselseitig konstituieren (SOZ: 57; Hervorhebung im Original). Die »Gesellschaft [erscheine] als ein Kosmos« – ähnlich wie beispielsweise die Wirtschaft (ebd.: 57; Hervorhebung im Original). Kurz: Die Gesellschaft funktioniert nach ihrer eigenen Logik, relativ unabhängig von dem Individuum, von dessen Energien seine Realisierung doch abhängt. Simmel vergleicht die Gesellschaft mit einer Bürokratie, in der Beamte bereits vorgegebene Positionen besetzen und Aufgaben erledigen, ohne dass ihre Person eine Rolle spielt (vgl. ebd.: 58). Vergesellschaftung bleibt aber eine Objektivation individueller Formungs- oder Triebkräfte. Mit dem Konstitutionsakt der Objektivation gegeben ist deshalb die Voraussetzung einer dem Individuum »ideell zugehörige[n] Stelle« (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Dieses Apriori muss nicht (vollständig) bewusst werden, ebenso wenig hat es als Ideal empirisch zu jedem Zeitpunkt vollständig realisiert zu sein. Aber Vergesellschaftung überhaupt bedarf eines Mindestmaßes an »Harmonie zwischen Individuum und dem sozialen Ganzen« (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Simmel vergleicht das Maß an beiderseitiger Passung mit dem menschlichen Erkennen. Dies mag sich zwar irren, aber nicht durchweg irren, ohne zu sterben (vgl. ebd.: 59; vgl. aber auch LA: 264). Würden wir uns vollkommen widergespiegelt finden in unserer Sozial-Objektivation, so hätten wir »die vollkommene Gesellschaft« – ihrem Begriff nach, nicht als Träger bestimmter Glücksempfindungen (SOZ: 59; Hervorhebung im Original). Dies muss aber unerreichbares Ideal bleiben, da die Form immer ein bestimmtes, wenn auch nicht näher definiertes Maß an Entfremdung aus dem schöpfenden Leben voraussetzt (vgl. LA: 232, 296); was ja auch Denkvoraussetzung des sozialphilosophischen »Exkurses« gewesen ist. In arbeitsteiligen Gesellschaften, so Simmel, habe sich das Ideal des Berufs etabliert. Die Berufskategorie sei die »bewußte Zuspitzung« des dritten Aprioris der Vergesellschaftung (SOZ: 60 Hervorhebung im Original). Im Wortsinne gedeutet, wird die Voraussetzung einer vollkommenen Vergesellschaftung des Individuums im Beruf zu einem kognitiv bewusst verarbeiteten Ideal der individuellen Handlungsorientierung. Das Berufsideal sagt zweierlei. In ihm ist die Annahme enthalten, dass die Gesellschaft einerseits eine Nische erzeugt, deren Trägerpersonal austauschbar ist. Andererseits werde diese Nische »von dem Individuum auf Grund eines inneren ›Rufes‹, einer als ganz persönlich empfundenen Qualifikation ergriffen« (ebd.: 60; Hervorhebung im Original). Die Gesellschaft stellt für jedes Individuum eine Position bereit, zu der es »›berufen‹« sei, und für das Individuum gelte deshalb »der Imperativ, so lange zu suchen, bis man sie [die Stelle; Anmerkung PB] findet.« (Ebd.: 60; Hervorhebung im Original) Die von Simmel verwandte Berufssemantik bezieht ihre intellektuelle Attraktivität aus dem Umstand, dass die Berufung ein essenzieller Teil der Religionstheorie Georg Simmels ist. Das Seelenheil interpretiert Simmel als das jedem Individuum eigene Ideal, »zu einer unvertretbaren Leistung berufen zu sein und an einer Stelle zu stehen, die gleichsam auf uns gewartet hat.« (DR: 103; Hervorhebung PB) Arbeitsteilige Verhältnisse, so Simmel, stellen äußerliche Anforderungen an das Individuum,

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die mit deren individualgesetzlichen Anforderungen »vielfach« in Konflikt geraten (ebd.: 97). Die empirischen Reibungen in einer idealen, religiösen Einheit von Leben und Form zu überwinden, ist Aufgabe der Religion. Dies setzt umgekehrt Simmels Begriffswahl, die Harmonie zwischen äußerlicher Form und innerlichen Vitalenergien zum Kriterium einer vollkommenen Gesellschaft zu machen, in eine religiöse Perspektive. Ob und inwiefern Simmels Berufsbegriff durch jenen in Max Webers 1904 und 1905 publizierte »Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« beeinflusst gewesen ist, kann ich nicht abschließend sagen. Weber meinte ja, dass erst Luther den Berufsbegriff geprägt habe, dessen zunächst konservativ-ständische Prägung durch Calvin seine die Lebensführung rationalisierende Wende erfuhr (vgl. Weber 1988a: 63-83). Vom Beruf überhaupt spricht Simmel bereits in der »Socialen Differenzierung« (vgl. ÜSD: 251-53). Der Beruf als Idee vom innerlichen BerufenSein taucht meines Wissens nach aber erstmals in der 1906 erschienen Erstauflage von Simmels »Die Religion« auf, also ein bis zwei Jahre nach der »Protestantischen Ethik«. Gleichzeitig aber kommt – wie ich in Kapitel 5.5 dieses Buches ausgeführt habe – Simmels eigene kulturprotestantische Prägung als beeinflussender Faktor in Frage. Schließlich noch eine letzte Bemerkung. Ersichtlich verzichtet Simmel auf eine normative Fundierung von Sozialität – ähnlich wie später Niklas Luhmann und anders als es beispielsweise Talcott Parsons im Anschluss an Durkheim getan hat (vgl. Röttgers 2011: 73). Der »unit act« der Vergesellschaftung nach Simmel ist die bloße Form interindividueller Wechselwirkung, nicht der – inhaltlich bereits zu tief oder zu weit greifende – normative Konsens. Die Form des – dann wie auch immer gearteten – materiellen Dissenses explizit zuzulassen entspricht, wie noch zu sehen sein wird, Simmels vitaldualistischem Denken. Nicht von konstitutionstheoretischem Interesse war für Simmel der Aufbau wechselseitiger Erwartungen bei Interdependenz des Handelns, d. h. das Problem doppelter Kontingenz (vgl. Luhmann 1984: 148-190). Was vielleicht überraschen mag, war der Steigerungszusammenhang von Interdependenz und Freiheit bei Simmel doch von so hoher Bedeutung. Ich beschließe die Ausführungen an dieser Stelle. Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Vitaldualismus von Leben und Form für Simmel Fundamentalvoraussetzung von Vergesellschaftung ist. Zwar mögen Größen- und Differenzierungsverhältnisse variieren, aber mit dem »Du« kommt – dem Prinzip nach – die Eigengesetzlichkeit des Sozialen ins Spiel.15

15 Dass »die Eigenwelt der sozialen Systeme […] nicht gesehen« werde, wie Luhmann (1984: 178) mit Blick auf Simmel meint, stimmt nicht. Es ging Simmel gerade um die Eigenheit des Sozialen, aber eben um eine transzendentalphilosophische Begründung der Sozialform aus dem individuellen Leben.

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6.4 INDIVIDUELLES LEBEN UND SOZIALE FORMEN Dass es sich bei dem Prozess der Vergesellschaftung dem Prinzip nach um eine das individuelle Leben einerseits umfassende, sich ihm gleichzeitig gegenüberstellende, eigengesetzliche Formung handelt, diese Annahme findet sich explizit von Simmel formuliert im Kapitel zur »Über- und Unterordnung«: »Die Gesellschaft aber greift freilich auch über den Einzelnen hinweg, lebt ein eigenes gesetzliches Leben, steht ihm mit historischer und imperativischer Festigkeit gegenüber; allein dieses Gegenüber ist nicht zugleich ein Darin, die harte Indifferenz gegen ihn ist zugleich ein Interesse, die soziale Objektivität bedarf, wenn nicht dieser bestimmten, so doch der individuellen Subjektivität überhaupt.« (SOZ: 236; Hervorhebung PB)

Ähnlich formuliert es Simmel an anderer Stelle: Weil Vergesellschaftung sich vom Leben verselbständigt hat, erscheine sie den Individuen als »ein Gebilde von selbständiger Realität […], das ein Leben nach eigenen Gesetzen und eigenen Kräften, unabhängig von allen seinen einzelnen Trägern führte.« (Ebd.: 558; Hervorhebung PB) »Gesetz« ist natürlich nicht im naturwissenschaftlichen Sinne zu verstehen, sondern im Sinne von apriorischen Prinzipien der Vergesellschaftung, die objekthafte Gestalt gewinnen. In einem virtuosen Aufsatz hat Uta Gerhardt werkimmanent eine Verknüpfung zwischen dem ersten Kapitel der »Soziologie« und ganz speziell dem »Exkurs« einerseits und den fortlaufenden Kapiteln zwei bis zehn andererseits herzustellen versucht unter der Leithypothese, die im erkenntnistheoretischen »Exkurs« dargelegten Aprioris der Vergesellschaftung bildeten die »systematische Klammer um die neun Kapitel über die Formen der Vergesellschaftung« (Gerhardt 2011: 88). Im Anschluss an eine knappe Darlegung der Aprioris geht Gerhardt an den Beweisgang ihrer These, indem sie beispielhaft Über- und Unterordnung wie die Kreuzung sozialer Kreise auf den »Exkurs« zurückführt (vgl. ebd.: 109-116). Die Formen der Vergesellschaftung seien »Ausprägungen« der Aprioris (ebd.: 116). Gerhardt liest die epistemologische Umklammerung zwischen den Kapiteln der »Soziologie« als eine Wechselwirkung, wonach »die Einheit der Gesellschaft im Subjekt liegt, dessen Erkenntnis und Erfahrung zugleich vergesellschaftet und individuell sind.« (Ebd.: 119). Obgleich Uta Gerhardt die »Soziologie« nicht lebensphilosophisch liest, bewegt sie sich doch effektiv in der Form eines solchen Denkrahmens, der individuelles Leben und soziale Form in Beziehung zueinander setzt. Dies erst recht, wenn sie verallgemeinernd und kapitelübergreifend für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft festhält: »Die Einheit von Gesellschaft und Individualität wird in den Handelnden verlegt.« (Ebd.: 120; Hervorhebung PB) Ich fühle mich mit Gerhardt auf einer Linie. Ihr Ansatz kann aber noch weiter in seine logische Konsequenz geführt werden. Meines Erachtens verhält es sich so, dass sich mal mehr, mal minder explizit zu Anfang jedes Kapitels der Versuch Simmels ausmachen lässt, bestimmt geartete Aprioris auszumachen, die er im weiteren Verlauf je Kapitel ausbaut aus zunächst personalisierten, dann objektivierten Formen der

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Wechselwirkung.16 Noch im »Exkurs« zu der Frage, wie Gesellschaft möglich sei, sagt Simmel, dass »der gesamte Inhalt dieses Buches […] der Ansatz zur Beantwortung dieser Frage [ist]. Denn es sucht die, schließlich in den Individuen sich vollziehenden, Vorgänge auf, die das Gesellschaft-Sein dieser bedingen – nicht als zeitlich vorangehende Ursachen für dieses Resultat, sondern als Teilvorgänge der Synthese, die wir zusammenfassend die Gesellschaft nennen.« (SOZ: 45; Hervorhebung im Original)

Die »soziologische Rudimentärform« von Herrschaftsbeziehungen beispielsweise sei die »Herrschsucht«, welche sich »daran befriedigt […], daß das Handeln oder Leiden, der positive oder negative Zustand des Andern sich dem Subjekt als Erzeugnis seines Willens darbietet.« (Ebd.: 160; Hervorhebung im Original). Wenig später sagt Simmel, dass es ein Bedürfnis nach Beherrscht-Werden gebe, »die Mehrzahl der Menschen kann nicht nur ohne Führung nicht existieren, sondern sie fühlen das auch, sie suchen die höhere Gewalt, die ihnen die Selbstverantwortlichkeit abnimmt«, gleichzeitig und entgegengesetzt zur Herrschaft »brauchen sie die Opposition gegen diese führende Macht« (ebd.: 171). Dabei ließe sich dann unterscheiden, ob die Unterordnung beispielsweise unter eine den Kosmos allumfassende, aber ferne Gottheit wie im Christentum stattfinde (vgl. ebd.: 169, 175) oder aber ob »unmittelbare, sozusagen lokale Nähe« charakteristisch sei für die herrschenden »göttlichen Prinzipien«, wie sie typisch seien für alle »totemistischen und fetischistischen Religionen« (ebd.: 201). Im ökonomischen Herrschaftsverhältnis unterscheidet Simmel die »persönlichen Abhängigkeiten« zur Zeit des »Feudalismus« (ebd.: 169) von dem abstrakten Lohnabhängigkeitsverhältnis als »Kauf der Ware Arbeit«, wo Arbeit und Kapital jeweils »Element« des »objektiven wirtschaftlichen Verfahrens« sind (ebd.: 242). Dem Gegenstandsbereich des Kapitels »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft« unterliegt das Apriori sozialer Beziehungen, dass, einmal, die Menschen »etwas von einander wissen« (ebd.: 383), aber »auch so viel Nichtwissen bewahren und so viel Irrtum erwerben, wie es für unser praktisches Tun zweckmäßig ist« (ebd.: 386). In einer epistemologisch nicht mehr zu bewältigenden, von arbeitsteiligen Interdependenzverhältnissen durchzogenen Gesellschaft trete »das Vertrauen« zusammen mit »dem Glauben an die Ehrlichkeit des andern.« (Ebd.: 389). Dieses Vertrauen bedarf aber nicht »der eigentlich personalen Kenntnis«, sondern es reichen »Äußerlichkeiten« – eine Art Wissen um die Rolle des Gegenübers –, da das soziale Handeln des Individuums durch »Traditionen und Institutionen […] unentrinnbar präjudiziert« ist (ebd.: 394; vgl. Kapitel 8.5.2). Schließlich geht auch die Beeinflussung von Vergesellschaftung durch den Raum auf die »Tätigkeit der Seele« zurück, auf »die menschliche Art,

16 Hartmann Tyrell behauptet, dass Simmel in der »Socialen Differenzierung« noch ein »klares Votum zugunsten eines makrosoziologischen Ansatzes« abgegeben habe, welches er »1908 mit aller Entschiedenheit zurückgenommen hat!« (Tyrell 2007: 19) Dem stimme ich nicht zu. Simmel geht es in der »Soziologie« um das Nachzeichnen von Verselbständigungstendenzen zwischen Individuum und Gesellschaft. Die Anwendung der Unterscheidung zwischen Mikro und Makro verwischt meines Erachtens mehr, als dass sie die Differenz zwischen der »Socialen Differenzierung« und der »Soziologie« aufzuklären hilft.

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an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden.« (SOZ: 688-89) Simmels Überlegungen zum »Armen« unterliegt die spekulative Annahme, dass »der Mensch als Sozialwesen gilt«, welches als »Individuum Forderungen […] besitzt, die erst als solche zu Pflichten Andrer werden.« (Ebd.: 512) Dem »Streit« unterlegt Simmel einen »Feindseligkeitstrieb« (SOZ: 302), bzw. eine »antagonistische Triebfeder« (ebd.: 325); in der Konkurrenzform objektiviert sie sich zu einer eigenlogischen Sachform. Zum »Du« kommen also stets andere geistige Formungskräfte hinzu, mittels derer das Individuum differenzierte Sphären der Vergesellschaftung mit anderen eröffnet und diese trägt.17 Wie ich zeigen werde, geht es Simmel bei Vorgängen sozialer Differenzierung nicht um das, was man als ein Vorgreifen des vor allem durch die Systemtheorie popularisierten Gedankens einer funktionalen Differenzierung von Gesellschaft denken könnte. Wenn es um Differenzierung geht, dann zwar durchaus um die Herauspräparierung von Eigenlogiken oder Eigengesetzlichkeiten. Ebenso lassen sich bei Simmel – besonders wenn es um Arbeitsteilung geht – unschwer Muster eines Denkens systemischer Differenzierung entlang von Funktionsgrenzen erkennen. Entscheidend war für Simmel aber etwas anderes, und zwar die Unterscheidung von »Person« und »Sache« oder eben: zwischen individuellem Leben und der entlang einer bestimmten Sachlogik sich schließenden Form. Mit den Worten Donald Levines: »In sum: every chapter of the Soziologie involves some kind of synthesis between the principle of Form and the principle of Life« (Levine 2012: 36; Hervorhebung im Original).18 Aus dem »Du« werden anonymisierte, durch Sachcharakter überformte und insofern: eigengesetzliche Vergesellschaftungszusammenhänge. Die Form differenziert sich aus dem Leben, jeweils unter anderen Vorzeichen. Einfacher übersetzt: Soziale Differenzierung dachte Simmel vorrangig subjekt- oder besser: individualzentriert als einen Freisetzungs- und neuerlichen Bindungsprozess, und nicht: entlang einer Dekomponierung einer gegebenen gesellschaftlichen Einheit, deren Integration dann neuerliche Aufgabe ist.19 Eine dafür charakteristische Typologisierung gesellschaftlicher

17 Simmel spielt dabei gewissermaßen mit dem Begriff des Aprioris: Das Quantitätsmoment beispielsweise mag nicht im gleichen, spezifischen Sinne als geistige Funktionskraft geistigen Lebens gelten. Das Individuum bringt sich aber, als Einheitsform, in die Wechselwirkung mit ein, und dadurch wirkt es eben als Einheit quantitativ. 18 In »Synthesis« ist bei Levine die Möglichkeit einer Spannung zwischen Leben und Form inbegriffen. 19 Die Idee von der Dekomponierung verdanke ich der Lektüre des Buches von Schwinn (2001) und dessen aus einer weberianischen Perspektive vorgenommenen Auseinandersetzung mit dem Gesellschaftsbegriff, den Weber ablehnte. Einem wichtigen Punkt in Schwinns Kritik an Simmels Methode stimme ich zu, diesen greife ich allerdings erst in Kapitel 9.2.3 in diesem Buch auf. Einen anderen, den an Simmels Gesellschaftsbegriff, halte ich für minder gewichtig. Gesellschaft ist dann und dort, wo Vergesellschaftung stattfindet – wo Formen aus dem Leben geschaffen werden. Wo eine Form sozialer Wechselwirkung ist, ist Gesellschaft, mögen auch mehrere Formen nebeneinander stehend prozessieren. Deshalb schließt der »Gattungsbegriff« von Gesellschaft meines Dafürhaltens nach keine Vorstellung von Gesellschaft als »Sammel- oder Summenname« aus (Schwinn 2001: 36). Gleiches gilt in dieser Hinsicht, wenn auch von einem anderen Ansatz her kommend,

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Differenzierung, wie beispielsweise nach dem Muster segmentär – stratifikatorisch – funktional findet sich bei Simmel nicht. Es ist vielmehr das Individuum, dessen Einheit und Integration den Ankerpunkt seiner Überlegungen bildet. Darin liegt meines Erachtens eine Nähe Simmels zu Max Weber, weniger dagegen zu Emile Durkheim.20 Durkheim sah in der arbeitsteilig gestifteten Interdependenz das zentrale Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft und widmete ihr eine eigene soziologische Studie (vgl. Durkheim 1988). Für Simmel bildet Arbeitsteilung eine soziale Form neben anderen, die über die unterschiedlichen Kapitel der »Soziologie« hinweg auftaucht, ohne jemals den Kern einer Analyse zu bilden. Ähnlich lässt sich, geht man beispielsweise mit Thomas Schwinn, Max Webers Konzept der Differenzierung wie der Spannungsverhältnisse von Wertsphären zueinander als subjektbezogen beschreiben (vgl. Schwinn 2001: 443-446). Die Frage nach dem »Problem der sozialen Ordnung« (Müller/Schmid 1988: 481), wie es Emile Durkheims Forschungen antrieb bis hin zu seinen »Elementaren Formen des religiösen Lebens« von 1912, stellte sich Simmel nicht. Darauf hat bereits Hartmann Tyrell hingewiesen (vgl. Tyrell 1985: 226, Fn. 1). Und anders als Weber – und hier wiederum Durkheim verwandt – hat Simmel die Form vor die geschichtlich variablen Inhalte gesetzt, so dass sich Simmel ein vergleichendes, kausal-genetisches Narrativ, wie Weber es mit der »Protestantischen Ethik« und der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« durchgeführt hat, tendenziell versperrt hat. Ich komme darauf in Kapitel 9.2.3 erneut zu sprechen. Eine ganz bedeutsame Differenz, ja vielleicht die Urdifferenz Simmels zu Durkheim, welche auch die Unterschiedenheit in der Theorie der Religion zwischen beiden begründet, liegt in der Definition des Sozialen. Weniger meine ich damit Durk-

für die luhmannsche Systemtheorie, wo die Grenze zwischen gesellschaftlichem System und nicht-gesellschaftlicher Umwelt qua Kommunikation gezogen wird, also mit dem Ereignis (vgl. Luhmann 1997: 89-90). Schwinns Kritik an der Systemtheorie luhmannscher Provenienz zielt vielmehr auf eine seines Erachtens nach bloß postulierte Beziehung operativ geschlossener Funktionssysteme auf eine gesellschaftliche Einheit, auf die jene Funktionen bezogen sind. Es werde, so Schwinns Argument, ein einheitlicher Funktionszusammenhang unterstellt, der aus Sicht der jeweiligen, in sich geschlossenen Systeme nicht hergestellt werden kann, da diese ja jeweils nach einer eigenen, an einem spezifischen Code orientierten, System-Umwelt-Differenz Gesellschaft reproduzieren (vgl. Schwinn 2001: 72-82). 20 Zumindest in dieser Hinsicht möchte ich einen Standpunkt meinerseits relativieren, den ich in einem gemeinsam mit Thomas Kron und Andreas Braun (2013) veröffentlichten Aufsatz vertreten habe. Wir vertraten dort den Standpunkt, die simmelsche »Lebensanschauung« nehme eine formtheoretische Perspektive à la Luhmann vorweg. Luhmanns Systemtheorie legt den Problemschwerpunkt umgekehrt auf die Reproduktions- und Differenzierungsform des Gesellschaftssystems und beobachtet von hier aus die gesellschaftliche Konstruktion von Individualität als Semantik, unter anderem um Zukunftsunsicherheiten zu verarbeiten (vgl. Luhmann 1995; 1997: 1018-19). Luhmanns Theorie ist meines Dafürhaltens nach denn auch eher durkheimianisch denn weberianisch oder simmelianisch angelegt. Was nicht bestreitet, dass die genannten Denker allesamt Differenzierungstheorie betrieben haben (vgl. Schimank 2007).

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heims Annahme, eine ganz wesentliche Eigenschaft des Sozialen sei dessen Pflichtcharakter von den Formen des Handelns, Denkens und Erlebens, der auch dann bestehe, wenn wir die Pflicht nicht mehr spüren, den Pflichten sogar gerne nachgehen (vgl. Durkheim 1984: 106). Pflichten machen sich an dem Widerstand, an den Strafen dafür bemerkbar, würde das Individuum aus den konventionellen Bahnen ausbrechen wollen. Die Moralität, das Sollen als dem Sozialen »immanente Eigenschaft« (ebd.: 106; Hervorhebung PB) zu verstehen, was Simmel nicht tat, diese Differenz erscheint zunächst weniger signifikant. Den Gesetzescharakter der Form kennt auch Simmel, ebenso den Widerstand, der sich dem lebendigen Geist bei der Überwindung einer konkret-partikularen wie allgemein-geschichtlichen Kulturform entgegenstellt. In seinem Werk »Über soziale Arbeitsteilung« stellt Durkheim ja auch einen abnehmenden Kollektivgeist und eine zunehmende Individualisierung von Moral fest. Das Verhältnis von Kollektivität bzw. Gesellschaft und Individualität erachtet Durkheim als anomisch – und hier ist Durkheim Simmel wiederum recht nahe –, was ihn über seine Selbstmordstudie von 1897 schließlich zu seinen religionssoziologischen Studien treibt, über die Durkheim die Quelle von sozialen Idealen und damit: einer neuerlichen, umfassenden organischen Solidarität in der Religion vermutet. Ebenso wenig kann man die Differenz zu Simmel in Durkheims Fassung des soziologischen Tatbestandes als etwas unabhängig vom Individuum Existierendes vermuten. Ein »soziales Phänomen«, so Durkheim, sei »ein Erzeugnis der Wirkungen und Gegenwirkungen, die sich zwischen den individuellen Psychen abspielen« (ebd.: 111; Hervorhebung PB). An anderer Stelle spricht Durkheim in dem Duktus simmelscher Wechselwirkung davon, dass »keine kollektive Erscheinung entstehen [kann], wenn kein Einzelbewußtsein vorhanden ist; doch ist diese Bedingung allein nicht ausreichend. Die einzelnen Psychen müssen noch assoziiert, kombiniert und in einer bestimmten Art kombiniert sein […]. Indem sie zusammentreten, sich durchdringen und verschmelzen, bringen die individuellen Psychen ein neues, wenn man will psychisches Wesen hervor, das jedoch eine psychische Individualität neuer Art darstellt.« (Ebd.: 187)

Mit solchen Formulierungen scheinen sich Simmel und Durkheim recht nahe. Jedoch: Anders als Simmel verfrachtet Durkheim die Quelle der Eigenständigkeit des interindividuellen Wechselspiels nicht in irgendwie geartete apriorische Bedingungen des Individuums, sondern umgekehrt ist das Individuum eine Schöpfung der Wechselwirkungen. Die »Arten des Handelns« (ebd.: 112; Hervorhebung im Original) reproduzieren sich »vermöge einer besonderen Energie«, welche sich einem »kollektiven Ursprung verdankt« (ebd.: 111). Der soziologische Tatbestand, so Durkheim, sei »in jedem Teil« – also jedem Individuum –, »weil er im Ganzen ist, und er ist nicht im Ganzen, weil er in den Teilen ist.« (Ebd.: 111; Hervorhebung PB) Der vom Individuum verspürte Druck oder Zwang, wenn es sich gegen bestimmte Gesetze, Regeln wie Konventionen sträubt, beweise gerade, »daß die sozialen Phänomene eine von der unseren verschiedenen Natur aufweisen« (ebd.: 186). Jedes Gesetz- oder Regelhafte, »alles Obligatorische« besitzt »seine Quelle außerhalb des Individuums.« (Ebd.: 189) Wo bei Simmel das Sollen wie das Gesetzhafte seine schöpferische Quelle im individuellen Leben besitzt, ist für Durkheim die Gesellschaft »ein Erzeugnis von Kräften, die über das Individuum hinausreichen« (ebd.: 186; vgl. dazu auch

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Krech 1998a: 195). Die Erfahrung dieses Hinausreichens wird für Durkheim die Essenz religiöser Transzendenz sein. Für Durkheim begründet sich aus seiner Sozialontologie der Imperativ, »die Erklärung des sozialen Lebens in der Natur der Gesellschaft selbst [zu] suchen.« (Durkheim 1984: 186) So verfuhr er in seiner Arbeitsteilungsstudie, wonach Arbeitsteilung die notwendige Wirkung einer zunehmenden Bevölkerungskonzentration und eines demographischen Wachstums ist (vgl. Durkheim 1988: 314-321)21, und so verfuhr Durkheim in seiner Selbstmordstudie, die soziologischen Tatbestände über das Vehikel statistischer Agglomerationen von den individualpsychologischen Idiosynkrasien abstrahierend (vgl. Durkheim 1983: 30-38). Durkheims theoriepolitische Entscheidung, Soziales aus Sozialem zu erklären, schlägt sich später auch in seiner soziologischen Erkenntnistheorie nieder. Er formulierte sie in seinem Religionsbuch als eine Reaktion auf Simmels an seine Adresse gerichteten Vorwurf einer fehlenden epistemologischen Basis. Die Platzierung einer allgemeinen, soziologischen Erkenntnistheorie in einem gegenstandspezifischen Buch zur Religion mag wundern, rührt aber aus deren überragenden Wichtigkeit in Durkheims soziologischem Schaffen. Ähnlich wie Simmel gab Durkheim der Religion eine sehr umfassende funktionale Bestimmung. Die Funktion von Religion lag für ihn in der Stiftung einer sozial-moralischen Integration, die jene Solidarität schafft, die Durkheim in der »Arbeitsteilung« noch in der Form organischer Solidarität als automatisches Resultat arbeitsteiliger Differenzierung ansah. Dazu später mehr in Kapitel 7.2.6.1. Für Max Weber spielte das begriffliche Instrumentarium der Arbeitsteilung zur Erfassung von Differenzierungsvorgängen keine tragende Rolle in seinen Überlegungen (vgl. Tyrell 1993a: 300; Schwinn 2001: 318-21). Trotz und wegen Simmels anders geartetem theoretischen Ansatz wird die gesellschaftliche Arbeitsteilung in der nun folgenden Darstellung eine wichtige Rolle spielen. Mir geht es nun darum, die Ausdifferenzierung des Dualismus von individuellem Leben und sozialer Form exemplarisch aufzuzeigen. Der Sinn und Zweck dieses Unterfangens liegt dabei in der Vorbereitung der Religions- und Wirtschaftstheorie Georg Simmels, und dieser Sinn und Zweck steuert meine Auswahl der gleich folgenden Vergesellschaftungsformen. Ich konzentriere mich neben der Arbeitsteilung auf die Konkurrenz und die »Kreuzung sozialer Kreise«. Meine Auswahl begründe ich

21 Es fehlt die intermittierende Variable »Konkurrenz«, der Durkheim in der »Arbeitsteilung« einen eigenen Unterpunkt widmet (vgl. Durkheim 1988: 325-331). Das Wachstum der Bevölkerung – des »soziale[n] Volumen[s]« (ebd.: 319) – in einem gegebenen Gebiet reicht nach Durkheim nicht unbedingt aus zur Erklärung von Arbeitsteilung, und zwar dann nicht, wenn es an der kommunikativen Vernetzung zwischen den Einheiten ermangelt (vgl. ebd.: 320). Fehlende technische Verkehrswege beispielsweise können eine geringe »moralische Dichte« (ebd.: 315) bei gleichzeitig großer Bevölkerung zur Folge haben, so dass der Prozess voranschreitender arbeitsteiliger Differenzierung stagniert, wofür Durkheim sich auf die Beispiele Russland und China seiner Zeit beruft (vgl. ebd.: 320). Eine wachsende moralische Dichte in Form wachsender Städte und die Räume miteinander verknüpfender Wege, Techniken und Kommunikationsmittel machen es nach Durkheim wahrscheinlicher, dass in ihren Tätigkeiten ähnliche Individuen und Gruppen miteinander um Abnehmer konkurrieren (vgl. ebd.: 327-29). Die Spezialisierung ist eine Möglichkeit, dem Kampf zumindest vorläufig zu entkommen.

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im Weiteren folgendermaßen, und ich möchte dabei an das übergeordnete Erkenntnisinteresse meiner Arbeit erinnern: Gilt es zu zeigen, dass Geld die dualistische Einheit des Lebens aus Leben und Form realisiert, so müssen sich die jeweiligen Spezifikationen dieses Dualismus, die Kultur- und Sozialformen, auf das Geld bzw. auf Gedanken der »Philosophie des Geldes« zurückführen lassen. Anhand meiner Auswahl von Arbeitsteilung, Konkurrenz und der Kreuzung sozialer Kreise möchte ich zeigen, dass und wie Simmels Soziologie eine dualistische Gesellschaftstheorie entfaltet, deren Essenz in der Entwicklung eines Leben-Form-Dualismus liegt. Die Eigenlogik der Sozialform bedingt die eigenselektive Ausdifferenzierung von Individualität. Ferner erinnere ich daran, dass in der geschichtlich-monetären Realisierung des Vitaldualismus Simmel die noch gegenwärtig verbliebene Chance auf ein religiöses Leben erblickt. Ein ganz und gar religiöses Leben ist für Simmel eines, in dem sich die Eigengesetzlichkeit des individuellen Lebens empirisch materialisiert. In Simmels religionstheoretischen Überlegungen spielen die arbeitsteilige Differenzierung und die Konkurrenzform eine bedeutsame Rolle, und zwar in einem negativen Sinne: Religion schließt beide aus. Die religiösen Individuen sind gleich vor und in der Beziehung zu Gott. Das Heilsgut steht deshalb allen offen, ohne mit anderen in Streitigkeit oder in Abhängigkeitsbeziehungen geraten zu müssen. Weiter findet alle Vergesellschaftung erst in einem sekundären Akt statt, reguliert durch die primäre Bezugnahme freier Selbstverantwortung vor Gott. Die Form freier Bindung ist auch das Motiv der Kreuzung sozialer Kreise. Die Geldwirtschaft dagegen ist von arbeitsteiliger Spezialisierung und internationaler Konkurrenz geradezu paradigmatisch geprägt. Die Herausbildung modernen Geldes ist für Simmel ausdrücklich das Symbol ökonomischer Interdependenzen. Und doch meint Simmel, dass gerade in der geldförmigen Abhängigkeitsbeziehung – der Versachlichung von Sozialbeziehungen – einerseits pazifizierende Potenziale stecken, die Geldförmigkeit von Sozialbeziehungen andererseits das individuelle Leben aus der Ökonomie erlöst und frei macht für neue soziale wie kulturelle Bindungen. Beide, Religion und Geldwirtschaft, bringen ferner die apriorischen Bedingungen der Vergesellschaftung zu ihrer Entfaltung. In der »Soziologie« ist dieses Schema nicht expliziert, schließlich geht es Simmel vorrangig um die Herausschälung des Sozialen im Verhältnis von Leben und Form. Quasi im Hintergrund wirkend lassen sich semantische wie theoretische Spuren aus der Religions- wie der Geldtheorie Simmels entdecken, welche ihre Prägung erkennen lassen. Diese Spur läuft vor allem an einer Linie entlang: der Einheit der Differenz von individuellem Leben und sozialer Form, von Person und Sachlichkeit – dem Gegenstand des dritten Aprioris der Vergesellschaftung.

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6.4.1 Arbeitsteilung Simmel zufolge beruht der »Zusammenhalt einer großen Kulturgruppe […] auf ihrer Arbeitsteilung.« (SOZ: 681)22 »Priesterschaft« (ebd.: 603) und »Kirche« (ebd.: 604) für die Religion, »Beamtentum« (ebd.: 603) und »Offizierskorps« (ebd.: 603) für die politische Einheit, der »Handelsstand« für die Wirtschaft (ebd.: 604; vgl. auch PDG: 211), der »Gelehrtenstand« für die Erkenntnisproduktion (SR: 272), der »Richterstand« für das Recht (SOZ: 637), sie alle bilden jeweils, so Simmel, »Organe« und sind »das Resultat soziologischer Arbeitsteilung.« (ebd.: 603; vgl. auch ebd.: 72-73 und 848). Simmel spricht auch von der »Herausbildung sozialer Organe« (ebd.: 613). Die – von Simmel nicht näher definierte – Einheitsform der Gesellschaft differenziert sich in soziale Untereinheiten aus, die jeweils einem bestimmten Funktionsprinzip, einer »Idee« folgen (ebd.: 605). Es handelt sich, im Großen und Ganzen, um die Funktionsprinzipien der Kulturwelten (vgl. Kapitel 5), die nun unter der Perspektive ihrer sozialen Vermittlung sowie der Eigenlogik des Sozialen beobachtet werden: Denn Kulturwelten müssen sozial realisiert und organisiert werden. Dieser Aspekt wird sowohl in Kapitel 7 als auch in Kapitel 8 von Bedeutung sein in der Beurteilung von Funktional-Äquivalenzbeziehungen von Geld und Gott. Arbeitsteilige Differenzierung ist für Simmel – funktionalistisch betrachtet – eine Antwort auf zu lösende Probleme, mit denen sich die Selbsterhaltung einer gesellschaftlichen Einheit konfrontiert sieht. In bemerkenswerter Differenz zu Durkheim meint Simmel allerdings nicht, dass die arbeitsteilige Form der Integration eine bestimmte, d. h. inhaltlich definierte Moral ausbildet. Ob es einer gesellschaftlichen Moral bedarf, thematisiert Simmel nicht; und unabhängig davon sah er deren Möglichkeit auch nicht mehr gegeben. Dies spiegelt Simmels sozialphilosophisches Konzept wider, den Vergesellschaftungsakt als nicht-normativ zu denken. Ferner ist zu beachten, dass die arbeitsteilig zu bedienenden Funktionen letzten Endes Funktionen des individuellen Lebens sind. Die Sozialform arbeitsteiliger Differenzierung ist der analoge Fall zur Verselbständigung differenter Kultursphären aus dem Individuum: Was sich verselbständigt und differenziert, sind die aus dem Individuum entstammenden Prinzipien. Die Einheit sozialer Wechselwirkung, deren Selbsterhalt Gegenstand von Simmels Überlegungen ist, entstammt ja konstitutiv dem individuellen Leben. Dies zu betonen ist von Wichtigkeit, um nicht im Widerspruch zu den in Kapitel 6.4 gewonnenen Prämissen doch eine dekomponierbare Einheit des Sozialen postu-

22 Von »Arbeitsteilung« statt von »Differenzierung« zu sprechen suggeriert eine Aufteilung eines Gesamtproduktionszusammenhangs nach Zuständigkeiten (vgl. für das Folgende die Passage in Schwinn 2001: 318-321). Differenzierung nach Systemen oder Wertsphären impliziert aber weder notwendigerweise einen alle Unterstufen ausrichtenden systemischen Gesamtzweck, noch die klare Aufteilung systemischer Zugriffe auf unterschiedliche Objekte, wenn ein und dasselbe Objekt Gegenstand unterschiedlicher Perspektiven sein kann. Simmels Rückgriff auf die Arbeitsteilungssemantik ist anachronistisch und erfolgte meines Erachtens eher aus Verlegenheit, vielleicht auch aus einem Mangel an semantischen Alternativen. Simmel ging bereits lange vor der »Soziologie« von 1908 von einer Form-InhaltUnterscheidung aus, wonach ein und derselbe Inhalt Gegenstand unterschiedlicher Formen werden kann.

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lieren zu müssen. Was sich differenziert, so müsste man mit Simmel präzisieren, sind die Bezüge individueller Vergesellschaftung. In einer numerisch kleinen Stammesgemeinde funktionieren die sozialen Wechselwirkungen »ganz unmittelbar zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft« (SOZ: 603). Die Differenzierung zwischen den Individuen ist vergleichsweise gering (vgl. ebd.: 792). Dies ist aber nur ein Merkmal, denn, wie Simmel meint, ist die Gruppenverteidigung entlang von Geschlechtergrenzen separiert (vgl. ebd.: 604). Die hervorstechende, strukturelle Logik der Unmittelbarkeit ist nach Simmel die Bindung und Konstitution der sozialen Form an das individuelle Leben: In der Gruppe drücken sich die Interessen und Begehren der Individuen aus. Die soziale Form ist mit dem individuellen Leben verwachsen. In genau diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Simmel sagt, dass »die Einheit der religiösen Gemeinde durch das nach Zusammenschluß drängende religiöse Bedürfnis eines jeden« entstünde, oder »der ökonomische Zusammenhalt durch unmittelbaren Tausch zwischen den Produzenten« vonstattengehe, und »Gerechtigkeit durch unmittelbaren Urteilsspruch der Gemeinde« ergehe (ebd.: 604). Soziales Handeln erfolge »durch direkte Verabredung oder durch gegenseitige Anpassung« (ebd.: 604). Einen inhaltlichen Vergleich von Gerechtigkeitsvorstellungen oder den Rechtsformen, wie es Durkheim mit der Zuordnung des Repressivrechts zur mechanischen Solidarität, des Restitutivrechts zur organischen Solidarität in seiner »sozialen Arbeitsteilung« vollzogen hat, macht Simmel nicht. Ob und inwiefern Stammesgesellschaften überhaupt zwischen unterschiedlichen Funktionen unterscheiden, dazu finden sich verstreut über Simmels Werk Hinweise für seine Annahme, dass Gesellschaften ursprünglich religiös integrierte Gruppen gewesen sind. So hält Simmel es einmal für das Recht (vgl. LA: 289-90), für den Ursprung des Geldes als sakralem Geld (vgl. PDG: 229, 364, 497-98), für den Ackerbau (vgl. ebd.: 311) sowie für die später zur Wissenschaft sich ausdifferenzierende Erkenntnis (vgl. ÜSD: 193). Zu beachten ist es, dass Simmel seinem Narrativ des Urzustandes von Vergesellschaftung vorrangig eine heuristische Funktion zuerkennt, »um die sachliche Bedeutung der arbeitsteiligen Organe klarzumachen« (SOZ: 604, Fn. I). Eine Tatsachenbehauptung en tout macht Simmel nicht. Daneben geht er aber davon aus, dass »für unzählige Fälle« die Heuristik durch die Empirie gedeckt gewesen sei (ebd.: 604, Fn. I). Mit der Größe einer Gesellschaft wachsen die Schwierigkeiten ihrer Selbsterhaltung. Eine wachsende Anzahl an Mitgliedern bringt eine »Schwerfälligkeit« und »Langsamkeit« ihrer Mobilisierung mit sich (ebd.: 609). Klappt die Mobilisierung, gebe es aber immer noch das mit wachsender Population einhergehende Problem, die für eine Problemlösung notwendige »Einstimmigkeit […] zu erzielen.« (Ebd.: 609). Eine größere Gesellschaft bedinge eine größere Heterogenität von Interessen und Überzeugungen der ihr zugehörigen Individuen. Folglich haben die ko-präsenten Interessen nicht immer etwas mit dem Problem zu tun, welches gerade zur Lösung ansteht. Sie stehen einer gegebenen Problemlösung im Wege. Davon sei »ein soziales Organ frei«, weil es nur »diesem einen sachlichen Zweck zu dienen bestimmt ist« (ebd.: 609). Unabhängig von der individuell vorhandenen Sachkenntnis bringe eine wachsende Menge an Entscheidungsbefugten ein sachlich gesehen umso geringeres Niveau der Problemlösung hervor (vgl. ebd.: 617-20). Deshalb bringe die Organbildung des »Parlamentarismus« gegenüber »dem Plebiszit« entsprechende Vorteile mit

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sich (ebd.: 621). Auf der anderen Seite bringen Größe, überindividuelle Parteilichkeit und »ein gewisser Machtkitzel« neue Nachteile mit sich, die zumindest stückweise an die »Unzurechnungsfähigkeit der Masse« (ebd.: 622) heranreiche. Eine Notwendigkeit zur organischen Differenzierung einer sozialen Form infolge ihrer – aus welchen Gründen auch immer erfolgten – Ausdehnung existiert nach Simmel nicht. Ebenso wenig argumentiert Simmel historisch-genetisch, wie es Durkheim in seiner Arbeitsteilungsstudie tat (vgl. Durkheim 1988: 314-331). Inhaltliche Beispiele des Niedergangs oder der erfolgreichen Differenzierung eines sozialen Kreises entlang von Sachkriterien wählt Simmel allein zur Illustration der Problemlage, mit denen die Selbsterhaltung eines wachsenden Vergesellschaftungshorizonts zu kämpfen hat. Die Einheit eines sozialen Organs reproduziert sich über die individuelle Spezialisierung in einem »Beruf« (SOZ: 612). Charakteristisch für die berufliche Spezialisierung ist nach Simmel ihre – vergleichsweise – dauerhafte Bindung an eine Tätigkeit. Eine bestimmte gesellschaftliche Funktion ist für das Publikum sozusagen abrufbereit, weil »die zur Organfunktion berufenen Elemente ihren Beruf nicht gleich aufgeben können, wenn einmal nichts zu tun ist« (ebd.: 612). Lebenssoziologisch beschreibt Simmel die Strukturation der Organe als »Kontinuität der Form« mit der »Chance, sie in jedem Augenblick wieder zu aktualisieren« (ebd.: 612). So spricht Simmel vom Handelsstand als einem »System von regelmäßig funktionierenden, gegenseitig balancierten Kräften und Beziehungen, als eine allgemeine Form, in die sich die einzelne Produktion und Konsumtion nur wie ein zufälliger Inhalt einfügt« (ebd.: 612). Das individuelle Zweckhandeln besitzt typischerweise »Sachkenntnis« (ebd.: 613). Individuen haben aus der Perspektive der sozialen Organe reinen Funktionscharakter: Das ›Personal‹, aus dem sich der Bestand eines ausdifferenzierten Organs rekrutiert, ist im Hinblick auf die Funktionserfüllung austauschbar. Es geht schlicht darum, die ›Sache‹, den ›Job‹ zu erledigen, ihre Individualität als in sich geschlossenes Eigenleben ist dafür nicht von Relevanz (vgl. ebd.: 604-05). Die religiöse Funktion der Heilsvermittlung an religiöse Laien wird »von den einzelnen Priestern aufgenommen und ausgeführt, aber nicht produziert« (ebd.: 605; Hervorhebung PB). Die Individualität des Priesters spielt für die Ausübung seines Berufs idealtypischerweise keine Rolle. Wie die Beispiele des vermittelnden Handelssystems oder des Priesterstandes zeigen, differenziert die Organbildung die – in einem allgemeinen Sinne begriffene – Produktion und Konsumtion eines jeweils bestimmten, partikularen Funktionsprinzips und steuert das individuelle Handeln und Erleben nach den jeweiligen Sachkriterien der Form. Simmels soziologische Analyse von Arbeitsteilung kann deshalb als Komplement seiner kulturphilosophischen Analysen betrachtet werden. In Letzteren begreift Simmel die soziale Form der Arbeitsteilung als Träger zur Realisierung differenter Kulturformen, nicht als eigenständige Form. Ich verweise auf meine Ausführungen in Kapitel 5.3. Da Simmel Französisch sprach, ist es meines Erachtens durchaus möglich, dass er diese die Ökonomie transzendierende Anwendung der Form arbeitsteiliger Differenzierung von Durkheim übernommen hat.23

23 So lesen wir bei Durkheim: »Aber die Arbeitsteilung ist nicht nur der ökonomischen Welt eigentümlich: man kann ihren wachsenden Einfluß in den verschiedensten Gebieten der Gesellschaft beobachten. Die politischen, administrativen und juristischen Funktionen spe-

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Die – wie auch immer genau beschaffene – ursprüngliche Unmittelbarkeit wird durch Mittelbarkeit abgelöst, in der die »Wechselwirkungen der Elemente untereinander […] dadurch ersetzt [werden], daß jedes dieser Elemente für sich mit dem neu herausgebildeten Organ in Beziehung tritt« (SOZ: 604). Bei den Organen, so Simmel, handele es sich »um Instanzen, die die Wechselwirkungen der Elemente durch sich hindurchleiten und vermitteln und so als selbständige Träger der gesellschaftlichen Einheit wirken, nach dem diese sich nicht mehr als Beziehung von Person zu Person herstellt.« (ebd.: 72) Die ausdifferenzierten Organe entwickeln Simmel zufolge ein »Selbstleben« (ebd.: 635). Die Organe führen die im kleinen Maßstab nicht mehr realisierbaren Sozialfunktionen nicht bloß in einem vergrößerten Maßstab fort. Sie sind keine Repräsentation einer Vielheit mit einem – salopp gesagt – sie »bindenden Mandat«. Sondern, so Simmel, »die Gruppenkräfte werden in einem besonderen Gebilde konzentriert, das nun der Gruppe als Ganzem mit eigenem Bestande und Charakter entgegentritt; indem es die Gruppenzwecke fördert, scheinen selbständige Kräfte von ihm auszugehen« (ebd.: 606). Simmel spricht – ganz im Duktus der Kulturwelten – von einer schöpferischen »Umformung« in »autonome Gebilde« (ebd.: 606-07). Simmel entwickelt im Hinblick auf die Selbsterhaltung einer ausgedehnten sozialen Einheit die Hypothese einer Art Tragödie des Sozialen, welche er die »Tragik jeder höheren sozialen Entwicklung« nennt (ebd.: 638), wiederum ganz analog zur Kulturtragödie.24 Die ausgedehnte Form sozialer Wechselwirkungen kann nur sein, indem sie sich objektiviert in verselbständigte, jeweils gegeneinander differenzierte Organe. Diese Verselbständigung der Organformen aus der Unmittelbarkeit des gesellschaftlichen Lebens führt die Gefahr des gegenteiligen Effektes einer Selbstzerstörung der Gesellschaft durch ihre eigenen Organe mit sich (vgl. ebd.: 635). Das Recht umfasst ursprünglich die Normen und Sanktionen, deren Einhaltung das notwendige Minimum für die Selbsterhaltung einer sozialen Einheit ist. Die geforderten Handlungsformen entwickeln sich im unmittelbaren Vergesellschaftungsprozess. Eine ausgedehnte soziale Einheit entwickelt ein für die Rechtsprechung spezialisiertes Organ »zu einem in sich geschlossenen System von Gesetzen« (ebd.: 637). Dessen Verselbständigung besteht in der Rücksichtslosigkeit der das Recht leitenden Gerechtigkeitsvorstellungen von den situativ variablen Erfordernissen der gesamtgesellschaftlichen Selbster-

zialisieren sich immer mehr. Das gleiche gilt für die künstlerischen und wissenschaftlichen Funktionen.« (Durkheim 1988: 84) Simmel kümmerte sich allerdings kaum um das Ausmaß interner Differenzierung innerhalb der sozialen Organe. Simmel tendierte dazu, sich mit der Aussage zu begnügen: Arbeitsteilung ist Form – und damit eben inhaltlich offen für ein quantitativ wie qualitativ variables Maß an Spezialisierung. 24 Das von Simmel verwendete vitalistische Vokabular von Organen, der Selbsterhaltung, dem Selbstleben, Autonomie und Selbständigkeit kann unter Umständen als Hinweis auf Simmels Annahme gelesen werden, Gesellschaft sei über den Status der Analogie hinaus auch tatsächlich Leben. Ich habe bereits weiter oben darauf hingewiesen. Ich muss es auch an dieser Stelle bei einer Restunsicherheit belassen, gehe aber weiter davon aus, dass Gesellschaft im strikten, lebensphilosophischen Sinne Simmels kein Leben ist, eine Rede vom »Leben der Gesellschaft« metaphorischen Charakter besitzt.

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haltung (vgl. ebd.: 637-38). Es besteht eine Lücke zwischen dem Ideal des Rechts und den variableren Selbsterhaltungsbedingungen der Gesellschaft. Um diese zu minimieren, besitzt der Richterstand einen Interpretationsspielraum (vgl. ebd.: 638). Die anderen von Simmel gelieferten Beispiele sind ähnlich gelagert. So werde der standardisierte »Schematismus« der staatlichen Bürokratie »sehr oft« der »Dringlichkeit« und Besonderheit von Anliegen nicht gerecht (ebd.: 636). Das Militär schließlich werde zum »Staat im Staate« (ebd.: 638). Bei Amtspriestern mischt sich die Heilsvermittlung mit ökonomischen und Machtinteressen (vgl. ebd.: 635). Den im Detail differenten Beispielen ist gemeinsam, dass die Funktion, für die ein soziales Organ ausdifferenziert wird, mit diesem Akt der Ausdifferenzierung nur unvollkommen befriedigt wird – jedenfalls ist dies die Gefahr. Die arbeitsteilige Differenzierung des Sozialen eröffnet aber auch für die Produzenten eines sozialen Organs Spielräume der Entfaltung des individuellen Lebens. Arbeitsteilung ist Form, sofern sie sich an einer a priori nicht definierbaren Menge an inhaltlichen Motiven realisiert. Arbeitsteilung, so Simmel, erlaube eine »Vielfältigkeit und Abstufung in Berufen und Stellungen«, die ein Individuum ergreifen kann (ebd.: 680). Arbeitsteilig differenzierte Gesellschaften, so Simmel, seien eng mit der sie konstitutiv prägenden Rolle des Mittelstandes verknüpft (vgl. ebd.: 676-680). Den Mittelstand versteht Simmel in einem schichttheoretischen Sinne als Mittelschicht. In der »Philosophie des Geldes« definiert Simmel Mittelstand – eher peripher im Kontext der Schwierigkeit einer einheitlichen mittelschichtbezogenen Wirtschaftspolitik aufgrund inhaltlich divergierender Interessen – »die Einkommensstufen von 1200 bis 3000 Mk.« (PDG: 424) In der »Soziologie« geht Simmel über die monetären Attribute hinaus. Es fließen einerseits »Ansehen, Besitz, Tätigkeit, Bildung usw.« in die Definition des Mittelstandsbegriffs (SOZ: 677). Darüber hinaus definiert Simmel den Mittelstand lebenssoziologisch über seine die Vergesellschaftungsprozesse dynamisierende Funktion. Präziser kann man vielleicht sogar sagen, dass der Mittelstand nach Simmel Gesellschaft erst ihren prozessualen Charakter verleiht und sie Vergesellschaftung sein lässt. Kurz gesagt: Er drückt ihr seinen Stempel auf. Dies, so Simmel, verhalte sich anders sowohl in Gesellschaften, deren Herrschaftszentrum in den Händen einer aristokratischen Oberschicht liegt, als auch in agrarisch dominierten Gesellschaften. Beide Gesellschaftsformen zeichneten sich tendenziell anstatt durch Variabilität durch Konservatismus aus (vgl. ebd.: 672-676), und beide wiesen nur eine geringe Ausprägung arbeitsteiliger Strukturen auf (vgl. ebd.: 680).25 Adelsherrschaften, so Simmel, schafften nicht nur große soziale Unterschiede (vgl. ebd.: 648). Darüber hinaus bilde der Adel eine nach oben zum Monarchen wie nach unten hin in sich geschlossene Schicht (vgl. ebd.: 820). Im diametralen Unterschied zum Mittelstand definiert Simmel die Form des Adels als eine Trennung ohne Verbindung, d. h. ein Sich-Abgrenzen von anderen Schichten in einem absoluten – und nicht relativen – Sinne. Weil qua Form jede Form der Annäherung zu anderen Schichten ausgeschlossen ist, stellen selbst von ihrer Intention her herrschaftsstabili-

25 Die Unterscheidung zwischen Konservatismus und Variabilität lässt sich als lebenssoziologische Spezifikation der allgemeinen lebensphilosophischen Unterscheidung von Leben (= Variabilität) und Form (= Konservatismus) begreifen.

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sierende politische Zugeständnisse an untere Schichten – der Idee nach – der eigenen Form widersprechende, gar sie erodierende Handlungen dar. Damit ist aber auch die Form aristokratischer Herrschaft durch sich selbst gefährdet: Jedes Zugeständnis wirke »wie auf einer schiefen Ebene« in Richtung Konflikt zwischen den Schichten (ebd.: 674). Gelingende Stabilisierung aristokratischer Herrschaftsverhältnisse bedarf deshalb der substanziellen »Starrheit und Unnachgiebigkeit« (ebd.: 674). Ist ein die Gesellschaftsform dominierender Mittelstand gegeben, erlaube dieser eine in der ständischen Gesellschaftsform nicht mögliche soziale Mobilität. Der Mittelstand verbinde zwischen der zuvor unverbunden zueinander stehenden Ober- und Unterschicht, weil er »eine obere und eine untere Grenze hat, daß an diesen fortwährender Austausch mit den beiden Schichten stattfindet und durch diese ununterbrochene Fluktuation eine Grenzverwischung und kontinuierliche Übergänge erzeugt werden.« (ebd.: 676; Hervorhebung PB) Die Annahme von zwei Grenzen nach oben wie unten erinnert an Simmels fachwissenschaftsbezogenen Sinn und Zweck von Philosophie. Ebenso wie die Philosophie konstituiert der Mittelstand die (hier: soziale) Einheit: Über die Etablierung eines »Austauschsystems« zur Ober- wie zur Unterschicht hin funktioniert der Mittelstand als Medium sozialen Auf- wie Abstiegs in sozioökonomischer Hinsicht (vgl. ebd.: 677). Während der gesellschaftliche Kosmos der Ständegesellschaft noch die aristokratische »Herrschaft der Besten« (ebd.: 672) von Geburt an, also a priori, postulierte, erfolgt die Zuordnung der Individuen auf gesellschaftliche Positionen in einer durch einen Mittelstand charakterisierten Gesellschaftsform »a posteriori, empirisch […]: der Einzelne muß die Möglichkeit haben, aus einer ungeeigneten Stellung in eine geeignete überzugehen.« (ebd.: 679).26 Die zu besetzenden sozialen Positionen sind nicht a priori vorgegeben, sondern sie können individuell erschlossen bzw. geschaffen werden – »so daß besondere Individuen auch besondere Positionen finden können.« (Ebd.: 679). Dies setzt freilich voraus, dass die Tätigkeit, die das Individuum anzubieten hat, auch auf eine entsprechende Nachfrage stößt bzw. sich diese Nachfrage zu schaffen vermag. Aus der Perspektive gesellschaftlicher Integration ist die individuell gewonnene »größere Bewegungsfreiheit« (ebd.: 677) in einer durch den Mittelstand dynamisierten und geöffneten Vergesellschaftungsform ein Mittel zum Zweck der sozialen Reproduktion. Weil die individuellen Tätigkeiten und Positionen in der Gesellschaft nicht in Stein gemeißelt sind, nutzt die Gesellschaft die sich daraus ergebende »Labilität und Variabilität« (ebd.: 680), um sich an veränderliche Umweltbedingungen anzupassen (vgl. ebd.: 681-82). Ein inhaltliches Beispiel Simmels dafür ist der mit dem Eintritt eines Landes in den

26 Simmel hat die sich leise andeutenden Tendenzen überzeichnet. Die soziale Mobilität im Deutschen Kaiserreich war noch äußerst begrenzt, was, so der Historiker Volker Ullrich, vorwiegend auf die Unzugänglichkeit höherer Bildung für Arbeiterkinder zurückzuführen gewesen ist. Der Anteil von Arbeiterkindern »an den Universitätsabsolventen lag unter einem Prozent.« (Ullrich 1999: 311) Eher möglich gewesen ist ein Aufstieg »innerhalb der eigenen Klasse«, wie beispielswiese »vom ungelernten zum Facharbeiter« (ebd.: 311). Eine die Schichtgrenzen durchbrechende Mobilität war eher eine Sache von Generationen, nicht einer einzigen Erwerbsbiographie (vgl. ebd.: 311-12). Zum eigenständigen, von der Industrieentwicklung unabhängigen Beitrag des deutschen Bildungssystems zur sozialen Schichtung im Kaiserreich vgl. auch Kocka 1978.

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umfassenden sozialen Kreis des Weltmarktes verbundene, nach innen hin wirkende Wettbewerbsdruck (vgl. ebd.: 650-51). Die Form der Variabilität nennt Simmel die Selbsterhaltung im zeitlichen »Nacheinander«, die oben bereits dargestellte Form der Arbeitsteilung bezeichnet Simmel als die Form gesellschaftlicher Selbsterhaltung im sachlichen »Nebeneinander« (ebd.: 680). Funktional gesehen schaffe die inhaltliche Offenheit der arbeitsteiligen Differenzierung zwischen den Individuen die Anpassungsmöglichkeit an die zeitlich »gleichzeitig vorhandenen Erfordernisse« (ebd.: 680; Hervorhebung im Original). Das Nach- und Nebeneinander integriert sich in der Form des Mittelstandes (vgl. ebd.: 680).27 Man vergleiche nun die Semantik, mit der Simmel die Selbsterhaltung einer arbeitsteilig differenzierten, vorrangig durch einen Mittelstand geprägten Gesellschaft beschreibt, mit der Semantik monetär vermittelter Vergesellschaftung in der »Philosophie des Geldes«: Simmel spricht vom »Charakter der Fluktuierung« (ebd.: 676; PDG: 181), den »Nachgiebigkeiten« (SOZ: 676; PDG: 439), der »Grenzverwischung« (SOZ: 676; PDG: 536-37), einer »Kontinuität des sozialen Lebens« (SOZ: 676; PDG: 129-30); der »Beweglichkeit« (SOZ: 679; PDG: 473), sowie der »Beweglichkeit und Verschiebbarkeit innerhalb der sozialen Elemente« (SOZ: 680; PDG: 652).28 Schließlich liegt in der Semantik des »Mittelstandes« selbst die psychologische Assoziation zum Mittel Geld recht nahe: Sie sind beide jeweils ein ausdifferenziertes Drittes, das trennt, um zu verbinden (vgl. SOZ: 676; PDG: 213, 258-59). Ferner ergibt sich ausgehend vom Fluss- und Relationscharakter der Gesellschaft eine logische Assoziation zur simmelschen Begründung der die individuellen Handlungen normierenden Ethik des »individuellen Gesetzes«. Die empirische Tatsächlichkeit der »gleitenden, fluktuierenden, schwebenden Lebensinhalte oder -situationen« (LA: 383) ist es nach Simmel schließlich auch, welche sich der überindividuellen ethischen Normierung des individuellen Erlebens und Handelns entziehe und das Sollen konstitutiv »in die fließenden Relationen, die funktionellen Gesamtverbindungen der Lebenseinheit« zurückführe (ebd.: 413). Neben und mit dem Mittelstand stellt die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft nach Simmel den kulturgeschichtlichen Gegenspieler des Adels par excellence dar. Geld, so Simmel, stelle die Dinge in eine vergleichende Beziehung. Die Tauschpartner stelle es auf »einen gemeinsamen Boden« (PDG: 561). Mit dem Zwang adeliger Gutsherrn im 19. Jahrhundert, selbst am Markt gegen Geld tätig zu werden, erodierte auch ihre gesellschaftliche Position. Geld nivelliert sozial (vgl. ebd.: 562, 634-36). Die Geldwirtschaft, schreibt Simmel, bringe eine »unendliche quantitative Abstufbarkeit des Geldbesitzes« in die Beziehungen und »läßt die Stufen ineinander über-

27 Otthein Rammstedt meint, dass die Soziologien von Simmel, Durkheim und Weber – funktionalistisch formuliert – »auf eine ständisch strukturierte Gesellschaft hin« formuliert worden seien, um »die ständisch orientierten Sinngebungen von Welt zu stützen.« (Rammstedt 1988a: 283-84) Zumindest was die hier dargestellte Form arbeitsteiliger Selbsterhaltung der Gesellschaft anbelangt, trifft dies auf Simmel nicht zu. 28 Zwecks Vergleichs verweise ich auf die entsprechenden Textstellen in der »Philosophie des Geldes« gleich nach der Zitationsangabe aus der »Soziologie«. Die Angaben aus der »Philosophie des Geldes« sind beispielhaft, aber nicht erschöpfend. Die referierten Textstellen aus der »Philosophie des Geldes« sind nicht notwendigerweise wortwörtlich, aber nahezu wortwörtlich und vor allem sinnhaft identisch.

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gehen und verwischt die Formbestimmtheit der vornehmen Klassen, die ohne Festigkeit der Grenzen nicht bestehen kann.« (ebd.: 536-37) Exakt dieselben Attribute, die das Geld kennzeichnen, trägt der Mittelstand in die Gesellschaft: »Man kann die soziologische Form einer Gruppe, die durch die Breite und das Vorherrschen eines Mittelstandes charakterisiert wird, als die der Kontinuität bezeichnen« (SOZ: 676; Hervorhebung PB). Sowohl im ›Konsum‹ wie in der ›Produktion‹ von Gesellschaft ist das Individuum aus der Vereinnahmung der unmittelbaren Wechselwirkung befreit, und die Bindung an andere obliegt der individuellen Entscheidung des Individuums. Dies bezahlt es mit der symmetrisch dazu verlaufenden Verselbständigung von Gesellschaft aus den ehemals überschaubaren Verhältnissen, und es bezahlt die Freiheit mit einer absolut erhöhten Abhängigkeit von den Tätigkeiten anderer. Da – wie am Beispiel der sozialen Organe vorgeführt – Vergesellschaftung aber eine an spezifischen Ideen oder Idealen orientierte Sachlichkeit erhält, ist die Bindung abstrakt. Die arbeitsteilige Differenzierung in eigenlogische Sozialorgane impliziert die weitere Differenzierung von Gesellschaft und Kultur. Denn nicht zählt, wer der oder die andere ist, sondern die soziale Bindung zum anderen wird in wachsendem Maße konstitutionstheoretisch zum Vehikel, um bestimmte persönliche Interessen bzw. objektive Kulturideale zu realisieren. Man sieht das Gegenüber überformt durch den Sinnzusammenhang seiner austauschbaren Funktionsrolle. Das »Du« – die Voraussetzung der Sozialität – verschwindet hinter der Semipermeabilität der Sachlichkeitsmembran der Kultur. Diese Sachlichkeitsmembran der Kultur ist die sich laufend reproduzierende Grenzziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Der wechselseitige Zugriff von Gesellschaft und Individualität aufeinander kann nun eigenselektiv geschehen nach den jeweiligen Erfordernissen beider Seiten. Gesellschaft ist, teleologisch formuliert, ein Mittel zum Zweck individueller Kultivierung. Ich verweise auf »eine Spekulation« Otthein Rammstedts (1992b: 32). Rammstedt meint, dass zur Jahrhundertwende das Soziale durch die Kultur abgelöst werde: »Simmel ist der Aspekt ›sozial‹ historisch vom 19. Jahrhundert bedingt. Und er ›überholt‹ sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zentral wird nun die Gegenüberstellung Kultur-Individuum.« (Ebd.: 32) Ich denke, Rammstedt hat Recht: Die Paradoxie der Ausdifferenzierung von Vergesellschaftungsformen liegt, durchweg, gerade in der Neutralisation des Gesellschaftlichen oder auch: in der Erlösung des Individuums aus der personalen Unmittelbarkeit – verbunden mit dem »Du« –, an dessen Stelle die Bindung an die »Sache« und »Funktionalität« tritt, ebenso wie die Brechung von Vergesellschaftung durch die Logiken der Kulturformen. Simmel begründet so innerhalb seiner – ihm zur persönlichen Last gewordenen – Soziologie die gegenwartsdiagnostische wie theoretische Vorrangstellung der Kulturphilosophie. 6.4.2 Konkurrenz Arbeitsteilige Differenzierung stiftet die Einheit größerer Vergesellschaftungsformationen über die Interdependenz der Individuen untereinander: »Einer ist in ihr unbedingt des Andern benötigt, das Auseinanderbrechen der Gruppe würde jeden Einzelnen ganz hilflos lassen:« (SOZ: 681). Es ist nun Simmels Hypothese, dass parallel dazu »das Einheitsprinzip der Gesellschaft offenbar aus ihren innersten Lebensbedürfnissen heraus« des »Gegensatzes« bedarf (ebd.: 685; Hervorhebung PB). In die-

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sen Formulierungen klingt erneut eine vitaldualistische Annahme des Vergesellschaftungsprinzips an: Gesellschaft wäre selbst Leben. Wie noch zu sehen sein wird, führt Simmel das antagonistische Prinzip dann aber doch wieder in die Individualitätsform des Lebens zurück. Bei dem Prinzip des Gegensatzes kann es sich um »Aversionen und Antagonismen« (ebd.: 684), »Angriffe und Vergewaltigungen« (ebd.: 684), und, etwas spezifischer, »die wirtschaftliche Konkurrenz« handeln (ebd.: 684). Zwar sei es empirisch bereits so, dass es »keine soziale Einheit geben [dürfte], in der die konvergierenden Richtungen der Elemente nicht von divergierenden unablöslich durchzogen wären.« (Ebd.: 285) Den von Simmel unterstellten sozialen Bedarf nach Divergenz, Spaltung, Streit und Konflikt kann man aber durchaus metaphysisch verstehen, wenn er meint, dass eine »Gruppe, die schlechthin zentripetal und harmonisch […] wäre, […] nicht nur empirisch unwirklich [sei], sondern sie würde auch keinen eigentlich Lebensprozeß aufweisen« und wäre »auch jeder Veränderung und Entwicklung enthoben« (ebd.: 285-86). Nicht nur kontrahierende, die sozialen Elemente aneinander bindende Kräfte konstituieren die Form. Sondern, gleich dem kosmischen Kräftespiel zwischen Anziehung und Abstoßung von Materie, bedarf es der »Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Mißgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen.« (Ebd.: 286) In einer Fußnote vermerkt Simmel, dass diese Annahme eine soziologische Spezifikation eines allgemeinen Falles »in der Lebensauffassung überhaupt« darstellt, wonach sich »allenthalben zwei Parteien des Lebens […] gegenüber [stehen]« (ebd.: 286; Fn. I).29 Arbeitsteilung und Konkurrenz – ich greife ein bei Simmel typisches Paar heraus – können dann insgesamt, in der Einheitsform dieser Unterscheidung, als soziologische Spezifikation des Vitaldualismus von Leben und Form gelesen werden. Die Form der Konkurrenz ist meiner Kenntnis nach die einzige soziale Form des Streits, der Simmel mit der »Soziologie der Konkurrenz« von 1903 einen eigenen Aufsatz gewidmet hat. Dies kann unter Umständen an der vergleichsweise vollständigen Entfernung jedes personalen Momentes aus der Konkurrenz als Streitform und damit: ihrer vollständigen Objektivation aus dem Leben liegen. Konkurrenz wäre dann ein Musterexemplar der Eigengesetzlichkeit sozialer Formen. Konkurrenz spalte zwar, so Simmel, weil »Elemente der Gesellschaft gegeneinander [arbeiten], statt miteinander« (ebd.: 328). Konkurrenz sei der »Kampf aller gegen alle«, aber auch der »Kampf Aller um Alle.« (Ebd.: 328; Hervorhebung PB).30

29 Diese gleichsam ontologische Perspektive auf Streitformungen ist meines Erachtens deutlich stärker in ihrem Aussagengehalt als es der Fokus in einer Rezeptionsvariante nahelegt, den Konflikt nicht »nur als eine negative, gleichsam unsoziale Erscheinung der Welt zu verstehen, sondern das soziale und sozialisierende, eben das vergesellschaftende Moment des Konfliktes hervorzuheben.« (Stark 2005: 85) 30 In seiner soziologischen Kategorienlehre subsumiert Max Weber die Konkurrenz unter die übergeordnete Kategorie des »Kampfes«: »Der ›friedliche‹ Kampf soll ›Konkurrenz‹ heißen, wenn er als formal friedliche Bewerbung um eigne Verfügungsgewalt über Chancen geführt wird, die auch andre begehren. ›Geregelte Konkurrenz‹ soll eine Konkurrenz insoweit heißen, als sie in Zielen und Mitteln sich an einer Ordnung orientiert.« (Weber 2010: 27) Auch Weber nennt unterschiedliche Inhalte, die in Teilen der Auswahl an jene Sim-

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Deshalb attestiert Simmel eine über ihre divergierende Wirkung hinausgehende »sozialisierende Kraft der Konkurrenz« (ebd.: 329). Von Bedeutung ist, dass die strukturellen Ausgangsbedingungen einer eigenlogischen Konkurrenzform jenen der Arbeitsteilung gleichen: Die mit der Unmittelbarkeit sozialer Wechselwirkung verbundenen direkten Möglichkeiten wechselseitiger Beeinflussung, Kontrolle und Anpassung werden abgelöst durch die Mittelbarkeit: »Seit die enge und naive Solidarität primitiver und sozialer Verfassungen der Dezentralisation gewichen ist, die der unmittelbare Erfolg der quantitativen Erweiterung der Kreise sein mußte, scheint das Sich-Bemühen des Menschen um den Menschen das Sich-Anpassen des einen an den andern eben nur um den Preis der Konkurrenz möglich, also des gleichzeitigen Kampfes gegen einen Nebenmann um den Dritten« (ebd.: 328-29).

Simmel konstatiert eine flächendeckende Durchsetzung der Vergesellschaftungsprozesse durch Konkurrenzbeziehungen und führt sie auf die Überwindung traditionaler Normen durch den Geist des Liberalismus zurück: »Je mehr der Liberalismus außer in die wirtschaftlichen und die politischen auch in die familiären und geselligen, die kirchlichen und freundschaftlichen, die Rangordnungs- und allgemeinen Verkehrsverhältnisse eingedrungen ist, das heißt also: je weniger diese vorbestimmt und durch allgemeine historische Normen geregelt, je mehr sie dem labilen, von Fall zu Fall sich herstellenden Gleichgewicht oder den Verschiebungen der Kräfte überlassen sind – desto mehr wird ihre Gestaltung von fortwährenden Konkurrenzen abhängen« (ebd.: 329; vgl. auch SK: 228).

Konkurrenz mag – der Chronologie des Wortlauts nach – seinen Ursprung auf dem ökonomischen Felde haben, sickert von dort aus aber auch in inhaltlich davon zu unterscheidende Bereiche hinein. Konkurrenz wird zu einer verselbständigten Form der Vergesellschaftung, die nicht mehr reduzibel ist auf ein bestimmtes inhaltliches Motiv. In dem Zitat scheint eine weitere Gemeinsamkeit mit der Arbeitsteilungsform hindurch, und zwar jene der Auflösung der Substanzialität ehemals fester Bindungen oder Positionszuweisungen in die Labilität von Konkurrenzformungsprozessen. Wenn Bindungen nicht mehr fix, sondern umkämpft sind, exemplifiziert die eigenlogische Konkurrenz die Kontinuität des Formschöpfungsprozesses vom Typus des »status nascens« (SOZ: 33). Der Gewinn von Geld, Macht, Liebe, eines 100-Meter-Sprints oder religiöser Anhänger wird nicht durch die direkte Konfrontation durch Raub, im Faustkampf oder durch Diskreditierung des anderen erreicht, sondern muss den Umweg über ein Drittes oder einen Dritten gehen (vgl. ebd.: 323-24). Dieses »Dritte« kann ein anonymes Publikum im wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Wettbewerb sein, eine konkrete, geliebte Person, um deren Zuneigung man buhlt, oder der Ruhm des

mels erinnern: den »Ritterkampf«, den Sport, die erotische Bewerbung »um die Gunst einer Frau«, den »an die Ordnung des Marktes gebundenen Konkurrenzkampf um Tauschchancen«, es gebe Konkurrenz in der Kunst und in der Politik in der Form des Wahlkampfes (ebd.: 28).

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Sieges, den es im sportlichen Wettkampf zu gewinnen gilt. 31 Diese inhaltliche Offenheit ist es einmal, was die Konkurrenz zur Form macht. Wie die Beispiele zeigen – aus der Wirtschaft, Politik, Liebe, Sport und Religion –, kennt die Konkurrenz allerdings unterschiedliche Grade von Verselbständigung und, damit einhergehend, der Personalisierung. Man weiß zwar um den (oder die) Konkurrenten. Das Bewusstsein um das Im-Wettbewerb-Stehen treibt zu Höchstleistungen an (vgl. ebd.: 324). Es gibt aber nicht nur keinen direkten Feindkontakt, es gibt auch keine Absprache zwischen den Konkurrenten.32 So teilt die Liebe mit der Ökonomie die allen Inhalten gemeinsame Form mittelbarer Bezugnahme auf den Mitbewerber und den Kampf um Dritte einerseits, die freie Entscheidbarkeit zwischen eben jenem oder jener Dritten auf der anderen Seite, besitzt aber einen ungleich geringeren sozialen Ausdehnungsgrad. Andererseits meint Simmel, dass die Entscheidung in Liebesdingen im Unterschied zur Entscheidung in ökonomischen Dingen ungleich mehr durch schwerlich lenkbare Gefühle beeinflusst sei (vgl. ebd.: 136). Dass das Gefühl entscheiden darf, bildet seinerseits wiederum eine strukturell zugestandene Freiheit an das Individuum. Ähnlich wie die Arbeitsteilung besitzt die Darstellung der Konkurrenz bei Simmel eine ökonomische Schlagseite: Fast zwölf der 26 Seiten des Konkurrenzaufsatzes – 233-244 – widmen sich allein der Wirtschaft.33 Man kann – mit Simmel – den Wettstreit zwar ebenso im religiös-konfessionellen Bereich wie in den Sphären parlamentarischer Demokratie finden. Und, »freilich nur in Andeutungen, gleich fallen gelassenen Ansätzen« (ebd.: 329) – Simmels Keimformen – mischen sich Konkurrenzformen – beispielsweise der Streit um das bessere Argument – in das Alltagsleben, bei mitunter geselligen Gesprächen in der Familie oder mit Freunden. Die Kulturwelt der Ökonomie alleine ist es aber, anhand derer Simmel eine logische Aneinanderreihung des historischen Materials von Vor- und Nicht-Wettbewerbsformen bis hin zur durch »Rechtsprechung« formalisierten Gestalt im »reinen Begriffe der Konkurrenz« vollzieht (ebd.: 346). Das spricht in meinen Augen dafür, den Marktwettbewerb als idealtypische Verkörperung der von Simmel postulierten Eigenlogik von Konkurrenzverhalten anzusehen.34 Die Form der Religion stellt die Antithese zur Marktwirtschaft dar. Sie kennt keine Konkurrenz (vgl. SK: 230-33). Das Seelenheil – das Pendant zum zu erwirtschaftenden monetären Mehr-Wert im Marktwettbewerb – ist kein knappes Gut, sondern allen zugänglich, »weil die Erreichung durch den einen nicht den andern von ihm ausschließt. Zum mindesten nach der christlichen Vorstellung ist in Gottes Haus

31 Dass Markt nicht gleichzusetzen ist mit bzw. zu reduzieren ist auf Wirtschaft, für diese These argumentierte in jüngster Zeit Steffen Roth (2010). 32 Eine Absprache zwischen potenziellen Konkurrenten innerhalb der Kulturwelt Ökonomie nähert sich, je nach Ausdehnung der Absprache, dem Typus der Kartellierung an (vgl. SOZ: 342). 33 Ich zitiere sowohl aus der »Soziologie« wie aus der »Konkurrenz«. Die Proportionsangaben sind allein der »Konkurrenz« entnommen, weil der Konkurrenzaufsatz nicht an einem Stück im Streitkapitel der »Soziologie« aufgeht. 34 So ähnlich sieht es auch Tobias Werron, der auf Simmels »Soziologie der Konkurrenz« verweist (vgl. Werron 2010: 308, Fn. 14).

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Platz für alle.« (Ebd.: 231) Deshalb kann das Vorbild der religiösen Lebensführung bestimmter Vorbilder zwar vielleicht zur Nachahmung anspornen, knapper wird das Heilsgut dadurch nicht (vgl. ebd.: 232-33). Denn, wie Simmel anmerkt, auf die Leistung des Gegenübers komme es in der Frage religiöser Belohnung für das eigene Streben nicht an. Es »wird vielmehr jedem nur nach seinen Werken, wie sie sich an den transzendenten Normen messen, vergolten, während der Wettbewerb jedem eigentlich nach den Werken des Nebenmannes […] vergilt.« (Ebd.: 233) Nicht anders mit Bezug für die Eignung für die Konkurrenzformung verhält es sich im Falle von Prädestinationslehren, denen gemäß der Zugang zum Heil über göttliche »Gnadenwahl« (ebd.: 231) erfolgt. Die individuelle Leistung macht keinen Unterschied im Heilserwerb, Zielerreichung und individuelle Lebensleistung stehen in keinem bestimmten Verhältnis zueinander (vgl. ebd.: 231). Religion ist die Antithese zur Ökonomie, weil, wie Simmel sagt, sich die Religion als potenzieller Inhalt der Konkurrenzform von sich her, als Inhalt, der Konkurrenzform verschließt (vgl. ebd.: 229). Diesen Sachverhalt wiederholt Simmel in seinen religionstheoretischen Überlegungen. Inhalte können sich bestimmten Formungsperspektiven gegenüber versperren, die Synthese von Form und Inhalt ist nicht vollständig beliebig. Simmel unterscheidet diesen Fall ausdrücklich von dem Fall historischer Kontingenz, wonach manche ökonomische Organisationsweisen zu bestimmten Zeiten sich der Konkurrenz verschließen können, wie beispielsweise die Zunft oder, größer gedacht, sozialistische Ökonomien (vgl. ebd.: 233-37). Die Ablehnung von Konkurrenz durch Religion scheint also, in der simmelschen Lesart, ontologischer, wesenhafter Natur zu sein. Trotzdem erwähnt Simmel den Tatbestand kirchlichen Werbens um religiöse Gemeindemitglieder (vgl. ebd. 223, 228). Jemanden von seiner oder ihrer religiösen Lehre zu überzeugen ist jedoch analytisch zu unterscheiden von dem religiösen Idealtypus der Nicht-Knappheit des religiösen Heilsgutes. Gegebene Nicht-Knappheit kann immer noch kombiniert werden mit der Frage nach dem richtigen Heilsweg (vgl. Kapitel 7.3.5). Diese Unterscheidung stellt sich, weil das religiöse Ideal durch die Materialität der Vergesellschaftung getragen, realisiert und überhaupt erst in Form gebracht werden muss. Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Formung konterkariert zugleich das Ideal. Bedeutsamer noch ist es, dass genau dies der Pfad sein wird, auf dem sich, vermittelt durch das Geld, die Form der Religion und die Form der Ökonomie wieder aneinander annähern werden, obgleich ihrer diametralen Gegensätzlichkeit zueinander. Darauf werde ich in den kommenden Kapiteln noch zu sprechen kommen. Von außen betrachtet, so Simmel, würde jeder Wettbewerber so verfahren, »als ob kein Gegner, sondern nur das Ziel auf der Welt wäre. Durch die unabgelenkte Richtung auf die Sache kann diese Konkurrenzform Inhalte aufnehmen, bei denen der Antagonismus ein rein formaler wird« (SOZ.: 324; Hervorhebung PB). Man erlebt das Gegenüber, dies mobilisiert Kräfte – aber, sozusagen, nur Kräfte des Zweckhandelns in eine bestimmte Sachrichtung hin, nicht jedoch auf den Mitbewerber gerichtet. Diese »Sachlichkeit« bezeichnet das – empirisch nach Inhalt variierende – »Gesetz« der Konkurrenz, dem sich die Wettbewerber unterzuordnen haben. Unternehmen haben sich beispielsweise den – wie auch immer erkannten – Bedürfnissen der potenziellen Käuferschaft unterzuordnen, die es vom eigenen Produkt zu überzeugen gilt (vgl. ebd.: 245). Analoges gilt für den demokratischen Wettbewerb zwischen po-

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litischen Parteien. Dies gilt nur unter der Bedingung, dass den Individuen aus dem Publikum eine freie Wahl zwischen den Angeboten zugestanden wird. Das Individuum fragt nicht nach der hinter einem Produkt stehenden Individualität – man kauft nicht nach Nase –, sondern nach dem politischen Inhalt im politischen Wettbewerb, nach Qualität und Preis im ökonomischen Wettbewerb, das Werben einer religiösen Gemeinde wird auf seine Sinneinheit stiftende Tauglichkeit überprüft. Mögen Produzenten Bedürfnisse auch künstlich erzeugen, potenzielle Konsumenten haben sich immer noch zwischen unterschiedlichen Anbietern einer Bedürfnisbefriedigung zu entscheiden; mögen Politiker auch Sorgen oder Begehrlichkeiten wecken, am Ende haben Wähler und Wählerinnen immer noch eine Entscheidung zu treffen (ebd.: 137). Gerade weil das Publikum sich für einen Sachinhalt und nicht für eine bestimmte Person entscheidet, bildet das Publikum für Simmel einen objektiven Wertstandard, an dem sich die individuelle Leistungsfähigkeit messen lässt, aber auch messen lassen muss. Der Ausrichtung auf die Sache hin entspricht die Möglichkeit für das Individuum, seine Individualität in der Konkurrenz zu objektivieren, auszuleben. Oder, anders gesagt, das Ergebnis zeigt das an, was das Individuum ist – zumindest eine Facette seiner Ganzheitlichkeit. So spricht Simmel von der »Differenz der individuellen Energien als Grund des Gewinnes« (SK: 231), vom »Ergebnis der Konkurrenz« als der »unbestechliche Anzeiger des persönlichen Könnens, das sich in der Leistung objektiviert hat« (ebd.: 245), schließlich davon, dass in der Konkurrenz »dies Ich den Ausschlag gibt« (ebd.: 246). Der den wettbewerblichen Rahmen liefernde soziale Kreis richtet Konkurrenzverhältnisse als ein Mittel zum Erreichen politisch definierter Ziele ein (vgl. SOZ: 337, 344). Die miteinander konkurrierenden Individuen besitzen neben der Aussicht, ein spezifisches Begehren – Geldgewinn oder Macht – zu befriedigen, mit dem Wettbewerb die vergleichsweise friedliche Chance, eine andere Triebkraft auszuleben, und zwar »die subjektive antagonistische Triebfeder« (SK: 224). Letzteres bildet das spezifische Apriori der allgemeinen sozialen Form des Streits (vgl. SOZ: 30203). Obwohl die Konkurrenz vergleichbar existenziell ruinöse Konsequenzen für die Verlierer haben mag wie der direkte Faustkampf (vgl. ebd.: 343-44) – »dieser relative Kriegszustand«, so Simmels frühe Beschreibung der Konkurrenz 1888 (BSP: 31) –, könne die Sachbezogenheit des Wettkampfes »unter Umständen« auch den Unterlegenen mit einem »Gerechtigkeitsgefühl« trösten (SK: 246). Konkurrenz befriedigt eine apriorische Funktionskraft, indem diese einen Teil der Kulturwelt realisiert: »[S]o führt uns die subjektive antagonistische Triebfeder zur Verwirklichung objektiver Werte, und der Sieg im Kampfe ist nicht eigentlich der Erfolg eines Kampfes, sondern eben der Wertverwirklichungen, die jenseits des Kampfes stehen.« (SOZ: 325; Hervorhebung im Original) Diese Bemerkung Simmels lässt sich unter Umständen dahin deuten, dass die Sozialform Konkurrenz ähnlich wie die Arbeitsteilung Produktion und Konsumtion der Kulturinhalte differenziert: Einmal als produzierende Wettbewerber auftretende Individuen können ein anderes Mal als Nachfragende von Kulturinhalten auftreten, die im Wettbewerb produziert werden. Diese Vermutung muss Vermutung bleiben, da Simmel diesen Aspekt nicht ausgeführt hat. Das individuelle Leben seinerseits besitzt die Chance, eine Facette seiner Ganzheitlichkeit in der Form der Konkurrenz zu objektivieren. Auf der anderen Seite nutzt die Selbsterhaltung der Gesellschaft die Konkurrenz, um seine eigene Varianz zu

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stimulieren, derer die Sozialität aus sich heraus bedarf. Bemerkenswert ist die strukturelle Verwandtschaft zur Arbeitsteilung. Auch hier scheint eine Art Parallele zu herrschen zwischen den durch die gesellschaftliche Form der Selbsterhaltung vorgegebenen Bedürfnissen an das individuelle Handeln einerseits – sozusagen: von »oben« her –, andererseits der dem Individuum gegebenen Möglichkeit, eine seiner Fähigkeit und seinem Talent entsprechende Position einzunehmen – sozusagen von »unten« her. Freilich: Eine Garantie gibt es nicht, denn die eigene Leistung läuft unter den Bedingungen des Wettbewerbs Gefahr, durch andere entwertet zu werden. Wettbewerb funktioniert nach dem »Prinzip der Chance« – die Unsicherheit setzt sich an die Stelle einer fest gesetzten Koordination des Handelns (ebd.: 340). Die »Soziologie der Konkurrenz« erschien erst 1903, inhaltlich war das Nebeneinander von Arbeitsteilung und Konkurrenz aber bereits – wenn auch knapp – Ausgangspunkt der 1888er erschienen »Bemerkungen zu socialethischen Problemen«. Beide, Konkurrenz und Arbeitsteilung, waren auch Gegenstand des 1898 zuerst auf Französisch in der Erstausgabe der »L’Année Sociologique« erschienen Aufsatzes »Comment les formes sociales se maintiennent«. Simmel rückt die Arbeitsteilung und die Konkurrenz in den Status von Formen neben anderen, in welche das individuelle Leben eine Leistung geben kann, ohne sich ganz in diesen zu verlieren. Simmel beobachtet – um es etwas zuzuspitzen – nicht soziale Strukturen für sich, sondern mögliche Konstellationsstrukturen, an die das Individuum sich partikular und frei binden kann. Arbeitsteilung und Konkurrenz fallen für Simmel unter einen beide Formen übergreifenden, gemeinsamen Trend, den zur freien Bindung einerseits und den zur versachlichenden, eigenlogischen Objektivation der Vergesellschaftung andererseits. Die der Arbeitsteilung und Konkurrenz gemeinsame Tendenz zur Versachlichung von Sozialbeziehungen schließt die Personalität sozialer Beziehungen aus, ermöglicht aber auch erst die eigenselektive Gestaltung von Individualität. Die aus dem Leben sich verselbständigende und damit entpersonalisierende Vergesellschaftungsform der Konkurrenz und das auf sich gestellte Individuum bilden zwei miteinander korrelierende Seiten einer und derselben Medaille. Wohl nicht ganz zufällig spricht Simmel in Anlehnung an die »Wendung zur Idee« aus der »Lebensanschauung« mit Blick auf die Konkurrenz von der »Wendung auf das Objekt« – also die Sache (SK: 245; SOZ: 348). Gerade weil nicht die Individualität der Träger der Kulturproduktion, sondern die Selektion des Produkts seitens des Publikums im Vordergrund steht, ist am Ende doch die persönlich adressierbare Fähigkeit des die Leistung tragenden Individuums ausschlaggebend. »Gleichgültigkeit gegen die […] Persönlichkeit« und »die volle Selbstverantwortlichkeit« kommen zusammen« (SK: 246). Wieder verschwindet das »Du« des – nach wie vor notwendigen – Gegenübers hinter einer Sachlichkeitsmembran, welche nur für die Produktion, nicht für den ganzen Mensch durchlässig ist. Für Simmel ist genau diese Kombination aus Sachlichkeit und Individualität »einer der Punkte, an denen die Beziehung der Konkurrenz zu den entscheidenden Zügen des modernen Daseins hervortritt.« (Ebd.: 246) Simmel wiederholt das gleiche Muster, welches bereits kennzeichnend für die Kulturphilosophie gewesen ist: Die Welt »der dinglichen Kultur« habe eine bis dato nicht erreichte »Macht und Selbständigkeit« erreicht, aber ebenso habe sich auch »das Sich-selbstGehören der individuellen Seele gegenüber allen sachlichen und sozialen Präjudizierungen ebenso unerhört vertieft.« (Ebd.: 246)

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Ganz zum Ende seines »Konkurrenz«-Aufsatzes – in der »Soziologie« vielleicht um des Leseflusses willen, in eine Fußnote verbannt – geht Simmel dann soweit, in der Sozialform der Konkurrenz einen für die Moderne typischen Dualismus zwischen dem individuellen Leben und den Formen der Kultur zu beobachten: »Die tiefsten Tendenzen des modernen Lebens, die sachliche und die personale, haben in der Konkurrenz einen ihrer Treffpunkte gefunden, in denen sie unmittelbar praktisch zusammengehören und so ihre Entgegengesetztheiten als einander ergänzende Glieder einer geistesgeschichtlichen Einheit erweisen.« (Ebd.: 246; Hervorhebung im Original und SOZ: 349, Fn. I; Hervorhebung im Original)

Dies, und nicht die bereits 1888 (vgl. BSP: 20) von Simmel – wie von Durkheim und wohl im Anschluss an Herbert Spencer – vertretene Hypothese konkurrenzgetriebener Spezialisierung ist der Kern, das Eigene und Neue an der Konkurrenztheorie Simmels. Das der Arbeitsteilung wie Konkurrenz gemeinsame Merkmal: Versachlichung der Form und Eigenselektivität der sozialen Bindung ist nun auch das Charakteristikum von Simmels Theorie der Kreuzung sozialer Kreise. Dieser widme ich mich nun zu. 6.4.3 »Die Kreuzung sozialer Kreise« Diese dualistische Form der Beziehung zwischen der Sach- oder Kulturdimension einerseits, der Individualdimension andererseits ist auch der meines Erachtens bedeutsamste Punkt, durch den sich die Anlage der 1908er Version der »Kreuzung sozialer Kreise« von jener der 1890er Version aus der »Socialen Differenzierung« unterscheidet – abgesehen von der quantitativen Verdopplung im Umfang. Zu der dualistischen Perspektive gesellt sich zudem die mit der »Philosophie des Geldes« gewonnene liberalistische Perspektive. Die Zentralaussage des Kapitels lässt sich in eine lebensphilosophische »Wende«-Formel fassen: Zunächst gehört das individuelle Leben a priori und fest zugeordnet bestimmten Bindungsformen in Familie, Stand, Beruf und Nation an. Dann aber – dies ist die »Wende« – wird diese feste Zuordnung gelöst und in die Hände des individuellen Lebens gelegt, dem die Sozialformen ja bereits konstitutionstheoretisch entstammen. Dem entspricht nach Simmel eine sozialempirische Wende: »Die lokale und physiologische, von dem terminus a quo her bestimmte Zusammengehörigkeit ist hier aufs radikalste durch die Synthese nach dem Gesichtspunkt des Zweckes, des inner-sachlichen, oder, wenn man will, individuellen Interesses ersetzt worden.« (SOZ: 457). Diese Passage ist ebenso neu im Vergleich zur 1890er Version wie Simmels Beobachtung, dass die »Tendenz auf Vermehrung der Freiheit [gehe]: sie hebt zwar nicht die Bindung auf, aber sie macht es zur Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist.« (Ebd.: 458) Was Simmel unmittelbar an die Prämisse koppelt, dass »die frei gewählte [Bindung] in der Regel doch die tatsächliche Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die Gruppierung auf sachlichen, d. h. in dem Wesen der Subjekte liegenden Beziehungen sich aufbauen lassen.« (Ebd.: 458; Hervorhebung PB) Das Leben objektiviert sein individuelles Sein in die Formen sozialer Wechselwirkung. Auf der Ebene der Objektivation entspricht dem eine, wie Simmel meint, empirische Möglichkeit: Es gebe »genügend viele Kreise von irgendwelcher

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objektiven Form und Organisierung […], um jeder Wesensseite einer mannigfach beanlagten Persönlichkeit Zusammenschluß und genossenschaftliche Betätigung zu gewähren.« (Ebd.: 485) Die Gesellschaft entwickelt sich auf einen Punkt hin zu, an dem sie den unterschiedlichsten, auch nicht-sozialen apriorischen Formungskräften eine soziale Form anbietet, in denen sie sich jeweils ausleben können. Der »Einzelne«, so Simmel, finde »für jede seiner Neigungen und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Befriedigung derselben erleichtert, seinen Tätigkeiten je eine als zweckmäßig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppenangehörigkeit darbietet« (ebd.: 485). Und diese Möglichkeit der Objektivation individuellen Seins in die Form setzt empirisch die freie Kombinierbarkeit von Bindungen voraus. Eine Bindung darf nicht weitere andere implizieren oder – logisch entgegengesetzt – verhindern; andersherum: Individuelle Freiheit setzt die wechselseitige Entkopplung von Bindungskontexten voraus (vgl. ebd.: 465-66 und 472-74). Dieser Aspekt bildet, im Großen und Ganzen und durch Nuancen verändert, den roten Faden der »Kreiskreuzung«. Es gibt nicht die gesellschaftliche Einheit nach Simmel, sondern eine Pluralität von Bindungsmöglichkeiten. Anders: Möchte man von der Einheit der Gesellschaft sprechen, dann ist diese überall ›dort‹, wo es zu Vergesellschaftung kommt. Für die Form der Religion unterscheidet Simmel in dem Sinne einer »Wende« zur Eigenselektivität einerseits zwischen Religionen, die die Religionen bestimmter Stämme oder Gemeinschaften sind, und mit deren Zugehörigkeit gleichsam auch Verpflichtungen in politischen oder ökonomischen Hinsichten einhergehen; und andererseits Religionen, deren Mitgliedschaft keine sozialen Bindungen in welche Richtung auch immer implizieren: »In beiden soziologischen Formen: daß entweder die religiöse Gemeinschaft zugleich die Gemeinschaft in andern wesentlichen oder umfassenden Interessen bedeutet – oder daß sie gerade von aller Solidarität in dem, was nicht Religion ist, völlig befreit sei – in beiden spricht sich das Wesen der Religion gleich vollständig aus, nur jedesmal in einer andern Sprache oder auf einer andern Entwicklungsstufe.« (Ebd.: 480).

Zu den lokalgebundenen oder Stammesreligionen zählt Simmel die Glaubenssysteme »der ganzen antiken, semitischen wie griechisch-römischen Welt« (ebd.: 481). Erst das Christentum, so Simmel, löse die religiöse Bindung des Individuums aus seiner Bindung in anderen Hinsichten (vgl. ebd.: 481). Idee und Anspruch eines allumfassenden Gottes sprengt die exklusive Zugehörigkeit an eine politische Gemeinschaft (vgl. ebd.: 837). Deshalb meint Simmel, dass »das Christentum seinem reinen Sinne nach eine ganz individualistische Religion ist« (ebd.: 481). Simmel spricht von der »Verantwortlichkeit« des religiösen Individuums (ebd.: 481), der »unbedingten Selbstverantwortlichkeit« des religiösen Individuums durch »die Unabhängigkeit von jeglicher Bindung an Welt und Menschen gegenüber der einen, die in der unabgelenkten, unvermittelten Beziehung der Einzelseele zu ihrem Gott gegeben war« (ebd.: 837). Die Mitgliedschaft in der Kirche löst die alten Bindungen und erlaubt neue Bindungen, aber gemäß einer nun unmittelbar vor Gott zu verantwortenden Entscheidung. Lösung oder Erlösung von Welt durch Gott bedeutet dann die Möglichkeit einer erneuten, aber aus der Individualität her erfolgenden Synthese zwischen Individualität und Welt, »die Berührung seines religiösen Interessenkreises mit allen möglichen andern Kreisen, deren Mitglieder jene sonstigen Gemeinsamkeitsinhalte

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nicht mit ihm teilen« (ebd.: 482). Die religiöse Freiheit besitzt aber den Preis der umfassenden Herrschaft Gottes. Die semantische Parallele zur unbedingten Selbstverantwortlichkeit des »individuellen Gesetzes« ist hierbei offensichtlich. Ich gehe zu einem Beispiel Simmels aus der Ökonomie über. Im Vergleich zu heute, so Simmel, seien frühere Beschäftigungsverhältnisse in geringerem Ausmaße arbeitsteilig strukturiert gewesen. Gering spezialisierte Berufe verbrauchen nach Simmel mehr psychische Energie, als dies unter stark arbeitsteiligen Bedingungen der Fall ist. Simmel begründet den hohen psychischen Energieverbrauch einer gering spezialisierten Tätigkeit mit der »Mannigfaltigkeit« (ebd.: 503) von Vorstellungen, die für diese aufgewandt werde. Die energetische Absorption behindere die Ausbildung anderer Fähigkeiten und Interessen und stelle diese »in assoziative oder sonstige Abhängigkeit von jenem zentralen Vorstellungskreise«, also dem Beruf (ebd.: 503). Simmel spricht auch von einer »alles Übrige in sich einsaugenden Stellung in dem Lebenslaufe eines Menschen« (ebd.: 504). Wie Simmel am Beispiel der Zünfte zeigt, ging diese psychologische Asymmetrie mit entsprechenden Kontrollstrukturen auf der Ebene der Sozialobjektivation einher. In Zünften, so Simmel, sei es nicht allein um die Regulierung von Arbeitsbeziehungen, Produktion und Verkauf gegangen. Eine Zunft »übte eine Aufsicht über die ganze Persönlichkeit in dem Sinne, daß das Interesse des Handwerks deren ganzes Tun zu regulieren hatte.« (Ebd.: 502). Der Lehrling beispielsweise war nicht bloß Lehrling seines Meisters, sondern »Mitglied seiner Familie usw.; kurz, die fachmäßige Beschäftigung zentralisierte das ganze Leben, das politische und das Herzensleben oft mit eingeschlossen, in der energischsten Weise.« (Ebd.: 503). Die nicht-ökonomischen Interessen waren eingenommen durch die ökonomische Beschäftigung. Simmel sagt allerdings nichts zum Grad arbeitsteiliger Spezialisation in Zünften. Er begnügt sich (und die Leser) mit dem Hinweis, dass die »Arbeitsteilung« ein Faktor gewesen sei, der zur »Auflösung dieser Verschmelzung« von Beruflichem und Privatem geführt habe (ebd.: 503). Erst die »einseitigen Beschäftigungen« arbeitsteiliger Verhältnisse ließen »andern Beziehungen, mit ihrem Wert und ihrer Selbständigkeit, mehr Raum im Bewußtsein« (ebd.: 504). Arbeitsteilige Spezialisierung und psychologischer Energieverbrauch durch diese Tätigkeit stehen also in einem negativen Korrelationsverhältnis zueinander. Ein Problem ergibt sich dann, wenn die spezialisierte Beschäftigung eine »völlige Absorbierung von Kraft und Zeit« bewirke, dies würde »die seelische Energie als ganze atrophisch machen« (ebd.: 504). Die nicht arbeitsteilige Beschäftigung – Simmel definiert diese inhaltlich nicht weiter – würde »ein solches Maß von psychischer Energie verbrauchen, daß die Bebauung andrer Interessen darunter leidet« (ebd.: 503). Je indifferenter eine Tätigkeit, umso mehr Energie verbraucht sie in diese eine Richtung. Die »einseitigen Beschäftigungen«, so Simmel weiter, seien »mehr mechanischer Natur«, und genau »deshalb, wo sie nicht etwa durch völlige Absorbierung von Kraft und Zeit die seelische Energie als ganze atrophisch machen«, ließen die arbeitsteiligen Spezialisierungen »andern Beziehungen, mit ihrem Wert und ihrer Selbständigkeit, mehr Raum im Bewußtsein« (ebd.: 504). Die Form arbeitsteiliger Differenzierung ist für Simmel an die Ausdehnung des letzten umfassenden Kreises gebunden, innerhalb dessen das Individuum seine Beziehungen pflegt (vgl. ebd.: 791-92, 848). Die Form des »großen Kreises«, so Simmel, bedinge die schon genannte »Organbildung« (ebd.: 848). Und damit sei »eine besondre inner-persönliche Freiheit und Fürsichsein ihrer Mitglieder erreicht« (ebd.:

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848). Arbeitsteilige Differenzierung trennt Zuständigkeiten, indem sie strukturell die Produktion von der Konsumtion der Inhalte der Kulturwelten differenziert. In den kleinen Kreisen geht der ganze Mensch in den Tätigkeiten einer – seiner – Gruppe auf, der große Kreis erlaubt die selektive, mittelbare Bindung über die Organe, sei es im Beruf, sei es in der nachfragenden Position: »Je reiner und vollständiger diese Arbeitsteilung geschieht […], desto mehr wird das Individuum aus den durch sie ersetzten Wechselwirkungen und Verschmelzungen befreit und seinen zentripetalen Angelegenheiten und Tendenzen überlassen. Die Organbildung ist das Mittel, die Einheitlichkeit der Gruppe mit der größten Freiheit der Individuen zu vereinen.« (Ebd.: 848)

»Einheitlichkeit der Gruppe« als arbeitsteilige Form meint bei Simmel soziale Einheit als funktionale Interdependenz zwischen Individuen. Detaillierter wird dieser Aspekt Gegenstand von Kapitel 8 sein. Wo bei Gelegenheit die gesamte Gemeinschaft die Richterfunktion auszuüben hat, bleiben die individuellen Rechts- von anderen sozialen Interessen nicht getrennt. Unter arbeitsteiligen Bedingungen dagegen sieht dies anders aus: Nur der Berufsrichter spricht Recht. Davon zu unterscheiden wären die »Konsumenten« des Rechts: Hier kommt derjenige mit der Eigenlogik der Rechtsprechung in Berührung, »wenn auch wirklich sein ganzes Interesse dafür engagiert ist.« (Ebd.: 849) Ähnlich beobachtet es Simmel für die Religion und die Wirtschaft: In der ausdifferenzierten Religion geht das Individuum in die Kirche zum »Berufspriester […], wenn er sich wirklich dazu gedrungen fühlt und also ganz bei der Sache ist.« (Ebd.: 849) Am Stammeskult mitzuwirken hat er nicht mehr. In der Wirtschaft obliegt dem Konsumenten die Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Gütern unterschiedlicher Produzenten, entsprechend seinen Bedürfnissen, und unabhängig davon, was er durch seine eigene Produktivkraft schafft – anders als unter subsistenzwirtschaftlichen Bedingungen des Stammeskollektivs, wo dem Individuum nur das zur Verfügung steht, was es selbst in der Gruppe und für die Gruppe erwirtschaftet (vgl. ebd.: 849). Die arbeitsteilige Differenzierung trennt somit die Sachorientierung der Form von dem individuellen Sein: »Mit dem Organ […] werden die Verflechtungen gelöst, durch die das Individuum in seine Zustände und Betätigungen Elemente hineinnehmen und hineingeben muß, die zu dem, was es von sich aus will, nicht gehören.« (Ebd.: 849) Die Unterscheidung nach sozialen Formen liegt quer zum KreiskreuzungsArgument Simmels. Dies zeigt einmal das hier genannte Beispiel der Wirkung sich ausbreitender arbeitsteiliger Strukturen, wo die soziale Form der Arbeitsteilung Mittel des argumentativen Zwecks ist, die Form des Gewinns von Bindungsfreiheiten aufzuzeigen. Ebenso verfährt Simmel mit der Konkurrenz. Konkurrenz, wie oben gezeigt, ist in seiner zeitgenössischen Verbreitung ein Produkt des liberalistischen Geistes. In diesem Geist steht auch die freiheitliche, und nicht: unlösbar vorgegebene Bindung an Beziehungen. Unternehmer, so Simmel, treten einerseits in Konkurrenzbeziehungen zueinander, anderseits aber können genau diese gleichen Unternehmer sich zu »Solidaritäten« – wie beispielsweise einem Industrieverband – zusammenschließen, um »wirtschaftspolitische Gesetzgebung, soziales Ansehen des Kaufmannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluß gegenüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter Preise und vieles andre« in ihrem Sinn zu gestalten oder zu be-

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einflussen versuchen (ebd.: 478). Beide Kreise – Konkurrenz und Assoziation aus gemeinsamem Interesse – befriedigen jeweils für sich und deshalb adäquat »die instinktiven Bedürfnisse des Menschen nach diesen beiden entgegengesetzten Seiten hin«, und zwar, klassisch dualistisch, »daß er mit andern, aber auch gegen andre empfinden und handeln will; ein bestimmtes Ausmaß des einen und des andren und ihrer Proportion ist eine rein formale Notwendigkeit für den Menschen« (ebd.: 479; Hervorhebung im Original). Zünfte – so führt Simmel es an anderer Stelle in der »Soziologie« aus – dagegen unterbanden den Wettbewerb zwischen ihren Mitgliedern durch Regulation von Produktion und Verkauf (vgl. ebd.: 793). Gleich den Kulturwelten kommen die sozialen Bindungen in jenem Leben zur Einheit, aus welchem sie ihren formenden Triebkräften nach stammen. Eine außerhalb des individuellen Lebens gelegene Verknüpfung zwischen den Sozialformen, ob koordiniert oder konflikthaft, kennt Simmel nicht. Von hier aus lässt sich eine Parallele zum Dualismus der Kulturphilosophie Simmels zu ziehen. Simmel beschrieb den Reproduktionsdruck, welche die Kulturwelten auf das Individuum ausüben als etwas, was »die Subjekte in ihrer Bahn reißt« (TDK: 219). Weil das dem »individuellen Gesetz« unterstehende Handeln und Erleben zugleich »von einem anderen Bewegungsgesetz beansprucht [werde]« – dem der Kulturwelten – bilde »unser Wesen sozusagen den Schnittpunkt seiner selbst und eines fremden Forderungskreises« (ebd.: 213). Dies ist die kulturphilosophische Beschreibung dafür, dass das Leben immer auch Mehr-als-Leben ist. Das Individuum wird fortgerissen von Welten, derer es bedarf, um sich selbst zu kultivieren, die Wege sind aber – dem Prinzip nach – unterschiedliche. Es mag eine semantische Zufälligkeit sein, aber Simmel spricht von »Forderungskreisen«. Nun lässt sich feststellen, dass die Beziehungen oder besser: sozialen Kreise, in denen sich das individuelle Leben selbstgewählt bewegt zwecks Entwicklung seiner Kräfte und Interessen, für Simmel eine ganz analoge Eigendynamik gewinnen. Die Kreise gewinnen für sich genommen jeweils einen das ganze Leben vereinnahmenden Charakter: »[J]eder einzelne prinzipielle Anspruch, der überhaupt die Kraft des Individuums nach einer bestimmten Richtung engagiert, [besitzt] die Tendenz […], ins Unbegrenzte zu gehen; fast alle Beziehungen – staatliche, parteiliche, familiäre, freundschaftliche, erotische – stehen wie auf einer schiefen Ebene und spinnen ihre Forderungen, wenn man sie sich selbst überläßt, über den ganzen Menschen hin, sie werden […] von einer ideellen Sphäre umgeben, von der man eine Reserve ihnen entzogener Kräfte, Hingaben, Interessen erst ausdrücklich abgrenzen muß.« 35 (SOZ: 98)

Individuelle Freiheit mag durch die moderne Gesellschaft ermöglicht werden, sie ist aber kein »selbstverständlicher Zustand«, und auch kein »ein für allemal erworbenes Eigentum von gleichsam substanzieller Festigkeit.« (Ebd.: 98) An die Stelle der festen Substanz der Ständegesellschaft trete das Veränderliche, Freiheit sei deshalb »ein fortwährender Befreiungsprozeß, […] ein Kampf nicht nur um die Unabhängig-

35 Den Widerspruch von »Handlungsfreiheit der einzelnen« zusammen mit der Entwicklung von auf »Vereinnahmung der einzelnen ausgerichtet[en]« Sozialformen konstatierte auch Dahme (1988: 238) für Simmel.

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keit des Ich, sondern auch um das Recht, selbst in der Abhängigkeit in jedem Augenblick mit freiem Willen zu beharren – […] ein Kampf, der nach jedem Siege erneuert werden muß.« (Ebd.: 99). Das Individuum hat sich zu behaupten gegen soziale Beziehungen, welche »unaufhörlich das Fürsichsein des Individuums entweder real einschränken oder ideell einzuschränken streben; die Freiheit ist […] ein soziologisches Tun« (ebd.: 99), sie ist »ein unaufhörliches Sichlösen aus Bindungen« (ebd.: 99). Simmel übernimmt in die »Soziologie« die in der »Philosophie des Geldes« entwickelte Vorstellung von Freiheit als etwas, was sich durch den tatsächlichen oder den durch die Struktur einer Beziehung ermöglichten Wechsel auszeichnet (vgl. PDG: 375, 398). Das Individuum – das seiner lateinischen Bedeutungsabstammung nach Unteilbare (vgl. Scherr 2016: 135) – kann durch soziale Ansprüche absorbiert werden, wenn es keine Gegenkräfte aufbietet. Die Vielfalt der »sozialen Zugehörigkeiten« zu unterschiedlichen Kreisen brächten »Konflikte innerer und äußerer Art« mit sich, welche »das Individuum mit seelischem Dualismus, ja Zerreißung bedrohen« (SOZ: 468).36 Simmels Hypothese ist es, dass gerade die Vielfalt der im Individuum zur Einheit und dort zum Konflikt kommenden sozialen Forderungen die Individualität erst konstituiert: »[J]ener Dualismus und diese Einheit tragen sich wechselseitig: gerade weil die Persönlichkeit Einheit ist, kann die Spaltung für sie in Frage kommen; je mannigfaltigere Gruppeninteressen sich in uns treffen und zum Austrag kommen wollen, um so entschiedener wird das Ich sich seiner Einheit bewußt.« (Ebd.: 468; Hervorhebung PB)

Lebt das Individuum in einem einzigen Kreis, geht die Form seiner Individualität in dem singulären Inhalt des Kreises auf, bleibt »das Ich mit ihnen verschmolzen« (Ebd.: 847). Die religiöse Stammesgemeinschaft oder die Ökonomie der Zunft waren Beispiele dafür. Eine Trennung zwischen Form und Inhalt findet nicht statt. Die Form der Individualität und die Inhalte seines Handelns und Erlebens differenzieren sich voneinander in dem Maße, in welchem unterschiedliche soziale Kreise unterschiedliche, voneinander differenzierte sachliche Anforderungen ausbilden, an denen die unterschiedlichen Facetten einer ganzheitlichen Individualität ausgestaltet werden können. Die Einheit individuellen Lebens gewinnt also erst Form in der Mannigfaltigkeit von Inhalten: »Wie sich überall die Dauer nur am Wechselnden feststellen […] läßt, so wird offenbar das Ich dann besonders als das Bleibende in allem Wechsel der psychologischen Inhalte empfunden, wenn eben dieser letztere besonders reiche Gelegenheit dazu gibt. Die Persönlichkeit ist eben nicht der einzelne, aktuelle Zustand, nicht die einzelne Qualität […]; sondern etwas, das wir jenseits dieser Einzelheiten fühlen, für das Bewußtsein aus deren erlebter Wirklichkeit erwachsen [kann]« (ebd.: 847).

Ergänzend fügt Simmel hinzu, dass das Empfinden, ganzheitliche Person zu sein, nur erlebtes »Zeichen« ist, aber zu unterscheiden ist von der »tiefer einheitlichen Indivi-

36 Über die aus sozialer Differenzierung folgenden »Integrationszumutungen« auf der Ebene des Individuums schrieb Degele (1999: 348).

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dualität […], die jener Mannigfaltigkeit bestimmt zu Grunde liegt, die uns aber nicht unmittelbar, sondern nur als das allmähliche Ergebnis jener vielfachen Inhalte und Bewegtheiten des Lebens bewußt werden kann.« (Ebd.: 847; Hervorhebung PB) Simmels Konstatierung eines inneren Dualismus ist kein Widerspruch zu letzterem. Vielmehr legt Simmel in einem lebensphilosophischen oder -soziologischen Sinne das Wesen des Lebens frei: Das Leben vollzieht seine Einheit als Dualismus zwischen Leben und Form. So sagt Simmel noch in den »Hauptproblemen der Philosophie«, dass »der Konflikt geradezu zur Schule [werde], in der sich das Ich bildet.« (HPH: 141) Das individuelle Leben könne den Pflichtenkonflikt nicht durch Kompromissbildung oder Hierarchisierung »einheitlich organisieren« (ebd.: 142), jedenfalls nicht so, dass sich die unterschiedlichen, in der Einheit des individuellen Lebens zum Konflikt kommenden äußerlichen Forderungen nicht mehr bemerkbar machten. Die »einzelne Pflicht [behalte] einen selbständigen Anspruch« und mache sich weiter als »Appellation« bemerkbar (ebd.: 140). Wie Simmel mit Rückgriff auf Kant – aber de facto unter einer letzteren modifizierenden Lesart seiner eigenen metaethischen Prinzipien – aber meint, sorge gerade die vergebliche Suche nach inhaltlichen Ordnungskriterien für miteinander konfligierender Ansprüche dafür, den Blick nach innen zur Selbstgesetzgebung des Lebens hin zu wenden. Die »Einheit der sittlichen Forderungen« werde »durch die Wendung von ihrem inhaltlichen zu ihrem funktionellen Wesen [gewonnen]« (ebd.: 143). Eine bestimmte Handlung ist gefordert nicht, weil sie ein bestimmtes, vordefiniertes inhaltliches Kriterium erfüllt, sondern die Handlung erhält ihr Wesen als Forderung vom Leben her (vgl. ebd.: 144-45). In einer Fußnote verweist Simmel auf seine »Moralwissenschaft«, in der er sich in inhaltlichem Detail den Pflichtenkonflikten zugewendet hat (vgl. ebd.: 140). Manche Formulierungen in den hier referierten Passagen gleichen auch jenen in einem ähnlichen Kontext verwendeten in der »Moralwissenschaft«. Schließlich hat Simmel nicht den Inhalt der »Moralwissenschaften« verworfen, sondern, mit seiner Wende zu einem schöpferischen Leben, ihre Form (vgl. EM I: 9).37 Eine Annahme Simmels in den »Moralwissenschaften« ist es, dass die soziale Evolution beginnt mit einem anfänglich kriegerischen Totalkonflikt – »[D]ie Kollisionen [sind] totale« (EM II: 383) – zwischen ansonsten füreinander geschlossenen Stammesgesellschaften. Die Entwicklung führe mehr und mehr hin zu der Sozialform friedlicher Beziehungen. Simmel macht auch hier keine Liste von inhaltlichen Gründen, welche den ursprünglichen Kampf aller Gruppen untereinander beenden. Simmel nennt aber beispielhaft den »Handelsverkehr«, das »Reisen« und »geistige Gemeinsamkeiten« zwischen den Gruppen (SOZ: 302). Die Ausdehnung eines befriedeten Raums sozialer Beziehungen bringt nach Simmel eine Lockerung der Solidarbande mit sich. Damit wird der Konflikt nicht überhaupt vermieden, sondern verschoben auf die interindividuelle Ebene. Der Konflikt, so Simmel, trete aber nicht mehr in kriegerischer, sondern in »äusserlich friedlichen Formen« (EM II: 383) auf, und dazu zählt Simmel unter anderem die »Konkur-

37 Simmel hat ja auch die Inhalte der »Kreuzung sozialer Kreise« aus der »Socialen Differenzierung« von 1890 übernommen, nur eben – neben der quantitativen Erweiterung des Textkorpus – aus einer gewendeten Perspektive heraus. Der Inhalt ist sekundär, von primärer Wichtigkeit dagegen ist die Form.

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renz« (ebd.: 383). Mit den Begrifflichkeiten Max Webers könnte man auch sagen: Die Unbrüderlichkeit der Außenmoral dringt in das – nun freilich vergrößerte – Innere der Gesellschaft (vgl. Weber 1988a: 43). In der für modern-liberale Gesellschaften typischen Konkurrenzform objektiviert das individuelle Leben seine antagonistische Triebfeder in einer durch Sachlichkeit gebändigten Form, sofern diese von indirekter, mittelbarer Natur ist. Ist Konkurrenz ›Sache‹, und Vergesellschaftung nur mittelbar, könnte man Konkurrenz zwischen Individuen als eine Gestalt der Verinnerlichung von Konflikten in das Leben hinein bezeichnen. Tatsächlich meint Simmel, mit der Etablierung von äußerlich friedlichen Formen werde der Konflikt zunehmend »in die Seele des Einzelnen hineingetragen« (EM II: 383-84). Würde die einmal eingeschlagene Tendenz in Richtung ideeller Indifferenz zwischen den differenten sozialen Sphären zueinander zur Konsequenz geführt werden, würden die »Interessenkreise nicht mehr unter sich, sondern nur [noch] in dem Individuum kollidieren, das sich jedem widmen möchte, aber es wegen der Beschränktheit seiner physisch-psychischen Kräfte nicht im Stande ist zu thun.« (Ebd.: 385)38 Man kann dies als Vorform Simmels zu seiner Kultur- und Lebensphilosophie verstehen: Die Individualität des Lebens braucht die Form, und Form ist Grenze. Das Individuum mag für beliebige Begehren Anschlusspunkte auf der Ebene der Sozialobjektivation finden, kann sie aber nicht alle gleichermaßen realisieren. Simmel meint, dass die innerlich empfundenen Konflikte »oft die Sehnsucht nach einem einheitlichen Prinzip des Handelns [wecken], das als letzte Instanz zwischen den streitenden Ansprüchen der Parteien entschiede« (ebd.: 352). Der innere Dualismus verlangt – aus sich heraus – nach einer Einheit gebenden Form, einem die Partikularität der Handlung umfassenden Monismus. Die »Moralwissenschaft« stand bereits unter dem Stern der Dekonstruktion eines substanziellen Verständnisses ethischer Begriffe. Moralische Begriffe des »Sollens« wie des »Zwecks« bzw. »Endzwecks« löst Simmel von der festen Bindung an be-

38 In der »Moralwissenschaft« konstruiert Simmel noch eine Idealtypologie der Pflichtkonflikte. Er unterscheidet die materielle von der»logischen Form des Pflichtenkonfliktes (vgl. EM II: 352). Ein logischer« Widerspruch bezieht sich auf ein und dieselbe Handlung, die von unterschiedlichen Seiten her einmal geboten bzw. erlaubt, und einmal verboten ist. Ein Beispiel dafür ist das im vierten Jahrhundert eingeführte »Priesterzölibat«, welches bis dato nebeneinander bestehende kirchlich-religiöse und familiäre Interessen in einen sachbezogenen Konflikt miteinander führte (ebd.: 350). Wer Priester werden und Gott dienen wollte, hatte auf Familie zu verzichten. Die Beziehung zu Gott war vorrangig und exklusiv. Ein anderes Beispiel wäre das vonseiten der mittelalterlichen Kirche ausgesprochene Verbot der Zinsnahme für den Geldverleih, was für christliche Geldverleiher einen Konflikt darstellte. Die im frühen 20. Jahrhundert erfolgte Einrichtung der christlichen Pax-Bank zeugt von der historischen Kontingenz logischer Konflikte. Ein »materieller« Widerspruch zwischen Pflichten unterschiedlicher Provenienz liegt vor, wenn unterschiedliche Forderungen nicht vom Prinzip her, sondern de facto im Individuum über Kreuz liegen, weil die unterschiedlichen geforderten Handlungen um Zeit- und Kraftressourcen des Individuums buhlen. Idealtypisch ist die Unterscheidung zwischen materiellem und logischem Pflichtenkonflikt, weil sie in der Empirie »häufig durcheinander und ineinander übergehen werden« (ebd.: 352-53).

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stimmte Inhalte und versucht den Nachweis, dass sie reine psychologische Funktionen sind, die sich als solche irgendwie anfühlen.39 Seine moralwissenschaftlichen Reflexionen tätigte Simmel vor dem Hintergrund einer von ihm beobachteten gesellschaftlichen Tendenz zur Auflösung unhinterfragter Ideale, an deren Stelle die inhaltliche Kontingenz der Form tritt. Dies betrifft auch die althergebrachten religiösen Ideale. Das Begehren nach einem Inhalt gebenden Endzweck blieb jedoch (vgl. ebd.: 30-31). Komplementär dazu konstatierte Simmel bereits in der »Moralwissenschaft« einen »Wendepunkt der religiösen Ethik« (EM I: 175) und eine Hinwendung zur individuellen Selbstverpflichtung (vgl. ebd.: 173). Wir gehorchen Gott nicht länger um Gottes willen, sondern »aus Pflicht gegen uns selbst« (ebd.: 175). Dagegen verfalle jene Leistung, welche das religiöse Dogma zu leisten zumindest lange Zeit imstande schien: »einen sicheren Anhalt in Konfliktsfällen« zu geben (ebd.: 439). Vor dem Hintergrund dieses gewandelten Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft konzipierte Simmel gegen Ende der 90er Jahre eine eigenständige Theorie der Religion. Während Simmel eine zeitgenössische Herausforderung im Fehlen eines das individuelle Leben integrierenden, substanziellen Ideals sah, bestand für Emile Durkheim das Problem im Fehlen einer das gesellschaftliche Ganze integrierenden Moral. Durkheims Beschäftigung mit Religion verflocht sich mit seiner Suche nach einer Quelle gesellschaftlich integrierender Ideale, nachdem die arbeitsteilige Differenzierung nicht jene organische Solidarität zu stiften vermochte, die er in seiner Analyse der »sozialen Arbeitsteilung« mehr postulierte denn nachzuweisen vermochte (vgl. Firsching 1995: 164).

39 Vgl. beispielhaft für die inhaltlich gesehen unterschiedlichen ästhetischen Ideale von Chinesen und Europäern bei den der Form nach identischen »ästhetischen Gefühle[n]« (EM II: 285)

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Religion

7.1 ZUSAMMENFASSUNG Religion ist ihrem Prinzip nach nicht irgendeine Form neben anderen, sondern eine das ganze Leben umfassende Lebensform. Sie ist der aus dem individuellen Leben kommende, sich bemerkbar machende Anspruch auf eine zusammenhängende Einheitlichkeit der Lebensführung trotz und bei aller empirischen Fragmentarisierung und Partikularität. Im Laufe des Kapitels spreche ich deshalb von der »idealen Einheit von Leben und Form« als Funktion der Religion. Alternativ wird es auch »absolute Einheit« heißen. Etwas Absolutes, dies ist bei Simmel allein das Leben. Religion interpretiert Simmel unabhängig von jedem konfessionellen Inhalt als reine Form. Empirisch ist es nach Simmel dennoch der »Inhalt« des monotheistischen Christentums gewesen, welches den umfassenden, idealtypischen Anspruch der Religion einst zumindest annähernd empirisch realisiert hat. Daraus erschließt sich auch Simmels Rückgriff auf der christlichen Ideengeschichte entnommene Semantik wie dem Motiv von dem Seelenheil oder der Transzendenz Gottes. Dennoch interpretiert Simmel beide Motive lebensphilosophisch. Hinter dem vordergründig konfessionell »belasteten« Seelenheilsmotiv steckt ziemlich offensichtlich Simmels Annahme einer – nur behelfsweise als säkular zu bezeichnenden – Identität des Heilsstrebens mit dem eigengesetzlichen Ausleben der Individualität sowie dem individuellen Kultivierungspfad. Aus Vergleichsgründen von hoher Bedeutung sind ferner meine Ausführungen zur Ideenwende auf dem Gebiet der Religion. Das Konzept der Ideenwende ist der »Lebensanschauung« entnommen. Zu zeigen ist, dass und wie Religion einerseits eine aus der Unmittelbarkeit des Lebens kommende, sich dann in die Transzendenz Gottes verschiebende, von dort aus die diesseitige Welt umfassend determinierende Form werden kann; andererseits, wie die Realisierung dieses idealen Anspruchs Gottes auf umfassende Determination einen Selbstwiderspruch erzeugt, und damit letztlich: wider ihrer eigenen Idee doch die Konfliktform zurück in die Welt bringt. Ist das religiöse Heilsgut idealiter nicht-knapp und provoziert deshalb keine Konkurrenz, sorgt die Realisierung der religiösen Formung der Welt dann doch wieder für Widerstreit: mit anderen Kulturformen, aber auch mit anderen Konfessionen, die innerhalb der idealen Einheit von Leben und Form um den richtigen Heilsweg streiten. Hohe Bedeutung kommen gerade den Ausführungen zur Vereinbarkeit zwischen idealer Einheit und Konflikt zu, um die Tür öffnen zu können für eine Diskussion möglicher funktionaler Äquivalente für die Materialisierung der absoluten Einheit von Leben und Form. Das Geld der Ökonomie, so ist ja meine These, eignet sich ebenso

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wie Gott zur Realisierung der absoluten Einheit von Leben und Form (vgl. Kapitel 2 in diesem Buch). Dort werden wir auf die strukturell identische Konstellation stoßen: Die Ökonomie kennt Konkurrenz um das Geld. Die Geldform selbst dagegen ist die Einheit beliebiger Pfade zum eigenen Heil. Der sich in der Geldform artikulierende Tauschakt kommt nur bei beidseitiger Annahme eines Mehr-Werts zustande. Hier existiert keine Konkurrenz. Die genauen Bedingungen der Substitution Gottes durch Geld stelle ich in Kapitel 8 vor. Kapitel 7.2 führt Religion ein als eine sich im Bewusstseinsleben der Individuen begründende Form, die, einmal verselbständigt, einen das ganze Leben umfassenden Regulierungsanspruch besitzt. Der Anspruch an das Leben kommt aus dem Leben und intendiert eine Integration der individuellen, schöpferischen Kräfte und Anlagen des Lebens zu einer vollendeten Lebensform: seine Einheit. Dieser umfassende Charakter unterscheidet die Religion ihrer Idee nach von den anderen Kulturformen wie Wissenschaft, Kunst oder Ökonomie. Empirisch kann es dazu kommen und ist es auch gekommen, dass durch eine Standardisierung und Institutionalisierung der Religion diese sich von ihrem eigenen Sinn her entfernt und eine Form neben anderen wird. Kapitel 7.2.1 zieht die Unterscheidung von Religion als Form und Religiosität als (Er-)Leben. Von Bedeutung ist hier die Entkopplung des Religionsverständnisses Simmels von jedweder Konfession. Begründung findet die Entkopplung in dem zu seiner Zeit real stattgefundenen Wandel: Die Kirchenform christlicher Religion kann das religiöse Begehren laut Simmel nicht mehr befriedigen. Es sucht Substitute. Die Unbefriedigung religiösen Begehrens bei gleichzeitiger institutioneller Präsenz kirchlicher Einrichtungen führt Simmel zu der in Kapitel 7.2.2 vorgestellten Hypothese, die Funktion der Religion bestehe in der Produktion einer idealen Einheit von Leben und Form. Der vorrangige (nicht alleinige) Konstitutionsgrund für das religiöse Begehren, so meine weitere Ausführung, besteht im Dualismus von Leben und sozialer Form. Religion ist nicht Gesellschaft, sondern besitzt ein eigenes Referenzobjekt ihrer Wechselwirkung. Kapitel 7.2.3 widmet sich der Bestimmung des Bezugsobjektes religiöser Wechselwirkungen, dem Absoluten. Das religiöse Individuum objektiviert sich in eine alles umfassende, absolute Form. Zugleich tritt dieses Absolute als fordernd wie als etwas Begehrtes dem religiösen Individuum gegenüber und mit ihm in Wechselwirkung. Die ideale Einheit ist dann kein Zustand, nichts substanziell Greifbares, sondern ein fortwährend zu erstrebendes Ziel. Kapitel 7.2.4 analysiert den religiösen Umformungsakt, die Transzendenz. Religion ist Form, das Bezugsobjekt religiöser Wechselwirkung das Absolute. Religion ist und bleibt aber eine empirische Lebensform, deren Dasein an eine diesseitige Substanz, d. h. an Inhalte gebunden ist. Die empirischen Inhalte werden zum Gegenstand des religiösen Umformungsaktes in die Dimension umfassender Transzendenz. Das religiöse Apriori bearbeitet die materiellen Inhalte, formt sie entsprechend der religiösen Logik um und bildet aus ihnen eine Welt der Religion, welche das individuelle Handeln und Erleben – aus der Transzendenz des Absoluten heraus – reguliert. Die Transzendenz Gottes ist das christlich imprägnierte Symbol dieser absoluten Einheit von Leben und Form. Der schöpferische Umformungsakt des religiösen Aprioris schafft eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen religiösen Handelns und Erlebens. Diesen Gedanken entfaltet Kapitel 7.2.5. Es widmet sich Simmels Interpretation des Motivs vom individuellen Heilsstreben. Ich versuche in diesem Kapitel die Hypothese zu beweisen, dass Simmel die Struktur des religiösen Heilsmotivs identifiziert mit der Eigenlogik individueller Kultivierung

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wie mit dem »individuellen Gesetz«. Das Absolute, mit dem das religiöse Individuum in Wechselwirkung steht, ist die eigene Absolutheit. Die Befolgung der von Gott unbedingt gebotenen Handlungsanweisungen ist zugleich die Befolgung des »individuellen Gesetzes«. Der prozessual interpretierte Heilsweg ist der Weg zum eigenen, höheren Ich: Transzendenz ist dann Selbsttranszendenz. Schließlich obliegt dem Kapitel 7.2.6 eine Auseinandersetzung der Differenz und Beziehung von Religion und Gesellschaft bei Simmel. Soll die Geldform imstande sein, die absolute Einheit von Leben und Form zu realisieren, so muss die »Benchmark« einer funktionalen Äquivalenzbestimmung gesetzt werden. Einen wichtigen Beitrag zu einer solchen »Benchmark« leistet dieses Kapitel. Das religiöse Individuum steht in Wechselwirkung mit dem Absoluten, nicht mit einem anderen »Du«, auch wenn sich ursprünglich die religiöse Beziehung aus den sozialen Beziehungen herausdifferenziert hat. Aus der Perspektive der Religion sind sämtliche Sozialbeziehungen nicht von dieser Welt. Das individuelle Handeln und Erleben in Wechselwirkung mit anderen erhält seine Bedeutung aus dem transzendenten Reich Gottes. Sie sind Mittel zum Zweck der Heilserlangung, erhalten Instrument- und Symbolcharakter; umgekehrt verliert die gesellschaftliche »Substanz« ihre Bedeutung als etwas Eigengesetzliches. Diskutierte Beispiele dafür sind Kirche und Priesterschaft. Ihre Bedeutung besteht allein in der neutralen Vermittlung des Heils; nicht in der Sozialität bzw. dem Akt der Vergesellschaftung selbst. Die gesellschaftliche Substanz dient der religiösen Funktion – ganz analog der idealtypischen Neutralität des Geldes, wonach in der einmal ausdifferenzierten Geldwirtschaft die Geldsubstanz allein der Tauschfunktion dient, die Substanz selbst – dem Idealtypus nach – ihren ökonomischen Eigenwert verloren hat. Die Geldform schafft eine Versachlichung und Funktionalisierung der Sozialbeziehung und ruft dadurch einen ähnlichen Effekt einer eigenselektiven Bindungsmöglichkeit hervor, wie es die religiöse Beziehung zu Gott vermag. Kapitel 7.2.6.1 widmet sich einem vergleichenden Exkurs zu Emile Durkheims Religionssoziologie zwecks kontrastierender Herausstellung der simmelschen Position zum Verhältnis von Gesellschaft und Religion. Einen weiteren Beitrag zur ›Benchmark‹ funktionaler Äquivalenzbestimmung erfolgt in Kapitel 7.3. Es zeichnet die materielle Realisierung des religiösen Prinzips zu einer eigenständigen, das Diesseits vollständig umfassende Welt des Transzendenten nach. Die Form kommt aus dem Leben, verselbständigt sich und wirkt dann mit einem idealen Anspruch auf vollständige Formung des Lebens zurück. Aus diesem Grunde verwende ich als Überschrift für dieses Kapitel den lebensphilosophischen Terminus der »Wendung zur Idee«. Der Beitrag zur genannten »Benchmark« besteht darin: Die materielle Realisierung der Religionsform geschieht nur unvollständig und annäherungsweise. Die Unvollständigkeit und Annäherung an den Idealtypus der Religion durch die Evolution des Christentums schärft den Argumentationsrahmen für Kapitel 7: Eine geldförmige Realisierung der absoluten Einheit von Leben und Form hat »nur« noch annäherungsweise eine religiöse Konstellation zu schaffen. Die geldförmige Annäherung wird in der Versachlichung liegen. Kapitel 7.3.1 zeichnet die erste Etappe im Ideenwende-Prozess nach. Ursprünglich bilden das religiöse Leben und die religiöse Form eine kaum trennbare Einheit. Die religiöse Form ist ein Produkt des Lebens und eng mit ihm verflochten. Gesellschaft und Religion sind anfänglich ebenso eng miteinander verschmolzen. Das Gemeinschaftsleben selbst besitzt einen sakralen Charakter. Beispielhaft dafür wird die griechische Polis sein. Kapitel

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7.3.2 zeichnet die Entwicklung des Christentums nach. Mit der Ausdehnung der religiös zu umgreifenden Sozialbeziehungen löst sich die Religion von ihrer Bindung an das Individuum wie an eine bestimmte Gesellschaft. Das Christentum sprengt nach Simmel die Bindung von Religion an bestimmte soziale Gruppen und umfasst sie alle. Die Ausdehnung erfordert eine Abstraktion im Idealen: Die Vorstellung eines transzendenten, allumfassenden Schöpfergott ist das Resultat. Kapitel 7.3.2.1 schiebt einen weiteren Exkurs ein. Sein Sinn und Zweck besteht in einer lebensphilosophischen Erläuterung des wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses zwischen der Ausdehnung sozialer Beziehungen einerseits und der Realabstraktion der Form bei Simmel. Kapitel 7.3.3 zeigt, wie nach Vorstellung Simmels die transzendente Welt der christlichen Religion auf Gesellschaft zurückgreift: Der Gott des Christentums besitzt einen idealen Anspruch auf allumfassende Unterordnung des Diesseits unter seine Gesetze. Die Realisierung dieses Unterfangens bricht sich jedoch an der Eigenlogik des Sozialen, dessen Gott zur – eben: sozialen – Ausdehnung seines Reiches benötigt. Den Weg zu Gott vermittelnde Einrichtungen von Priesterschaft und Kirche entwickeln ein außerhalb ihres Symbol- und Mittelcharakters fallendes Eigeninteresse. An die Stelle des Heilsindividualismus tritt die Heilsstandardisierung. Damit ist der Keim dafür gelegt, dass eine institutionalisierte Religion nur eine Kulturform neben anderen ist. Kapitel 7.3.4 stellt in den Fokus der Betrachtung die Realisierung einer durch das Christentum produzierten idealen Einheit von Leben und Form, wenn alle Einheit eine Einheit unter dem Christengott ist. Die Beziehung zu den weltlichen Formen, wie Wissenschaft und Wirtschaft, wird dargelegt. Unter Bedingungen einer ausgedehnten sozialen Einheit ist eine vollständige Durchdringung des Lebens durch die Religion nicht möglich. Es bleiben Nischen der Korrumpierung des religiösen Prinzips. Die Reformation ist aus religionstheoretischer Sicht die Möglichkeit, einen bereits verlorenen Heilsindividualismus in die Welt der Religion zurückzubringen. Man kann hier von interner Differenzierung der Religion sprechen, obgleich Simmel dies nie tat: Es entstehen konkurrierende Deutungen um das individuelle Heil, wo einmal ein zentralistisch verfügter Standard herrschte. Eine Funktion können Abspaltungstendenzen besitzen als Wiederherstellung der absoluten Einheit zwischen einem individuellen Leben und der umfassenden Form. Kapitel 7.3.5 thematisiert den Konflikt in der Religionstheorie Simmels. Der tatsächlich auftretende Konflikt innerhalb der Religion läuft der eigentlich idealtypischen Konkurrenzlosigkeit innerhalb der Religion zuwider. Der Konflikt entspannt sich über die Auslegung der Heilswege und damit: über die Frage nach dem Heilsindividualismus. Einheit und Divergenz stehen auch in der Religion nebeneinander. Empirisch auftretende Konflikte, Konkurrenz und Streit widersprechen eigentlich der religiösen Logik, andererseits aber liegt der eingeforderte Anspruch auf religiöse Heilsindividualisierung wiederum genau auf der Linie des religiösen Prinzips. Kapitel 7.4 wendet sich Simmels Frage nach der zeitgenössischen Möglichkeit einer religiösen Lebensführung zu. Eine Religiöse Lebensführung, das ist Simmels Meinung, funktioniere nur noch als Wendung des Transzendenzstrebens nach innen zum Leben hin, aus dem alle Religion sich ja speist. Als extern vorgegebenes Dogma könne die Religion jedoch nicht mehr befriedigen. Dieses Kapitel läuft dem Inhalt nach komplementär zu den Einsichten aus dem noch folgenden Kapitel 8: Eine religiöse Lebensführung ist nur noch als innerliche, individualgesetzliche möglich. Glei-

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ches diagnostiziert Simmel für die ausgeprägte Geldwirtschaft: Eine religiöse Lebensführung ist nur noch als Verinnerlichung und Ausbau der ihrem eigenen Gesetz folgenden Individualität möglich, nicht mehr dagegen als von außen substanziell vorgegebene Form der Lebensführung.

7.2 DIE FORM DER RELIGION Zum Anfang seines Aufsatzes »Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion« hält Simmel fest, »dass Religion als solche ein Vorgang im menschlichen Bewusstsein und weiter nichts ist.« (BER: 9; Hervorhebung PB) Simmel führt die Religionsform auf bestimmte formende Prozesse im Bewusstsein zurück.1 Damit verfährt er in seiner Theorie der Religion ähnlich wie in seiner »Soziologie«, wonach »Vergesellschaftung ein psychisches Phänomen ist« (SOZ: 35). Ebenso aber wie Vergesellschaftung in der Perspektive der Rekonstruktion nicht im Status subjektiver Vorstellung verbleibt, verhält es sich auch mit der Religion. Simmel trennt entsprechend zwischen Form und Inhalt, und zwar auf mehrerlei Art und Weise. Einerseits löst Simmel sein Religionsverständnis von der Bindung an eine bestimmte Konfession (vgl. Geyer 1991: 188; Krech 1995: 325; 1998a: 253-54).2 Religion ist nach Simmel nicht gleichzusetzen mit bestimmten sozialen Einrichtungen wie beispielsweise der christlichen Kirche.3 Ebenso wenig erschöpft sich Religion in einem mit religiösen Institutionen verbundenen, inhaltlich definierten Glauben, in Riten oder Praktiken einer Gesellschaft: »Niemand vermochte bisher eine Definition zu geben, die uns, ohne vage Allgemeinheit und doch alle Erscheinungen einschließend, sagte, was ›Religion‹ ist, die letzte Wesensbestimmtheit, die den Religionen der Christen und der Südseeinsulaner, Buddhas und Vitzliputzlis gemeinsam ist.« (SR: 266)

Andererseits lässt sich Religion nach Simmel nicht auf eine bestimmte Ursache oder einen Katalog von Motiven zurückführen, die ihr konstitutiv zugrundeliegen: »Mag man die Furcht oder die Liebe, die Ahnenverehrung oder die Selbstvergötterung, die moralischen Triebe oder das Abhängigkeitsgefühl als die innere Wurzel der Religion ansehen –

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Eine Aussage, die Rammstedt zufolge ein Produkt der Auseinandersetzung Simmels mit Emile Durkheims Religionssoziologie gewesen ist (vgl. Rammstedt 1997: 448). Durkheim führt, wie noch zu sehen sein wird, das Phänomen der Religion auf Kollektivkräfte, nicht auf Individualkräfte zurück. Krech zufolge ist Simmels Religionstheorie zwar einerseits funktional definiert, andererseits aber basiere die simmelsche Funktionsbestimmung von Religion auf substanziellen Motiven des Christentums. Deshalb gelte »sie nur für diejenigen Vergesellschaftungsprozesse, die auf der christlich-abendländischen Geistesgeschichte basieren.« (Krech 1998a: 254) Emile Durkheim inkorporierte dagegen in seine ansonsten nicht-materiale Definition von Religion die Kirche. Dazu weiter unten.

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ganz irrig ist jede dieser Theorien sicher nur dann, wenn sie den Ursprung, berechtigt aber, wenn sie einen Ursprung der Religion anzugeben behauptet.« (Ebd.: 266; Hervorhebung PB; vgl. dazu auch Krech 1998a: 174)

Es ließen sich noch weitere psychologische Gefühlszustände hinzufügen wie jene der »ekstatischen Hingabe an Gott« oder »Glück« (EM I: 438). Gerade die Vielfalt religiöser Phänomenologie ist es, die Simmel davon abhält, ein äußerliches, irgendwie substanzielles Kriterium dafür aufzustellen, wann es sich um Religion handelt und wann nicht. Damit verfährt Simmel anders als der schottische Aufklärer David Hume, der noch allein negative Empfindungen wie Leid und Furcht zur psychologischen Ursache von Gottesvorstellungen machte (vgl. Joas 2017: 39), und anders als Ludwig Feuerbach, demzufolge die Motive für Religion »Abhängigkeit, Furcht, Hilflosigkeit, Unwissenheit« gewesen seien (Fries 1979: 86). Entsprechend gibt es nach Simmel auch nicht ein inhaltlich bestimmtes Bedürfnis oder eine Summe von Bedürfnissen, die Religion bedient.4 Zu einem Bedürfen und der Möglichkeit der Befriedigung kommt es erst mit der Objektivation des religiösen Lebens in Formen.5 Über die Verschiedenheit der Inhalte hinweg meint Simmel, den ihnen gemeinsamen, sie umfassenden Grund in einer apriorischen Formungskraft des individuellen Lebens zu finden: »Das Religiöse in seinem spezifischen Wesen, seinem reinen, von allem ›Ding‹ freien Dasein ist ein Leben; der religiöse Mensch ist einer, der auf eine bestimmte, nur ihm eigene Art lebt, dessen seelische Prozesse einen Rhythmus, eine Tonart, eine Anordnung und Maßverhältnis der seelischen Einzelenergien zeigen, die von denen des theoretischen, künstlerischen, praktischen Menschen als solche unverwechselbar verschieden sind. Aber dies alles ist eben Prozeß und noch nicht Gebilde.« (DR: 47; Hervorhebung im Original)

Anderswo spricht Simmel von einer »Gestimmtheit und Rhythmik (PRL: 155), sowie von einer »Art«, wie das individuelle Leben »seine Schwingungen vollzieht, seine einzelnen Äußerungen aus sich hervorgehen lässt, seine Schicksale erfüllt.« (Ebd.: 155) Den Inhalten der Religion, so Simmel an wiederum anderer Stelle, liege »die religiöse Lebensbewegtheit als apriorische Kategorie und Kraft zugrunde«, die die Inhalte erst »nach ihrem Gesetz« forme (DR: 113; Hervorhebung im Original). Für Simmel ist es ganz offensichtlich so, dass kein bestimmter Inhalt sich von selbst als ein religiöser qualifiziert, und ebenso wenig lassen sich inhaltlich bestimmte Begehren und Sehnsüchte als religiös definieren. Zu einem religiösen Phänomen wird ein Inhalt erst durch den nach einer eigenen Logik verfahrenden Formungsprozess des geistigen Lebens.

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Anders sieht es beispielsweise Sabine A. Haring (2008: 120). Frédéric Vandenberghe meint, Religion sei für Simmel »compatible with utter solipsism.« (Vandenberghe 2010: 19) Was aber der lebens- und damit auch der religionsphilosophischen Prämisse Simmels inhärent widerspricht, das Leben gebäre die Entfremdung – also das Andere – aus sich heraus.

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7.2.1 Religion und Religiosität Ein Leben kann nur sein in Formen, und diese vital-ontologische Bestimmung gilt Simmel zufolge auch für die Religion: »Es ist die Art jenes Lebens, sich in der Form des Absoluten zu objektivieren« (ebd.: 112). Präzise gesagt unterscheidet Simmel die Religiosität individuellen Lebens von der Form bzw. den Formen der Religion, welche ersteres sich schafft, um in ihnen sein zu können (vgl. Laermans 2006: 481-82). Religiosität bezeichnet das Apriori auf der Ebene der Form geistigen, individuellen Lebens. Es ist eine bestimmte, schöpferische Form individuellen Weltbezugs, und sie unterscheidet sich in ihrer Funktionsweise von anderen apriorischen Formen. Erst die Objektivationsform religiösen Lebens bezeichnet nach Simmel Religion: »Die Religiosität, als innerste Lebensbeschaffenheit, als die unvergleichliche Funktionsart gewisser Existenzen, erobert gleichsam erst auf der Wanderung durch die inhaltliche Mannigfaltigkeit der Welt eine Substanz für sich und stellt damit sich selbst sich gegenüber, die Welt der Religion dem Subjekt der Religion.« (DR: 48)

Wie es Simmel zufolge das Kennzeichen der Kultur- und Gesellschaftswelt ist, geht auch im Falle der Religion die Eigengesetzlichkeit der Objektivationsform konstitutionstheoretisch auf die Eigengesetzlichkeit des religiösen Aprioris zurück (vgl. ebd.: 67, 113). Religion, so Simmel in seinem Religionsbuch, ist »ihrem Motiv nach eine ganze, eigengesetzliche, aus einheitlichem Grundtrieb in sich beschlossene Welt« (ebd.: 43; Hervorhebung PB). Man könne »von einer religiösen Logik sprechen« (ebd.: 45). Die Form bezieht ihre Bedeutung aus dem Leben, verselbständigt sich aber dann. Die religionstheoretische Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität reproduziert damit den allgemeinen Dualismus des Lebens, demzufolge es die Seins-Bedingung des Lebens ist, sich in das individuelle Leben umfassende Formen zu objektivieren. Entsprechend besteht in epistemologischer Hinsicht eine noch später auszuführende Analogie bei gleichzeitiger Differenz zwischen der Religionstheorie und der Soziologie Simmels. Die Differenz besteht darin, dass an der Stelle des sich dem individuellen Leben in die sozialen Formen der Wechselwirkung entziehenden »Dus« ein »Absolutes« steht. Ganz entsprechend ist Religion eine Form der Wechselwirkung, d. h. das objektivierte Absolute wirkt zurück auf das individuelle Leben (vgl. ebd.: 112-13). Hier liegt im Kern begründet, warum Religion und Gesellschaft bei Simmel analytisch gesehen unterschiedliche Referenzrahmen bilden, auch wenn sie empirisch zusammenwirken. Ich werde dies später weiter ausführen. Die Unterscheidung zwischen der Form der Religion und einer apriorischen Formungskraft der Religiosität impliziert, dass die Inhalte, an denen Religiosität sich zur Religion objektiviert, sekundärer Natur sind. Es ist die lebensphilosophische Folgerung aus der oben genannten Annahme Simmels, dass Religion sich nicht (mehr) auf einen bestimmten Inhalt hin definieren lässt. In welcher Form die Inhalte auch sonst existieren und durch sie geformt wie bewegt werden – in Ökonomie, Kunst oder Gesellschaft –, die gleichen Inhalte werden erst dann zu Elementen der Kulturform Religion, wenn sie durch die individuelle Religiosität erfasst, dadurch in ein Objektverhältnis gebracht, um dann nach den Eigengesetzlichkeiten der Religion bearbeitet zu werden. Umgekehrt können Gottesvorstellungen, Heilige, religiöse Organisationen und Glaubensvorschriften zum Inhalt nicht-religiöser Formung werden, wie der intel-

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lektuellen Kritik, der Kunst wie auch von Herrschaftsbeziehungen: Ein und derselbe Inhalt kann Gegenstand unterschiedlicher Formungen werden (vgl. ebd.: 42). Wie in Kapitel 5.5 dieses Buches gezeigt, stehen die unterschiedlichen Formungskräfte des Lebens in einem Zweck-Mittel-Verhältnis zueinander, so dass bei Verschiedenheit beider Prinzipien beispielsweise durch Erkenntnis gewonnenes Wissen religiös genutzt werden kann (vgl. LA: 262). Diese Form der wechselseitigen Durchdringung der formenden Kräfte im Leben blieb bei Simmel jedoch nur ein randständig bearbeitetes Phänomen: Im Wesentlichen verfuhr Simmel analytisch isolierend in der Herauspräparierung einer auf ein religiöses Apriori bezogenen Welt der Religion. Ähnlich und doch anders verhält es sich bei Max Weber. Die Intellektualität kann nach Weber nicht nur Mittel zum Zweck religiösen Handelns werden, sondern die intellektuelle Konstruktion religiöser Weltbilder durch religiöse Virtuosen – zu dem Begriff weiter unten – wirkt ganz wesentlich forcierend in der ideengeschichtlichen Evolution von Religion (vgl. Weber 1988a: 564-66; Kalberg 2000; Schwinn 2001: 157-59). Damit zusammenhängend standen für Weber die differenziellen Inhalte der Religion – und zwar konkret: die religiösen Ethiken – im Vordergrund, sofern sie die Lebensführung der Menschen beeinflussten, weniger dagegen die abstrakte Form. 6 Dies ist nicht nur eine Differenz zu Simmel, sondern auch zu Durkheim, dessen Religionssoziologie ebenso die zeitlose Form der Religion betonte (vgl. Küenzlen 1995: 95). Mit der Ausweisung des Absoluten als Referenzobjekt religiöser Eigengesetzlichkeit ist freilich noch nicht allzu viel gewonnen. Die differencia specifica der Religionstheorie Simmels bleibt zunächst vergleichsweise unbestimmt. Sie bewahrt einen impliziten, erst an Beispielen Konturen gewinnenden Charakter. 7 Diese Unschärfe des Religionsbegriffs teilt Simmel mit Max Weber (vgl. Tyrell 1992: 175-179; Knoblauch 1999: 51).8 Bei Weber führte die Unschärfe in der Sekundärliteratur zu

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Ein Beispiel für Gemeinsamkeit und Differenz zwischen Weber und Simmel illustriert eine Erwiderung Webers auf einen Diskussionsbeitrag Simmels auf die Rede Ernst Troeltschs auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910. Nachdem Simmel die Form religiöser Wechselwirkung als eine unmittelbare zwischen religiösem Individuum und seinem Gott prononcierte, stimmte Weber dem einerseits zu, mit der Einschränkung, dass »für die empirischen Verhältnisse […] jede religiös gläubige Seele, daß die Mehrzahl auch der religiös noch so hochgestimmten Seelen im Urchristentum und in allen Zeiten religiöser Erregung das Bedürfnis empfinden mußten, dessen, daß sie auch wirklich ihrem Gott gegenübergestanden hatten und nicht etwas anderem, in irgendeiner Weise auch in ihrem Alltag sicher zu bleiben, die ›certitudo salutis‹ zu haben.« (Weber 1988b: 469; Hervorhebung im Original)Weber beschloss schließlich seine Ausführungen mit der – vielleicht an Simmel gerichteten – Frage: »[W]ie, durch welches Medium wird der einzelne seiner Beziehung zum Ewigen gewiß?« (Ebd.: 470; Hervorhebung im Original) Woraufhin Simmel antwortete: »Ratio!« (Ebd.: 470) Rudi Laermans zufolge weist das simmelsche religiöse Apriori »an essentialist underpinning« auf (Laermans 2006: 485). Noch 1999 hält Volkhard Krech fest: »In der Religionssoziologie gibt es eine auffällige Unsicherheit über ihren Gegenstand, die möglicherweise mit dem Charakter des Gegenstands selbst zu tun hat. Im Vergleich zu politischen oder wirtschaftlichen Sachverhalten

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Versuchen, seinen Religionsbegriff aus dessen materiellen Auseinandersetzungen heraus zu rekonstruieren (vgl. Tyrell 1992: 183). Durkheim hatte dagegen eine vergleichsweise klare Definition von Religion als einer sich durch ein gemeinsames System von heiligen Idealen einerseits und diese reproduzierenden Ritualhandlungen andererseits definierenden Moralgemeinschaft (vgl. Durkheim 2007: 28, 60-76).9 Diese Moralgemeinschaft bezeichnet Durkheim explizit als »Kirche«, obgleich er ebenso wenig wie Simmel oder Weber eine an bestimmte Inhalte oder Konfessionen gebundene Theorie der Religion vertreten hat (ebd.: 71). Religion besitzt nach Durkheim eine intellektuell-kognitive als auch eine auf diese bezogene praktische Dimension. Die Individuen der Kirche fühlen sich »untereinander […] verbunden« durch den ihnen »gemeinsamen Glauben« (ebd.: 71). Die religiösen Überzeugungen unterscheiden eine profane und eine heilige Sphäre voneinander, setzen aber auch die Bedingungen für ihre erneute Relationierung (vgl. ebd.: 62, 67). In etwa ähnlich lässt sich auch bei Max Weber die für Religion konstitutive Unterscheidung ziehen (vgl. dazu weiter unten in diesem Unterkapitel). Dabei ist es nach Durkheim eine absolute, d. h. die Wesensverschiedenheit betonende »Andersartigkeit«, welche den Unterschied zwischen profan und heilig einzieht, die zuweilen bis zu einer als feindschaftlich empfundenen Beziehung seitens der heiligen zur profanen Sphäre reicht (vgl. ebd.: 65-66) »Heilige Dinge«, so Durkheim, seien durch »Verbote [zu] schützen und [zu] isolieren« vor der Welt des Profanen (ebd.: 67). Was mit dem Attribut der Heiligkeit belegt wird, lässt Durkheim offen. Religion ist für Durkheim nicht allein »eine im wesentlichen kollektive Angelegenheit« (ebd.: 76). Dies und die Tatsache, dass sich in der Religion die gesellschaftlichen Ideale verkörpern, d. h. Religion und Gesellschaft begrifflich teilweise konvergieren, unterscheidet Durkheims Religionstheorie markant von jener Simmels, der Religion auf die Individualität bezieht (vgl. dazu Kapitel 7.2.6.1 dieses Buches).10 Die materielle Un- oder vielleicht auch Unterbestimmtheit in der simmelschen Definition von Religion lässt sich meines Erachtens zunächst einmal theorieimmanent darauf zurückzuführen, dass der Versuch eines begrifflichen – formenden – Zugriffs zum Leben ein widersprüchliches Unterfangen darstellt. Dann aber ist die begriffliche Unbestimmtheit religiöser Phänomenologie als ganze sowie – was mit ersterem zusammenhängt – die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität ferner die Reflexion eines zeitgeschichtlichen Wandels im Europa des 19. Jahrhunderts, in dessen Verlaufe die Individuen ihr religiöses Begehren nicht mehr in den über-

läßt sich nicht so einfach leicht angeben, welche sozialen Phänomene sinnvollerweise als religiös zu qualifizieren sind.« (Krech 1999: 15) 9 Ihrer Länge wegen stelle ich die durkheimianische Definition von Religion in diese Fußnote. Die Definition lautet wie folgt: »Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.« (Durkheim 2007: 76; Hervorhebung im Original) 10 So sagt Durkheim, »[i]m Grund sind die Begriffe der Totalität, der Gesellschaft, der Gottheit wahrscheinlich nur verschiedene Seiten ein und desselben Begriffs.« (Durkheim 2007: 646, Fn. 18; Hervorhebung PB):

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kommenen Formen kirchlicher Institutionen zu befriedigen vermochten. Simmels Religionstheorie artikulierte den Verlust einer substanziell, durch bindende Werte fixierten Einheit von Leben und Form, der allerdings bereits viele Jahre zuvor durch die Religionskritik vorbereitet worden war (vgl. Kapitel 3 dieses Buches). Gemäß Hubert Knoblauch ist die – dem Postulat der Wertfreiheit folgende – Soziologie der Religion ein Nachkomme der philosophischen Religionskritik (Knoblauch 1999: 20-32). Der bereits oben genannte schottische Aufklärer David Hume bezweifelte in seinen – freilich erst nach seinem Tode 1779 veröffentlichten – »Dialogen über natürliche Religion« nicht nur die überlieferten religiösen Vorstellungen, sondern zog alternativ zu einer theistischen Erklärung die Möglichkeit einer von jedem Gott unabhängigen natürlichen Entfaltung des Universums in Betracht (vgl. Hume 2004b). Allein aus einem der Materie innewohnenden Ordnungsprinzip könne die Welt sich so entwickelt haben, wie sie ist (vgl. ebd.: 67). Die Schriften des metaphysik- und religionsskeptischen Hume landeten schließlich auf dem »Index Librorum Prohibitorum«, einer vom Vatikan erstellten Liste aller Bücher, die zu lesen eine Sünde sei. Zu besonderer Radikalität gegen das religiöse Establishment brachte es die französische Aufklärung. Der Atheismus Paul Henri Thiry d’Holbachs gründete sich auf dem Glauben an einen universalhistorischen Konflikt zwischen Christentum und Wissenschaft: »Die Wissenschaft war und wird stets ein Gegenstand des Hasses für die christlichen Gelehrten sein. Sie wären ihre eigenen Feinde, wenn sie die Weisen liebten« (d’Holbach 1970: 128). In »System der Natur« propagiert d’Holbach das Bild einer mechanistischen Natur, die allein aus sich selbst erklärbar ist – und damit offensichtlich keines göttlichen Schöpfungsaktes mehr darf (vgl. d’Holbach 1978). Ferner wäre hier Voltaires Frontstellung gegen Christentum und Kirche zu nennen (vgl. Hoeges 1979). Emile Durkheims gesamtes (religions-)soziologisches Schaffen fand im Kontext der französischen »Debatte über Religion und Laizität« statt und hinterließ entsprechend Spuren (Baubérot 2008:185). Eine »Konfliktthese« zwischen Christentum und Wissenschaft – wie sie Simmel ja gerade, aber auch nur a priori lebensphilosophisch zu entschärfen gedachte – wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den Anglo-Amerikaner John William Draper (1875, »Geschichte des Conflicts zwischen Religion und Wissenschaft«) sowie den US-Amerikaner Andrew Dickson White (1895, »Geschichte der Fehde zwischen Wissenschaft und Theologie in der Christenheit«) in internationalen Beststellern forciert vor dem Hintergrund der zur Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden darwinschen Theorie von der Evolution des Lebens (vgl. Numbers 2006). Im Deutschland des 19. Jahrhunderts waren Ludwig Feuerbach und Karl Marx sehr wirkmächtig. Der ursprünglich Theologie studierende, sich dann aber kritisch gegen diese wendende Ludwig Feuerbach sah in der Gottesvorstellung das projektive Verhältnis des Menschen zu sich selbst: »Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heißt, sondern der Mensch schuf […] Gott nach seinem Bilde. […] Jeder Gott ist ein Wesen der Einbildung, ein Bild, und zwar ein Bild des Menschen, aber ein Bild, das der Mensch außer sich setzt und als ein selbständiges Wesen vorstellt.« (Feuerbach 1851: 241; Hervorhebung im Original)

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Im Menschen gibt es nach Feuerbach eine Unendlichkeit: seine eigene, das Individuum transzendierende »Gattung Mensch.« (Fries 1979: 81) In seinem Wesen als Gattungswesen liege »die wahre Transzendenz des Menschen […] – sie ist zugleich das absolute Wesen des Individuums.« (Ebd.: 81) Im Gottesglauben verselbständige und entfremde der Mensch sich von dem Absoluten in sich, damit komme es aber auch zu einer Entfremdung zwischen den Menschen. Feuerbach wirkte prägend in der Herausbildung der »entscheidenden Kategorien moderner Religionskritik«, wozu Kategorien wie »Entfremdung, Projektion« oder »Entlarvung, Desillusionierung« zählen (ebd.: 88). Für Karl Marx war der Mensch ebenso wie für Feuerbach Produzent der Religion wie überhaupt der gesellschaftlichen Verhältnisse (»Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen«, Marx 1972: 71; Hervorhebung im Original). Das Menschenbild des Christentums – und hier besonders »Protestantismus, Deismus« – war gemäß Marx die den versachlichten Produktionsverhältnissen im Kapitalismus »entsprechendste Religionsform.« (Marx 1973: 58) Die Religion wirke wie eine Art »Schleier« der »Warenproduktion«, der sich aus der Intransparenz der Produktionsverhältnisse ergebe (Post 1979: 227). Religion ist nach Marx dann nicht bloß neutrale »Theorie dieser Welt«, sondern ferner der Versuch von deren Legitimation, »ihre moralische Sanktion, […] ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund.« (Marx 1972: 71)11 Er spricht dann auch von der Religion als dem »Opium des Volkes« (ebd.: 72; Hervorhebung im Original). 12 Christentum und Kirche bildeten die »Inkarnation der Fortschritts- und Freiheitsfeindlichkeit« (Post 1979: 220). Sobald an die Stelle von Ware und Markt die Vergemeinschaftung und vernunftbasierte Planung der Produktion trete, könnte auch der »religiöse Widerschein der wirklichen Welt« zusammen mit der kapitalistischen Warenform zwischenmenschlicher Beziehungen »verschwinden« (Marx 1973: 58). Eine Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt dann von zwei Seiten her: Einmal von intellektueller Seite her, der »Philosophie«, dem »Kopf dieser Emanzipation«, sowie von prak-

11 Simmels religionssoziologischem Aufsatz von 1898 lag eine explizite Absage an einen Geschichtsmaterialismus zugrunde, wie er im marxschen Zitat zumindest suggeriert wird: »Das Gedankenmotiv dieser Erörterung ist ein sehr allgemeines und läßt sich als eine weitgreifende Regel ausdrücken, von der die materialistische Geschichtsauffassung einen Einzelfall darstellt. Indem diese die gesammten Inhalte des historischen Lebens aus den Formen der Wirthschaft herleitet und Sitte wie Recht, Kunst wie Religion, Wissenschaftsbetrieb wie sozialen Aufbau von der Art bestimmt sein läßt, in der die Gruppe ihre materiellen Existenzbedingungen produzirt – so wird damit eine Theilerscheinung eines sehr umfassenden Prozesses zum alleinigen Inhalt desselben übertrieben. Die Entwicklung nämlich der Formen und Inhalte des sozialen Lebens, […] erfolgt derart, daß der gleiche Inhalt in vielerlei Formen, die gleiche Form in vielerlei Inhalten sich auslebt.« (SR: 272-73) Der Reduktion von Geschichte auf Ökonomie trat Simmel mit der Irreduzibilität von Geschichte ›an sich‹ auf eine bestimmte Form durch eine Vielfalt an formenden Perspektiven entgegen. Es ist die gleiche Perspektive – einschließlich jener auf den Historischen Materialismus –, wie er sie auch in seinen geschichtsphilosophischen Untersuchungen vertreten hat. 12 Eine Formulierung, zu der Marx möglicherweise durch Heinrich Heine oder Bruno Bauer inspiriert wurde (vgl. Post 1979: 220)

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tisch tätiger Seite aus, dem »Proletariat«, welches Marx als das »Herz« der Bewegung bezeichnet (Marx 1972: 85; Hervorhebung im Original). Die marxsche AntiReligiosität fand ihren Weg in die Arbeiterbewegung. 1914 glaubten nur noch 13% der Arbeiter an Gott (vgl. Nipperdey 1988: 135). Wie Max Weber ebenfalls mit Bezug auf eine Umfrage in seinen religionssoziologischen Untersuchungen hervorhob, begründete vorrangig eine als ungerecht wahrgenommene Gesellschaftsordnung, nicht aber naturwissenschaftliche Erkenntnis den weitverbreiteten Unglauben in der Arbeiterschicht (vgl. Weber 1988a: 247; 2010: 405). Dennoch: Die politisch-ökonomisch motivierte Ideologiekritik Marx’ traf sich mit der Rezeption der Evolutionstheorie Charles Darwins, der 1859 sein bahnbrechendes Werk »Origin of Species« veröffentlichte (1860 wurde die erste deutsche Ausgabe veröffentlicht, 1862 die erste französische). Wo innerhalb der Wissenschaft Darwins Ideen rasch aufgenommen wurden, kam es zu einer heftigen Kontroverse zwischen Wissenschaft und – vor allem katholischem – christlichem Klerus: »[M]ost theological conservatives [...] viewed Darwinism, especially when applied to humans, as erroneous, if not downright dangerous« (Numbers 1998: 2). Die Lehre der Evolution unterminiere Moral und den Glauben an den Schöpfer. Und ab den 70ern des 19. Jahrhunderts konnte das Verhältnis zwischen Wissenschaft und katholischer Kirche »in military metaphors« beschrieben werden (Russell 1991: 35-36). Als öffentlichkeitswirksamer Verfechter Darwins tat sich hier Ernst Haeckel hervor, als ein Beschwörer einer monistischen Weltanschauung, die alles Sein kausaldeterministisch zu erklären beanspruchte (vgl. Haeckel 1909). Ein göttlicher Schöpfer oder ein teleologischer Heilsplan fand in diesem Weltbild keinen Platz mehr, und Bücher Haeckels gehörten zum »Standardrepertoire von Arbeiterbibliotheken« (Nipperdey 1988: 127). Von hier aus fanden denn auch sozialdarwinistische Überlegungen ihren Ausgang, auf die sich später die Nationalsozialisten beriefen. Ebenfalls äußerst wirkmächtig, aber mehr auf die bürgerlich-intellektuelle Jugend begrenzt, waren die Philosophie Friedrich Nietzsches und die Verkündung vom »Tod Gottes« (Nipperdey 1988: 134). Simmel selbst konstatierte damals ähnlich (vgl. Kapitel 3.3 in diesem Buch). Zwar sei es so, so Simmel, dass der Einfluss der Kirchen seit den 1870er Jahren auf die Lebensführung wieder zugenommen habe, zumindest in Deutschland (vgl. TGLT: 191). Otto von Bismarcks »Kulturkampf« sollte den Einfluss der katholischen Kirche auf Einrichtungen wie Schule, Ehe und Familie beschneiden (vgl. ebd.: 191). Als Reaktion darauf formierte sich die katholische Zentrumpartei, die alsbald zu einer der mächtigsten Parteien im Deutschen Reich wurde (vgl. ebd.: 191). In ihr als politischer Organisation vermischte sich aber ihre religiöse Basis mit dem Anspruch auf politische Herrschaft. Reine Religiosität verkörperte sie nach Simmel nicht (vgl. ebd.: 192). Dazu würden die dogmatische Rigidität und Autorität des klerikalen Katholizismus einerseits sowie die religiösen Ansprüche der Menschen andererseits divergieren (vgl. ebd.: 192-93). Die protestantische Kirche ihrerseits, so Simmel, würde mehr und mehr illiberal und predigte den Menschen Obrigkeitshörigkeit (vgl. ebd.: 194). Neue Kirchengebäude würden gebaut, Geistliche sind in öffentlichen Debatten präsent, während sich das religiöse Gefühl vieler Individuen von den äußerlich bleibenden Formen entfremde (vgl. ebd.: 194-95). Das gleichwohl lodernde religiöse Begehren versuche sich stattdessen an anderen Feldern auszuleben – »new religious conceptions«, wie Simmel sagt (ebd.: 196). Als ein Substitut für viele religiöse Indi-

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viduen an der Stelle des Dogmas macht Simmel die Kunst aus. In »the fundamental needs of our souls […] lies the real reason for the passionate aesthetic interest that such large numbers of persons have suddenly developed« (ebd.: 195). Aber auch ansonsten würden die Menschen – ohne dass Simmel hier eine Aufzählung anstrebt – in »all sorts of struggles« eine Antwort auf ihr religiöses Begehren suchen, »all seeking a reply to the anxious question about the meaning of life and the salvation of the soul.« (Ebd.: 195-96). Damit befindet sich Simmel auf einer Linie mit Historikern, die für das 19. Jahrhundert das Aufkommen außerkirchlicher Formen der Religion beobachten. Von »Säkularreligionen« spricht beispielsweise Wolfgang Schieder (1993: 16; Hervorhebung im Original). Thomas Nipperdey unterscheidet eine »vagierende Religiosität« bzw. eine »religiöse Gestimmtheit« (Nipperdey 1988: 143) von »Quasireligionen« (ebd.: 136). Vagierende Religiosität findet Nipperdey vor allem beim vom Friedrich Nietzsche beeinflussten Bürgertum, das sich nicht länger in den Inhalten des Christentums wiederfinden könne, aber noch von der christlichen Tradition geprägt sei; »ganz christentumsfern, aber doch noch vom Stachel der christlichen Erinnerung getrieben.« (Ebd.: 144) Die Gemengelage hatte nicht die eine Richtung, nicht das eine inhaltliche Motiv, auf das man die religiösen Bewegungen um die Jahrhundertwende verorten könnte. Es mischten sich Lebensreform, die Bejahung kultureller wie freiheitlicher Errungenschaften mit Reformeifer, Antikapitalismus, Antiliberalismus, gegen den neuzeitlichen Relativismus und die Unverbindlichkeit aller Werte, bis hin zum Antisemitismus einschließenden Heilssuchen im Volkstum. Aber, und jetzt wird es interessant, Nipperdey meint sie auf einen Nenner zu bringen, und zwar als eine »Wendung zu einem Absoluten, zu Urwerten.« (Ebd.: 148; Hervorhebung PB) In Quasireligionen sei es jeweils um »Hingabe und Opfer« (ebd.: 138) an eine übergeordnete Allgemeinheit gegangen. Nipperdey nennt mehrere Beispiele: die Hingabe an die eigene Familie, an Kunst, Bildung oder Wissenschaft. Beispielsweise hätten Ernst Haeckel und seine »Jünger« eine in das Gewand eines philosophischen Monismus gekleidete Naturvergötterung betrieben (ebd.: 145). Ebenso beobachtet Nipperdey eine Sakralisierung der eigenen Nation – »da war Heiligkeit, da war Identität, da war das Ganze, die Ewigkeit, die überindividuelle Dauer, da war die ›Tiefe der Geschichte‹ und die Zukunft, Ursprung und Vollendung, da war die moderne Einzigkeit jenseits aller Zufälligkeiten.« (Ebd.: 138). Die Sakralisierung der Nation spielte, wie noch zu sehen sein wird, in unterschiedlicher Gewichtung und Nuancierung, auch bei Simmel und Durkheim eine Rolle. Max Weber sah im Kriegspathos und der Aufopferungswilligkeit für die Nation dem psychologischen Empfinden nach eine Konkurrenz zum »Erlebnis der Gottesgemeinschaft« (Weber 1988a: 549). Schließlich sei noch die andere, von Nipperdey »politisch-säkulare Religion« genannt, die »Sozialdemokratie« (Nipperdey 1988: 139). Die sich parteipolitisch formierende Arbeiterbewegung »deutete Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft«, der Kommunismus sei »das Endziel« und »Gegenstand der Hingabe und Hoffnung und forderte Opfer« seitens des Arbeiters (ebd.: 139). Obgleich in marxistischer Opposition gegen Kirche und Gottesglauben, hätte die SPD nun das zu leisten gehabt, »was ehedem Kirche und Religion geleistet hatten«, »die Partei [war] eine andere Kirche« (ebd.: 139). Simmel beurteilte das religiöse Befriedungspotenzial einzelner, partikularer Gebiete durch Kunst wie durch Wissenschaft für sich genommen als gering. So sei die

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Kunst »too limited«, als dass sie das umfassende religiöse Begehren befriedigen könne, und »science« sei »silent as to everything final« (TGLT: 195). Trotzdem – ohne letzterem zu widersprechen – griff Simmel – neben anderen – auf die inhaltlich unterfütterte Beziehung »des enthusiastischen Patrioten zu seinem Vaterland« sowie die »Beziehung des Arbeiters zu seiner sich emporringende Klasse« als Beispiele zur Illustration religiösen Erlebens zurück (DR: 64). Auch in den »Grundfragen der Soziologie« von 1917 heißt es zur Begründung der analytischen Trennung der sozialen Form von den Inhalten, dass die bei Glaubensgemeinschaften zu findende »Opferwilligkeit« und »Hingebung an ein allen gemeinsames Ideal« ebenso »eine sozialdemokratische Arbeiterschaft« aufweisen könne, weil »das religiöse Verhalten nicht ausschließlich an die religiösen Inhalte gebunden [sei], sondern eine ganz allgemein menschliche Form ist, die sich nicht nur an transzendenten Gegenständen, sondern an manchen andern Gefühlsveranlassungen ganz ebenso realisiert.« (GS: 74-75) Besagte Beispiele sind für Simmel aber – anders als sie Nipperdey einordnet – keine Religion, sondern »religiöse Halbprodukte« (DR: 61). Es handelt sich dabei um Vergesellschaftungsprozesse, die durch ein religiöses »Empfinden« oder, wie Simmel es auch nennt, durch »das religioide […] Moment« überformt sind (ebd.: 61). Der Inhalt ist beliebig, es kann sich genauso um eine als weihevoll empfundene Ehezeremonie handeln (vgl. ebd.: 57). Um eine eigenständige Welt der Religion handelt es sich erst dann, wenn das religiöse Handeln und Erleben vorrangig in Wechselwirkung mit einem Absoluten bzw. mit Gott tritt. Religioide Formen bezeichnen dagegen »Relationen der Menschen untereinander« (ebd.: 61; Hervorhebung PB). Entscheidend ist die Referenz, auf welche sich ein und dasselbe religiöse Erleben richtet, ein »Du« oder ein »Absolutes«. Die Beschreibung der Beispiele dient hierbei dem Erfassen dessen, was Simmel unter der Idealtypik einer religiösen Weltbeziehung versteht. Simmels Einordnung der sozialistischen Arbeiterbewegung als religioide Mischform konvergiert durchaus mit Max Webers Aussagen: Das Proletariat verspüre, so Weber, ein »Erlösungsbedürfnis« (Weber 2010: 386) und pflege dies durch »einen religionsartigen Glauben an die sozialistische Eschatologie« und der damit verbundenen »Erlösung von der Klassenherrschaft« (ebd.: 403). Um eine religiöse Reinform (»religionsartigen«) handelt es sich auch bei Weber nicht.13 Die religiöse Reinform verkörpern bei Weber sowieso allein die »religiösen Virtuosen«, welche »jenen spezifisch religiösen Habitus im Alltag kontinuierlich festzuhalten« vermögen, weshalb solcherlei Individuen eine »Aristokratie der religiös Qualifizierten« bildeten (ebd.: 421; Hervorhebung im Original). Ich meine, Simmel unterscheidet ähnlich: Religiosität in Reinform ist gleich der Dauerhaftigkeit eines religiösen Lebens. Allerdings lässt sich diese Behauptung bei Simmel vergleichsweise schwer herausarbeiten. Ich verweise an dieser Stelle schon einmal auf Kapitel 7.4 in diesem Buch. Religiöse Beziehungen, so Simmel, zeichneten sich durch das einheitliche Erleben gegensätzlicher Gefühlszustände aus – »eine eigenartige Mischung von selbstloser Hingabe und eudämonistischem Begehren, von Demut und Erhebung, von sinnlicher Unmittelbarkeit und unsinnlicher Abstraktion« (DR: 64). Nur in der begrifflichen Analyse würden sich zwei widersprüchliche Gefühlszustände ergeben; im Le-

13 An anderer Stelle sagt Weber, dass das proletarische »Erlösungsbedürfnis nicht […] in religiöser Form« empfunden werde (Weber 2010: 386),

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ben sind sie eins. Simmel schreibt weiter: »Damit entsteht ein bestimmter Spannungsgrad des Gefühls, eine spezifische Innigkeit und Festigkeit des inneren Verhältnisses, eine Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung, die von ihm doch zugleich als etwas Innerliches und Persönliches empfunden wird.« (Ebd.: 64; Hervorhebung PB) Eine »höhere Ordnung«, damit kann Simmel meines Erachtens nur die das individuelle Leben umfassende, aber aus dem Leben geschaffene überindividuelle Form meinen. Obgleich sich vom individuellen Leben verselbständigende Form, erlebt das Individuum die Form als sich zugehörig. Das Individuum ist nicht bloß Element der Reproduktion einer sozialen Einheit, sondern selbiges gilt umgekehrt: die soziale Einheit dient der Reproduktion der Individualgesetzlichkeit. Mit Termini aus der »Lebensanschauung« gesprochen: Das Leben transzendiert sich selbst in der Schaffung einer es umfassenden Form. Religiosität reproduziert sich in der dualistischen Form der Selbsttranszendenz; das ist die Form ihrer selbstgeschaffenen Einheit. Bedeutsam hierbei ist, dass Simmel im Falle religiösen Erlebens von einer »Steigerung des Bewußtseins«, von »religiösen Erregungen« spricht (DR: 57; Hervorhebung im Original). Religiosität bezeichnet also ein besonders intensives Erleben. Ich komme noch einmal auf das Beispiel des »enthusiastischen Patrioten« zu sprechen. Es eignet sich besonders gut zur Veranschaulichung der religiösen Phänomenologie im simmelschen Sinne, da die Schilderungen seines eigenen Erlebens des Kriegsausbruchs 1914 ein ebenso patriotisches wie von religiöser Verve zeugendes Selbstverständnis offenbart. In der »Soziologie« zeichnet sich die Form des Patriotismus durch die Vorstellung aus, dass die Beziehung zur »politischen Gruppe […] überhaupt nicht lösbar ist und zwar gerade trotz der Bewegungsfreiheit des modernen Menschen«, und für die Unlösbarkeit dieses Bundes sei die »Anschaulichkeit des vaterländischen Grundes und Bodens […] Träger und Symbol« (SOZ: 561-62). Wenn auch ohne Bezug auf die affektuale Form einer patriotischen Beziehung, so meint Simmel in seiner Metaethik des »individuellen Gesetzes« und ganz in Kontinuität des vorangegangenen Gedankens, den vom Staat geforderten Kriegsdienst unbesehen anderer biographischer Merkmale – wie es in seinem Beispiel des Antimilitaristen der Fall ist – zum Inhalt einer jeden individuellen Sollens-Totalität bestimmen zu können. Dies hängt Simmel zufolge zusammen mit der »gar nicht lösbaren Eingewebtheit der staatlichnationalen Kräfte und Werte in seine individuelle Existenz« (LA: 409). In der Unlösbarkeit vom Nationalstaat liegt im »Antimilitaristen«-Beispiel die Parallele zur Form des Patriotismus. In seinem Religionsbuch meint Simmel, dass die Vaterlandsliebe nicht durchgängig religiösen Charakter hat. Der Alltag sei »von der Konvention oder vom Staatsgesetz geleitet« (DR: 57). Anders sei dies während der Außeralltäglichkeit eines »erregten Patriotismus«, der sich einstelle in »Situationen von Gefahr, leidenschaftlicher Bewegtheit, Triumph des politischen Ganzen« (ebd.: 57). Wie viel Selbstreflexion in sein Konzept von Patriotismus geflossen ist, lasse ich dahingestellt. Es scheint zumindest hinreichend viel gewesen zu sein, um in der eigenen Gegenstandsbeschreibung vorkommen zu können. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 ergriff der erregte Patriotismus auch Simmel. Den Kriegsbeginn erlebte Simmel als »eine absolute Situation« (IW: 22; Hervorhebung PB). Damit meinte er, stellvertretend für viele andere deutsche Bürger – in Wahrheit aber eher nur für das Bildungsbürgertum – zu sprechen, genauso wie mit

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der Emphase, »wir stehen […] auf dem Grund und Boden eines Absoluten.« (Ebd.: 23).14 Dieses Absolute sah Simmel in einem neuen »Verhältnis von Individuum und Gesamtheit […], dessen begrifflicher Ausdruck schwierig oder widerspruchsvoll ist und dessen reinste Anschaulichkeit der Krieger im Felde ist: dass gleichsam der Rahmen auch des individuellsten Lebens durch das Ganze ausgefüllt ist.« (Ebd.: 15) Und schließlich: »Zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen besteht kein jenseits mehr, so dass selbst ›Hingebung‹ kein ganz zutreffendes Wort ist: man braucht sich nicht erst hinzugeben, wo das Gefühl von vornherein keine Scheidung zeigt.« (Ebd.: 15). Noch tiefer bringt ein Brief an Margarete Susman vom 09. August 1914 Simmels Innenansicht hervor: »[I]hr sollt doch in diesen furchtbaren u. großen Tagen einen Gruß von uns haben. Es ist ein unerhörtes Erlebniß, wenn ein Volk von 65 Millionen, vom Kaiser bis zum eben gebornen Proletarierkind vor der Frage: Sein oder Nichtsein steht. Alles, was ich bisher an Erschütterndem erlebt habe, ist dünn u. schmal dagegen, persönliche Schicksale sind überhaupt nicht in einem Atem zu nennen. Aber ich glaube, daß es zu einer Kraftentfaltung des Volkes kommen wird, wie die Weltgeschichte sie noch nie erlebt hat.« (GSG 23: 367)

Vorbei – für den Moment – sind die Kämpfe zwischen den Klassen und Schichten, aufgehoben werden diese in einer idealen, reibungslosen Einheit der Nation – »Coincidentia Oppositorum«. Der Brief Simmels erinnert in der Form an seine religionstheoretische Interpretation des christlichen Weihnachtsfestes: »[I]m bescheidenen Hause wie im Fürstenschloss die gleiche Stimmung und das analoge Thun, eine reale Vereinigung Zusammengehöriger, soweit es die Verhältnisse gestatten, und eine ideelle über die ganze Christenheit […]. Der Gedanke, mit einer ausserordentlich grossen Anzahl von Menschen das Gleiche zu empfinden und zu erlangen, das Bewusstsein, an Gütern Theil zu haben, aus deren Besitz mich nicht nur keiner verdrängen kann oder will, sondern an dem er, ob der Niedrigste oder der Höchste, gerade im Zusammenschluss mit mir Theil hat – dies Bewusstsein bildet die positive Seite der Konkurrenzlosigkeit im Religiösen.« (EM I: 437-38; vgl. auch DR: 82)

14 Vgl. dazu die Ausführungen von Volker Ullrich 1999: 263-269. Mit Hinblick auf Simmels leicht geschichtsklitternde Darstellung: »Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß das Bild einer alle Klassengegensätze überwindenden Begeisterung, wie es bis heute von den meisten Geschichtsbüchern kolportiert wird, der Wirklichkeit nicht entspricht.« (Ebd.: 263). Ullrich fügt hinzu, »das Klischee von der allgemeinen Kriegsbegeisterung« habe vor allem »für das Bildungsbürgertum« zugetroffen (ebd.: 263). Weder in der breiten Landnoch in der Industriearbeiterschaft herrschte ein breiter Enthusiasmus, sondern eher gegenteilig Bestürzung und Verzweiflung. Teile der Sozialdemokratie konnten für die ›Sache‹ gewonnen werden durch das Schüren einer »antirussischen Haßpropaganda« (ebd.: 266). Um Mitte August herum drehte sich Ullrich zufolge das Blatt zugunsten einer verbreiteten patriotischen Stimmung auch in der Industriearbeiterschaft. Grund seien die »ersten Siegesmeldungen aus dem Westen« gewesen (ebd.: 266).

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Weil – vermeintlich – alle gleich erleben und fühlen, kann die Form Ausdruck jedes partikularen Lebens sein. Die ideale Einheit der Nation ist für Simmel nur möglich aufgrund einer allen gemeinsamen Verbindung zum Vaterland, die in der Alltäglichkeit des Friedens allerdings nicht zu Bewusstsein komme (vgl. IW: 14). Allen Bürgern gegenüber stelle sich die gleiche Frage: »[S]oll Deutschland sein oder nicht sein?« (Ebd.: 22). Entscheiden tue »jene höchste Instanz unseres Wesens« (ebd.: 23). Die bis dato nur äußerliche Einheit Deutschlands, so Simmel, könne nun auch von innen, vom Leben her, vollendet werden – Simmel nannte es »die Vollendung von 1870« (ebd.: 24; Hervorhebung im Original). Diese Vitalisierung der Form funktioniert, indem Form und Leben eine Einheit bilden. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn Simmel von dem »Ideal eines neuen Menschen« spricht (ebd.: 27; Hervorhebung im Original). Darunter versteht Simmel kein bestimmtes Individuum »in concreto« (ebd.: 27; Hervorhebung im Original), sondern ein über »alle einzelnen, erreichten oder noch zu erreichenden Ziele in der Wissenschaft oder in der Technik, in der Kunst oder in der sozialen Organisation hinaus« gehendes Ideal von »Ganzheit« (ebd.: 28). Diese produziere sich als »von innen getriebenes Wachstum«, als »ein organisches Werden« (ebd.: 28). Die Zeilen erinnern an die Metaethik des »individuellen Gesetzes« wie an das Ideal der Kultivierung. Über die religiöse Momentaufnahme des sogenannten »August-Erlebnisses« hinaus schien Simmel an den Krieg die religiöse Heilserwartung einer neuerlichen Integration von äußerlichen Forderungen der Form und innerlichen Forderungen des Lebens zu richten. Dafür spricht ein Brief Simmels an Marianne Weber vom 16. Oktober 1914, in dem er die Erfüllung seiner Sehnsucht artikuliert, dass »endlich, endlich einmal die Forderung des Tages und die Forderung der Idee eine und dieselbe sind.« (GSG 23: 422; Hervorhebung PB) Die »Forderung des Tages« ist ein Ausspruch Goethes, auf den Simmel zwecks Darstellung des Flusscharakters seines »Individuellen Gesetzes« zurückgriff (vgl. LA: 360).15 Die »Forderung der Idee« wiederum bedeutet, in diesem Zusammenhang, die unabdingbare Forderung der Nation. Leben und Form bilden eine perfekte Einheit, sie greifen ineinander; und dies ist nach Simmel gleichbedeutend mit einem religiösen Erleben.16 Abgesehen von »Deutschlands Innere Wandlung« und der Briefkorrespondenz liegt das Erscheinungsdatum der hier genannten Literatur zum Patriotismus, ein-

15 Der entsprechende Kontext im Wortlaut: »Der Rhythmus des Lebens, das keinen Sprung macht, sondern stetig Zustand aus Zustand gebiert, ist auch dem Leben als Sollen eigen. Das ist, was Goethe die Forderung des Tages nannte: nicht die, die der Tag, im Sinne des äußeren Milieus, an uns heranbringt, sondern die aus dem eigen-innersten Leben hervorgehende, aber Stunde für Stunde, das Vorzeichen des nächsten Schrittes; der übernächste liegt im Dunkel und wird erst klar, wenn der nächste getan ist.« (LA: 360) 16 Dem Prinzip nach verfehlt scheint mir eine Kritik wie jene von Agathe Bienfait, Simmel verwische mit dem Antimilitaristen-Beispiel »den für jede Identität wesentlichen Unterschied zwischen dem Konformitätsdruck einer Rollenmoral und individueller moralischer Selbstbestimmung.« (Bienfait 1993: 33) Zu einer inhaltlichen Konvergenz ethischer Forderungen kann es unabhängig von der Unterschiedlichkeit ihrer Quellen kommen.

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schließlich jener zum »individuellen Gesetz«, vor dem Jahr 1914.17 Ein Einfluss des Kriegserlebens auf Simmels Ansichten zur Beziehung zwischen Individuum und nationalstaatlichem Ganzen ist meines Wissens nach daher auszuschließen. Der umgekehrte Weg der Beeinflussung dagegen scheint möglich. So argumentiert Klaus Latzel, dass Simmels inhaltliche Argumentation für den Kriegsdienst im »individuellen Gesetz« weniger in der Sachlogik lag und mehr eine Selbstreflexion seiner eigenen, unauflöslichen Bindung an die Nation gewesen sei (vgl. Latzel 1997: 112). Gregor Fitzi begründet Simmels eigene Haltung im Krieg trotz inhaltlich starker Vorbehalte gegenüber der Politik von Kaiser Wilhelm II. durch seine Bindung an Deutschland, die ihm seiner eigenen Auffassung gemäß eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Staat abnötigte (vgl. Fitzi 1997: 120-21). Diese Pflichtempfindung sei parallel gegangen mit einer vertragstheoretisch begründeten »Auffassung der Staatsbürgerpflicht«, die zur Loyalität dem Staat gegenüber verpflichtet (ebd.: 120). Und Fitzi meint schließlich auch, in Simmels anfänglicher Kriegseuphorie eine »religiöse Dimension« zu erkennen (ebd.: 126). Simmels religiöses Kriegspathos ist dann durch seine selbstreflexive Bindung an die Annahme eines bestimmt gearteten, unlösbaren Verhältnisses von Individualität und nationalstaatlicher Überindividualität gebunden. Seine soziologische Hypothese ginge demzufolge einher mit seiner Identifikation mit der deutschen Nation. Ergänzen möchte ich die werkimmanenten Überlegungen zum religiös gefärbten Kriegserleben Simmels schließlich noch durch eine andere, das Werk übergreifende Quelle. Der Historiker Joachim Radkau hat den Versuch gemacht, Nervosität zu einem fehlenden Baustein der Erklärung des Ersten Weltkrieges zu machen (vgl. Radkau 1998). Radkau verknüpft die nicht nur in Deutschland, sondern in Europa und den Vereinigten Staaten gemachten Erfahrungen wachsender biographischer Unsicherheit, industrieller Fremdbestimmung (beispielsweise: Brechung des Biorhythmus in der Fabrikarbeit), Tempo und Wachstum zu einer psychologischen Grundstimmung permanenter Anspannung, die in der außenpolitischen Aggression und im Krieg ihren Flucht- und Erlösungspunkt fand. Die Grundannahme seiner Argumentation ist dabei folgende: Rein strukturale Gründe wie ein nicht nur auf Deutschland begrenzter, sondern weit verbreiteter Imperialismus erklären Radkau zufolge nicht zwingend, wie es überhaupt zum Ersten Weltkrieg kommen konnte. Es fehle die psychologische Komponente, denn aus psychischen Sinnlagen heraus werde Geschichte erst hinreichend verständlich, da Strukturen immer auch erst erlebt, verarbeitet werden müssen, bevor sie durch anschließende Handlungsketten verändert werden. Eine ganz wichtige psychologische, konstitutive Grundbedingung sah Radkau in der Neurasthenie, auch übersetzt mit Nervosität. Die Neurasthenie war Leiden, Habitus und Kulturerscheinung zugleich. Was sie auszeichnete, war die sogenannte reizbare Schwäche und vereinbarte in sich gegensätzliche Symptome: den körperlichen Erschöpfungszustand, aber auch einen hektischen Aktivismus – also jene zwei Symptome, die sich bei Simmel in dem großstädtischen Typus des Blasierten vereinen (vgl. PDG: 332-37). Radkaus Analyse des Nervositätsempfindens im Wilhelminischen Kaiserreich wie des zeitgenössischen Umgangs mit ihr deutet die Neurasthenie gerade vor dem Hin-

17 Das »individuelle Gesetz« erschien erstmals 1912. Dort befindet sich das hier referierte Beispiel des zum Kriegsdienst berufenen Antimilitaristen auf den Seiten 458-59.

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tergrund des stürmischen Wirtschaftswachstums um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Radkau 1998: 190-215). Was Radkau den »harten Kern der Neurastheniethese« nennt (vgl. ebd.: 190-215), trifft sich mit den Beobachtungen Simmels: die Überforderung, den Aktivismus, die Zerfahrenheit vieler Deutscher, deren Wurzeln in der rasant gestiegenen Wirtschaft und der damit einhergehenden rapiden Umwälzung der Lebensverhältnisse im ausgehenden 19. Jahrhundert gelegen haben. Als Volkskrankheit hinterließ die Neurasthenie ihre Spuren in Patientenakten von Sanatorien, psychiatrischen Heilanstalten und Kurkliniken. Die Patienten selbst würden zwar kaum offen über Tempo, Technik und Großstadthetze klagen. Häufiger dagegen waren Geschichten über sexuelle Zügellosigkeit, Impotenz, berufliche Überforderung, Reiselust, Klagen über Magen- und Darmbeschwerden, Angst-und Schwächezustände. Erst zwischen den Zeilen, so Radkau, könne man durch Interpretation in den Klagen und Krankheitsgeschichten die Neurasthenie als Folge der modernitätstypischen Erscheinungen von Beschleunigung, schnellem technischen Fortschritt, Wachstum und wachsender Unsicherheit im Gefolge der Auflösung von traditionalen Strukturen erkennen (vgl. ebd.: 187f.). Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wirkte dann nach Radkau wie eine Art Therapeutikum für die nervöse Seele, durch die die großstädtische Zerrissenheit und Überforderung auf die Simplizität des Überlebens gebracht wurde: So rührte die im Sommer 1914 – vor allem auf bürgerliche Kreise beschränkte – aufkommende Kriegseuphorie weniger aus der Lust am Krieg selbst, sondern »um eine Begeisterung der Nation an sich selbst, an dem wiedergewonnenen Gefühl von Einheit und Kraft, von Ziel und Lebenssinn. [...] sie zeigt vielmehr, wie verbreitet und quälend das Gefühl der Ziellosigkeit und Kräftezersplitterung gewesen sein muß und wie sehr es sich auch mit persönlichen und alltäglichen Erfahrungen verband: Denn ohne einen solchen Unterbau reichte die Wirkung nationaler Impulse nicht tief. [...] Es war diese nationale Einheitseuphorie, die man wiederhaben wollte.« (Ebd.: 425; Hervorhebung PB)

Und dieses Einheitsgefühl war relativ einfach zu gewinnen, und zwar durch eine einheitliche Erfahrung: »Unter den Bedingungen des Krieges entfielen wesentliche Elemente der zivilen Neurasthenie: an erster Stelle der Druck der Berufs- und Eheprobleme. [...] Wo man einfach nur gehorchen mußte, gab es keine Gelegenheit mehr, sich wegen Entscheidungsschwäche zu schämen; wo man auf die elementaren Lebensbedürfnisse zurückgeworfen war, wurde man nicht mehr zwischen diffusen Wünschen hin- und hergerissen.« (Ebd.: 429)

Die Anwendung der Radkauschen Beobachtung auf den ›Fall Simmel‹ liegt – bei aller Vorsicht – doch recht nahe. Es war David Frisby, der Simmels Schriften als Ausdruck von dessen Erfahrungen zeittypischer Neurasthenie sah: »Simmel’s own social experiences were the foundation for his account of modernity. [...] ›The experience of the neurasthenic is reflected in his writings as a preoccupation with what ›lies below the threshold of consciousness‹.« (Frisby 1985: 76) Entlang der hier aufgezeigten Linie kann auch Simmels Theorie der Religion als ein selbstreflexives Studium der Moderne begriffen werden. Sowohl die drohende Zerreißung durch äußere Forderungen – als Teil der Kulturphilosophie wie der Soziologie einerseits, aber auch, wie in

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Kapitel 3 dieses Buches beschrieben, als von Simmel selbst real empfundene, in seinen Briefen dokumentierte Erfahrung, andererseits –, wie auch das Sehnen nach Einheit und der vermeintliche, einer Katharsis gleichkommende Wiedergewinn einer Einheit durch den Krieg dokumentieren dies. Unabhängig von Simmels religiös gefärbtem Kriegspathos bleibt festzuhalten, dass Simmel Religion von der Fixierung auf bestimmte Glaubensvorschriften oder eine bestimmte Konfession löste und auf ein besonders intensives Bewusstseinserleben zurückführte. Die Rückführung von Religion auf – wie auch immer dann intellektuell weiter gedeutete – Erfahrung und Bewusstseinszustände war ein charakteristischer Zug der sich formierenden Religionswissenschaft um die Jahrhundertwende. Hierbei kommt gemäß Hans Joas ein ganz wesentlicher Verdienst dem USAmerikanischen Psychologen und Philosophen William James und dessen 1902 publiziertem Buch »The varieties of religious experience« zu (vgl. Joas 2017: 61-63). Ein Einfluss James’ auf Simmel ist mir zwar nicht bekannt, dafür aber auf Weber und Durkheim (vgl. Joas 2017: 64). Beide unterscheiden zwischen einem alltäglichen und einem für Religion typischen außeralltäglichen Erleben. So meint Weber in seiner »Protestantischen Ethik«, das »religiöse Erlebnis als solches ist selbstverständlich irrational wie jedes Erlebnis. In seiner höchsten, mystischen Form ist es geradezu das Erlebnis […] und – wie [William] James sehr schön ausgeführt hat – durch seine absolute Inkommunikabilität ausgezeichnet: es hat spezifischen Charakter und tritt als Erkenntnis auf, läßt sich aber nicht adäquat mit den Mitteln unseres Sprach- und Begriffsapparates reproduzieren.« (Weber 1988a: 112; Fn. 4; Hervorhebung im Original)

Ekstatische Erlebnisse, so eine Interpretation der Sekundärliteratur, verweisen bei Weber auf eine »bedeutungshaltige Hinterwelt«, als religiöses Erlebnis gehe das Erlebnis »im Gefühlsmoment nicht auf.« (Schwinn 2001: 155; ähnlich und mit Vorsicht findet es sich bei Tyrell 1992: 221). Eine sinnhafte Deutung – die Intellektualisierung – des ursprünglich Nicht-Kommunizierbaren würde den Gehalt des religiösen Erlebnisses herabsenken (vgl. Weber 1988a: 112, 566). Die Intellektualisierung der ursprünglichen Unmittelbarkeit des mystischen Erlebnisses ist aber Voraussetzung für den institutionellen Ausbau einer religiösen Sphäre (vgl. Schwinn 2001: 156-59). Durkheims religionssoziologische Unterscheidung zwischen einer profanen und einer heiligen Welt entspricht einer stark kontrastiven Unterscheidung im Gefühlserleben. Die profane Welt ist der Alltag, sein Erleben ist »im allgemeinen sehr wenig intensiv« und tendenziell »gleichförmig, schleppend und farblos.« (Durkheim 2007: 320) Von dem monoton erlebten Alltag unterscheiden sich nach Durkheim die intensiven Erregungen in Versammlungen eines Kollektivs, wie beispielsweise bei den Ritualen australischer Stammesgesellschaften, die Untersuchungsgegenstand Durkheims waren. Durkheim spricht hierbei auch von »starken und entfesselten Leidenschaften« (ebd.: 320) und einer »kollektiven Wallung« (ebd.: 335). Es bedarf einer Art rhythmischer »Ordnung« und »Einklang« in den Bewegungen, so dass auch wirklich von einem »Kollektivgefühl« die Rede sein kann statt eines mehr oder minder losen Nebeneinander (ebd.: 321). »Gesänge und Tänze« beispielsweise bilden diese Einheitlichkeit (ebd.: 321). Der am Ritual teilnehmende Mensch fühlt sich in eine fremde Welt versetzt, »in eine Umwelt voller intensiver Kräfte« (ebd.: 324). Das

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Individuum fühle sich, so Durkheim, beherrscht und hingerissen von einer Art äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln.« (Ebd.: 324) Nach Durkheim sind es diese Erlebnisse kollektiver Erregung, welche eine heilige von einer profanen Sphäre abgrenzen und geeignet sind, affektual bindende und als solche heilige Gruppenideale zu gebären (vgl. ebd.: 324-339). Es liegt meines Dafürhaltens nach nun nahe, Simmels Schilderungen des eigenen Kriegserlebens ebenfalls als eine außeralltägliche Erfahrung zu begreifen. Nicht nur beschreibt Simmel »die maßlose Erschütterung dieser Tage« des Kriegsausbruchs (IW: 14). Simmel unterscheidet auch das Empfinden »der ruhigen Alltäglichkeit« von den »tiefste[n] Aufrüttelungen« und »den Erschütterungen des Lebensgrundes«, wie sie der Krieg zustande bringe (ebd.: 14). Patrick Watier interpretierte Simmels Kriegspathos in ganz offensichtlicher semantischer – und wohl auch theoretischer – Anlehnung an Durkheim als »effervescence of beginning«, und zwar als »the birth of a new form of life.« (Watier 1991: 231)18 Das, was die Individuen bis dato nicht selbst zu schaffen vermochten, könnte nun der Krieg bringen: Einheit. Wohl aber: eine aus dem individuellen Empfinden geborene Einheit, und darin unterscheidet Simmel sich von dem die Kollektivkräfte prononcierenden Durkheim. Nicht die Diagnose, sondern Quelle und Subjekt der Erneuerung bilden die Differenz zwischen Simmel und Durkheim (vgl. Kapitel 7.2.6.1 und 9.1 in diesem Buch). Auch wenn Simmels kulturprotestantisch geprägte Annahme des eigenverantwortlichen Auf-SichGestellt-Seins des Individuums vor Gott eine entsprechende Konzentration des religiösen Bewusstseins nahelegt, hat Simmel die Erlebnisintensität nie systematisch in seine Religionstheorie inkorporiert. Sinn und Zweck dieses Abschnittes war es, zwischen Religion und Religiosität zu unterscheiden und Religiosität als ein Leben zu beschreiben, dessen Ausformungsund Objektivationsprozesse nicht auf das gängige Gebiet der Konfessionalität beschränkt sind. Über das Illustrationszwecken dienende Beispiel des Ersten Weltkrieges bin ich gleichzeitig auf den Vitalgrund des religiösen Erlebens und Handelns gestoßen: der Produktion einer Einheit von Leben und Form. Diesem widme ich mich nun eingehender zu. 7.2.2 Die Einheit von Leben und Form Wie bereits erwähnt, lehnt Simmel Theorien ab, die nur bestimmte, inhaltliche Gründe zur exklusiven Erklärung des religiösen Erlebens heranziehen, wie beispielsweise Furcht, Moral oder die Unerklärlichkeit der Welt. Sie können gleichwohl jeweils Grund von Religion sein. Ein die spezifischen Inhalte umfassender, einheitlicher Grund des Religiösen muss daher allgemeiner, formaler Natur sein. Ich vermute ihn im allgemeinen Dualismus von Leben und Form, den das religiöse Apriori dann in eigenen Formen – religioiden Mischformen einerseits und der ausdifferenzierten, eigenlogischen Form der Religion andererseits – traktiert, um auf das ganzheitliche Leben (er-)lösend zurückzuwirken. Entsprechend ist es zu verstehen, wenn Simmel sagt: »Die umfassendste Kollision zwischen der Gesellschaft und dem Individuum

18 Diesen kleinen, aber feinen wie wichtigen Literaturhinweis verdanke ich der Lektüre Daniela Motaks (2014).

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scheint mir nicht auf einen einzelnen Interesseninhalt zu gehen, sondern auf die allgemeine Form des Einzellebens.« (DR: 87; Hervorhebung PB) Der Dualismus ist das Material, die Ressource, von dem und an dem es, als apriorische Form des Lebens, lebt und eine Form ausgestaltet. Im Vergesellschaftungsprozess meint Simmel beispielsweise, eine »Disposition dieser Form« feststellen zu können, »zu Ort oder Gegenstand der religiösen Stimmung zu werden.« (Ebd.: 64). An anderer Stelle schreibt Simmel in ähnlichem Sinne, dass »in gewissen soziologischen Relationen Gefühlsspannungen und Bedeutungen [liegen], die sie zur Aufnahme in die religiöse Form prädestinieren.« (Ebd.: 59) Das Zitat legt eine Eignung bestimmter sozialer Inhalte zur religiösen Umformung nahe, ein Punkt, den Simmel meines Wissens in seiner Religionstheorie allerdings nie systematisch ausgearbeitet hat. Wie ich im lebenssoziologischen Kapitel bereits erwähnte, gehört der Dualismus zwischen Individualität und der Form des Sozialen zu den Konstitutionsbedingungen von Vergesellschaftung. In genau diesen Bedingungen der Vergesellschaftung scheint Simmel auch den konstitutiven Keim religiöser Erfahrung zu sehen. Eine Gemeinschaft mag ein Individuum noch so vereinnahmen – »der Einzelne fühlt, daß er etwas für sich ist«, weswegen »die vereinheitlichende Kraft, die ihn mit anderen zusammenschweißt, sich um so schärfer markieren [muss]« (ebd.: 77-78; Hervorhebung PB). Die Ausführungen Simmels legen nahe, dass es sich um eine unmittelbare, körperlich-sensuelle Erfahrung von eigener Individualität handelt. An der Form individueller Entelechie entlang verläuft die Grenze der Total-Absorption lebendiger Individualität durch die Indifferenz des Kollektivs. Qua Form der Individualität entzieht sich das Leben der umfassenden sozialen Einheit, umgekehrt aber übergreift die Gruppe das Individuum: Die soziale Gruppe wirkt zwar auf den Einzelnen als Einheit, ist aber als solche nicht sinnlich fassbar. Was wahrzunehmen ist, ist allein die Summe lebendiger Körper, und genau diese Erfahrung gibt nach Simmel »oft genug« einen Grund »zu mystischer Deutung alles sozial-überindividuellen Lebens«, die »eine religiöse Reaktion hervorruft« (ebd.: 85-86). Das dualistische Verhältnis baut ganz und gar auf der Paradoxie von »Einheit« und »Gegenüberstellung«, d. h. auf einer nicht-tilgbaren Differenz, und diese Differenz wird erfahren und zum Gegenstand religiöser Umformungsprozesse. Ein anderes, nun bereits bekanntes Begriffspaar zur Begründung von Religiosität findet Simmel in der Dualität von Freiheit und Bindung (vgl. ebd.: 88-89). Empirisch, so Simmel in seinem Religionsbuch, würden soziale Beziehungen in variierendem Ausmaß freiheitliche und das Individuum bindende Charakteristika aufweisen. Wir sind nie ganz gebunden – es komme auf den »Preis« an, den wir zu »bezahlen« bereit sind (ebd.: 89) –, wir sind aber auch nie ganz frei von Bindungen – ein solcher Schein wäre eher mangelnder Einsicht in »die wirkliche Struktur des Verhältnisses« geschuldet (ebd.: 89). Diese dualistische Struktur des Zugleichs von Freiheit und Bindung in sozialen Wechselwirkungen mache diese »zur Aufnahme und Ausgestaltung der an sich formlosen, bloß daseienden religiösen Grundbeschaffenheit wie vorgebildet« (ebd.: 89). Für sich genommen bezeichnet das religiöse Apriori aber die Einheit der Unterscheidung von Freiheit und Bindung: »ein rein inneres Gespannt- und Entspanntsein der Seele, ein Schweben zwischen grenzenlosem Sich-Erweitern und Gepreßtheit des Lebens, das sich nirgendwohin entladen kann, ein logisch gar nicht zu deutendes Zusammen von Macht und Ohnmacht.« (Ebd.: 89) Freiheit und Bindung bezeichnen selbst wiederum nur in der Form des Begriffs unvollständig das, was in

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der Unmittelbarkeit des Lebensprozesses die dualistische Einheit von Leben und Form ist. Damit tut sich nun eine interessante Möglichkeit der Identifikation von Leben und Religiosität auf. Religiosität – ich fasse zusammen – habe ich mit Simmel als die erlebte Einheit und Gleichzeitigkeit von nur in der begrifflichen Analyse als solcher zu fassender Gegensätze beobachtet. Aber: Ein »bestimmter Spannungsgrad des Gefühls« (ebd.: 64) bleibt, unabhängig vom begrifflichen Zugriff – denn darin, in diesem Spannungsgefühl, besteht die Einheit des Religiösen. Mit der Bildung von Widersprüchen und Gegensätzen wird bereits das Feld der Logik betreten. Die Logik besitzt aber selbst eine »metaphysische Wurzel« – das Leben (LA: 235). In der »Lebensanschauung« ist der Dualismus von Leben und Form einerseits nur ein begrifflicher, jedenfalls sofern er durch den »Intellekt« (ebd.: 227) in die Unterscheidung der sich einander widersprechenden Komponenten Leben und Form zerlegt wird (vgl. ebd.: 228). Andererseits aber scheint unabhängig von der Intellektualisierung eine innere, nur noch fühlbare Spannung doch real – in »der Tiefe des Lebensgefühles liegt jene Zweiheit eingebettet, nur daß sie hier freilich von einer Lebenseinheit umgriffen [wird]« (ebd.: 227). Und weiter, ganz im Duktus religiöser Vereinheitlichung: »Wir sind nicht in grenzenfreies Leben und grenzgesicherte Form geschieden […]. Vielmehr, das Grundwesen des Lebens ist eben jene in sich einheitliche Funktion, die ich symbolisch und unvollkommen genug, das Transzendieren seiner selbst nannte und die das unmittelbar als ein Leben aktualisiert, was dann durch Gefühle, Schicksale, Begrifflichkeit in den Dualismus von kontinuierlicher Lebensströmung und individueller geschlossener Form gespalten wird.« (Ebd.: 228)

In Semantik und Idee ähneln sich das »grenzfrei und grenzgesichert« – oder auch das Mehr-Leben und Mehr-als-Leben – der Lebenseinheit und das »Schweben zwischen grenzenlosem Sich-Erweitern und Gepreßtheit des Lebens« als Wesen der Religion auf recht verblüffende Weise.19 Die lebensphilosophische These Simmels, wonach die Transzendenz dem Leben immanent ist, könnte so rückwirkend beitragen zum Verständnis des religionsphilosophischen Topos von der Transzendenz religiöser Erfahrung; und, konfessioneller beschnitten: der Transzendenz des Reiches Gottes, auf das ich später zu sprechen komme. Die Selbsttranszendenz in eigengesetzliche Gebilde ist das Wesen des Lebens. Es objektiviert sich in Formen. Die Gesetzlichkeit der Form ist die Objektivation eines apriorischen Prinzips auf der Ebene der Individualität. Das Leben, obgleich ihr Schöpfer, ist abhängig von der umfassenden Form, an sie gebunden, zugleich ist die – wie auch immer im Empirischen geartete – Bindungsform die Bedingung individueller Freiheit. Der das Leben konstitutive Akt der Selbstüberschreitung in die Form der Überindividualität scheint das genuin religiöse Moment zu sein, aus dem es zur Bildung religiöser Formen kommt. Auch Durkheim sah den Grund für die Religion in der Selbsttranszendenzerfahrung des Individuums durch die Gesellschaft (vgl. Durkheim 2007: 35). Für ihn war es »nicht zweifelhaft, daß eine Gesellschaft alles hat, um in den Geistern, allein durch

19 Carl-Friedrich Geyer hat bereits die Hypothese aufgestellt, wonach bei Simmel »die reine Religiosität […] identisch mit dem absoluten Leben [sei]« (Geyer 1991: 189; Hervorhebung im Original). Geyer erkennt meines Erachtens die Totalitätsfunktion von Religiosität.

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ihre Wirkung auf sie, das Gefühl des Göttlichen zu erwecken; denn sie ist für ihre Mitglieder das, was ein Gott für seine Gläubigen ist.« (Ebd.: 307) Durkheim beschritt letzten Endes aber einen anderen Weg als Simmel: Für ihn entstammten die religiösen Kräfte der Gesellschaft, nicht dem Individuum. Bei Simmel ist die Transzendenz dem – stets individuellen – Leben immanent. Darauf komme ich später zu sprechen (vgl. Kapitel 8.2.6.1 dieses Buches). 7.2.3 Die Form des Absoluten Am Vitaldualismus von Leben und Form setzt die religiöse Formbildung an. Damit ist aber noch nichts gesagt über das Objektivationsverhältnis, welches ein religiöses Leben als Leben auszubilden hat, denn das Leben kann nur sein, indem es sich objektiviert in Formen. Die Konstitution einer differenzierten Form bedeutet bei Simmel die Konstitution eines eigenen Gegenstandsbereiches, an dem das Leben sich »abarbeitet«. Einem bestimmten geistigen Formungsprinzip entspricht immer eine bestimmte Objektivationsform, in der die Elemente oder Inhalte des Daseins nach einem spezifischen Ordnungsprinzip angeordnet werden. Die unterschiedlichen Prinzipien wirken empirisch zwar zusammen. Die Herauspräparierung eigenlogischer Gegenstandsbereiche bzw. Formungskräfte ist einerseits analytischer Natur, andererseits aber – ich verweise auf die Ausführungen im lebenssoziologischen Kapitel – beruht die analytische Differenzierbarkeit von Ordnungen auf einem historischen Differenzierungsprozess. Diese ›Formvorschrift‹ gilt auch für das religiöse Apriori, allerdings in einem sehr spezifischen Sinne. Weil meiner These nach die Funktion von Religion in der Herstellung einer Einheit zwischen Leben und Form liegt, werde ich argumentieren, dass Religion ihrer Idee nach nicht bloß eine gleichrangige Kulturform neben anderen ist – wie Wissenschaft oder Kunst –, sondern einen umfassenden, die ganze Lebensführung des Individuums erfassenden Charakter besitzt; was jedoch nicht gleichzusetzen ist mit der – vom Ideal abweichenden – Realität konfligierender Interessensphären, wie Simmel es seinerzeit noch beispielhaft im institutionellen Spannungsfeld von Staat, Kirche und Wissenschaftsbetrieb beobachtet hat. Die Annahme ist dem Prinzip nach vergleichbar mit einer Argumentation Max Webers in seiner »Protestantischen Ethik«: Der Rationalisierungsprozess der Religion führt über die Lutherische Reformation zur Ausgestaltung in der calvinistischen Prädestinationslehre, welche eine allein am Heilsgewinn ausgerichtete Lebensführung verlangt (vgl. Schulz-Schaeffer 2010: 259; Krech 1995. 317). Der Idealtypus der puritanischen Lebensführung ist nach Weber die »zum System gesteigerte Werkheiligkeit« (Weber 1988a: 114; Hervorhebung im Original). In der Gegenwart dagegen wird die Religion eine Wertsphäre neben anderen, mit denen sie im Konflikt liegt (vgl. Tyrell 1993b; Krech 1995: 317-20). Noch Hans Joas argumentiert für die soziologische These, der gemäß Religion einen alle Sphären durchdringenden Regulierungsanspruch hege (vgl. Joas 2017: 416-17). Interessanterweise argumentiert er dabei ausdrücklich gegen eine ›klassische‹ Theorie funktionaler Differenzierung.20

20 Joas im Wortlaut: »Die Vorstellung von der Religion als Wertsphäre einer Gesellschaft, gleichrangig mit allen anderen, oder als ein Funktionssystem, in Analogie zu allen anderen,

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Um den Konstitutionsakt von Religion nachvollziehen zu können, hilft der Vergleich mit der Konstitution des Sozialen. Vergesellschaftungsbeziehungen konstituieren sich über die Wechselwirkung mit einem »Du«. Soziale Formen der Wechselwirkung entstammen einem schöpferischen Akt des individuellen, geistigen Lebens, die in und mit diesem Akt sich aber aus diesem Leben verselbständigen und es umfassen. Einem zunächst bloß körperlich-materiellen Gegenüber wird die Eigenform individueller Entelechie übertragen, die genauso individuelle Form des Lebens ist, wie man selbst. Ähnlich und doch ganz anders die Objektivation in der Religion. An der Stelle der Beziehung zum »Du« steht nun die Beziehung zum »Absoluten«: »In der Hauptsache«, so Simmel, sei »das objektiv geistige Gebilde der Religion […] die Gestaltung des religiösen Lebens, das ein Prozeß, eine Daseinsart ist, und seine Inhalte, die ›Glaubensartikel‹, an den Gegebenheiten weltlicher Existenz gewinnt. Es ist die Art jenes Lebens, sich in der Form des Absoluten zu objektivieren, und so entreißt es gleichsam den sozialen Tatsachen (ebenso wie anderen Lebensgegebenheiten) ihre Formen und läßt sie in die Absolutheit transzendieren – und damit auch die immerzu erwiesene Möglichkeit gewinnend, auf die irdisch relativen Tatsachen weihend, erhöhend, sie gleichsam ins Herz treffend zurückzuwirken.« (DR: 112-13; Hervorhebung im Original)

In Termini der Formen der Wechselwirkung bedeutet dies: Das religiöse Individuum objektiviert sich in einem Absoluten. Beide stehen sich in einer Wechselwirkungsbeziehung gegenüber. Zugleich aber – dies ist die logische Bedingung, die »Formvorschrift« des Lebens – ist das Absolute eine das individuelle Leben umfassende Form, die das Individuum nach eigenen Gesetzen steuert – ausnahmslos, weil absolut. Die empirischen Inhalte – die in anderer Perspektive soziale Formen sein können – werden zum Material der Formbildung eines Absoluten. Der »Transzendenzbegriff« scheint einerseits synonym und austauschbar mit jenem des Absoluten, andererseits scheint »Transzendenz« einen produktiven Weltbezug herzustellen, durch den das empirische Material gesteigert wird in die Form des Absoluten. Von Bedeutung ist es, den Begriff des Absoluten von der Relativität zu unterscheiden. Genauer gesagt, Simmel definiert das religiöse Apriori durch diese Unterscheidung: Es schafft aus den Inhalten einer – durch welche Gesetze und Prinzipien auch immer – relational strukturierten Welt ein Absolutes, das sich von allem Relativen unterscheidet: »Die fromme Stimmung neigt dazu, ihre Gegenstände, in denen

ist ihrerseits säkularistisch. Religion hat Spezifika, aber diese liegen nicht in einer kulturellen Spezialisierung aufs Religiöse. Ihr Verhältnis zur Kultur insgesamt ist nicht das einer Kultursphäre zur anderen. Gläubige und ihre sozialen Organisationen erheben Ansprüche auf die Gestaltung aller Kultursphären und Funktionssysteme, wenn sie ihren Glauben ernst nehmen.« (Joas 2017: 416; Hervorhebung PB) Joas’ Ausgangspunkt ist seine Auseinandersetzung mit der weberschen »Zwischenbetrachtung«. Soweit ich sehen kann, würden Weber-Exegeten wie Thomas Schwinn aber keinen Widerspruch zwischen Joas’ und Webers Deutung sehen: Schwinn zufolge ist Religion eine Wertsphäre neben anderen, pocht aber nichtsdestotrotz auf umfassende Anerkennung (vgl. Schwinn 2001: 445-46).

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sie sich ausgestaltet, aus aller empirischen Relativität und Maßbegrenzung ins Absolute zu rücken« (ebd.: 106). In dieser Steigerung aus der Relativität ins Absolute besteht der transzendierende Umformungsprozess des Bewusstseins; oder, anders: Das In-die-Transzendenz-Rücken ist der schöpferische Umformungsprozess der Inhalte gemäß der religiösen Form. Mag die Religion ihren inhaltlichen Grund in Vergesellschaftungsprozessen besitzen, ihrer auf ein bestimmtes Apriori zurückgehenden Eigenlogik nach ist die Form Religion nicht reduzibel auf Gesellschaft (vgl. Vandenberghe 2010: 15). Erneut stoßen wir auf eine frappierende Ähnlichkeit zur allgemeinen Philosophie des Lebens, wie sie Simmel im Kapitel »Transzendenz des Lebens« in der »Lebensanschauung« dargelegt hat. Dort »zeigt sich die Lebenstranszendenz als die wahre Absolutheit« (LA: 224); d. h. das Absolute zeigt sich in der Prozessualität des ÜberSich-Hinausgreifens; und dies ist die Seins-Einheit des Lebens. Diese absolute SeinsEinheit kann allerdings – und dies macht das Leben aus – nur sein im Werden schöpferischer Zerstörung von Formen: in der Form »der extensiven Darstellung der absoluten Einheit des Seins« (ebd.: 225). Mit anderen Worten, aus einer lebensphilosophischen Sicht ist eine absolute Seins-Einheit nur als – perpetuierter – Gestaltwerdungsprozess denkbar (vgl. HPH: 61). Vorausgesetzt, der Identität in der Semantik entspricht auch eine Identität in der Idee, weisen die Lebensphilosophie und die Religionstheorie Simmels den gleichen Referenz- und Fluchtpunkt auf, die Einheit des Seins. Die Lebensphilosophie Simmels dynamisierte die Seins-Einheit allerdings vitalistisch in der Form eines werdenden Lebens. Von hier aus gilt es zu fragen, wie weit die Konvergenz zwischen Lebens- und Religionsphilosophie reicht. Allein auf die idealtypische Reinform Religion bezogen, ist die Religionstheorie ›gottlos‹ formuliert.21 Hier besteht erneut eine Parallele zu Durkheim (2007: 51-60). In der vielleicht so abstrakt wie möglich gehaltenen, über jede Konkretion gesteigerte Semantik des Absoluten artikuliert sich die Distanznahme Simmels von jedweder konfessionellen, weil bereits inhaltlichen Fassung des Phänomens Religion. Dies widerspricht nicht dem werkgeschichtlich zu beobachtenden Faktum, dass sich Simmel in seiner religionstheoretischen (bzw. -philosophischen) Argumentation auf theologische Motive und Semantiken bezieht, und hier vor allem: christliche Semantiken und Motive. Beispielhaft dafür sind die Auseinandersetzungen Simmels mit der durch den christlichen Theologen und Philosophen Nikolaus von Kues geprägten Vorstellung von Gott als »Coincidentia oppositorum« (vgl. GLR: 295), ebenso wie jene mit der christlichen Seelenheilsvorstellung – die Simmel unterschieden wissen will vom »alten vorprophetischen Judentum« (HDS: 112) –, oder der Personalität Gottes (vgl. PG: passim). Die christliche Begriffswelt besitzt bei Simmel ihre Funktion in ihrem Beitrag zum Verständnis des Phänomens Religion (vgl. Krech 1998a: 253-54). Wie Volkhard Krech meines Erachtens zutreffend meint, gründet die »funktionale Bestimmtheit« der Religionstheorie Simmels »auf substantiellen Vorgaben aus der Vorstellungswelt der christlichen Religion« (ebd.: 253-54; Hervorhebung im Original). Die wachsende begriffliche Abstraktion der Ideenwelt monotheistischer Religionen –

21 Anders sehen es Knoblauch (1999: 65-66), Helle (1989: 25-30) und Motak (2014). Letztere sagt ausdrücklich: »We should not forget that for Simmel the idea of God remains constitutive in the stricter sense.« (Motak 2014: 135)

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und hierbei denkt Simmel in der Tat fast ausschließlich ans Christentum – nimmt Simmel als Tendenz einer Richtung, in die hin, sozusagen, man Religion extrapolieren müsste, um sie auf ihren Begriff zu bringen.22 Simmel ging den Weg von »oben her« – von der »Wendung zur Idee«. Das Christentum ist für Simmel in einem sozialund, damit korrelierend, ideengeschichtlichen Sinne Weltreligion, weil ihrem faktisch vertretenden, weltumfassenden Herrschaftsanspruch die Schaffung einer entsprechend abstrakten Idee eines allumfassenden, allmächtigen, zeitlosen und ewigen Gottes entsprach, der nicht mehr diesseitiger, sondern jenseitiger und deshalb: transzendenter Natur war (vgl. DR: 107-09). Das Maß der Abstraktion eines idealen Prinzips und das Maß der idealen wie realen Ausdehnung einer sozialen Einheit – wie auch immer im konkreten und konflikthaft durchgesetzt – bedingen einander. Ich werde dies im »Wende«-Kapitel 7.3 dieses Buches für die Religion spezifizieren. Die religiöse Begriffswelt des Christentums trägt für Simmel symbolischen Charakter: Je abstrakter und leerer der Begriff, desto näher kommt man dem eigentlichen Lebensprozess – freilich ohne ihn erreichen zu können. Korrespondierend dazu – und diametral entgegengesetzt der Methodik Durkheims – würde sich allein aus der ethnologischen Erforschung von Stammesreligionen dem simmelschen Selbstverständnis nach keine allgemeine Theorie der Religion gewinnen lassen. Umgekehrt behauptet Simmel, dass sich religiöse Phänomene der »kleinen Kreise« als solche erst ex post durch die Begriffswelt einer ausdifferenzierten (Welt-)Religion erkennen und dann, schließlich, wie auf einer logischen Stufenfolge, anordnen ließen (vgl. ebd.: 66). Analog verfährt Simmel in der »Philosophie des Geldes« mit der Geldwirtschaft. Simmels Clou ist es nun aber, mit der Lebensphilosophie über die Symbolizität religiöser Begriffswelten hinauszugreifen, wenn auch letzten Endes wieder nur unvollkommen und symbolisch.23 Dies liegt in der Logik der »Sache«, Objektivationen, Formen und Symbole als Äußerungen zu lesen, die einen Hinweis auf die Beschaffenheit des durch sie »nur« symbolisierten, aber konstitutiv zugrundeliegenden Lebens zu geben, aber selbst nicht mit dem Bezeichneten zusammenfallen. Dies gilt auch für die Vorstellung Gottes als der »Einheit des Daseins schlechthin« (ebd.: 104). Das letzte Wort zum Gottesbegriff sprach Simmel wohl in »Tod und Unsterblichkeit«, dem dritten Kapitel seiner »Lebensanschauung« (vgl. LA: 305-06, Fn. I).24 Gott als einen lebendigen Gott zu denken, so Simmel in besagter Passage, mag zwar nahe liegen, zeuge aber eher von einer anthropomorphen Projektion. In der symbolischen Form eines lebendigen Gottes würde das Absolute die Defizienz des Lebens

22 Emile Durkheim bevorzugte einen anderen Weg. Jede Gesellschaft habe religiöse Probleme zu lösen, also, so Durkheims Gedanke, könne man das religiöse Wesen in gering komplexen Gesellschaften am besten herausarbeiten (vgl. Durkheim 2007: 20-21). 23 Dieser Punkt fehlt in Krechs Feststellung, dass Simmel zur Begründung des religiösen Funktionsprinzips auf die Vorstellungswelt des Christentums zurückgreift. Er macht nicht die meines Erachtens wichtige – und hier gleich noch zu erläuternde – Unterscheidung zwischen Gott (= Symbol) und Absolutem (= Symbolisiertem). Der Begriff »Absolutes« wird nicht in Krechs Sachregister aufgeführt und findet innerhalb seiner Arbeit kaum Erwähnung. 24 In der erstmals 1910 veröffentlichten, deutlich kürzeren Version »Metaphysik des Todes« taucht die hier behandelte Stelle nicht auf.

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teilen, dem die aus ihm geschöpfte Form nie genügen könne, so Simmel. Diese selbst erzeugte Differenz zur aus sich selbst geschöpften, aber verselbständigten Form bedingt, dass das Leben nur Seins-Einheit sein kann, indem es fortlaufend wird. Und genauso wenig kann das Leben deshalb aus sich heraus zu sich – zur Seins-Einheit – kommen. Solange es lebt, wird es. Deshalb muss das Leben für Simmel bereits ein Abzug von der Idee des Absoluten sein. An die Stelle einer positiven Definition Gottes versucht es Simmel anschließend mit einer Begriffsbestimmung ex negativo, für die ihm bezeichnenderweise die Theologie der christlichen Mystik Modell ist: »Nichts aber hindert uns, ja, alles berechtigt uns, von dem Absoluten die Beschränktheit des Lebens- und Seelenbegriffes zu entfernen, ganz gleichgültig dagegen, dass sie die Grenze all unserer Möglichkeiten ist. […] Die negative Theologie der Mystik ist nach dieser Richtung hin freier und tiefer als alle frühere oder spätere Dogmatik und Religionsphilosophie.« (Ebd.: 306, Fn. I; Hervorhebung im Original)

Ähnlich und in Anlehnung an die Mystik argumentierte Simmel bereits zuvor an anderer Stelle (vgl. PG: 290-91). Ein passendes Beispiel für die negative, aber gleichwohl symbolische Erfassung des Absoluten ist der Bezug Gottes auf die Zeitdimension. Simmel spricht hier vom »Enthobensein aus der Zeitbedingtheit«, der »›Ewigkeit‹ Gottes« und: Für Gott »gibt es keine Zeit« (ebd.: 296). Ähnlich, und noch um eine Nuance reicher, hat Simmel den gleichen Gedanken bereits in der »Philosophie des Geldes« formuliert. Zumindest nach der Vorstellung eines allmächtigen Gottes könne man nicht sinnvollerweise von einem Zweckhandeln sprechen. Zweckhandeln setze ein vom Zweck zu unterscheidendes und noch zu erlangendes Mittel voraus, aber für »die Macht eines Gottes kann unmöglich ein zeitliches oder sachliches Intervall zwischen dem Willensgedanken und seiner Verwirklichung bestehen.« (PDG: 258) Diese philosophische Interpretation floss auch in Simmels religionssoziologische Interpretation der Kirche ein. Denn rein von der religiösen Funktion her betrachtet, hat sich das religiöse Prinzip – die Idee des Absoluten – in der sozialen Praxis ihr Symbol zu schaffen. Die Unverkäuflichkeit des Kirchenvermögens interpretiert Simmel so nicht nur aus dem Motiv »der Habsucht«, sondern als »ein Symbol der Ewigkeit des Prinzips, in dem sie zusammenhing.« (SOZ: 592). Ähnlich, vielleicht noch passender kommentiert Simmel die Unverkäuflichkeit des Kirchenvermögens bereits in der »Philosophie des Geldes« als »ein Symbol der allumfassenden Absolutheit und der Ewigkeit des Prinzips, auf dem die Kirche sich gründete.« (PDG: 312) Korrelierend zur Zeitdimension interpretierte Simmel das Verhältnis der Kirche zur räumlichen Dimension als »unräumlich und deshalb, über jeden Raum sich erstreckend, von keinem ein gleich geformtes Gebilde ausschließend.« (SOZ: 693) Das bis hierhin Gesagte modifiziert die Hypothese über die Funktion der Religion. Religion besitzt seinen Bezugspunkt in der absoluten Einheit des Dualismus von Leben und Form. Ihrer Idee nach steht diese Einheit jenseits des Dualismus von Leben und Form. Diese Einheit wird nicht, sie ist – ohne Abzug. Zugleich konstituiert die absolute Einheit aber auch eine praktisch wirksam werdende Form des Lebens, innerhalb dessen das religiöse Individuum handelt und erlebt. Die Realform der Idealform ist eine dualistische. Diese Folgerung ist eine Implikation aus Simmels Lebensphilosophie: Denn das religiöse Apriori ist eine Formungskraft des individuellen Lebens, durch welche es erst ein religiöses Weltverhältnis herstellen kann. Religion

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ist Leben, folglich weist das religiöse Individuum einen bestimmt gearteten Objektbezug auf. Sehr plastisch ausgedrückt: Mit den empirisch gegebenen Inhalten passiert etwas, sie werden geformt und umgeformt, und erst dadurch, als Geformtes, bilden die empirisch gegebenen Inhalte die Elemente einer nach eigenen Gesetzen regulierten Welt der Religion. Es gilt dann ferner, die Idee vom Absoluten zu unterscheiden von der praktisch-symbolischen Bezugnahme auf das Absolute, die ein Leben ist. Wie sich das Simmel genau vorstellt, zu dieser Frage möchte ich im Folgenden eine Analyse des Objektivationsaktes des religiösen Individuums in sein absolutes Gegenüber widmen: der Transzendenz. 7.2.4 Transzendenz: der Konstitutionsakt religiöser Objektivation Simmel unterscheidet »drei Segmente des Lebenskreises«, die der religiösen Überformung obliegen: das »Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal, zur umgebenden Menschenwelt.« (DR: 48; vgl. Laermans 2006: 483-84). Von diesen drei Dimensionen religiösen Erlebens werde ich zwei herausgreifen, um das Funktionsprinzip der religiösen Umformung materieller Inhalte in ein absolutes Objekt zu veranschaulichen: die Natur und das Soziale. Zunächst widme ich mich der individuellen Beziehung zur Natur. Im Verhältnis zur Natur oder – was für diesen Fall als synonym behandelt werden darf – zum Kosmos befindet sich das Individuum in einer ähnlich dualistischen Lage wie in den Vergesellschaftungsprozessen. Diesen Vergleich zieht Simmel selbst im »Exkurs« seiner »Soziologie«.25 Dort heißt es, dass wir uns »einerseits in die Natur eingegliedert [wissen], als eines ihrer Produkte«, »die Natur, mit aller ihrer unleugbaren Eigengesetzlichkeit« umfasse uns (SOZ: 54; Hervorhebung im Original). Als Element einer nach Naturgesetzen ablaufenden Welt unterliegen unsere Bewegungen vollständig der physikalischen Determination. Eine von diesen Gesetzen irgendwie unabhängig geartete Eigenbewegung oder ein Eigen-Sein besitzt das Individuum aus dieser Perspektive nicht. Andererseits aber, so Simmel, habe »die Seele das Gefühl eines von all diesen Verschlingungen und Einbeziehungen unabhängigen Fürsichseins, das man mit dem logisch so unsichern Begriff der Freiheit bezeichnet« (ebd.: 54; Hervorhebung im Original). Das Gefühl des Frei-Seins kann sich in das philosophische Postulat des Idealismus übersetzen, wonach der Mensch sich die Dinge nach seinen Gesetzen schafft: »[D]ie Natur ist nur eine Vorstellung in menschlichen Seelen«(ebd.: 54; Hervorhebung im Original) Die apriorischen Formen des individuellen Bewusstseins sind es, die aus den »Dingen an sich« erst einen deterministisch ablaufenden Kosmos herstellen. Als Entelechie gibt sich das individuelle Leben selbst »die begrenzende Form, die als Einheit zu gelten hat« (LA: 364). In dem Postulat einer aus sich selbst seienden Form des Lebens begründet sich die Behauptung individueller Freiheit: Weil das Individuum aus sich heraus eine Einheit für sich ist, erschöpft

25 Der Dualismus von individueller Freiheit und Naturgesetzlichkeit war entsprechend bereits Thema in Kapitel 6.3 dieses Buches.

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es sich nicht in der Rolle eines determinierten Elementes.26 Das individuelle Leben objektiviert sich in der Form des Kosmos, der ihm nun naturgesetzlich gegenübertritt, aber, als Form, dann wieder umfasst. Damit konstituiert sich ein paradoxes Wechselwirkungsverhältnis: Der Mensch ist Produkt des Kosmos, und der Kosmos ist ein Produkt des Menschen; sie sind getrennt und doch verbunden. An diesem wahrgenommenen Spannungsverhältnis von Freiheit und Gebundenheit können religiöse Umformungsprozesse ansetzen, die in der Idee eines göttlichen Weltenschöpfers münden können: Gott umfasst die Welt und steht ihr gegenüber (vgl. PRP: 316-18). Im inhaltlichen Detail können es unterschiedliche, mehr oder minder konkrete Erfahrungen sein, welche das Individuum zur religiösen Objektivation eines göttlichen Weltschöpfers führen. Die Wahrnehmung von vergleichsweise profanen Dingen wie Laub durchstreifenden Sonnenstrahlen oder die »Biegung eines Astes im Winde« können Grund religiösen Erlebens werden (DR: 50). Die Natur erscheine einerseits als uns gegenüber etwas »ganz Indifferentes« und als »schreckhaft undurchdringliche Dunkelheit«, dann aber wieder als uns »durchsichtig und zugängig« (ebd.: 50). Wir können diese Eindrücke ästhetisch wie intellektuell verarbeiten; wir können ergriffen sein (vgl. ebd.: 50). Religiös empfinden wir, wenn wir der Natur gegenüber »eine gewisse Spannung oder einen Schwung« empfinden, »eine Demut oder Dankbarkeit«, wie auch »ein Ergriffensein, als spräche durch ihren Gegenstand eine Seele zu uns« (ebd.: 51).27 Die Welt einer ausdifferenzierten Religion wird dann betreten, wenn das intensive, aber noch diffuse religiöse Naturerlebnis objektiviert wird in die Wahrnehmung der Naturordnung als die Schöpfung eines den singulären Phänomenen transzendenten, sie alle umfassenden Gottes. Das eigenlogische Kondensat dieses Transzendierungsprozesses meint Simmel im teleologischen Gottesbeweis beobachten zu können: Die Schönheit und Perfektibilität der Natur ist Ausdruck der Schönheit und Perfektibilität Gottes – obgleich dieser religiöse Umformungsprozess ursprünglich unsere Schöpfung ist: »Was man als den teleologischen Gottesbeweis bezeichnet hat: daß die Schönheit, Formung, Ordnung der Welt auf eine zweckmäßig bauende absolute Macht hinwiese, – ist nichts als die logische Gestaltung dieses religiösen Prozesses.« (Ebd.: 51) Der religiöse Konstitutionsakt besteht hierbei darin, den Naturempfindungen eine eigene Objektgestalt zu geben: Schönheit, Ordnung – das ist Gott; Erregung, Demut und Dankbarkeit – diese Gefühle sind dann Gefühle gegenüber Gott. Eine von der aus Naturgefühlen gespeisten Gottesvorstellung unabhängige Quelle religiöser Gotteskonstruktion ist die Vorstellung von Gott als unverursachter Erstursache des Seins (ebd.: 48-50). Diese führt Simmel auf die religiöse Umformung unseres Kausalitätsaprioris zurück. Kausalität ist eine schöpferische Kraft, deren objektiviertes Prinzip wir in der Welt wiedererkennen in der Form eines nach Ursache und Wirkung ablaufenden Naturgeschehens. Die Konstruktion einer göttlichen Erstursa-

26 Dieses Gegenüber-Verhältnis zum Kosmos lässt sich konkret und sinnlich in der Form des individuellen (Augen-)Blickes zu Himmel und Sonne hin verstehen, »zu diesem Allumschließenden und Weltbeherrschenden.« (SOZ: 731; Hervorhebung im Original). 27 Nicht unähnlich ist Hans Joas’ Beschreibung von »der Erfahrung ekstatischer Vereinigung mit der Natur.« (Joas 2004: 18). Joas sieht den Grund für Religion ebenfalls in »Erfahrungen der Selbsttranszendenz.« (Ebd.: 17)

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che als Übersteigerung empirischer Verhältnisse – »eine Hypertrophie des Kausaltriebes« (ebd.: 48-49) – zu betrachten, diese These hält Simmel zwar nicht für falsch, aber für unvollständig, und zwar aus dem gleichen Grund, mit der er die FeuerbachThese für zu weit gegriffen hielt, wonach von der Fiktion religiöser Inhalte auf die Fiktion des religiös begehrenden Geistes geschlossen werde. Denn die Beobachtung einer religiösen Übersteigerung bestimmter Inhalte in eine absolute Einheit sage nichts aus über den Grund für diese Übersteigerung. Es gebe keine logische Notwendigkeit, aus den empirisch beobachtbaren Verhältnissen, dass b auf a, c auf b, d auf c folgt usw., auf einen sich der Beobachtbarkeit entziehenden transzendenten Schöpfergott zu schließen. Von der Beobachtbarkeit in die Nicht-Beobachtbarkeit zu gehen stellt einen qualitativen Sprung dar; und diese Unterscheidung ist es zugleich, an der Simmels philosophische Erklärung für die Vorstellung vom göttlichen Erstverursacher ansetzt. Die kausal miteinander in Relation gesetzten Ereignisse sind nicht identisch mit dem Apriori selbst. Was wir erkennen, sind immer konkrete Ursachen und eine konkrete Wirkungen; d. h. uns zugänglich sind jeweils spezifische Anwendungsfälle unseres epistemischen Apparates. Kausalität als transzendentales geistiges Prinzip selbst wird nicht sichtbar, kann es auch nicht, weil es sich in keiner bestimmten Summe spezifischer Anwendungsfälle erschöpft; es ist, solange wir leben. Also: Kausalität ist die Differenz zwischen der nicht-sichtbaren, unerschöpflichen Form und den sichtbaren, bestimmten Inhalten. Diese Differenz bestimmt unseren Kausalzugriff, und an ihr setzt Religiosität an: »Wenn wirklich Gott als Weltschöpfer dem Fortsetzungszwang der Ursachenreihe entspringt, so liegt das religiöse, zum Transzendenten aufstrebende Element schon gleich in den niederen Stufen des Kausalprozesses. […] [A]llein außerdem bringt der rastlose Rhythmus dieser Bewegung einen Ton von Unbefriedigung an allem Gegebenen mit sich, von Degradierung jedes einzelnen zu verschwindender Nichtigkeit in einer unermeßlichen Kette, – kurz, ein Klang aus der religiösen Tonart schwebt von vornherein in der Kausalbewegung mit.« (Ebd.: 49-50; Hervorhebung PB)

Der Form nach gleicht die hier für religiöses Erleben ausschlaggebende Unterscheidung »Einzelnes«/»unermessliche Kette« jener von individuellem Leben und der das Leben umfassenden Form. Die religiöse Konstruktion einer göttlichen Erstursache schließt die Differenz zwischen konkreter Anwendung und dem unaufhörlich fortschreitenden Prozess. Dieser Konstruktionsprozess funktioniert für Simmel so, dass das Kausalschema als solches von jeder spezifischen Bindung an materielle UrsacheWirkungsbeziehungen gelöst wird und dann, qua Religiosität, als reine Form der Kausalität selbst schöpferisch wird: »Insoweit aber der Kausaltrieb ohne solche Einzelanregung wirkt, nicht ein singulär Gegebenes aufnimmt, sondern als reine Funktion sein Objekt produziert, ist dieses Objekt das absolut Allgemeine, als undifferenzierte Energie kann er nur die Ursache des Seins überhaupt zu seinem Inhalt machen.« (DR: 76; Hervorhebung PB)

In der Empirie kann die ursächliche Erklärung einer bestimmten Wirkung selbst wieder zum Ausgangspunkt einer Erklärung werden – ad infinitum. Die Erstursache Gott ist das Symbol für die diese zeitlich und sachlich unendlich fortführbare Reihe um-

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fassende absolute Einheit; dies aber, indem in Symbol und Begriff Gottes beobachtbar wird, was ansonsten unbeobachtbar ist, das Apriori der Kausalität. Das religiöse Apriori formt aus der Reinform der Kausalität ihre Objektivation in einer absoluten Ursache. Die Transzendenz Gottes ist dann nur ein anderer Ausdruck für die Konstruktion eines von jeder bestimmten Materialität gelösten Objektes. Es ist religionstheoretisch durchaus von Bedeutung, dass Simmel nicht-soziale Gründe religiöser Objektivation anerkannt hat.28 Simmel fällt damit nur teilweise unter das Urteil, welches Bronislaw Malinowski wie Wilson Dallam Wallis über die religionssoziologischen Hypothesen Emile Durkheims fällten: dass Religion wie Religiosität keine auf Sozialität zu reduzierenden Phänomene seien (vgl. Malinowski 1948: 37-38; Wallis 1914: 264-66). Religiöse Erlebnisse mache das Individuum auch und – bei Malinowski – gerade losgelöst vom Kollektiv: »Everyone who has experienced religion deeply and sincerely knows that the strongest religious moment come in solitude, in turning away from the world, in concentration and in mental detachment, and not in the distraction of a crowd.« (Malinowski 1948: 38) Trotzdem muss festgehalten werden, dass soziale Beziehungen für Simmel von Beginn bis Ende seiner Studien zur Religion die bedeutsamste Quelle religiösen Handelns wie Erlebens darstellen.29 Der Bedeutungsvorrang von Vergesellschaftungsprozessen zeigt sich bei Simmel quantitativ darin, dass die Monographie »Die Religion« sich fast ausschließlich mit der Analogie und Formähnlichkeit der Beziehungen beschäftigt, in der Gesellschaft und Religion zum individuellen Leben stehen. Gottesvorstellungen korrelieren so beispielsweise mit gesellschaftlichen Strukturen, oder präziser: mit der Verhältnisform zwischen individuellem Leben und sozialer Form. Bereits in der »Moralwissenschaft« formulierte Simmel, dass in »der Hauptsache aber und namentlich in der moralischen Beziehung zur Gottheit […] es möglich sein [wird], die psychologische Seite des religiösen Verhaltens in die gleiche des sozialen Verhaltens aufzulösen.« (EM I: 423) Lediglich ein von den Vergesellschaftungsprozessen zu unterscheidender »gewisser Rest« werde »freilich bleiben, insofern eine direkte Abhängigkeit des Einzelnen von der physikalischen Natur besteht, die gleichfalls entweder besondere Gottheiten oder bestimmte Seiten der einen Gottheit hervorrief.« (Ebd.: 423) Das zentrale religionstheoretische Motiv des Seelenheils wie den Formwandel von Gottesvorstellungen setzt Simmel in eindeutige Abhängigkeit zur Sozialitäts-Dimension. Mehr dazu später in Kapitel 8.3 in diesem Buch. In der Methode identisch verfährt Simmel nun mit Blick auf die religiöse Umformung von Vergesellschaftungsprozessen in transzendente Objektivationen. Ein von Simmel in seiner »Religion« breiter behandeltes Beispiel stellt die Umformung des individuellen Glaubens an andere Individuen in den religiösen Glauben an Gott dar. Konkret unterscheidet Simmel in »Die Religion« den praktischen vom theoreti-

28 In Volkhard Krechs Buch über Simmels Religionstheorie findet sich lediglich ein kurzer Hinweis auf die nicht-soziale Dimension der Religiosität (vgl. Krech 1998a: 233). 29 Meines Wissens nach hat sich die Rezeption der Religionstheorie Simmels auch (fast) ausschließlich auf die soziale Dimension beschränkt. Die simmelschen Überlegungen zum Schicksal sind vor wenigen Jahren – unter anderem – Gegenstand eines Aufsatzes von Robert William Button (2012) gewesen.

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schen Glauben. Letzterer ist intellektueller Natur und steht zwischen Wissen und Nicht-Wissen, d. h. etwas wird geglaubt bzw. ausdrücklich nicht geglaubt, weil es empirische oder logische Gründe gibt (oder umgekehrt, weil sie fehlen). Aus dieser Perspektive kann es eine intentionale Bezugnahme auf Gott geben: Ob (und wenn ja, welcher) Gott existiert, obliegt einer inhaltlichen Argumentation, auf die hin die Existenz angenommen werden kann oder nicht. Dieser Zugang zu Gott ist nichtreligiöser Natur (vgl. DR: 69-70). Von dem theoretischen Glauben unterscheidet Simmel den praktischen Glauben. Dieser steht »jenseits der Frage von Beweis und Widerlegung« (ebd.: 70). In der »Philosophie des Geldes« verläuft der praktische Glaube »überhaupt nicht in der Richtung des Wissens« (PDG: 216), in der »Soziologie« bezeichnet Simmel denselben Glauben als »jenseits von Wissen und Nichtwissen« liegend (SOZ: 393, Fn. I).30 Wie Simmel meint, würde ohne diese Form des Glaubens »die Gesellschaft, wie wir sie kennen, nicht bestehen« (DR: 73; ähnlich PDG: 215).31 Seine handlungspraktische Funktion besitzt der Glaube in der Substitution von Unsicherheit durch Sicherheit: »Wenn wir an einen Andern oder Gott glauben, so bedeutet dies, daß die Unruhe und Unsicherheit, die zu fühlen unser allgemeines Schicksal ist, nach der Richtung dieser Wesen hin einer Festigkeit Platz gemacht hat: ihre Vorstellung ist ein Quietiv in dem Auf- und Abschwanken der Seele, und daß wir uns im Einzelnen ›auf sie verlassen‹, ist die Projizierung dieses Sicherheitsgefühles, das unseren seelischen Zustand unter Einwirkung ihres Bildes charakterisiert.« (DR: 72)32

Darüber hinaus gibt Simmel keine weitere, brauchbare positive Definition des praktischen Glaubens, sondern bleibt vage. Der Glaube an jemand anderen beispielsweise sei so gestrickt, daß wir nicht genau sagen könnten, »was wir denn eigentlich an oder von dem andern glauben.« (Ebd.: 70; Hervorhebung im Original) Der praktische Glaube zeigt seine – als solche ja immer nur analytisch heraus zu präparierende – Wirksamkeit in der Unabhängigkeit von inhaltlichen Gründen, was, so Simmel, besonders augenfällig werde in einem der empirischen Evidenz zuwider-

30 Unter Bezugnahme auf die Überlegungen Simmels machte Francesca Montemaggi den empirischen Test in einer evangelikalen Gemeinde (vgl. Montemaggi 2017b). Während die inhaltlich-propositionale Dimension des Glaubens – Wissen oder Intellektualität nach Simmel – von untergeordneter Bedeutung sei, besitze die beziehungsstiftende Funktion zu Gott und anderen Gemeindemitgliedern praktischen Vorrang. 31 Unter vergleichender Bezugnahme auf Textstellen vertritt Volkhard Krech die Hypothese, dass Simmels Theorie des religiösen Glaubens auf Ideen des spätantiken christlichen Theologen Augustinus von Hippo zurückgeht (vgl. Krech 1998a: 185-86). Treffen Krechs Überlegungen zu, hätte Augustinus einen entsprechenden Einfluss auf Simmels soziologische Theorie des Vertrauens gehabt. 32 Eine vertrauensstiftende Funktion des religiösen Glaubens findet sich auch bei Emile Durkheim erwähnt: »Jede Religion ist neben einer spirituellen Disziplin eine Art Technik, die dem Menschen erlaubt, der Welt mit mehr Vertrauen zu begegnen. Ist nicht auch für den Christen Gottvater der Bewahrer der physischen Ordnung, genauso wie er der Gesetzgeber und der Richter des menschlichen Verhaltens ist?« (Durkheim 2007: 284)

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laufenden Falle der »objektiv begründetsten Verdächtigungen« und der offensichtlichen »Unwürdigkeit dessen, an den man glaubt« (ebd.: 70). Und weiter: »Daß wir über alles Beweisen hinaus, oft gegen alles Beweisen, an dem Glauben an einen Menschen oder eine Gesamtheit festhalten, – das ist eines der festesten Bänder, mittels deren die Gesellschaft zusammenhängt.« (Ebd.: 73; Hervorhebung PB) Warum und in welchen Situationen man an jemand Bestimmtes entgegen besseren Wissens weiter glaubt, das sagt Simmel nicht. Ihm geht es um ein konstitutionstheoretisches Argument. Der religiös durchwirkte Glaube kann nach Simmel auch eine intellektuelle Argumentation zugunsten seiner Existenz motivieren (vgl. ebd.: 70). Der teleologische Gottesbeweis wäre ein Beispiel dafür: Ein religiös erzeugter Inhalt wird Gegenstand intellektueller Diskussion. Letzteres beruht auf Simmels Annahme einer energetischen Wechselwirkung zwischen den apriorischen Kräften im Individuum (vgl. PDG: 419-20; SN: 269-70). Rückwirkend deskreditieren kann die Intellektualität den religiösen Glauben aber nur dann, wenn dessen Objekt nicht mehr rein absolutes Objekt ist, sondern an der Annahme bestimmter Inhalte geknüpft ist, die der logischen oder empirischen Kritik offenstehen. Daher kann Simmel per se keine intellektuellen Schwierigkeiten mit der Tatsächlichkeit einer religiösen Lebensführung sehen. Ein weiteres Beispiel für den Zusammenhang zwischen den Energien ist die Hypothese Simmels, dass die individuelle Geldannahme des »sozial-psychologischen, dem religiösen verwandten ›Glaubens‹« an den »Wirtschaftskreise« bedarf, in dem wir uns bewegen (PDG: 215-16). Das Vertrauensproblem der Geldannahme stellt sich in zweifacher Weise: Einmal müssen wir darauf vertrauen, dass das Geld »echt« ist. Schließlich müssen wir darauf vertrauen, dass wir das angenommene Geld auch wieder ausgeben können, und zwar zu dem Kaufkraftwert, zu dem wir es erhalten haben – zumindest idealtypisch. Die symbolische Prägung von Münzen und Scheinen durch die Notenbank des ökonomischen Kreises, in dem eine Währung zirkuliert, kann nur scheinbar eine »Garantie für die Weiterverwertbarkeit des Geldes« geben (ebd.: 218). Ein kollektivistischer Durchgriff auf die Ebene der verkaufenden oder kaufenden Individuen findet nicht statt, die Individuen können frei wählen, ob und was sie gegen Geld verkaufen (vgl. ebd.: 217). Boykott und Produktionsschwankungen liegen ebenso wenig in der individuellen Souveränität des Geldbesitzers wie der schwankende Geldwert, es können Inflationen und Deflationen entstehen (vgl. ebd.: 456-57). Dies widerspricht doch ein ganzes Stück weit der individuellen Freiheit, die hinsichtlich der Geldausgabe Simmel zufolge gewährt wird (vgl. ebd.: 414). Simmel sieht darin aber nicht bloß einen Widerspruch, sondern einen dualistischen Charakter des Geldes: »Allein diese Unsicherheit und Ungleichmäßigkeit […] ist doch das unvermeidliche Korrelat der Freiheit. Die Art, auf die die Freiheit sich darstellt, ist Unregelmäßigkeit, Unberechenbarkeit, Asymmetrie […]. Die Schwankungen der Preise, unter denen der Geldlohn empfangende Arbeiter ganz anders als der in Naturalien entlohnte leidet, haben so einen tiefen Zusammenhang mit der Lebensform der Freiheit, die dem Geldlohn ebenso entspricht, wie die Naturalentlohnung der Lebensform der Gebundenheit.« (Ebd.: 456-57)

In der Bewältigung der gesellschaftlich erzeugten Unsicherheit in der Wirtschaft reicht das gewonnene Erfahrungswissen Simmel zufolge explizit nicht aus (vgl. ebd.:

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216). Es bedarf dazu »ein weiteres, schwer zu beschreibendes Moment […], das am reinsten in dem religiösen Glauben verkörpert ist.« (Ebd.: 216) Das das empirische Wissen transzendierende religiöse Moment schafft nach Simmel »ein »Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewährt«, aber der Geldbesitz gewährt diese Sicherheit als »Form und Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung.« (Ebd.: 216) Individuelles Leben und die sich verselbständigte Form der Wirtschaft finden qua religiöses Apriori zur Einheit an der konkreten, aber über seine Konkretion hinausweisenden Symbolform des Geldes. Das, was ein unkontrollierbar Selbständiges ist, wird zu Eigen gemacht. Wer Geld annimmt, hat auch wirklich den sozialen Kreis in der Hand, dessen Leistungen es symbolisiert. Der religiöse Glaube schließt damit die Lücke zwischen Symbol (=Geld) und Symbolisiertem (= Wirtschaftskreis). Ob man Simmels Vorschlag plausibel findet, werde ich hier nicht diskutieren. Ich werde das Beispiel des Glaubens in der Geldwirtschaft in Kapitel 8.5.2 in diesem Buch erneut aufgreifen. Hinter Simmels Theorie des praktischen Glaubens steckt eine lebensphilosophisch begründete Anthropologie: dass wir auf Objektivierungsverhältnisse angewiesen sind. Wir können nur sein in der Wechselwirkung mit Objekten. Auch wenn aus uns selbst stammend, ist erst ihre Eigen- und (von uns gespürte) Widerständigkeit die Art und Weise unserer Objekterfahrung. Die Verselbständigung in der Form des Objekts ist unsere eigene Art des Realitätszugangs (vgl. zu diesem Punkt ebd.: 34-35). Die Fähigkeit zur Selbst-Objektivierung gehört Simmel zufolge schließlich zur Grundausstattung des Menschen, dem »objektive[n] Tier« (ebd.: 385; Hervorhebung im Original). Will man sich Simmels Konzept der Glaubensfunktion plastisch vor Augen führen, dann vielleicht mit dem Bild eines Kleinkindes, das Laufen lernt: Es greift und tastet nach festem Halt an Möbeln, klammert, zieht sich hoch und macht dabei, in Übergängen, erste Schritte, sich dabei weiter vorsichtig an der materiellen Gegenstandswelt entlanghangelnd. Es mag die Eigenständigkeit des Laufens erlernen – nicht mehr jeder einzelne Schritt ist ein Tasten –, ist jedoch sein Leben lang auf materielle wie immaterielle Objektverhältnisse angewiesen, die seinen Weltbezug überhaupt erst konstituieren. Einerseits sorgt praktischer Glaube also für Sicherheit, andererseits lässt sich in Bezug auf das Objekt des Glaubens nichts Inhaltliches sagen. Meines Erachtens entspricht genau dies der von Simmel behaupteten Funktion, Sicherheit oder »Festigkeit« zu schaffen. Denn absolute und d. h. eben: nicht-relative Sicherheit lässt sich nur dann gewinnen, wenn der Bezugspunkt kein Inhalt in der empirischen Welt ist, deren Elemente ihre Bedeutung relational zueinander gewinnen, sei es unter dem Gesetz der Natur, der Wissenschaft oder der Ökonomie. So kann Simmel sagen: »Gott ist der Gegenstand des Glaubens schlechthin. Zu ihm läßt der Gläubige die Wurzelkraft dieser Funktion unabgelenkt und unvereinzelt kristallisieren« (DR: 72) Gott ist das allein um der individuellen »Unsicherheitsabsorption«33 willen aus dem individuellen Leben heraus geschaffene Objekt, und sonst nichts; sein Objekt-Sein besteht allein in der Ruhe und Sicherheit, mit der er auf das Individuum zurückwirkt. Als abso-

33 Den Begriff habe ich der Systemtheorie der Organisation Niklas Luhmanns entnommen (vgl. Luhmann 2000). Unsicherheitsabsorption bezeichnet nach Luhmann eine durch Entscheidung getragene Festlegung auf eine bestimmte Zukunft angesichts deren Offenheit.

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lutes Objekt ist er der inhaltlichen Kritik entzogen. Diese würde nur dann einen Angriffspunkt besitzen, wenn Gott bestimmte, inhaltliche Attribute zugeschrieben oder die religiösen Individuen an bestimmte Dogmen oder Riten gebunden würden. Der Glaube besitzt seine Referenz allein im Selbstbezug des Individuums: »Denn der Glaube ist eben ein Zustand der Seele, der zwar auf ein Außer-ihr bezüglich ist, diese Bezüglichkeit aber als ein inneres Merkmal seiner selbst besitzt.« (Ebd.: 71) Nur inhaltlich-beispielhaft, aber nicht erschöpfend ist es, wenn Simmel als Rückwirkungseffekt des geglaubten Objekts auf uns eine Steigerung unserer Kräfte, Fähigkeiten oder Talente annimmt (vgl. ebd.: 73), die Stiftung von »Vertrauen auf die Zukunft« sowie »Hoffnung« (ebd.: 75). Im Endeffekt scheint es sekundär, ob diese Rückwirkung von einem anderen Individuum oder von Gott ausgeht. Der Unterschied zwischen beiden liegt nur darin, dass das individuelle Gegenüber in der Regel nicht nur Inhalt des Glaubens ist. Das Gegenüber ist bekannt aus anderen Kreisen oder Kontexten, in denen es bestimmte Eigenschaften erworben hat, deren Herkunft nicht allein die Reinform des Glaubens ist. Eine Erwähnung verdient »der Glaube an sich selbst« bzw. das »Selbstvertrauen« (ebd.: 72). Zum Objekt ein und desselben Formungsprozesses wird das individuelle Leben selbst. Indem es an sich selbst glaubt, so Simmel, vermag das Individuum zu ansonsten nicht für möglich gehaltenen Leistungen imstande: »Wie vieles können wir nur, weil wir glauben es zu können, wie oft wird eine Begabung nur dadurch zu ihrer äußersten Grenze entwickelt, daß wir diese Grenze noch für viel weiter gesteckt halten« (ebd.: 73).34 Indem das Individuum sich selbst zum Objekt seines Glaubens macht, erlaubt die Form des Selbstglaubens die Möglichkeit eines ganzheitlich religiösen Lebens unter den Bedingungen von Zweifel und Kritik an den inhaltlichen Glaubensvorstellungen. Der Selbstglaube macht das religiöse Individuum innerlich unabhängig von diesen. Zum Beweis vergleichen wir zwei Passagen. Einmal heißt es im Religionsbuch zum Glauben an sich selbst: »Eben dies bedeutet der Glaube an uns selbst: eine im letzten Gefühl des Ich fundamentierte Ruhe und Sicherheit, ausgeprägt in der Vorstellung, daß man dieses Ich jeder Situation gegenüber siegreich bewahren und durchsetzen werde.« (Ebd.: 72) Und dies gelte gerade und unabhängig davon, »auf wie viele Irrwege er [der Glaube an uns] uns auch führen werde und wie teuer er uns auch ein unsere Leistungen vorwegnehmendes Selbstgefühl verkaufen möge« (ebd.: 73). Ich stelle diese Passage einem Auszug aus Simmels Aufsatz »Das Problem der religiösen Lage« gegenüber. Das an der nun folgenden Stelle bedeutsame Argument Simmels ist, dass gerade für diejenigen Individuen die philosophische und wissenschaftliche Diskreditierung religiöser Lehren ein Problem darstellt, die ihren Gott nicht »in sich« (PRL: 159) finden können, »denn die Masse braucht etwas in ganz anderem Sinn ›Objektives‹, als das intensive und schöpferische Individuum.« (Ebd.: 160) Dieser Vielzahl an ihr Heil in der äußerlichen Objektivität suchenden Individuen stellt Simmel die »stark religiösen Menschen« gegenüber (ebd.: 159). Diese Stär-

34 Hier gibt es eine konzeptionelle Parallele zwischen Simmel und Niklas Luhmann: »Wer Vertrauen schenkt, erweitert sein Handlungspotenzial beträchtlich. Er kann sich auf unsichere Prämissen stützen und dadurch, daß er dies tut, deren Sicherheitswert erhöhen« (Luhmann 1984: 180).

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ke artikuliert sich einerseits in der Unabhängigkeit von bestimmten Dogmen oder Lehren oder anderen, äußerlichen Sinnvorgaben; andererseits in einer starken, aus sich selbst heraus schöpferischen Kraft. Die religiöse Natur »mag den Zweifel, die unruhige Sehnsucht, die Anfechtung, den Abfall durchmachen; im letzten Grunde ist sie dennoch ihrer Sache sicher, weil das nur für sie bedeutet, daß sie ihrer selbst sicher ist. Sie findet in ihrer Selbstbesinnung eine so transzendente Seinstiefe, daß sie sie gar nicht Gott zu nennen braucht […]. Die religiöse Natur steht niemals im Leeren, weil sie die Fülle in sich hat.« (Ebd.: 158-59)

Hier gewinnt der praktische Glaube eine religiöse Natur. Simmel selbst hat diesen Bezug nicht explizit hergestellt. Lebensphilosophisch gesehen liegt die Erklärung aber auf der Hand: Als Entelechie ist das Individuum aus sich heraus Einheit. Auch wenn es nur an äußeren Inhalten zu einer Gestalt kommen kann – jede religiöse Formung bedarf eines Inhalts, an dem es seine Objektivation durchführen kann –, sind diese Inhalte doch sekundär. Auf der primären, transzendentalen Ebene besitzt die Individualität als Form des Lebens unabhängig von Inhalten einen objektiven Charakter, welcher nicht-relativer Natur ist. Auf diesen Sachverhalt hatte ich gegen Ende von Kapitel 4 in diesem Buch hingewiesen. Die Entelechie stellt für Simmel ganz offensichtlich ein Gottes-Äquivalent dar; oder, präziser, andersherum: Der Gottesglaube ist das Substitut für den Selbstglauben: »[W]er den Gott nicht in sich hat, muß ihn außer sich haben.« (Ebd.: 159) Denn: Es ist das Individuum, welches sich in ein Absolutes objektiviert. Was rückübersetzt und innerhalb der lebensphilosophischen Logik Simmels bedeutet: Das Absolute ist ein Leben. Dieser Aspekt wird im Kapitel 7.4 dieses Buches zum Tragen kommen. Solange die apriorische Formungskraft des Glaubens innerhalb von Sozialbeziehungen wirkt, handelt es sich nur um bestimmte, partikulare Anwendungen des Glaubens, der, als apriorische Energie, ein unbestimmtes Potenzial besitzt. Aus konstitutionstheoretischer Perspektive kommt es dann zum Glauben an Gott, wenn die apriorische Form des Glaubens sich löst aus den inhaltlich bestimmten sozialen Beziehungen und sich selbst objektiviert; und Gott als das absolute Objekt ist die Objektivation des Glaubens. Dieser Objektivationsakt in einem Absoluten bedarf, wie im Falle der Kausalität, des religiösen Aprioris, welches das energetische Substrat zu dieser Verabsolutierung liefert (vgl. DR: 75-77). Zweck der Überlegungen dieses Abschnitts war es, das Konstruktionsprinzip von Religion aufzudecken. Um Religion handelt es sich genau dann, wenn das religiöse Individuum sich in einem Absoluten objektiviert. Ich habe exemplarisch versucht zu zeigen, dass die Vorstellung eines göttlichen Erstverursachers oder des religiösen Glaubens an Gott dem religiösen Konstitutionsmechanismus nach diese Aprioris selbst sind in objektivierter Form, und dies funktioniert durch die Entbindung von der Relativität empirischer Inhalte. Dieses Prinzip überträgt Simmel explizit nun auf die anderen apriorischen Energien des individuellen Lebens. Gott, so Simmel, würde als die »Liebe schlechthin« bezeichnet (ebd.: 75). Anders als individuelle Liebesbeziehungen sei Gott »das reine Produkt der Liebesenergie überhaupt« (ebd.: 75) – und so weiter. Simmel geht es vorrangig um die den Vergesellschaftungsprozessen zugrundeliegenden Energien, d. h. jene Prozesse, in welchen sich die sozialen Objektivationsformen an einem individuellen Gegenüber bilden. Es ist die Aufgabe des religiö-

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sen Aprioris, diese sozialisierenden Energien der anderen Formungskräfte auf die Produktion eines absoluten Objekts zu lenken: »Dadurch wird seine psychologische Beziehung zu den gesellschaftsbildenden Vorgängen zwischen den Menschen festgestellt. Alle Funktionen, wie Liebe und Glaube, Sehnsucht und Hingebung, knüpfen von dem Subjekt, als dessen Triebe sie auftreten, Verbindungsfäden zu anderen Subjekten, das Netzwerk der Gesellschaft webt sich aus ihren unzähligen Differenzierungen zusammen, sie sind gleichsam die apriorischen Formen, die auf individuelle Anregungen hin die empirischen sozial-psychischen Sondererscheinungen ergeben. Sobald sie aber in ihrer reinen Wesenheit wirken, die nur von der religiösen Grundstimmung durchdrungen ist, frei von Beschränkung durch einen Gegenpart, so ist der absolute, der religiöse Gegenstand ihr Ziel und Erzeugnis – oder: das in ihnen liegende religiöse Moment wird jetzt frei, nur noch die Form der ›Beziehung überhaupt‹ zu Lehen tragend.« (Ebd.: 76-77)

In der bloßen Summe der zusammenwirkenden Energien geht die Gottesvorstellung nicht auf. Als absolute Einheit ist Gott das Symbol für den Konvergenzpunkt der unterschiedlichen Energien (vgl. GLR: 296-97). Die transzendente Natur dieses Konvergenzpunktes (vgl. ebd.: 296 und DR: 68) rührt gerade aus dem in der Funktionslogik liegenden Umstand, dass die Objektivationen der Aprioris sich nicht mehr auf bestimmte Inhalte beziehen, sondern eben jeden möglichen umfassen, d. h. sich in ihrer energetischen Reinform objektivieren. Die Idee dahinter ist die, dass die Produktion einer transzendenten Gottesvorstellung qua Aufhebung des partikularen, weil individuellen »Dus« eine Einheit von individuellem Leben und sozialer Form schafft, die unter den Friktionen und Unvollkommenheiten der empirischen Vergesellschaftung nicht gegeben sind: »[D]ie Gottheit [ist] gleichsam der transzendente Ort der Gruppenkräfte […], […] die in Wirklichkeit zwischen den Gruppenelementen spielenden Wechselwirkungen, die deren Einheit im funktionellen Sinne ausmachen und damit der dunklen Einheit des religiösen Seins symbolisch formverwandt sind, – [sind] im Gotte zu einer selbständigen Wesenheit geworden […]; die Dynamik des Gruppenlebens ist über ihre einzelnen Stoffe und Träger hinweg durch den Schwung der religiösen Stimmung ins Transzendente getragen und tritt von da als das Absolute jenen Einzelheiten als dem Relativen gegenüber. Die alte Vorstellung, daß Gott das Absolute wäre, während alles Menschliche relativ ist, kommt hier zu einem neuen Sinn; es sind die Relationen zwischen den Menschen, die in der Vorstellung des Göttlichen ihren substanziellen und idealen Ausdruck finden.« (DR: 112)

Dieser »Ort« der Transzendenz kann genauso wenig gegenständlich fassbar sein, wie es die Formungskräfte auf der transzendentalen Ebene im Bewusstsein der Individuen es sind. Sichtbar und der Empirie zugänglich wird immer nur eine »Zwischenwelt« oder ein »Zwischenreich«35, wo sich der Sinn von bestimmten Inhalten nur im

35 Vom »Zwischenreich […] zwischen den Begehrungen […] und der Befriedigung des Genusses« spricht Simmel in der »Philosophie des Geldes« (PDG: 57). In der »Kulturtragödie« spricht Simmel – in identischem Sinne – von »der Zwischenform der Objektivität« (TDK: 217).

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Verweisungszusammenhang konstituiert. Diese Unterscheidung zwischen Transzendenz und Immanenz bezeichnet den systematischen Punkt der Weggabelung, an dem Religion und Gesellschaft getrennte Wege gehen werden. Dazu komme ich in Kapitel 8.2.6 in diesem Buch. Wie bis hierhin ersichtlich, reserviert Simmel das Transzendenzmotiv innerhalb seiner Religionstheorie unbeachtet der Frage der funktionalen Austauschbarkeit mit dem Gottesbegriff für einen der Beobachtbarkeit sich entziehenden Punkt, der nichtsdestotrotz und gerade aus der Position dieser Unbeobachtbarkeit heraus das individuelle Handeln und Erleben zu ordnen vermag. Aufgegriffen hatte ich diesen Punkt bereits in der Diskussion des Gottessymbols: Gott lasse sich nur ex negativo definieren, da er nicht das Defizit des Lebens teilt, nur in der prozessualen Gestaltwerdung zu sein. Ich nehme dies zum Anlass für allgemeiner eingebettete lebensphilosophische Anmerkungen zum Transzendenzbegriff. Denn nicht nur die Religion zeichnet sich für Simmel durch die Traktierung des Beobachtbaren durch das Unbeobachtbare aus, sondern auch das Leben selbst. Ausdrücklich meint Simmel, »an dem Transzendieren die Definition des Lebens überhaupt zu finden« (LA: 234). Transzendenz bildet die Einheit der Unterscheidung zwischen Leben und Form bzw. zwischen dem Mehr-Leben und dem Mehr-als-Leben (vgl. ebd. 228, 232). »Transzendenz« gibt dem ersten Kapitel der »Lebensanschauung« seinen Namen (»Die Transzendenz des Lebens«), ist der Werkschronologie nach das jüngste der in der »Lebensanschauung« gereihten Kapitel, und schließlich ist das erste Kapitel laut Simmel die metaphysische Klammer für das gesamte Buch (vgl. ebd.: 236, Fn. I). Identisch wie in seiner Religionstheorie bleiben Worte und Begriffe höchstens infinitesimale Annäherungen, die das Bezeichnete aber nicht einholen können. Die augenscheinliche Nähe zwischen Religionstheorie und Lebensphilosophie ist genug, das Maß der Übereinstimmung zwischen beiden zu analysieren. Dazu lohnt es sich, noch etwas tiefer zu gehen und die beiden Kategorien der Unbeobachtbarkeit ins Auge zu fassen: Neben der Transzendenz ist dies die Kategorie der Transzendentalität. Soweit mir ersichtlich, übernimmt Simmel das Kantsche Verständnis von Transzendentalität, erweitert es aber. Als transzendental werden mit Immanuel Kant die Möglichkeitsbedingungen gegenstandsbezogener, d. h. auf ein Objekt gerichteter Erkenntnis verstanden (vgl. Kant 1998: 80-87). Die Möglichkeitsbedingungen sind nicht mit den materiellen Erkenntnissen selbst zu verwechseln, sondern liegen letzteren als Vernunftgesetze a priori zugrunde. Die menschliche Vernunft prägt der Natur ihre Gesetze des Erkennens auf, anstatt umgekehrt passiv die Eindrücke aus der Natur zur Kenntnis zu nehmen. Darin steckt ein metaphysisch begründeter Autonomieanspruch von Wissenschaft, der sich im methodisch angeleiteten und intersubjektiv überprüfbaren Experiment realisiert. Exemplarisch verweist Kant auf die Experimente Galileis und Torricellis (vgl. ebd.: 19). Simmel übernahm diese Perspektive (vgl. UBSE: passim; PDG: 34-35, 110-12). Er generalisierte sie aber, indem er den Gegenstand transzendentaler Untersuchungen einmal unter einen evolutionstheoretischen Vorbehalt stellte und ihn ferner auf den gesamten Weltbezug des individuellen Lebens ausdehnte, wobei ich Ersteres an dieser Stelle ausklammere und mich auf die Generalisierung konzentriere. Seine erkenntnistheoretischen Studien zur Religion, Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft wie auch zur Geschichtsforschung sind Beispiele dafür. Simmel generalisiert Kants These in der »Geschichtsphilosophie« so weit, dass er auch in der Sozialisation er-

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worbene Situations- und Sinndeutungs-Schemata unter den Begriff des Aprioris fasst (vgl. PGP: 237-40).36 Diese können sich als vergleichsweise spezifisch und begrenzt in den Inhalten ihrer Anwendung erweisen. Für das Rechtssystem nennt Simmel als Beispiel den Grundsatz der Beweislast des Klägers (vgl. ebd.: 239). Für die Wissenschaft nennt Simmel die Arbeitshypothese des Atoms (vgl. TGLT: 198). Je allgemeiner und weniger an spezifische Inhalte der Beobachtung gebunden, desto mehr entziehen sich Bedingungen bereichsspezifischer Erkenntnis selbst der Beobachtung. Damit verbunden hat Simmel einmal gesagt, dass die Wissenschaft in ihrer Basis metaphysisch sei, da die Arbeitsbedingungen empirischer Beobachtungen sich selbst der empirischen Beobachtung entzögen (vgl. ebd.: 199). Die Unbeobachtbarkeit teilt der Transzendentalbereich mit jenem der Transzendenz. Kant verstand unter Transzendenz eine »über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus« reichende Realität (Kant 1998: 24). Simmel folgt in seiner Lebensphilosophie dem Sinn nach der theologisch-philosophischen Fassung von Transzendenz und spricht von »Übergreifen« (LA: 223). Der Lebensphilosophie Simmels eigen ist es nun aber, dass »dem Leben die Transzendenz immanent ist« (ebd.: 224). Die Transzendenz ist Wesenseigenschaft des Lebens selbst, d. h. das Leben kann nur sein, indem es sich selbst übergreift. Simmel macht die Transzendenz zur Bedingungsmöglichkeit des Lebens: »[D]as Grundwesen des Lebens ist eben jene in sich einheitliche Funktion, [...] das Transzendieren seiner selbst« (ebd.: 228; Hervorhebung PB). Dieses Raffinement der Theorieanlage Simmels ist es, kurz gesagt, dass Simmel Transzendentalität und Transzendenz in einen ineinander verflochtenen Konstitutionszusammenhang stellt, sie aber nicht miteinander identifiziert, und dieser Unterschied ist von Bedeutung. Zunächst kann man das lebensphilosophische Konzept der »Lebensanschauung« in dem Sinne der Objektivation individuellen Lebens in Kulturformen verstehen: »Wie das Transzendieren des Lebens über seine aktuell begrenzende Form hin innerhalb seiner eigenen Ebene das Mehr-Leben ist […], so ist sein Transzendieren in die Ebene der Sachgehalte, des logisch autonomen […] Sinnes, das Mehr-als-Leben, […] das Wesen des geistigen Lebens selbst.« (Ebd.: 232)

Transzendenz ist also einmal als Verselbständigung eigengesetzlicher Kulturformen zu verstehen, innerhalb derer wir handeln und erleben. Deren Eigenlogik geht auf die transzendentale Ebene der apriorischen Formungskräfte unseres individuellen Geistes zurück. Das Handeln und Erleben innerhalb der eigengesetzlichen Gebilde prozessiert in Form der Differenz zu einem Ideal, das wir immer nur fragmentarisch realisieren. Die singuläre, bestimmte Form – einen Inhalt – können wir uns aneignen, auch mehrere, aber nicht die Form schlechthin, innerhalb derer wir handeln. Dies ist die zweite Bedeutung von Transzendenz.37 Die Form als solche – »überhaupt«, wie

36 Hier besteht eine gewisse Nähe zu Begriff und Theorie des Framings (vgl. Esser 2001). 37 Was vielleicht der Erwähnung wert ist: Diese zweite Bedeutung von Transzendenz konvergiert mit der Konstitution der Wertform, wie sie Simmel in der »Philosophie des Geldes« dargelegt hat. Die zur Überwindung bestimmte Distanz ist Bedingung für einen Wert, und

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Simmel auch zu schreiben pflegt (ebd.: 213) – ist nicht einzuholen, und darin besteht der Kern der Verselbständigung von Lebensformen, unabhängig von der spezifischen Variation dieses allgemeinen Musters. Beide Formen von Transzendenz sind wechselseitig aufeinander bezogen und konstituieren die Einheitlichkeit der Form von Transzendenz, wie auch die Kombination von Mehr-Leben und Mehr-als-Leben bereits nahelegt: Das individuelle Handeln und Erleben wird orientiert und ausgerichtet durch ein (jeweiliges) überindividuelles Ideal, an dem es sich abarbeitet. Die Ideale machen sich als Forderungen im Handeln bemerkbar, ohne auf ihr individuelles Erleben reduzierbar zu sein. Für die Geldökonomie – »wo der Zweck der Stunde so viel häufiger über die Stunde hinaus, ja, über den Gesichtskreis des Individuums hinausliegt« (PDG: 593) – zeichnet Simmel den über den singulären Akt hinausgehenden Forderungscharakter einer Form am prägnantesten nach. Das über den Gegenwartsmoment hinausdrängende Leben wäre für Simmel aber nur die symbolhaft bleibende Veranschaulichung des sehr allgemeinen Prinzips, dass das Leben sich selbst aus sich selbst heraus überschreitet, über sich hinwegtreibt, oder eben, dass die Transzendenz in der Immanenz liegt. Jede singuläre, durch die Form gesetzte Grenze ist zur Aufhebung bestimmt, die Form als solche ist aber Grundbedingung des Seins, genauso wie es umgekehrt die Überwindung der Form als solche ist. Bis hierhin aber besitzt die der »Lebensanschauung« entnommene Form der Transzendenz einen partikularen Charakter: Mag der gleiche Vorgang auch mehrmals stattfinden und deshalb allgemeinen Wesens sein, Transzendenz findet jeweils statt in der Form der Objektivation in bestimmte, voneinander differenzierte Kulturformen. Die Religion geht über diesen partikularistischen Charakter hinaus. In der Religion, so mein Argument, wird die Transzendenz selbst zur allgemeinen, eigengesetzlichen Form, an der sich das individuelle Handeln und Erleben auszurichten hat. Wie? Es ist die Leistung des religiösen Aprioris, die unterschiedlichen Energien des Individuums in eine von konkreten Inhalten gelöste Objektivation ihrer selbst zu formen. In der Transzendenz Gottes, so meine Darstellung, kommen diese apriorischen Formen des individuellen Lebens zur Einheit. Wichtig in Simmels Argumentation ist aber, dass diese Transzendenz nicht von vornherein als ein Punkt existiert, in den hi-

die Überwindung – Mehr-Leben – der Distanz realisiert einen Wert, welcher Art auch immer (vgl. dazu Kapitel 8.2.2 in diesem Buch). Es ist die Hypothese von Hans Joas, dass »Werte und Wertbindungen […] in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz« entstehen (Joas 1999: 10). Joas widmet Simmel ein ganzes Kapitel (»Die Immanenz der Transzendenz«, ebd.: 110-132). Er sieht Werte bei Simmel ausdrücklich im Leben begründet, und meint dann, die »Genesis interessiert ihn [Simmel; Anmerkung PB] spürbar mehr als die Geltung, und für eine Systematisierung der Werte hat er nie große Aufmerksamkeit gehabt.« (Ebd.: 113) Die Geltungsfrage von Werten war dabei gerade ein ganz wesentlicher Punkt, der Simmel während der Abfassung der »Philosophie des Geldes« umtrieb. Joas beruft sich vorrangig auf die »Lebensanschauung«. Auf die in der »Philosophie des Geldes« explizierte Werttheorie geht Joas nicht ein, obgleich Joas sieht, dass Simmels Werk sich nicht in ein starres Drei-Phasen-Schema einfügen lässt, sondern über die vorhandenen Differenzen hinweg Kontinuitäten aufweist (vgl. ebd.: 111).

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nein die differenten Energien zu einem absoluten Objekt geformt werden, sondern umgekehrt kommt dieser Konvergenzpunkt – konstitutionstheoretisch – ex post zustande. Mit anderen Worten: Der – symbolisch gesprochene – »Ort« Gottes ist dort, wo die apriorischen Formungskräfte zur Einheit kommen – »und muß freilich ins Jenseits fallen, da kein Punkt des empirischen Lebens diese Fülle und Divergenz der inneren Richtungslinien auf sich zu vereinigen wüßte.« (GLR: 296; vgl. dazu auch Krech 1998a: 243) Auch umgekehrt, nach »unten« hin verhält es sich so, dass die Ebene der Transzendentalität nicht bei der Partikularität nebeneinander stehender Aprioris des individuellen Weltzugriffs stehen bleibt. Vielmehr bildet das individuelle Leben als Leben aus sich heraus eine in sich geschlossene Einheitsform – die Entelechie. Wie ich bereits in Kapitel 5.5 erwähnte, kommen in der individuellen Form des Lebens die ansonsten nebeneinander stehenden Kultur- und Sozialformen erst zur Integration. Die formenden Kräfte unterstützen sich wechselseitig, sie können aber auch miteinander in Konflikt geraten, beides war Gegenstand der Kapitel 5 und 6. Dies stellt die praktische Frage nach einem das individuelle Kräftezusammenspiel koordinierenden Ideal; und genau dieses Ideal der Einheit symbolisiert die Transzendenz Gottes; d. h. die Transzendenz ist die Symbolform objektivierter Entelechie. Dies impliziert, dass es sich bei dem der Religion konstitutiv zugrundeliegenden religiösen Apriori um eine einheitliche, umfassende Lebenskraft handeln muss, die sich nicht bereichsspezifisch zuschneiden lässt. Entsprechendes liest man bei Simmel: »Weil für die ganze Vielheit des Innenlebens die religiöse Stimmung die Einheit ist, wie Gott für das Dasein überhaupt, so ist sie für den wirklich religiösen Menschen auch nicht die Weihe irgend bestimmter Augenblicke, wie man den Tag des Festes mit Rosen kränzt, die der Abend verwelkt. Sie ist vielmehr, wenigstens der Möglichkeit nach, allen Augenblicken seines Lebens gegenwärtig.« (GLR: 296-97; Hervorhebung PB)

Von Wichtigkeit ist hier erneut, sich den Bedeutungshintergrund von Simmels Überlegungen klar zu machen. Der Hintergrund seiner Religionsphilosophie bildet für Simmel gerade das Entfallen unbedingter Ideale durch die Kritik und das moderne Lebenstempo einerseits und die Frage nach neuen Quellen der Sinn- und Zweckgebung andererseits. Dies war bereits das Motiv der »Moralwissenschaft« (vgl. EM II: 30-31). Damit einhergehend beobachtete Simmel ein – tendenziell – nicht mehr länger von außen gesellschaftlich vorgegebenes Kräftegleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Sphären, sondern die an das individuelle Leben delegierte Anforderung, deren Koordination selbst zu regeln. Die Vereinnahmungsansprüche durch die Formen sind das Symptom dieser Delegation. Innere oder äußere Konflikte schlichtende, vereinheitlichende Ideale sind verloren gegangen. Und genau deshalb und daraufhin bezogen sagt Simmel, dass die – vorrangig – sozialisierenden Energien des individuellen Lebens ihren vereinheitlichenden Kreuzungspunkt nicht in der materiellen Empirie der Gesellschaft, sondern jenseitig dessen in der Transzendenz besitzen. Die religiöse Transzendenz ist die Transzendenz des individuellen Lebens selbst – kein überindividuelles Dogma; sie verschiebt sich in den Horizont seines Ideals,

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auf das hin sich sein gesamtes individuelles Leben hin orientieren kann. Die Alternative dazu, zum bloßen Spielball der Ideale der überindividuellen Gebilde aus Kultur und Gesellschaft zu werden, bleibt dabei appräsentiert. Auf der transzendentalen Ebene ist das individuelle Leben immer bereits Einheit von Leben und Form, empirisch hat es die Einheit von Leben und Form aber erst noch zu erlangen – im Werden. Zu einem Ende kommen würde der religiöse Pfad erst mit dem Ende des individuellen Lebens selbst. Nicht mehr geht es um die partikularen Formen der Selbsttranszendenz in die eigenlogischen Welten von Kultur und Gesellschaft. Dieser Formen des Mehr-als-Lebens bedarf das Leben zwar nach wie vor, aber eben nur als Pfad einer im Prozess sich realisierenden, Einheit werdenden Selbsttranszendenz im Sinne des Mehr-Lebens. Auf diese Problemform des Ideals einer individuellen Einheit von Leben und Form bezogen interpretierte Simmel die christliche Symbolik vom individuellen Seelenheil. 7.2.5 Das Seelenheil und die Metaethik des »individuellen Gesetzes« Simmel interpretierte das Seelenheilsmotiv als das die Eigengesetzlichkeit der Religion konstituierende Ideal, an dem sich das religiöse Handeln und Erleben auszurichten hat (vgl. DR: 93-104). Aus psychologischer Sicht stellt das Seelenheil den »tiefsten subjektiven Zwecke« der Religion dar (ebd.: 93). Es stellt den in die Transzendenz Gottes verlegten Zielpunkt und zugleich von diesem aus ergehenden Kernimperativ der Religion dar, die Einheit von Leben und Form zu realisieren. Auch Weber sprach, wie Simmel, von einer »Eigengesetzlichkeit des Religiösen« (Weber 2010: 341; vgl. dazu Schwinn 2001: 155). Eine ausdifferenzierte Wertsphäre Religion präpariere ein »lediglich auf die Aneignung des Heilsgutes« ausgerichtetes »religiöses Handeln« heraus, ist »wert- und zweckspezifisch« (ebd.: 156). Anders als Weber ging es Simmel dabei aber nicht um eine kulturvergleichende Zuschneidung von Erlösungsreligionen oder deren Innovation durch religiöse Virtuosen, sondern um die von allem Inhalt abstrahierende Logik der Form. Gleichzeitig blieb Simmels Heilsinterpretation ideengeschichtlich durch das Christentum geprägt, allein ein die Heilsindividualität illustrierendes Beispiel – der Rabbi Meir – ist dem Judentum entnommen (vgl. DR: 99). Bei dem Heil der Seele, so Simmel, handele es sich um »die Herausarbeitung unserer tiefsten Persönlichkeit«, sie ist die »Befreiung der Seele von allem, was nicht sie selbst ist«, das »Sich-Ausleben nach dem Gesetz des Ich«, welches »zugleich den Gehorsam gegen den göttlichen Willen bedeutet.« (Ebd.: 98-99; Hervorhebung im Original) Die Zitatreihung legt nahe, dass Simmel das religiöse Ideal identifiziert mit der metaethischen Theorie des individuellen Gesetzes. Volkhard Krech (1998a: 15557) vertritt eine ähnliche Hypothese. Simmels »individuelles Gesetz« deutete Krech als »›entzauberte‹ Fassung des christlichen Heilsbegriffs, als die ethische Variante des Religiös-Seins« (ebd.: 157).38 Dem stimme ich weitestgehend zu. Lediglich einen

38 Eine vollständige Identifikation zwischen »individuellem Gesetz« und Seelenheil wagt Krech nicht ganz. So formulierte Krech, dass in den »Überlegungen« zum Seelenheil »be-

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Unterschied zu Krech möchte ich dabei hervorheben: Sofern das »individuelle Gesetz« und das Seelenheil eine identische Form bezeichnen, ist das Heilsmotiv selbst bereits durch die ›Brille‹ der Entzauberung gelesen: Als Ideal des Lebens ist es eine Funktion dieses Lebens selbst. Erneut ist von Bedeutung, dass Simmel den durch die christliche Symbolik erreichten Abstraktionsgrad verwendet, um das Unbeobachtbare des religiösen Lebensprozesses freizulegen. Simmel interpretierte das Seelenheil ausdrücklich nicht in der Form eines inhaltlichen Dogmas der christlichen Kirche. Die institutionalisierte »Uniformität der Leistungen« und der »Schematismus« des »christlichen Lebens« hätten den ursprünglichen Gedanken Jesu Christi verzerrt (HDS: 113-14; DR: 99100)39 Simmels Interpretation schneidet Fragmente und Andeutungen – die »mit ganz anderen Tendenzen gekreuzt« sind (ebd.: 98) – heraus und formt aus ihnen das Ideal der Religion (vgl. Krech 1998a: 156). Dies entspricht einer funktionalistischen anstatt einer substanzialistischen Deutungsweise Simmels, wie es ja auch der Charakterzug seiner Kultur- und Lebensphilosophie überhaupt ist. Simmel rechtfertigt seine stilisierende Herausarbeitung von der Beobachtung der zeitgenössischen religiösen Lage her. Das von ihm herausgearbeitete Ideal vom Seelenheil, so Simmel, könnte sich »als eines der Motive enthüllen, aus denen das gegenwärtige Leben wieder instinktiv nach Religion taste, als fänden unsre tiefsten Lebensnöte in ihr, wenn keine Lösung, so doch eine Formulierung und den Trost, daß sie die Nöte der Menschheit von je gewesen sind.« (HDS: 115; vgl. auch Krech 1998a: 157) Im gleichen Jahr, in dem Simmel den zuletzt zitierten Aufsatz veröffentlichte, war es auch, dass Simmel an anderer Stelle das Auflodern eines »longing in many souls for a profounder unification of life, beyond all the oscillations and the fragmentariness of empirical existence« feststellte (TGLT: 195). Simmels Perspektive auf das religiöse Seelenheil war gegenwartsdiagnostisch motiviert und lebensphilosophisch formatiert.40 Aus diesem Grunde geschieht die folgende Darstellung des Seelenheilideals in der Form eines Vergleichs mit dem »Individuellen Gesetz« (vgl. auch Kapitel 5.5 in diesem Buch). In Anschluss an den Vergleich ordne ich das religiöse Ideal ein in die dadurch ergänzte Form der Religion als Wechselwirkung zwischen einem religiösen Individuum und Gott. Kennzeichnend für das »individuelle Gesetz« ist die Begründung einer gesollten Handlung aus der Totalität des individuellen Lebens heraus, anstatt sie durch Beru-

reits Simmels Theorie vom ›individuellen Gesetz‹ präformiert« gewesen sei (Krech 1995: 325, Fn. 23). Allerdings wird sowohl mit »Entzauberung« wie mit »Präformierung« eine Differenz in der Sache nur suggeriert. Erklärt wird sie nicht. 39 McCole zufolge wendet sich Simmel in seiner Philosophie des Seelenheils mit Nietzsche gegen Nietzsche (vgl. McCole 2005). Das Christentum hätte ursprünglich das radikalindividualistische Ideal Nietzsches »Werde, was du bist« gefordert. Nietzsche habe deshalb einem Missverständnis des Christentums unterlegen, zumindest dem ursprünglichen (vgl. ebd.: 17-18) 40 Werkgeschichtlich kann darüber hinaus gesagt werden, dass sowohl die Erstfassung des »Individuellen Gesetzes« als auch die Zweitauflage der hier zitierten »Die Religion« im Jahr 1912 publiziert worden. Die erstmalige religionsphilosophische Ausformulierung des Seelenheils stammt aus dem Jahr 1902.

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fung auf die Ansprüche der umgebenden sozialen Kreise zu rechtfertigen. Aus den sozialen Kreisen, in denen das individuelle Leben handelt und erlebt, bezieht es gleichwohl den »Rohstoff« seines Handelns. Eine »unhistorische, materialfreie« Individualität gibt es nicht (LA: 409). Wie Simmels Beispiel des Antimilitaristen zeigt, bedeutet die Verschiebung der Sollensquelle in das individuelle Leben im Endeffekt dem Inhalt nach nicht notwendigerweise eine andere Handlung als jene, die sich aus den Anforderungen aus den Kulturformen bzw. aus den bestimmt gearteten sozialen Beziehungen ergibt. Der konkrete Inhalt ist für Simmel sekundär für die Beurteilung seiner Geltung; von primärem Interesse ist allein ihre Genese aus der Form der Individualität. Die einzelne Handlung ist dann die Manifestation der Ganzheitlichkeit des Individuums; oder, nochmal anders, das Individuum reproduziert sich als Ganzes in jeder partikularen Handlung. In diese Ganzheit ist potenziell die gesamte Vielfalt menschlichen Daseins eingeschlossen: »[S]ie liegt in jedem Gedanken und der Art seiner Äußerung, in Blicken und Worten, im Fühlen der Freuden und Ertragen der Leiden, ja auch in dem Verhältnis zu den Gleichgültigkeiten des Tages.« (Ebd.: 360) Simmel kann deshalb von einem individuellen Gesetz sprechen, weil Gesetz bei Simmel das Kennzeichen von in sich geschlossenen Formzusammenhängen ist. Als Entelechie ist das Leben aus sich heraus Form, d. h. Einheit. Als Element einer Totalität ist die gesollte Handlung determiniert, die Totalität des individuellen Lebens aber, die sich immer ganzheitlich in der einzelnen Handlung reproduziert, ist frei. Simmel spricht daher davon, dass »wir zwar im Ganzen des Lebens frei sind, das Einzelne aber determiniert ist.« (Ebd.: 404). Da wir in jedem singulären Akt aber als Totalität ganzheitlich handeln und erleben, stehen wir als ganze in freier Eigenverantwortung über das, wie wir auch in Zukunft sollen werden (vgl. ebd.: 423). Analog wie der geschlossene Wertkonstitutionsprozess der Produktion innerhalb der Ökonomie oder die naturgesetzliche Wechselwirkung der Elemente produziert die Form der individuellen Entelechie das jeweils inhaltlich Gesollte aus dem internen Wechselspiel der bis dahin gesammelten biographischen Erfahrungen. Im Hinblick auf die einzelne Handlung schreibt Simmel deshalb: »Allein eine sittlich geforderte ist sie nur um ihrer Zugehörigkeit zu einem Ganzen, ideell vorgezeichneten Leben willen.« (Ebd.: 403; Hervorhebung PB) Wenn auch die psychologische Form der Zwecksetzung in Anspruch nehmend, besitzt das »individuelle Gesetz« selbst keinen materiellen Sinn und Zweck. Das dem Inhalt nach variierende, aber formal gleich bleibende Ideal des Handelns ist die – nicht statische, sondern sich von Moment zu Moment reproduzierende, wandelnde – Einheit des Lebens selbst, von der her sich jede Handlung zu legitimieren hat (vgl. ebd.: 407). Inhaltlich definierten Handlungsmaximen wie Glück oder Zufriedenheit bleibt das »individuelle Gesetz« gegenüber indifferent. Kommen wir damit zu Simmels Interpretation des Seelenheils. Das Seelenheil ist Symbol, und zwar, so Simmel, »für den Ort unserer Sehnsüchte« (HDS: 109). Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Frage eines dies- oder jenseitigen Ortes, sondern um ein aus dem individuellen Leben entstammendes Sehnen, welches gerichtet ist auf »die höchste Einheit, zu der all ihre innerlichsten Vollendungen zusammenrinnen, die sie nur mit sich und ihrem Gott abzumachen hat« (ebd.: 110). Unter dieser »höchsten Einheit« versteht Simmel einen im individuellen Leben bereits vorliegenden »Keim«, der ein »Ideal seiner selbst« bezeichne, »die reine Form seiner, das, was er sein soll« (ebd.: 110; Hervorhebung im Original). Dieses Ideal »durchdringt als

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eine ideelle Wirklichkeit die reale und unvollkommene« (ebd.: 110). Simmel sieht sich in Übereinstimmung mit Jesus von Nazareth, wenn er das Seelenheil als religiöse Form der Individualisierung begreift (vgl. DR: 99-100). Religiöse Individualisierung fasst Simmel in einem nun bereits bekannten Sinne, und zwar als Einheit von Freiheit und Bindung; oder auch: als Einheit von Leben und Form. Die Freiheit religiöser Individualisierung liegt nicht in der Willkür, sondern in der Begründung individuellen Handelns aus dem individuellen Leben selbst: »Der Mensch ist in dem Maße frei, in dem das Zentrum seines Wesens die Peripherie desselben bestimmt, d. h. wenn unsere einzelnen Gedanken und Entschlüsse, unser Handeln wie unser Leiden, unser eigentliches Ich ausdrücken, unabgelenkt von Kräften, die außerhalb unser liegen.« (HDS: 111)

Paradoxerweise impliziert die individuelle Freiheit in der Form der Religion die unhintergehbare Notwendigkeit der Gesetze Gottes: »Dem Ideal vom Heil der Seele […] ist es eigentümlich, daß diese Herausarbeitung der Persönlichkeit, diese Befreiung ihrer von allem, das nicht sie selbst ist, dieses Sich-Ausleben nach der Idee und dem Gesetz des Ich – daß dies zugleich den Gehorsam gegen den göttlichen Willen, zugleich das Leben nach seiner Norm, zugleich die Uebereinstimmung mit den letzten Werten des Daseins überhaupt bedeutet.« (Ebd.: 112; Hervorhebung im Original)41

Wir sind also dann frei, wenn wir das tun, was wir sein sollen. Auch das »individuelle Gesetz« sah keinen Widerspruch, sondern ein komplementäres Verhältnis zwischen der individuellen Freiheit und der Bindung an das mit der Existenz der eigenen Individualitätsform gegebene – sozusagen: in die Welt gesetzte – Gesetz. Wie Simmel nun aber betont, scheint die Behauptung individueller Freiheit gegenüber Gott paradox. Beispielsweise, so Simmel, könne man noch mit Blick auf den Dualismus von Individuum und Gesellschaft sagen, dass dieser kontingenter Natur sei. Zumindest, so Simmel, sei es »keineswegs eine Undenkbarkeit«, wenn auch »eine Utopie«, dass die gesellschaftlichen Objektivationen und die individuellen Anlagen eine harmonische Einheit bildeten (DR: 90). Dies sei deshalb so, weil es einer arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft allein um die Bedienung ihrer Funktionen gehe (vgl. ebd.: 91). Was das Individuum über seinen Status als Element der Reproduktion der arbeitsteiligen Gesellschaft hinaus ist, dem sei diese gegenüber indifferent, so Simmel weiter. Diese Indifferenz erlaube es deshalb zumindest vom Prinzip her, »ein Ganzes zu sein und doch das Glied eines Ganzen, in voller individueller Freiheit eine überindividuelle Ordnung bilden zu helfen.« (Ebd.: 91) Gegenüber Gott jedoch stelle sich die Frage nach dem Dualismus von individuellem Leben und Form viel prinzipieller, wenn die gesamte Welt von Natur und Gesellschaft als unter Gottes Gesetzen stehend begriffen wird (vgl. ebd.: 88, 91). Konkret gesagt gibt es nach Simmel kei-

41 Im zweiten Brief des Paulus an die Korinther, 3. Kapitel, Vers 17 heißt es: »Der Herr aber ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit.« Ob der protestantisch getaufte Simmel diesen Bibelspruch vor Augen hatte bei Abfassung seiner Religionstheorie, kann ich nicht sagen.

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nen Raum für eine individuelle Freiheit – und damit für die Eigenverantwortung über den Gewinn des eigenen Heils –, wenn Gott pantheistisch gedacht werden würde. Unter Pantheismus versteht Simmel eine Konzeption von Religion, wonach Gott mit dem Sein identisch ist (vgl. ebd.: 104, 110). Wie Simmel darlegt, wäre dies die logische Konsequenz aus der Annahme eines allmächtigen und allumfassenden Gottes (VP: 85-86). Denke man Gott als absolute Einheit des Seins – und dies tut Simmel (vgl. DR: 104) –, wäre alle Differenz, einschließlich der von Leben und Form, in Gott aufgehoben: »Der Pantheismus hebt das Außereinander der Dinge auf, wie er ihr Fürsichsein aufhebt.« (Ebd.: 104) Nur scheinbar ist es ein allein logischer Einwand Simmels, wenn er sagt, der Begriff der Allmacht in seine praktische Konsequenz geführt sei ein Selbstwiderspruch. Macht sei ein relationaler Begriff, der eines irgendwie eigenständigen Gegenübers bedarf (vgl. VP: 88-89). Ohne jemanden, über den man Macht habe, könne man nicht von Macht sprechen. Dies impliziert eine Differenz zu etwas, das sich – bei aller Vereinnahmung – entzieht, und damit – qua Form der Differenz – einen logischen Moment der Freiheit. Simmel bleibt nun einerseits dabei, dass »der Begriff Gottes als der absoluten Substanz und Kraft des Seins zu der pantheistischen Konsequenz [dränge], die jedes Fürsichsein der individuellen Existenzen völlig aufhebt« (DR: 104; Hervorhebung PB). Gott ist die Einheit der Differenz. Als Form des Lebens aber könne Religion nicht pantheistisch funktionieren – höchstens als Horizont der Verschmelzung zur All-Einheit, welche das religiöse Individuum begehrt, ohne es diesseitig erreichen zu können. Das sich in der Form objektivierende Leben, so Simmel, sei nämlich »an die Form des Gegenüber und der Besonderung gebunden […]. Ohne diese unaufhebbare Distanz aller Dinge untereinander und aller Seelen untereinander und zu allen Dingen ist kein Leben denkbar« (VP: 84). Identisch im Sinne schließt Simmel auch in seinem Religionsbuch, dass Religion als Lebens- und Kulturform des Gegenübers bedarf (vgl. DR: 105). Um die absolute Einheit und Differenz des Seins zusammenzudenken, stellt sich Simmel als einzig gangbare Alternative Gott als Einheit der Wechselwirkung vor: »Gott, als die Einheit des Daseins gedacht, kann also nichts anderes sein als der Träger dieses Zusammenhanges, die Wechselbeziehungen der Dinge, aus diesen durch die religiöse Grundenergie herausgehoben, gleichsam auskristallisiert zu einem besonderen Wesen, zu dem Punkte, in dem alle Strahlen des Seins sich treffen, durch den aller Kräftetausch und alle Beziehungen der Dinge hindurchgehen. Nur in diesem Sinne der Einheit kann der Gott, der sie ist, der Gegenstand der Religion sein, weil er nur so dem Individuum gegenüber, außerhalb des einzelnen als einzelnen steht und über ihn hinweggreift.« (Ebd.: 105; Hervorhebung im Original)

Das Gesetz des Individuums und das Gesetz Gottes kommen dann und genau dann zu einer Form der Wechselwirkung zusammen, wenn Gott als das Absolute die Objektivierung des religiösen Aprioris darstellt. Das religiöse Apriori des individuellen Lebens objektiviert sich in der Form Gottes: Als absolute Einheit umfasst Gott einerseits das Individuum. Er gibt den Elementen des Seins das Gesetz ihrer Bewegung vor, und zu diesen Elementen gehört auch der Mensch. Aus dieser Perspektive gibt es gar keine Freiheit des Menschen, er ist absolut gebunden. Andererseits tritt Gott dem Menschen auch gegenüber und gebietet ihm, zu gehorchen – dies impliziert die Freiheit individueller Entelechie. Gott gebietet aber nicht nur, sondern umgekehrt be-

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gehrt das religiöse Individuum den sich in die Transzendenz entziehenden Gott (vgl. ebd.: 110-11). Wie bereits in Kapitel 5.3 in diesem Buch erklärt, schafft die Distanz zwischen einem Subjekt und einem Objekt die Bedingung für das Begehren des Subjekts nach dem Objekt. So verhält es sich auch in der Religion (vgl. PRL: 151-53; GLR: 297-99). Mit der Einrichtung der die Form religiöser Wechselwirkung konstituierenden Distanz zwischen religiösem Subjekt und des es umfassenden Objekts etabliert sich eine auf Dauer gestellte Differenz von religiösem Begehren und religiöser Befriedigung, analog zu dem Schema, wie es Simmel paradigmatisch in der »Philosophie des Geldes« vorgeführt hat: »Mit dieser Zerlegung in Bedürfnis und Erfüllung also stellt sich der Religiosität […] die Objektivität eines religiösen Gegenstandes gegenüber. Indem das der Persönlichkeit zeitlos anhaftende religiöse Sein in das psychologische Stadium von Bedürfnis, Sehnsucht, Begehren tritt, fordert es eine Wirklichkeit als dessen Erfüllung.« (PRL: 152; Hervorhebung im Original)

Im Begehren nach Gott symbolisiert sich das Begehren nach der eigenen Einheit von Leben und Form; dem individuellen Seelenheil. Jeder singuläre, religiöse Akt mag eine momentane Befriedigung des religiösen Begehrens darstellen, ohne dieses jedoch endgültig stillen zu können; denn in der Partikularität des Aktes drängt das religiöse Leben bereits darüber hinaus – »so muß der den Gott schon haben, der ihn täglich neu, tiefer und voller gewinnen will.« (GLR: 298) Psychologisch gesehen wird eine Oszillation zwischen religiösem Begehren und Befriedigung perpetuiert. Die Einheit von Leben und Form – jenes weiter oben erwähnte Empfinden von Innerlichkeit einer überindividuellen Ordnung – kann und muss immer wieder aufs Neue gewonnen werden. Dies ist Simmel gemäß selbst in Grenzfällen »der religiösen Ekstase« eines gefühlten In-Eins-Seins mit Gott der Fall (DR: 110). Eine »schrankenlose Verschmelzung« mit Gott wäre ebenso eine Selbstnegation der Religion als eine Form des Lebens, wie es eine in ihre begriffliche Konsequenz geführte Allmacht Gottes täte (ebd.: 111; vgl. auch SOZ: 53-54). Das begehrte Seelenheil wird konvertiert in die Kontinuität eines diesseitigen Heilsweges, auf dem die Individualität zu sich selbst findet. Das Seelenheil ist aber kein bestimmter, einmal und dann für immer zu erlangender, fester Gegenstand – es ist nicht substanzieller Natur. Diesen Gedanken symbolisiert die Transzendenz, in die sich der die Welt umfassende Gott zurückgezogen hat. Mit der Ausdifferenzierung in religiöses Begehren und religiöse Befriedigung öffnet sich die Form des Begehrens nach Simmel auch für die unterschiedlichsten inhaltlichen, empirischen Motive des religiösen Begehrens nach Gott: »Hier finden nun alle die seelischen Agentien ihren Platz, die man von jeher als die götterschaffenden hervorgehoben hat: die Furcht und die Not, die Liebe und die Abhängigkeit, die Sehnsucht nach dem Wohlergehen auf Erden und die nach einer ewigen Erlösung.« (PRL: 152) Gleiches gilt für die von Simmel listenhaft aufgezählten, inhaltlichen »Bedürfnisse nach der Ergänzung des fragmentarischen Daseins, nach der Versöhnung der Widersprüche im Menschen und zwischen den Menschen, nach einem festen Punkt in allem Schwankenden um uns herum, nach der Gerechtigkeit in und hinter den Grausamkeiten des Lebens« (DR: 46). Und Simmel rekurriert explizit auf eine Bedürfnis-Befriedigungsstruktur, wenn er auf die vorangegangenen Inhalte bezogen sagt: »[A]lles dies nährt die transzendenten Vorstellungen: der Hunger des Menschen ist ihre Nahrung« (ebd.: 46). Es entspricht sowohl der Vorstellung der In-

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dividualgesetzlichkeit als auch des Seelenheiles, dass sich in der Religiosität die Totalität des Individuums ›auslebt‹, und dass diese nicht auf eine bestimmte Dimension beschränkt ist, bzw. sie keine bestimmte Dimension ausschließt. Den Idealtypus der »religiösen Natur« ist es schließlich eigen, in dem Schwanken zwischen der Vielfalt seiner Gefühle der Einheit seiner selbst sicher zu sein (vgl. PRL: 158). 7.2.6 Religion und Gesellschaft Die Individualisierung des religiösen Heilsweges geschieht der analytischen Form nach zunächst vollständig unabhängig von dem Tatbestand der Sozialität. Religion und Vergesellschaftung bilden unterschiedliche Referenzrahmen. Die analytische Differenz zwischen Sozialität und Religion besitzt ihren vorrangigen Realgrund im Dualismus zwischen dem individuellen Leben und den Formen der Vergesellschaftung. Der Dualismus ist materielle Ressource – Inhalt – für religiöse Umformungsprozesse. Die Erlösung durch Gott ist Erlösung von der Form; allerdings derart, dass die Erlösung selbst wiederum die Gestalt der Form annimmt; denn Leben kann nur sein in Formen. Dem der Religionstheorie zugrundeliegende Idealtypus religiöser Wechselwirkung mit Gott steht Simmels soziologische Beobachtung gegenüber, dass »der Mensch […] in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt [ist], daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt« (GS: 72). Und dazu zählt Simmel noch 1917 die »Gesellschaftlichkeit« auch »der religiösen […] Sphäre« (ebd.: 76). Das soziale Material ist Grund, Ressource und Material religiöser Umformung – und zwar so, dass das religiöse Heilsideal aus dem Jenseits der Transzendenz formend zurückwirkt auf die Vergesellschaftungsprozesse (vgl. Krech 1998a: 242-44). Mir geht es deshalb im Folgenden zunächst um die Klärung des idealtypischen Verhältnisses einer ausdifferenzierten Religion zu den Formen der Vergesellschaftung. Ich möchte darauf hinaus, dass die Religion das schafft, was Simmel im »Exkurs« zu den Möglichkeitsbedingungen von Vergesellschaftung als »vollkommene Gesellschaft« in Perspektive setzte. Die Religion vermag es, dass die objektivierte Sozialform durchgehend reiner Ausdruck des individuellen Lebens ist (vgl. SOZ: 5960). Interessanterweise spielen die Welten der Kultur in Simmels religionstheoretischen Schriften keine Rolle. Allerdings erwähnt Simmel die »Träger und Organe«, in welche die Gesellschaft sich differenziert, und »die dem Einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm fremde Partei gegenübertreten« (DR: 86). Wie in den Kapiteln 6.3, 7.2 und 7.4.1 dieses Buches herausgearbeitet, ist Kultur nach Simmel gesellschaftlich vermittelt, ferner entspricht der Ausdifferenzierung sozialer Organe eine Eigenlogik, die Logik der Kulturwelten. Ausdifferenzierte soziale Formen, so hatte ich in Kapitel 7.4 in diesem Buch argumentiert, neutralisieren die Personalität des »Dus« durch Versachlichung und Funktionalisierung, derart, dass die der individuellen Eigenselektivität überlassende Vergesellschaftung sogar als Mittel zum Zweck individueller Kultivierung gesehen werden kann. Es ist außerdem zu beachten, dass Kultur nach Simmel ihre Quelle sowie ihren Bestimmungsgrund in der individuellen Vollendung besitzt: Das religiöse Seelenheil ist identisch mit dem säkularen Heilsweg individueller Kultivierung. Die Beschäftigung mit Religion ist dann Beschäftigung mit Kultur. Aus den Aussagen Simmels zum dualistischen Verhältnis

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von Leben und sozialer Form kann meines Dafürhaltens nach deshalb mit einiger Berechtigung auf das Verhältnis von Leben und Form überhaupt geschlossen werden.42 Mein Ausgangspunkt ist die religiöse Form der Wechselwirkung zwischen dem religiösen Individuum und Gott. Wie schon erwähnt, beinhaltet diese Form nicht das »Du«, welches wir nach Simmel in Vergesellschaftungsprozessen auf ein materielles Gegenüber übertragen. Weil aber auch Gott uns gegenübertritt, haben wir auch ihn als Persönlichkeit zu denken, unabhängig von irgendwelchen inhaltlichen Attributen. Die Vorstellungsform, einem Gegenüber »die Form einer Seele« (VP: 88) zu geben, beginne bereits auf der Ebene des Unbelebten. In einen Stein beispielsweise projizieren wir »lastende, drückende Schwere« (ebd.: 88). Den unbelebten Dingen gegenüber nennt Simmel diesen Prozess aber »unvollständige Seelenhaftigkeit« (ebd.: 88). Gott dagegen sei »Persönlichkeit im absoluten Sinne« (PG: 296). Simmel möchte diese Überlegung nicht als Anthropomorphismus verstanden wissen, sondern umgekehrt sei es so, dass das individuelle Leben nur an der Idee der absoluten Persönlichkeit teilhabe: »Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen.« (Ebd.: 305) Zwar konstatiert er, die inhaltliche Vorstellung eines personalen Gottes mag psychologische – oder noch andere – Ursprünge haben. Denn ideengeschichtlich meint Simmel die Evolution der Vorstellung eines allumfassenden und trotzdem personalen Gottes auf das Christentum zuschreiben zu können (vgl. DR: 80). Diese Ebene der Argumentation interessiert Simmel aber nicht. Ihm geht es um die Sachlogik bzw. den Sinn der Vorstellung (vgl. PG: 290). Das Wesen der Objektivation ist es, eine zwar aus dem Leben kommende, aber sich gegen es verselbständigende und dann umfassende Form zu bilden; und in diesem Sinne ist die Persönlichkeit Gottes zu verstehen: Sie kommt aus dem geistigen Leben, ohne sich dann in der Form des geistigen Lebens erschöpfen zu können. Umgekehrt ist nun – konstitutionstheoretisch gesehen – der menschliche Geist nur eine spezifische, aber unvollständige Form, als die sich die Idee von Persönlichkeit realisiert (vgl. ebd.: 304-05). Die Form der Persönlichkeit ist in sich geschlossene, selbstgenügsame und deshalb: umfassende Einheit (vgl. ebd.: 296-97). Im Unterschied zum individuellen Leben steht Gott nicht in Abhängigkeitsbeziehungen mit einem Äußeren. Das individuelle Leben ist eine relative, unvollkommene Einheit, Gott die vollkommene Einheit – und von ihr erhält die unvollkommene Persönlichkeit »seine Bedeutung und seine Form« (ebd.: 306). Die religiöse Objektivation in eine absolute Persönlichkeit Gottes kann dann ganz im Sinne des bis hierhin Gesagten verstanden werden als das Symbol für das Ideal der vollkommenen Einheit, die von dem unvollkommenen Individuum begehrt wird. Von diesem Aspekt her scheint es zunächst, dass die religiöse Wechselwirkung keinen Moment von Vergesellschaftung enthalten kann. Das Verhältnis zu anderen Individuen, so Simmel, wäre einmal denkbar als ein summarisches Nebeneinander, welches aber nicht mehr sozialer Natur ist: »[E]s entsteht nicht ein neues Gebilde aus den vielen […], sondern nur eine Summe« (DR: 93-94). Simmel begründet dies damit, dass das individuelle religiöse Handeln nicht in einer Interdependenzbeziehung

42 Unter Umständen mache ich es mir hier zu einfach, nur um das Material meinem Argument sozusagen »gefügig« zu machen. In der Tat kenne ich aber keine andere Erklärung als die von mir vorgeschlagene.

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zu anderen stattfindet. Zwar mögen auch andere Menschen ihr Seelenheil erstreben, aber sie sind dafür nicht auf die Unterstützungsleistung anderer angewiesen. Jedes religiöse Individuum tritt für sich allein in Wechselbeziehung mit Gott: »[D]ie Vollendung eines jeden bedarf nicht der Ergänzung durch die des anderen.« (Ebd.: 94) Das religiöse Ideal einer Heilsautarkie liegt in der Logik eines religiösen Begehrens der absoluten Einheit von Leben und Form. Mit Grund: Zwar hielt es Simmel nicht in einem logischen Sinne für einen Widerspruch, sondern für eine Möglichkeit, dass das individuelle Leben seinem Gesetz gemäß an den Formen sein kann (vgl. ebd.: 90-91). In der »Soziologie« sind die Beziehungen zu anderen aber auch die Quelle von Vereinnahmungsforderungen, aus denen sich das Leben fortwährend zu befreien hat (vgl. SOZ: 98-99). Dies ist auch die Perspektive des Religionsbuches: »Der Konflikt [ist] gerade dadurch nahegelegt, daß in und an dem Einzelnen die Gesellschaft als ganze sozusagen vertreten ist. […] der Konflikt zwischen der Gesellschaft und dem Individuum setzt sich in das Individuum selbst als der Kampf seiner Wesensteile fort.« (DR: 86-87) Simmel greift in »Die Religion« den Tatbestand einer in »eigene Träger und Organe« ausdifferenzierten Gesellschaft auf, »die dem einzelnen mit Forderungen und Exekutiven wie eine ihm fremde Partei gegenübertreten« (ebd.: 86). Diese Aussage impliziert die parallele Ausdifferenzierung von Kulturwelten: Die Vergesellschaftung über die sozialen Organe unterliegt den unterschiedlichen kulturellen Eigenlogiken (vgl. Kapitel 6.4.1 in diesem Buch). Aus der Perspektive gesamtgesellschaftlicher Reproduktion hat das individuelle Leben bloßen Funktionscharakter; ob und inwiefern die Individualität ihre differenziellen Formungskräfte nach einem Ideal seiner selbst auszubilden vermag, ist für die soziale Reproduktion nicht von Interesse (vgl. DR: 87, 90-91). Arbeitsteilig differenzierte Gesellschaften unterscheiden sich von archaischen oder Stammesgemeinschaften oder traditionalen Ständegesellschaften nicht durch das Vorhandensein von Vereinnahmung, sondern durch die Differenz der Form. Die Zunft führte noch die Aufsicht über die Lebensführung der gesamten Person. Differenzierte Gesellschaften lassen ihren Individuen tendenziell mehr Freiheit, und das bedeutet erst die Gelegenheit, ihre Natur und Kräfte in den unterschiedlichsten sozialen Kreisen auszuleben. Diese sind die ›neuen‹ Quellen der Vereinnahmung, nur dass sie eben vervielfacht sind. Ihre Ansprüche treffen im Individuum zusammen – und werden, in der Form eines inneren Konfliktes, gerade konstitutiv für Individualität. Neben der Arbeitsteilung bildet die Konkurrenz das soziale Material, an welchem Simmel den Kontrast zwischen dem Dualismus von Individuum und Gesellschaft einerseits, der religiös sanktionierten, idealen Einheit von Leben und Form andererseits darstellt. Beide, Arbeitsteilung und Konkurrenzbeziehungen zusammen, exemplifizieren in ihrem Zusammenspiel den Problemfall drohender Abdrängung des individuellen Lebens aus seiner Idealform (vgl. ebd.: 92-104). Konkurrenz, so Simmel, finde im Prinzip stets um die gleichen Positionsgüter statt: um »die Gunst des Publikums, der Anteil an verfügbaren Gütern und Genüssen, der Gewinn überragender Stellung, Macht und Ruhm. Diese allgemeinsten Werte bleiben der Konkurrenz ausgesetzt.« (Ebd.: 92) Arbeitseilige Differenzierung ist, aus dieser Warte, nur der Versuch, die gleichen Ziele auf einer anderen »Bühne« zu verfolgen. Differenzierung erlaube das Ausweichen aus einer Wettbewerbssituation in andere, noch unbesetzte Nischen. Es setzt aber voraus, dass diese Tätigkeit auch nachgefragt wird, d. h. auf ent-

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sprechende Nachfrage trifft oder erzeugt. In seinem Religionsbuch setzt Simmel dies voraus: Die Arbeitsteilung »schließt die gesellschaftliche Einheit in demselben Maße, in dem die Konkurrenz sie spaltet.« (Ebd.: 92) Eine einmal gefundene Nische – wie z. B. eine Produktinnovation in einer Marktökonomie – findet aber rasch ihre Nachahmer, so dass jede einmal gefundene Differenzierung zum Ausgangspunkt erneuter Differenzierung werde. Dieser Prozess »begründet das oben geschilderte Verhältnis: daß das Interesse und das Leben der Gesellschaft den Einzelnen in eine Teilexistenz hineinpreßt, die dem Ideal seines Eigenwesens, der Ausbildung einer harmonischen, allseitig gerundeten Ganzheit völlig widerspricht.« (Ebd.: 93) Wie ich bereits erwähnte, ist ein praktischer Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen einerseits und dem Ideal individueller Entwicklung andererseits für Simmel kontingenter Natur. Denkbar ist auch, dass die Vollendung individuellen Lebens innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen gelingt. Dazu kommt, dass Simmel Konkurrenz nicht per se als Grund verkümmernder Individualität sieht, sondern das Fehlen einer Stoppregel. Die Gefahr besteht nach Simmel in der Gefahr einer Hypertrophie sozialer Differenzierung: »[I]nnerhalb des sozialen Daseins treibt diese [die Konkurrenz; Anmerkung PB] zwar die Differenzierung der Individuen hervor und kann sie zu einer wundervollen Entwicklung und innigem Miteinander bringen; aber die Konkurrenz hat sozusagen kein Interesse daran, sie auf dieser Höhe zu halten, sondern, mit denselben Kräften immer weiter drängend, übersteigert sie das Besonderssein zu verkümmernder Einseitigkeit und unharmonischer Kraßheit.« (Ebd.: 103-04)

Es geht Simmel um einen kontingenten, aber real wirksamen Widerspruch zwischen inneren und äußeren Kräften: Von ihren inneren Kräften her weisen die Menschen bestimmte Kräfte, Anlagen und Fähigkeiten auf, mit denen sie sich für bestimmte Berufe besonders gut eignen; auf der anderen Seite aber drücke von außen her die nicht aus sich heraus aufhörende Konkurrenz. Da beide Formen, individuelles Leben und die Konkurrenz, in keinem Verhältnis prästabilierter Harmonie zueinander liegen, kann das faktische Resultat ihres Aufeinandertreffens dem individuellen Entwicklungsideal widersprechen: »In dem Subjekt der Arbeitsteilung vollzieht sich eine charakteristische Synthese des Berufenseins von innen her durch die individuelle Qualifikation und des Bestimmtwerdens durch äußere Einflüsse, die das Individuum, auch wenn seine Begabung eine ganz unentschiedene ist, zu der bestimmten Leistung designieren. Diese beiden aus verschiedenen Richtungen kommenden Motivierungen lassen in der Praxis ihre Harmonie vielfach vermissen.« (Ebd.: 97)

Religiöses Erleben bedeutet das Erleben äußerer, überindividueller Formen als Ausdruck unserer Innerlichkeit (vgl. ebd.: 64, 87; HDS: 111). Äußere Forderungen, die damit nicht mehr kompatibel sind, wirken dieser Innerlichkeit prinzipiell entgegen. Sie bringen das Individuum, sozusagen, von jenem Pfad zu sich selbst ab, den es ansonsten einschlagen würde. In der Religion sind Konkurrenzverhältnisse deshalb ausgeschlossen (vgl. DR: 82, 103-04). In seiner Argumentation bezieht sich Simmel auf den eigentlichen Grund der Differenzierung: die Knappheit der oben erwähnten, die Konkurrenz hervorrufenden Positionsgüter. Das Heil der Seele dagegen ist ausdrücklich kein knappes Gut: »Fast allein auf religiösem Gebiet können die Energien

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der Einzelnen sich voll ausleben, ohne miteinander in Konkurrenz zu geraten, weil nach dem schönen Worte Jesu für alle Platz in Gottes Hause ist.« (Ebd.: 82; Hervorhebung PB; vgl. auch ebd.: 99) Wie aus dem Zitat ersichtlich, orientiert sich Simmel auch in dem Aspekt des Konkurrenzausschlusses am Christentum. In ihm sieht Simmel die Entwicklung religiöser Logik auf eine evolutionäre Spitze getrieben. Das gleiche Muster des Konkurrenzausschlusses bzw. des Friedens zwischen den Mitgliedern einer religiösen Gemeinschaft sieht Simmel auch in Vorstufen realisiert. Simmel weiß natürlich, dass die Geschichte der Religionen von Ketzerei, Gewalt und den richtigen Streit um die Auslegung religiöser Dogmen durchzogen war. Von Bedeutung wird es deshalb sein, inwiefern sich Abweichungen und Konflikte innerhalb der Religionstheorie Simmels widerspruchsfrei integrieren lassen. Hier werde ich später (in Kapitel 8.3.5 dieses Buches) dafür argumentieren, den Konflikt über den dualistischen Charakter des Lebens – und damit auch: des religiösen Lebens – zu reintegrieren.43 Aus der der Religion inhärenten Logik kann es zu keiner Konkurrenz um das Seelenheil kommen, da die religiöse Individualität in der Transzendenz Gottes nur »ihr eigenstes, inneres Sein, das reine Bild ihrer selbst« begehrt, ihre »ideelle Form« (DR: 99). Mit der objektiven Existenz einer Individualität ist dieser qua Entelechie auch das ihr eigene Heil vorgegeben – ganz im Sinne des »individuellen Gesetzes« –, und nicht ein inhaltlich-äußerlich definiertes Ideal. Von dieser Logik des individuellen Heilsstrebens lässt sich dann auch eine Beziehung der religiösen Individuen zueinander denken. Sie besteht, zunächst, in der Identität des von jedem begehrten Zieles. Die religiösen Individuen stehen in Wechselwirkung mit dem von ihnen begehrten Absoluten, und darin gleichen sie sich. Die historische Leistung des Christentums sei es gewesen, so Simmel, die Menschen im »Forum der unsichtbaren Kirche« wieder zusammengeführt zu haben (ebd.: 94). Simmel beschreibt dies als »spiritualistische Sozialisierung« (ebd.: 94). Die religiöse Logik erfordert allerdings, dass der Konvergenzpunkt dieser »spiritualistischen Sozialisierung« zugleich die Form des transzendenten Konvergenzpunktes der sozialisierenden Energien eines jeden Individuums ist. Eine inhaltliche Bestimmung kann Simmel nicht geben. Für den weiteren Verlauf der Arbeit wird entscheidend sein, dass Gott genau dann die Einheit in der Differenz unterschiedlichen Heilsstrebens sein kann, wenn das religiöse Individuum gemäß und ausschließlich nach seiner innerlichen Beziehung zur Transzendenz Gottes in Beziehung mit anderen tritt. Religion erlöst die Individualität aus den Friktionen der sozialen Abhängigkeitsverhältnisse, ergo gibt es auch keine durch Sozialität bedingte

43 Anders ist dies bei Krech (1998a). Er sieht zwar, dass Religion einerseits einen Konkurrenzausschluss um das Heilsgut bedeutet, es andererseits Streit und Konflikt um den richtigen Heilsweg gibt. In seine Systematisierung (»Teil C«) fließt dieser Aspekt aber nicht ein, bis auf eine bloße Erwähnung: Simmels »Konzepte von Streit und Konkurrenz erlauben es, auch desintegrative Wirkungen von Religion als Vergesellschaftungsprozesse zu begreifen.« (Ebd.: 265) Gerade eine systematisierende, die werkgeschichtlichen Etappen, Differenzen und Konvergenzen umfassende Perspektive – die meines Erachtens nur von »hinten« her, lebensphilosophisch verfahren kann – hätte diesen dualistischen Aspekt von Religion aber hervorheben müssen.

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Differenzierung. Trotzdem postuliert Simmel eine religiöse Form der Differenzierung (vgl. ebd.: 100-03). Religiöse Differenzierung ist »freilich keine Arbeitsteilung […], weil ja jedes Individuum für sich allein das ganze Heil, wenn auch auf besondere Weise, gewinnen kann. Aber es bleibt ihr [der Arbeitsteilung; Anmerkung PB] nach innen gewandter Sinn: die Besonderheit der Existenz, das Gefühl, zu einer unvertretbaren Leistung berufen zu sein und an einer Stelle zu stehen, die gleichsam auf uns gewartet hat.« (Ebd.: 103)

Auf die Ähnlichkeitsbeziehung des religiösen Heilsindividualismus zum dritten Apriori der Vergesellschaftung im »Exkurs« hatte ich bereits in Kapitel 7.3 dieses Buches hingewiesen. Dieser Umstand lässt sich möglicherweise so deuten, dass das Reich Gottes, in dem die religiösen Individuen zu einer »spiritualistische[n] Sozialisierung« zusammenkommen (ebd.: 94), zugleich das bezeichnet, was Simmel im »Exkurs« als die »vollkommene Gesellschaft« bezeichnet hat (SOZ: 59; Hervorhebung im Original). Die Differenz zwischen beiden Versionen besteht darin, dass unter der gleich bleibenden Bedingung innerlicher Berufung das Individuum im »Exkurs« eine Position einnimmt, deren individuelle Rollenträger austauschbar sein können, während es sich in der »Religion« um eine nicht-austauschbare Position handelt. Die religiöse Differenzierung individuellen Heilsstrebens erinnert in dieser Formulierung an das Ideal qualitativer Individualisierung, welches bereits Gegenstand von Kapitel 5 dieses Buches gewesen ist. Im Unterschied zum Gleichheitsideal des quantitativen Individualismus hält der qualitative Individualismus die Differenz zwischen den Individuen hoch. Alle Menschen sind nicht nur gleich vor Gott, und deshalb auch im gleichen Maße zum Heilsgewinn disponiert. Noch mehr, das Seelenheil des Individuums werde »von ihm gefordert« und dürfe »deshalb keinem prinzipiell versagt sein« (DR: 99). In Gottes Reich gibt es keine Wahl, seinem Gesetz zu unterstehen. Die religiöse Gleichheit gelte in dem gleichen Sinne wie die Gleichheit vor Gericht. Anderweitige »Wertunterschiede« – Reichtum, Schönheit, Wissen – würden »vor Gott nicht gelten.« (Ebd.: 100). Religiöse Egalität bezieht sich in einem positiv definierten Sinne auf den Umstand, überhaupt geistige Entelechie zu sein. Simmel spricht von der »Wertgleichheit alles dessen, was Seele ist«, sowie der »Gleichgültigkeit gegen individuelle Qualifizierung« (ebd.: 101). Im gleichen Recht und in der gleichen Pflicht vor Gott, seinem individuellen Heil nachzugehen, liege aber trotzdem eine Differenzierung: »Die Verschiedenheit der Seelen ist nun einmal nicht zu leugnen«, und Simmel schiebt hinterher: »[D]enn wäre dies selbst nur ein Schein der Verschiedenheit, so wäre das doch eine Verschiedenheit des Scheines, die jedenfalls Berücksichtigung fordert.« (Ebd.: 102; Hervorhebung im Original). Diese Differenz widerspricht nicht der religiösen Wertgleichheit. Es gehe um »Verschiedenheit nicht als Verschiedenwertigkeit, sondern als Verschiedenartigkeit« (ebd.: 102). Ich nehme einen Gedanken aus Kapitel 4 dieses Buches wieder auf und meine, dass Simmel unter der hier genannten Verschiedenartigkeit eine religiös-ontologische Differenzierung meint, aber nicht das Ideal qualitativen Individualismus. Wo liegt der Unterschied? Er liegt in der Frage nach dem Grund des individuellen Handelns, nicht in dessen Inhalt.

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Dieser Punkt ist wichtig, denn nur durch diese Unterscheidung kann Simmel die Behauptung aufrechterhalten, dass religiöse Differenzierung keine arbeitsteilige Differenzierung meint, deren »nach innen gewandter Sinn« aber der gleiche bleibt, eben die Differenzierung des Heilsstrebens. Qualitative Individualität fordert die inhaltliche Differenz zu anderen als ein von außen an das Individuum herankommendes Ideal. Simmel sah das Aufkommen des qualitativen Individualismus als Begleiterscheinung gerade arbeitsteiliger Verhältnisse. Diese wiederum konstatierte Simmel in den vom Ideal quantitativen Individualismus freier und gleicher Menschen hervorgetriebenen Konkurrenzverhältnissen begründet. Auf der anderen Seite meint Simmel, dass die empirisch zustande gekommene Arbeitsteilung das Ergebnis zweier unterschiedlicher Wirkkräfte ist, der äußerlichen Einflüsse – Konkurrenz – und der Determination des individuellen Handelns aus der Innerlichkeit des individuellen Lebens. Kurz gesagt, sind die beiden Ideale des quantitativen und qualitativen Idealismus äußerlicher Natur. Im simmelschen Sinne sind sie von außen an die Individuen herangetragene Ideale mit Allgemeinheitscharakter. Eine (Über-)Formung des Inneren durch äußere Ideale widerspricht aber dem individuellen Heilspfad, dieser verläuft diametral entgegengesetzt von innen aus der Form individuellen Lebens heraus, ganz auf der Linie der Logik des individuellen Gesetzes. Das »individuelle Gesetz« wiederum bezieht seine Individualität nicht, wie Simmel sagt, aus seiner qualitativen Verschiedenheit zu anderen. Diese mag und wird es im Endeffekt geben. Simmel hielt auch bis zum Schluss daran fest, dass die Biographien der Menschen sich zwar in manchen Kreisen begegnen und dort Gemeinsamkeiten pflegen, auf die Gesamtheit eines Lebens hin betrachtet aber mit hoher Wahrscheinlichkeit qualitativ unvergleichbar sind. Dieses empirische Fakt ist für Simmel aber sekundär. Primär ist für ihn der konstitutionstheoretische Ursprung des Handelns: »Denn die ganze Frage ist, ob die Norm von da her bestimmt sein soll, von wo das Handeln kommt, vom Leben, oder von da her, wohin das Handeln geht, von einem ideellen Außerhalb des Lebens, vom Inhalt.« (LA: 416) Ist »einmal ein bestimmt individualisiertes Leben als eine in vollem Sinne objektive Tatsache« (ebd.: 408) gegeben, – Individualität als eine in sich geschlossene Form des Lebens –, dann besitzt es ein eigenes, allein aus ihm kommendes Ideal, nach dem es sein individuelles Handeln auszurichten hat. Lässt die konzeptionelle Identität des individuellen Gesetzes zum Seelenheil einen Rückschluss auf Letzteres zu, so muss unter der religiösen Differenzierung des Heilsweges die konstitutionstheoretisch primäre Ebene der aus sich selbst heraus seienden Einheit der Entelechie verstanden werden. Leben kann nur sein in der Form der Individualität, und Form ist für Simmel immer etwas in sich geschlossenes, eine Einheit, die sich genau durch diesen Akt der Grenzziehung von ihrer Umwelt unterscheidet. Diese primäre Differenz zeigt sich, phänomenologisch und unabhängig von den Inhalten, an denen sie erlebt wird, in der Geschlossenheit des Bewusstseinsstroms. Simmel nennt dies die »qualitative Einsamkeit des persönlichen Lebens«, welches durch »Brückenlosigkeit« absolut getrennt sei vom Innenerleben anderer Individuen (ebd.: 415). Mit dem Ideal qualitativen Individualismus hat diese allen Bewusstseinen gleiche Einsamkeit jedoch nichts zu schaffen. Ich fasse zusammen. Religiöse Differenzierung und religiöse Gleichheit gehen im Endeffekt eine ähnliche Komplementärbeziehung ein, wie es ideengeschichtlich die Ideale quantitativer und qualitativer Individualisierung getan haben. Gleichheit vor und in der Wechselwirkungsbeziehung zu Gott einerseits besitzen die religiösen In-

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dividuen aufgrund ihrer Seins-Beschaffenheit als geistige Lebensformen. Das Seelenheil bezeichnet die Form einer zu erstrebenden Seins-Einheit. Es stellt kein knappes Gut dar, ist jedem zugänglich, aber auch von Gott auferlegte Pflicht. Gleich sind die religiösen Individuen aber gerade darin, zueinander differente, weil in sich und nach außen hin geschlossene Formen lebendiger Individualität zu bilden. Diese transzendentale Seins-Einheit objektiviert sich in der Religion in ein transzendentes, zu erstrebendes Ideal ihrer selbst. Es ist zu beachten, dass diese Darstellungen hier ein logisches Implikat aus der Funktion der Religion ist, eine Einheit aus Leben und Form herzustellen. Die religiösen Individuen kommen sich nicht »in die Quere«, finden aber nichtsdestotrotz einen Konvergenzpunkt in der Transzendenz Gottes. Ich komme zu einem anderen Aspekt des Verhältnisses von Gesellschaft und Religion. Das tatsächliche individuelle Handeln und Erleben innerhalb einer ausdifferenzierten Religion findet nicht im gesellschafts-oder inhaltfreien Vakuum statt, sondern stellt eine Ordnung sozialer Prozesse durch die Transzendenz Gottes dar. Hierfür ist es wichtig, zwischen analytischer und empirischer Differenzierung der Religion zu unterscheiden. Analytisch gesehen ist Religion die Objektivation des religiösen Aprioris in ein Absolutes. Auf dieser Ebene ist die Form der Religion von den religiösen Konstruktionsprozessen religioider Mischformen zu unterscheiden. Letztere haben das Objekt religiösen Erlebens in Vergesellschaftungsprozessen. Unabhängig von dem intentionalen Objekt ist das religiöse Erleben der Form als etwas Innerliches, dem Individuum zugehöriges, in beiden Fällen identisch (vgl. DR: 68). Das diesseitige »Du« wird in der Religion durch den in die Transzendenz verschobenen Gott substituiert. Empirisch ist es nun aber so, dass auch die verselbständigte Form der Religion als Form des Lebens weiterhin auf materielle Inhalte angewiesen ist. Hierbei gilt es nun zwei konstitutionstheoretische Schritte zu unterscheiden: (a) Wie bereits mehrfach erwähnt, trägt vorrangig der Dualismus zwischen individuellem Leben und den Formen der Vergesellschaftung eine Spannung zwischen Freiheit und Bindung in sich, die zur religiösen Umformung prädisponiert. Gesellschaft ist materieller Grund für Religiosität. (b) In der Form der Religion verselbständigt sich das geistige Funktionsprinzip des religiösen Aprioris in einem absoluten Objekt, aber diese Objektivation impliziert eine Vergegenständlichung des religiösen Prinzips; d. h. das Absolute muss sichtbar gemacht werden und materielle Formen annehmen – dem Funktionsprinzip ganz ähnlich wie auch eine ausdifferenzierte Ökonomie das Prinzip des Tausches an einem materiellen Geldsymbol und miteinander in Tauschbeziehung stehenden Waren anschaulich zu machen hat, ohne dass sich das Prinzip in der Substanz erschöpft. Auf die Religion bezogen bedeutet das, dass die Religion zu einer »Welt« wird, indem sie die Vergesellschaftungsprozesse zum Material der Konstruktion eigenlogischer Strukturen verwendet: »[D]ie religiöse Kategorie, eine seelische Art, zu leben und die Welt zu erleben, ergreift als betrachtende, handelnde, fühlende Energie die Inhalte des Daseins und gewinnt dadurch die Möglichkeit, sich eine gegenständliche Welt gegenüberzustellen, die von ihr gestaltet ist – die Welt der Religion […]. Zu diesen Inhalten, durch die die Religiosität gewissermaßen hindurchgeht oder deren sie sich bemächtigt, gehören die soziologischen Gebilde […]. Erhebt sich eine Religiosität […] zur Schaffung eigener Gebilde, einer Existenz von Göttern und Heilstatsachen, so wird sie in diese Welt Formen von jenem Inhalte her hineintragen, die gleichsam an der religiö-

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sen Eigenbewegung abgeschattet sind und nun, von ihrem sozialen Stoff gelöst und wie freischwebend, sich im Transzendenten ansiedeln.« (Ebd.: 69; Hervorhebung PB)

Die sozialen Inhalte werden nach dem Funktionsprinzip der Religion, eine ideale Einheit zwischen Leben und Form zu schaffen, umgeformt in eine Objektivationsform, die sich dem religiösen Individuum entgegenstellt und nach der Eigengesetzlichkeit der Transzendenz ausrichtet, obgleich sie aus seinen schöpferischen Kräften entstammt. Das religiöse Begehren richtet sich auf das in der Transzendenz Gottes gelegene Seelenheil aus, kann dieses aber nur über den – diesseitig nicht abschließbaren – Umweg sozialer Beziehungen erreichen. Die sozialen Beziehungen gewinnen Symbol- und, psychologisch gesehen, Mittelcharakter innerhalb der Welt der Religion.44 Simmel wendet das Form-Inhalt-Schema auf die Religion genauso an, wie er es zur Untersuchung der Vergesellschaftungsformen anwendet, nur eben unter Austausch der analytischen Perspektive, was gegebenenfalls als Form und was als Inhalt in Frage kommt. Ich möchte darauf hinweisen, dass sich meine Interpretation an dieser Stelle in einem kleinen, aber meines Erachtens sehr bedeutsamen Aspekt von der ansonsten hervorragenden Studie Volkhard Krechs unterscheidet (vgl. Krech 1998a). Krech unterscheidet Simmels Religionstheorie nach einer religionssoziologischen und einer religionsphilosophischen Perspektive. »Die Soziologie«, so Krech, arbeite »die religiöse Form als eine gesellschaftliche Integrationsfunktion heraus, die Philosophie legt die Betonung auf den einheitsbildenden Aspekt von Religion für das individuelle Bewußtsein.« (Ebd.: 241) Die Soziologie untersuche ferner »die Sozialstruktur« (ebd.: 243), die Religionsphilosophie sei »für die [religiöse] Semantik« zuständig« (ebd.: 243), d. h. die Ideen- und Vorstellungswelt der Religion – Simmels Inhalte. Das in der religiösen Semantik sich artikulierende religiöse Begehren nach einem transzendenten Einheitspunkt wirke als »regulative Idee« zurück in die Vergesellschaftungsprozesse, auch wenn sie als religiöse Inhalte nicht-sozialer Natur sind (ebd.: 242). Die religiöse Form mag zwar im Endeffekt einen sozial-integrativen Effekt besitzen. Die Integration in das Soziale – was auch immer ›das‹ Soziale sein mag – ist aber nicht Funktion des religiösen Aprioris. Funktion des religiösen Aprioris ist einzig und allein das Absolute, d. i. das individuelle Heil, nach dem sich die Vergesellschaftung mit anderen auszurichten und umzuformen hat. Die Gehorsamkeitsbeziehung zu Gott mag zu einem aufopferungsvollen sozialem Engagement führen (vgl. ebd.: 244). Hier mag der religiöse Trieb wirkmächtig werden. Davon zu unterscheiden sind neben dem religiösen Apriori sich bemerkbar machende Interessen, welcher Natur sie auch immer sein mögen – sei es Geselligkeit, Streit oder Altruismus. Aber diese meint Krech meiner Einschätzung nach nicht, ihm geht es ausdrücklich um das Herausarbeiten des im Sozialen wirkenden Religiösen. Noch an anderer Stelle schreibt Krech, dass »die religiöse Funktion zwischen den zentrifugalen und zentripetalen Kräften vermittelt«, indem sie »Selbst- und Fremdbestimmung zum Ausgleich« führe (ebd.: 157; Hervorhebung PB; vgl. auch ebd.: 147).

44 Eine symboltheoretische Deutung von Simmels Kulturtheorie finden wir bei Wilfried Geßner (2003: 99-103).

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Nicht aber Ausgleich, sondern alleinige Bestimmung der »Peripherie« durch unser innerliches »Zentrum« (DR: 87), »diese Befreiung der Seele von allem, was nicht sie selbst ist« (ebd.: 98; Hervorhebung PB) – darin, in einer idealen – vollständig unabhängig von dem Grad der Realisierung – Objektivation des individuellen Seins liegt die Funktion der Religion, auch wenn am Ende der Kompromiss als Effekt unterschiedlicher Kräfte stehen mag. Krechs Rede vom kompromisshaften »Ausgleich« verwischt die strikte Dualität der Prinzipien von Leben und Form, auf die Simmel Wert legte. Darüber hinaus kann gar nicht klar sein, wie innerhalb eines simmelianischen Theorierahmens gesellschaftliche Integration als Funktion der Religion aussehen soll, wenn es keine materiell-inhaltlichen Anweisungen der Vergesellschaftung mehr gibt. Wie ich in Kapitel 6 in diesem Buch zu zeigen versucht habe, vertrat Simmel die Hypothese einer solchen empirischen Tendenz einerseits, andererseits fußte sein im Gegensatz zu Durkheim amoralisch gefasster Begriff der Vergesellschaftungsform auf der Entkernung von jedweder inhaltlich bindenden Moral. Die Vielfalt von und die Vereinnahmung durch Formbindungen bei gleichzeitiger individueller Freiheit war das gegenwartsdiagnostische Problem, vor dessen Hintergrund Simmel seine Religionsphilosophie konzipierte.45 Was einer religiösen Integration – einer Einheit – bedarf, das ist bei Simmel einzig und allein das individuelle Leben, eben weil seine Bindung an die Form nicht mehr a priori vorstrukturiert ist. Darauf abgestimmt ist Simmels Heilsindividualismus. Schließlich gebe ich im Anschluss an Überlegungen aus Kapitel 5.4 dieses Buches zu bedenken: Funktion ist bei Simmel stets Funktion des Lebens. Aussagen über eine gesellschaftliche Integrationsfunktion der Religion hätten dies zu berücksichtigen. Deshalb kann die Aufgabe der Religion nach Simmel auch nicht, wie Krech sagt, bloß in der Bescheidung auf eine semantische Reflexion des Integrationsproblems bestehen (vgl. Krech 1998a: 157, 243). Stattdessen war es Simmels Versuch, ähnlich wie in der »Moralwissenschaft«, die reine apriorische Funktion des Religiösen offenzulegen – und damit ihre Transzendenz in die Immanenz des individuellen Lebens zu verlegen, die freilich auf materielle Inhalte angewiesen bleibt, an denen sie Gestalt gewinnen kann.

45 In eine ähnliche, aber nicht ganz identische Richtung wie das meine zielte meines Erachtens das Argument Montemaggis auf den sozial-kulturellen Konstitutionsgrund religiösen Begehrens nach Einheitlichkeit (vgl. Montemaggi 2017a: 109). Sie nennt als Faktoren Autonomie, rapiden sozialen Wandel, eine als fragmentiert wahrgenommene Gesellschaft und die Vielfalt von sozialen Rollen, die das Individuum konformistisch zu besetzen habe. Obgleich sie eine Auseinandersetzung mit Simmel betreibt, weicht sie doch von ihm ab, wenn sie beispielhaft davon ausgeht, »the individual is pressed to present multiple selves« (Montemaggi 2017a: 109; Hervorhebung PB). Woher der Druck genau kommt und wie dies gerade mit individueller Freiheit zusammenhängt, bleibt unklar. Ist die Welt des Individuums a priori determiniert – ist es also »pressed« in fixierte Rollen –, kann es gar keine Wahrnehmung von Fragmentarisierung geben. Diese gibt es erst dann, wenn die Welt eine kontingente ist, derart, dass die Inhalte der Welt die individuellen Absorptionskapazitäten überschreiten und Selektion eine Sache des individuellen Lebens ist.

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7.2.6.1 Exkurs: Religion und Gesellschaft bei Emile Durkheim Georg Simmels Einstellung zum Sujet des Verhältnisses von Religion und Gesellschaft wird verständlicher in einem Vergleich mit der Religionssoziologie Emile Durkheims, der Formvorschrift folgend: Genus proximum et differentia specifica. Auf den Umstand, dass beide Denker intensive Erregungen des Bewusstseins zum Kennzeichen des Religiösen gemacht haben, hatte ich verwiesen (vgl. Kapitel 7.2.1 in diesem Buch). Dem Inhalt nach teilt Durkheim mit Simmel die Beobachtung einer absoluten Wertschätzung bis Heiligung individuellen Lebens. In seiner »Sozialen Arbeitsteilung« sagt Durkheim, dass mit zunehmender Generalisierung – oder auch: Ausdünnung – des Kollektivbewusstseins der Raum wachse für eine Hochschätzung des Individuellen, so beispielsweise in einer wachsenden »Vielfalt von individuellen Meinungsverschiedenheiten.« (Durkheim 1988: 227) Die Verbindlichkeit kollektiver Glaubensinhalte, der Riten und Zeremonien der Religion gingen zurück, an dessen Stelle rücke dagegen mehr und mehr eine Form des religiösen Kults um das Individuum: »In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art von Religion. Wir haben für die Würde der Person einen Kult, der, wie jeder starke Kult, bereits seinen Aberglauben aufweist.« (Ebd.: 227) Dem Menschen kommt eine unbedingte Würde zu (vgl. Joas 1999: 106). Dies sei eine kollektiv geteilte Überzeugung, auch ein kollektiv geteiltes Ziel, aber kein Ziel des Kollektivs selbst. Durkheim sagt deshalb, der Kult um das Individuum erzeuge »kein echtes soziales Band« (Durkheim 1988: 228). Die Frage nach der Quelle oder den Quellen einer die arbeitsteilige Gesellschaft integrierenden Moral bildet den Hintergrund, vor dem Durkheim die Sakralisierung des Individuums beobachtet. Das Individuum ist zunächst das, was von einem schwindenden Kollektivgeist übrig bleibt, also in einem negativen Sinne. Durkheim postulierte in seiner »Arbeitsteilung«, dass sich nach einer gewissen Übergangszeit moralischer Anomie quasi-automatisch eine neuerliche die Gesellschaft integrierende Moral herstelle, die organische Solidarität: »Die Arbeitsteilung übernimmt immer mehr die Rolle, die früher das Kollektivbewußtsein erfüllt hatte. Sie hauptsächlich hält die sozialen Aggregate der höheren Typen zusammen.« (Ebd.: 228) In seiner Argumentation legt Durkheim wiederholt Wert auf seine Behauptung, nicht die Arbeitsteilung per se sei für eine krisenhafte Symptomatik verantwortlich zu machen, sondern bestimmte Ausformungen ihrer oder noch unangemessene bis fehlende soziale Strukturen seien es, die der Anomie zugrundeliegen (vgl. ebd.: 45). Ihm zufolge bedarf es zwecks Herstellung einer gemeinsamen Moral der regelmäßigen Interaktion zwischen den voneinander abhängigen Einheiten, den »solidarischen Organe[n]« (ebd.: 437). Ist die Regelmäßigkeit des Kontakts nicht gegeben, kommt es zu Pathologien wie wirtschaftlicher Zusammenbrüche oder des Kampfes zwischen Arbeit und Kapital (vgl. ebd.: 422). Die Ausdehnung zum Weltmarkt löse beispielsweise die Unmittelbarkeit der Kundenproduktion, so dass die Nachfrage nicht mehr überblickt werden könne (vgl. ebd.: 438-39). Die Selbstregulation von Angebot und Nachfrage über den Preismechanismus gehe nicht bruchlos vonstatten, sondern bedinge »mehr oder weniger lange andauernde Störungen« (ebd.: 436). Die Vereinzelung des Arbeiters in der Routine an der Maschine ist nach Durkheim ebenfalls einer Änderung der Arbeitsbeziehungen im Übergang zur Großindustrie geschuldet. Das Ziel des arbeitsteiligen Prozesses könne der Fabrikarbeiter nicht überblicken. Ähnlich wie später Simmel spricht Durkheim von einer drohenden Zer-

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störung des Individuums und damit der »Quelle des sozialen Lebens« (ebd.: 441). Anders als Simmel glaubt Durkheim nicht, dass eine die arbeitsteilige Spezialisierung ergänzende Allgemeinbildung helfen würde, da beide Seiten, Spezialisierung und Allgemeinbildung, sich von ihrem jeweiligen Prinzip her widersprechen (ebd.: 441).46 Abhilfe verschaffen würde der Austausch mit den anderen Arbeitern innerhalb einer Anlage, damit sie ihre Bedürfnisse in der Produktion wechselseitig berücksichtigen könnten. Ferner würde ein Austausch das gemeinsame Ziel der Produktion greifbarer machen (vgl. ebd.: 442). Eine Milderung oder gar Aufhebung des Klassenkampfes ist Durkheim zufolge durch die Schaffung von Chancengleichheit möglich. Diese würde nicht den Konkurrenzkampf überhaupt aufheben, sehr wohl aber die apriorische Zuweisung von Individuen auf bestimmte berufliche Positionen. Unter Bedingungen der Behinderungsfreiheit entstünde Arbeitsteilung aus »rein innerer Spontaneität«, es würde »sich in der Tat die Harmonie zwischen den individuellen Naturen und den sozialen Funktionen zwangsläufig herstellen, zum mindesten im Durchschnitt der Fälle.« (Ebd.: 445) Arbeitsteilung erhielte ihre Form dann aus der der »Vielgestaltigkeit der Fähigkeiten.« (Ebd.: 445) Die Ähnlichkeit zu Simmels Ausführungen in dessen »Selbsterhaltung der sozialen Gruppe« ist hier unübersehbar. Ob und wie sehr Simmel direkt von Durkheims »Arbeitsteilungsstudie« angeregt worden ist, kann ich freilich nicht sagen. Simmel sprach Französisch und war im Austausch mit den französischen Intellektuellen seiner Zeit, neben Henri Bergson, Célestin Bouglé und Gabriele Tarde eben auch mit Emile Durkheim. Im Vorwort zur 1902 erschienenen Zweitauflage seiner »Arbeitsteilung« bleibt Durkheims Diagnose einer gesellschaftlichen Anomie. Die gesellschaftliche Anomie konzentriere sich in der Ökonomie und strahle von dort aus auf andere gesellschaftliche Bereiche aus. Die Wirtschaft stehe in ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit »heute an erster Stelle« (ebd.: 44). Wissenschaftliche Arbeit beispielsweise würde nach dem Maß ihrer ökonomischen Verwertbarkeit bewertet (vgl. ebd.: 44). Die Wirtschaft hingegen sei »nur schwach von Moralität geprägt« (ebd.: 44). Weil die Individuen eine große Zeit des Tages in ihrem Beruf innerhalb der Wirtschaft verbringen, würden dort erworbene Gewohnheiten in das gesamte gesellschaftliche Handeln hinüberstrahlen (vgl. ebd.: 44). Da Durkheim dem Staat aufgrund seiner fehlenden Nähe und mangelnden Einsichtsfähigkeit in die ökonomischen Bedürfnisse eine gelingende Regulierung nicht zutraut, sieht Durkheim eine Lösung gesellschaftlicher Anomie in der Schaffung von Berufsgruppen bzw. Korporationen. Diese hätten unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung auch in vergangenen Jahrhunderten das Bedürfnis nach moralischer Disziplinierung individual-egoistischer Interessen wie der Stiftung wechselseitiger Solidarität zwischen ihren Mitgliedern gedient (vgl. ebd.: 51). Mitglieder wären Kapital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die einerseits rivalisierenden Interessen würden zusammenkommen in einer für die Regulierung einer spezifischen Branche zuständigen Organisation. Sie kommt nicht aus spontaner Eigeninitiative ihrer Mitglieder zusammen, sondern ist eine öffentlich ein-

46 Der Widerspruch Durkheims zu Simmel besteht darin, dass für letzteren die arbeitsteilige Spezialisierung und allgemeine Bildung in keinem Ausschluss-, sondern in einem Verhältnis möglicher Komplementarität zueinander stehen. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 8.5.3.

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gerichtete Gruppierung und sollte »zum elementaren Bestandteil des Staates« werden, »zur fundamentalen politischen Einheit« (ebd.: 70). Korporationen wären eine intermediäre Einheit zwischen Individuum und Staat (ebd.: 71). Was nationalstaatliche Parlamente als Rahmengesetzgebung erlassen können, würden die Berufsgruppen an jeweils lokale Bedürfnisse angepasst zuschneiden (vgl. ebd.: 67). Die Korporation übernimmt dabei über die Enge der Regulation eines Berufszweiges hinausgehende Aufgaben, deren Sinn die Schaffung von Solidarität zwischen den Mitgliedern ist. Dazu gehören wechselseitige Fürsorge, Erwerb und/oder der Bau von Wohnungen, sowie die Ausbildung ästhetischer und intellektueller Interessen durch Konzerte und Vorträge (vgl. ebd.: 69).47 Durkheim bezeichnete die Berufsgruppe folglich als »eine Lebensquelle sui generis. Aus ihr strömt eine Wärme, die Herzen anregt und belebt, die sie für die Sympathien öffnet und die Egoismen zergehen läßt.« (Ebd.: 69; Hervorhebung im Original) Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Einrichtung von Korporationen seines Erachtens nur ein – wenn auch wichtiger und vordringlicher – Schritt zur Herstellung einer Kollektivmoral ist (vgl. ebd.: 74). Eine Lösung in einem »Aufwasch« sei nicht zu erwarten. Noch in den »Elementaren Formen des religiösen Lebens« hält Durkheim an seiner Gesellschaftsdiagnose moralischer Anomie fest. Die Gesellschaften befänden sich in einer »Phase des Übergangs und der moralischen Mittelmäßigkeit« (Durkheim 2007: 625). Die Gesellschaft könne sich nicht mehr für die althergebrachten »Prinzipien begeistern, in deren Namen das Christentum den Herrn empfohlen hatte, ihre Sklaven menschenwürdig zu behandeln«, ebenso wenig schöpfte die Gesellschaft noch Kraft aus den Ideen der Französischen Revolution, »von Gleichheit und menschlicher Brüderlichkeit«, diese ließen »heute zu viel Platz für ungerechte Ungleichheiten« (ebd.: 625). Die »alten Götter werden alt und sterben, und andere sind noch nicht geboren.« (Ebd.: 626) Durkheim spricht zwar nicht vom weberianischen »Kampf der Götter«, die eine Gesellschaft zusammenführenden Ideale nehmen für ihn aber ebenso religiösen Charakter an, wie bei Weber die Götter für (säkulare oder säkularisierte) Letztwerte stehen. Ferner hält Durkheim nach wie vor an dem Optimismus einer sich revitalisierenden Moral fest. Es werde der Tag kommen, »an dem unsere Gesellschaften aufs neue Stunden der schöpferischen Erregung kennen werden, in deren Verlauf neue Ideen auftauchen und neue Formen erscheinen werden, die eine Zeitlang als Führer der Menschheit dienen werden.« (Ebd.: 626)48 Dieser Optimismus scheint Durkheim abzuheben von dem in Kapitel 2 in diesem Buch geschilderten Bruch der ›klassischen‹ Soziologie mit dem Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts.

47 Damit widerspricht Durkheim offenbar seiner eigenen, ursprünglich geäußerten Ansicht, arbeitsteilige Spezialisierung und Allgemeinbildung schlössen sich aus. 48 Der vitalistische Duktus in Durkheims Schriften ist kaum zu übersehen. Ob und inwiefern Durkheim sich in eine lebensphilosophische Strömung einordnen lässt, vermag ich nicht zu beurteilen. Einige Bemerkungen zu den lebensphilosophischen Zügen bei Durkheim und in der Durkheim-Schule finden sich bei Moebius 2008. Melanie White hat ferner einiges zum kontrastiven Verhältnis zwischen Durkheim und Henri Bergson geschrieben (vgl. White 2010; 2013).

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»Die elementaren Formen des religiösen Lebens« waren, folgt man Gottfried Küenzlen, »der Schlußstein und insoweit zentraler Fixpunkt« der »Gesamtsoziologie« Durkheims, welche »ohne diese unsicher und nicht konsistent bliebe.« (Küenzlen 1995: 88) Seit Mitte der 1880er Jahre mit Religionssoziologie beschäftigt, meinte Durkheim in der Religion den gesellschaftsintegrierenden Mechanismus gefunden zu haben (vgl. Firsching 1995: 163). Abgelöst wurde dabei, wie Alexandra Maryanski zeigt, die Unterscheidung nach mechanischer und organischer Solidarität und ersetzt durch eine und dieselbe, von den Größenverhältnissen unabhängige religiöse Funktion der Bildung gesellschaftlicher Ideale (vgl. Maryanski 2014). In religiöser Symbolik wird sich die Gesellschaft ihrer selbst bewusst und vermag es, die Individuen affektiv zu binden. Durkheim beschreibt es so, dass die »systematische Idealisierung […] ein Wesenszug der Religionen [ist].« (Durkheim 2007: 617) Die »Idee der Gesellschaft [ist] die Seele der Religion« (ebd.: 614). Durkheim wendet sich aber ausdrücklich gegen die Vorstellung, dass der Mensch die Religion erschaffen hat (vgl. ebd.: 617). Die Religion ist Schöpfung der Gesellschaft. Durkheim erkennt dann immer noch einen auf der Linie der »Sozialen Arbeitsteilung« sich befindlichen »individuellen Kult« (ebd.: 621). Mit der sozialen Differenzierung und einem höheren Wert des Individuums nehme der individuelle »Kult im Gesamt des religiösen Lebens einen größeren Platz ein« (ebd.: 622). Von Bedeutung ist Durkheims Einschränkung, dass eine wie auch immer im Einzelnen artikulierte Heiligkeit oder Sakralität des Individuums eine abgeleitete sei. Durkheim drückt dies so aus, dass Individuen nur »sekundäre heilige Wesen« sein können (ebd.: 621). Primär heilig dagegen ist »das kollektive Ideal, das die Religion ausdrückt« (ebd.: 619). Das Kollektivideal individualisiert sich innerhalb von differenzierten Gesellschaftsformationen in den persönlichen Idealbildungen (vgl. ebd.: 620). Die Heiligkeit des Individuums leitet sich von der Heiligkeit der Gesellschaft her ab. Zum Vergleich: Für Simmel verhält es sich umgekehrt. Zumindest dem religiösen Prinzip nach ist es für Simmel so, dass das Soziale zum Inhalt der Religion wird. Die sozialen Inhalte werden dem religiösen Apriori gemäß umgeformt, so dass jedes Material Symbolfunktion für die sich objektivierende religiöse Energie besitzt. Vergesellschaftung ist, aus psychologischer Sicht, Mittel zum Zweck des individuellen Heilserwerbs. Sie ist Wegstrecke zum Erreichen der individuellen Ganzheit. Die Ganzheit der Gesellschaft oder gar eine moralische Integration ihrer stand für Simmel nicht zur Disposition. Durkheims Rede von die Menschheit orientierenden sozialen Idealen stellt einen prinzipiellen Widerspruch zu Simmels Theorie der Religion dar. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass dieser Gegensatz zwischen Durkheim und Simmel bereits in den epistemologischen Prämissen Durkheims zugrundegelegt ist. In den 1890er Jahren nahmen Emile Durkheim und Georg Simmel als einander verwandte Mitstreiter in der Etablierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin wahr, und Durkheim konnte Simmel als Mitherausgeber für die neu erscheinende »L’Année Sociologique« gewinnen (vgl. Rammstedt 1997: 444-45). Dieser publizierte seinen Aufsatz zur »Selbsterhaltung der sozialen Gruppe« in der »L’Année« zum ersten Mal (unter dem französischen Titel: »Comment les formes sociales se maintiennent«). Es blieb allerdings bei dem einmaligen Intermezzo Simmels als Herausgeber, und der Grund dafür war ein Streit zwischen ihm und Durkheim (vgl. Rammstedt 1997: 446). Durkheim strich eigenmächtig und aus politischen Gründen zwei Passagen im »Selbsterhaltungs«-Text, einmal zur »Ehre« und einmal zum »Zi-

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onismus« (vgl. ebd.: 450-51). Zu jener Zeit kochte der Antisemitismus (nicht nur) in Frankreich hoch, und die Affäre um den unschuldig des Landesverrats bezichtigten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus spaltete die Französische Republik (vgl. ebd.: 451-53). Parallel dazu bildete sich aufgrund der Situation der Juden in Europa die zionistische Bewegung um Theodor Harzl mit dem Ziel eines eigenen jüdischen Staates (vgl. ebd.: 453-54). Durkheim, selbst jüdischer Sohn eines Rabbiners, wollte scheinbar jede weitere politische Aufladung seiner Zeitschrift vermeiden (vgl. ebd.: 454-55). Simmel hat die Motive Durkheims anscheinend nicht verstanden und war über das Vorgehen Durkheims empört. So kam es zum Bruch zwischen beiden. Otthein Rammstedt vermerkt, Durkheim habe von diesem Moment an das Trennende vor dem Verbindenden zu Simmel betont (vgl. ebd.: 446). Ein – wenn auch wohl indirekter – Dialog zwischen beiden Denkern fand weiterhin statt. Ein bedeutsamer Gegenstand dessen muss die Religionssoziologie gewesen sein. Rammstedt interpretiert Simmels »Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion« als eine implizite Kritik an Durkheims erkenntnistheoretischem Defizit (vgl. ebd.: 447). Durkheims Namen erwähnt Simmel nicht. Durkheim seinerseits kritisierte Simmels epistemologische Bindung an Kant, dies habe seines Erachtens zu einer Konzentration auf Individualität bzw. Individualpsychologie geführt (vgl. ebd.: 450). Diese beiden, um die Epistemologie kreisenden Aussagen weisen auf eine meines Erachtens ganz fundamentale Divergenz zwischen Simmel und Durkheim hin, die sich unabhängig von politischen Konjunkturen und Motivlagen verhält, und unabhängig davon, dass Durkheim laut Rammstedt nach dem Bruch zu Simmel mehr das Trennende denn das Gemeinsame betont habe. Die Divergenz zwischen beiden geht auch hinaus über die Differenz zwischen Identität (= Durkheim) und Analogie (= Simmel) zwischen Religion und Gesellschaft, wie Volkhard Krech und Hartmann Tyrell meinen (vgl. Tyrell 1992: 177; Krech 1998a: 194, Fn. 4). Durkheims und Simmels Zugriffsweisen auf Religion – und nicht nur auf Religion – verhalten sich ziemlich genau gegensätzlich zueinander, ihre Theorien bilden fast idealtypische Gegensätze zueinander. Um dies zu verstehen, müssen wir einen Blick auf Durkheims eigene epistemologische Überlegungen werfen. Durkheim reagierte auf Simmels erkenntnistheoretische Kritik mit einer eigens ausgearbeiteten soziologischen Erkenntnistheorie in seinen »Elementaren Formen des religiösen Lebens« von 1912 (vgl. Durkheim 2007: 24-40)49 Was Durkheim nun versuchte, war, diametral entgegengesetzt zu Simmel die apriorischen Vorstellungen im Bewusstsein auf einen gesellschaftlichen Ursprung zurückzuführen. Dies führte Durkheim schließlich soweit, dass es seine Behauptung sein konnte, die Religion ist die in einem Symbol sich objektivierende Gesellschaft; und nicht: das sich in einer idealen Einheit von Leben und Form objektivierende Individuum: Der »Gott ist nur der bildhafte Ausdruck der Gesellschaft.« (Durkheim 2007: 334)50 Durkheim meint, dass die Entwicklung unseres Denkens ganz wesentlich von der Religion getragen worden sei. Philosophie und Wissenschaft seien aus dem Schoße der Religion entstanden (vgl. ebd.: 24). Noch viel allgemeiner meint Durkheim aber, dass nicht allein bestimmte

49 Zu Durkheims soziologischer Erkenntnistheorie vgl. auch den Aufsatz von Rawls 1996. 50 Nach Hubert Knoblauch lässt sich Religion bei Durkheim auch als »ein metaphorisches Spiegelbild der Gesellschaft« begreifen (Knoblauch 1999: 65; Hervorhebung im Original).

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inhaltliche Erkenntnisse aus beispielsweise der mittelalterlichen Scholastik hervorgegangen seien, sondern dass die Religion die apriorische Form des geistigen Weltzuganges ausgebildet habe: »Die Menschen verdanken ihr nicht nur zu einem bedeutenden Teil den Inhalt ihrer Kenntnisse, sondern auch die Form, nach der diese Kenntnisse sich gebildet haben.« (Ebd.: 24; Hervorhebung PB) Und fährt fort: Die Erkenntnisformen »sind in der Religion und aus der Religion entstanden; sie sind das Produkt des religiösen Gedankens.« (Ebd.: 25; vgl. auch ebd.: 40)51 Da »die Religion eine eminent soziale Angelegenheit« ist und die »religiösen Vorstellungen […] Kollektivwirklichkeiten ausdrücken«, so Durkheim, müssten auch die Kategorien des Denkens »Produkte des kollektiven Denkens« sein (ebd.: 25). Die apriorischen Kategorien hingen »von der Art ab, wie diese Kollektivität zusammengesetzt und organisiert ist, von ihrer Morphologie, von ihren religiösen, moralischen, wirtschaftlichen usw. Einrichtungen.« (Ebd.: 34) Die Zeit, so ein Beispiel Durkheims, sei keine allein vom Individuum verfügbare Kategorie, sie erschöpfe sich nicht in dessen Erleben, sondern sei ein Kollektivausdruck. Die Zeit ist eingeteilt in Einheiten wie Sekunden, Stunden, Tage und Jahre, darüber hinaus drückt sich über wiederkehrende Feste und Rituale eine Gesellschaft in der Organisation von Zeit aus: »Es ist nicht meine Zeit, die auf diese Weise organisiert ist; es ist die Zeit, wie sie von allen Menschen ein und derselben Zivilisation gedacht wird. … Die Einteilung in Tage, Wochen, Monate, Jahre usw. entspricht der Periodizität der Riten, Feste, der öffentlichen Zeremonien. Ein Kalender drückt den Rhythmus der Kollektivtätigkeit aus und hat zugleich die Funktion, deren Regelmäßigkeit zu sichert.« (Ebd.: 26).

Gleich verfährt Durkheim mit dem Raum. Je nach Gesellschafsform sei der Raum unterschiedlich eingeteilt in Richtungen und Regionen (vgl. ebd.: 27-28), und auch das »Prinzip der Identität« lasse sich nicht in jeder Gesellschaft finden (ebd.: 29). Ein Einblick in Mythologien beweise die soziale Abhängigkeit der Herrschaft des logischen Prinzips vom Satz der Identität (vgl. ebd.: 29-30). Die Korrelation von Begriff und Gesellschaft interpretiert Durkheim also als Symbolbeziehung. Eine wechselseitige Ko-Variation zwischen Sozialstruktur und den individuell verfügbaren Begriffen allein ist noch kein Argument für die Richtung, in der Durkheim erstere auflöst. Durkheim greift nun auf jenes Theorem zurück, das bereits den »Regeln der soziologischen Methode« explizit zugrundegelegen hat: dass Zwang wie Notwendigkeit nicht aus dem Individuum, sondern nur der Gesellschaft entstammen könne. Die apriorischen Kategorien, so Durkheim, unterschieden sich von empirischen Erkenntnissen »durch ihre Universalität und Notwendigkeit. Sie sind die allgemeinsten Konzepte, die es gibt« (ebd.: 31). Die Notwendigkeiten der Denkformen, denen Individuen unterworfen seien, könnten die »Aprioristen« nicht erklären (ebd.: 32). Soziologisch jedoch sei die Quelle der Notwendigkeit bestimmter Denkformen die Gesellschaft. So wie jede Gesellschaft eines »genügenden moralischen Konformismus« bedürfe, könne sie ebenso wenig ein »Minimum an logischem Konformis-

51 Die Stimmigkeit dieser These kann und werde ich hier nicht diskutieren. Vgl. dazu aber Joas 1985.

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mus […] entbehren« (ebd.: 36). Der logische Konformismus durch die gemeinsam geteilten Denkformen sichert eine Verständigungsmöglichkeit auf intellektueller Ebene. Die Denkformen sind Medium oder auch »der gemeinsame Ort, wo sich alle Geister treffen.« (Ebd.: 31). Weichen Individuen von den Denkformen ab, spüren sie denselben Widerstand wie bei dem Versuch, mit moralischen Konventionen zu brechen. Durkheim geht sogar so weit, von zwei unterschiedlichen Moraldimensionen zu sprechen, einer des Willens und einer der Intellektualität: »Es ist eine besondere Art moralischer Notwendigkeit, die für das intellektuelle Leben das ist, was die moralische Verpflichtung für den Willen ist.« (Ebd.: 37) Was haben die Denkformen nun mit einem religiösen Ursprung zu tun? Für Durkheim liegt dieser in der sozialen Natur der Denk- wie Handlungsformen begründet. Sofern jedes Individuum nicht bloß biologisches, sondern auch ein soziales Wesen ist, macht es die Erfahrung der Selbsttranszendenz. Die »Zweiheit unserer Natur hat praktisch zur Folge, daß das moralische Ideal nicht auf das Nützlichkeitsstreben, und erkenntnistheoretisch, daß die Vernunft nicht auf die individuelle Erfahrung zurückgeführt werden kann. In dem Maß, in dem das Individuum an der Gesellschaft teilnimmt, im Denken wie im Handeln, transzendiert es sich selbst.« (Ebd.: 35; Hervorhebung PB).

Transzendenzerfahrungen deutet Durkheim als Erfahrungen von Vergesellschaftung. Transzendenz ist nichts anderes als die individuelle Erfahrung der übermächtigen Gesellschaft. In diesem Sinne ist es, wenn Durkheim meint, dass die »religiösen Kräfte nichts anderes sind als die kollektiven Kräfte« (ebd.: 328). Durkheim hat hierbei vorrangig größere Menschenversammlungen während Riten und Versammlungen vor Augen. In diesen steigerten sich die Menschen in Bewusstseinszustände hinein, in welchen sie sich aus sich selbst gerissen fühlen. Kollektivfeste sind für Durkheim jene Orte und Zeiten, in welchen gesellschaftliche Ideale entstehen sowie die Bindung an sie regelmäßig erneuert wird. Das Beispiel, welches er extensiv in seinen »Elementaren Formen« untersucht, sind die Stämme und Clans australischer Ureinwohner. Im Alltag leben die Clanmitglieder zerstreut voneinander und mit wenigen Verknüpfungen zueinander, sie gehen Jagen oder Nahrung sammeln. Das gesellschaftliche Leben weist insgesamt eine geringe Bewusstseinsintensität ihrer Mitglieder auf. Dieser Alltag bildet die profane Welt. Anders dagegen die heilige Welt, deren Pforten sich öffnen mit periodisch wiederkehrenden Versammlungen der Clane. Schon »die Versammlung allein« wirke »wie ein besonders mächtiges Reizmittel. Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt.« (Ebd.: 320) Es folgen »heftige Gesten, Schreie, wahrhaftes Heulen, ohrenbetäubendes Lärmen jeder Art« (ebd.: 320), auch »Gesänge und Tänze«, die »Geschlechter begatten sich entgegen den Regeln« des Inzesttabus (ebd.: 321). Der an diesen Kollektiverregungen teilnehmende Mensch fühle sich, so Durkheim, beherrscht und hingerissen von einer Art äußeren Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln.« (Ebd.: 324). Er fühlt sich »in eine fremde, völlig andere Welt versetzt […], in eine Umwelt voller intensiver Kräfte, die ihn überfluten und verwandeln.« (Ebd.: 324) Dies ist die Transzendenzerfahrung innerhalb des Kollektivs. In solcherart Versammlungen des Kollektivs entstehen Durkheim zufolge gesellschaftliche Ideale: »In diesem gärenden sozialen Milieu und aus dieser

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Gärung selbst scheint also die religiöse Idee geboren worden zu sein.« (Ebd.: 324) Ihre Heiligkeit erhalten sie durch die ihrer Schöpfung zugrundeliegenden Erregung. Die Affektualität ist zugleich die Bedingung für die Bindung der Mitglieder der Gemeinschaft an jenes Ideal. Damit die affektuale Bindung dauerhafte Natur erlangen kann, bedarf es einer Verkörperung des Ideals in einem bestimmten Symbol bzw. der Ideale in einem Symbolsystem: »Man überträgt auf es die Gefühle, die das ursprüngliche Objekt erregt hat. Dann wird das Zeichen geliebt, gefürchtet und geachtet; ihm ist man dankbar; ihm opfert man sich. Der Soldat, der für die Fahne stirbt, stirbt für das Vaterland; in seinem Bewußtsein steht die Idee der Fahne an erster Stelle. Es kommt sogar vor, daß sie das Verhalten bestimmt.« (Ebd.: 326)

Dieses Symbolsystem bildet die Religion einer Gesellschaft (vgl. ebd.: 334; vgl. dazu auch Firsching 1995: 162-63). Sie gibt dem Individuum die Vorstellung über den gesellschaftlichen Kosmos, in welchem es sich bewegt und von dem es abhängt. Bei den australischen Ureinwohnern bildet das Totem die Symbolisierung eines Clans. Das Totem bzw. allgemeiner, das Symbol, dient dazu, die affektive Bindung an die gesellschaftlichen Ideale zu erhalten. Das Totem vereint auf sich die intensiven Gefühle des Überindividuellen, und das Totem steht auch im Zentrum des wiederkehrenden Kults, durch welche die Ideale fortwährend bekräftigt werden. Was ursprünglich eine dem unmittelbaren Moment verhaftete Erfahrung des VergesellschaftetSeins mit den anderen Clanmitgliedern gewesen ist, wird nun auf ein bestimmtes, greifbares Symbol bezogen: »Weil es im Zentrum der Szene steht, wird es zum Vertreter. Auf das Bild werden die Gefühle fixiert, denn es ist das einzige konkrete Objekt, an das sie sich knüpfen könnten. Das Bild erinnert an sie und hält sie wach, selbst wenn die Versammlung aufgelöst ist; denn es überlebt sie, eingraviert in Kultinstrumenten, auf Felsen, auf Schilden usw.« (Durkheim 2007: 327)

Die religiösen Ideale stiften nun jenes soziale Band, welches der Kult des Individuums allein nicht liefern konnte (vgl. ebd.: 334). Wie Durkheim am Beispiel der Französischen Revolution zu zeigen versucht, bedarf es der rituellen, periodischen Pflege der während der Kollektiverregungen geborenen Ideale (vgl. ebd.: 626). Die Kontinuierung der affektuellen Bindung an bestimmte, gemeinsame Ideale wie der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sorgen für eine Gleichheit der Ausrichtung des individuellen Handelns an ihnen (vgl. Firsching 1995: 186). Funktional Ähnliches kann ein täglich oder wöchentlich stattfindender Gottesdienst leisten. Allerdings meinte Durkheim, dass der wissenschaftliche Fortschritt die Chancen für kirchliche Religion schmälert (vgl. Küenzlen 1995: 88). Durkheim besitzt ein funktionales Verständnis von Religion, wonach unabhängig von dem bestimmten Inhalt jede Gesellschaft zu ihrem Bestandserhalt der Reproduktion eines religiösen Symbolsystems bedarf: »Eine Gesellschaft kann nicht entstehen, noch sich erneuern, ohne gleichzeitig Ideales zu erzeugen. Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert.« (Durkheim 2007: 618-19)

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Einerseits tendiert Durkheim also zu einer Verwischung der Grenze zwischen kollektiven und religiösen Kräften, andererseits ist Religion in der Form von Symbolisierung und Materialisierung die Objektivation von Gesellschaft. Wie auch immer: Der Unterschied zu Georg Simmels Theorie der Religion ist ein prinzipieller trotz inhaltlicher Überschneidungen. Beide Denker sind sich einig hinsichtlich der Zukunftsfähigkeit konfessioneller Religion, und beide stellen eine Anomie oder Krise fest, das Referenzobjekt bzw. -subjekt der Krise ist allerdings ein anderes. Selbst wenn Simmel von der »Kulturkrisis« spricht, ist es – per definitionem – eben eine Krisis des individuellen Lebens. Für Simmel stand die Einheit oder die Integration des Individuums als etwas Ganzheitlichem im Vordergrund seiner Überlegungen, Durkheims Passion galt der Gesellschaft. Das simmelsche Absolute des Individuums war für Durkheim eine aus der Kollektivkraft abgeleitete, sekundäre Heiligkeit. Damit zurück zu Simmel. Die Angewiesenheit der Lebensform Religion auf soziale Inhalte führt nach Simmel dazu, dass der Verselbständigungsprozess nie vollständig durchgeführt werden kann. Paradoxerweise ist dies für Simmel in der Konstitutionslogik der religiösen Objektivation a priori angelegt: Einerseits nämlich ist es so, dass Leben im Allgemeinen nur sein kann in der Form von Formen, die sich dem Leben gegenüber verselbständigen. Mit dem Akt der Objektivation ist es nicht mehr es selbst; es ist das Wesen des Lebens, sich selbst als Anderes oder Fremdes gegenüberzustellen, an dem es sein Handeln und Erleben ausrichtet kann (vgl. LA: 296). Dann ist es aber auch nicht mehr reines Leben, sondern Mehr-als-Leben. Im Falle der Religion bedeutet dies, dass Religion nie ganz das sein kann, was das ihm im individuellen Leben zugrundeliegende Funktionsprinzip des Religiösen bedeutet. Die sozialen Inhalte besitzen selbst eine ihrem Material innewohnende Eigenlogik, die die Reinform Religion durch ihre Eigendynamik immer ein wenig korrumpiert, obgleich letztere auf diese Inhalte angewiesen ist. Simmel beruft sich auf die Dialektik Hegels: »Vielmehr schleppt die ausgestaltete objektive ›Religion‹ noch allenthalben gleichsam materielle Stücke jenes ihr Äußeren mit. Die Religiosität als qualitatives seelisches Sein, der religiöse Lebensprozeß hat das eigentümliche, fast an das dialektische Schema Hegels erinnernde Schicksal, aus sich herausgehen zu müssen, um von einem Außer-Sich das Gebilde zu gewinnen, das doch nur er selbst in der Form der Gegenständlichkeit ist. Aber es ist wie gesagt sein Verhängnis, dies andersartige Dasein, mit dem er sich einmal eingelassen hat, nicht wieder ganz los zu werden, erst in einem unendlichen Prozesse wirklich Religion im reinsten Sinne zu werden, den Formen des Irdischen, Rationalistischen, Sozial-Empirischen, an dem er sich zu objektiver Religion emporgelebt, immer noch irgendwelche Stücke ihrer Materie beigemischt zu lassen.« (DR: 113; Hervorhebung im Original)

In der Evolution des Christentums gewann die Religion für Simmel erstmals zumindest annähernd die Gestalt einer von der Bindung an bestimmte Inhalte gelösten, eigenlogischen Lebens- und Kulturform – »the purest form of religion« (Laermans 2006: 481). Mit ihm vollzog sich die »Wendung zur Idee« auf dem religiösen Gebiet. Bis zum Erscheinen des Christengottes fielen die Gebote und Normen einer Gruppe oder einer Gemeinschaft mit denen des religiösen Kultes mehr oder weniger zusammen. Eine Differenzierung von gesellschaftlicher und religiöser Sphäre gab es kaum. Erst die Vorstellung eines das gesamte Sein umfassenden Gottes brach mit der exklusiven Zugehörigkeit von Göttern zu bestimmten Gruppen. Damit wendete sich Sim-

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mel gemäß auch das Weltverhältnis des religiösen Individuums: Es wählt seine sozialen Bindungen nun aus der allein Gott gegenüber verpflichteten religiösen Eigenverantwortlichkeit.52 In der religiösen Individualität drückt sich der Anspruch auf Unterordnung des gesamten Daseins nach dem göttlichen Prinzip aus.

7.3 »DIE WENDUNG ZUR IDEE« Was bedeutet »Wendung zur Idee«? Sehr vereinfacht gesagt kann man von der Umkehrung eines Herrschaftsverhältnisses sprechen. Ursprünglich, so Simmel, sind die Formen Produkte des Lebens und stehen in unmittelbarer Abhängigkeit von diesem. Sie stammen »als ganze aus dem gelebten Menschheitsleben […], in dessen Unmittelbarkeit sie freilich in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten«(LA: 244). Sie weist die Spuren ihres Ursprunges auf, ist an das Leben gebunden. In ihrem Ursprung ist die Form auch nicht als das erkennbar, was sie einmal wird. Sie erscheine »unter anderen begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen entstehend und vergehend.« (Ebd.: 244). Die Form neigt dazu, im Leben aufzugehen: »Es sind zunächst Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend.« Die Formen seien zunächst noch im Leben »befangen« und liegen »ganz in seiner Ebene« (ebd.: 245). Die Eigenart bestimmter Kulturwelten lässt sich deshalb nur an ihren reifen Formen ablesen. Durkheim verfuhr, mit Hinblick auf die Religion, auch in diesem Falle genau umgekehrt.53 Mit der »Wendung zur Idee« oder der »Achsendrehung« lösen sich die Formen aus der Unmittelbarkeit des Lebens. Sie werden Mehr-als-Leben. Die Formen sind zwar immer noch auf das Leben angewiesen, sie brauchen das Leben, schließlich entstammen sie seinen Funktionen. Mit der »Achsendrehung« richtet sich das Leben nunmehr aber an der Eigengesetzlichkeit der Form aus: Das individuelle Handeln und Erleben pro-

52 Dass die soziale Wechselwirkung unter die Regulation der religiösen Idee: dem Gesetz Gottes einerseits, dem individuellen Heilsstreben andererseits, fällt, dieser meines Erachtens so fundamental wichtige Gedanke zu einem Simmel-inhärenten Verstehen der Wirkmächtigkeit von Religion in Gesellschaft fehlt in der ansonsten so detailliert ausgearbeiteten Studie Krechs zur Religionstheorie Simmels. Er konstatiert allein, dass »die religiöse Vorstellungswelt wieder auf die Vergesellschaftungsprozesse zurückwirken [kann]«, und zwar »als regulative Idee« (Krech 1998a: 242). Wie dies theoretisch in einem simmelianischen Denkrahmen zu modellieren ist, das sagt er nicht. 53 Durkheim präferiert das Studium sogenannter primitiver Religionen in segmentär differenzierten Gesellschaften unter der Annahme, diese zeigen Religion in ihrer Reinform (vgl. Durkheim 2007: 20). Hochkulturen wie die ägyptische oder indische seien aber bereits intern zu sehr differenziert, die Theologie zu kompliziert und verworren, als dass sich der gemeinsame religiöse Kern so ohne weiteres herausschälen lasse (vgl. ebd.: 18-19). Segmentär differenzierte Gesellschaften hingegen wiesen einen gleichförmigen Kollektivgeist auf, die Homogenität ist hoch und der Differenzierungsgrad ist gering (vgl. ebd.: 19). Sie sind deshalb auch in Sachen Religion »auf das Unumgängliche beschränkt, auf das, ohne das es keine Religion gebe. Aber das Unumgängliche ist auch das Wesentliche, d. h. was wir vor allem wissen wollen.« (ebd.: 20)

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duziert nach wie vor Inhalte, nun aber gemäß der Eigengesetzlichkeit der Formen, in denen es lebt. Das Leben reproduziert die Form. Die Formen »werden derart selbständig und definitiv, daß umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet. […] Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich produktiv; ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muß ihnen nachgeben.« (Ebd.: 245)

Ähnlich im Sinne der weberschen Wertsphären pochen die Formen auf ein Gehorsam des individuellen Lebens ihrem jeweiligen zu reproduzierenden Ideal gegenüber, »das Gelingen dieser Einordnung« gelte »als eine […] letzte Wert- und Sinnerfüllung« (ebd.: 245). Die Religion, ursprünglich partikularistisch und inhaltlich mit dem Leben der Stammesgemeinschaft verwoben, gewinnt mit dem Christentum den Charakter einer das gesamte Diesseits umfassenden, es regulierenden Transzendenz Gottes. Mit der Verselbständigung der Form aus dem Leben, so werde ich zeigen, geschieht gleiches zur anderen Seite: Das Leben verselbständigt sich gegenüber der Form. Dem entspricht es auf der anderen Seite, wenn Simmel in der »Soziologie« festhält, dass »das Christentum seinem reinen Sinne nach eine ganz individualistische Religion ist« (SOZ: 481). Die religiös gestaltete Einheit von Leben und Form, der Sinn hinter Religion, erwächst aus der Urform der Unmittelbarkeit der Gruppe in die Transzendenz des Lebens. Diesen »Wende«-Prozess werde ich im Folgenden für das Gebiet der Religion stilisierend nachzeichnen. Für ein Verstehen der Entstehung wie der Verselbständigung einer eigenlogischen Welt der Religion aus den Lebensverhältnissen von Individuum und Gesellschaft ist die der Religion zugedachte Passage innerhalb der »Lebensanschauung« zu knapp. Für deren Rekonstruktion bedarf es der Hinzunahme weiterer Werke Simmels, allen voran Simmels religionstheoretischer Monographie »Die Religion«. Formgebender Maßstab der Einordnung des Materials ist bei all dem eine lebensphilosophische Perspektive. 7.3.1 Substanz und Funktion54 In ihrem historischen Ursprung sei Vergesellschaftung, so Simmel, »fast bis zur Kontinuität […] von religiösen Vornahmen besetzt [gewesen]« (LA: 287; vgl. auch LA: 289). Die ethnologische Forschung hätte ein »quantitativ ungeheuerliche[s] Durchwachsensein des Lebens durch das Religiöse« festgestellt (ebd.: 287). »Das Leben«, so Simmel, habe die Religion »organisch als eine seiner Formen erzeugt« (ebd.: 287).

54 Die Kapitelüberschrift ist angelehnt an jene des zweiten Kapitels der »Philosophie des Geldes«, »Der Substanzwert des Geldes«: Geld ist ursprünglich Ausdruck des Lebens partikularer Gemeinschaften. Es wird um seiner selbst willen begehrt – als Substanz. Innerhalb der Geldevolution schält sich innerhalb der Reihe von um ihrer Attribute wegen begehrten Substanzen allmählich eine solche Substanz heraus, die sich besonders gut für die Funktion des Austausches eignet. Am Ende der Geldevolution wird die Geldsubstanz allein ihrer Funktion wegen, nicht mehr ihrer substanziellen Attribute wegen begehrt. Dafür hat sich das Geld von jeder Zugehörigkeit zu einer partikularen Gesellschaft entfernt – es ist bloße Form.

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Das Leben in der Gesellschaft und die religiöse Form sind miteinander verwachsen, das gesellschaftliche Leben ist durch und durch religiös. Götter und Geister, wie auch die eigenen Vorfahren bewohnen mit den Lebenden eine und dieselbe religiöse Welt – zwischen Diesseits und Jenseits wird, so scheint es, kaum unterschieden: »[D]ie religiösen Potenzen so primitiver Zustände, das Totem und die angebeteten Vorfahren, der Fetisch und die ganze Umgebung bewohnenden Geister sind eben selbst Elemente jenes unmittelbaren Lebens; auch der höher entwickelte Gott bleibt noch lange ein Mitglied der Gruppe selbst.« (Ebd.: 289-290) Die Beziehungen zu den Göttern können dabei durchaus utilitaristische Züge annehmen. »Opfer, Ritus, Priestertätigkeit, Gebete, Feste, Askesen« dienen der Gunstgewinnung von Göttern und können diesseitigen wie jenseitigen Zwecken dienen (ebd.: 287).55 Die konkreten Inhalte religiöser Ge- und Verbote entstammen der Unmittelbarkeit des Überlebens der Gruppe. Dies legen Ausführungen Simmels in den »Moralwissenschaften« nahe: Soziale Normen einer sozialen Gruppe entwickeln sich Simmels Ansicht zufolge ursprünglich in Anpassung an die Umweltbedingungen. Die Ist- oder Seins-Bedingungen nehmen Sollens-Charakter an. Beispielsweise, so Simmel, habe sich das jüdische Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch aus hygienischen Gründen entwickelt. Die Durchsetzung des Verbots habe »des Scheines göttlichen Ursprungs« bedurft (EM I: 65). In den Gottesvorstellungen einer Gruppe konvergieren die unterschiedlichen sozialen Anforderungen an das Individuum des Kollektivs, »weil im Allgemeinen jede soziale Gruppe sich ihren Gott so konstruiert, dass er befiehlt, was sie als das sozial Zuträgliche erkennt.« (Ebd.: 422) Die vergleichsweise hohe Intensität religiösen Erlebens bestimmter Inhalte – welche es auch sind – bedinge eine im Bewusstsein empfundene Notwendigkeit dieser Inhalte. Das »sozial Erforderte«, so Simmel, erhalte »ein Festigkeitsmaß, eine Gefühlsbegleitung, eine Weihe […], die in einer sonst nicht erzielbaren Tonart einen Notwendigkeitsgrad ausdrücken, und mit denen sich ein neuer Aggregatzustand der sozialen Norm entwickelt.« (DR: 58-59) Ein Ge- oder Verbot kann sich allerdings auch dann halten, wenn die Gründe für diese weggefallen sind, wie Simmel am Beispiel des jüdischen Verzehrverbot von Schweinefleisch zeigt: Schweinefleisch werde trotzdem »noch immer von einer Anzahl aufgeklärter Juden unter dem Gefühl sittlicher Verpflichtung gemieden« (ebd.: 65). Die Form beharrt, während die Lebensnotwendigkeit entfällt. Die Funktion der Religion liegt in der Konstitution einer idealen Einheit von Leben und Form. Die Beschaffenheit der religiösen Einheitsform ist allerdings, wie Simmel sagt, abhängig »von den soziologischen Möglichkeiten«, welche die »religiöse Innerlichkeit […] vorfindet.« (DR: 96) Der Ausdifferenzierungs- und Verselbständigungsgrad von Religion ist für Simmel eine Funktion des Ausdehnungsgrades der sozialen Einheit, in welcher sich ein religiöses Individuum bewegt: Je umfassender die soziale Form, desto abstrakter und entkoppelter von der Bindung an bestimmte soziale Inhalte ist die Einheit, als deren Form sich das religiöse Prinzip realisiert. Mit Simmel lässt sich dies an einer logischen Linie wachsender Abstraktion von Got-

55 Eine ursprüngliche Diesseitigkeit religiösen Handelns ist auch die Annahme Max Webers: »Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet.« (Weber 2010: 317; Hervorhebung im Original)

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tesvorstellungen erweisen, in der sich religiöse Form symbolisiert. Diese logische Linie fängt an mit der bereits oben genannten Annahme, wonach Gott in Stammesgemeinschaften »das oberste Mitglied des Gemeinwesens [ist].« (Ebd.: 84; Hervorhebung im Original). Gott ist also Teil und Element der Gruppe, allerdings das hierarchisch höchststehende Element der Gruppe. Dies kann einmal in der Form des Vaters geschehen, wie bei den »Juden, Phöniziern, Kanaaniten« (ebd.: 84). Die religiöse Einheitsform kann auch die Form des Königs annehmen. Letzteres ist dann der Fall, wenn mehrere unterschiedliche Stämme von einem Gott umfasst werden müssen. Als Grund dafür nennt Simmel den mit der Heterogenität der Gruppen implizierten höheren Abstraktionsgrad, die sich noch als eine Einheit in der Differenz eigne: »[W]o es aber eine politische Einung verschiedener Stämme wurde, mußte der Gott den Charakter des Königs tragen, weil er jetzt nur aus viel größerer Distanz her, als ein viel abstrakteres Gebilde innerhalb des Ganzen stehen und dieses Innerhalb […] sich als ein Über gestalten konnte.« (Ebd.: 84) Im antiken Griechenland und Rom spiegelte die Hierarchie im Götterhimmel die gesellschaftliche Form der Aristokratie wieder – als ein »Bild der bloßen Form, in der die Gruppeneinheit lebt.« (Ebd.: 85) In Rom standen unterschiedliche Berufe jeweils unter dem »Schutz einer besonderen Gottheit«, einem »Genius« (ebd.: 78). Ebenso meint Simmel, in den Gottesvorstellungen der »Syrer, Assyrer und Lyder« das die Gesellschaftsstruktur prägende »Verwischen der Geschlechtergegensätze« in einer idealisierten Einheitsform ausgedrückt zu sehen (ebd.: 85). Die Bindung eines Gottes an eine bestimmte soziale Einheit hat exklusiven und partikularen Charakter, d. h. der Gott oder die Götter bilden das religiöse Eigentum einer Gruppe; jeweils besitzt eine Gruppe den ihr zugehörigen Gott (vgl. ebd.: 107-08). Dies impliziert nach Simmel eine Welt, in der die Existenz anderer Götter anerkannt wird, gerade weil diese der spezifischen Beschaffenheit der Gruppenform angemessen zu sein haben. So hätten Brahmanen auf Kritik christlicher Missionare an ihrer Religion hin reagiert, dass der Brahmanismus »wohl nicht für alle Völker passe; für sie aber wäre sie die richtige.« (Ebd.: 108) In ihrer Symbolfunktion können Götter aber auch bekämpft und geneidet werden. Andere Religionen können in Folge von Eroberungskriegen aufoktroyiert werden. Die Idee hinter der Pluralität von Göttern ist hierbei die durch diese ausgedrückte Pluralität sozialer Welten und Lebensordnungen, ganz unabhängig davon, ob diese Unterschiedlichkeit der Lebensordnung durch andere geduldet wird oder nicht. In den noch substanziell-religiös beschaffenen Gesellschaften zieht die individuelle Beziehung zu Gott ihre Bedeutung aus der Zugehörigkeit des Individuums zu der jeweils partikularen Gesellschaft: »[G]esellschaftliche Erfordernisse«, so Simmel, würden »unter den Schutz der Religion gestellt« und so »das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit zur Pflicht gegen Gott eingeordnet« (ebd.: 64). Die Kulthandlungen, ob Gebet oder Opferung, seien gesellschaftliche Pflicht gewesen; und sich diesen gesellschaftlichen Pflichten zu verweigern sei gleichsam ein sozialer wie politischer Akt gewesen, der der Verweigerung des Wehrdienstes gleichgekommen sei (vgl. ebd.: 63). Die sozialen Strukturen werden zum Inhalt der religiösen Symbolstruktur. Dass Religion und Vergesellschaftung ihren Prinzipien nach – das Absolute hier, das Du eines individuellen, menschliche Bewusstseins dort – zwei unterschiedliche Sphären berühren, setzt sich nur allmählich durch. Unvollkommen wäre es deshalb aber auch zu sagen, Götter sind allein Symbole sozialer Beziehungen. Als Sym-

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bolform religiöser Vereinheitlichung haben sich die Götter noch nicht von ihrer Bindung an partikulare Gruppen gelöst. Ich gehe nun auf ein materielles Beispiel Simmels ein, die griechische Antike. Das »gesellschaftliche Leben der Antike«, so Simmel, sei völlig unter dem religiösen Aspekt verlaufen« (ebd.: 64).56 Religiös mache dieses Leben »die religiöse Weihe, die äußerlich angesehen nur als eine Begleiterscheinung des sozial Erforderten erscheint, […] in Wirklichkeit [aber] eine innerliche, gar nicht trennbare Einheit mit diesem [bilde].« (Ebd.: 64) Wie Simmel meint, sei das gesellschaftliche Leben in den antiken griechischen Stadtstaaten – den Poleis – durch die »reflexionslose sociale Hingabe« des (männlichen) griechischen Bürgers »an die Interessen des Staats« charakterisiert gewesen (BSP: 32). Das Individuum geht in dem sozialen Ganzen auf. Die Beziehung zwischen Bürger und Polis reflektierte die aristotelische Philosophie als eine Einheit, wonach jede individuelle Handlungsreihe ihren »Quellpunkt der ethischen Bestimmungen« im Stadtstaat finde (ebd.: 24). Überhaupt, so Simmel, weise über Aristoteles hinausgehend die »griechische Sittenlehre […] in ihren Hauptvertretern durchgehends das Dogma vom Zusammenfallen der Tugend und der Glückseligkeit auf.« (Ebd.: 28) Bedingt war die Identifizierung zwischen Individual- und Sozialinteresse unter anderem durch die geringe Größe der Stadtstaaten (vgl. ebd.: 32; GG: 125). Sie machte die Konsequenzen eigenen Handelns sichtbar. Dazu komme nach Simmel die für räumlich und sozial übersichtliche Verhältnisse typische wechselseitige »Beaufsichtigung des Bürgers durch den Bürger« (ebd.: 125). Ebenso bedeutsam war Simmel zufolge aber auch der Ausschluss einer Markt- und Konkurrenzlogik. Der Handel unter marktwirtschaftlicher Konkurrenz stand im Verdacht, die identifikatorische Enge zwischen den Bürgern zu unterminieren (vgl. BSP: 31-32). Ein Beispiel dafür ist die politische Philosophie Platons. Platon gestand Handel und Geldgeschäft allein den Fremden zu, während gleiches den Bürgern des von ihm ausgemalten idealen Staates verboten gewesen sei (PDG: 286). Der Philosoph Hippodamos sah es sogar als Zeichen des gesellschaftlichen Niedergangs an, wenn sich Fremde in einer Stadt niederließen, um ihr Glück im Handel zu suchen (vgl. BSP: 31). Als ebenso unethisch wurde das auf Zinsnahme beruhende Geldgeschäft beurteilt, weil es »unnatürlich [sei], daß Geld Geld gebäre« (PDG: 200). Handel wurde auch deshalb verachtet, weil er die Anmaßung implizierte, die Zukunft berechnen zu können. Dies wiederum stelle aber eine Herausforderung des göttlichen Zorns dar (vgl. ebd.: 302). Als einzig legitime Form des Wirtschaftens galt der Ackerbau, da sie keinen Keil zwischen die Bürger treibe, wie es der Konkurrenz am Markt anhafte (vgl. BSP: 3132). Der ethisch positiven Sanktionierung entsprach es, dass die Landwirtschaft die dominante Wirtschaftsform in den antiken Stadtstaaten darstellte (vgl. PDG: 299). Das sozioökonomische Sein übersetzte sich dann in ein sozioökonomisches Sollen der philosophischen Ethiken, und zwar in einer idealisierten, über die Realität hinausgehenden Form des Postulats der Einheitlichkeit zwischen individuellem Leben und der gesellschaftlichen Form. Gleichzeitig und vom philosophisch geforderten Ideal abweichend, so Simmel, sei das antike Leben der Polis gekennzeichnet gewe-

56 Auch wenn »Antike« die römische Antike miteinbegreift, beziehe ich mich im Folgenden allein auf Simmels Ausführungen zur griechischen Antike.

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sen »durch fortwährende Parteiungen und Kämpfe« (ebd.: 301), eine »fortwährende Bedrohtheit ihrer Existenz durch Feinde von nah und fern« (GG: 125). Auch die ökonomische Idylle war immerhin soweit durch eine sich entwickelnde Geldwirtschaft – »dem ersten Aufkommen reinen Geldhandels« (PDG: 281) – gestört, dass es der ehemalige Sklave Pasion im 4. Jahrhundert vor Christus vom Sklaven zum reichsten Bankier Athens brachte. Eine »zerrissene Realität« (ebd.: 301), wie sie Simmel als Form der griechischen Antike wahrnahm, entspricht einer typischen Konstellation, wie sie Simmel zufolge Grund sowohl religiöser Formbildungen (vgl. DR: 46) als auch – ich greife damit auf Überlegungen aus Kapitel 3 in diesem Buch zurück – des Philosophierens ist (vgl. HPH: 34-35). Simmel sagt, dass gerade der dem Ackerbau zugrundeliegende Grund und Boden es gewesen sei, »der dem Griechen das Beharren und die Einheit seines Lebensgefühles gewährleisten konnte« (PDG: 301; Hervorhebung PB). Gesetz und Konvention erschwerten den Verkauf (vgl. ebd.: 480; SOZ: 560). Dies verlieh dem Grundbesitz eine faktische Beharrungskraft, die ihn zum Objekt der religiösen Sehnsucht machte. In ihm objektivierte sich das religiöse Sehnen nach einer absoluten Einheit: »Es steckt also in der Bedeutung des Grundbesitzes ein Element absoluten Wertes.« (PDG: 311) Land erschöpft sich nicht in seinem ökonomischen Wert der Versorgung mit Nahrungsmittel. Dies steht in diametralem Gegensatz zur geldwirtschaftlichen Moderne, wo der für sich genommen unbewegliche Boden zur hypothekarischen Basis des Geldes gerinnt (vgl. ebd.: 710). Simmel meint denn auch, dass die Griechen »ihre Vollendung in ihrem Anderen [suchten]« (ebd. 301; Hervorhebung im Original), und zwar in der »Substanz« (ebd.: 300). Die Griechen kamen also aus der »Bewegung« und ersehnten die Form ihrer Einheit in der »Beharrung«. Die geldwirtschaftliche Moderne dagegen sei durch ihren Bewegungscharakter geprägt, schließe sich aber auch als eine »dynamische Einheit« (ebd.: 301). Dieses Selbstverständnis der Moderne reflektiert Simmel mit seiner Lebensphilosophie. Dagegen sei das »Haften am Substanzbegriff« kennzeichnend gewesen für »die ganze griechische Philosophie« (ebd.: 301). Erneut weise ich darauf hin, dass es das »Formprinzip des philosophischen Weltbildes« ausmacht, »die Einheit zu gewinnen, deren der Geist gegenüber dem Bunten, Zerrissenen, Unversöhnten der Welt bedarf.« (HPH: 34-35; Hervorhebung im Original) Seine Einheit gewinnt der philosophierende Geist, indem er ein Element aus dem Ganzen herausgreift und »für den [erklärt], der das Ganze zusammenhält, von dem alle andern abgeleitet sind« (ebd.: 32). In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Simmel zufolge die griechische Philosophie als eine »Ideen- und Idealbildung« verstand, die »auf ein festes, geschlossenes, substantielles Sein ging.« (Ebd.: 64; Hervorhebung im Original). In dieser Tendenz sah Simmel die Philosophen dieser Epoche konvergieren. Diese Tendenz umgreift Simmel zufolge selbst Heraklit von Ephesos, dessen Versuch es war, das Sein als ein Werden zu deuten. Heraklit, so Simmel, sah in der göttlichen Weltvernunft das einzig Beharrende in einem fortdauernden dualistischen Wechselspiel der Dinge. Das »Weltsein ist das endlose Spiel, in dem die Gottheit die Welt in ihr Urelement zurücknimmt und wieder aus ihm erwachsen läßt. […] und jedes Sein ist wie das des Flusses, in den wir nicht zweimal hinabsteigen können, ohne daß er sich inzwischen erneuert hätte.« (Ebd.: 62) Heraklit habe den Widerstreit der Dinge aber nicht – wie es der Gottesvorstellung einer ausdifferenzierten Religion entspricht – als Einheit in der Wechselwirkung deuten können (vgl.

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ebd.: 63). Vielmehr seien Gegensatzpaare wie »Anfang und Ende, Gut und Schlecht, Oben und Unten« letzten Endes »eines und dasselbe«, und diese ihnen gemeinsame Einheit ist ein »festes Sein« (ebd.: 63). Heraklit verarbeitete also die Dynamik seiner Zeit in einer Philosophie des Werdens, konnte dies Simmel zufolge aber nur, indem er das Werden auf eine substanzielle Seins-Einheit zurückführte (vgl. ebd.: 64). Typischer für ihre Epoche sei aber die Seins-Philosophie Parmenides’, Zenons und Platons gewesen. Parmenides und Zenon unterschieden die Realität eines substanziellen, stofflichen Seins von der Irrealität des Nicht-Seins. Gegeben die Existenz des Raumes, ist dieser stofflich-materiell gefüllt, ergo kann es keinen leeren Raum geben. Damit aber auch, wie Simmel schildert, keine Bewegung, »da diese für die Anschauung der Zeit bedeutete, dass Materielles durch unerfüllten Raum hindurch seinen Ort wechselt.« (Ebd.: 47) Zenon untermauerte dies mit einem berühmten philosophischen Rätsel: Ein Pfeil nehme zu jedem Zeitpunkt einen bestimmten Raumpunkt ein, der mit der Substanz des Pfeiles identisch sei. In diesem Moment seiner Bewegung bewegt er sich nicht. Zu einem späteren Zeitpunkt ist es wieder das gleiche, der Pfeil füllt einen mit seinem Stoff zusammenfallenden Raum aus, und auch in diesem Moment bewegt er sich nicht. Die nur scheinbare Bewegung des Pfeiles ist dann eine Summation aus Momenten absoluter Unbeweglichkeit: »Da nun die gesamte Zeit aus Augenblicken besteht, so ruht der Pfeil also immer.« (Ebd.: 65) Es ist die substanzialistische Raumvorstellung, die jede Bewegung und Veränderung so zur Wahrnehmungstäuschung macht. Platon habe dann in einer Synthese der Philosophien des Seins wie des Werdens die beharrenden Ideen zur einzigen Realität erklärt, von der jede Bewegung ein bloßer Schatten der Wirklichkeit sei (vgl. ebd.: 64). Simmels eigene, lebensphilosophische Lösung löst das Prinzip der Bewegung von der Materialität, indem er Bewegung (= Leben als Mehr-Leben) und Beharrung (= Form als Mehrals-Leben) als zwei gleichrangig aufeinander angewiesene, sich widersprechende, aber eigenständige Prinzipien des einheitlichen Lebens konzipiert, so dass die griechische Philosophie in derjenigen Simmels eine Synthese erfährt. Aber Simmels Philosophie war die Reaktion auf eine andere Welt. Ich habe bereits in Kapitel 3 dieses Buches auf die Möglichkeit der Identität von Philosophie und Religion bei Simmel hingewiesen. Ihnen gemeinsam ist die schöpferische Bezugnahme auf eine »absolute Einheit der Dinge« (ebd.: 19). Akzeptiert man diese Beziehung, kommen antike Praxis und antike Philosophie darin zusammen, dass die durch Religion hergestellte Einheit von individuellem Leben und sozialer Form substanziellen Charakter annimmt. Das Ideal vom Ausschluss der Marktkonkurrenz zwischen den Polis-Bürgern, die umgekehrt dazu stehende positive Sanktionierung der Landwirtschaft, die Identifikation des individuellen Seins mit der Gesellschaft – diese Elemente stehen nicht für sich, sondern ergeben einen in sich geschlossenen religiösen Zusammenhang, an der die zunehmend als fragmentarisch, zerrissene gesellschaftliche Realität gemessen wird. Der Unterschied zu einer sich erst mit dem Christentum ausdifferenzierenden Seelenheilsvorstellung besteht darin, dass letztere eine allein auf das individuelle Leben bezogene, in die Transzendenz verschobene Idealität seiner Seins-Einheit darstellt. Die Religion des antiken Griechenland besitzt substanziellen Charakter, weil das Ideal individueller Seins-Einheit nicht getrennt ist von inhaltlich-materiellen Vorstellungen über die ideale Form der Vergemeinschaftung. Das Heil ist das der Gemeinschaft; das individuelle religiöse Begehren besitzt in ihr den konkreten, substanziellen Ort religiöser Befriedigung. Die

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ideale Vergemeinschaftung ist, wie Simmel in anderem Kontext sagt, »der eigentliche Gegenstand der religiösen Empfindung« (DR:72). Noch etwas anders gesagt: Das religiöse Individuum der Polis ist noch gar kein Individuum. Es neigt dazu, seine religiöse Einheit mit der sozialen Einheit der Polis gleichzusetzen und in ihm aufzugehen, und Grund dafür ist die »numerische Geringfügigkeit« der Polis-Struktur (SOZ: 79). Der geringe Ausdehnungsgrad der griechischen Stadtstaaten ist es, was innerhalb der simmelschen Logik sowohl eine geringe Individualität wie eine weitgehende Identifizierung von Religion und Gesellschaft bedingt. Was die aktuelle Forschungslage zum Verhältnis der griechischen Poleis zur Religion anbelangt, verweise ich auf einen Aufsatz von Julia Kindt (2009). Ihr zufolge konvergieren Forschungen zur antiken Religion mehr oder minder in der These, dass die Polis einerseits einer religiösen Organisation wie beispielsweise einer Kirche und einem dogmatischen System ermangelte, andererseits aber »Greek religious practices permeated all spheres of life« (ebd.: 12). Die Religion ist dem Modell zufolge als ein Netzwerk zwischen den individuellen Poleis zu verstehen (vgl. ebd.: 12). Die olympischen Spiele fanden zu Ehren Zeus’ statt, und die Teilnehmer partizipierten als Mitglied einer Polis (ebd.: 11). Folgt man Kindts Ansicht, sei das sogenannte PolisModell ein weiterhin wichtiges Modell zum Verstehen der griechischen Religion, überdehne allerdings die Reichweite des Modells in diachroner wie synchroner Hinsicht (ebd.: 29-30). Unter dem Aspekt des Nacheinanders – der Diachronie – würde die Kontinuität einseitig über die tatsächlichen stattgefundenen Veränderungen gestellt (vgl. ebd.: 24). Unter dem Aspekt des gleichzeitigen Nebeneinanders – der Synchronie – würden lokale Differenzierungen sowie Spannungen zwischen der lokalen Ebene einerseits und der überlokalen, zwischen oder über der Polis gelegenen Ebene andererseits ebenfalls zugunsten einer Vereinheitlichung aufgegeben (vgl. ebd.: 20-23). Nicht mit der Modellvorstellung der religiösen Polis übereinstimmende, aber real existierende Praktiken und Glaubensinhalte seien nicht als Religion gesehen bzw. herausdefiniert worden (vgl. ebd.: 18). Zwar sei die Einbettung des religiösen Lebens in der Polis in eine »general culture« geboten zwecks »exploring the nature of different – even divergent – belief systems within the wider, general culture.« (ebd.: 20; Hervorhebung PB). Polis-Religion und griechische Religion, so Kindt, kamen aber nicht zur Deckung, wie es das Polis-Modell impliziere, sondern es habe religiöse Vergesellschaftung sowohl über, aber auch unterhalb der Polis-Ebene gegeben. Die individuellen Konsultationen um Rat und Tat der Götter in privaten Angelegenheiten wie einer bevorstehenden Schwangerschaft, der Verbesserung des Augenlichts oder einer verschwundenen Decke widersprechen der kollektivistischen Vorstellung einer religiösen Kultgemeinschaft. Immerhin ist zu bedenken, dass jede generalisierende Hypothese über die Religion in der griechischen Antike bis zu 1035 Poleis abzudecken hat, eine Zahl, die weiten Raum für lokal bedingte Differenzen lässt. Julia Kindt macht den interessanten Hinweis, dass das von ihr sezierte PolisModell ihrer Herkunft nach durkheimianisch sei: »In its general formulation, the model of polis religion reflects Durkheimian and structuralist efforts to ›make sense‹ of Greek religion as a symbolic system. In particular, the assumption of polis religion as the foundation of a moral community […] is Durkheimian in origin.« (Ebd.: 11) Die simmelianische »Wendung zur Idee« erfolgt mit der religiösen Evolution des Christentums in der römischen Antike (vgl. PDG: 490-91). Die religiöse Objektivation eines allumfassenden Gottes löst sich von jeder substanziellen Bindung an parti-

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kulare Gruppen und wird stattdessen leeres, abstraktes Symbol der Einheit von individuellem Leben und sozialer Form. Die Unterscheidung nach Partikularität und Universalität der Gottesvorstellung ist es nun, welche das »Wende«-Prinzip ziemlich genau zu begreifen hilft. Wie Simmel in der »Soziologie« und in »Die Religion« ausführt, komme es bei der Beobachtung einer »Wende« gerade darauf an, ob die Gottessymbolik aus dem Leben komme und an dieses gebunden sei, oder aber von sich aus expansiv wird und sämtliche, diesseitigen Vergesellschaftungsprozesse zu regulieren strebt, auch jener religiösen Individuen, die bis dato nicht an ihn, sondern an andere Götter geglaubt haben. Gemäß diesem »Wende«-Prinzip formuliert Simmel in der »Soziologie«: »Die Soziologie der Religionen ist dadurch prinzipiell differenziert, ob eine Vereinigung der Individuen einer Gruppe statthat, die den gemeinsamen Gott als das Symbol und die Weihe ihrer Zusammengehörigkeit gleichsam aus dieser hervorwachsen läßt – wie es in vielen primitiven Religionen der Fall ist –, oder ob die Gottesvorstellung erst ihrerseits die sonst nicht oder nur knapp zusammenhängenden Elemente in eine Einheit zusammenbringt. Wie sehr das Christentum diese letztere Form realisiert hat, bedarf nicht der Beschreibung« (SOZ: 168-69; Hervorhebung PB).

In »Die Religion« finden wir eine dem Sinn nach identische Passage: »Gegenüber dieser Solidarität des Gottes mit der sozialen Einheit, die immer eine partikulare ist, hat das Christentum eine ungeheure Umwälzung gebracht […]. Sein Gott ist nicht nur der Gott seiner Gläubigen, sondern des Seins überhaupt. Es fehlt ihm nicht nur jene Exklusivität und Eifersucht des Gottesbesitzes, sondern umgekehrt muß es konsequenterweise seinen Gott bei jeder Seele überhaupt zur Anerkennung bringen suchen, da er ja so wie so auch der Gott dieser Seele ist und ihr Christlichwerden nur die Bestätigung einer schon bestehenden Tatsache ist. […] Deshalb geht es nicht an, daß die Beziehung zu ihm indifferent neben der Beziehung anderer Menschen zu anderen Göttern stehen sollte. Dies ist vielmehr eine positive Verletzung des ideellen Anspruches, den er durch seine absolute Allumfassung erhebt« (DR: 108-09).

Die Idealität – das Postulat, allumfassend zu sein – drängt dann zur Realisierung; oder auch: das leere Symbol schöpft aus sich die zu symbolisierenden Inhalte. Aus der Realabstraktion der Idee – oder Form – eines allumfassenden, allmächtigen Gottes entstammt nun umgekehrt der Anspruch auf eine gruppenübergreifende Anerkennung seiner universalen Herrschaft über das Dasein (vgl. ebd.: 108-09; SOZ: 169 und 837). Einerseits ist Gott also Schöpfer und Ziel der Welt, auf der anderen Seite soll er auch als solcher anerkannt werden (vgl. DR: 108-09; KDMK: 187). Dies entspricht der dualistischen Konstellation der religiösen Wechselwirkungsform: Das religiöse Individuum steht einem Gott gegenüber (= Sollen), welcher dem religiösen Individuum gebietet und es erhört; gleichzeitig und in Widerspruch dazu ist Gott die »Einheit als Wechselwirkung« und der »Träger dieses Zusammenhanges« – dem Reich Gottes –, innerhalb dessen es keine individuelle Freiheit geben kann (DR: 105). Die Form der Religion, bis dato in ihrer Beschaffenheit an das individuelle Leben in der Gruppe gebunden, emanzipiert sich und reguliert nun umgekehrt das Leben der ihr a priori konstitutiv zugrundeliegenden Schöpfer.

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Die Abstraktion einer symbolischen Form bedeutet, dass sie sich a priori in keinem bestimmten Inhalt mehr erschöpft. Diese Unbestimmtheit der Form impliziert einen Umschlagpunkt. Denn die Unbestimmtheit bleibt bei Simmel nicht in dem Zustand der Negativität, sondern der Tatbestand der Unbestimmtheit ist es, der aus sich heraus zur inhaltlichen Bestimmung drängt, und zwar genau an diesem »Punkt«. Paradigmatisch hat Simmel dies zum ersten Mal für die aus sich heraus schöpferisch wirkende Unbestimmtheit der Geldform vorgezeichnet (vgl. PDG: 267). Dies ist Sache des nächsten Kapitels. Wichtig ist nun, dass die Entleerung des Gottessymbols Simmel zufolge korreliert mit dem Ausdehnungsgrad der Vergesellschaftungsprozesse, die durch das religiöse Apriori zu bewältigen sind: Mit der sozialen Ausdehnung wächst der Allgemeinheitsgrad der religiös produzierten Einheit zwischen dem individuellen Leben und der sozialen Form. Diese Einheitsform verschiebt sich von der Substanzialität der numerisch überschaubaren Polis-Gemeinschaft in die das »römische Weltreich« (SOZ: 777) umfassende Transzendenz des Gottesreiches. Einfach gesagt: Auf die maximale Ausdehnung der sozialen Beziehungen erfolgt die maximale religiöse Transzendierung der Einheit von Leben und Form ins Absolute. Für die epistemologischen Grundlagen dieses Prozesses verweise ich auf das Kapitel 7.3.2.1 in diesem Buch. 7.3.2 Die Ausdifferenzierung des Christentums Es geht nun darum, die Objektivationsform des transzendenten Gottesreiches konstitutionstheoretisch zu erklären als »Reaktion« des religiösen Aprioris auf die Ausdehnung der Vergesellschaftungsprozesse im antiken Römischen Reich. Dessen soziokulturelle Situation lieferte das Material oder den Inhalt, an dem sich die christliche Kulturwelt der Religion ausdifferenzierte. Rom war »Weltreich« (ebd.: 777). Sowohl in »Schopenhauer und Nietzsche« als auch in der »Philosophie des Geldes« zog Simmel explizit Parallelen zu seiner Zeit, und zwar, erstens, was die religiöse Lage anbelangt (vgl. PDG: 490-91; SN: 177-79), und, zweitens, was Stellung und Ausformung der Geldwirtschaft anbelangt: »[W]eit über die innere Verfassung des Einzelnen hinaus ist in der Gegenwart – wie in der Verfallszeit Griechenlands und Roms – der Gesamtaspekt des Lebens, die Beziehungen der Menschen untereinander, die objektive Kultur durch das Geldinteresse gefärbt.« (PDG: 305; Hervorhebung PB) In dieser kulturphilosophischen Beobachtung spielen sozialstrukturelle Details wie Schichtung, Regierungsform, Ansätze ökonomischer Differenzierung, oder eine genaue Erfassung der religiösen Praxis für Simmel keine Rolle.57 Simmels Beobachtungen lassen sich verdichten zu der These, dass Rom insofern »Weltreich« war, weil sich seine Welt dem Zugriff individuellen Lebens entzog. »Welt« also in einem ähnlich lebensphilosophischen Sinne verstanden, wie Simmel auch von der Welt der Religion oder der Welt der Wirtschaft spricht, weil sie potenziell alle Inhalte umfassende, verselbständigte Totalitäten bilden (vgl. LA: 239-40).

57 Es geht nur um die Passagen, in denen Simmel die religiöse Reaktion beschreibt. Nicht geht es mir um eine selbstzweckhafte Zusammenschau simmelscher Bemerkungen zu Rom.

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Von einer Identität zu sprechen würde meines Erachtens aber zu weit gehen, da dies eine Eigenlogik implizieren würde, für die sich in Simmels Arbeit kein Hinweis finden lässt. Simmel hält seine Hypothese vergleichsweise abstrakt, indem er materiell einen mit der Ausdehnung der Gesellschaftsbeziehungen einhergehenden Verlust eines substanziellen, d. h. also: inhaltlich definierten Endzwecks konstatiert. Dieser Verlust, so ist die Argumentation sowohl in »Schopenhauer und Nietzsche« als auch in der »Philosophie des Geldes«, zeigte sich psychologisch darin, dass ein einmal erreichter substanzieller Zweck sich danach nur als Mittel für einen darüber hinausliegenden Zweck entpuppe. Die religiöse ›Leerstelle‹, so die dann weiterführende Logik des simmelschen Arguments, wird dann »gefüllt« durch einen jede partikularinhaltliche Zweck-Handlung transzendierenden, absoluten Einheitspunkt. Werfen wir zunächst einen Blick auf zwei längere Textstellen Simmels: »Erst wenn unzählige Tätigkeiten und Interessen, auf die wir uns wie auf endgültige Werte konzentrierten, uns nun doch in ihrem bloßen Mittelcharakter klar werden, erwächst die angstvolle Frage nach dem Sinn und Zweck des Ganzen; über die Einzelzwecke […] steigt das Problem einer wirklich vollendeten Einheit auf […]. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte […] scheint die Kultur der griechisch-römischen Welt zu Beginn unserer Zeitrechnung die Seelen in diese Verfassung getrieben zu haben. Die Zwecksysteme des Lebens waren so komplizierte geworden, die Reihen des Handelns und Denkens so vielgliedrige, die Interessen und Bewegtheiten des Lebens so ausgedehnte und von so vielen Bedingungen abhängige, daß sich nun in den dumpfen Trieben der Masse ebenso wie in der Selbstbesinnung des philosophischen Bewußtseins ein unruhiges Suchen nach dem Ziele und der Bedeutung des Lebens überhaupt auszulösen scheint.« (SN: 177)

In der »Philosophie des Geldes« heißt es ganz ähnlich: »[E]rst in einer höheren Kultur […] wird wegen der Fülle der Zweckreihen, die eine Vereinheitlichung suchen, wegen des immer weiteren Hinausrückens der eigentlichen Zwecke an eine immer längere Kette von Mitteln – die Frage nach dem absoluten Endzweck, der diesem ganzen Treiben Vernunft und Weihe gäbe, nach dem Wozu des Wozu auftauchen. Dazu kommt, daß das Leben und Handeln des Kulturmenschen sich durch eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren jedem er nur einen geringen Teil beherrschen, ja übersehen kann […]. Am Beginn unserer Zeitrechnung war offenbar die griechisch-römische Kultur auf diesen Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und langsichtiges Zweckgewebe geworden, daß sich als sein Destillat und focus imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob: wo liegt nun der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluß, der sich nicht mehr […] schließlich als bloßes Mittel enthüllt?« (PDG: 490)

Auf jeden beliebigen, aber bestimmten Inhalt bezogen ist es dann eine Frage der perspektivischen Richtung, ob man einen Inhalt als noch zu erreichenden Zweck oder bereits erreichtes, nun zur Verfügung stehendes Mittel beobachtet. Das individuelle Erleben der Austauschbarkeit eines Erfahrungsinhaltes danach, ob er Mittel oder Zweck ist, entspricht einer Herausdifferenzierung des Zwecks als einer mentalen, apriorischen Formungskraft (vgl. ebd.: 490). In der »Philosophie des Geldes« heißt es ausdrücklich:

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»Denn nicht das steht in Frage, daß der Endzweck etwa nur unerreichbar, sondern daß er eine überhaupt nicht mit einem Inhalt zu erfüllende Vorstellungsform ist. […] Der Endzweck ist sozusagen nur eine Funktion oder eine Forderung; als Begriff angesehen ist er nichts als die Verdichtung der Tatsache, die er zunächst gerade aufzuheben schien: daß der Weg des menschlichen Wollens und Wertens ins Unendliche führt und kein auf ihm erreichter Punkt sich dagegen wehren kann, so sehr er gleichsam von vorn gesehen als Definitivum erschien, von rückwärts gesehen als bloßes Mittel zu gelten.« (Ebd.: 303-04; Hervorhebung PB; vgl. dazu auch ebd.: 299)58

Zweck ist eine geistige Form, die sich in keinem bestimmten Inhalt mehr erschöpft. Dies ›presst‹ sozusagen die Mittelbarkeit jedes Handelns und Erlebens logisch aus sich heraus. Eine solche Form individuell-geistigen Lebens unterscheidet sich evolutionär von einer Lebensform, in der das individuelle Handeln noch an einem dauerhaft festgelegten Zweck orientiert sein kann, wie ihn beispielsweise die numerisch vergleichsweise kleine griechische Polis-Gemeinschaft verkörperte, in der der »Quellpunkt der ethischen Bestimmungen« lag (BSP: 24). Das mit der räumlichen Ausdehnung verbundene mangelnde Vermögen an individueller Übersicht über die Sozialverhältnisse kommt erschwerend hinzu. Die Einheit des Ganzen entzieht sich sinnlich wie der Logik nach der Unmittelbarkeit individuell-sinnlicher Greifbarkeit. Unübersichtlichkeit, Fragmentierung der Lebensverhältnisse und Mittelbarkeit – neben der Verselbständigung von Kulturformen – bilden für Simmel allgemein das Signum von Hoch- im Vergleich zu niederen Kulturen (vgl. KDK: 190-91; vgl. auch PSYDG: 49-50). Die genannten Charakteristiken von Hochkulturen bilden für Simmel zugleich auch Symptome einer gefährlichen Entwicklung (vgl. KDK: 190-91). Eine Verselbständigung von Kulturformen ist an dieser Stelle mangels auf die Antike Roms bezogener materieller Ausführungen Simmels kein Thema. Eine Ausnahme bilden Simmels Erwähnungen zur monetären Verfassung Roms. Die von Simmel behauptete Parallele zur gegenwärtigen Stellung des Geldes hatte ich bereits erwähnt. Ob Geld in Rom als Endzweck-Substitut diente, das sagt Simmel allerdings nicht, auch wenn dieser Schluss nahe liegen mag. Simmel spricht von »Zeiten intensivster Geldwirtschaft« zu »Beginn der römischen Kaiserzeit« und deren »letzten 100-150 Jahre« (PDG: 450). Dies sei mit einem wachsenden Grad an Individualisierung einhergegangen. Beispielsweise, so Simmel, erlaubte das Römische Recht die Einlösung von Vermögensverpflichtungen durch Geld anstatt durch die Lieferung von Naturalien (vgl. ebd.: 378). Dies habe man »als eine magna charta der persönlichen Freiheit im Gebiete des Privatrechts bezeichnet.« (Ebd.: 378)59 Dem stand wie schon zur Zeit der griechischen Polis der geldvermittelte soziale Aufstieg freigelassener Sklaven zur Seite (vgl. ebd.: 281). Ferner habe es Raum für einen »ausschweifenden privaten Libertinismus« gegeben – trotz politischer Diktatur (ebd.: 547). In ethischer Hinsicht habe es die weite Ausdehnung der geldwirtschaftlichen Beziehungen Simmel zufolge

58 Eine erneute Auseinandersetzung mit der Zweck-Kategorie unter der Vergleichsperspektive von Geld und Gott erfolgt in Kapitel 8.3.3 in diesem Buch. 59 Die dem Wortlaut nach historisch erste Magna Charta bzw., vollständig, Magna Charta Libertatum, hat ihren Ursprung im mittelalterlichen England des 13. Jahrhunderts, durch die König Johann unter Druck dem englischen Adel politische Freiheitsrechte garantierte.

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sogar vermocht, »jene Vorstellung des Allgemein-Menschlichen zu erzeugen« (GMC: 183). Einen gewichtigen Unterschied zur geldwirtschaftlichen Moderne bildet aber die Verwendungsweise des Geldes. Es habe vorrangig als Konsummittel, aber nicht als »Geldkapital«, d. h. als Investitionsmittel in Produktionsgüter gedient (PDG: 221). Dies war bereits in Griechenland der Fall (vgl. ebd.: 299-300). In der Reduktion auf ein Konsummedium sah Simmel auch den Grund für die bis »weit in das Christentum hineinerstreckten Zinsschwierigkeiten« (ebd.: 222). Der Geldzins als Preis seiner Verwendung würde erst dann als sozial akzeptiert gelten, wenn sich die Kapitalfunktion des Geldes durchgesetzt habe (vgl. ebd.: 222). Eine drängende, schöpferische Kraft war das Geld noch nicht; dies wurde es erst im 19. Jahrhundert. Geld ist Simmel zufolge geeignet, ausgedehnte politische Herrschaftsgebilde zu integrieren (vgl. ebd.: 225-26). Manches weist darauf hin, dass Simmel diese Funktion im römischen Geldsystem realisiert sah. So beispielsweise, wenn Simmel die Stadt Rom »am Ende der römischen Republik« als ein Finanzzentrum beschreibt, wonach »jeder Pfennig, der in Gallien ausgegeben werde, […] durch die Bücher der Finanziers in Rom [gehe].« (Ebd.: 705) Die hier gesammelten Bemerkungen Simmels zur römischen Geldwirtschaft sind jeweils aus einem anderen Sinnzusammenhang entnommen. Simmel hat keine Geschichtswissenschaft der altrömischen Gesellschaft betrieben. Andererseits gibt es ja sehr wohl die oben genannten expliziten Verweise Simmels auf vorhandene Parallelen zwischen der gegenwärtigen und der antiken Geldwirtschaft. Und die Moderne ist für Simmel monetär integriert, ohne jedoch, zumindest in weiten Teilen, religiös-sinnhaft integriert zu sein. Dies bezeichnete die »religiöse Lage« der Zeit Georg Simmels (vgl. Kapitel 7.4 in diesem Buch). Gleiches lässt sich meines Erachtens nun auch für die römische Antike sagen. Bei vor allem mit Hinblick auf die monetäre Verfassung gerechtfertigter Skepsis vor einer zu weit getriebenen Parallelisierung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, spricht Simmel, wie oben gezeigt, explizit von einer Sinnkrise im Römischen Reich. Simmel diskutiert sowohl in »Schopenhauer und Nietzsche« als auch in der »Philosophie des Geldes« funktionale Äquivalente des individuellen religiösen Begehrens. Simmel nennt einen pessimistischen wie asketischen Lebensstil, ein – diametral entgegengesetzt zu letzterem – dem Moment verhaftetes Genussleben, die orientalische Mystik und schließlich Aberglauben (vgl. ebd.: 490-91; SN: 177-78). Das religiöse Bedürfnis nach einer den Handlungs- und Erlebnishorizont umfassenden Einheit befriedigten sie jedoch scheinbar nicht. Den von den Griechen übernommenen Polytheismus (vgl. DR: 78, 85; SOZ: 836) erwähnt Simmel im Kontext römischer Sinnkrise nur einmal, allerdings in dem Sinne einer Dekonstruktion überkommener religiöse Objekte: als »Kampf gegen die Vielgötterei« – was nach Simmel aber nur bewies, »daß die Welt in der Breite des verworrenen Lebens keinen Sinn mehr fand.« (SN: 178) Die von Simmel genannten Versuche religiöser Sinnstiftung waren inhaltlich bestimmter Natur, sie gaben dem individuellen Leben einen inhaltlich definierten Zweck. Eine weitläufige Ausdehnung sozialer Beziehungen, wie sie das »Weltreich« Rom aufwies, impliziert nach Simmel eine parallel wirksame geistige Abstraktion auf Seiten des individuellen Lebens, um die Form sozialer Einheit bewältigen zu können. Und dies gilt, ceteris paribus, auch für die religiöse Konstitution einer Einheit zwischen individuellem Leben und der überindividuellen Form Roms. Erst die monotheistische Vorstellung eines transzendenten Schöpfergottes war in seiner Extension hinreichend abstrakt und umfassend.

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Folgendes ist nun der Fall. Das religiöse Apriori ist nicht nur eine individuelle Formungskraft neben anderen, sondern eine umfassende Lebenskraft, deren Funktion in der Objektivation der individuellen Entelechie in seine ideale Einheit liegt. Religiosität schafft die Form eines Koordinationspunkts, in dem die transzendentalen Energien des Lebens konvergieren. Materiell vollzieht Simmel den religiösen Konstitutionsprozess allein – aber repräsentativ, so meine Einschätzung – an der apriorischen Zweckfunktion des Lebens: Wechselwirkend mit der Ausdehnung der Sozialbeziehungen abstrahiert sich die Form des Zwecks von der Bindung an bestimmte Inhalte. Erst mit dem ›Akt‹ der Abstraktion der Zweckform stellt sich die Frage nach der »Vereinheitlichung«, dem »Abschluß«, »dem absoluten Endzweck« (alles PDG: 490), nach der die partikular-substanziellen »Einzelzwecke« umfassenden »vollendeten Einheit« (SN: 177). Die religiöse Umformung der transzendentalen Zweckkategorie muss nun deren Objektivation als Form in einen jenseits allen empirischrelativen Zwecks, in der Transzendenz gelegenen absoluten Zweck bedeuten, ganz analog, wie es Simmel an den Beispielen der Kausalität oder des Glaubens demonstriert hat. Die Abstraktion der absoluten Einheit ist die kognitiv-religiöse Implikation der Abstraktion der Lebensverhältnisse: »Diesem [religiösen] Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung. Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes.« (PDG: 491; Hervorhebung PB).

So auch ähnlich in »Schopenhauer und Nietzsche«: »In dieser, innerlich vielleicht bedürftigsten Lage, in der sich je die historische Menschheit befand, brachte das Christentum die Erlösung und Erfüllung. Es gab dem Leben jenen absoluten Zweck, dessen es bedurfte, nachdem seine Vielfältigkeit und Umständlichkeit es in einen Irrgarten von lauter Mitteln und Relativitäten sich hatte verlaufen lassen. Das Heil der Seele und das Reich Gottes bot sich jetzt den Massen als ein unbedingter Wert, als das definitive Ziel jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Sinnlosen des Lebens.« (SN: 178)

Die Konstitution des Seelenheils ist in dieser religionsphilosophischen Interpretation Simmels die vergegenständlichte Transzendenz-»Version« der apriorischen Zweckform – »aus sich selbst heraus […] in ihrer reinen Wesenheit […], frei von der Beschränkung durch einen Gegenpart, so ist der absolute, der religiöse Gegenstand ihr Ziel und Erzeugnis« (DR: 76). Zwischenbemerkung: Aussagen über die Form des Zwecks sind dann, aber auch nur dann Aussagen über partikulare Sphären individuellen Handelns, wenn die Form des Zweckhandelns eine die einzelnen Kulturformen übergreifende Kategorie darstellt. Die Kulturformen besitzen für sich genommen keinen Zweck, sondern jeweils ein spezifisches, Handeln und Erleben orientierendes Ideal, welches wiederum auf eine apriorische Form im individuellen Leben zurückgeht. Innerhalb der einzelnen Formen ist das Handeln aber zweckgerichtet. Mit der religiösen Objektivation eines dieser Welt transzendenten Gottesreiches etabliert sich eine von der Eigenlogik der Sozialität entkoppelte Form der Religion.

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Gott ist die Schöpfung des Geistes, umfasst nun aber, als Form der »Einheit der Wechselwirkung« (ebd.: 105) das religiöse Individuum, andererseits tritt Gott als absolutes Objekt in Wechselwirkung mit dem religiösen Individuum – mit Folgen: »Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unscheinbarste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Bedeutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück; so war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schicksal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage allem bloß Relativen, jedem bloßen Mehr oder Weniger der Würdigung enthoben.« (PDG: 491)

Der Rückwirkungseffekt des Absoluten auf das religiöse Individuum besteht in der Verleihung eines absoluten, durch nichts aufzuwiegenden Wertes des Menschen. Die Totalität des individuellen Menschenlebens wird, wie es gemäß Kapitel 7.2.3 dieses Buch der religiösen Idee vom Absoluten entspricht, aus dem Reich des Relativen enthoben. Ideengeschichtlich und praktisch habe der absolute Wert des Menschen bis in die Gegenwart zur Begründung beispielsweise der Menschenwürde und von universalen Menschenrechten beigetragen (vgl. ebd.: 493; Krech 1998a: 85). Der absolute Wert verbietet nach Simmel den Verkauf des ganzen Menschen gegen das die Austauschbarkeit zwischen Waren symbolisierende Geld, sprich: Sklaverei (vgl. PDG: 493); nicht aber den Verkauf der von der Individualität abstrahierten Ware Arbeitskraft (vgl. ebd.: 631-32). Hier sieht Simmel im historischen Resultat eine ideengeschichtliche Verwandtschaft zwischen Christentum einerseits und Aufklärung andererseits (vgl. ebd.: 493). Die »Wendung zur Idee« in den religiösen Formungsprozessen bringt nach Simmel die (Er-)Lösung von weltlichen Bindungen und der Ausrichtung des individuellen Handelns ausschließlich nach Gottes Gesetzen: »Es entstand das religiöse Individuum mit seiner unbedingten Selbstverantwortlichkeit, die Religiosität des ›Kämmerleins‹, die Unabhängigkeit von jeglicher Bindung an Welt und Menschen gegenüber der einen, die in der unabgelenkten, unvermittelten Beziehung der Einzelseele zu ihrem Gott gegeben war – zu dem Gotte, der darum nicht weniger, ja gerade deshalb der ›ihre‹ war, weil er gleichmäßig der Gott aller war.« (SOZ: 837)

Eine Vergesellschaftung mit anderen findet unter Maßgabe der individuellen Beziehung zu Gott statt (vgl. DR: 93-94). Religionsphilosophisch impliziert dies den Vollzug der Einheit von individuellem Leben und Form, d. h. die Reproduktion des eigenen Seelenheils in der Praxis. Darin besteht die Formvorschrift ausdifferenzierter Religion: Die Transzendenz Gottes hat immanent zu wirken, und zwar durchgehend. So schreibt Simmel in der »Socialen Differenzierung«, dass »in der frühesten christlichen Gemeinde eine vollkommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben geherrscht hatte« (ÜSD: 192). In der »Soziologie« heißt es, »das ursprüngliche Christentum« sei »eine noch undifferenzierte Einheit von Dogma und Lebensform« gewesen (SOZ: 66). Allerdings stellt sich von hier aus die Frage nach dem Kriterium religiösen Handelns: Wie erkennt das religiöse Individuum in der Unmittelbarkeit seiner Beziehung zu Gott die Gesetze seines Handelns? Um ein äußerliches, gesellschaftlich vorgegebenes religiö-

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ses Kriterium des Handelns kann es sich nicht mehr handeln, weil Gott nicht mehr der Gott einer bestimmten Gruppierung oder Gesellschaft ist, sondern die transzendente Einheit der Welt ist, so wie von »unten« her die apriorischen Energien in der Transzendentalität des individuellen Lebens zur Einheit kommen. Gottes Gesetz ist das Gesetz des Individuums, und in der Individualität des religiösen Gesetzes unterscheidet sich das Christentum nach Simmel gerade von anderen, partikularen Religion (vgl. DR: 109). Auf die Religion bezogen müsste dann die mit dem Christentum vollzogene »Wendung zur Idee« eine Wende zur »Innerlichkeit« bedeuten. Gottes Wille wird zur »Hohlformel«, die zur Realisierung des individuellen Gesetzes auffordert, selbst aber keine Substanz mehr besitzt. Daraus gebärt sich das epistemologische Problem, die jeweils individuelle Einheit von Leben und Form für die Praxis zu interpretieren. Simmel zufolge bezeichnet Religiosität einen »Spannungsgrad des Gefühls, eine spezifische Innigkeit und Festigkeit des inneren Verhältnisses, eine Einstellung des Subjektes in eine höhere Ordnung, die von ihm doch zugleich als etwas Innerliches und Persönliches empfunden wird.« (Ebd.: 64) Das Zitat besagt ja nichts anderes als die Einheit (»zugleich«) von Leben (»Innerliches und Persönliches«) und Form (»höhere Ordnung«). Diesen Punkt hatte ich bereits weiter oben dargestellt. Für das Christentum lässt sich bei Simmel an einigen Stellen der Verweis auf die Symbolik der individuellen Gewissensentscheidung als religiöses Kriterium finden. Im zweiten Jahrhundert, so Simmel, hätten die ersten Christengemeinden noch »die Opposition des individuellen Gewissens gegen die Beschlüsse und Aktionen der Majoritäten« zugelassen (SOZ: 225; Hervorhebung im Original). Dies habe sich erst mit dem später folgenden Institutionalisierungsprozess verändert. An anderer Stelle und früher, in der »Socialen Differenzierung«, stellt Simmel die Konsequenzen der Reformation für das religiöse Individuum heraus. Dazu habe unter anderem gehört, dass »das individuelle Gewissen sich unmittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewußt werden durfte, ohne […] Nachfrage beim Priester« (ÜSD: 275). Eine systematische Ausarbeitung des Gewissens findet sich bei Simmel nicht. Im »Individuellen Gesetz« stellt Simmel den Objektivitätscharakter der Individualgesetzlichkeit allerdings dem ausgesprochen subjektiven Charakter »der persönlich-gewissensmäßigen Entscheidung« gegenüber (LA: 408). Simmel vermochte es nicht, ein von allem persönlichen Empfinden unabhängiges Erkenntniskriterium an die Hand zu geben. 60 Eine weitere Ausdeutung der religiösen Innerlichkeit ist meines Erachtens daher nicht oder kaum möglich.61

60 Für eine Kritik vgl. den Aufsatz von Klaus Latzel, der über einen Vergleich der Kriegspositionen Georg Simmels und seines Studenten Max Raphael zu zeigen versucht, dass sich aus der Logik des individuellen Gesetzes allein die inhaltliche Argumentation Simmels gegen den Antimilitaristen nicht herleiten lasse, diese vielmehr dessen Bindung an das eigene Land reflektierte (vgl. Latzel 1997). 61 Partiell finden sich Überschneidungen mit Niklas Luhmanns funktionalistischen Beobachtungen zum Gewissen. So schreibt Luhmann: Das Gewissen ist nicht eine Stimme, sondern eine Funktion. Es […] identifiziert die Persönlichkeit mit ihrem Verhalten, indem es ihr zeigt, was sie ist und was sie sein kann. Es sucht nach einer Lebensformel, die Vergangenheit und Zukunft zusammenfaßt. Es entschließt sich für die Zukunft […] gerade im Lichte der Erkenntnis seiner faktisch so gewordenen Identität (Luhmann 1965: 285-86).

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Als Form des Lebens hat die aus der Beziehung zum Christengott her gesteuerte religiöse Einheit von Leben und Form eine materielle Gestalt anzunehmen. In die konkrete Formbildung haben Simmel zufolge auch soziologische Wirkmechanismen mit hineingespielt. So sei die religiöse Selbstbewusstwerdung der ersten Christen aus einem »Gegensatz« gegen die römische Mehrheitsgesellschaft entstanden (SOZ: 66). Die geringe Größe der frühen Gemeinden sei ebenfalls eine Bedingung dafür gewesen, innerhalb des ausgedehnten Weltreiches Rom eine religiöse Einheit von Leben und Form zu bilden (vgl. ebd.: 66) – auch wenn der Christengott seinem Anspruch nach das gesamte Dasein seinen Gesetzen unterordnet. Die Gruppen trugen »sozialistischen Charakter« (ÜSD: 183). Unter dem »sozialistischen Charakter« versteht Simmel Egalität, allerdings in dem negativen Sinne, dass vor Gott allein die formale Tatsache zähle, »absolute Individualität« zu sein, nicht in einem positiven, weltlichen Sinne (ebd.: 183; vgl. auch DR: 100-01). Diesem negativen Sinn – dem Absehen von Weltlichkeit und der Hinwendung zum Absoluten – entsprach materiell ein religiös umgewertetes Armutsideal. Die »ersten Christen«, so Simmel, »mögen sich vielfach [...] nicht direkt feindselig und aggressiv den Gütern der Sichtbarkeit gegenüber [verhalten haben], sondern einfach ohne Beziehung zu ihnen, wie zu Dingen, für deren Wahrnehmung man kein Organ besitzt.« (PDG: 329) In dem Verzicht auf Besitz oder sogar – wie das Zitat nahelegt – auf das Begehren selbst wird auf die Formen dieser Welt verzichtet. Genüsse, für die kein Begehren mehr empfänglich ist, können das Individuum auch nicht mehr an die Welt binden. Anders gesagt: Die religiös konstituierte Einheit zwischen Leben und Form besteht im Verzicht auf die Bindung an die Form, zumindest in einem inhaltlich sehr weitgehenden, wenn auch natürlich durch die körperliche Physis begrenzten Sinne. Erneut ist der generalisierende Charakter in der spezifischen Ausgestaltung des religiösen Lebens zu beachten. Den Verzicht interpretierte Simmel in seinem »Goethe« allgemein als Entwicklungsbeschränkung der apriorischen Energien um der Vollendung des individuellen Lebens willen (vgl. GOE: 189-91). Beschränkung ist dabei im Sinne der Form gemeint: Die Entfaltung einer einheitlichen Individualität bedeutet, ihre einzelnen Kräfte, Talente und Fähigkeiten auf dieses Entwicklungsideal seiner selbst abzustimmen: »Bedingung, Beschränkung, Verzicht muß von vornherein der Lebensentwicklung einwohnen, die den Menschen zu seinem Er-selbst-Sein, d. h. zur ›Freiheit‹ führt« (ebd.: 191; vgl. dazu Kapitel 5.5 in diesem Buch). Das Gegenteil der Begrenzung wäre die – nicht im transzendentalen, sondern empirischen Sinne gemeinte – Zerreißung des individuellen Lebens zwischen den Ansprüchen. Dies war Inhalt von Kapitel 5.5 und 6.4.3 dieses Buches. Simmel interpretiert den religiösen Verzicht bzw. die Askese als eine symbolisch generalisierte Lebensform, deren inhaltliche Ausgestaltung sekundär ist (vgl. Krech 1998a: 140-42). Materielle Armut kann dann als eine kontingente Möglichkeit der Begrenzung um der individuellen Vollendung willen gedacht werden, die allerdings aus der Innerlichkeit des Individuums selbst erfolgen muss. Andernfalls würde es sich um ein äußerlich aufoktroyiertes Ideal handeln. Dennoch ist eine semantische Verwandtschaft der Armut zur wortwörtlichen Formulierung des Seelenheils nicht zu verkennen, wenn Simmel Letzteres wie folgt beschreibt: »Nirgends in ihrem Umkreis hat sie [die Seele; Anmerkung PB] ein Aeußerliches, das ihre Sehnsucht oder Selbstsucht wecken könnte, sondern weil sie überall sich selbst hat und nichts als ihr reinstes Inneres ist, so ist sie überall Verlangen und Erfüllung zugleich.« (HDS: 111) Eine Restbindung an die Form der Welt

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blieb den ersten Christen dennoch: Sie waren »zur Ergänzung der äußeren Lebenserfordernisse« auf jene sie umgebende Gesellschaft angewiesen, gegen die und aus der heraus sich ihre eigene religiöse Welt herausdifferenzierte (SOZ: 66). 7.3.2.1 Exkurs: Der Geist schafft die Form – Evolutionstheoretische Anmerkungen Ich füge einen Einschub ein, um das Zusammenhangsverhältnis zwischen der Ausdehnung sozialer Beziehungen einerseits und der Abstraktion eines religiösen Objektivationszusammenhangs andererseits zu erklären. Die religiöse Objektivationsform wird immer abstrakter, vom Stamm über die Polis und den griechisch-römischen Polytheismus bis zum Monotheismus im Christentum, der jede soziale Diesseitigkeit transzendiert, um diese dann rückwärtig nach ihren Gesetzen zu formen. Parallel dazu verändert sich die Vorstellung von der religiösen Individualität: Auch sie differenziert sich aus, wird frei und findet ihre einzige Bindung schließlich im Gesetz Gottes. Zunächst ist auch hier auf eine Parallele Simmels zu Durkheim zu verweisen. Gleich wie für Simmel war die antike Polis für Durkheim eine vorrangig religiös integrierte Gesellschaft (vgl. Tyrell 2011: 67, Fn. 37). Ferner und darüber hinaus teilt Durkheim mit Simmel die Idee einer Evolution der Gottesvorstellungen vom Konkreten zum Abstrakten (vgl. Durkheim 1988: 348-50). Der Abstraktionsprozess vollzieht sich in Abhängigkeit des Größenwachstums der Gesellschaft. Die lokalen Bedingungen unterschieden sich voneinander und folglich, so Durkheim in der »Arbeitsteilung«, müsse ein immer weitere Lokalitäten umgreifender sozialer Zusammenhang ein immer abstrakteres Kollektivbewusstsein entwickeln, um den Individualitäten noch einen Platz geben zu können. Parallel dazu, so Durkheim weiter, würden die religiösen Wesen vom Sinnlich-Konkreten immer weiter in die Unfassbarkeit der Transzendenz geschoben. Segmentär differenzierte Gesellschaftsformationen sprechen noch der Tier-und Pflanzenwelt einen sakralen Status zu. »Nach und nach aber«, so Durkheim, »lösen sich die religiösen Kräfte von den Dingen, deren Attribute sie zuerst waren, und gewannen ein eigenes Wesen.« (Ebd.: 349-50) Das Verhältnis einer materiellen Identifikation von Objekten mit einer religiösen Natur wird zunehmend gekappt und gewinnt vermittelten Charakter. Die griechischen Götter leben bereits »zurückgezogen auf den geheimnisvollen Höhen des Olymps oder in den Tiefen der Erde« (ebd.: 350). Der Christengott rücke noch weiter fort, er sei abstrakt und vollständig transzendent: »Aber erst mit dem Christentum zieht sich Gott endgültig aus dem Raum zurück. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Die Trennung zwischen der Natur und dem Göttlichen ist sogar so vollständig, daß sie in einen Antagonismus ausartet. Zugleich wird der Begriff der Gottheit allgemeiner und abstrakter, denn er formt sich nicht mehr aus sinnlichen Empfindungen, wie am Anfang, sondern aus Ideen. Der Gott der Menschheit ist notwendigerweise weniger faßbar als die Götter der Stadt oder des Klans.« (Ebd.: 350)

In seiner Arbeitsteilungsstudie vertritt Durkheim die Annahme einer Evolution der Religion von vollständiger Identität von Gesellschaft und Religion bis hin zu einem immer kleiner werdenden Anteil der Religion am gesellschaftlichen Leben, während der Anteil anderer, eigenständiger Bereiche wie der Politik, Wissenschaft und Wirtschaft wächst (vgl. ebd.: 224-25). Ergänzend zur Evolutionstheorie der abnehmenden

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Bedeutung der Religion entwickelte Durkheim die Theorie einer zeitlosen Funktion der Religion: die gesellschaftliche Integration über gesellschaftlich verbindliche Ideale (vgl. Kapitel 7.2.6.1 in diesem Buch). Eine Religion ist demnach die Objektivation oder auch, wie Durkheim es nennt, die Selbstbewusstwerdung einer Gesellschaft in einem Symbolsystem, welches es dann zwecks Integration zu pflegen gilt. Religion und Gesellschaft gehen fast, wenn auch nicht vollständig ineinander auf. Andererseits neigt Durkheim dazu, die religiöse Transzendenzerfahrung mit dem Vergesellschaftungsprozess von Individuen gleichzusetzen. Die Evolutionstheorie der abnehmenden Bedeutung der Religion einerseits sowie der zeitlosen Funktion von Religion andererseits stand bei Durkheim unter den ideologischen Vorzeichen der Laizisierungspolitik in Frankreich (vgl. Tyrell 2008). Was demnach de facto schwand und schwinden sollte war der Einfluss der katholischen Kirche mitsamt ihrer Dogmen; was dagegen blieb, war die integrative Funktion der Religion, welche mit den Inhalten weltlicher Ideale gefüllt werden musste, gleichwohl aber von der Weihe religiöser Heiligkeit zu umschließen waren, um die neue, nun weltliche Moral effektiv in die Erziehung zum patriotischen Staatsbürger umsetzen zu können. Dieser Punkt ist Gegenstand von Kapitel 9.1 in diesem Buch. Auch Simmel nahm eine zeitlos umfassende Funktion der Religion an: die absolute Einheit von Leben und Form. Andererseits beobachtete er eine religiöse Evolution religiöser Glaubenssysteme, in welcher die Religion die Rolle eine Sphäre neben anderen einnimmt. Eine weitere Erkenntnis der Sekundärliteratur ist eine inhaltliche Nähe zwischen Durkheim und Simmel in der Relationierung von Religion und Gesellschaft zueinander bei gleichzeitiger Differenz in den zugrundeliegenden Prämissen, d. h. in der Gesellschafts- und Religionstheorie (vgl. Krech 1998a: 193-96; Joas 1999: 114).62 Nach Volkhard Krech ist es »gerade das Analogieverfahren, das Simmels Ansatz fundamental von Durkheims Konzeption unterscheidet.« (Krech 1998a: 194, Fn. 4). Krech verweist auf eine Textpassage in einem – eigentlich Max Webers Religionssoziologie gewidmetem – Aufsatz Hartmann Tyrells, wonach Durkheim Gesellschaft und Religion miteinander »identifiziert«, Simmel dagegen gehe es »um Korrelation, um Abfolge- und Steigerungsverhältnisse.« (Tyrell 1992: 177) Der entscheidende epistemologische Unterschied zu Simmel besteht meines Erachtens in der Abweisung jeder individuellen Schöpferkraft religiöser Ideale und in der Zuweisung aller Schöpferkraft an das rauschhafte Kollektiv. Soziales erklärt Soziales – deshalb kann man mit Gottfried Küenzlen gehen, wonach bei Durkheim »die Inhalte des jeweiligen Glaubens der wechselnden Religionsgeschichte […] nur Reflex des Wandels der Gesellschaft [sind].« (Küenzlen 1995: 89). Bei Simmel verhält es sich anders: Hier ist es der lebendige Geist, der die Form schafft, um dann von der überindividuellen Form Rückwirkungen zu erfahren.

62 Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität von Durkheims Religionssoziologie lasse ich hier im weitesten Sinne unbeantwortet. Dazu verweise ich auf die Arbeiten von Wallwork 1985 und Meier 1995. Meier vertritt die Hypothese einer sich entwickelnden Werkskontinuität entgegen einer sich auf eine Selbstaussage Durkheims stützenden Interpretation – deren Verbreitungsgrad in der Sekundärliteratur ich nicht zu beurteilen vermag –, der gemäß dieser 1895 eine Wende in seinem religionssoziologischen Denken erlebt habe.

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Im Fokus steht nun die simmelsche Kategorie der Wechselwirkung. Jene Kategorie, die Simmel laut eigener Aussage im Laufe seiner eigenen Entwicklung »zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip« geworden sei (Lichtblau 1997: 181). Ich hatte diesen Punkt bereits in Kapitel 4 in diesem Buch und recht allgemein berührt: Das individuelle Leben schafft die überindividuellen Kulturgebilde, die sein adäquater Ausdruck – seine Form – sind, zugleich aber – dieses »Zugleich« in einem metaphysisch-zeitlosen Sinne – mit der Formbildung wird diese dem Leben inadäquat und ist deshalb zur Überwindung bestimmt, nur um eine neuerliche Form zu schaffen. Die geschichtliche Abfolge religiöser Objektivationsformen, wie ich sie stilisiert darzustellen versucht habe, kann dann als ein Schöpfen und Zerstören durch den religiösen Geist verstanden werden, als ein permanentes Abarbeiten seiner an der religiösen Formung überhaupt. Im Folgenden werde ich versuchen, die aus dem Wesen des Lebens selbst geborene Dynamik des Wechselspiels zwischen Leben und Form auf das historische Material zu beziehen, mit dem Simmel arbeitet. Ziel ist es hierbei zu zeigen, wie sich unterschiedliche Inhalte aus teilweise unterschiedlichen Werkperioden Simmels auf ein und dasselbe vitaldualistische Schema rückbeziehen lassen. Simmel nimmt an, dass das geistige Leben selbst eine Evolution durchmacht, und zwar in Wechselwirkung mit der an das Leben variable Anforderungen stellenden Umwelt, in der das Individuum sich bewegt. Dabei geht Simmel von einer Art Neuro- oder Kognitionsplastizität des menschlichen Geistes aus. Mit der Komplexität der Sozialstruktur variiert die apriorische Form des schöpferischen Geistes, welche der Sozialstruktur zugleich konstitutiv zugrundeliegt. Es ist also nicht von einem Ursache- und Wirkungsverhältnis die Rede, sondern, wie aus der Semantik bereits ersichtlich, ein Korrelationsverhältnis des ›Zugleich‹. Ich gehe mehrere Beispiele durch. Das Großtstadtleben, so eine Hypothese Simmels, entkoppelt die räumliche von der sozialen Wahrnehmung. Das individuelle Ertragen der räumlichen Nähe einer im Unterschied zum Land- oder Dorfleben ungleich höheren und auch konzentrierteren Anzahl von Menschen ist für Simmel nur möglich durch eine innere Distanznahme aus der personalen Vergemeinschaftung mit jedem: Die apriorische Einstellung des Großstadtgeistes ist Fremdheit. Simmel meint sogar eine latente Aversion gegenüber anderen zu erkennen (vgl. GG. 122-23). Dies schließt Intim- oder Freundschaftsbeziehungen nicht aus, macht sie aber abhängig von einem selbstselektiven Zugriff des Individuums, das Sich-Einlassen auf andere. Die »unvermeidliche Kenntnis der Individualitäten« wie die »ebenso unvermeidlich gemütvollere Tönung des Verhaltens« ist Sache »des kleineren Kreises« (ebd.: 118; Hervorhebung PB). Nicht umsonst sind die großstädtische Reserviertheit und individuelle Freiheit für Simmel zwei Seiten derselben Medaille (vgl. ebd.: 123-24). Die Beziehung zum Nachbarn kann in der Großstadt eine freundschaftliche oder eine feindschaftlich sein, aber der Raum sagt nichts oder zumindest wenig über die partikulare Sozialbeziehung aus (vgl. SOZ: 720). Anderes Beispiel: Aus religionssoziologischer Perspektive ist der Institution Kirche die Aufgabe zugeschrieben, die religiöse Beziehung des Individuums zum transzendenten Gott zu vermitteln. Dieser Gott ist eine geistige Abstraktionsleistung. Diese individuelle Abstraktionsfähigkeit, so Simmel, habe wiederum die Kirche ihrerseits geschaffen. Das

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»Verhältnis des mittelalterlichen Europa zu Rom allerdings, wo es nicht der räumlichen Distanz wegen versagte, [sei] gerade ihretwegen zur Schule des Abstraktionsvermögens geworden, der Fähigkeit, über das sinnlich Nächste hinaus zu empfinden, des Triumphes der nur durch ihren Inhalt wirksamen Mächte über die, die auf räumliche Gegenwart gestellt waren.« (Ebd.: 719).

Die räumliche Distanz von Sozialbeziehungen könne den Geist unter »Spannung« setzen und damit die »Ausbildung der Abstraktion« wie die »Streckfähigkeit des Geistes« erzwingen (ebd.: 718-19). Vergleichbar einem Muskel kann der Geist dabei angemessen gefordert wie unangemessen überfordert werden (vgl. ebd.: 719). Dem Beispiel der weltumspannenden religiösen Beziehung diametral gegenüber steht der geistig enge Horizont des Stammeskollektivs: Was räumlich nahe ist, ist auch sozial nah, d. h. ist Mitglied der Gruppe. Was sich dagegen aus der räumlichen Unmittelbarkeit entfernt, ist auch sozial fremd. Simmel begründet dies durch eine entsprechend anders gestaltete Wahrnehmung des individuellen Lebens: »Je primitiver das Bewußtsein ist, desto unfähiger, die Zusammengehörigkeit des räumlich Getrennten oder die Nichtzusammengehörigkeit des räumlich Nahen vorzustellen. An diesem Punkt geht die Art der vergesellschaftenden Kräfte unmittelbar auf die letzten Fundamente des Geisteslebens überhaupt zurück; nämlich darauf, daß die naive Einheitlichkeit des unausgebildeten Vorstellens überhaupt noch nicht zwischen dem Ich und seiner Umgebung recht unterscheidet. Einerseits verschwimmt das Ich noch ohne individualistische Betonung in den Bildern der andern Menschen und der Dinge, wie der Mangel des Ichs und die halb kommunistische Undifferenziertheit früher Sozialzustände zeigen; andrerseits wird auf dieser Stufe den Objekten kein Für-sich-Sein zuerkannt« (ebd.: 717-18).

Stammeskollektive sind, wie Simmel an mehreren Stellen wiederholt ausführt, in geringem Maße sozial differenziert. Der Ausprägungsgrad sozialer Differenzierung korreliert nun mit einer entsprechenden kognitiven Differenzierung: Geringe arbeitsteilige Spezialisierung impliziert eine gering ausgebildete Fremdwahrnehmung anderer als eigenständiger Individuen, ebenso aber auch ein kaum vorhandenes Maß einer Objektwahrnehmung. Simmel bezeichnet diesen Zustand mal als »Indifferenzzustande« (PDG: 32; vgl. auch HPH: 80-81) oder als »halb kommunistische Undifferenziertheit« (SOZ: 719-20), meint aber vom Prinzip her das gleiche: Eine Einheit, die noch keine Differenzen kennt. Es seien neben den schon genannten einige Attribute dieses Indifferenzzustandes genannt. So werde einmal nicht zwischen Wirklichkeit und Phantasie unterschieden, wie auch nicht zwischen Sein und Sollen (vgl. EM I: 16-18, 73-91; PDG: 401-02). Es werde außerdem nicht zwischen Symbol und Symbolisiertem unterschieden (vgl. ebd.: 402). Wie Simmel meint, lassen sich Rudimente des Indifferenzzustandes auch in komplexer ausdifferenzierten Gesellschaften finden. Gesollte Handlungen werden – obgleich logisch ein Fehlschluss – durch Verweis auf traditional hergebrachte Ist-Zustände begründet (»so ist es doch nun einmal in der Welt«, EM I: 75).63 Kleinen Kindern wie den »ungebildeten Klassen« sei es nicht möglich, »die Thatsachen und ihre Auslegungen und Phantasiegebilde auseinander

63 Psychologisch ist das möglich, was logisch unmöglich ist.

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zu halten.« (Ebd.: 16) Auch die höher gebildeten Schichten wiesen »noch genug Ueberbleibsel dieser Unvollkommenheit« auf, man »scheut sich etwas Böses auch nur beim Namen zu nennen, man darf gewisse Dinge nicht einmal im Scherze sagen, offenbar weil für uns an der blossen Vorstellung schon ein Theil Realität haftet« (ebd.: 16).64 Die soziale wie kognitive »Verschmelzung zwischen Individuum und Gesamtheit« zeitigt für Simmel typische soziale Formen, wie beispielsweise die Zuschreibung von Verantwortlichkeit für ein Handeln auf das Kollektiv statt auf das Individuum (ÜSD: 139; DR: 64). Die oben erwähnte Identifikation des Polis-Bürgers seines Eigen- mit dem Sozialinteresse bedingt ebenfalls eine entsprechende geistige Konstitution. Mit Blick auf die Antike meint Simmel, dass diese sich zwar nicht mehr auf der Indifferenz-Stufe sozial-kognitiver Entwicklung befunden habe, aber auch noch nicht über eine ausdifferenzierte Semantik der Individualität verfügt habe. Die Individualitätssemantik bildete Simmel zufolge erst die Renaissance aus (vgl. ÜSD: 178; SOZ: 816): »[D]ie Geisteswelt des klassischen Altertums unterscheidet sich von der Neuzeit im wesentlichen dadurch, daß erst die letztere es auf der einen Seite zu der völligen Schärfe des Ichbegriffes gebracht hat – wie er sich zu der dem Altertum unbekannten Bedeutung des Freiheitsproblems aufgegipfelt hat –, auf der anderen zu der Selbständigkeit des Objektbegriffes, wie er in der Vorstellung der undurchbrechlichen Naturgesetzlichkeit ausgedrückt ist. Das Altertum war dem Indifferenzzustande, in dem Inhalte schlechthin, ohne zerlegende Projizierung auf Subjekt und Objekt vorgestellt werden, noch nicht so weit entrückt, wie die späteren Epochen.« (PDG: 30-31)

Den Vitaldualismus aus Leben und Form als Wechselwirkung zu beobachten impliziert für Simmel eine nicht-lineare Zeitlosigkeit. Das Leben mag die Form schöpfen, aber die Form wirkt auf das Leben zurück. Eindrucksvoll lässt sich dies gegen Ende von Simmels »Soziologie« in seinem »Exkurs über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse« beobachten (vgl. SOZ: 850-55). Seine These zum Verhältnis von Individualpsychologie und Sozialstruktur läuft auf die Annahme eines irreduzibel wechselseitigen Konstitutions- und Deutungsverhältnisses zwischen individualpsychologischen und sozialen Beziehungen hinaus: »Das Äußere wird durch das innere, das Innere aber durch das Äußere gestaltet und verstanden, in Abwechslung, aber sicher oft auch im Zugleich.« (Ebd.: 853; Hervorhebung im Original) Beispielhaft behauptet Simmel zu Anfang des genannten »Exkurses« eine Parallelität zwischen der Ausdehnung der Gruppe, Konkurrenz und individueller Differenzierung auf der Objektivationsebene des Sozialen einerseits und einem entsprechenden Differenzierungsprozess auf der individualpsychologischen Ebene:

64 Die Annahme einer evolutionären Wechselwirkung zwischen Geist und Sozialstruktur findet sich in der jüngeren Soziologie beispielhaft bei Georg W. Oesterdiekhoff (1992) und Günther Dux (2000).

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»Man könnte an eine allgemeine Kombinatorik psychischer Elemente denken, an regelmäßig sich wiederholende Verhältnisformen zwischen solchen. So wird z. B. […] ein relativ enges, homogenes Konglomerat von Elementen, welcher Art immer, seine Erweiterung nur unter der Bedingung finden, daß jedes einzelne Element eine stärkere Selbständigkeit und qualitative Unterschiedenheit gegen jedes andre findet; so würde die Selbständigkeit jedes Elementes mit der Begrenzung des Existenz- und Wirkungsspielraumes durch andre unverträglich werden, und dadurch ein gegenseitiges Sich-Verdrängen eintreten, irgend eine Art des Kampfes ums Dasein unter den einzelnen; so würde grade dadurch, daß ein einzelnes Element in sich eine Mannigfaltigkeit ausbildet, die es als Ganzes zu einem Gegenstück des umfassenden Ganzen machen kann, eine Tendenz zur Rundheit und Vollständigkeit an ihm auftreten, die mit seiner Rolle als Teil und Glied jenes Ganzen nicht verträglich ist, zwischen dem Spezial- und Teilcharakter eines Elementes […] und seinem möglichen oder wirklichen Charakter als einer für sich geschlossenen Einheit muß es zu einem Konflikt kommen usw. Kurz, es ließen sich seelisch allgemeine Verhältnistypen denken, die die soziologischen Formen ebenso als einen Spezialfall […] unter sich begreifen, wie diese selbst die einzelnen Gruppen der konkreten Vergesellschaftungsvorgänge.« (ebd.: 850-51; Hervorhebung im Original)

Danach kehrt Simmel das Konstitutionsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum entsprechend seiner Wechselwirkungsmethode um. In Wort und Sinn ganz ähnlich den Ausführungen im vorliegenden »Exkurs« meint Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes«, dass die äußerliche Unfreiheit ihren Widerhall in innerlicher Unfreiheit findet: »Die Unfreiheit nach außen setzt sich sehr oft in das Innere fort […]. So kann man [individualpsychologische] Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten.« (PDG: 418) Die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft löst die individuelle Bindung an einen sozial vorgegebenen, materiell bestimmten Beruf. Die im Geld materialisierte Unbestimmtheit lässt im positiven Sinne eine Freiheit der individuellen Berufswahl, und dies schlägt sich psychologisch nieder, indem es »innerhalb der psychologischen Zusammenhänge […] der rein geistigen Betätigung die meiste Freiheit läßt« (ebd.: 421). In der »Soziologie« meint Simmel, dass ein Beispiel für »die Geschichte des menschlichen Geistes« der Erwerb eines differenziellen Bewusstseinsvermögens sei (SOZ: 855). Dieses bedeutet einerseits ein allgemeines und abstraktes Denken, andererseits die Wahrnehmungsfähigkeit von Individualitätsformen zwecks Erkenntnis des Allgemeinen. Dem stünde »ein roher Zustand des Denkens« gegenüber, der sowohl der Abstraktionsleistung als auch der Individualwahrnehmung »unfähig« sei (ebd.: 856). Die Ausbildung der genannten Kognitionsleistungen spiegelten Simmel zufolge jenes »Komplementärverhältnis [wider], das sich auch in den realen sozialen Entwicklungen geltend macht.« (Ebd.: 856) Die im Zitat erwähnte »reale soziale Entwicklung« bezieht sich auf die Leithypothese des Quellkapitels: die Korrelation zwischen der Individualisierung und der Ausdehnung der sozialen Gruppe (vgl. ebd.: 791-92). Der Korrelationsaussage liegt das zugrunde, was Simmel dezidiert zu »den wenigen Regeln« zählt, welche »man mit annähernder Allgemeinheit für die Form der sozialen Entwicklung aufstellen« könne, nämlich: »Die Evolution der Gesellschaften pflegt mit einer relativ kleinen Gruppe zu beginnen, welche ihre Elemente in strenger Bindung und Gleichartigkeit hält, und zu einer relativ großen vorzu-

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schreiten, die ihren Elementen Freiheit, Fürsichsein, gegenseitige Differenzierung gewährt. Die Geschichte der Familienformen wie der Religionsgemeinschaften, die Entwicklung der Wirtschaftsgenossenschaften wie die der politischen Parteien zeigt allenthalten diesen Typus.« (PDG: 469)

Je größer der Kreis an zu umfassenden Individuen, eine desto abstraktere Form muss das sie vereinheitlichende Prinzip annehmen. Vereinfacht gesagt, muss sich das »Regelwerk« einer Form generalisieren, je umfangreicher die Beziehungen werden. Die soziale Generalisierung impliziert eine Differenzierung der zu vermittelnden Individuen, denn andernfalls bedürfte es keiner Generalisierung. Die soziale Form schließt das individuelle Leben ein, welches dieser gleichzeitig konstitutiv zugrundeliegt, und deshalb muss sich die Abstraktion auch auf der individuellen Ebene bemerkbar machen. Simmels paradigmatisches Beispiel dafür war wohl der Verselbständigungsprozess der ökonomischen Form. »[K]leine, relativ in sich geschlossene Wirtschaftskreise« (SOZ: 832) stehen sich anfangs gegenüber in einer Raub- anstatt einer Handelsbeziehung, schließen dann aber Frieden im Tauschhandel (vgl. PDG: 89). Der Warentausch und die Produktion sind lange Zeit gesellschaftlich reguliert, soziale Vorstellungen beispielsweise über Preis und Menge eines Produktes dominieren die ökonomische Praxis. Mit der Ausdehnung zur Weltwirtschaft differenzieren sich ein den Nationalstaat übergreifender internationaler Wettbewerb und eine arbeitsteilige Spezialisierung aus. Der Wert einer Ware bedeutet ihr Austauschbarkeitsverhältnis zu anderen Waren (ebd.: 52-55, 132) und ergibt sich aus Angebot und Nachfrage (SOZ: 236). Mit der Verselbständigung der Tauschwertkonstitution verselbständigt sich die Form der Ökonomie aus der Gesellschaft. Das Medium, welches die Form der Weltwirtschaft integriert, ist das Geld. Geld ist »der abstrakte Vermögenswert« (PDG: 124), »die Abstraktion der Wechselwirkung« (ebd.: 246). Es symbolisiert das Tauschverhältnis zwischen den Gütern. Weil Geld vergleichsweise unabhängig von inhaltlich bestimmten Bedürfnissen ist, schafft es »eine Einbeziehung der allermannigfaltigsten Persönlichkeiten in die gleiche Aktion, eine Wechselwirkung und damit Vereinheitlichung von Menschen, die wegen ihres räumlichen, sozialen, personalen und sonstigen Interessenabstandes in gar keine andere Gruppierung zu bringen wären.« (Ebd.: 470; vgl. auch ebd.: 706) Parallel zur Verselbständigung der Ökonomie aus dem individuellen Leben verselbständigt sich das ökonomische Individuum gegen die Form der Wirtschaft: Angebots- und Nachfrageseite sind unbestimmt; aber einmal Teil der Ökonomie, geht diese ihren eigengesetzlichen Verlauf (vgl. ebd.: 55, 715). Weil Geld keine Ware mehr, sondern bloß den Tauschwert quantifizierendes, aber ansonsten leeres Symbol ist, muss das individuelle geistige Leben die symbolische Abstraktion von einem beliebigen, unbestimmten Inhalt geistig nachvollziehen. Simmel spricht darauf bezogen von einer »Wendung der Kultur zur Intellektualität. […] Die Steigerung der intellektuellen, abstrahierenden Fähigkeiten charakterisiert die Zeit, in der das Geld immer mehr zum reinen Symbol und gegen seinen Eigenwert gleichgültig wird.« (Ebd.: 171-72) In dem Sinne wechselseitiger Konstitution zwischen der Form des Geldes und der Form individuellen Lebens ist auch Simmels Beobachtung eines kalkulierenden Lebens als Rückwirkung aus der monetären Rechen- und Zahlenpraxis zu verstehen (vgl. ebd.: 612-616). Die Einheit des Ganzen der Ökonomie muss irgendwie durch den Geist bewältigt werden können. Weil sich die Form dem individuellen Leben entzieht, kann die Ein-

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heit nur symbolisch und abstrakt verfügbar gemacht werden. Dass die Einheit des Ganzen überhaupt bewältigt werden muss, lässt sich auf die lebensphilosophischen Prämissen Simmels zurückführen. Denn Einheit, so Simmel, ist primär eine Funktion des geistigen Lebens und nur des geistigen Lebens (vgl. ebd.: 246; HPH: 35; LA: 362-64, 367-68). Dieser Aspekt war bereits Gegenstand von Kapitel 4 dieses Buches: Auf der symbolischen Ebene herrscht eine irreduzible, dualistische Wechselwirkung zwischen Leben und Form, zur Einheit kommen sie aber in der – freilich nicht greifbaren – Transzendentalität der Entelechie. Dies bildet meines Erachtens mit und für Simmel die metaphysische Erklärung für eine prinzipielle, wenn auch nicht im Detail vorzufindende, Korrelation zwischen sozialen und individualpsychologischen Formen. Aus welchen inhaltlich-konkreten Gründen eine gegebene evolutionäre Stufe in sozial-kognitiver Hinsicht beibehalten oder überwunden wird, war nicht Simmels Thema. Dem geringen Interesse Simmels an geschichtlichen Übergangsprozessen entspricht das Fehlen an gegenstandsorientierten Studien zur ursächlichen Entstehung des monotheistischen Christentums – und damit der Form von Religion – aus und gegen den Polytheismus des griechisch-römischen Götterhimmels. Ähnlich verhält es sich auch auf dem Gebiet der Ökonomie. Einer der Faktoren, die Simmel zufolge die arbeitsteilige Differenzierung hervortreiben, ist die Konkurrenz. Arbeitsteilige Differenzierung impliziert nach Simmel ihrem Prinzip nach unter anderem auch die mit den differenten Positionen verbundene Entstehung individueller, eigenständiger Interessen, die sich auch zuwiderlaufen können (vgl. für das Beispiel der Differenzierung in binnen- und exportorientierte Produktion SOZ: 794-95). Auf das Beispiel der griechischen Antike zurückgespiegelt: Der Ausschluss von Konkurrenzbeziehungen zwischen den Polis-Bürgern sorgte dafür, dass Sozial- und Individualinteressen zur Deckung kamen: »Die Zurückhaltung des griechischen Vollbürgers vom Wirthschaftsleben verstopfte eine Quelle unzähliger Interessenkämpfe und Conflicte zwischen Egoismus und Altruismus und beseitigte mit der auf ökonomischem Gebiet besonders starken Versuchung, das Glück auf Kosten der Ehrlichkeit und Tugend zu vermehren, zugleich ein wesentliches Moment der Discrepanz dieser beiden.« (BSP: 32)

Eine kausalgenetische Erklärung der Ausdifferenzierung der Ökonomie findet sich bei Simmel nicht. Am nächsten kommen dieser Sorte von Erklärungsleistungen noch zwei frühe Abhandlungen Simmels zu wirtschaftshistorischen Schriften zur Auflösung der feudalherrschaftlichen Verhältnisse im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (»Die Bauernbefreiung in Preussen« von 1888 und »Die Bauernbefreiung in Böhmen« von 1894). Sie stellen aber eher noch Beobachtungen des Übergangsprozesses von einer Epoche zur anderen dar. Um ein webersches Zurechnen von kausaler Erklärungskraft für bestimmte historische Erscheinungen handelt es sich bei ihnen aber nicht. Insgesamt ist das historische Material – die historische Varianz der Inhalte – für Simmel Mittel zum Zweck der Konstruktion von Formen der Wechselwirkungen, wie z. B. der Geldform der Wechselwirkung zwischen sozialer Bindung und individueller Freiheit, welche Simmel von der personalen, aber ebenso unfreien Form feudalherrschaftlicher Wechselwirkung unterscheidet, in der mit Naturalien bezahlt wird.

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Der Übergangsprozess von einer geschichtlichen Form zur anderen gewinnt peripheren Charakter einerseits (»muß wie die Geldablösung oft erst erkämpft werden«, PDG: 378), andererseits ordnet die lebensphilosophische Perspektive jeden konkreten historischen Übergang als Element unter vielen ein in einen allgemeinen, umfassenden und deshalb zeitlosen Vitaldualismus.65 Schließlich: Metaphysisch gesehen ist die materielle Geschichte eine Funktion des sich aus sich selbst heraus dynamisierenden Lebens. Leben ist, indem es wird – und, um dieses Motiv mit dem Mittel philosophischer Spekulation voranzutreiben: In und mit Simmel kommt das Leben zu sich selbst; Historisch kommt das Leben auf seinen Begriff; oder auch: Begriff und Geschichte kommen zur Einheit.66 In diesem Sinne zitiere ich Nicholas Spykmans Vergleich der Lebensphilosophie Simmels mit der Dialektik Hegels: »[W]hile for Hegel the absolute was the self-unfolding idea, for Simmel the absolute was Life itself.« (2017: l67; Hervorhebung PB) Impliziert ist damit nun, dass der geschichtliche Zeitpunkt bestimmter Inhalte für die wissenschaftliche oder philosophische Konstruktion einer bestimmten Form von nachrangiger Bedeutung ist. Nicht nur die Form der Form wird als ein ihrer Idee bzw. ihrem Funktionsprinzip nach im Grunde zeitlos konzipiert, sondern auch die materiellen Inhalte werden allein nach der Seite hin für die Untersuchung selektiert, nach der sie sich der Logik der Form fügen (vgl. Bevers 1985: 83-88). Ein individueller, zeitlich wie inhaltlich zu qualifizierender Beitrag in der Formkonstruktion kennt Simmel zuvorderst deshalb nicht. Weder macht die Differenz unterschiedlicher religiöser Glaubensrichtungen einen Unterschied in der Form, noch macht die Differenz von Wirtschaftskulturen einen Unterschied in der Ausprägung der Geldform. Dies ist in meinen Augen eine nicht geringe Schwäche des analytischen Instrumentariums, der ich mich in einem Vergleich Simmels mit Max Weber in Kapitel 9.2 in diesem Buch widmen werde. Ich fasse zusammen: Was Simmel aus evolutionstheoretischer Sicht also interessiert, ist die Form, in der und als die sich die dualistische Einheit zwischen Leben und Form wechselseitig konstituiert. Eine ideale Einheit zwischen Leben und Form herzustellen ist die Funktion der Religion; und in der geldwirtschaftlichen Moderne ist es das Geld – nicht die Wirtschaft oder der Kapitalismus –, welches diese Funktionsstelle verkörpern wird.

65 Diesen Punkt verdanke ich der Lektüre Klaus Lichtblaus (1994b). In einem Vergleich der Epistemologien Webers und Simmels kommt Lichtblau auf das Konzept des historischen Verstehens bei Simmel zu sprechen. Ein vom Historiker herausgeschnittener »Sinnzusammenhang« sei etwas zeitloses, da die in dieser »Verstehenseinheit« durch den historischen Beobachter zu dekomponierenden Elemente sich wechselwirkend bedingen (ebd.: 548; Hervorhebung im Original) 66 Diesen Gedanken habe ich der Lektüre des Eintrags von Werner Post zur marxschen Religionskritik zu verdanken. Marx kam ja bekanntlich ebenfalls über Hegel. Post zufolge ist Hegels Philosophie »der letzte große Versuch der Systemphilosophie [gewesen], historische Realität und deren begriffliche Erfassung als spekulativ ermittelte Einheit zusammenzubringen.« (Post 1979: 218) 67 Kein Schreibfehler. Es handelt sich um die im Spykman-Buch verwendete Kleinschreibung der römischen Zahl »L«, die ihrerseits für »50« steht.

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7.3.3 Ausdehnung und Differenzierung des Christentums Das Leben der Urchristengemeinden zeichnete nach Simmel eine Unmittelbarkeit der religiösen Wechselwirkung mit Gott aus. Lebensphilosophisch formuliert: Dieser Gott war ihr Gott, aus dem Leben erzeugt, der Ausdruck ihrer innerlichen Lage – das religiöse Begehren nach einer umfassenden Einheit – und an dieses Leben gebunden. Bis hierhin könnte man meinen, dass die Evolution der christlichen Gottesvorstellung das Konstitutionsschema der vorangegangenen, an spezifische Gruppen gebundenen Götter wiederholt. Dem ist aber nicht so, und dies liegt an dem unvergleichlichen Abstraktionsgrad der christlichen Gottesvorstellung, in den sich das religiöse Individuum unter den Vorzeichen eines weitausgedehnten römischen Weltreiches objektivierte. Seiner Idee nach umfasst die christliche Form der Objektivation das gesamte Dasein. Darin unterscheidet sich der christliche Gott nach Simmel explizit von allen anderen Gottesvorstellungen (DR: 108-10). Und diese Abstraktion in die reine Form bringt nach Simmel – ich nehme einen bereits oben gelegten Faden wieder auf – einen ideellen Anspruch mit sich, die Realität der Idealität der Form entsprechend anzugleichen, d. h. die »absolute Allumfassung« auch praktisch durchzusetzen, auch bei jenen, die nicht an den einen Gott glauben (ebd.: 109). Den »Wende«-Charakter von der Artikulation eines religiösen Gruppenlebens in der Form eines partikularen Gottes hin zur umgekehrten Durchsetzung eines Gottes-Prinzips in den Umformungen des Gruppenlebens beschreibt Simmel so: »Nun mag die auf jene partikularistisch-soziologische Weise zustande gekommene Einheit des göttlichen Wesens die Vorstufe seiner absoluten, im Christentum gewonnenen sein. Dann gehört diese Entwicklung eben zu jenen, die, an ihrem definitiven Stadium angekommen, mit diesem in die Verneinung und den Gegensatz zu dem Charakter aller zu ihm hinführenden Erscheinungen treten. Die übergreifende Einheit des Christengottes sprengt die soziologische Beschränkung, in der die Einheitsidee sich zuerst erheben konnte. Der Übergang der irdischen Relativitäten in die transzendente Absolutheit läßt die Qualität ihrer Inhalte oft in ihr Gegenteil umschlagen.« (Ebd.: 110; Hervorhebung PB)

Wenn auch im religiösen Leben der Urchristengemeinde erzeugt, birgt die abstrakte, von jedem bestimmten Inhalt gelöste Form ihre Verselbständigung in sich: »Das [religiöse] Leben hat sie [die religiöse Form; Anmerkung PB] organisch als eine seiner Formen erzeugt, aber es gehört von vornherein zu der Determination dieser Form, aus dem vitalen Zusammenhang heraus durch eine radikale Drehung zur Zentrierung und Sinnfindung in sich selbst zu gelangen und so erst die unter der Idee Religion einheitliche, sich selbst tragende Welt zu ermöglichen.« (LA: 287)

Die Welt der Religion ist expansionistisch, ihr transzendentes Ideal drängt darauf, auch real zu einer sozial-kulturell umfassenden Welt zu werden. Allerdings: Eine Analyse möglicher Ursachen der einsetzenden Diffusion des Christentums im dritten Jahrhundert noch vor der Erhebung zur römischen Staatsreligion durch Kaiser Konstantin, wie sie beispeislweise Walter G. Runciman versucht hat, war nicht Gegenstand von Simmels Untersuchung (vgl. Runciman 2004). Noch im dritten Jahrhundert bildeten die Christen eine Glaubensgruppe neben anderen, »the Roman World

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was full of self-appointed seers, wonder-workers, oneiromancers, and mystagogues, and for them and their clienteles Jesus was just another magus« (ebd.: 6). Das Christentum stand im Wettbewerb mit anderen Formen der Religion. Im dritten Jahrhundert hat es dann aber ein beträchtliches Wachstum der Anhänger des Christentums gegeben, und Runciman meint ein einzigartiges Charakteristikum als Wettbewerbsvorteil des Christentums ausmachen zu können, und zwar ein schichtenübergreifender ethischer Universalismus des »unreciprocated altruism towards outsiders in a way no other religion did« (ebd.: 7; Hervorhebung PB). Für die Christen, so Runciman, »all ›others‹ were at least potentially one of ›us« in a way that was never true of Judaism« (ebd.: 9).68 Damit waren ethische »free-riders« zwar ein Problem, für das es in der Realität vom universalistischen Prinzip abweichende Sanktionen gab (Runciman 2004: 10). Größer ins Gewicht fiel im Endeffekt die religiöse Attraktivität des ethischen Universalismus. In »a world in which no clear distinction between the sacred and the secular could be drawn« (ebd.: 14) und der Gedanke einer Hinterwelt ständig present war, konkurrierten Ideen miteinander zur Erklärung unsichtbarer Kräfte (vgl. ebd.: 15). Mehrere Male sei zu jener Zeit die Pest ausgebrochen, und die bedingungslose Hilfe und Pflege von Kranken sei in vielen Fällen eine effektive Demonstration der eigenen Wirkmächtigkeit in der Beeinflussung jenseitiger Kräfte gewesen (vgl. ebd.: 12-16). Runcimans Versuch einer evolutionstheoretischen Erklärung der Durchsetzung einer bestimmten Varianz hat von der Anlage her Ähnlichkeit mit Max Webers vergleichend-historischen Studien seiner Religionssoziologie. Einmal hat Weber in der »Zwischenbetrachtung« unterschiedliche Spannungs- und Adäquanzverhältnisse zwischen unterschiedlichen Formen der religiösen Ethik einerseits – wozu auch die universale Brüderlichkeitsethik gehört – und den Eigengesetzlichkeiten der weltlichen Wertsphären andererseits dargelegt. Andererseits – mit ersterem zusammenhängend – hat Weber den Einfluss religiöser Ethiken auf die Herausbildung bestimmter Formen der Lebensführung untersucht, wofür die »Protestantische Ethik« wohl das bekannteste Beispiel ist. Ähnlich wie bei Weber ist es auch bei Simmel der lebendige Geist, der Formen schafft, einen geschichtlichen Vergleich in der Wirkmächtigkeit unterschiedlicher religiöser Ethiken – den Inhalten – macht Simmel allerdings nicht. Dazu mehr in Kapitel 9.2 in diesem Buch. Im Vordergrund der Analyse steht für Simmel der dualistische Charakter der Wechselwirkung zwischen religiösem Ideal und Religionsform, um den es im Folgenden gehen soll. Die aus der Idee vom transzendenten Christengott beanspruchte Ausdehnung zeichnet real widersprüchliche Konsequenzen, die im Prozess der sozial-kulturellen Ausdehnung der Religion zu einer umfassenden Welt selbst liegen. So meint Simmel: »Deshalb hat die Ausbreitung des Christentums auf den [römischen] Gesamtstaat seinen soziologischen Charakter nicht weniger als seinen seelischinhaltlichen völlig ändern müssen.« (SOZ: 66) Im Inhalt ähnlich argumentiert Simmel auch in der »Religion«, dass »ein ganz neuer Typus auch des innerlichen religiösen Lebens« entstanden sei, als »die Gemeinden erheblich anwuchsen« (DR: 95). Beide Male geht es also um die Variation der Wechselwirkungsform zwischen religi-

68 Max Weber würde hier von der universalistischen Brüderlichkeitsethik sprechen. Diese war unter anderem Gegenstand der typologischen Darstellung zum Verhältnis von Religion und Welt in der »Zwischenbetrachtung«. Dazu mehr in Kapitel 9.2.1 dieses Buches.

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öser Individualität und religiöser Objektivationsform, die im frühen Christentum noch in einer unvermittelten Beziehung zu Gott bestand. Simmels religionssoziologische Hypothese ist es, dass es mit der Ausdehnung der unter einem bestimmten inhaltlichen Motiv sich bildenden sozialen Wechselwirkungen einerseits der Bildung von die Wechselwirkungen vermittelnder, symbolischer Einrichtungen bedarf, andererseits eine soziale Differenzierung stattfindet (vgl. PDG: 208-11, 469-70; SOZ: 7273, 603-04, 611-12, 791ff.; DR: 95-96). Auf die christliche Religion bezogen nennt Simmel zuvorderst die Kirche und die Priesterschaft als vermittelnde Einrichtungen. Eher peripher erwähnt Simmel beispielsweise, dass ein Grund für die vereinheitlichende Zentralisierung der »ursprünglich selbständigen christlichen Gemeinden zu einem Gesamtgebilde«, also der Kirche, das Insistieren des römischen Staates gewesen sei, »nur eine einheitliche Kirche« anzuerkennen (SOZ: 225; Hervorhebung im Original). Andererseits habe die Kirche selbst die Organisationsform des Zentralstaates imitiert (vgl. ebd.: 225). Eine exakt die Funktion von Kirche und Priesterschaft im Rahmen der Religion definierende Semantik findet sich bei Simmel nicht, sie ist implizit zu erschließen. Dass aus der Perspektive soziologischer Beobachtung die Kirche für Simmel ein soziales Organ ist, darauf hatte ich zu Anfang von Kapitel 6.4.1 in diesem Buch im Kontext gesellschaftlicher Arbeitsteilung hingewiesen. Daneben nennt Simmel unter einer zweckgerichteten Perspektive die Kirche in einer Reihe mit dem Geld und dem Staat unter der Kategorie der »sozialen Institutionen« (PDG: 262), sie sind aber auch »Werkzeug« (ebd.: 262). Dann spricht Simmel auch von der »Schaffung überpersönlicher Gebilde« (ebd.: 208) oder der »Kategorie substanzgewordener Sozialfunktionen« (ebd.: 209). Schließlich bezeichnet Simmel vermittelnde Einrichtungen auch als »Träger« (PDG: 211; SOZ: 604), »Exekutive« (SR: 272), oder als »Ämter, Vertreter, Gesetz und Symbole des Gruppenlebens, Organisationen und soziale Allgemeinbegriffe« (SOZ: 72-73). Unabhängig von der variablen Semantik muss klar sein, dass Simmel zufolge eine Funktion immer eine Funktion des Lebens ist, und dem »dient« die Formbildung (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 5.4 in diesem Buch). Kirche und Priesterschaft sind aus dieser Perspektive vom religiösen Leben geschaffene Formen, um die soziale Ausdehnung des Christentums praktisch zu bewältigen, ganz analog zu der Annahme Simmels, dass es der Geldform zur Ausdehnung des Tausches zur Weltökonomie bedarf. Keine Form bleibt aber reines Leben, das Symbol drückt nicht nur aus. Sondern: Als Form gewinnt die Form eine Eigenständigkeit. Das religiöse Leben kann sich nicht vollständig in der Form artikulieren, auch wenn es diese benötigt. Die Implikation dessen ist das, was ich bereits weiter oben in Kapitel 5.3 dieses Buches die »Doppelrollen-«Charakteristik des Lebens genannt habe; ein theoretisches Derivat aus der dualistischen Anlage der Lebensphilosophie Simmels. Dieser Doppelrollen-Charakter lässt sich nun auch auf dem Gebiet der Religion für ihre symbolischen Träger von Kirche und Priesterschaft ausweisen. Kirche und Priesterschaft besitzen dann einmal (a) reinen Funktionscharakter innerhalb der Religion. Ihre Aufgabe ist die Heilsvermittlung; oder, anders ausgedrückt, die Einheit zwischen Leben und Form zu vermitteln. Dann aber (b) entwickelt Kirche und Priesterschaft eine außerhalb der Religion sich stellende Eigenständigkeit. Die »Doppelrollen«-Charakteristik ist ein konstitutiver Zug der Lebensphilosophie Simmels, nämlich dass die Form, in der sich ein individuelles Leben objektiviert, dieses Leben umfasst als nicht-einsehbare Einheit der Form, dann aber zugleich

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sich dem Individuum gestaltförmig – also sichtbar, greifbar – gegenüberstellt: Leben ist Mehr-als-Leben. Gegenständlich hat Simmel dies am Geld zuerst und am ausführlichsten in der »Philosophie des Geldes« vollführt. In Kapitel 6.4.1 habe ich auf das der Idee nach gleiche Phänomen im gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozess hingewiesen: Hier kollidierte der Selbsterhalt der Gesellschaft mit der Eigenlogik der Kulturgebilde. Innerhalb der Religionstheorie Simmels sind wir diesem Tatbestand bereits in der Problematik des Pantheismusbegriffs begegnet: Als Lebensform muss die Religion ein Gegenüber-Verhältnis zu Gott realisieren, auch wenn seiner Idee nach dieser Gott allumfassend ist. Und in dem Tatbestand des Gegenüber-Verhältnisses konstituiert sich Eigenständigkeit bzw. Freiheit, entgegen der Unvereinbarkeit mit der deterministischen Geltungskraft göttlicher Gesetze. Diese Logik liegt auch der Betrachtung von Kirche und Priesterschaft zugrunde. Sie gehen nicht in dem religiösen Funktionsprinzip auf, sondern bilden selbst neben ihrer Funktionsrolle in der Religion eigenständige Formen. Weil es der Einrichtungen von Kirche und Priesterschaft gerade mit der sozialen Extension des Funktionsprinzips bedarf, wirkt die Realisierung des christlich-göttlichen Anspruchs: allumfassend zu sein, der Idee selbst zuwider. Ausdifferenzierung besitzt bei Simmel also eine inhärent paradoxale Komponente: Religion kann nicht vollständig Religion werden (vgl. DR: 113). Oder auch, lebensphilosophisch reformuliert: Religion ist immer Mehr-als-Religion. Priesterstand und Kirche sind aber auch gegen- und voneinander zu unterscheiden. Die Kirche ist die soziale Organisation der religiösen Einheit zwischen Leben und Form. Der Priesterstand bezeichnet das ausführende Personal der Kirchenorganisation. Das funktionale Pendant auf dem Gebiet der Politik ist die Differenz zwischen einer amtlichen Bürokratie einerseits und den allein seine Rolle ausfüllenden Beamten einerseits, dessen individuelle Persönlichkeit keinen Unterschied im organisationalen Prozess macht. Unabhängig davon, in welchem Ausmaß letzteres der Fall ist, bedarf es des menschlichen Personals, weil dieses den ›Vitaltreibstoff‹ individuellen Lebens zur Verfügung stellt. Vereinfacht gesagt entspricht die Unterscheidung zwischen Kirche und Priesterschaft deshalb jener zwischen sozialer Form der Wechselwirkung und individuellem Leben. Ich widme mich zunächst der Rolle des Priesters. Historisch, so Simmel, habe sich das Priestertum aus einem tendenziell egalitären Kreis von Laienpredigern herausgebildet. Manche unter ihnen besaßen Vorbildcharakter, gingen aber ansonsten einer profanen Beschäftigung wie Bankier oder Viehzüchter nach (vgl. ebd.: 95). Mit der Ausdehnung des Christentums auf den römischen Staat differenzierte sich die religiöse Gemeinschaft in ein professionelles Kirchenpersonal und religiöse Laien (vgl. ÜSD: 192). Simmel spricht darauf bezogen von einer »Erscheinung entschiedenster Arbeitsteilung« (DR: 95). In der Rolle eines religiösen Dienstleisters, Gläubige zu ihrem Heil zu führen, ist die konkrete, das Priesteramt ausfüllende Person nach Simmel austauschbar und dient der Reproduktion der Wechselwirkungsform zwischen religiösem Individuum und Gott. Aus der Sicht des die Priesterrolle bekleidenden individuellen Lebens gestaltet sich die Beziehung zur eigenen Aufgabe selbst als eine religiöse Einheit von Leben und Form: Die Berufung von innen her und die mit der sozialen Ausdehnung des Christentums einhergehenden funktionalen Erfordernisse kommen im Priesterstand »zu einer idealen, die Disharmonie von vornherein abschneidenden Gestaltung« (ebd.: 97). Die Einheit aus den inneren Kräften und Impulsen und der äußeren Form schafft Simmel zufolge der Akt der »Priesterweihe« (ebd.: 97; Hervorhebung im Original). Über die

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Priesterweihe reproduziert sich die kirchliche Organisation. Die Weihe überträgt »den objektiven Geist […], ein ideales Besitztum der Kirche« auf seine Neumitglieder (SOZ: 567; vgl. auch ebd.: 283; DR: 97). Unabhängig von der bis dahin bestehenden inneren Neigung des Individuums schafft die Priesterweihe ex post die innere Berufung zum Kirchenamt (vgl. ebd.: 97; SOZ: 282-83). Wer zum Priester geweiht wird, ist rückwirkend dazu berufen gewesen. Simmel spricht daher auch davon, dass die Priesterweihe das »Wesen« des Individuums »zu dieser Leistung umbildet und […] zu dem schlechthin zulänglichen Träger derselben macht.« (DR: 98) Der Priesterstand schafft damit eine Einheit aus der Differenz, einerseits beruflicher Heilsvermittler zu sein, andererseits in der Rolle selbst den eigenen Heilsweg zu Gott zu finden. Austauschbarkeit und Berufung kommen zusammen. Im mittelalterlichen England, so Simmel, habe die Priesterweihe jedem Individuum unabhängig von seiner Standeszugehörigkeit offen gestanden, gleichzeitig aber habe es zwischen den gesellschaftlichen Ständen starke Spannungen gegeben (vgl. SOZ: 469). Der Eintritt in das geistliche Leben des Priesters vermochte es nach Simmel nun, die gesellschaftlichen Spannungen zu mildern, weil das Individuum in seiner Rolle als Priester vollständig aufging, während alle anderen sozialen Bindungen gekappt wurden (vgl. ebd.: 469-70). Dafür sorgte beispielsweise die Institution des Zölibats, welches die Aufmerksamkeit weg von ehelichen und familiären Verpflichtungen allein auf Gott hin konzentriert (vgl. ebd.: 470). Das Beispiel des sozialen Friedens durch Weltflucht veranschaulicht modellhaft die soziale Realisierung des »Coincidentia Oppositorum« – der Einheit aller Widersprüche – in Gott: »Die Begegnung der Kreise wird hier also für das Individuum garnicht wirksam, sondern nur für den Stand als Ganzen, in dem sich die früheren Angehörigen aller Stände und Kreise zusammenfinden. Die durchaus positive soziologische Bestimmtheit, die das höhere Sozialgebilde hier aus der Kreuzung der Kreise in ihm gewann, ergab sich daraus, daß es zu keinem dieser ein andres Verhältnis als zu einem andern hatte.« (Ebd.: 470)

Die Form der religiösen Vergesellschaftung über den Priesterstand realisiert damit das, was Simmel im »Exkurs« zu den Möglichkeitsbedingungen der Vergesellschaftung eine »vollkommene Gesellschaft« genannt hat (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Darunter verstand Simmel die vollständige Realisierung des dritten Aprioris der Vergesellschaftung: dass man nur insofern vergesellschaftet ist, wie die soziale Objektivation den innerlichen Impulsen entspricht (vgl. ebd.: 60). Auf den Priester bezogen sagt Simmel selbst explizit: »Auch hier stellt die religiöse Kategorie das Idealbild dar, das die soziologischen Formen wie in einem reinen, ihre Gegensätzlichkeit und gegenseitige Verdunkelung aufhebenden Spiegel auffängt.« (DR: 98) Dem Idealfall der empirischen Durchsetzung des religiösen Funktionsprinzips setzt Simmel gegenteilige Tendenzen entgegen, die jeweils einen Bruch mit der Reinform der Religion bedeuten. So trägt Simmel zufolge gerade der vom Laienzum Berufspriester gehende Ausdifferenzierungsprozess nicht-religiöse Motive in die Religion hinein: »Die ältesten Bischöfe waren Laien, die ihre Stellung in der Gemeinde als Ehrenamt innehatten. Gerade so aber konnten sie reiner und unweltlicher ihrem Amte leben, als später, wo dies ein selbständig differenzierter Beruf wurde. Denn damit wurde es unvermeidlich, daß die For-

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men des Berufsbeamtentums, die die Weltlichkeit ausgebildet hatte, nun auch auf den Geistlichen Anwendung fanden; wirtschaftliche Interessen, hierarchische Gliederungen, Herrschsucht, Verhältnisse zu äußeren Mächten mußten sich dadurch der rein religiösen Funktion anbilden.« (SOZ: 635)69

Herrschaftsverhältnisse kennzeichnen sowohl das Verhältnis zu den religiös begehrenden Individuen – den Laien – deren Heilsvermittlung Aufgabe des Berufspriesters eigentlich ist, wie auch das Verhältnis innerhalb der religiösen Organisation. Der »Laie«, so Simmel, sei »rechtlos und im religiösen Sinne hilflos« gegenüber der »Gewalt des obersten Beamten [der Kirche; Anmerkung PB]« (DR: 95). Das kann den ungewollten Eingriff in das »Privatleben der Gläubigen« bedeuten, »auf dem sie, von der religiösen Gemeinschaft aus gesehen, jedenfalls individuell differenziert sind.« (SOZ: 182-83) Andererseits liegt der Anspruch auf umfassende Regulierung des Lebens der christlichen Idee des allumfassenden Gottes zugrunde. Der Kirche wirft Simmel ein Selbstmissverständnis der ursprünglichen christlichen Heilsvorstellung vor. Simmel zufolge habe Jesus noch »die Verschiedenheit der menschlichen Anlagen zu schätzen [gewusst]«, ohne dass diese Verschiedenheit »die Gleichheit des Endresultates des Lebens zu alterieren [brauchte]« (DR: 100). Dann sei es aber zu einer Standardisierung der alle religiös Begehrenden verpflichtenden Heilsvorstellung gekommen: »Tatsächlich hat die Schwierigkeit, die Gleichheit vor Gott mit der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der Individuen zu vereinen, zu jener Uniformität der Leistungen geführt, die aus weiten Provinzen des christlichen Lebens einen bloßen Schematismus gemacht hat. Den ganzen Individualismus des christlichen Heilsbegriffs hat man verkannt, und daß jeder mit seinem Pfunde wuchern soll, indem man ein einheitliches Ideal, ein gleichartiges Verhalten von allen verlangte, statt von jedem – ihn selbst zu fordern.« (Ebd.: 99-100)

Mit anderen Worten: An die Stelle der Innerlichkeit religiöser Vergemeinschaftung der frühen Christen trat eine Veräußerlichung des religiösen Lebens. Die religiösen Laien haben ein religiöses Begehren, das aber nicht individualisiert befriedigt wird. Darin besteht die Hilflosigkeit des religiösen Laien vor den Priestern, deren ›Job‹ es ist, ihnen zum Heil zu verhelfen. Dies bezeichnet auch die Form des für Simmel unabhängig von spezifischen inhaltlichen Interessen auftretenden Kernproblems, welches mit der Ausdehnung und damit einhergehenden arbeitsteiligen Differenzierung verbunden ist: Standardisierung als eine Form der Vereinheitlichung trotz und bei parallel stattfindender Individualisierung. Wiederum paradigmatisch hat Simmel diese Hypothese an der Durchsetzung der Geldökonomie im 19. Jahrhundert exemplifiziert: Eine schichtübergreifende Ausdehnung des Konsums ist an eine kosteneffiziente Produktion durch arbeitsteilige Dfferenzierung sowie eine Stanardisierung des Produktionsverfahrens gebunden (vgl. PDG: 630-31).

69 Es ist bezeichnend für Simmels Spiel mit Gegensätzen, wenn er das priesterliche LaienAmt zwei Kapitel später für eine das Individuum gegen seinen Willen vereinnahmende Einrichtung hält, was sich erst mit der Ausdifferenzierung religiöser Professionalisierung geändert habe (vgl. SOZ: 849).

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Es sei hier erneut auf eine interessante Parallele mit Max Weber hingewiesen. Bei Weber bedarf die Ausdifferenzierung einer religiösen Wertsphäre – wie bei Simmel – der Rollendifferenzierung in »Experten und Laien« bzw. »religiöse Virtuosen und Laien« (Schwinn 2001: 158; Hervorhebung im Original). Auch Weber sprach von einer am Heilsgut orientierten »Eigengesetzlichkeit des Religiösen« (Weber 2010: 341; vgl. dazu Schwinn 2001: 155). Diese differenziere sich mehr und mehr als eine Wertsphäre der Religion heraus, indem ein »lediglich auf die Aneignung des Heilsgutes« ausgerichtetes »religiöses Handeln« herauspräpariert werde, sie wird dann »wert- und zweckspezifisch« (ebd.: 156). Seinen Ursprung hat Religiosität in ekstatischen, die Außeralltäglichkeit repräsentierenden Erlebnissen. Diese treten gelegentlich und unsystematisch auf. Eine dauerhaft am Erwerb des Heilsgutes ausgerichtete Lebensführung ist dagegen systematischer, methodischer Natur (vgl. ebd.: 156). Dies bedarf einer Überführung aus der sporadischen Ekstase durch Intellektualisierung durch entsprechende soziale Träger, den religiösen Experten oder auch Virtuosen (vgl. ebd.: 157). Religiöse Virtuosen sind religiös besonders empfänglich, sie intellektualisieren und ordnen die Inhalte der Welt aus einem inneren, religiösen Bedürfnis nach Erlösung heraus, d. h. der Intellekt wird in Beschlag genommen für religiöse Zwecke (vgl. ebd.: 158). Die Ausdehnung und Stabilisierung einer religiösen Ordnung hängt aber an der Legitimierung durch die religiösen Laien, weshalb deren vorrangig diesseitig orientierten Bedürfnisse in der Konstitution religiös sanktionierter Handlungen mitberücksichtigt werden müssten. Die empirische Heilsmethodik besitzt deshalb zwei unterschiedliche sie formende Quellen, das rein metaphysischintellektuelle Bedürfnis und die aus der jeweiligen konkreten sozioökonomischen Situation herrührenden Interessen (ebd.: 158-59). Die webersche Annahme einer Wechselwirkung zwischen religiösem Ideal und lebensweltlichen Interessen wird noch Thema in Kapitel 9.2 in diesem Buch sein. Nicht ganz identisch, aber doch in die gleiche Richtung gehend argumentierte Simmel bereits in der »Socialen Differenzierung«: Die soziale Ausdehnung religiöser Beziehungen führe nicht nur zur sozialen Differenzierung »in weltlichen und religiösen Stand […] innerhalb des Kreises der christlichen Religion« (ÜSD: 192; Hervorhebung PB). Die Ausdehnung des Religiösen hatte auch eine Vermischung mit diesseitigen Motiven zur Konsequenz, welche die ursprünglich rein religiöse Lebensführung – die ideale Einheit von Leben und Form – aufbrach. Bei »der Verbreiterung auf die Massen [konnte] eine gewisse Profanierung nicht ausbleiben; das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog jetzt quantitativ zu sehr, als daß der hinzugesetzte religiöse Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge aufdrücken können.« (Ebd.: 192) Reine Religion – dies scheint, zumindest bei Simmel und Weber, nur wenigen Virtuosen möglich. Dieser Punkt wird gegen Ende dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen (vgl. Kapitel 7.4 in diesem Buch). Damit gehe ich nun über zur Rekonstruktion des dualistischen Charakters der Kirche. Die Kirche ist nach Simmel die »sozial-organisatorische Einheitsform« des Christentums (DR: 80). In ihr organisiert sich die religiöse Vergemeinschaftung mit Gott. Das bedeutet, die Kirche ist die organisatorische Gestaltwerdung des religiösen Umformungsprozesses in eine ideale Einheit von Leben und sozialer Form (vgl. Vandenberghe 2010: 23). So weist Simmel darauf hin, dass historisch gesehen »die Forderung der Einheit« bereits sehr früh »als das schlechthin vitale Interesse der Kirche empfunden wurde.« (DR: 79; Hervorhebung im Original) Die Vergesellschaf-

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tungsform der Kirche ist Simmel zufolge eine Nachahmung »von dem Genossenschaftsgeist, der die römische Kaiserzeit, besonders die späte, beherrschte.« (Ebd.: 79) Erst dadurch sei das religiöse »Nebeneinander« individuell-unmittelbarer Beziehungen zu Gott in »ein organisches Miteinander« der Vergesellschaftung transformiert worden (ebd.: 79). Funktional ausgedrückt ist die Kirche bloßes Symbol der religiösen Wechselwirkung zwischen dem religiösen Individuum und Gott, und zwar in dem Sinne einer Materialität oder eines Körpers, an dem sich die religiöse Funktion realisiert, ohne ihr geistiges Prinzip an ihr oder an ihm zu erschöpfen. Die »Substanz« dient der »Funktion«. Der Gedanke des simmelschen Symbolisierungsprinzips ist es, einer Idee die Form des Objekts zu geben, ohne die Unterscheidung zwischen Symbol und Symbolisiertem aufzuheben. Die theoretischen Grundlagen dafür lassen sich in dem zweiten Kapitel der »Philosophie des Geldes« finden (»Der Substanzwert des Geldes«). Die Kirche verhält sich danach analog der Symbolform des Geldes. Simmel zog diese Parallele explizit (vgl. PDG: 262-63). Als Symbol bezeichnet die Kirche nach Simmel »die mystische Wirklichkeit des Heiles selbst. Vermöge ihrer allumschließenden Einheitsform erschien die Kirche als die Realisierung des Gottesreiches, das Jesus verkündet hatte, als die ›Stadt Gottes‹ wird sie gepriesen, als die Arche Noahs, die in sich die gerettete Gemeinde der heiligen Seelen einschließt, als der ›Leib Christi‹. […] Die rein empirisch-soziale, historisch übernommene Einheitsform wird von der religiösen Stimmung aufgenommen und offenbart sich damit von sich aus als das Gegenbild oder die mystische Wirklichkeit der transzendenten Einheitlichkeit, des rein religiösen Zusammengefaßtseins der Welt.« (DR: 80-81; Hervorhebung im Original)

Die Kirche verkörpert die über allen partikularen Heilshandlungen thronende absolute Einheit des Seins, die dennoch der Substanz zwecks Realisierung bedarf. Die absolute Einheit nimmt materielle, soziale Form an, die jedem Individuum den Spielraum seines Heilsstrebens gewährt. Jedes Individuum kann in der Kirche seinen Weg zum Absoluten finden, ohne mit den anderen religiösen Individuen in einen Zielerreichungskonflikt zu geraten, »weil nach dem schönen Worte Jesu für alle Platz in Gottes Hause ist.« (Ebd.: 82) Die Kirchengemeinschaft stellt aus dieser Perspektive die religiös idealisierte Form der Vergesellschaftung dar, die von Friktionen und Streitigkeiten im anderweitigen gesellschaftlichen Leben erlöst. Die absolute Einheit Gottes symbolisierend, ist sie neutrales Medium, welches gerade aufgrund seiner Neutralität eine Heilsdifferenzierung gemäß der religiösen Individualisierung gestattet. Diese würde sich in der Kirche bloß ausleben und damit das ermöglichen, was Simmel als »eine spiritualistische Sozialisierung« bezeichnet (ebd.: 94). Von ihrem Ideal her betrachtet würde die Kirche keine aus ihrer Vergesellschaftungsform herrührende eigenlogische Wider- oder Eigenständigkeit aufweisen. Beispielhaft hierfür wäre der bereits oben erwähnte Fall des sich im Priesterstand aufhebenden Streits zwischen den Ständen des mittelalterlichen Englands. Ebenso zählt Simmel dazu die Wiederaufnahme von Individuen, die während der römischen Christenverfolgung ihrem Glauben abgeschworen haben. Simmel schildert dies als einen politischen Akt, in dem der Bischof Cyprian das religiöse Vereinheitlichungsprinzip gegen anderslautende Forderungen durchgesetzt hat, die »die innere Reinheit der Kirche [forderten]« (vgl. ebd.: 79). Volkhard Krechs Simmel-Interpretation, wonach »die kirchliche Or-

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ganisation ein großes Maß an Individualisierung ihrer Mitglieder ermöglicht« (Krech 1998: 76), relativiert oder verkennt gar die Bedeutung der Institution Kirche in ihrer genuin religiösen Bedeutung, welche diese durch das geistige Formungsprinzip erhält, und zwar die Vermittlung des Heilsindividualismus (und nicht: des Individualismus überhaupt). Wie schon im Fall des Priesterstandes stößt sich der Idealtypus absoluter Einheit, in dessen vermittelnder Symbolisierung die Funktion der Sozialform Kirche eigentlich besteht, an der materiellen Eigenlogik, welche Vergesellschaftungsprozesse mit sich bringen. Im Fokus steht erneut der Zusammenhang zwischen der sozialen Ausdehnung des Christentums – also der realen Befolgung der Unterordnung des gesamten Daseins unter ein Ideal – und der in diesem Prozess zugrundeliegenden widersprüchlichen Tendenz zur Standardisierung der Heilslehre als Vereinheitlichungsform. Den an dieser Stelle wichtigen Punkt hatte ich bereits weiter oben erwähnt. Die Ausdehnung des Christentums zur römischen Staatsreligion bedingte eine Einordnung der bis dahin autonomen Christengemeinden unter dem Dach einer zentralistisch organisierten Kirche. Dies hatte nach Simmel eine Veräußerlichung der Religiosität zur Folge. Die frühen Christen waren Gott in der individuell-unmittelbaren Gewissensbeziehung untergeordnet. Die Zentralisierung ging auf Kosten der Heilsindividualisierung und setzte an deren Stelle die Mehrheitsentscheidung eines Konzils über die dann allgemein-verbindliche Heilslehre. Damit veränderte sich sogar die Interpretation der allumfassenden Einheit Gottes: »[S]o wurden die ursprünglich selbständigen christlichen Gemeinden zu einem Gesamtgebilde verschmolzen, dessen Konzilien mit Stimmenmehrheit über die Glaubensinhalte entschieden. Dies war eine unerhörte Vergewaltigung der Individuen oder mindestens der Gemeinden, deren Einheit bisher nur in der Gleichheit der von jedem für sich besessenen Ideale und Hoffnungen bestanden hatte. Eine Unterwerfung in Glaubenssachen mochte es aus inneren oder persönlichen Gründen geben; daß aber die Majorität als solche die Unterwerfung forderte und jeden Dissentierenden für einen Nichtchristen erklärte — das ließ sich nur […] durch die Hinzunahme einer ganz neuen Bedeutung der Majorität rechtfertigen: man mußte annehmen, daß Gott immer mit der Majorität wäre!« (SOZ: 225-26; Hervorhebung im Original)

7.3.4 Die Einheit von Leben und Form im Christentum Die Vorstellung eines die Gesamtheit des Seins umfassenden Gottes impliziert die Unterordnung vermeintlich eigenständig gedachter – oder Eigenständigkeit behauptender – Sphären wie der Ökonomie, der Politik oder des Rechts unter Gottes Gesetz. Diese Vorstellung wird zu einer idealen Forderung der »religiösen Logik […], alle anderen in sich zu begreifen oder sie zu dominieren. Wo sie dies durchzuführen sucht, kommen götzendienerische, statutarische, weltliche Elemente in sie hinein: es sind diejenigen, an denen eine andere Logik als die religiöse gültig ist.« (DR: 45). In der Beziehung zu den Kulturwelten gilt nach Simmel also ebenfalls, dass die Ausdehnung der christlich-religiösen Welt auf Kosten der Reinheit ihres eigenen Funktionsprinzips geht. Ein Beispiel für die religiöse Überformung des Weltbezugs stellt beispielsweise das Gottesgnadentum dar, d. h. die Legitimation politischer Herrschaft durch Bezug auf Gott (vgl. ebd.: 59). Über- und Unterordnungsverhältnisse werden nicht durch

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Eroberung, Blutsverwandtschaft oder Wahl entschieden, sondern durch eine »über die menschlichen Maßstäbe erhobene Instanz.« (SOZ: 280) Im Frühmittelalter des siebten und achten Jahrhunderts hat die Kirche teilweise die Rechtsprechung übernommen. »Mord und Meineid«; so Simmel, seien »als Verletzungen der göttlichen Ordnung vom Bischof durch kirchliche Buße gesühnt [worden]« (DR: 59). Die Aufgabe des weltlichen Rechts besteht nach Simmel in der sanktionsbewehrten Forderung des notwendigen Minimums, auf welches »die Selbsterhaltung der Gruppe unbedingt nicht verzichten kann« (SOZ: 599; vgl. auch ebd.: 637). Die Grenze zwischen weltlichem und göttlichem Recht verschwimmt, wenn das intentionale Objekt der Selbsterhaltung die göttliche Ordnung auf Erden ist. Eine Verletzung der göttlichen Ordnung kommt einer Verletzung des Heilspfades gleich, welcher als die allen gemeinsame, »definitive sittliche Pflicht« gilt (PDG: 497). Die Sühne besteht in einer Art der religiösen Entschädigungsleistung: einmal der »Fastenbuße«, später und zwischenzeitlich besteht auch die Möglichkeit der Geldbuße (ebd.: 497). Letzteres setzt für Simmel voraus, dass das Geld noch nicht für beliebige Zwecke verwendbar ist. Die Zweckbeliebigkeit des Geldes wirkt nach Simmel auf die Zwecke zurück und nimmt diesen ihre Besonderheit. Ein in seiner Gebrauchsunbestimmtheit ausdifferenziertes Geldmedium weise sogar »eine psychologische Formähnlichkeit« zur »höchsten kosmischen Einheit« auf, also zu Gott (ebd.: 306). Es komme zu einer »Konkurrenz« zwischen dem »Geldinteresse« und »dem religiösen Interesse« (ebd.: 306). Bedauerlicherweise hat Simmel die aus der psychologischen »Formähnlichkeit« entspringende »erfahrene Gefährlichkeit der Konkurrenz, die gerade das Geldinteresse dem religiösen Interesse bereitet« (ebd.: 306), nicht mehr ausführlich expliziert. Konkurrieren zwei Objekte – Geld und Gott – um ein Begehren – das Heilsbegehren, was der Kontext der Passage suggeriert –, oder konkurrieren zwei differente Begehren – religiöses und ökonomisches – um die Aufmerksamkeit des individuellen Lebens – wie es der Wortlaut suggeriert? Das wird nicht ohne weiteres klar, und hier wäre meines Dafürhaltens nach eine präzisere Darstellung Simmels wünschenswert gewesen. Ich nehme diesen Aspekt in Kapitel 8.3.2 dieses Buches erneut auf. Unabhängig davon stellt Simmel zufolge das kirchlich sanktionierte Zinsverbot eine Reaktion der Kirche auf die geschilderte Konkurrenzsituation dar: »In der kanonistischen Verwerfung des Zinses spricht sich die Perhorreszierung des Geldes überhaupt aus, denn der Zins macht das Geldgeschäft in seiner abstrakten Reinheit aus.« (Ebd.: 306). In der Ächtung des Zinses bleibt die Kirche in antiker Tradition. Ähnliches gilt in Hinblick der religiösen Wertung von Land, das im antiken Griechenland sakralen Charakter besaß. Im England des 14. Jahrhunderts habe die Kirche »fast die Hälfte des englischen Grundes und Bodens« besessen (ebd.: 312). Lange Zeit war dieser unverkäuflich. Dies, so Simmel, sei »keineswegs nur der Habsucht« zuzuschreiben gewesen (SOZ: 592). Der religiöse Sinn dahinter war die Markierung einer Trennlinie zwischen der relativistischen, profanen Sphäre des geldbasierten Handels und dem göttlichen Reich des Absoluten. In der Unverkäuflichkeit materialisierte sich die »Ewigkeit des Prinzips, auf dem die Kirche sich gründete.« (PDG: 312) Weiter meint Simmel, dass die Unverkäuflichkeit des Grundbesitzes die Kirche zur ersten Adresse der Armenpflege »im frühesten England« gemacht habe (SOZ: 524). Ein religiöses Motiv der Armenunterstützung sei es gewesen, »die Lücken der von Gott eigentlich gewollten, aber nicht völlig realisierten Ordnung zu ergänzen.« (Ebd.: 515). Der Eigenständigkeitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis sieht sich ursprünglich in ei-

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nem Verhältnis der Rivalität zur Kirche. Erst allmählich macht der Widerstreit Platz für eine friedliche Koexistenz beider: »Solange […] die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene Wissenschaft sich schließlich doch immer in irgendwelche Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt auszumachen, und zu den ›zweierlei Wahrheiten‹, die immerhin den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in demselben Maße umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissenschaft aufgefaßt wurden. Erst wenn beide sich vollkommen sondern, können sie sich vollkommen vertragen.« (ÜSD: 193)

Simmel macht an unterschiedlichen Stellen darauf aufmerksam, dass der Streit zwischen Religion und Wissenschaft nicht in deren Funktionsprinzipien begründet liegt, denn diese sind unterschiedlicher Natur. Religiosität besitzt ihren Sinn in der Produktion eines zu erstrebenden Ideals ganzheitlicher Individualität. Mit »der Empirie und mit verstandesmäßigen Kriterien« habe dies »nicht das geringste zu tun« (DR: 46). Wahre Erkenntnis ist nicht ihre Aufgabe. Ihrer reinen Funktion nach erfasst Religion zwar die gesamte Lebensführung. Weder der Heilsindividualismus, noch das Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem religiösen Individuum und seinem Gott implizieren äußerliche, allgemein-verbindliche materielle Anforderungen, eine WerteKollision zwischen Religion und den Kulturformen könnte es demnach nicht geben. Trifft die Religion aber konkrete, inhaltliche Annahmen über die Welt, setzt sie sich »mit dem theoretischen Denken in Wettbewerb« (RGW: 78). Dann ist Religion aber nicht mehr nur Religion, sondern mehr als das, Mehr-als-Religion. Ähnlich also, wie die soziale Ausdehnung des Christentums dem Ideal religiöser Individualisierung zuwiderläuft, lässt es sich im Verhältnis zu den Kulturformen beobachten. Die materielle Durchsetzung des Anspruchs auf göttliche Allumfassung gegen die anderen Kulturformen läuft auf den Selbstwiderspruch hinaus, nicht mehr nur Religion sein zu können. Das Beispiel seiner Zeit war die politische Formierung der katholischen Zentrumspartei im Deutschen Reich, deren »centre of interest does not lie in Germany, but in Rome« – beim Papst (TGLT: 191). Und sagt weiter, dass »our most powerful political party is made up on the basis, not of political, but of religious considerations.« (Ebd.: 191) Die zu beobachtende Ausweitung politischer Macht des Katholizismus ist für Simmel aber nur ein Beispiel für das negative Korrelationsverhältnis zwischen der sozialen Ausdehnung eines Prinzips und der Reinheit des religiösen Prinzips: »This notion of the salvation of the soul […] has become for Catholicism merely the point of departure, on which it has erected a system that embraces within itself the entire world, – science and art, material property and marriage, the policy of kings and the school instruction of every subject. Religion as such is only an element, though to be sure the fundamental element, in the structure of Catholicism, which is in essence a systematic regulation of the whole life. It is true that Catholicism might assert, […] that its object is the transformation of all life into religion. But this assertion would be disproved by its history, which shows that Catholicism either embraced the whole world-life, and was then never mere religion, or that it was only religion, bud had in consequence to renounce the world and become monasticism.« (Ebd.: 192; Hervorhebung PB)

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Das Aufkommen der franziskanischen Bettelmönche im Mittelalter interpretierte Simmel denn auch im Rahmen einer seit dem »fünften Jahrhundert« nie ganz abgebrochenen, fortdauernden inneren »Reformbewegung« gegen die »furchtbare Verweltlichung der italienischen Kirche des 12. und 13. Jahrhunderts, die in der Simonie ihren gedrängtesten Ausdruck gefunden hatte: auf Geld war alles gestellt und für Geld alles zu haben, von der Papstwahl bis zur Einsetzung des armseligsten Landpfarrers, von der großartigsten Klostergründung bis zum Aussprechen der Formel, durch die Florentiner Priester den Wein, in dem Mäuse ertrunken waren, wieder sühnten und genießbar machten!« (PDG: 331)

Die Armut stellte aus Sicht der Franziskanermönche den Kehrwert des Geldes dar: Wo für das Geld die ganze von ihnen verachtete diesseitige Welt zu haben war, hatten die Mönche im Nicht-Besitz ein Mittel und damit – paradoxerweise – den Zweck ihres religiösen Begehrens. Armut wird nicht als Verzicht, sondern in einem religiös gewendeten Sinne positiv erlebt als Erlösung vom Diesseits. Die Armut »hat die […] Steigerung zu einem definitiven Werte erfahren.« (Ebd.: 332) Die Weltflucht der Franziskanermönche erscheint wie eine Form der Rückbesinnung auf die religiöse Gemeinschaftsform der Urchristen. Deshalb eignet die Armut aber nicht zu einer substanziellen Bestimmung des religiösen Heilsstrebens. Dies würde den simmelschen Intentionen widersprechen, Religion funktional und nicht substanziell zu interpretieren. Armut zum Dogma zu erheben, würde einer Veräußerlichung gleichkommen. Ich möchte stattdessen vorschlagen, das Bettelmönchtum als eine unter mehreren möglichen, aber inhaltlich verschiedenen Bemühungen innerhalb des Christentums zu verstehen, die ursprüngliche Unmittelbarkeit der religiösen Beziehung zu Gott wiederherzustellen. Jedenfalls glaube ich, dass Simmel genau in diesem breiteren religionstheoretischen Sinne einer »Reinigung« der religiösen Form – oder auch: ihrer Essenz – von deren inhaltlichen Verkrustungen die europäischen Reformationsbewegungen seit dem 16. Jahrhundert interpretiert. So sagt Simmel in seiner »Socialen Differenzierung«, dass es gerade die Leistung der Reformation gewesen sei, die Arbeitsteilung zwischen Priester und Laien aufzuheben und das religiöse Individuum in jeder einzelnen Handlung wieder unmittelbar Gott gegenüberzustellen: »Diese Differenzierung [zwischen Priester und religiösem Laien; Anmerkung PB] hob die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm abgelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte; die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bürgerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein besonderer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem der Geist ihn treibt, predigt.« (ÜSD: 273)

Als ein Beispiel für Letzteres nennt Simmel die religiöse Gemeinde der Quäker. Hier sei prinzipiell jedes Individuum gleichermaßen zur Predigt berechtigt, und der Inhalt steht frei. Die Quäker seien durch »Innerlichkeit« und »Subjektivismus ihres religiösen Prinzips« charakterisiert (GS: 98; ÜSD: 212). Diesem Individualismus entsprechend, gestalte sich der Gottesdienst der Quäker zunächst stets als ein gemeinsames

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Nebeneinander, so dass die Individuen »stundenlang schweigend zusammensitzen« (GS: 98; ÜSD: 212). Es gehe darum, Gottes Nähe zu spüren. »[D]a dies aber für sie nur in einer Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muß offenbar das bloße, auch schweigende Beieinandersein diese hervorrufen.« (GS: 98). Die Gemeinschaft besitzt ihren Zweck darin, religiöses Erleben zu katalysieren. Simmel beruft sich auf einen englischen Quäker, dem zufolge »ekstatische Erscheinungen, die an einem Mitglied der Versammlung vorgehen«, auf die umgebenden Menschen erregend wirken und diese mitreißen (ebd.: 98; ÜSD: 212). Simmel meint ferner, dass gerade dieses religiöse Erleben in der Gemeinschaft auf Individuen attraktiv und sozial bindend wirke70. Andererseits obliegen vermeintlich private Angelegenheiten wie die Ehe der Zustimmung seitens der religiösen Gemeinde: »Sie sind also individuell nur im Gemeinsamen, aber sozial gebunden im Individuellen.« (SOZ: 798) Die QuäkerGemeinde entspricht dem Typus kleiner sozialer Gruppen, wonach die ihr zugehörigen Individuen vergleichsweise egalitär und undifferenziert zueinander sind und geringe Freiheitsrechte besitzen, die Gruppe selbst aber individualisiert ist. Der Tatbestand religiöser Individualisierung widerspricht dem nicht, sondern entspricht dem Umstand, dass sich die Quäker-Gemeinde als religiöse Gemeinde individualisiert und von der sie umgebenden Gesellschaft in sozialer Distanznahme differenziert (vgl. ebd.: 798). Wie Simmel beschreibt, schlossen sich die Quäker aufgrund religiöser Motive selbst aus von politischen Ämtern, weil sie keinen Schwur leisteten, »sie verschmähten alles, was mit dem Schmuck des Lebens zusammenhängt, sogar den Sport« (PDG: 282). Eine vitales Interesse blieb dann aber doch: »So waren sie, um überhaupt noch ein äußeres Lebensinteresse zu haben, auf das Geld hingewiesen, als das einzige, zu dem sie sich den Zugang nicht versperrt hatten.« (Ebd.: 282) Eine ähnliche, auf die Geldökonomie reduzierte Weltzugewandtheit zeigten Simmel zufolge auch andere protestantische Strömungen: »Ganz entsprechend hat man über das herrenhuterische Leben bemerkt, daß ihm aller ideale Gehalt von Wissenschaften, Künsten, heiterer Geselligkeit fehlen, und es so neben dem religiösen Interesse nur noch die nackte Erwerbslust als praktischen Impuls bestehen lasse. Die Betriebsamkeit und Habsucht vieler Herrnhuter und Pietisten sei deshalb kein Anzeichen von Heuchelei, sondern von einem kranken, vor den Kulturinteressen flüchtigen Christentum, von einer Frömmigkeit, die nichts irdisch Hohes neben sich duldet, sondern eher noch ein irdisch Niedriges.« (Ebd.: 282)

Die Herrnhuter zählt Simmel zusammen mit den Mennoniten und den Waldensern beispielhaft auf für den soziologischen Typus der Sekte, zu dem sich auch die Quäker zählen lassen dürften (vgl. SOZ 66).71 Simmel zufolge ist das entscheidende

70 In der religiösen Wirksamkeit kollektiver Ekstase treffen sich Durkheim und Simmel. Letzterer sah die gemeinschaftlichen Erregungen aber nicht als erschöpfend für das religiöse Phänomen an 71 Zur Unterscheidung von Sekte und Kirche bei Simmel vgl. Krech 1998a: 44-47. Weber vertrat hinsichtlich der Definition von Sekte eine entgegengesetzte Ansicht: Der Status als Sekte hat nichts mit der Größe einer religiösen Gruppe zu tun (vgl. Weber 2010: 916). Eine Sekte ist eine religiöse Gemeinschaft, die aus ihrem Wesen heraus »notwendig auf Univer-

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Merkmal von Sekten ihre quantitative Ausdehnungsbeschränkung. Nur in diesem Rahmen sei einerseits die religiöse Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott – oder zu Jesus (vgl. ebd.: 169) – realisierbar. Andererseits ist die Stärke ihres sozialen Zusammenhalts als religiöser Gruppe in der Form der »Ausnahme- und Gegensatzstellung gegenüber größeren [Kreisen]« begründet (ebd.: 66). Simmel definiert die Sekte also über die Form (der Wechselwirkung), nicht über den Inhalt. Interessant ist, dass Simmel Sekten, die ein ausgeprägtes ökonomisches Interesse aufweisen – so explizit den Quäkern und Herrnhutern –, eine Verwandtschaft mit den frühesten Christen attestiert. Diese Verwandtschaft ist Formverwandtschaft, nicht aber geistig-inhaltliche Verwandtschaft und entspringt allein dem Merkmal der Größenbegrenzung der religiösen Gemeinden: »Mindestens in dieser soziologischen Hinsicht ist der Anspruch dieser Sekten, das ursprüngliche Christentum zu repräsentieren, nicht unberechtigt.« (Ebd.: 66; Hervorhebung PB; vgl. Krech 1998a: 77) Einen ausführlicheren Blick wert sind Simmels Ausführungen zum Calvinismus. Meines Wissens nach handelt es sich dabei um die einzige christlich-reformatorische Partikularströmung, der sich Simmel detaillierter gewidmet hat, und zwar in seiner 1916 erschienenen kunstphilosophischen Betrachtung des Lebens Rembrandts van Rijn (»Rembrandt«), einem protestantischen Kreisen entstammenden niederländischen Künstler des 17. Jahrhunderts. Anlass von Simmels Auseinandersetzung mit dem Calvinismus war seine Hypothese, dass Rembrandts Religiosität zwar vielleicht calvinistisch geprägt gewesen sein mag, er aber eine darüber hinaus gehende religiöse Individualität entwickelte, die er in seiner Kunst ausgelebt habe (vgl. RT: 473).72 Die calvinistische Lehre, so Simmels Interpretation, postuliere ein dualistisches Weltbild zwischen Gott und einer vollkommen determinierten Welt: Gott ist der Grund des Seins, aber die diesseitige, empirische Welt das einzige, was wir von ihr erkennen können. Nach der Schöpfung sei Gott von der Welt zurückgetreten und habe sie ihrem gesetzlichen Lauf überlassen: »Man hat dieses Verhältnis so bezeichnet, daß Gott, nachdem er der Welt ihre Bewegungsgesetze gegeben hätte, sozusagen von ihr zurückgetreten wäre und sie diesen, nun ihr eigenen, nun streng ausnahmslosen Gesetzen überlassen hätte; so daß diese Gesetze, ohne daß man auf ihren eigentlichen Urheber zurückgriffe, rein von der irdischen Ebene aus feststellbar und verständlich seien.« (Ebd.: 474-475)

Der diesseitigen Welt steht der Calvinist ambivalent gegenüber. Einerseits erachtet er sie für »verdammungswürdig« (ebd.: 474). Andererseits aber habe das religiöse Individuum dem Calvinismus zufolge die Aufgabe, Gottes Schöpfung zu jener Vollen-

salität verzichten und notwendig auf durchaus freier Vereinbarung ihrer Mitglieder beruhen muß.« (Ebd.: 916) Der Verzicht auf Universalität und das Gebot freier Vereinbarung folge aus dem Selbstverständnis von Sekten, »ein Verein der religiös voll Qualifizierten« zu sein (ebd.: 916; Hervorhebung im Original). 72 Wie Goethe war Rembrandt für Simmel eine Verkörperung – aber die Form nicht erschöpfende Veranschaulichung – des »individuellen Gesetzes« (vgl. GSG 15: 524). Zum Zusammenhang von Kunst und Religion mit Bezug auf Simmels Rembrandtstudie vgl. Krech 1998a: 149-51.

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dung zu bringen, die in ihren Gesetzen bereits angelegt ist. Das religiöse Individuum wird zum Werkzeug Gottes. Der religiösen Beziehung zwischen Individuum und calvinistischem Gott scheint die aus der Religionsphilosophie Simmels nun bereits bekannte Paradoxie zwischen Freiheit und Bindung zugrunde zu liegen: »Die große Synthese ist nun, daß die Lebensverhältnisse zu derjenigen Art von Vollendung geführt werden sollen, die von ihren eigenen, immanenten, rein sachlichen Normen und Forderungen her vorgezeichnet wird – und daß eben damit der Wille Gottes am besten erfüllt, die Gottgesegnetheit unseres Tuns am deutlichsten symbolisiert wird.« (Ebd.: 474)

In Hinblick auf das Erlangen des Seelenheils macht das individuelle Handeln keinen Unterschied. Die Frage zwischen »der ganz personalen Erwähltheit oder Verwerfung« (ebd.: 473) stellt sich diesseitig nicht mehr, sondern ist vor Anbeginn der Zeit von Gott entschieden worden. Es gibt eine begrenzte Anzahl an Plätzen, deren Belegung bereits feststeht. Der das Christentum charakterisierende Konkurrenzausschluss bleibt so gewahrt, wenn auch auf eigensinnige Art und Weise (vgl. SK: 231). Unabhängig davon wird der Wille Gottes als unbedingt und heilig empfunden (vgl. RT: 474). Weil dies so ist, wird »um seinetwillen […] das Irdische behandelt, als ob es Zweck wäre.« (Ebd.: 475; Hervorhebung im Original) Der Theorieform nach entspricht dies dem Mechanismus von der »psychologischen Expansion der Qualitäten« (PDG: 292). Danach wird einem Element innerhalb eines bestimmten Verflechtungszusammenhangs ein Wert zugeschrieben, obgleich dieser dem Ursprung nach einem anderen Element zukommt, das aber ebenso Element ein und desselben Zusammenhanges ist.73 Gottes Schöpfung ist heilig, weil Gott heilig ist, weil es Gottes Schöpfung ist. Darüber, so Simmel, lasse sich begründen, dass der Calvinismus in der praktischen Konsequenz auf »die merkwürdige Wertung der korrekten, irdisch pflichtmäßigen, materiell erfolgreichen Lebensordnung« hinauslaufe (RT: 474; Hervorhebung PB). Das »objektiv pflichtmäßige und erfolgreiche Tun« besitze nicht für sich, aber als Element der zur Vollendung aufgegebenen Schöpfung Gottes »einen absoluten Wert innerhalb des Relativen; einen Wert, der durchaus an dem objektiven Dasein dieser Ordnungen, an der Bestimmung des objektiven Weltbildes durch diese Betätigungen, diese Erfolge haftet.« (Ebd.: 475) Die religiöse Beziehung zu Gott ist individualisiert. Der calvinistische Individualismus bedeutet nicht nur eine »Verantwortung der Einzelseele«, sondern auch eine »Einsamkeit der Seele« (ebd.: 473). Die vollständige Durchdringung des individuellen Erlebens durch die religiöse Beziehung zu Gott schlägt sich phänomenologisch in einer entsprechenden Intensivierung zu einem durchweg religiösen Erleben nieder. So konstatiert Simmel für die Puritaner überhaupt – zu denen auch die Calvinisten gehören – »eine bis ins Krankhafte gesteigerte Bewußtheit jedes Lebensmomentes […], […] die bewußteste Rechenschaft über jegliches Tun und Denken« (DR: 5758). Weiterhin spricht Simmel von dem Selbstverhältnis einer »absoluten inneren In-

73 Beispielhaft bezieht Simmel sich auf heterogene Inhalte wie die Familienehre oder die Schätzung der Erzeugnisse eines Künstlers (vgl. PDG: 292). Die Zweck-Mittel-Reihe, auf die Simmel später eingeht, mag zwar kontingenterweise hervorragen, ist aber nicht ausschließlicher Inhalt des Expansionsmechanismus.

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toleranz und Kompromißlosigkeit […], die gerade solchen Religionen der Gnadenwahl logisch und psychologisch zukommt.« (Ebd.: 110) Die calvinistische Introspektion dreht das Verhältnis zwischen Individuum und Gott, wie es das frühe Christentum etabliert hat, allerdings um. Während die Evolution der absoluten Einheit des Christengottes zurückwirkte auf das religiöse Individuum und diesem selbst einen absoluten Wert verlieh, sind die Akteure der religiösen Wechselwirkung im Calvinismus andere – Gott und Welt: »Zwischen diesen beiden Absolutheiten spannt sich für Calvin alle metaphysische Bedeutung. Das Individuum als solches ist von ihr ausgeschlossen, es ist nur die Brücke, über die hin, oder der unentbehrliche Stoff, an dem sich gleichsam der Verkehr jener beiden vollzieht. Es lebt, als wertbedeutend, durchaus nicht aus sich heraus, es hat innerhalb der Ebene der Relativität, die ihm zugewiesen ist, nicht die absolute Bedeutung, die in dieser vielmehr nur dem Sachwert, der überpersönlichen Struktur des Individuellen und vor allem des Gemeinschaftslebens zukommt.« (RT: 475; Hervorhebung PB)

Das Individuum ist also bloßes, neutrales Medium göttlichen Willens, ein bloßer »Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller Provenienz; […] die Formung, die andere Substanzen dieses Daseins annehmen« (GOE: 154). Das calvinistische Individuum ist keine nach seinem individuellen Gesetz, aus sich heraus lebende Entelechie, sondern geht in der Ganzheit des von Gott geschaffenen Kosmos auf. Simmels Beschreibung des Calvinisten ähnelt dem Kulturtypus des arbeitsteilig spezialisierten Individuums, dessen Handlungsmotivation »nur nach der reinen Sachvollendung fragt«; es ist »der im Fachfanatismus eingeschlossene Spezialist« (TDK: 207). Die Restitution der Unmittelbarkeit des religiösen Verhältnisses zu Gott, wie sie Simmel zufolge Wesen und Form der Reformation gewesen ist, implizierte demzufolge nicht notwendigerweise die Rückkehr zur Wertbedeutung frühchristlicher Religiosität. Dabei überrascht, dass Georg Simmel Max Weber vergleichbar bestimmten Formen des protestantischen Lebens eine außerordentliche Zuneigung – mit Max Webers Worten: »Wahlverwandtschaften« (Weber 1988a: 83; vgl. auch ebd.: 259) – zum ökonomischen Erfolgsstreben attestierte. Ein durch und durch religiös orientiertes Leben findet – unter anderem – Form im ökonomischen Profitstreben. Diese Beobachtung Simmels muss der anderen, gegenläufigen gegenübergestellt werden, dass sich die katholische Kirche aufgrund einer empfundenen Formverwandtschaft in einer antagonistischen Haltung dem Geld gegenüber fand. Das Verhältnis von Religion und Geldwirtschaft lässt sich dann als ein dualistisches interpretieren: Förderung, Hemmung und Antagonismus schließen sich nicht aus, sondern ein. Festgelegt auf eine der Möglichkeiten sind Religion und Geldwirtschaft nicht; und ihrem reinen Prinzip nach stehen die Eigenlogiken der Kultur- und Sozialwelten in einem reibungslosen Nebeneinander (vgl. DR: 41-42). Simmels Bemerkungen zu einem Wechselwirkungsverhältnis – in welche Richtung auch immer dieses ausschlägt, Konflikt oder Förderung – zwischen Religion und Wirtschaft betreffen dann auch deren inhaltliche Ausgestaltung – zu unterscheiden von der Form des Prinzips –, die sich eben nicht »rein« verwirklicht, sondern mit anderweitigen Motiven gemischt ist. Die Bemerkungen Simmels zur förderlichen Wirkung bestimmter Formen religiöser Lebensführung für die Ökonomie behalten aber randständigen Charakter. Sie sind

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auch nicht historisch-genetischer, sondern konstitutionstheoretischer Natur. Wie bereits erwähnt, war es ein methodologischer Zug Simmels, die geschichtlichen Inhalte als Mittel zum Zweck des Erweises einer einheitlichen Formungsperspektive zu verwenden. Die oben erwähnte ökonomische Affinität der Herrnhuter und Pietisten entstammt ihrem Kontext nach Simmels Argumentation für seine These, dass die Geldform auch jenen Individuen offen steht, die aus unterschiedlichen Gründen von der Teilhabe an anderen Formen ausgeschlossen sind. Aus der Perspektive der Religionsform werden jene geschichtlichen Inhalte nach jener Seite selektiert, mit der sie das religiöse Formungsprinzip offenbaren. So bin auch ich hier verfahren. Dies ist der Grund dafür, dass eine bestimmte inhaltliche (ethische) Einstellung zum ökonomischen Handeln – weltablehnend oder affirmativ – dem religiösen Prinzip per se nicht zugesprochen werden kann, wie es auch auf dem Gebiet der Wissenschaft der Fall ist. Max Weber dagegen war umgekehrt an der inhaltlichen Vielfalt religiöser Glaubensrichtungen interessiert, um deren kultur- und entwicklungsgeschichtliche Bedeutsamkeit in vergleichender Perspektive zu erforschen. Die kulturelle Differenz und historische Konsequenz religiöser Inhalte war für Weber von Wichtigkeit, nicht die Einheit der Form. Dazu mehr in Kapitel 9.2 in diesem Buch. Die Unterscheidung nach Form und Inhalt hilft weiterhin in der Einordnung der religiösen Erneuerungsbewegungen. Dem Realisierungsprozess des religiösen Ideals wohnt ein inhärenter Widerspruch inne. Den Imperativ sozialer Ausdehnung göttlicher Herrschaft verwirklichend, treten Differenzierungsprozesse ein, welche die ursprünglich rein religiöse Natur des Christentums durch die Eigenlogik der Vergesellschaftung und individuelle, materielle Interessen bricht. Es kommt zu Arbeitsteilung in Kirche und Priesterstand einerseits, Streit und Konkurrenz um den richtigen Weg zu Gott andererseits. Historisch kann die ihrer Idee und ihrem Funktionsprinzip nach ein allumfassendes Reich Gottes bildende Religion nur partikular-inhaltliche, d. h. konfessionelle Gestalt annehmen. Diese Hypothese vertritt Simmel generalisierend auf die Kulturwelten bezogen noch in der »Lebensanschauung« (vgl. LA: 240-41). Auch Kunst trete nur in der Form partikularer Kunststile auf, aber nie als Kunst an sich: »[U]nd daß die Kunst der Idee nach eine absolut vollständige Welt zu formen vermag, ist ebenso sicher, wie daß jene gegebene Kunst dies prinzipiell Mögliche nur fragmentarisch verwirklichen kann. Daß es mit der religiösen Welt nicht anders ist, liegt auf der Hand.« (Ebd.: 241) Leben kann nur sein in der Form der Individualität, deshalb kann eine historische Form nicht die Ganzheit eines apriorischen Lebensprinzips umsetzen. Die historische Varianz in inhaltlicher Hinsicht ist die Form, in der sich das zeitlose Funktionsprinzip der Religion: die absolute Einheit von Leben und Form, realisiert. 7.3.5 Religion und Konflikt Der religiösen Unmittelbarkeit zuwiderlaufende Tendenzen bleiben dem Protestantismus ebenfalls nicht fremd. In seiner Rückschau auf die vorangegangenen dreißig Jahre meint Simmel 1902 anti-liberale Tendenzen in der Religionspolitik der evangelischen Kirche Deutschlands festzustellen (vgl. TGLT: 194). Den Schulterschluss mit der politischen Spitze des Staates suchend, versuche die evangelische Kirche eine länderübergreifende Zentralisierung. Sie ziele damit ab auf »a regulation from above of the parish life« (ebd.: 194). Priester, die sich nicht an die gebotene Orthodoxie

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hielten, würden ausgeschlossen. Dies alles sei »opposed, in the highest degree, to the final meaning of the Christian religion.« (Ebd.: 194) Noch an anderer Stelle attestiert Simmel dem Protestantismus die Form einer zumindest »zeitweilig viel größeren dogmatischen Intoleranz«, als sie die katholische Kirche aufgewiesen habe (SOZ: 355). So habe die Abspaltung von der katholischen Kirche innerhalb des Protestantismus alsbald zu »konfessionalistischen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten, namentlich im 17. Jahrhundert« geführt (ebd.: 311). Ob eine Abweichung von der Orthodoxie marginal oder groß ist, spiele oft keine Rolle, sondern die Abweichung überhaupt. Simmel bezeichnet dies als »logische Unversöhnlichkeit« (ebd.: 311). Sofern der Anerkennungsanspruch religiöser Dogmatik die Form eines Absolutheitsanspruchs annimmt – sie artikuliert schließlich die umfassende, absolute Einheit –, liegt die Kompromisslosigkeit gegenüber Abweichlern durchaus in der Logik der »Sache«. Für die katholische Kirche hält Simmel sogar fest: »Die katholische Kirche befand sich eigentlich von je in einem doppelten Kriegszustand: gegen den ganzen Komplex mannigfaltiger Lehrmeinungen, die zusammen das Ketzertum bilden, und gegen die Lebensinteressen und -potenzen neben ihr, die ein von ihr irgendwie unabhängiges Machtgebiet beanspruchen.« (Ebd.: 355) Die Beziehung der Religion zu den nicht-religiösen Kulturformen war weiter oben bereits Thema. Als ein Beispiel für inter-konfessionelle Konflikte nennt Simmel die Spannungen zwischen protestantischen und katholischen Iren (vgl. ebd.: 482). Die katholische Kirche würde zwar einerseits versuchen, möglichst lange die Abweichung als Nicht-Abweichung zu behandeln. Das Mönchstum beispielsweise dient Simmel zufolge der katholischen Kirche als eine Art Auslagerung religiöser Idiosynkrasien. Die Grenzlinie selbst darf hierbei aber nicht als schwammig oder vage definiert verstanden werden, sondern der Grenzverlauf zwischen Abweichung und Konformität nimmt die Form der »Elastizität« an (ebd.: 355). Werde diese Grenze nämlich einmal überschritten, würden Ketzer »mit einer unvergleichlichen Energie« von der Kirche abgestoßen (ebd.: 355). Diese Intensität des religiösen Konflikts lässt sich mit einer konfliktsoziologischen Hypothese Simmels erklären, wonach ein aus einer – wie auch immer im Detail beschaffenden – ursprünglichen Gemeinsamkeit entstandener Streit »leidenschaftlicher und radikaler zu sein [pflegt], als wo er keinerlei vorhergehende oder gleichzeitig bestehende Zusammengehörigkeit der Parteien vorfindet.« (Ebd.: 310-11) Dadurch meint Simmel das Verhalten des Papstes 1875 erklären zu können, der einer Reformierten-Kirche den Vorzug vor einer Kirche der Altkatholischen gab, als die Stadt Bern auf der Suche nach passenden Räumlichkeiten für den katholischen Gottesdienst gewesen sei (vgl. ebd.: 311-12). Die besondere Intensität konfessioneller Auseinandersetzungen entstammt nicht dem Gottesglauben für sich. Der Glaube an Gott könnte auch ein nüchtern-intellektueller sein. Religiosität aber ist für Simmel eine eigene Form individuellen Erlebens, die sich – wie oben beschrieben – durch ihre vergleichsweise hohe Intensität auszeichnet. Als entsprechend intensiv müssen religiöse Streitigkeiten erlebt werden. Wie Simmel betont, kann es, eigentlich, innerhalb der Religion weder zu Streit, noch zu Konkurrenz kommen. Auseinandersetzungen mögen Sache ökonomischen Marktkampfes oder des parlamentarischen Wettstreites sein, die Religion aber »ist sozusagen der Friede in Substanz« (DR: 83). Die religiös konstituierte Einheit von Leben und Form bildet eine Art der idealen Vergesellschaftung, in der jedes Individuum das Ideal seiner Ganzheitlichkeit ausbilden kann, ohne dass der eine des ande-

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ren bedarf, oder dass sich die Individuen wechselseitig in die Quere kommen. Simmel nannte dies »eine spiritualistische Sozialisierung« und meinte, im Christentum den ideengeschichtlichen Idealtypus dieser Form zu sehen (ebd.: 94). In der »Soziologie« sah Simmel eine soziologische Erklärung für die dezidiert pazifizierende Wirkung des Christentums auch und gerade zwischen Gegnern in der gemeinsamen Unterordnung unter dem einen allumfassenden Gott (vgl. SOZ: 175). Streit und Frieden zugleich – wie passt das zusammen? Wir stoßen damit erneut auf die Doppelrollencharakteristik von Religion. Damit war gemeint, dass die gesellschaftliche Realisierung des idealen Anspruchs des Christengottes, allumfassende Einheit zu sein, der Idee selbst zuwiderläuft. Simmels Soziologie des Streits beruhte auf den Prämissen, dass der Streit kein dem Vergesellschaftungsprozess äußerlicher Fremdkörper ist, sondern dass der Konflikt ein konstitutives Element des Vergesellschaftungsprozesses und, allgemeiner, des Lebens bildet: »Als umfassender Einteilung erscheint es nun vielmehr, in der Lehre von den Beziehungen der Menschen diejenigen, die eine Einheit ausmachen, also die gesellschaftlichen im engeren Sinne, von den anderen zu unterscheiden, die der Einheit entgegenwirken. Nun ist aber zu bedenken, daß jedes historisch wirkliche Verhältnis an beiden Kategorien teil zu haben pflegt.« (Ebd.: 285)

Diese soziologische Prämisse ist eine Spezifikation der Hypothese eines im Fundament dualistisch begriffenen Lebens: So wie das Leben die dualistische Einheit aus Leben und Form ist, bilden die Formungsprozesse der Vergesellschaftung eine dualistische Einheit aus sozialer Einheit und Entzweiung des Sozialen (vgl. ebd.: 286, Fn. I). Die Gesellschaft, so Simmel, bedarf der repulsiven, divergierenden Kräfte, »um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen.« (Ebd.: 286) Das soziale Leben braucht die Form des Streits. Die sehr allgemein gehaltene Semantik Simmels weist darauf hin, dass er wohl selbst den Streit für eine noch zu materielle Beschreibung dessen hält, was sich ›eigentlich‹ abspielt, wenn repulsive und attraktive Kräfte zugleich wirken. Die Doppelsymbolik des Distanzbegriffs – Nähe und Ferne, Verbindung und Trennung zugleich – würde sich aus lebensphilosophischer Sicht ebenfalls zur Deskription anbieten. Betritt die Idee eines allumfassenden Gottes gesellschaftlichen Boden, wird sie auch mit dessen Logik »kontaminiert«. Die ersten Christengemeinden bildeten sich in Abwendung von der römischen Mehrheitsgesellschaft und wurden religiös verfolgt. In der Form ähnlich standen auch die protestantischen Sekten nicht in ökonomischer Hinsicht, aber in den sonstigen Sphären der Vergesellschaftung in »Ausnahme- und Gegensatzstellung« (ebd.: 66). Im Falle der partikularen Stammesgötter verhielt es sich anders, aber in der Form gleich: Nach innen hin bildeten die Kultgemeinschaften Friedensgemeinschaften, nach außen hin in der Beziehung zu anderen Kultgemeinschaften – die jeweils andere, exklusiv ihnen zugehörige und ihre Gruppenform artikulierende Götter besaßen – herrschte eine latent oder offen feindliche Beziehung zueinander (vgl. DR: 107-08; SOZ: 302, 788). Die soziale Ausdehnung des Christentums impliziert dann dem religiösen Ideal vom allumfassenden Christen-

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gott widerstrebende, aber nach innen hin gerichtete Konflikte.74 Ich erinnere daran, dass eine parallele, ebenso dem religiösen Ideal widerstrebende reale Entwicklung in der Religion in der Durchsetzung arbeitsteiliger Differenzierung in Kirche und Priesterstand auf der einen Seite, sowie religiöse Laien auf der anderen Seite bestand. Das Resultat dieser Form sozialer Differenzierung war nach Simmel eine »Uniformität« der Seelenheilslehre (DR: 99). Nun war die Konkurrenz nach Simmel eine der Arbeitsteilung komplementäre Form, durch die eine mit sozialer Ausdehnung korrelierende individuelle Spezialisierung produziert werden kann (vgl. SOZ: 791-92). Ersetzt man Konkurrenz durch Konflikt oder Kampf, lassen sich die konfessionellen Streitigkeiten als mögliche Formen religiöser Individualisierung bei Heilsstandardisierung innerhalb einer Denomination auffassen. Die »Repulsion« aus der und gegen die katholische Mittelbarkeit in die protestantische Unmittelbarkeit stellt in dieser Logik eine Bewältigungsform von Folgen der sozialen Ausdehnung des Christentums dar. Die Konfliktstellung gegen den Katholizismus begründet nach Simmel zumindest ein Stück weit die religiöse Identität des Protestantismus (vgl. ebd.: 359).75 Gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse führen schließlich nach Simmel zur umfassenden Institutionalisierung von Konkurrenzverhältnissen (vgl. SK: 228; SOZ: 329). Davon bleibt auch die Religion nicht unberührt, auch wenn Simmel religiöse Konkurrenzverhältnisse nur streift. Im Unterschied zum unmittelbaren Kampf zwischen zwei Individuen ist »die kompliziertere Erscheinung der Konkurrenz« (ebd.: 330) durch eine triadische Struktur gekennzeichnet, wo die Repulsion des Kampfes gegen jemand anders vermittelt wird, während es primär um die Annäherung an einen außerhalb des Kampfes stehenden Dritten geht (vgl. Kapitel 6.4.2 in diesem Buch). In der religiösen Konkurrenz werben unterschiedliche Konfessionen um Mitglieder. Dabei reicht es nicht, allein die Dogmen anderer Religionen zu diskreditieren, sondern die eigene religiöse Offerte muss ein individuelles religiöses Begehren befriedigen (vgl. ebd.: 323-24). Religiöse Konkurrenz impliziert die Wahlfreiheit des religiösen Individuums (vgl. Krech 1998a: 69). In der Logik der Form müsste es darüber hinaus liegen, dass Konkurrenz in der Religion den Heilsindividualismus befördert, d. h. in dem – vergleichsweise – friedlichen Mittel der Konkurrenz liegt die Möglichkeit, mit dem standardisierenden Heilsmonopolismus der Großkirchen zu brechen. Dies liegt deshalb in der Logik der Konkurrenzform, weil Simmel zufolge deren Wesen »das Ausspähen der innersten Wünsche eines Andern, […] die Konzentrierung des Bewußtseins auf das Wollen und Fühlen und Denken der Mitmenschen,

74 Nicht vergessen werden darf, dass Simmel eine dem Streit und Konflikt konstitutiv zugrundeliegende apriorische Form vermutete (»apriorischen Kampfinstinkt«, SOZ: 299, »ein ganz primäres Feindseligkeitsbedürfnis«, SOZ: 300, »ein formaler Feindseligkeitstrieb als Gegenstück des Sympathiebedürfnisses«, SOZ: 302, »dem antagonistischen Triebe«, SOZ: 303). Gehört das Divergieren zum individuellen Leben, muss er auch seinen Niederschlag finden innerhalb des umfassenden religiösen Ideals von der Einheit von Leben und Form. 75 Dahinter steckt eine allgemein-soziologische Hypothese Simmels. Ein Automatismus ist die vereinheitlichende Wirkung des Konflikts nicht. Sondern Streitigkeiten oder Konflikte stellen Simmel zufolge die Frage nach einem dichotomen Für oder Wider, während der Frieden Indifferenz und Zwischenzustände erlaube (vgl. SOZ: 354).

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[…] die Adaptierung der Anbietenden an die Nachfragenden« sei (SOZ: 328). Zu diesen inneren Zuständen gehört auch das religiöse Begehren. In welchem Maße die Vervielfältigung religiöser Angebote trotzdem eine dem Heils-Individualismus dann doch wieder zuwiderlaufende Standardisierung – wie es in der Ökonomie der Fall ist – mit sich bringt, kann nicht geklärt werden. Nimmt man es »puristisch«, dann widerspricht jede Mittelbarkeit der ausdifferenzierten Form religiöser Wechselwirkung zwischen Individuum und Gott (vgl. DR: 107). Von Bedeutung ist aber, die hier beschriebene Form religiöser Konkurrenz zu unterscheiden von einer Konkurrenz um das Heilsgut selbst. Letztere bleibt ausgeschlossen. Denn nicht geht es darum, dass die Befriedung eines religiösen Begehrens des einen auf Kosten der Heilsmöglichkeiten anderer geht. Sondern es geht – dem Prinzip nach – allein um ein inhaltlich befriedigendes Angebot des religiösen Begehrens. Das »Christentum als Prinzip muß gerade der Einheit seines Gottes, weil sie das Absolute ist, eine Vielheit relativer Wege entsprechen lassen« (ebd.: 109). Die absolute Einheit von Leben und Form muss materielle Gestalt annehmen, und dies impliziert realiter eine praktische Ausdeutung des religiösen Heilsindividualismus. Die religiöse Konkurrenz entspräche dann dem materiellen Sondieren und Ertasten des jeweils individuell »richtigen« Heilspfades innerhalb des Christentums. Wie auch immer: Das Heilsgut bleibt vor diesem Hintergrund nicht-knapp. Ob und wie eine entsprechende berufliche Spezialisierung auf der religiösen Angebotsseite aussehen mag, bleibt ebenfalls Spekulation, da Simmel keine weiteren Worte verlor über das, was man Märkte für religiöse Angebote und Nachfrage nennen kann.76 Was damit zusammenhängen mag, das Simmel dem ihm bekannten organisierten Christentum eine geringe Adaptionsfähigkeit an das gegenwärtige religiöse Begehren attestierte. Damit komme ich zum letzten Abschnitt.

7.4 RELIGIÖSE EVOLUTION IN DER MODERNE Zu Anfang dieses Kapitels stand die Unterscheidung zwischen Religiosität und Religion. Mit Religiosität bezeichnet Simmel ein Apriori des Lebens, das in der Kulturwelt Religion Objektivationsform annehmen kann. Die Differenz zwischen religiösem Leben und Religion als Form reflektiert eine von Simmel selbst beobachtete Divergenz zwischen institutionalisierten Formen des Kirchenlebens einerseits und einem in diesen Formen unbefriedigt bleibenden religiösen Begehren nach umfassender Einheitlichkeit andererseits. Einst war es laut Simmel die Leistung des Christentums gewesen, das religiöse Individuum mit einem umfänglichen Ideal von Leben und Form zu versorgen. Zu seiner Zeit war es aber anders. Die Kirchen gewannen an politischem Einfluss im Deutschen Kaiserreich, das religiöse Sehnen befriedigen konnte sie aber nicht. Das Leben war der Form fremd geworden, die Individuen sehnten »a profounder unification of life« herbei (TGLT: 195). Dies war bereits Gegenstand von Kapitel 3.3 in diesem Buch. Das Problem der gegenwärtigen religiösen Lage, so Simmel in dem gleichnamigen Aufsatz von 1911, bestehe in einem generellen Zweifel an dem Realitätsgehalt

76 Vgl. zu diesem Thema Koch 2007: 47-49.

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transzendenter Glaubensvorstellungen.77 Während zu anderen Zeiten Wege religiöser Erneuerung durch eine Revolution des Dogmas – sprich: eine inhaltliche Form des Transzendenten wird durch eine andere ersetzt – offengestanden haben, sei dies gegenwärtig nicht mehr möglich: »Der ungeheure Ernst der jetzigen Situation ist, daß nicht dieses und jenes Dogma, sondern der transzendente Glaubensinhalt als solcher prinzipiell mit dem Illusionscharakter geschlagen ist« (PRL: 150). Deshalb bleibe »nicht mehr die Form der Transzendenz«, sondern nur noch »das Bedürfnis«, welches einst durch die Gottes-Objektivation befriedigt worden sei, »durch die Aufhebung der Glaubensinhalte als solcher gelähmt und wie vom Wege zu seinem eignen Leben abgeschnitten.« (Ebd.: 150; Hervorhebung im Original) Die Gründe für die Untauglichkeit von Inhalten religiöser Formen sieht Simmel vorrangig in der Wirkung durch die philosophische Aufklärung und die Wissenschaft (ebd.: vgl. 150, 154). Nicht gemeint ist damit der Unglaube an einzelne Dogmen. Denn, wie Simmel meint, die jungfräuliche Geburt Jesu und dessen Wiederauferstehung von den Toten, »das alles ist durch die Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nicht unwahrscheinlicher geworden, als es schon durch die Erfahrungen der Menschen des 13. Jahrhunderts war.« (RGW: 75) Was zu einer allgemeinen Deskreditierung der Vorstellung eines transzendenten Gottesreiches überhaupt führe, sei über die einzelnen Kritiken hinaus die Lebensform, zu der die Kritiken zusammenwirken: eine »allgemeine, wissenschaftlich-intellektualistische Stimmung der Zeit« (ebd.: 75) – was einen Relativismus der Werte impliziert. Inhaltlich ähnlich argumentierte Simmel bereits früher, so im zweiten Band der »Moralwissenschaft« von 1893 und auch bereits in der »Psychologie des Geldes« von 1889. Es komme nicht mehr »zu dem festen Aggregatzustand« fester und dauerhafter Ideale religiöser, wie auch politischer Natur (EM II: 30). Neben der intellektuellen Kritik zeichne dafür aber auch »das schnelle Tempo und der unruhige Rhythmus modernen Lebens« verantwortlich (ebd.: 30).78 In der »Psychologie des Geldes« sah Simmel in der durch das Geld ermöglichten Beschleunigung des Warenumsatzes »eine Seite des großen Kulturprozesses, der die Realitäten wie die Ideale aus der Form der Stabilität, des unveränderlich Festen, für immer Bestehenden in die der Bewegung, des ewigen Flusses der Dinge, der steten Entwicklung überführt.« (PSYDG: 63) Noch sprach Simmel aber, Kultur psychologisierend, von den Zeichen einer und derselben »völkerpsychologischen Wandlung« (ebd.: 64). Bewegung und Entwicklung lösen Stabilität und Tradition als neue Lebensform ab.79 Hier spricht Simmel in Zusatz zu einer durch Wissenschaft geprägten Atmosphäre von einem alles Beharrende und Substanzielle störenden, unruhigen Lebensrhythmus und einem hohem Tempo. Gleich war damals ebenfalls Simmels Beobachtung, dass »mit den absoluten Endzwecken [nicht] auch das Bedürfnis nach ihnen weggefallen [ist].« (EM II: 30). Die Erschütterung der Glaubensinhalte bei bleibendem Begehren bildete das Fundament, auf dem Simmel seine Religionstheorie er-

77 »Religiöse Lage« bezeichnet nach Krech und Tyrell eine zu jener Zeit geläufige Semantik zur Diskussion der »Situation der Religion und der christlichen Kirchen um 1900« in Deutschland (Krech/Tyrell 1995: 12) 78 Das setzt eine Wechselwirkung zwischen Religiosität und Intellektualität voraus. Vgl. zu diesem Punkt BER: 18-19. 79 Vgl. zum Aspekt des dauernden Übergangs bei Simmel auch Lichtblau 1994a: 108.

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richtete. Dass er an die Stelle einer Psychologisierung von Werten und von Objektivität eine lebensphilosophische und deshalb: metaphysische Konstruktion setzte, bereitete der inhaltlichen Kontinuität keinen Abbruch. Die Theorie, wonach Leben und Form auf dem Gebiet der Religion zu trennen sind, bestimmte Simmels Interpretation von Konstitution und Evolution der Gottes- und Heilsvorstellungen. Der Christengott ist demnach die durch das religiöse Apriori geschaffene Form. Die Objektivationsform Gott war eine evolutionäre Antwort des Geistes auf eine Sinnkrise im antiken römischen Imperium. Ein religiöses Sinnbedürfnis entstand, weil sich der eigentliche, substanzielle Zweck von Einzelhandlungen der individuellen Erkenntnis strukturell entzog.80 Jedes Handeln war bloß Mittel innerhalb eines das Individuum übergreifenden, gesamtgesellschaftlichen Gefüges: »[Ü]ber die Einzelzwecke, die nicht mehr ein Letztes, sondern nur noch ein Vorletztes und Vorvorletztes sind, steigt das Problem einer wirklich vollendeten Einheit auf, in der all jene unabgeschlossenen Strebungen ihre Reife und Ruhe fänden« (SN: 177). Das im Diesseits stattfindende Handeln entbehrte der umfassenden Einheit. Diese stiftete die Transzendenz Gottes: Die partikularen Handlungen fanden zwar im Diesseits nach wie vor keinen Sinn, dafür aber durch die umfassende Transzendenz Gottes. Die für sich genommen nicht abzuschließenden Zweckreihen erhielten aus der Orientierung an der Transzendenz Gottes ein Ideal, welches es mit jedem einzelnen Schritt zu verwirklichten galt, das Seelenheil. Dies war die Ausdifferenzierung der Religion. Vonseiten der religiösen Lage her zieht Simmel eine Parallele zwischen der römischen Antike und seiner Gegenwart. Dies gilt aber auch für die ›monetäre‹ Lage, denn wie Simmel meinte, waren beide Zeitalter, die römische Antike und die Gegenwart, in einem hohen Maße geldwirtschaftlich integriert. Um eine systematische Beschreibung ging es Simmel dabei nicht; auch nicht darum, ob die römische Geldwirtschaft durch und durch bereits den modernen, arbeitsteiligen Charakter besaß. Der heuristische Wert des Vergleichs liegt meines Erachtens, bei aller historisch konstatierbaren Differenz zwischen den Epochen, in zwei miteinander zusammenhängenden Gründen: Erstens darin, dass der durch das Geld getragene Kontingenzhorizont des Handelns und Erlebens eine Lücke individueller Sinndetermination eröffnete, die das Gesetz Gottes wieder zu schließen vermochte. Zweitens ging es Simmel offensichtlich darum, dass die der Antike zur Verfügung stehende Option religiöser Sinnstiftung durch eine umfassende Transzendenzvorstellung nun nicht mehr zur Verfügung stand, bei einem im Großen und Ganzen gleichen Ausgangsproblem einer soziokulturell bedingten Sinnkrise. Vor diesem Hintergrund einer gerade nicht durch transzendente Glaubensvorstellungen, geschweige denn durch Kirchlichkeit und Dogma zu lösenden Sinnfrage geschah Simmels Zugriff auf die Symbolwelt des Christentums. Er war ausdrücklich an Problemen seiner Gegenwart orientiert. Wieder in die andere Richtung gespiegelt und auf der historischen Parallele aufbauend geschah Simmels Zugriff auf die Symbolwelt des Christentums aus einer an der Gegenwart orientierten Perspektive. So interessierte Simmel nicht die Frage nach der Dies- oder Jenseitigkeit des Heils, sondern dessen Tauglichkeit zum Projektionssymbol für »das tiefste Lebensproblem der Gegenwart« (HDS: 114). Das Heil sei »eines der Motive […], aus denen das gegenwärtige Leben wieder instinktiv nach

80 Sinn verstanden als Einheit.

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Religion taste, als fänden unsre tiefsten Lebensnöte in ihr, wenn keine Lösung, so doch eine Formulierung und den Trost, daß sie die Nöte der Menschheit von je gewesen sind.« (Ebd.: 114-15) Nicht die Heilsstandardisierung der Kirche, sondern das ›Original‹ des Heilsindividualismus Jesu Christi, geboren aus und in einer historischen Problemformation, stand Pate für Simmels religionsphilosophische Interpretation (vgl. ebd.: 114). Dass Simmel den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetzen identifizierte mit dem Leben nach dem eigenen, individuellen Gesetz, kann man deshalb als ein Zeichen für die Möglichkeit einer künftigen religiösen Lebensführung lesen: Die Möglichkeit liegt in jenem Leben selbst, das der Bildung historischer Religionen und Gottesvorstellungen zugrundegelegen hat und nach wie vor auch liegt, und die konzeptionelle Rückverlagerung der Transzendenz in die Immanenz des Lebens gelang Simmel mit der »Lebensanschauung«. Auf dieses Ziel hin, das möchte ich zeigen, arbeitete Simmel bereits innerhalb seiner Religionsphilosophie. Spuren dazu finden sich bereits recht früh bei Simmel, so 1904 in seinem Aufsatz »Die Gegensätze des Lebens und der Religion«. Wesen und Funktion der Religion, eine Einheit von Leben und Form zu schaffen, verlegt Simmel in das Leben selbst hinein. Simmel nimmt gegen Ende dieses Aufsatzes die Beobachtung auf, dass historische Ausformungen von Religion stets durch neue Formen religiösen Lebens abgelöst worden seien. Auch die aktuellen Gebilde der Religion würden nicht vom Formwandel verschont. Dieses Mal allerdings könne dies zu einem ganz prinzipiellen Wandel der Religion führen: Religiosität könne in der Form des Vitaldualismus des Lebens gefunden werden. Anstatt »für die Gegensätze des eigenen Lebens von der Religion, dem subjektiven Verhältnis zu Gott, Versöhnung zu fordern«, so Simmel, dürfe die Religion »nicht in unberührter Ruhe jenseits alles Gegensatzes verharren und erstarren. Indem die rastlose Entwickelung durch den immer neu sich gebärenden Gegensatz hindurch schließlich dasjenige Gebilde ergreift, dessen ganzer Sinn die Versöhnung aller Gegensätze ist, ist der Rhythmus des modernen Lebens über das letzte Widerstreben Herr geworden; und hat mit restloser Deutlichkeit der Zukunft die Aufgabe gestellt, innerhalb dieser endlosen Gegensätzlichkeit und Bewegtheit die Erlösung und Versöhnung zu finden, die bisher nur die Flucht aus ihr zu gewähren schien.« (GLR: 303; Hervorhebung PB)

Hat sich bis dato der ahistorische Vitaldualismus eines permanenten religiösen Formwandels auf die Ebene der Inhalte konzentriert, trifft er jetzt die Ebene als ganze, weil die neue Form des Lebens es ihrem Prinzip nach zu keinen festen, materiellen Formen mehr kommen lässt – der »Kampf des Lebens gegen die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form.« (KDMK: 185; vgl. auch ebd.: 201-05). Die Ahistorizität des Vitaldualismus von Leben und Form wird selbst historische Lebensform (vgl. KDMK: 188; vgl. dazu auch Silver/Lee/Moore 2007: 187). In der »Moralwissenschaft« ließ Simmel es noch offen, »ob die ausgehöhlte Form des Endzwecks sich mit neuem, substanziellem Inhalt füllen, oder ob sie als ein Truggebilde erkannt und durch eine Befriedigung im Relativen, Fliessenden, ersetzt werden wird« (EM II: 30-31). An das Fluss- und Bewegungsbild der »Moralwissenschaft« anschließend meint Simmel, dass die Unbefriedigung religiösen Sehnens philosophischen Niederschlag finde in Arthur Schopenhauers Metaphysik, wonach »das Absolute des Seins überhaupt ein rastloses Drängen, ein stetes Übersichhinausgehen

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ist, das aber, gerade weil es der erschöpfende Grund aller Dinge ist, zu ewiger Unbefriedigtheit verurteilt ist.« (SN: 178) Simmel liest Schopenhauer also als ein werdendes Sein, das keinen Wert besitzt, weil es immer weiter strebt. Anders Friedrich Nietzsche, dessen Philosophie Simmel von Charles Darwins Evolutionstheorie geprägt sieht. Nietzsche sehe gerade in der Tatsache der Entwicklung die »Möglichkeit eines Zweckes« (ebd.: 179). Nietzsche, so sagt Simmel, deute das Wesen des Lebens als ein inhärentes Streben nach der eigenen Höherentwicklung. Das Zweckstreben wird daher von dem äußeren Objekt nach innen hin zum Leben gerichtet. Damit liegt diese Interpretation Nietzsches durch Simmel ganz auf der Linie dessen, was er später als mögliche Lösung und Herausforderung zugleich für das moderne Leben deutet: »Durch diesen in ihm unmittelbar gelegenen Trieb und die Gewähr der Erhöhung, Bereicherung, Wertvollendung kann das Leben selbst zum Zweck des Lebens werden und ist damit der Frage nach einem Endzweck enthoben, der jenseits seines rein und natürlich verlaufenden Prozesses läge.« (Ebd.: 179; Hervorhebung im Original) Damit scheint Simmel in Nietzsche bzw. in seiner Interpretation von Nietzsche eine Antwort auf die 1893 in seiner »Moralwissenschaft« gestellte Frage nach einem Endzweck zu finden: Er wird von »außen« auf die »Innenseite« des Lebens verlegt (vgl. Krech 1998a: 104-05). In der »Philosophie des Geldes« ist der »Endzweck« bereits »eine [apriorische] Funktion« des geistigen Lebens (PDG: 303). Simmel spricht nicht von einem substanziell zu erreichenden Endzweck, sondern Zweckhandeln ist eine Form des Lebens. In »Religiöse Grundgedanken und moderne Wissenschaft« aus dem Jahre 1909 meint Simmel, dass die Möglichkeit einer religiösen Lebensführung daran geknüpft ist, aus der Konkurrenz mit wissenschaftlichem Erkenntnisstreben herauszutreten. Solange es noch um das Zutreffen oder Nicht-Zutreffen bestimmter religiöser Inhalte gehe, »wird die Kritik ihnen auf den Fersen sein.« (RGW: 78) Nicht unter das wissenschaftliche Urteil von wahr oder falsch falle dagegen das reine »So-Sein der Menschen«, das, als Leben, »der Wissenschaft so wenig widerlegbar [ist], wie überhaupt ein Sein wiederlegt werden kann.« (Ebd.: 78) In dem »unmittelbaren Leben« selbst könne das Ziel »von Evolutionen des religiösen Wesens« liegen (RWG: 78). Die Wende zur Innerlichkeit bedeutet nicht, dass das Leben auf die Inhalte der Kulturwelten verzichten kann, an denen es zur Gestalt gelangt. Aber: Es ist nicht die Eigenbedeutung der Inhalte, die über Eignung oder Nicht-Eignung ihrer selbst für eine religiöse Lebensführung entscheidet, sondern die eigenselektive Sinngebung der Welt durch das individuelle Leben selbst. Impliziert sei damit, so Simmel, eine Wende im Verständnis eines durch und durch religiösen Lebens: »Allein dieses enthält durchaus keine Erkenntnisse der Dinge, Erlebnisse, Schicksale, sondern eine Ordnung ihrer nach eignen Werten und Bedürfnissen, eine eigne Reaktion des Gefühles auf sie, eine eigne, unmittelbar in sie hineingelebte Sinngebung. Wenn die Religion nicht eine Summe von Behauptungen, sondern ein bestimmtes So-Sein der Menschen ist, und erst dadurch eine Charakterisierung und Rangierung der Weltinhalte, so ist sie der Wissenschaft so wenig widerlegbar, wie überhaupt ein Sein widerlegt werden kann.« (Ebd.: 78; Hervorhebung PB)

Der religiöse Mensch tritt in eine Beziehung zu den Objekten, allerdings in eine selbstgestaltete Form der Bezugnahme. Identisch ist die Argumentation Simmels in seinen Beobachtungen zur zeitgenössischen religiösen Lage. Das religiöse Begehren

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nach umfassender Einheit habe die überkommenen Formen der Religion überlebt, was aber nur dann funktionieren kann, wenn das allen Objektivationen zugrundeliegende, apriorische »religiöse Sein« jenseits des Verhältnisses von »Subjekt-Objekt« steht (PRL: 154). Simmel spricht von einer aufdämmernden »Möglichkeit, dass die Religion sich aus ihrer Substantialität, aus ihrer Bindung an transzendente Inhalte zu einer Funktion, zu einer inneren Form des Lebens selbst und aller seiner Inhalte zurück- oder emporbilde.« (Ebd.: 157; Hervorhebung PB) Das Leben könne einen »metaphysischen Wert […], wie durch eine Achsendrehung« erhalten (ebd.: 157).81 Das Leben sei selbst »Absolutheit« (ebd.: 154) – und nur deshalb können auch die Inhalte, an denen das religiöse Individuum lebt, für das Individuum eine religiöse Bedeutung besitzen. Die Inhalte erhalten ihre religiöse Bedeutung also, kurz gesagt, aus ihrem Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung religiöser Individualität und unabhängig von deren Wahrheitswert. Allgemeiner: Die Eigenlogik der Kulturwelten entscheidet nicht über die Eignung von Inhalten zur religiösen Selbstgestaltung. Das religiöse Begehren kann dann gestillt werden in der Lebenspraxis selbst, die sich an den Inhalten formt, ohne dass das religiöse Begehren a priori auf bestimmte Inhalte verwiesen wird. Der monotheistische Schöpfergott wird abgelöst durch das schöpferische Leben. Es besteht eine Asymmetrie zwischen einer primären, nicht weiter definierbaren Objektivität des »So-Seins« religiösen Lebens, und einem sekundären Sein des Lebens, dem »Haben« von Weltbeziehungen in Formen des Lebens. Die Tatsache der Individualität eines Lebens – es ist Entelechie und damit aus sich heraus Einheitsform – gewinnt für Simmel einen über jede weitere inhaltliche Aussage gehenden absoluten Gewissheitscharakter, und genau dieses Leben ist für Simmel das einzige, was das religiöse Begehren nach einer umfassenden Einheit noch befriedigen kann. Unabhängig von den Inhalten, an denen Individuen sich ausleben, besteht die Essenz eines religiösen Daseins in der Selbstgewissheit. Der »spezifisch religiösen Natur«, so Simmel, könne die Erschütterung oder das In-Zweifel-Ziehen bestimmter Inhalte nichts anhaben, und er fährt fort: »Sie mag den Zweifel, die unruhige Sehnsucht, die Anfechtung, den Abfall durchmachen; im letzten Grunde ist sie dennoch ihrer Sache sicher, weil das nur für sie bedeutet, daß sie ihrer selbst sicher ist. Sie findet in ihrer Selbstbesinnung eine so transzendente Seinstiefe, daß sie sie gar nicht Gott zu nennen braucht; weshalb denn manche der tiefsten religiösen Mystiker eine merkwürdige Gleichgültigkeit gegen den Glaubensinhalt zeigen.« (Ebd.: 158; Hervorhebung PB)

Religiöse Naturen – oder auch, mit einem Terminus Max Webers, religiöse Virtuosen (vgl. Weber 2010: 421) – leben in Formen, bedürfen aber nicht bestimmter äußerlicher Vorgaben. Anders dagegen schwach-religiöse Naturen.82 Simmel spricht von »Menschen mit einigen religiösen Elementen, die Menschen, die Religion brauchen, weil ihr Sein sie nicht besitzt, die Menschen, in denen sie eine schmerzlich empfind-

81 Silver, Lee und Moore erkennen hier ebenfalls eine Vorwegnahme der Transzendenz des Lebens, dessen Wesen Simmel mit der »Lebensanschauung« erreichte (vgl. Silver/Lee/ Moore 2007: 283). 82 Meine Bezeichnung.

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bare Lücke der Existenz ausfüllt.« (PRL: 159) Schwach-religiöse Menschen bedürfen der äußeren Vorgaben – des Habens – durch die Institutionen der »Religion im historischen Sinne des Glaubens« (ebd.: 159). Daran anschließend findet Simmel eine Formel zur Markierung der Differenz zwischen den unterschiedlich veranlagten religiösen Naturen: »[W]er den Gott nicht in sich hat, muß ihn außer sich haben.« (Ebd.: 159) Die schwach religiösen Individuen sind es dann, deren Religiosität nach dem Wegfall definitiver Werte ins Leere und in eine Sinnkrise laufen würde. Sie hätten mit der Transzendenz Gottes »alles verloren, denn die Masse braucht etwas in ganz anderem Sinn ›Objektives‹, als das intensive und schöpferische Individuum.« (Ebd.: 160) Simmel schien die religiöse Sinn- geradezu zu einer Schicksalsfrage zu stilisieren, wenn er in leicht pathetischem Ton festzustellen meinte: »Das ungeheure Fragezeichen der jetzigen Lage und ihrer Zukunft steht hinter der Möglichkeit, ob die Religiosität der Durchschnittstypen die Wendung von der Substanz des Götterhimmels und der transzendenten ›Tatsachen‹ vollziehen kann; die Wendung zu der religiösen Gestaltung des Lebens selbst und zu der inneren Tatsächlichkeit, die man […] als das Selbstbewußtsein der metaphysischen Bedeutung unserer Existenz bezeichnen kann« (ebd.: 160; Hervorhebung im Original).

Ihrem Inhalt nach greift Simmel die gleiche Sinnfrage im Kontext seiner kultur- wie lebensphilosophischen Schriften recht ähnlich auf. Etwas präziser formuliert: Ein und derselbe Inhalt ist Gegenstand unterschiedlicher Formungsperspektiven. Mit Blick auf die »Lebensanschauung« lässt sich sagen, dass Simmel mit dieser die in seiner Religionsphilosophie postulierte Evolution der Religion theoretisch vollzogen hat. Eine Beantwortung der empirischen Frage nach dem Schicksal der religiösen »Durchschnittstypen« in Unterscheidung von »religiösen Naturen« stellte sich ihm aber nicht. Transzendenz ist nun das Wesen des Lebens selbst, deshalb spricht Simmel auch von dem »Über-Sich-Hinausgreifen« des Lebens (LA: 233). Die »Transzendenz« verlegt Simmel nun in »das immanente Sein des Lebens« hinein (ebd.: 234). Gegen Ende des ersten Kapitels reflektiert Simmel die erkenntnistheoretische Position seiner Lebensphilosophie in Unterscheidung gegen eine naive (»Naivität«, ebd.: 234) und eine idealistische Erkenntnistheorie der »Aufklärung« (ebd.: 234). Die erste, naive Position behaupte »Realitäten und Werte«, »Glaubensobjekte und Gültigkeiten« (ebd.: 234). Sie könne die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt allerdings nicht erklären, weil sie von der vollständig unabhängigen Existenz der Objektwelt von jener der Subjekte ausgeht, »in der scharfen Getrenntheit des Gegenüber« (ebd.: 234); dann aber dieser Objektwelt doch einen wirksamen Einfluss auf das Subjekt zugesteht, »man weiß allerdings nicht recht, auf welche Weise« (ebd.: 234). Aus dieser Perspektive bliebe die Transzendenz des allumfassenden Gottes ebenso unerreichbar wie unerklärbar für den Menschen. Die idealistische Position – zumindest die, gegen die Simmel sich wendet – sei als Kritik an der naiven erkenntnistheoretischen Position entstanden. Der Idealismus behaupte die »absolute Immanenz«, wonach alle Objektivität »für eine Illusion erklärt [werde].« (Ebd.: 234). Die Objektivität wird getilgt zugunsten der Subjektivität des Seins. Aus dieser Perspektive würde die Religion verschwinden, wenn die Götter als anthropomorphe Projektion entlarvt würden. Dies erkannte Simmel als die Position Ludwig Feuerbachs (vgl. Kapitel 7.2.1 in diesem Buch), die Simmel mit dem nun bereits bekannten Hinweis kritisier-

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te: dass mit dem Objekt der Religion nicht das religiöse Begehren verschwinde (vgl. PRL: 154). Simmel wählte sowohl in der Erklärung von Religion wie in der Erklärung von Objektivität überhaupt »ein Drittes« (LA: 228). Das Leben vollzieht sich als dualistische Einheit von individuellem Leben und der das Individuelle umfassenden Form, seiner Selbsttranszendenz: »Hier nun ist der Versuch gemacht, das Leben als ein solches zu begreifen, welches die Grenze gegen sein Jenseits stetig übergreift und in diesem Übergreifen sein eigenes Wesen hat, der Versuch, an diesem Transzendieren die Definition des Lebens überhaupt zu finden, die Geschlossenheit seiner Individualitätsform zwar festzuhalten, aber nur, damit sie in kontinuierlichem Prozeß durchbrochen werde.« (Ebd.: 234; Hervorhebung im Original)

Weil Transzendenz das Leben definiert, ist er inhaltlich auch nicht festgelegt. So bezeichnet er auf der – vom Organischen unterschiedenen – Ebene des Geistes beide Seiten der Unterscheidung aus Mehr-Leben und Mehr-als-Leben. Transzendenz ist Mehr-Leben im Sinne der fortwährenden Erzeugung von Vorstellungsinhalten. Hier spricht Simmel von der »Bewegung in der Transzendenz seiner selbst«, durch welche sich »der Geist als das schlechthin Lebendige zeige« (ebd.: 217), sowie von dem »Transzendieren des Lebens über seine aktuell begrenzende Form […] innerhalb seiner eigenen Ebene«, dieser Prozess ist »Mehr-Leben« (ebd.: 232). Die Inhalte werden durch das Bewusstsein geschaffen, gehören aber, mit dem Akt ihrer Erzeugung – hier steht Simmel in Kontinuität der »Philosophie des Geldes« – der »Ebene der Sachgehalte, des logisch autonomen, nicht mehr vitalen Sinnes« an, dem »Mehr-als-Leben« (ebd.: 232). Gemeint damit sind die Kulturwelten, mit deren Objektivierung »das schöpferische Leben […] fortwährend über sich selbst hinausgeht« und die, in ihrer »Objektivität«, »dem Subjekt transzendent und nichts weniger als eine bloße Verkleidung seiner [sind]« (ebd.: 296; Hervorhebung PB). Ein und derselbe Inhalt unterliegt dem Zugriff von unterschiedlichen, eigenlogischen Formungsperspektiven: Der durch die Individualgesetzlichkeit auf der einen Seite, und jener durch die eigenproduktiven und ebenso eigenlogischen Kulturwelten. Beiden widmet Simmel jeweils ein Kapitel, wo die jeweilige Eigenlogik einer Formungsperspektive in den Blick gerät. Ich meine, dass in der Anordnung der Kapitel 2 und 4, zwischen der »Wendung zur Idee« und dem »Individuellen Gesetz« eine Art Symmetrie des Dualismus zwischen Leben und Form entfaltet wird: Einmal verselbständigen sich die Kulturwelten aus und gegen das schöpferische Leben und formt dieses nach den Anfordernissen seiner eigengesetzlichen Produktivität. Dies ist die Perspektive von Kapitel 2. Kapitel 4 wendet die Perspektive: Simmel postuliert eine schöpferische Entelechie, einen metaphysischen Letztgrund von Welt in der Individualität des geistigen Lebens. So meint Simmel: »Im letzten – oder ersten – Grunde macht der Mensch die ›Verhältnisse‹, wenn auch nachher die Verhältnisse den Menschen machen« (ebd.: 367-68). Simmel bleibt also bei seinem Theorem dualistischer Wechselwirkung zwischen Leben und Form, gibt ihr aber eine transzendentale Letztbegründung in der Individualität des Lebens. Dies ist die Grundlage für die religiöse Seins-Gewissheit. Die sich in Kapitel 2 aus dem Leben verselbständigenden »kulturellen Welten« bieten dem individuellen Leben »die Stationen seines Verlaufes oder einen Vorrat an Inhalten« (ebd.: 256). Letzteres kann mit Blick auf Kapitel 4 gelesen werden: Das individuelle Leben formt seine stets historische Einheit an den Inhalten

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der Kulturwelten. Auf der Linie seiner religionsphilosophischen Schriften gibt Simmel dem Individuum keine Kriterien an die Hand zur »Vollendung der eigenen Persönlichkeit« (ebd.: 420) gemäß dem individuellen Gesetz. Das »individuelle Gesetz« bleibt rein formaler Natur, ganz so wie Simmels Theorie vom Seelenheil. Nur marginal berührt Simmel die »typische Tragödie der Geisteskultur überhaupt« (ebd.: 351; vgl. dazu ebd.: 226, 352). Simmels Auseinandersetzung mit dem Überindividuellen gilt im »individuellen Gesetz« Kant, nicht der religiösen Bedürftigkeit. Die von Simmel skizzierte Problematik der religiösen Situation seiner Zeit ist in der »Lebensanschauung« gewissermaßen in der zeitlosen Metaphysik des Dualismus von Leben und Form aufgehoben. Etwas anders dagegen Simmels Kulturphilosophie. Simmels Philosophie der individuellen Kultivierung beruht zwar auf der Theorie des individuellen Gesetzes. Sie betont aber die sich aus der Divergenz der Eigenlogiken der Kulturwelten und der Eigenlogik der Individuen sich ergebenden Spannungen. Die Vereinnahmung der Individuen durch die ihrem Inhalt nach fortwährend wachsenden Kulturwelten ist meines Erachtens ein Symptom der von Simmel beschriebenen religiösen Bedürftigkeit. Simmel hebt ja gerade das Problem der Eigenselektivität hervor: Kultivierung bemisst sich nicht an den Inhalten selbst, sondern an deren Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung des individuellen Lebens. Die »Behangenheit und Überladung« (TDK: 223) des Menschen mit Dingen ist laut Simmel ein Problem, weil sich das Individuum den durch Objekten geweckten »Velleitäten« (ebd.: 220), den »Berührungen, Versuchungen« (ebd.: 222) schwer entziehen kann. Die Überindividualität der Formen wirkt fordernd, stellt »Ansprüche an das Subjekt« (ebd.: 220). Einen Zwang zu dem Überladen-Sein mit diesen Dingen gibt es nach Simmel nicht. Eher scheint es so, dass die Individuen einen Seins-Mangel oder besser: einen Seins-Durst durch das Haben von Objekten zu stillen versuchen. Die Spur zum Beleg dieser These führt zur »Philosophie des Geldes«: In jeweils unterschiedlicher Richtung verlaufend münden das Aufkommen der Geldwirtschaft und der Niedergang substanzieller Glaubensinhalte der Religion in einer Lebensform der inneren Bedürftigkeit bei gleichzeitig äußerer Überladenheit. In der »Philosophie des Geldes« spricht Simmel »von Spannung und unorientierter Sehnsucht« und dem »Gefühl, als läge der ganze Sinn unserer Existenz in einer so weiten Ferne, daß wir ihn gar nicht lokalisieren können und so immer in der Gefahr sind, uns von ihm fort, statt auf ihn hin zu bewegen« (PDG: 675). Dann scheine es wieder, »als läge der Sinn vor unseren Augen«, stets scheine uns aber »ein Geringes von Mut, von Kraft, oder von innerer Sicherheit« zu fehlen (ebd.: 675). Ein andauerndes »Angeregtsein« stellte Simmel auch in der »Kulturtragödie« fest (TDK: 223). Die Individuen würden von einem Erlebnis zum anderen hasten, und dazu treibe sie der »Mangel an Definitivum im Zentrum der Seele« (PDG: 675). Das Ausmaß der technisch-ökonomisch beschaffbaren Dinge hätte das Individuum aus dem inneren »Sich-Selbst-Gehören« in die Peripherie der Bedürftigkeit gerissen (ebd.: 674). Noch an anderer Stelle konstatiert Simmel »eine tiefe Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu verleihen.« (Ebd.: 555). Dies entspreche dem Gefühl, so Simmel, »daß der Kern und Sinn des Lebens uns von immer neuem aus der Hand gleitet« (ebd.: 555). Das Individuum scheint in die »Ding«-Welt selbst ein religiöses Sinnversprechen hineinzulesen, wenn Simmel schreibt, das Individuum suche »oft in problematischen Velleitäten an den Objekten selber diejenige Kraft, Festigkeit, seelische Einheit, die er selbst durch das vermöge des Geldes veränderte Verhältnis zu ih-

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nen verloren hat.« (Ebd.: 555-56; Hervorhebung PB) Sich erschlagen zu fühlen von den Objekten, in den Dingen statt im Leben die religiöse Einheit zu vermuten, das scheint für Simmel in der Tat eher ein Problem schwacher Geister zu sein, die sich ihrer selbst nicht gewiss sind. Simmels Unterscheidung zwischen starken und schwachen Charakteren, wie er sie nennt, habe ich gegen Ende von Kapitel 5.5 in diesem Buch aufgegriffen. Simmels Rede vom »Durchschnittstypen«, von der des Objekts bedürftigen »Masse« ist auch seiner anderen Perspektive adäquat, nämlich, dass das Geld die Menschen nivelliert. Das monetäre Nivellement stellt eine zumindest dem Prinzip und der Tendenz nach eine von den personalen Attributen absehende Egalität zwischen den Menschen her, die der Gleichheit vor Gott strukturell identisch ist. Dadurch wird erst das Tor zur Vollendung nach dem individuellen Gesetz – und wiederum: dem Prinzip nach – für eine breite Masse aufgestoßen. Die Geldform schafft jenen Dualismus aus der eigengesetzlichen Individualität und den eigengesetzlichen Formen, wie Simmel ihn in der »Lebensanschauung« entfaltet hat.

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8.1 ZUSAMMENFASSUNG Das nun folgende Kapitel knüpft an die Ausführungen zum Ende des letzten Kapitels an. Der Ziel- und Fluchtpunkt des vorliegenden Kapitels ist der Beweis, dass das Geld die absolute Einheit des Seins realisiert: Die Geldform verselbständigt Leben und Form gegeneinander und erlaubt beiden Seiten eine erneute, nun aber jeweils eigenlogische Bezugnahme aufeinander. Geld realisiert den Vitaldualismus aus Leben und Form und ermöglicht so dem individuellen Leben eine religiöse Lebensführung. Die analytische Herausforderung ist in der Hauptsache diese: Ihren Funktionsprinzipien gemäß stehen sich Religion und Ökonomie diametral entgegengesetzt gegenüber. Die Religion bedeutet einen umfassenden Zugriff auf das ganze Leben des Individuums. Die Wirtschaft dagegen lässt die Individualität des Lebens vollständig außen vor und benötigt allein dessen Energie zur eigenlogischen Reproduktion des Austausches. Ökonomie bedeutet die in sich geschlossene Wechselwirkung zwischen Dingen, nicht zwischen Personen. Der Tausch ist – seinem Idealtypus nach – unpersönlicher, versachlichter Natur. Und genau in dieser Form der Verselbständigung der Ökonomie aus dem Leben liegt der Schlüssel zum Pfad einer eigenlogischen Individualität. Das entscheidende Vehikel ist das Geld. Seine vorrangige Funktion liegt zunächst ausschließlich in der Realisierung, d. h. materiellen Machbarkeit des Tausches. Eine ausdifferenzierte Ökonomie kann nach Simmel nur als Geldökonomie Wirklichkeit werden. Die Herausbildung einer Geldökonomie sorgt dafür, dass das Individuum nur noch über das Geld an die Ökonomie gebunden ist. Die Ganzheitlichkeit der Person – ausschließlich des die Ökonomie tragenden energetischen Rests – wird durch die und in der Bindung an die Geldform freigesetzt für einen eigenselektiven Zugriff auf die Welt der Kultur wie auf die Welt der Vergesellschaftung. Das religiöse Ideal der Einheit von Leben und Form liegt nun in den Händen des auf sich selbst zurückgeworfenen Individuums. Historisch unterscheidet sich die monetär getragene Beziehung von Leben und Form von vorangegangenen Epochen, in welchen beide Seiten mehr oder minder fix miteinander verflochten waren. Unfreie Gesellschaften binden den Tausch an die Kontrolle durch die Gemeinschaft, ebenso aber ist auch die biographische Beweglichkeit des Individuums sozial gebunden. Die Bindung des Bauern an seine Scholle unter feudalherrschaftlichen Vorzeichen ist das Paradebeispiel Simmels dafür. Wo es unabänderliche äußerliche Handlungsvorgaben gibt, kann es Sinnkrisen nicht geben: Das Leben erhält seine Form von außen. Unter monetär-liberalen Vorzeichen dagegen kann individuelle Formgebung nur noch von innen her kommen: Die Transzendenz rückt nun auch materiell in die Immanenz des

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Lebens. Dem entspricht einmal Simmels theoretische Annahme von der Entelechie des eigenlogischen Lebens. Formgebung ist Selbstbegrenzung. Dem soziokulturellen Wandel entspricht ebenso die nur unter freiheitlichen Bedingungen gegebene Gefahr der Vereinnahmung der individuellen Kräfte durch Äußerlichkeiten, sei es durch Kulturprodukte, durch den Beruf oder durch soziale Beziehungen. Die einzelnen Kapitel 8.2 bis 8.5 stellen den Beweisgang der hier nur skizzenhaft vorgetragenen Inhalte dar. Kapitel 8.2 entwickelt Schritt für Schritt Simmels Konzept einer Eigengesetzlichkeit der Geldökonomie. Die differentia specifica des Wirtschaftens nach Simmel ist der Tausch, so die Schlagrichtung meiner Argumentation in Kapitel 8.2.1. Der Tausch ist gemäß Simmel eine objektivierte Form des Lebens und geht auf ein Tauschapriori im individuellen Leben zurück, das Apriori von Gewinn und Verlust. Der Austausch mit der Umwelt ist nach Simmel ein bereits auf der organismischen Ebene anzutreffendes, natürliches Prinzip, was auf die prinzipielle Bedürftigkeit des Menschen zurückzuführen ist. Einen eigengesetzlichen Zusammenhang gewinnt die Wirtschaft über den Tausch insofern, als dass sich die Dinge im Tauschakt wechselseitig ihren ökonomischen Wert zuweisen. Der ökonomische Wert eines Gutes beziffert dessen Austauschbarkeitsmaß gegenüber den anderen Gütern. Zwar ist und bleibt der Wertungsakt eines Gegenstandes subjektiver Natur, im Tausch gewinnt der Wert jedoch eine objektive, überindividuelle Form. Was in der Ökonomie getauscht wird und einen Wert gewinnt, sind Sachen, nicht Menschen, und dies gilt für Simmel auch und gerade im Falle der individuellen Arbeitskraft. Sachen und Dinge sind es, die einen eigenlogisch geschlossenen Zusammenhang der Ökonomie bilden, während der Mensch als individuelle Totalität der Ökonomie gegenübersteht. Wirtschaft und Gesellschaft gehen, den Prinzipien ihrer Konstitution nach, getrennte Wege. Die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft ist Gegenstand von Kapitel 8.2.2. Der Idee und dem Prinzip nach beruht die Ökonomie auf dem Tausch, zur Realisierung des auf individuell freier Entscheidung beruhenden Tausches bedarf es allerdings des Geldes, wie ich in Kapitel 8.2.3 zeigen werde. Alle weiteren Dienste des Geldes wie die Vergleichbarkeit unterschiedlichster Dinge durch Quantifizierung oder der intertemporale Werterhalt sind abgeleitet aus der Funktion, den Tausch zustande zu bringen. Die Geldsubstanz dient der Tauschfunktion, und in der Geldform artikuliert sich die individuelle Disponibilität über den Tausch: Geld verbindet die Formvorschrift des Tausches, das eigene Begehren nur zu befriedigen über die Befriedigung des Begehrens eines anderen, mit der individuellen Freiheit zum Tausch. Schließlich, so zeige ich in Kapitel 8.2.4, vertritt Simmel ausdrücklich eine Transzendentaltheorie des Geldes: Erst an der Geldform kann sich das ökonomische Tauschapriori von Gewinn und Verlust vollständig objektivieren: Die Geldform ist die Symbol gewordene Einheit des Tausches, d. h. der Wechselwirkung, sie ist nicht selbst Element der ökonomischen Wechselwirkung. Gleich wie gegenüber Gott in der Religion ergibt sich eine »Doppelrolle des Geldes« in der Ökonomie: Damit Geld die umfassende Einheitsform des Austausches sein kann, muss es zugleich konkrete, substanzielle Symbolform annehmen und dem Individuum als etwas Greifbares gegenübertreten. Das Greifbar-Machen und Körper-Werden der Geldform bricht mit der Neutralität des Geldes. Das Greifbar-Machen der Ökonomie im Geldsymbol ist zugleich die Position, in der sich die individuelle Freiheit aus und gegenüber der Ökonomie mit der

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gleichzeitigen Bindung an diese realisieren kann, ohne dass die Totalität des Menschen in die Ökonomie involviert zu werden braucht. Am Geld die vitaldualistische Seins-Einheit von Leben und Form zu beobachten, setzt den Erweis einer transzendenten Natur des Geldes voraus. Auf den Erweis dieser Hypothese konzentriere ich meine Bemühungen in Kapitel 8.3. Nach der Sammlung von Hinweisen auf eine schöpferische Natur des Geldes gehe ich in Kapitel 8.3.1 über zu einer Auseinandersetzung mit dem Aufsatz von Daniel Silver und Kristie O’Neill, »The significance of religious imagery in The Philosophy of Money: Money and the transcendent character of life« aus dem Jahr 2014, dem meines Erachtens bis dato ersten und einzigen Aufsatz, der aus einer simmel-immanenten Perspektive einem Zusammenhang von Geld, Leben und Religion nachgeht. Dem Aufsatz gebührt der Verdienst, Geld als Kapazität religiösen Erlebens herausgearbeitet zu haben – was von der Idee her meinen Annahmen nahe kommt. Silver und O’Neill übersehen dennoch, dass sich das Religiöse nach Simmel über die Objektivation in ein Absolutes definiert. An diesem Punkt setze ich meine weitere Analyse in Kapitel 8.3.2 an: Geld löst Gott als Symbol der absoluten Einheit des Seins ab, weil Geld der veränderten Vorstellung von einem Absoluten adäquater ist: Das moderne Weltbild eines dynamischen, beweglichen und relationalen Absoluten löst das Weltbild eines substanziellen Absoluten ab, wonach die Dinge so sind und bleiben, wie sie seit jeher von Gott geschaffen worden sind. Ich begründe – mit Simmel – die schöpferische wie gleichermaßen zerstörerische Natur des Geldes aus der »Doppelrolle des Geldes«: Die Dualität aus greifbarem Geldkörper und abstraktem, nicht greifbarem Vermögenswert treibt die fortwährende Neuschöpfung und Zerstörung von Inhalten an. Rückt das Geld an die Funktionsstelle Gottes zur Symbolisierung der absoluten Einheit, hat auch das religiöse Heilsstreben – ceteris paribus – in Beziehung zur Geldform zu treten. Die durch das Geld gebrochene Unmittelbarkeit der Beziehung zu den Dingen verhindert, dass das individuelle Leben noch an Äußerlichkeiten seine Einheitsform gewinnen kann. Die geldförmige Beziehung zu den Dingen wirkt auf das Leben zurück: Das Heilsstreben nimmt Geldform an. Dies zu zeigen ist meine Aufgabe in Kapitel 8.3.3. Geld ist inhaltlich offen und kann deshalb die Einheitsform unterschiedlichster Zweckhandlungen werden. In diesem Sinne interpretiere ich die simmelsche Formel: dass das Geld das absolute Mittel und der absolute Zweck zugleich ist. Geld ist die Objektivationsform des Zweckhandelns überhaupt. Nicht gemeint dagegen ist dies: dass die Geldförmigkeit des Heilsstrebens gleichzusetzen ist mit der Gier nach Geld oder dessen frommer Verehrung. Bis hierhin bleibt der Vergleich von Geld und Gott auf eine bloße Analogie beschränkt. Die Feststellung einer schöpferischen Potenz des Geldes bleibt zunächst auf das Gebiet der Ökonomie beschränkt. Ebenso zeigt der Rückbezug des Geldes auf die Zweckform des Handelns noch nicht, inwiefern das Geld die Sphäre des Ökonomischen zu transzendieren vermag. Damit Geld tatsächlich auch – Simmels philosophischen Intentionen entsprechend – die absolute Einheit des Seins zu realisieren vermag, muss es aus der Enge der Ökonomie herausgeführt werden auf die Breite der Kultur- und Sozialwelten. Für diesen Zweck zeichne ich in Kapitel 8.4 zunächst den Verselbständigungsprozess der Geldökonomie nach, um anschließend in Kapitel 8.5 zu zeigen, wie mit der Verselbständigung der Geldwirtschaft das individuelle Leben aus der Ökonomie befreit und auf sich gestellt wird, um dann eigenselektiv Formbindungen in Gesellschaft und Kultur einzugehen.

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Das Leben braucht die Form, und so ist es auch in der Wirtschaft: Die Bedürfnisse schaffen die Form ihrer Befriedigung. Eine »Wendung zur Idee« ist es dann, wenn sich die Form aus dem Leben verselbständigt und das Leben gemäß seiner eigenen reproduktiven Anforderungen lenkt, so dass das Leben nur noch ausführender Träger der Formreproduktion ist. Der Ausbuchstabierung dieses »Wende«-Prozesses widmet sich Kapitel 8.4. Nicht das Thema Simmels ist dagegen die Herausbildung der kapitalistischen Marktwirtschaft. Dieser Begriffsapparat spielt bei Simmel eine untergeordnete Rolle. Den Ausdifferenzierungsprozess zwischen Leben und Form verfolge ich in drei Unterkapiteln, wobei ich hiermit versuche, mich schematisch so weit wie möglich an Simmels eigenem Vorgehen zu orientieren. Simmel entwickelte zunächst eine geldlose Drei-Stufen-Logik der Beziehung von Leben und Tauschform, der ich mich zuwende in Kapitel 8.4.1. Zu Beginn sind Leben und Tauschform ineinander verflochten. Es gibt keinen auf individueller Freiwilligkeit beruhenden Tausch mit eigener Wertbildung. Stattdessen herrschen Raub und Kampf im äußeren Gruppenverhältnis, sowie eine obligatorische Reziprozität innerhalb der Gruppe. Der erste Handel zwischen den Gruppen ist ein Friedensvertrag. Eine Zwischenstufe oder auch Mischform der Differenzierung zwischen Leben und Form kennt bereits ökonomische Werte, den Dingen wird jedoch ein mehr oder minder fixer Wert zugeschrieben. Die Dinge haben einen mehr oder minder festgeschriebenen Wert, Produktion und Verkauf sind ebenso geregelt. Die Tausch-Beziehungen sind personaler Natur, Ökonomie und Gesellschaft fließen noch ineinander, die individuelle ökonomische Tätigkeit ist noch untrennbar verflochten mit weiteren, nicht-ökonomischen Interessenmotiven, Berufliches und Privates sind ebenso untrennbar miteinander verbunden. Beispiele dafür sind die Zünfte und feudalherrschaftlichen Verhältnisse. Auf einer letzten Stufe bilden die ökonomischen Werte eine vom Leben der Individuen und der Gesellschaft gelösten Wechselwirkungszusammenhang. Korrelativ dazu verselbständigt sich die Individualität des Lebens aus der Wertform. Mit der wechselseitigen Lösung von Leben und Form gegeneinander wird der Tauschakt ein freiwilliger, d. h. individuell-eigenselektiver statt gesellschaftlich präskribierter Akt. Für die Evolution des Geldes reserviere ich ein eigenes Unterkapitel, Kapitel 8.4.2. Geld ist zunächst von und für das Leben in der partikularen Gesellschaft produzierte Form, in der Geldform artikulieren sich gruppenspezifische Lebensgewohnheiten. Das Schmuckbedürfnis ist ein gruppenübergreifendes, allgemein geteiltes Begehren. Das allgemein verbreitere Schmuckbegehren ermöglicht den gruppenübergreifenden Handel gegen Geld bzw. gegen Edelmetalle. Mit der Ausdehnung der sozialen Beziehungen löst sich das Geld allmählich aus dem spezifischen Zuschnitt an eine inhaltlich bestimmte Lebensform und wird zum Medium einer umfassenden Weltwirtschaft. Entgegen der historischen Entwicklungsrichtung meint Simmel, das Geld bewahre sich eine edelmetallene Restbindung der Geldform an das Leben. In der Geldform objektiviert sich schließlich der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stattfindende Liberalisierungsprozess. Am simmelschen Beispiel der Bauernbefreiung zeichne ich in Kapitel 8.4.3 nach, wie das Geld das individuelle Leben aus den fixen Bindungen an Ökonomie und Gesellschaft befreit und auf sich selbst gestellt hat. Als Resultat des Liberalisierungsprozesses bleibt eine von Person und Stand absehende, allen Individuen gemeinsame und gleiche Bindung an die Geldform. Die Individuen treten vorrangig und zuerst in Beziehung zum Geld, und erst vermittelt über das Geld treten sie in Be-

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ziehung zu anderen, ganz gleich, ob und was sie kaufen oder verkaufen – und sei es ihre eigene Arbeitskraft. Vor dem Geld sind alle gleich. Sind das individuelle Leben und die Wirtschaftsform durch und über die Geldform einmal gegeneinander befreit, wird das Geld zur umfassenden, absoluten Einheitsform der Wechselwirkung zwischen individuellem Leben und überindividueller Form. Dem analytischen Erweis dieser Hypothese geht Kapitel 8.5 nach. Die Eigenweltlichkeit von Gesellschaft und Kultur einerseits sowie die Möglichkeit individueller Kultivierung und freier Assoziation mit anderen Individuen werden in diesem Kapitel der philosophischen Intention Simmels gemäß auf die Einheitsform des Geldes zurückbezogen. Kapitel 8.5.1 wendet sich der geldförmigen Entflechtung von Individualität, Gesellschaft und Ökonomie voneinander zu. Indem alles Ökonomische über Geld vermittelt wird, erlöst es das individuelle Leben fast vollständig aus der Ökonomie, ausgenommen der Bindung an die Geldform. Obgleich das religiöse Ideal der Einheit von Leben und Form Arbeitsteilung und Konkurrenz ausschließen, nähert sich die Empirie der auf den sozialen Formen der Arbeitsteilung und Konkurrenz beruhenden Geldökonomie wiederum dem religiösen Ideal an durch die fast vollständige Abstraktion vom Sozialen, wie ich in Kapitel 8.5.1.1 zu demonstrieren versuche. Die soziale Bindung an andere wird durch die geldförmige Wahlfreiheit funktionalisiert um der ökonomischen Reproduktion willen. Die empirische Konkurrenz um das Geld Dritter ist identisch mit dem empirischen Streit um den richtigen Heilsweg zwischen partikularen Konfessionen und deren Konkurrenz um Glaubensanhänger. In der Religion steht das Individuum in Freiheit und Selbstverantwortung vor Gott. Da alle religiöse Wechselwirkung nur über Gott läuft, steht allen Gläubigen gleichermaßen der Weg zum Heil offen. Ähnlich stehen die Individuen in freier Selbstverantwortlichkeit vor dem Geld in der Ökonomie. Sowohl in der Konkurrenz wie in der Arbeitsteilung geschieht die individuelle Bindung nur und vorrangig über Geld, und es geht allein um die »Sache«, nicht um das »Du«, die Person des Gegenübers. Das nur noch an Geld gebundene Individuum wird damit in die eigengesetzliche Formgebung seiner selbst entlassen. Dies gilt auch für die nicht-ökonomischen Formen der Vergesellschaftung, die Gegenstand sind von Kapitel 8.5.1.2. Geld erlaubt die Trennung von »Person« und »Sache«, so dass beide, Leben (=Person) und Form (=Sache) ihrer Eigenlogik folgen können. Dies ist die Entwicklungsrichtung der »Kreuzung sozialer Kreise«. Vergesellschaftung geschieht jeweils um der Befriedigung eines partikularen Sachinteresses willen, die Wahl zur Vergesellschaftung obliegt dem individuellen Leben. Die Objektivation des individuellen Lebens geschieht in den unterschiedlichsten Kreisen, die nun nicht mehr a priori miteinander koordiniert sind. Die Geldform trägt die Entflechtung. Geld erlaubt damit die Entfaltung des dritten Aprioris der Vergesellschaftung: die vollkommene Gesellschaft. Kapitel 8.5.2 fragt nach dem erforderlichen Maß religiösen Glaubens in Geld. Eine arbeitsteilig differenzierte Gesellschaft beruht auf Vertrauen. Die Geldannahme wiederum bedarf nach Simmel neben einem induktiv gestützten Vertrauen auch eines Zuschusses an religiösem Glauben in Geld. Gegeben, die Geldform ist wie einst Gott die absolute Einheitsform der Dinge, scheint der religiöse Glaube eine größere Rolle spielen zu müssen als die eines religioiden Spurenelementes. Ich diskutiere die Möglichkeit eines durch religiösen Glauben in Geld selbstgeschaffenen Sicherheitsgefühls. Dieses durch den Glauben an Geld gestiftete Sicherheitsgefühl kann tragende

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Bedeutung für den Prozess individueller Kultivierung gewinnen, den ich anschließend in Kapitel 8.5.3 diskutieren werde. Anstatt einer bloßen Wiederholung von in Kapitel 5 bereits Gesagtem gilt es nun, Simmels Kulturphilosophie auf die Geldform bzw. die »Philosophie des Geldes« zurückzubeziehen. Der Versuch einer Rückführung von Simmels Kulturphilosophie auf die Geldform nimmt zunächst eine Analogie zur Kenntnis: Die geldförmige Entäußerung der individuellen Produktion in die Tauschform zwecks subjektiver Mehr-Wertproduktion ist formähnlich zur allgemeinen Formel der individuellen Kultivierung: Das Leben objektiviert sich in Formen, um sich an diesen Formen zu einem höheren Selbst zu entwickeln. Ein zweiter wichtiger Ansatzpunkt ist die Ko-Evolution von Arbeitsteilung und Geld: Geld bedarf es in wachsendem Maße zur Synthese von Bedarfsinterdependenzen, und letztere wiederum erhalten ihre ›reife‹ Form in einer ausgeprägten Form arbeitsteiliger Differenzierung: Selbstproduktion reicht zur individuellen Bedarfsbefriedigung nicht mehr aus. Die Verselbständigung der schöpferischen Kulturwelten ist getragen durch die Sozialform der Arbeitsteilung, die Reproduktion der Kultur löst sich sowohl nach der Seite der Produktion als auch der Konsumtion von der Individualität des Lebens – ähnlich, wie es auch die Geldform der Ökonomie tut. Durch die geldförmige Arbeitsteilung wird individuelle Kultivierung nach der Eigenlogik der Person erst ermöglicht – ebenso aber auch deren Gegenteil, die Vereinnahmung des Individuums durch die schöpferischen Kulturwelten. In den Kapiteln 8.5.3.1, 8.5.3.2 sowie 8.5.3.3 widme ich mich der Rückführung von den drei allein analytisch voneinander zu trennenden Komponenten der Kulturphilosophie auf das Geld. Zunächst widme ich mich in Kapitel 8.5.3.1 dem Aspekt der Eigenproduktivität der Kulturwelten, und ich führe sie zurück auf den geldförmigen Liberalisierungsprozess des individuellen Lebens aus der Ökonomie. Für Simmel herrscht eine Wechselwirkung zwischen Form und Leben derart, dass die Struktur der Aprioris im individuellen Geist in einer Wechselwirkung mit der Ebene der Objektivationen steht. Geist und Sozialstruktur bedingen einander. Unter dieser Voraussetzung hat die geldförmige Freisetzung des Individuums aus der Ökonomie die Befreiung der apriorischen Triebkräfte zur Folge, welche den Kulturwelten zugrundeliegen. Die Befreiung der Triebkräfte ist identisch mit deren Verselbständigung gegeneinander und ihrer schöpferischen Entgrenzung. Beides besitzt seinen Reflex in der Schaffung eigenlogischer Kulturformen mit grenzenloser Produktivkraft. Die Reproduktion der Kulturwelten hat sich aus der Individualität des Lebens verselbständigt, und trotzdem besteht gerade unter geldwirtschaftlichen Bedingungen aus der Perspektive des individuellen Lebens eine allgemeine Chance zur Objektivation in ein dem eigenen Sein adäquaten Berufsleben, wodurch ein Stück vollkommener Gesellschaft geschaffen werden kann, gemäß dem dritten Apriori der Vergesellschaftung. Der Versuch eines Beweises ist Gegenstand von Kapitel 8.5.3.2. Je geringer eine Gesellschaft durch Geld durchdrungen ist, desto mehr ist die gesamte Lebensführung an die Ökonomie gebunden. Erst mit der Herausdifferenzierung der Geldwirtschaft, so Simmel, öffnet sich das Feld nicht-ökonomischer, geistiger Berufe. Ausgedehnte Gesellschaften sind auf arbeitsteilige Differenzierung in soziale Organe angewiesen; und eine arbeitsteilig differenzierte Gesellschaft ist eine vom Geld durchdrungene Gesellschaft. Die Individuen sind reine Funktionsträger, dafür aber ist die arbeitsteilige Gesellschaft hinsichtlich ihrer Berufsrollen inhaltlich offen. Die geldförmige Entkopplung der Kulturproduktion von der Individualität des Lebens öffnet einen bis dato nicht dagewe-

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senen Raum für eine dem individuellen Wesen gemäße Entfaltung in der Produktion. Gerade berufliche Spezialisierung ist es nun weiterhin, die nach Simmel auch eine allgemeine und größere Zugänglichkeit des Kulturkonsums ermöglicht. Dies zeige ich in Kapitel 8.5.3.3. Geld befreit das individuelle Leben aus der Ökonomie, einer ausgeprägten Geldwirtschaft bedarf es allerdings erst unter der Bedingung weitläufiger Interdependenzen, derart, dass das Individuum in seinem Beruf nicht mehr die für seine eigenen, nun gewachsenen Bedürfnisse passenden Konsummöglichkeiten produzieren kann. Die Geldwirtschaft ist das Gegenteil zur Subsistenz – und damit trennt sich strukturell die individuelle Produktion von der individuellen, aber durch die umfassende soziokulturelle Produktion anderer erst ermöglichten Konsumtion. Die Abhängigkeit von anderen hat sich unvergleichlich erhöht, dafür ist es dem qua Geld aus der fixen Bindung an die Formen gelösten Individuum gegeben, eigenselektiv auf die Kulturprodukte zuzugreifen. Die Steigerung von Freiheit und Bindung korreliert miteinander. Ich möchte zeigen, dass die Bedingungsmöglichkeit der individuellen Kultivierung einerseits einer hinreichenden Lösung aus dem Berufsleben bedarf. Dafür greife ich auf zeitgenössische Literatur zur Arbeitszeitpolitik und Arbeitsteilung zurück, die auch Simmels Perspektive auf Arbeitsteilung und individuelle Kultivierung geprägt haben könnte, wie beispielhaft eine Arbeit des Nationalökonomen Gustav Schmoller zeigen soll, einem Mentor Simmels. Die geldförmige Differenzierung nach Leben und Form impliziert eine Ambivalenz: Einerseits kann das individuelle Leben nun seiner eigenen Logik gemäß auf die Formen zugreifen. Andererseits existiert die Möglichkeit einer individuellen Vereinnahmung zum bloßen Inhalt der Reproduktion der Kulturwelten. Kulturwelten wecken künstliche Bedürfnisse im Individuum, sie bewirken in ihm eine Art dauerhaften Erregungszustand. Zum Ende des Kapitels analysiere ich in Kapitel 8.5.3.4 Simmels Versuch in der »Philosophie des Geldes«, die Einheit und Differenz zwischen individuellem Leben und den überindividuellen Formen der Kultur auf die Geldform zurückzuführen. Explizit spricht Simmel von einer durch die Geldform ermöglichten Lebensführung, welche die religiöse Lebensform früherer Zeiten zu ersetzen vermag. Das Gelingen eines säkularen Heils der individuellen Kultivierung legt Simmel in die freie Eigenverantwortung des individuellen Lebens.

8.2 DIE FORM DER WIRTSCHAFT Wodurch ist Wirtschaften nach Simmel definiert? Zum Anfang der nur kurz gehaltenen Passage zur Wirtschaft gegen Ende des »Wende«-Kapitels in der »Lebensanschauung« heißt es lapidar, der »Hunger und die anderen in Frage kommenden Bedürfnisse haben die Formen ihrer Befriedigung hervorgetrieben« (LA: 293). Die ökonomischen Formen der Befriedigung entstehen ursprünglich aus Bedürfnissen des Lebens, bevor mit der »Wendung zur Idee« das Leben der sich aus diesem verselbständigten Form der Ökonomie dient (vgl. ebd.: 293). Gleich wie die Religion reproduziert sich die Form der Wirtschaft als Einheit der Differenz zwischen Begehren und Befriedigung. Der Akt der Befriedigung für sich genommen macht für Simmel noch kein Wirtschaften aus. Beispielsweise kann der Verzehr von Nahrungsmitteln unterschiedliche Ursachen haben. Wir können sie zufällig gefunden, jemandem entwendet oder – mittelbar wie unmittelbar – dafür gearbeitet haben. Würden uns die

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Mittel unseres Lebens in den Mund hineinwachsen, ohne dass wir für ihren Erwerb einen – wie dann auch immer näher zu definierenden – Verzicht zu leisten hätten, fände kein Wirtschaften statt: »[W]enn aber sämtliche Erfordernisse der Lebenshaltung auf diese Weise zu befriedigen wären, daß sich an keinem Punkt ein Opfer knüpfte, so würden die Menschen eben nicht wirtschaften, so wenig wie die Vögel oder die Fische oder die Bevölkerung des Schlaraffenlandes.« (PDG: 70-71; Hervorhebung im Original; vgl. Papilloud 2003b: 173) Es bedarf eines gegenständlich gewordenen Begehrens von etwas, das sich einerseits der Unmittelbarkeit unseres Zugriffs entzieht, andererseits aber zumindest potenziell durch Mittel und Wege erreichbar ist, die uns zur Verfügung stehen (vgl. PDG: 32-35, 42-44). Mit Überwinden der Distanz kann das Begehren vorübergehend gelöscht werden, um sich dann – dem Prinzip nach – wieder auf ein sich dem Individuum entziehendes Objekt zu richten (vgl. ebd.: 49). Begehren und Befriedigung gehören konstitutiv zusammen, auch wenn sie praktisch-psychologisch unterschiedliche Akte bilden. Die Distanz zum Objekt ist die Möglichkeitsbedingung des Begehrens wie der Befriedigung (vgl. Rammstedt 2003b: 30-31). Im Subjekt bilden sie eine apriorische, einheitliche und nicht-differenzielle Form, die sich erst in der Objektivation, d. h. im Verhältnis zu sich dem Individuum entziehenden Objekten, ausdifferenziert, die dann, als Einheit von Begehren und Befriedigung, nicht mehr einholbar ist, sondern sich prozessual entspinnt. Das Begehren wird dann, sozusagen, dauerhaft stimuliert durch das, was es nicht hat (vgl. Paul 2012: 93). Die Verstetigung einer Oszillation zwischen Begehren und Befriedigung ist freilich als heuristische Abstraktion zu verstehen, nicht aber als eine empirische, psychologische These Simmels, wonach wir fortlaufend ökonomische Interessen besitzen oder von ökonomischen Motiven getrieben seien. Von dieser Annahme distanziert sich Simmel explizit in seiner Auseinandersetzung mit dem »Historischen Materialismus« (vgl. PGP: 40507). Schließlich meint Simmel, dass der Mensch einen Zivilisationsprozess durchlaufen haben muss: Begehren ist nicht gleich Begehren, sondern ist erst in eine domestizierte Form zu überführen – mit Sighard Neckel gesprochen: in eine »ruhige Leidenschaft« (Neckel 2011: 52; vgl. auch Paul 2012: 93, Fn. 75). Zu Beginn der phylogenetischen wie ontogenetischen Entwicklung steht das impulsive, akute Verlangen sowohl des Kindes als auch von Angehörigen von Stammesgemeinschaften (vgl. PDG: 80). Den dann einsetzenden Prozess nennt Simmel »das Herabsetzen der elementaren Heftigkeit des Wollens und Fühlens« (ebd.: 42). Das individuelle Leben gibt sich nicht in ganzer Person dem Objekt hin, und umgekehrt lässt ein reserviertes Begehren Platz für ein sich der Totalität des Subjekts entziehendes Objekt.1 Person und Sache werden getrennt, und unter dieser Bedingung können sie wieder zusammenfinden, und zwar im Tausch. Dessen Struktur setzt für Simmel eine durch die Gesellschaft geschützte, gleichzeitig aber auch durch die Individuen respektierte Verfügungsbeliebigkeit des Privateigentums voraus (vgl. ebd.: 89, 415).2 Eine Geldwirtschaft nähert sich empirisch diesem Idealtypus im Maße der Ausdehnung ihrer Be-

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»Leidenschaften«, so Neckel hierzu adäquat, »schalten jede reflexive Distanzierung in dem Maße aus, wie sich die ganze Person in das Begehren eines einziges Objekts involviert, dessen psychologisches Gewicht alles andere zur Seite drängt.« (Neckel 2011: 43) Simmel macht keinen Unterschied zwischen Besitz und Eigentum.

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ziehungen und geldwirtschaftlichen Durchdringung (vgl. ebd.: 473-74). Vom kognitiven Prinzip her lässt sich dies durchaus mit Webers Beobachtung in Übereinstimmung bringen, wonach kapitalistisches Wirtschaften gerade die Disziplinierung des Erwerbstriebes bedeuten kann: »Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger dessen ›Geist‹. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes.« (Weber 1988a: 4; Hervorhebung im Original) Eine von ethischer Norm gelöste Habgier war nach Weber eher bezeichnend für traditionale Gesellschaften und deren »Handel in den Beziehungen zu Stammfremden«, weshalb Weber auch von einer das Gewinnstreben nicht zügelnden »›Außenmoral‹« sprach (ebd.: 43). Um Kapitalismus ging es Simmel jedoch nicht. Weber warf Simmel denn auch vor, »›Geldwirtschaft ›und‹ Kapitalismus‹ viel zu sehr gleichgesetzt [zu haben]« (ebd.: 5, Fn. 1). Auf das Verhältnis von Kapitalismus und Geldwirtschaft bei Simmel komme ich später noch einmal zu sprechen (vgl. Kapitel 8.4 und 9.2) Weil sowohl Wirtschaft als auch Religion sich über die Einheitsform der Differenz von Begehren und Befriedigung reproduzieren, bildet diese kein die Wirtschaft definierendes Alleinstellungsmerkmal (vgl. Kapitel 5.3).3 Wirtschaft lässt sich nach Simmel auch nicht über einen konkreten Inhalt bzw. eine Liste von Inhalten definieren, welche eine spezifische ökonomische Bedürfnisform bilden. Über die Bedürfnisse ist Wirtschaften inhaltlich offen, und zwar insofern offen, als dass die durch die Ökonomie zu befriedigenden Bedürfnisse nicht a priori festzulegen sind, weder in Qualität noch Quantität. Diese Entwicklung geht für Simmel einher mit der Ausformung eines in der Verwendung unbestimmten Geldes und einem wettbewerblichen Buhlen am Markt um das Begehren der Kunden. Vergangene und zeitlich parallel liegende, aber andersartig differenzierte Gesellschaftsformationen kannten oder kennen »Luxusgesetze und Konsumverpflichtungen« (SOZ: 237). An anderer Stelle erwähnt Simmel »Begehrlichkeitsgrenzen« (PDG: 610). Subsistenzwirtschaften numerisch kleiner Stammesgemeinschaften weisen eine vergleichsweise gering ausgeprägte Bedürfnislage auf (vgl. PDG: 395; SOZ: 794). Andererseits aber können zu bestimmten Zeiten in bestimmten Kulturformationen Dinge dem Handel offenstehen, die zu einem anderen Zeitpunkt und in anderen Gesellschaften verboten oder durch Sitte verpönt sind. Dazu zählt beispielsweise die gesellschaftliche Restriktion von Produktion und Verkauf im Handwerk durch die Organisation in Zünften (vgl. SOZ: 793). Bis zum Durchbruch einer ausgedehnten Geldwirtschaft konstatiert Simmel für Adelige teilweise eine Verachtung für den Handel, teilweise auch ein Verbot des Handelsgeschäftes (vgl. PDG: 536, 560-62). Die mittelalterliche Kirche verbot den Christen den Geldzins (nicht den Warenzins), den Juden dagegen war er gestattet. Schließlich unterscheidet Simmel Gesellschaften danach, ob ihre Wirtschaften Person und Sache voneinander differenzieren, analog zum oben genannten Falle der psychologischen Evolution des Begehrens. Ein Beispiel dafür und zugleich einen Grenzfall stellt für Simmel die weibliche Prostitution seiner Zeit dar, in der die Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses zur ökonomischen Ware wird (vgl. ebd.: 513-19). Anders als der Mann, so Simmel, unterscheide die

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Dieser Punkt ist meines Wissens nach in der Sekundärliteratur weitgehend übersehen worden.

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Frau ihre Persönlichkeit noch nicht von der Sache. Die sexuelle Dienstleistung ist dann nicht bloß eine geldwerte Ware, die den Marktplatz betritt, sondern eine Hingabe der ganzen Person. Der »Einsatz der Frau« in der gegen Geld bezahlten Prostitution sei deshalb »ein unendlich persönlicherer, wesentlicherer, das Ich umfassenderer […] als der des Mannes« (ebd.: 517). Unpersönliches Geld werde mit der Persönlichkeit verrechnet, und daher stamme die gesellschaftliche »Entwürdigung« der weiblichen Prostitution, so Simmel (ebd.: 514). In geldwirtschaftlich gering entwikkelte Kulturen sei Prostitution dagegen nicht mit einem Achtungsverlust verknüpft (vgl. ebd.: 518-19). Ähnlich beobachtet Simmel es für die Kaufehe (vgl. ebd.: 504511) und das Wergeld (vgl. ebd.: 482-88). In beiden Institutionen geht es darum, dass nicht nur eine bestimmte Arbeitsleistung bezahlt wird, sondern das Menschenleben einen Preis besitzt. Die soziale Akzeptanz dieser Einrichtungen hängt Simmel zufolge einerseits ab von der gesellschaftlichen Bedeutung menschlicher Individualität, andererseits von dem Generalisierungsmaß des Geldes. Die Vorstellung einer Ebenbildsamkeit Gottes sowie später die Philosophie der Aufklärung schrieben dem Menschen eine absolute Würde zu (vgl. ebd.: 491-93). Beides war bereits Thema. Parallel zu der erwähnten Entwicklung des Menschenbildes differenzierte sich ein generalisiertes Geldmedium heraus, dessen Verwendungsbeliebigkeit der Besonderheit von Individualität vom Wesen her unangemessen sein musste (vgl. ebd.: 497). Allerdings ist zu beachten, dass Simmel seine Beobachtungen – wie auch in der Religion – unter einen »Tendenzvorbehalt« stellte: Weder erreicht das Geld, noch die Ökonomie jenen reinen Ideal- und Formtypus, den er zeichnet.4 Die geschichtliche Entwicklung gehe in die Richtung auf »reinliche« Scheidung der ökonomischen Form von den Inhalten, auch wenn diese nie erreicht werden könne (vgl. ebd.: 137-38, 193-98, 394 und 451-53).5 Also: Weder über die Differenz von Begehren und Befriedigung, noch über die Inhalte des ökonomischen Begehrens kommt man an den Kern dessen heran, was Simmel unter der Form des Wirtschaftens versteht. Sondern beide, sowohl die Differenz von Begehren und Befriedigung als auch die Inhalte, erhalten ihre spezifisch wirtschaftliche Form durch ein bestimmtes apriorisches Prinzip der Objektivation. Diese differenzielle Objektivationsform bildet nach Simmel der Tausch. 8.2.1 Tausch »Die Wirtschaft leitet den Strom der Wertungen durch die Form des Tausches hindurch, gleichsam ein Zwischenreich schaffend zwischen den Begehrungen, aus denen alle Bewegung der Menschenwelt quillt, und der Befriedigung des Genusses, in der sie mündet. Das Spezifische der Wirtschaft als einer besonderen Verkehrs- und Verhaltungsform besteht – wenn man einen paradoxen Ausdruck nicht scheut – nicht sowohl darin, daß sie Werte austauscht, als daß sie Werte austauscht.« (Ebd.:57; Hervorhebung im Original)

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Zur Verwandtschaft des simmelschen und weberschen Idealtypus vgl. Gerhardt 1998. Dass die Öffnung bestimmter Inhalte für den Markttausch von moralischer Legitimation abhängig ist, untersucht u. a. auch die Wirtschaftssoziologie. Vgl. beispielhaft für den Fall der Etablierung eines eigenen Marktes für Lebensversicherungen Beckert 2009: 192.

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Die Form des Tausches bildet eine in sich geschlossene Einheit der Wechselwirkung zwischen Elementen. Der Wert eines Elementes konstituiert sich in Relation zu den anderen Elementen des Tausches: Der ökonomische Wert ist das wechselseitige Maß der Austauschbarkeit der Elemente für- und gegeneinander (vgl. ebd.: 52). Simmel betont in der »Philosophie des Geldes«, dass die Wirtschaft die Form einer »realen Abstraktion« annimmt, d. h. der Geist formt die Inhalte des ungeordneten »Ineinander« der Welt nach dem Prinzip des Tausches (ebd.: 57). Impliziert ist darin, dass die Tauschabstraktion nicht bloß analytischer Natur ist, sondern Simmel vielmehr eine empirische Tendenz zur Realabstraktion des Tausches annimmt (vgl. von Flotow 1995: 50). Eine reale Abstraktion oder auch Verselbständigung geht bei Simmel stets auf ein apriorisches Formungsprinzip im individuellen Leben zurück. Entsprechend muss auch das objektivierte Tauschprinzip ein Äquivalent auf der Ebene des individuellen Lebens aufweisen. Und in der Tat – so lesen wir bei Simmel: »Unser natürliches Schicksal, das jeden Tag aus einer Kontinuität aus Gewinn und Verlust, Zufließen und Abströmen der Lebensinhalte zusammensetzt, wird im Tausch vergeistigt, indem nun das eine für das andere mit Bewußtsein gesetzt wird. Derselbe geistig-synthetische Prozeß, der überhaupt aus dem Nebeneinander der Dinge ein Mit- und Füreinander schafft; dasselbe Ich, das, die sinnlichen Gegebenheiten innerlich durchströmend, ihnen die Form seiner eigenen Einheit einbaut – hat mit dem Tausch jenen naturgegebenen Rhythmus unserer Existenz ergriffen und seine Elemente zu einer sinnvollen Verbundenheit organisiert.« (PDG: 60; Hervorhebung im Original)

Die Einheit des Tausches findet ihren konstitutiven Grund in einem spezifischen Vereinheitlichungsprinzip des aus sich selbst Einheit seienden Bewusstseins. Das bedeutet, dass »Gewinn und Verlust« oder »Zufließen und Abströmen« auf der geistigen Ebene bereits eine Einheit bilden, noch – wiederum: in einem rein analytischen und konstitutionstheoretischen, nicht chronologischen Sinne – bevor sich das Apriori des Tausches in eine gegenständliche Form objektiviert, an der sich Begehren und Befriedigen ›abarbeiten‹. Die Einheit als Differenz zwischen zwei aneinander zu messenden Werten kommt bereits ›im Kopf‹ zustande. Die Ebene reiner Psychologie wird genau in dem Moment zur Lebensphilosophie bzw. einer Philosophie der Lebensformen hin überwunden, wenn der Tausch zwar auf besagte »Grundform« in der »Seele jedes Wirtschaftenden« zurückgeht (ebd.: 62), aber, als apriorische Form individuellen Lebens, dort nicht verbleiben kann, sondern nur in der Form der Objektivation, oder, griffiger: der Entfremdung des Geschaffenen existieren kann, welches dann gegenständlich auf das Begehren seines Schöpfers fordernd wie anregend zurückwirkt.6 Als empirisches Modell dafür steht die ausdifferenzierte Form der Geldwirtschaft.

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Innerhalb der Sekundärliteratur kommt dem hier formulierten Objektivationsmodell der Tauschform die Analyse Geßners am nächsten. Er sagt zwar: »Wie alle Handlungen, so setzt auch der Tausch geistige Leistungen voraus, etwa beim Abwägen von Alternativen.« (Geßner 2003: 77) Dass er darunter dann doch nicht die hier explizierte Konstitutionsbeziehung zwischen einer apriorischen Formungskraft auf der Ebene individuellen Lebens einerseits, der objektivierten Tauschform als Form jenes Lebens andererseits versteht, wird

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»Gewinn und Verlust« bilden das transzendentale Formungsschema, über das das individuelle Leben einen ökonomischen Weltbezug herstellt. Das Individuum wägt den einzugehenden Verzicht gegen einen antizipierten Gewinn ab. Dies ist Bedingung des Tausches: Ein subjektiv erzielter Mehr-Wert ist Sinn und Zweck des Tausches (vgl. ebd.: 53, 79). Als Tauschpartner kommen dabei sowohl andere Individuen, als auch die Natur in Betracht. Den Tausch mit der Natur bezeichnet Simmel explizit als »naturale« oder »solipsistische Wirtschaft« (ebd.: 62; vgl. auch ebd.: 52). In der Beziehung zur Natur wägt das Individuum beispielsweise die Investition in Produktionsmittel einerseits und den erwarteten Ertrag aus Natur gegeneinander ab (vgl. ebd.: 61-62). Max Weber unterschied innerhalb seines Begriffsrahmens ähnlich: Ein wirtschaftliches Sich-Verhalten ist ein soziales Handeln erst dann, wenn »es das Verhalten Dritter mit in Betracht zieht.« (Weber 2010: 16) Dem interindividuellen Tausch wie jenem mit der Natur ist gemeinsam, dass die geforderte Höhe des Verlustes für einen subjektiv zu erzielenden Gewinn nichtsubjektiver Natur ist, d. h. nicht in den Händen des Subjekts liegt, sondern objektiver Natur ist, d. h. der geforderte Verlust – der Preis – ist in der eigengesetzlich ablaufenden Form des Tausches begründet. Präziser: Der zu gebende Verlust verselbständigt sich in einer relational geschlossenen Form wechselseitiger Wertekonstitution der potenziell zu erwerbenden Dinge. Dies setzt sowohl in der Tauschbeziehung zur Natur wie zu anderen Individuen die Nicht-Beliebigkeit der Verfügbarkeit über die Dinge anderer voraus (vgl. Paul 2012: 94). In der Beziehung zur Natur bilden »die natürliche Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Dinge« die Grenze und Bedingung individueller Verfügbarkeit (PDG: 62). Hier findet sich eine ähnliche Paradoxie wie auf dem Gebiet der Religion: Teil des deterministischen Naturzusammenhanges zu sein, und trotzdem in einer Position des ›bargaining‹ ihr gegenüberzutreten und, als Entelechie, formend auf sie zuzugreifen – wenn auch wiederum unter den von ihr ›diktierten‹ natürlichen Bedingungen. Der Tausch mit der Natur bezeichnet bei Simmel die sozusagen reale und materielle Produktionsseite der Wirtschaft (vgl. ebd.: 63, 384-85, 392). Zu dieser Seite hin wird Kapital aufgebracht, um Ressourcen aus dem Boden zu holen oder sie weiterzuverarbeiten. Simmel hat dieser Dimension des Wirtschaftens vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit geschenkt, ähnlich wie in der Religion. Bedeutsamkeit erringt dieses Verhältnis im letzten Kapitel der »Philosophie des Geldes«: Die für die moderne Kulturwelt charakteristische Symbiose aus wissenschaftlicher Rationalität und ökonomischer Produktionstechnik verführe zu dem Gedanken, der Mensch beherrsche die Natur, so Simmel. Die technische Herrschaft über die Natur binde den Menschen jedoch in gleichem Maß umgekehrt an die Natur, von der die Befriedigung seiner ungleich umfangreicher gewordenen Bedürfnisse abhängig ist (vgl. ebd.: 672-74).

meines Erachtens gleich im Anschluss an das hier ausgeschnittene Zitat deutlich: Der (Tausch-)Wert sei »weder etwas Physisches noch etwas Psychisches, sondern etwas objektiv Ideelles, ein Verhältnis.« (Ebd.: 77) Aber so einfach ist es ja nicht: Zu werten ist eine Lebensfunktion für Simmel – und insofern und vereinfacht gesprochen: subjektiv –, nur verbleibt sie eben nicht auf der Ebene des Lebens, sondern vergegenständlicht sich. Geßner trennt, was konstitutionstheoretisch bereits auf der Ebene des Lebens zusammengehört: Gewinn, Verlust und Wertbildung.

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Die beiden Seiten des Dualismus aus Freiheit und Bindung im Verhältnis zwischen Individuum und Natur stehen damit in einem wechselseitigen Steigerungszusammenhang: Das größere Maß an Freiheit ist an ein größeres Maß der Abhängigkeit geknüpft. Andererseits aber, so Simmel an anderer Stelle, besitzt der technische Fortschritt in der Produktion einen von der zwischenmenschlichen Konkurrenz um knappe Ressourcen entlastenden Charakter (vgl. ebd.: 384-85). Die Natur spielt in Simmels wirtschaftstheoretischen Überlegungen tendenziell eine ähnlich periphere Rolle, wie es auf dem Gebiet der Religion der Fall gewesen ist. Die von Konkurrenz entlastende Wirkung der Ökonomie wird aber noch Thema sein, sie berührt unmittelbar die Frage nach der religiösen Kapazität der Geldwirtschaft (vgl. Kapitel 8.5.) Bereits in seiner entwicklungsgeschichtlich primitivsten Form kann man die Abhängigkeitsbeziehung des Organismus mit seinem natürlichen Milieu als eine Austauschbeziehung begreifen. Im Unterschied zum vollständig selbstgenügsamen Schöpfergott ist der menschliche Organismus nur eine relativ geschlossene Einheit, er steht mit seiner Umwelt in der Beziehung »einer fortwährenden Endosmose und Exosmose« und nehme »immerzu Elemente in sich auf, die nicht in ihm erzeugt sind, und ebenso gibt er fortwährend an die Welt Wirkungen ab, welche nicht in ihn zurückkehren.« (PRP: 313). Der Mensch ist bedürftig, und zwecks Befriedigung dieser Bedürfnisse schafft sich das individuelle Leben Tauschformen, wie ich es eingangs dieses Kapitels mit der Passage aus der »Lebensanschauung« vorgeführt habe. So gesehen stellt das Apriori des Tausches das diametrale Gegenteil zu dem Prinzip des religiösen Aprioris dar: dass der Organismus von vornherein auf Austauschbeziehungen angewiesen ist, ist das Resultat der Unvollkommenheit der in der Form der Individualität sich ausprägenden Seins-Einheit des Lebens (vgl. ebd.: 313-14). Das individualisierte Leben findet erst in der Bindung an die Form – gerade hier: des Austausches – die Bedingung, aus sich heraus Einheit zu sein, d. h. eine selbstgezogene Grenze nach außen hin aufrechtzuerhalten. In der Sozialität des Tausches bilden rechtsstaatlich gewährte Privateigentumsstrukturen eine Grenze individueller Disponibilität über die Dinge anderer (vgl. PDG: 412-13). Die exklusive Verfügungsfreiheit über Eigentum – v.a. seine Verkäuflichkeit – ist Simmel zufolge eine Funktion der Ausdehnung des sozialen Kreises (vgl. ebd.: 473). Letzteres ist theoretisch gesehen bei Simmel der wichtigere Grund für die Verselbständigung der Wirtschaft aus dem individuellen Leben. Der Verselbständigungsgrad der Wirtschaft steht in Korrelationsbeziehung mit dem Ausdehnungsgrad der Vergesellschaftungszusammenhänge, innerhalb derer getauscht wird. Internationale Konkurrenz und Arbeitsteilung sind die maßgeblichen Einrichtungen einer ausgedehnten, eigengesetzlichen Weltwirtschaft (vgl. SOZ: 832; vgl. Kapitel 8.5.1.1 sowie 8.5.1.2 in diesem Buch). Dadurch stehen sozial, räumlich wie sachlich die Dinge in einer Distanz zum individuellen Leben, und der Preis zur Distanzüberwindung konstituiert sich eigenständig durch das Wechselspiel der Waren und Güter untereinander. Ein anderer Punkt. Es scheint Vorsicht dabei geboten, den Tausch vorschnell zu der differentia specifica der Wirtschaft zu erklären. Max Weber sah den Tausch lediglich als »ein ökonomisches Mittel, wennschon eins der wichtigsten.« (Weber 2010: 44; Hervorhebung im Original) Weber definierte wirtschaftliches Handeln durch die »Fürsorge für einen Begehr nach Nutzleistungen«, d. h. hinreichend dafür, um von Wirtschaften zu sprechen, ist für Weber die »Tatsache: daß Nutzleistungen

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begehrt werden«, wie auch die andere »Tatsache: daß für diesen Begehr eben durch eine […] Fürsorge Deckung zu sichern versucht wird.« (Ebd.: 43; Hervorhebung im Original) – ganz unabhängig auch davon, wie genau, arbeitsteilig, monetär oder traditional diese Fürsorge dann auch aussehen mag. Für Simmel dagegen waren Begehren und Befriedigung sich erst mit der Objektivation der Tauschform herausbildende, sekundäre psychologische Phänomene.7 Simmel selbst meint, dass man »die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch« bezeichnen könnte (PDG: 59). Ein Geben und Nehmen würde es beispielsweise auch zwischen einem Journalisten und seinem Publikum geben, ebenso innerhalb von Parteien, in der Liebe gleichermaßen wie in der ›scientific community‹ (vgl. ebd.: 59-60). Simmel identifiziert Tausch und soziale Wechselwirkung nahezu miteinander, wenn der Tausch ihm zufolge als »die reinste und gesteigertste Wechselwirkung« gilt (ebd.: 59). Eine Identifikation zwischen sozialer Wechselwirkung und Tausch angenommen, würden Wirtschaft und Gesellschaft a priori zur Deckung kommen.8 Zwar könne man sagen, so Simmel, dass Wissenschaft und Liebe in einem Geben und Nehmen bestehe. Allerdings mindert die Mitteilung des Wissens nicht den eigenen Wissensvorrat, und die Liebe findet einerseits in der durchaus energieintensiven Hingabe an den anderen gerade das Wesensmerkmal ihres eigenen Prinzips, andererseits – spiegelbildlich zu letzterem – »wüssten wir mit der darin [in der Hingabe; Anmerkung PB] offenbarten inneren Energie sonst nichts anzufangen« (Ebd.: 60). Die Verausgabung der Energie stellt also keinen empfundenen Verlust dar, sondern ist Form, Sinn und Zweck des Lebens. Anders aber »der wirtschaftliche Tausch« (ebd.: 61). Dem wirtschaftlichen Tausch, so Simmel, bleibe »die Färbung des Opfers am wenigsten erspart« (ebd.: 60). Eine Weltbeziehung nähert sich umso mehr der ›Reinform‹ des Tausches und damit der Form des Wirtschaftens, je mehr die Beziehung durch die Attribute Opfer, Verzicht sowie Verlust gekennzeichnet ist (vgl. von Flotow 1995: 48; Geßner 2003: 75, Fn. 9). Und dies bedeutet für Simmel konkret »das Opfer eines auch anderweitig nutzbaren Gutes […], so sehr auch im Endresultat die eudämonistische Mehrung überwiege.« (PDG: 61) Was den Verlust – dem Prinzip nach – zu einem genuin ökonomischen Verlust macht, sind die Opportunitätskosten, die wir mit dem Tausch aus der Hand geben und gegen einen zu erwartenden, vergleichsweisen Mehr-Wert gegenrechnen (vgl. ebd.: 63-64). Das Maß des mit dem Tauschakt vollzogenen Verzichtes auf Nutzungsmöglichkeiten ist ausbaufähig, und genau in dieser Möglichkeit – der Vergrößerbarkeit des Verlustes – liegt für Simmel der ›Pfad‹ oder der ›Raum‹ für die Ausdifferenzierung einer auf Tausch basierenden Wirtschaft. Auf den Namen ihres eigenen Prinzips kommt die Wirtschaft mit der Evolution des Geldes. Im Geld haben sich

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Die Nähe zur Psychologie des Begehrens und der Befriedigung von Weber zu Simmel fällt auf. Weber weist aber darauf hin, dass die Folgen des subjektiv am Begehren orientierten Handelns nicht subjektiv oder psychisch bleiben (vgl. Weber 2010:43). Für eine in diese Richtung gehende Hypothese hat George Homans in einem Aufsatz argumentiert: »Social behavior is an exchange of goods, material goods but also non-material ones, such as the symbols of approval or prestige.« (Homans 1958: 606) Der Aufsatz erschien in einer Sonderausgabe anlässlich des 100. Geburtstages von Emile Durkheim und Georg Simmel, die beide Jahrgang 1858 sind.

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die Nutzungsmöglichkeiten in ein a priori unerschöpfliches Verwendungspotenzial transformiert, welches in den Tausch gegeben wird gegen konkrete, in ihren Verwendungsmöglichkeiten vergleichsweise beschränkte Waren. Diese Eigentümlichkeit des Geldes ist es nach Simmel, was ihm – obgleich doch ›eigentlich‹ neutral – gegenüber Waren oder Dienstleistungen »den maximalen, [...] überhaupt erreichbaren Wert« verleiht (ebd.: 267). Dafür fand Simmel den Begriff des »Wertplus« (ebd.: 268): Wer Geld gibt, gibt mehr aus der Hand als jemand, der eine Ware anzubieten hat, und zwar das materialisierte Prinzip der Tauschfreiheit. Das Geld wird selbst begehrenswert. Nicht nur der Verlust, sondern auch dessen Komplement, der Gewinn, differenziert sich damit erst im geldvermittelten Tauschgeschäft aus. Evolutionstheoretisch gesehen: Der der Tauschökonomie zugrundeliegende Vitalrhythmus von »Gewinn und Verlust« objektiviert sich erst vollständig aus in der Geldförmigkeit des Austausches (vgl. ebd.: 387-88). In Vor- und Keimformen findet sich das Gewinn- und Verlustmotiv des Tausches in den unterschiedlichsten sozialen Wechselwirkungen. Liebe und Wissenschaft waren ein Beispiel dafür, dass das ökonomische ›Moment‹ auch in anderen Motiven hineinspielt. Ebenso lässt sich mit Simmel das religiös motivierte Opfer oder die Askese als rudimentäre Austauschbeziehung zwischen dem religiösen Individuum und Gott bzw. den Göttern interpretieren (vgl. EM I: 214-16; DR: 62). Einerseits verweist Simmel an mehreren Stellen auf einen sakralen Ursprung des Geldes, das heiligen Zwecken diente und Götter symbolisierte (vgl. PDG: 229, 364, 497-98). Andererseits greift Simmel vor allem im zweiten Unterkapitel von »Wert und Geld« in der »Philosophie des Geldes« auffällig oft auf die Semantik des »Opfers« zurück, um für die dem ökonomischen Tausch inhärente Verzichtsleistung eine alternative Ausdrucksweise zu finden (vgl. ebd.: 55-92).9 In »Die Religion« spielt das Opfer keine für das Argument konstitutiv herausragende Rolle. Erwähnt sei aber, dass sich das religiöse Opfer an die Götter Simmel zufolge aus der Wechselseitigkeit des Schenkens herausdifferenziere. Das »soziologische Verhältnis des Schenkens und Annehmens« biete sich »durch seine eigene innere Formung [...] der religiösen Stimmung [an] [...], sich ins Transzendente auszugestalten.« (DR: 62) Simmel belässt es bei diesen kurzen Anspielungen. Der Vergleich mit der Religion ist wichtig, um zu verstehen, dass sich Motive des Tausches in soziale Beziehungen schmuggeln können, ohne gleich vollständig Tausch zu sein. Simmels Religionstheorie war ähnlich gelagert: »Religioide Zwischengebilde« nannte Simmel soziale Beziehungen, in denen sich ein religiöses Empfinden hinzumischt. Arbeiter können demnach eine religiöse Weihe gegenüber ihrer eigenen sozioökonomischen Klasse empfinden, ohne dass es sich um Religion in ›Reinform‹ handelt, deren Gegenstandsbereich Transzendenz impliziert. Ähnlich kann über die analytische Perspektive des Tausches Vergesellschaftung erschlossen werden, um Momente des Tausches – Abwägen von Gewinn und Verlust – in sozialen Beziehungen auszuforschen. Das durch die Geldpraxis begünstigte »rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit« könnte damit in Verbindung gebracht werden (PDG: 613), ebenso wie die von Simmel damit in Verbindung gebrachte Beobachtung, dass das »Leben vieler Menschen […] von solchem Bestimmen, Abwägen,

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53 Male taucht »Opfer« innerhalb der »Philosophie des Geldes« entweder eigenständig als Nomen auf, in Verbform oder auch in nicht-eigenständiger Form innerhalb eines Wortes.

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Rechnen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt [wird].« (Ebd.: 614) Ähnlich, gleichwohl deutlicher noch als für die Religion beobachtet Simmel eine Evolution des Tausches. Deutlicher herausgearbeitet ist das Thema deshalb, weil Simmel vergleichsweise entschieden eine Drei-Stufen-Logik der Evolution des Tausches vertritt, die man dergestalt formalisiert nicht in der Religionstheorie Simmels expliziert findet (vgl. ebd.: 86-89).10 Sie bewegt sich aus dem Indifferenzzustand von Raub und Schenken über gesellschaftlich kontrollierte Formen des Besitzwechsels bis hin zu der aus der und gegen die Gesellschaft verselbständigten, geldvermittelten Ökonomie, in der das Individuum über die vorrangige Beziehung zum Geld dem Objektivationszusammenhang von sich wechselseitig den Wert bestimmenden Gütern gegenübersteht. Die historisch-lineare Genesis der Form steht nicht im Vordergrund des simmelschen Evolutionsschemas. Ob Stammesökonomien in derselben Gegenwart leben wie Geldökonomien oder in der vergangenen Gegenwart, ist von sekundärer Relevanz zum Verständnis des simmelschen Evolutionsschemas, primär dagegen die Möglichkeit, Formen innerhalb der genannten Stufen-Logik einordnen zu können. Der ›Real‹-Bezug der einzelnen Stufen liegt in der von Simmel postulierten soziologischen Hypothese, dass die Ausdifferenzierung sozialer Formen von ihrem Ausdehnungsgrad abhängt. Weil Vergangenheit und Gegenwart bei Simmel nur funktional, aber nicht historisch geschieden werden, ist die Beobachtung von Tauschmomenten in gegenwärtigen nicht-ökonomischen Bereichen der modernen Gesellschaft meines Dafürhaltens nach dem Prinzip nach nur schwer zu unterscheiden von vergangenen evolutionären Vorläufern der verselbständigten Wirtschaft. Wichtig war die partielle Vorwegnahme evolutionärer Aspekte an dieser Stelle auch, um eine nur zu leicht als Anthropologie misszuverstehende Passage korrekt einordnen zu können. Simmel spekuliert, »der Mensch sei das tauschende Tier«, fügt aber hinzu, ein Tauscher zu sein, sei »nur eine Seite oder Form der ganz allgemeinen Charakteristik, in der das Spezifische des Menschen zu bestehen scheint: der Mensch ist das objektive Tier.« (Ebd.: 385; Hervorhebung im Original) Ohne die Möglichkeit einer Abstufung gesehen, in der Tausch und Objektivität empirisch auftreten können, würde die im letztgenannten Zitat zum Ausdruck kommende Annahme kollidieren mit der Beobachtung Simmels, dass subsistenzwirtschaftlich organisierte Stammesgemeinschaften eine »Abneigung [...] gegen den Tausch« hätten (ebd.: 84). Entlang einer Stufenlogik gelesen, würde das »Tauschtier Mensch« dagegen unterschiedliche Verwirklichungsformen finden, in denen sich die Vitalimpulse des »Zufließens oder Abströmens« oder »Gewinn und Verlust« ausleben.11 Sie würden sich allmählich

10 Paul schließt kritisch an Simmels Evolutionstheorie des Tausches an (vgl. Paul 2012: 8491). Er übersieht hierbei die simmelsche Mittelstufe, die Regulation des Tausches durch Gesellschaft. Dafür entdeckt Paul Simmels Überlegungen zur Dankbarkeit, welche Inhalt der »Soziologie« wie eines eigenen Aufsatzes waren, aber nicht der »Philosophie des Geldes«. 11 Adam Smith meinte in seinem Buch »The Wealth of Nations«, die Arbeitsteilung sei eine notwendige, sich aber sehr langsam und graduell verwirklichende Konsequenz natürlicher Anlagen des Menschen zu Handel und Tausch: »This division of labour, from which so many advantages are derived, is not originally the effect of any human wisdom, which fo-

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ausdifferenzieren, korrelierend mit dem Ausdehnungsgrad der individuellen Weltbeziehungen, entlang der Art und Weise, wie Leistungen und Gegenstände die Hände wechseln, und entlang der Art und Weise der Verfügungsbeliebigkeit über die Dinge dieser Welt. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts ist der Vollzug des Tauschaktes mit der Herausbildung der Geldwirtschaft nach Simmel allmählich in die – sprichwörtliche – Hand des ökonomischen Subjekts gegeben worden. Als Georg Simmel sein Opus Magnum, die »Philosophie des Geldes«, 1900 veröffentlichte, war der Verflechtungsgrad der globalen Handels- und Geldströme dabei, einen ersten Höhepunkt zu erreichen, der durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde und erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder allmählich an Fahrt aufnahm (vgl. Abelshauser 2011: 35-36). Die Zwischenkriegszeit sah einen Zusammenbruch des Welthandelsvolumens, und erst »am Ende des Kalten Krieges« konnte der 1914 erreichte weltwirtschaftliche Integrationsgrad zurückgewonnen werden (ebd.: 36). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen im Zuge der technologischen Innovation des dampfgetriebenen Schiffs- und Bahntransports die Kosten des Gütertransports stetig ab. Nicht nur Luxuswaren wurden aus der globalen Peripherie importiert, sondern auch Rohmaterialien wie Weizen, da die Kosten für den Transport nun erheblich sanken. Globale Märkte für Güter wie für Reis und Weizen etablierten sich, und die Preise auf inländischen Märkten hingen nun nicht mehr nur von der inländischen, sondern auch von der globalen wirtschaftlichen Entwicklung der Angebots- und Nachfragesituation ab (vgl. Harley 1986). Es entspann sich eine ökonomische Arbeitsteilung, in der sich Länder mehr und mehr auf die Produktion bestimmter Güter für den Weltmarkt spezialisierten (Held u.a. 1999: 163). Die gesellschaftliche Entwicklung wurde mehr und mehr zu einer globalgesellschaftlichen Entwicklung, da Politik nun auch globale Auswirkungen z. B. auf das binnenländische Einkommensniveau zu berücksichtigen hatte (vgl. ebd.: 163). Gleichzeitig fand mit der Erfindung der Telegraphie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine »Kommunikationsrevolution« statt (Abelshauser 2011: 35). In der Zeit von 1850 bis 1880 erfuhr die Telegraphie durch die Verlegung unterseeischer Kupferkabelverbindungen eine globale Ausbreitung, und machte somit »Weltpolitik possible.« (Ahvenainen 1986: 505) Der Weg einer Nachricht von A nach B verkürzte sich immens, und die Wirtschaftsmeldungen in der Presse wurden immer zeitnäher: So reduzierte sich die Spanne, die zwischen dem Abschicken einer Nachricht und ihrer Publikation in der Zeitung verging, für die Strecke Tokio-London, von 70 auf nur noch fünf Tage

resees and intends that general opulence to which it gives occasion. It is the necessary, though very slow and gradual consequence of a certain propensity in human nature which has in view no such extensive utility; the propensity to truck, barter, and exchange one thing for another.« (Smith 1776: 16; Hervorhebung PB). Man würde heute wohl kaum noch von Notwendigkeit sprechen. Von diesem Punkt abgesehen, liegt Simmel mit seiner Annahme von durchaus natürlichen, sich dann aber in Wechselwirkung mit der Umwelt herausdifferenzierenden apriorischen Trieben, Keim- und Vorformen gar nicht so weit weg von Smith. Simmel erwähnt Smith zwar einmal (vgl. PDG: 207-08). Welche Detailkenntnis er von Smith hatte, entzieht sich mir aber.

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(vgl. ebd.: 507). Seine anteilsmäßig größte Verwendung fand die Telegraphie bei der globalen Integration der Finanzmärkte, und zwar in der Form des Börsentickers. Von manchem Autor sogar als der viktorianische Vorläufer des Internets bezeichnet (vgl. Standage 2002), verstand es die Erfindung des US-Amerikanischen Telegraphenoperators Edward A. Calahan, die Technik der Telegraphie mit der des Buchdrucks zu kombinieren und quasi in Echtzeit Preisnotierungen von einem Börsenplatz zum anderen innerhalb weniger Minuten zu übertragen und auf einem Endlosband auszudrucken (vgl. Stäheli 2004). 1913 schließlich war die Übertragung von Börsendaten von der Wallstreet nach London unter einer Minute möglich (vgl. Abelshauser 2011: 35) – und »ermöglicht[e] es, daß die Werte in der kürzesten Zeit durch die größte Zahl von Händen hindurchgejagt werden«, um es mit Simmel zu sagen (PDG: 707). Das Welthandelsvolumen wuchs zwischen 1870 und 1914 um 3,5 Prozent pro Jahr, das Produktionsvolumen um 2,7 Prozent. Das Wachstum des Weltexportvolumens betrug zwischen 1872 und 1895 ein Fünftel, zwischen 1895 und 1913, nach Überwindung der sogenannten »Gründerkrise«, 2,5 Prozent (Buchheim 1981: 276). Der Export nahm bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Anteil am Welteinkommen von um die 12 Prozent an (vgl. Held u.a. 1999: 156). 155 Länder nahmen am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1913 am Welthandel teil (vgl. ebd.: 155), und bis dato existierte eine Vielfalt bilateraler wirtschaftspolitischer Handelsabkommen (vgl. ebd.: 157). Die Zölle wurden gesenkt, und die Meistbegünstigungsklausel des Cobden-Chevalier-Vertrags 1860 zwischen England und Frankreich hatte zur Bedingung, dass Vereinbarungen wie z. B. die Senkung von Zoll-Tarifen auch an andere Handelspartner weitergegeben werden mussten (vgl. ebd.: 155; Abelshauser 2011: 35). Es gab sogar vorsichtige Versuche einer ersten europäischen Währungsunion, der sogenannten Lateinischen Münzunion (vgl. Flandreau 2000).12 Paris, vor allem London und die Wall Street wurden zu den ersten Global Playern unter den Kapitalumschlagplätzen. Die Praxis des wirtschaftspolitischen Liberalismus (vgl. Kindleberger 1975) brachte zwar ökonomische Freiheiten mit sich, wurde jedoch auch zunehmend in der Bevölkerung als Bedrohung empfunden (vgl. Abelshauser 2011: 36; Buchheim 1981). Damals wie heute war die wirtschaftliche Freiheit mit der Ambivalenz der Unsicherheit behaftet, und die territorial-staatliche Souveränität durch die offene Flanke zum globalen Markt hin eingeschränkt; wobei je nachdem – und: simmelianisch gesehen – auch exakt umgekehrt argumentiert werden könnte.13 Ab 1873 kam

12 1865 wurde der Vertrag zwischen den Staaten Frankreich, Belgien, Italien und der Schweiz geschlossen. Später kam noch Griechenland hinzu. Ironischerweise ging auch damals Griechenland innerhalb der Währungsunion Pleite. Eine andere, kleinere Währungsunion war die von Dänemark und Schweden gegründete Skandinavische Währungsunion. 13 Jedenfalls dann, wenn Souveränität als ein Gewinn von Verteilungsspielraum interpretiert wird, der stets auch einer materiellen Unterlage bedarf. Zumindest in der Theorie – und damit unabhängig von politischen Kämpfen um Partikularinteressen – könnten durch den volkswirtschaftlichen Gesamtgewinn einer Öffnung auch die Verlierer der Globalisierung – in der Regel heute: Geringqualifizierte in den industrialisierten Staaten – sozialstaatlich überkompensiert werden durch öffentliche Leistungen und Transfers. Dies ist gegenwärtig wieder ein Thema. Im Kontext aktueller ›Handelskriege‹ findet sich dazu ein Aufsatz von

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es zu einer erneuten Wende hin zu einer Schutzzollpolitik. Im Deutschen Reich sollten dadurch beispielsweise die Landwirtschaft wie die Eisenindustrie vor internationaler Konkurrenz geschützt werden. Auf dem Gebiet der Eisenzölle konnte ein länderübergreifender Wettbewerb je nach Region teilweise ausgeschlossen werden, wie Henning beispielhaft für die nach Deutschland exportierende britische Eisenindustrie meint (vgl. Henning 1996: 810). Innerhalb Deutschlands kam es zur Bildung von den Wettbewerb beschränkenden bis ihn vollständig aushebelnden Kartellen (vgl. ebd.: 809). Es gab entwicklungsgeschichtliche Konvergenzen und Divergenzen zwischen den Staaten (vgl. für Europa: Fisch 2002). Das Wachstumstempo der Industrialisierung unterschied sich zum Teil erheblich. Das Mutterland der industriellen Revolution, Großbritannien, erlebte seinen größten wirtschaftlichen Aufschwung von Beginn der industriellen Revolution zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang der 1870er. Die industrielle Entwicklung in Deutschland dagegen verfuhr zunächst relativ langsam. Mit zarten Ansätzen schon zum Ende des 18. Jahrhunderts kam es zu einer breiten Industrialisierungsbewegung erst um 1830, und um 1850 erfolgte noch eine deutliche Beschleunigung des Wachstums v.a. in der Industrie, der gleiche Schub erfolgte noch einmal in der Periode zwischen 1880 und 1913 (vgl. Tilly 1990: 78-79; Ullrich 1999: 127-34). Die industrielle Revolution glich einer Zäsur der Lebensverhältnisse (vgl. Berg/ Hudson 1992). Zwischen 1895 und 1914 wuchs so die deutsche Volkswirtschaft nicht nur um 75 Prozent (vgl. Ullrich 1999: 127). Zur Jahrhundertwende erlebte auch die deutsche chemische und Elektroindustrie einen rasanten Aufstieg zur Weltmarktspitze, der sich auch innerhalb der städtischen Alltagserfahrung bemerkbar machte: In den Städten – weltweit zuerst in Berlin 1881 – ersetzte zur Jahrhundertwende die elektrisch betriebene Straßenbahn Pferde als Transportmittel, Straßen und Privatwohnungen profitierten ebenfalls von der Nutzbarmachung von Elektrizität – mit Stressfolgen für den Biorhythmus (vgl. Radkau 1998: 213). Tempo und Wachstum der Technik waren atemberaubend: Während noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Gemütlichkeit zum Selbstverständnis der Deutschen zählte und die Postkutsche zwischen Berlin und Dresden alle 14 Tage verkehrte (vgl. ebd.: 47), war zur Jahrhundertwende davon nichts mehr zu spüren, das Leben in den deutschen Städten veränderte sich frappierend und schnell: Die mechanisierte Massenproduktion erlebte ihre Anfänge, die Telegraphie wurde zum Symbol und Medium des hektischen Börsentreibens, das Arbeitstempo in den Fabriken wurde merklich erhöht, die Geschwindigkeit der noch gar nicht vor so langer Zeit erfundenen Eisenbahnen beschleunigte sich auf 100 Stundenkilometer, das Fahrradfahren wurde zum Volkssport, in der Dampfschifffahrt gab es eine Jagd um Geschwindigkeitsrekorde, und die ersten PKWs – wenn auch noch kein Massenfortbewegungsmittel – prägten eindrücklich die Wahrnehmung der Bürger (vgl. ebd.: 190-215). Einmal entfesselt, schien der Lauf der Dinge eine Eigendynamik einzuschlagen. Zu dem rasanten Wirtschaftswachstum gesellte sich – in Folge von verbesserten medizinischen Bedingungen – ein fast ebenso temporeiches Bevölkerungswachstum von 49,4 Millionen Einwoh-

Tim Krieger und Laura Renner (2018) in einer Textsammlung des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.

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nern im Jahr 1890 auf 66,9 Millionen im Jahr 1913 (vgl. Ullrich 1999: 135). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war das Deutsche Kaiserreich nicht nur der in absoluten – nicht relativ pro Kopf – Kennziffern wirtschaftlich stärkste Nationalstaat Europas, sondern auch der nach Russland bevölkerungsreichste. Allein die preußische Reichshauptstadt Berlin, Simmels Geburtsstadt und langjähriger Lebensmittelpunkt, wuchs von knapp 400.000 Einwohnern zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf 2,07 Einwohner im Jahre 1910 (vgl. ebd.: 138). In dieser Zeit haben sich das Leben und auch das Erleben der Menschen drastisch verändert. Die Industrialisierung wurde im 19. Jahrhundert begleitet von der zunehmenden Auflösung einer starren Wirtschaftsgesetzgebung. Die Bauernbefreiung und die Zusicherung der Gewerbefreiheit lösten das starre Feudalsystem auf und gaben den Menschen die Möglichkeit der freien Berufswahl. Hierbei standen nicht zuletzt auch ökonomische Interessen seitens von Machthabern und Gewerbetreibenden selbst im Vordergrund (vgl. Henning 1996: 132). Auch wenn die soziale Mobilität zwischen den Schichten noch sehr gering ausgeprägt war (vgl. Ullrich 1999: 309312; Kapitel 7.4.1 in diesem Buch), die Aristokratie nach wie vor in der Praxis bevorzugt wurde (v.a. in Militär und in der öffentlichen Verwaltung) und die demokratische Partizipation und zuvorderst jene der Frauen eingeschränkt gewesen ist, brachten die Konzessionen wirtschaftlicher Freiheit eine rasche Veränderung der Lebensbedingungen mit sich. Mit der Ausdehnung von Industrie und Dienstleistungsgewerbe vervielfältigten sich die Berufsbilder, und die Söhne erlernten immer seltener den Beruf ihrer Väter (vgl. Henning 1996: 1198). Junge Frauen drängten zunehmend nicht nur in die Fabriken, sondern auch in die Büros (vgl. Ullrich 1999: 330-335). Und die Landflucht in die wachsenden Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München erlaubte beiderlei Geschlechtern eine zunehmend individualisierte Lebensführung unter dem Deckmantel großstädtischer Anonymität. Nicht nur die Prostitution gedieh prächtig trotz – aber auch wegen – vor allem im Bürgertum und Adel zur Schau getragener Prüderie (vgl. ebd.: 324), gleichzeitig verhalf die Kommerzialisierung von Verhütungspräparaten auch der sexuellen Selbstbestimmung zumindest der bürgerlichen Frau, Arbeiter und Arbeiterinnen dagegen konnten sich Kondom und Diaphragma noch nicht regelmäßig leisten (vgl. ebd.: 329). Die Großstadt nährte unter Arbeitern und Arbeiterinnen die Hoffnung auf bessere materielle Verhältnisse, barg aber trotz des von Reichskanzler Bismarck zwischen 1883 und 1889 eingeführten Sozialversicherungssystems zugleich auch das existenzielle Risiko, fern der familialen oder ehemals feudalen Bande bei Verlust des Arbeitsplatzes materiell und existenziell tief zu fallen (vgl. ebd.: 72; 140-42). 8.2.2 Wirtschaft und Gesellschaft Der Tausch ist eine Form des Lebens. Simmel bezeichnet ihn wörtlich als »Lebensform« (PDG: 67). Simmel sagt aber auch, »der Tausch ist ein soziologisches Gebilde sui generis, eine originäre Form und Funktion des interindividuellen Lebens« (ebd.: 89; Hervorhebung PB). Im letztgenannten Zitat erscheint der Tausch als Vergesellschaftungsform. Innerhalb seiner »Soziologie« spielt der Tausch keine tragende Rolle, er ist ein Inhalt neben anderen, an denen sich Vergesellschaftung vollzieht (vgl. SOZ: 375-76, 604, 611-12, 788).

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Der Tausch der Ökonomie besitzt eine gesellschaftliche Dimension, er erschöpft sich aber nicht in ihr. Von Bedeutung ist nicht, dass Wirtschaft und Gesellschaft im Tausch ›irgendwie‹ zusammenwirken, denn: In der Empirie bilden Form und Inhalt eine »einheitliche Realität« (ebd.: 19), aus der das Prinzip der Form durch analytisches Verfahren des beobachtenden Geistes gewonnen wird. Von Bedeutung ist, wie Wirtschaft und Gesellschaft im Tausch zusammenkommen. Die Wirtschaft differenziert sich aus und gegen die Vergesellschaftungsprozesse, und zwar derart, dass die Individualität der Person keine Rolle mehr spielt, sondern es nur noch der Person überhaupt bedarf, und dies nur als energetischer Träger eines ansonsten eigengesetzlich verlaufenden Austauschzusammenhanges zwischen Waren. Mit Simmel und in Anlehnung an Karl Marx lässt sich die »Ware als« die »Elementarform« der Wirtschaft beschreiben (vgl. Marx 1973: 17). Die Waren haben »Sach«- oder »Ding«Charakter, und das unterscheidet den Warenkreis vom sozialen Kreis. Die »Sache« steht für das Ökonomische, das Einzupreisende, miteinander zu Vergleichende; die »Person« steht für die Gesellschaft. Präziser: »Sache« – die Ware – und Tausch werden synonym, die »Sache« ist das, was zum Element des Tausches wird. Der Tausch zieht eine Grenze zwischen dem Sachform-Prinzip der Wirtschaft und dem Personform-Prinzip der Vergesellschaftung, statt des »Dus« tritt man einer »Sache« gegenüber. Das hier genannte Verhältnis zwischen »Sache« und Person, Wirtschaft und Gesellschaft greift Simmel in der »Soziologie« auf: »Der Tausch ist die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen. Indem einer eine Sache gibt und der andre eine Sache zurückgibt, welche denselben Wert hat, hat sich die reine Seelenhaftigkeit der Beziehungen zwischen Menschen herausprojiziert in Gegenstände, und diese Versachlichung der Beziehung, das Hineinwachsen ihrer in die Dinge, welche hin- und herwandern, wird so vollkommen, daß in der ausgebildeten Wirtschaft überhaupt jene persönliche Wechselwirkung ganz und gar zurücktritt und die Waren ein Eigenleben gewonnen haben, […] und die Menschen nur noch als die Exekutoren […] auftreten. […] Die Beziehung der Menschen ist Beziehung der Gegenstände geworden.« (SOZ: 662; Hervorhebung im Original)

Diese Stelle entstammt in Wort und Sinn recht deutlich Passagen Karl Marx’ aus dem ersten Band des »Kapitals«.14 Anders als im Falle der Religion, wo das individuelle Leben und die überindividuelle Form zur Einheit kommen, geschieht mit der Verselbständigung der Wirtschaft das Gegenteil: Sie trennt das individuelle Leben und die Form der Ökonomie aufs Schärfste. Das individuelle Leben steht der in sich geschlossenen Wirtschaftsform gegenüber: »In dieser zirkulieren die Gegenstände

14 Im ersten Band des »Kapitals« heißt es: »Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.« (Marx 1973: 52)

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nach Normen und Maßen, die in jedem gegebenen Augenblick festgestellt sind, und mit denen sie dem Einzelnen als ein objektives Reich gegenüberstehen« (PDG: 55). Diese Trennung kann nicht absoluter Natur sein, sondern nur annäherungsweise geschehen, weil die Form der Ökonomie immer noch auf die Energie der apriorischen Formungskraft verwiesen ist, auf der sie konstitutiv basiert (vgl. SOZ: 52; PDG: 55). Gerade weil die Individualität aus dem Tausch ausgeschlossen ist, kann die Individualität des Begehrens aber zum Motiv des Austausches werden. Der Tausch kann aus freien Stücken geschehen, gerade weil er seiner eigengesetzlichen Wertkonstitution überlassen ist (vgl. PDG: 55). Auch Max Weber sprach in Bezug auf den »Kosmos der modernen rationalen, kapitalistischen Wirtschaft« von deren »immanenten Eigengesetzlichkeiten« (Weber 1988a: 544). Diese gestalte sich aus als »Marktvergesellschaftung« (Weber 2010: 453) bzw. als »Marktkampf« zwischen den Unternehmen (ebd.: 77; Hervorhebung im Original) »um Tauschchancen« (ebd.: 28). Eine verselbständigte Ökonomie mag sich über die soziale Konkurrenzform realisieren, mag vielleicht auch – wenn man die Idee ökonomischer Freiheit ernst nimmt (vgl. Friedman 2004) – notwendigerweise wettbewerbswirtschaftlich organisiert sein müssen. Die Eigenlogik der Ökonomie über den Markt zu definieren, dieser Weg scheint meines Erachtens Simmel konzeptionell versperrt, da er Wirtschaft und Vergesellschaftung ihrem Prinzip gemäß nach Form und Inhalt zu trennen hatte. Die Eigenlogik der Konkurrenzvergesellschaftung ist für Simmel dann eine soziale Form, innerhalb derer sich ökonomische ebenso wie politische oder künstlerische Inhalte realisieren. Nur peripher diskutierte Simmel dagegen das – zu seiner Zeit legale – Phänomen der Marktmacht in der Form von Kartellierung. Simmel thematisierte diese bemerkenswerterweise als Ausdruck individueller Bindungsfreiheit, obgleich sie ja zur anderen Seite hin, zu jener der Konsumtion, Freiheit nimmt. Die Trennung zwischen Person und »Sache« gibt Simmel zufolge nun Raum für eine neuerliche, synthetische Einheit zwischen beiden Seiten der Differenz, und die Implikationen gelten auch für das Verhältnis des Tausches zur Vergesellschaftungsdimension: Im Verhältnis der Waren zueinander gilt eine Wertäquivalenz, während im Verhältnis von personaler Individualität zur Form des Tausches ein Mehr-Wert zu realisieren gilt – und zwar auf beiden Seiten des Tausches (vgl. Paul 2012: 90). Darin besteht seine gesellschaftliche Funktion, der sich empirisch die Geldwirtschaft zum Ende des 19. Jahrhunderts annähert (vgl. PDG: 387-89). Die Annahme einer Wertäquivalenz trifft dann nicht zu, wenn man den Tausch aus der individuellen Perspektive betrachtet. Aus dieser erfolgt die Einwilligung nur unter der Bedingung der Wert-Differenz, d. h. dass der Tauschende »mehr empfängt, als er fortgibt.« (Ebd.: 79)15 Die Wertäquivalenz realisiert sich allein in der die Ebene der Subjektivität überschreitende Objektivationsform des Tausches als das Wechselseitigkeitsverhältnis zwischen Waren. Nur weil beide Partizipierenden des Tausches auf einen Wert verzichten, um einen anderen zu gewinnen, ist die Tauschform als Wertäquivalenzform zu bezeichnen: »Wenn für A also ß wertvoller ist als α, für B dagegen α wert-

15 Christian Papilloud (2003a) interpretiert es meiner Ansicht nach fälschlicherweise umgekehrt: »Wenn man aber in den Tausch tritt, wird mehr gegeben, als besessen wird.« (Ebd.: 160) Er verwechselt ferner die individuelle Ebene mit jener der Objektivation (vgl. ebd.: 162).

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voller als ß, so gleicht sich dies objektiv, vom Standpunkt eines Beobachters, freilich aus.« (Ebd.: 79) Die Tauschwertäquivalenz realisiert sich Simmel zufolge mit dem Vollzugsakt des Tausches: Wenn getauscht wird, dann stehen die getauschten Sachen zueinander in einem Verhältnis der Wertäquivalenz: »Ja, ursprünglich dürfte diese Austauschbarkeit nicht die Wertgleichheit als eine irgendwie objektive Bestimmtheit der Dinge selbst angezeigt haben, sondern die Gleichheit nichts als der Name für die Austauschbarkeit sein.« (Ebd.: 76-77) Die Dinge besitzen nicht aus sich heraus einen intrinsischen Tauschwert (vgl. ebd.: 29). Er ist keine Eigenschaft der Dinge, der dann, in einem zweiten Schritt, die Bedingungen des Eintauschens gegen einen anderen Gegenstand diktiert. Der Tauschwert von Gegenständen kommt erst mit dem Tausch eines Gegenstandes gegen einen anderen Gegenstand zustande. Das bedeutet nicht, dass das Individuum dem von ihm in den Tausch hingegebenen Gut den gleichen Wert zuspricht, wie dieser ihn im Tausch erlangt. Die Objektivationsform des Tausches löst die Wert-Konstitution aus dem individuellen Leben, aus dem sie ursprünglich kommt. So sagt Simmel zwar explizit, das individuelle Leben sei »die allgemeine Quelle der Werte überhaupt« (ebd.: 53). Der Wert der Dinge sei »ein im Subjekt verbleibendes Urteil über sie.« (Ebd.: 29) Diese konstitutionstheoretische Prämisse behält Simmel bei, auch für den Fall einer ausdifferenzierten Wirtschaft (vgl. ebd.: 55).16 Kommt es aber einmal zum Tausch mit anderen, gehen das individuelle Wert-Erleben und der objektivierte Wert im Tausch ihrem Prinzip nach getrennte Wege, unbesehen einer zufälligen Deckungsgleichheit. Der Grund dafür liegt für Simmel in dem Begehren der Individuen selbst. Denn der Tausch impliziert eine unterschiedliche Wahrnehmung der Elemente des Tausches auf beiden Seiten. Unser Verlust ist der Gewinn eines anderen, und vice versa. Auf beiden Seiten des Tausches begehrt man das Objekt des jeweils anderen mehr als das Objekt, was man selbst sein Eigen nennt.17 Damit unterliegt der synthetisierten Einheit des Tausches eine Differenz individuellen Erlebens, und dieses Postulat unterstreicht Simmel erneut durch das semantische Motiv des Energetischen: »Denn einmal, was man in der Wechselwirkung ausübt, kann immer nur die eigene Energie, die Hingabe eigener Substanz sein; und umgekehrt, der Tausch geschieht nicht um den Gegenstand, den der andere vorher hatte, sondern um den eigenen Gefühlsreflex, den der andere vorher nicht hatte; denn der Sinn des Tausches: daß die Wertsumme des Nachher größer sei als die des Vorher – bedeutet doch, daß jeder dem anderen mehr gibt als er besessen hat.« (Ebd.: 60; Hervorhebung PB)

Das Begehren des einen trifft auf das Begehren des anderen, und deshalb wird das Begehren des jeweils anderen auch zur Bedingung der Befriedigung des eigenen Begehrens. Wir mögen den Gegenstand unseres Gegenübers weitaus mehr begehren, als dieser selbst, so dass er weniger von uns fordert, als wir zu geben bereit wären (und umgekehrt). Es kann aber auch sein, dass wir sehr viel verlangen, beispielsweise für

16 Anders sieht es Christian Papilloud, demzufolge der »Prozeß der subjektiven Bewertung […] durch den objektiven Prozeß der Preissetzung ersetzt [wird]« (Papilloud 2003b: 174). 17 So steht es auch bereits in dem volkswirtschaftswissenschaftlichen Buch von Carl Menger aus dem Jahr 1871 (vgl. Menger 1871: 250).

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unsere Arbeit. Der verlangte Gegenwert kann so hoch sein, dass die Arbeit von anderen nicht hinreichend begehrt wird. Dann kommt es nicht zum Tausch (und stattdessen zur Arbeitslosigkeit). Oder aber man geht mit dem verlangten Gegenwert auf ein für das Gegenüber akzeptables Niveau herunter (vgl. ebd.: 77). Beispielhaft hierfür nennt Simmel das Feilschen zwischen zwei Individuen. Der Ausgang des Feilschens hängt ab »von der Schlauheit, der Begierde, der Beharrlichkeit der Parteien« (ebd.: 86). Wegen der Abhängigkeit von der Unmittelbarkeit der individuellen Situation unterscheidet Simmel die Tauschform des Feilschens dem Typus nach von einer verselbständigten Wirtschaftsform: »Der Tausch ist schon da, er ist schon ein objektives Geschehen zwischen den Werten – aber seine Ausführung ist durchaus subjektiv, sein Modus und seine Quanten hängen ausschließlich an der Relation der personalen Qualitäten.« (Ebd.: 87) Unabhängig von den historischen Übergängen markiert sich für Simmel aber die Grenze zwischen der überindividuellen Objektivation des Tausches und der Individualität des Lebens durch das – wie auch immer dann empirisch sich ausformbare oder zur Konsequenz treibende – unverrückbare Prinzip, dass der Preis für den Gewinn in der Hand des jeweils anderen liegt und sich damit der individuellen Verfügbarkeit entzieht. Darin liegt der Objektivitätsmoment des Tausches, kommt er einmal zustande. Andererseits ist zu vergegenwärtigen, dass Simmel zufolge die Nicht-Beliebigkeit des Noch-Nicht-Besitzens die Bedingung für individuelles Begehren ist. Eine Entpersonalisierung, oder auch: Entsubjektivierung des Tausches findet in dem Maße statt, indem die Bildung lokaler, partikularer Preise von individuell bestimmten Gegenständen dem individuellen Zugriff entfernt ist. Der Austausch mag sich immer noch in personaler Interaktion vollziehen. Er muss es aber nicht. Tauschpartner können sich am anderen Ende der Welt befinden. Material hat Simmel eine durch Arbeitsteilung und Konkurrenz charakterisierte, ausgedehnte Weltwirtschaft vor Augen (vgl. SOZ: 832, 845; PDG: 49, 220, 290, 448-49, 663).18 Diese wird zum Modellfall seiner Überlegungen. Der Idealität des Prinzips nach bestimmt sich der Tauschwert eines Gutes dann in Beziehung zu allen anderen Gütern innerhalb eines maximal ausgedehnten »Wirtschaftskreises« (PDG: 220). Der ökonomische Wert ist gleichbedeutend mit der »Tauschbarkeit der Gegenstände« untereinander (ebd.: 122). Der Tauschwert eines Gegenstandes gibt seinen quantitativen Anteil an dem Gesamtwarenwert eines definierten Warenkreises wieder (vgl. ebd.: 123, 142). Eine prinzipielle Wende hin zur Eigengesetzlichkeit und weg von der lokalen Beeinflussbarkeit durch Individuum und Gesellschaft besteht dabei darin, dass die ausgedehnte Synthesis der Tauschform jede Partikularität von Tauschakten umfasst und genau dadurch determiniert: Man verkauft seine Arbeitskraft gegen Geld. Die Ware Arbeitskraft gehört dem Individuum. Es kann darüber – mindestens in einem formalkontraktuellen Sinne – frei verfügen, an wen er oder sie verkauft. Physisch wie psychisch ist sie untrennbar mit der Individualität des Lebens verknüpft; und doch lässt sich das geistige wie körperliche Arbeitsvermögen aus der Personalität herausdiffe-

18 Otthein Rammstedt zufolge sorgten die Krisenerfahrungen der sogenannten Großen Depression im 19. Jahrhundert für die Wahrnehmung eines sich von dem eigenen nationalstaatlichen Raums gelösten »Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Zirkulationsprozesses« (Rammstedt 1985: 485).

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renzieren als eine von der Personalität abstrahierende Ware, die auf dem Arbeitsmarkt ihren Wert allein in Bezug auf andere Produktivkräfte erhält; unabhängig davon, für wie wertvoll man seine eigene Arbeitskraft hält. Nach wie vor ist es zwar das individuelle Begehren, das zum Mittel der Arbeit zwecks Erwerb bestimmter Dinge anstiftet. Es bildet das energetische Fundament der Wirtschaft. Es ist aber auch auf diese energetische Randkategorie zurückgestutzt: »Die wirtschaftliche Form für den wirtschaftlichen Verkehr schafft ein Reich von Werten, das mehr oder minder vollständig von seinem subjektiv-personalen Unterbau gelöst ist. So sehr der Einzelne kauft, weil er den Gegenstand schätzt und zu konsumieren wünscht, so drückt er dieses Begehren wirksam doch nur mit und an einem Gegenstande aus, den er für jenen in den Tausch gibt; damit wächst der subjektive Vorgang, in dessen Differenzierung und aufwachsender Spannung zwischen Funktion und Inhalt dieser zu einem ›Wert‹ wird, zu einem sachlichen, überpersönlichen Verhältnis zwischen Gegenständen aus.« (Ebd.: 55; Hervorhebung im Original)

Die Objektivation des Tauschaprioris von Gewinn und Verlust in die Lebensform des Tausches formt den ökonomischen Weltbezug des Individuums zu einem symbolischen. Die Singularität des konkreten Objekts – Arbeitskraft, Konsum- oder Investitionsgüter – hat symbolische Natur, während das allgemeine Objekt überhaupt und als solches die Form seiner Einheit nur in der Wechselseitigkeit des Warentausches besitzt (vgl. ebd.: 137). Was Simmel dagegen nicht modelliert, ist eine Theorie der Preisbildung, welche etwas über die Umsetzung subjektiver Präferenzen in – objektive – Marktpreise aussagt.19 Mit der ökonomischen Objektivation steht das Individuum dem Austausch der Dinge gegenüber, es ist selbst nicht Element des Tausches, und genau dadurch scheidet sich Wirtschaft von Gesellschaft: Die Einheitsform des Tausches ›schiebt‹ sich mit dem partikularen Tauschakt »zwischen« die Individuen. Diese Formung ist die geistige Leistung des ökonomischen Individuums. Analog zur Unterscheidung von Religiosität und Religion ist die Gegenstands-Werdung in der Form des Tausches die Seins-Bedingung der apriorischen Form des Tausches. Von Bedeutung ist es an dieser Stelle, auf einen metaphysischen Aspekt in diesen Überlegungen zu verweisen. Ähnlich wie im Falle des religiösen Aprioris beruht der Rückschluss Simmels auf ein ökonomisches Apriori auf der von Kant übernommenen transzendentalphilosophischen Annahme, dass den empirischen Erscheinungen

19 Vgl. zu diesem Punkt und darüber hinaus über nationalökonomische Aspekte in Simmels Geldphilosophie die Untersuchung von Alessandro Cavalli: »Simmel fehlt jegliches Instrument, um den Marktpreis aus der Präferenzskala der Subjekte, d. h. aus ihren Nützlichkeitsfunktionen ableiten zu können. […] Auch kann er sich nicht vorstellen, daß Nützlichkeitsfunktionen in Nachfragekurven transformiert werden und daher den Marktpreis als Resultante aus den subjektiven Wahlen der Individuen bestimmen.« (Cavalli 1993: 167) Die Erwähnungen Simmels von Angebot und Nachfrage lassen darauf schließen, dass er mit dem Preisbildungsmechanismus vertraut war (vgl. PDG: 74; BB: 314). Dieser Punkt interessierte Simmel aber nicht. Für ihn waren Fakt und Erklärung der Verselbständigung der geldökonomischen Form wichtiger.

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formende Bewusstseinskräfte zugrundeliegen. Aus der Objektivität wird dann auf das Leben geschlossen, derart, dass die Entelechie des Lebens die eigentliche Realität bildet, weil es aus sich heraus bereits Einheit ist: Die Synthesis des Tausches ist Einheit, weil sie auf die Einheit des individuellen Lebens zurückzuführen ist (vgl. ebd.: 246). So verhält es sich Simmel zufolge ja auch mit dem Prozess der Vergesellschaftung (vgl. Kapitel 6.3 in diesem Buch) Nun ist es so, dass das Tauschapriori von Gewinn und Verlust bereits auf dieser transzendentalen Ebene relativistischer Natur ist. Darauf verweist Simmel explizit: »Dieser subjektive Prozeß von Opfer und Gewinn in der Einzelseele ist keineswegs nur etwas Sekundäres oder Nachgebildetes gegenüber dem interindividuellen Tausch, sondern umgekehrt: der Austausch zwischen Hingabe und Errungenschaft innerhalb des Individuums ist die grundlegende Voraussetzung und gleichsam die Substanz jedes zweiseitigen Tausches. […] Es ist außerordentlich wichtig, diese Reduktion des Wirtschaftsprozesses auf dasjenige, was wirklich, d. h. in der Seele jedes Wirtschaftenden, geschieht, zu vollziehen: […] auf den Ausgleichungsprozeß zwischen zwei subjektiven Vorgängen innerhalb des Individuums« (ebd.: 62; Hervorhebung im Original).

Die Einheit ist Differenz als Wechselwirkung. Wie auch immer man zu Simmels Herleitung der Wirtschaft aus einem Tauschapriori steht: Auffallend ist doch, dass das Apriori der Ökonomie das einzige Apriori ist, welches bereits seinem transzendentalen Wesen nach die Natur der Wechselwirkung besitzt.20 Jenes Prinzip der Wechselwirkung also, welches Simmel nach eigener Aussage im Laufe seines Lebens »zu einem schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip« wurde (Lichtblau 1997: 181). Scheinbar diametral dazu entgegengesetzt ist es nach Simmel das Wesen des religiösen Aprioris, sich in einem Absoluten zu objektivieren, während Wirtschaft die Objektivation des individuellen Lebens in die Form der Relativität ist, der es sich dann, qua Objektivation, gegenüberstellt in der – nicht mehr durchgriffsfähigen – Einheitsform der Wechselwirkungsbeziehung von Individualität und Relativität des Tauschs. Andererseits verwendet Simmel den Wechselwirkungsbegriff gerade als funktionales Substitut für einen alten Begriff des Absoluten, in dem er noch etwas Unabänderliches, Fixes und Substanzielles sah (vgl. ebd.: 181-82; PDG: 307). Dies ist kein schlagender Beweis, aber ein Hinweis auf die genuin metaphysische Anlage der »Philosophie des Geldes«. An dieser Stelle sei etwas gesagt zur Rezeption der von Simmel in der »Philosophie des Geldes« dargelegten Werttheorie. Die Sekundärliteratur nimmt in der Regel die simmelsche Unterscheidung nach subjektivem und objektivem Wert wahr. Was ihr aber – wie ich meine – durch die Bank nicht gelingt, ist es, eine konstitutionstheoretische Verknüpfung zwischen beiden Ebenen, der subjektiv-individuellen und der objektiven des Tausches, herzustellen. Paschen von Flotow beispielsweise konstatiert bei Simmel »eine gewisse Ambivalenz der Begründung des Wertes. Einerseits tendiere Simmel zu einer eher soziologischen bzw. sozialen Begründung, andererseits zu einer individuellen oder psychologischen Begründung.« (von Flotow 1995: 49)

20 Zumindest ist es das einzige Apriori, bei welchem Relationalität explizit in der Definition auftaucht.

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Sowohl auf der subjektiven Ebene wie auf der sozialen Ebene finde ein Austausch statt, der Tausch ist deshalb die Einheit in der Differenz (vgl. ebd.: 49). Diese Einheit im Tausch bleibt bei von Flotow aber »analytische Kategorie« zwischen zwei ansonsten nebeneinander stehenden Perspektiven: Es bleibt ›hier‹ die subjektive Ebene, ›dort‹ die objektive Ebene. Ähnlich und anders gelagert ist der Fall bei Wilfried Geßner (2003). Der sieht einerseits, dass die Form der überindividuellen Wertbildung nach Simmel »ihre Quelle in der individuellen psychischen Aktivität« besitzt (ebd.: 77). Unter dieser Quelle im Individuum versteht Geßner das Begehren und das Abwägen zwischen Alternativen, aber Geßner scheint die objektivierte Wertform des Tausches davon zu trennen, d. h. Wert und Begehren voneinander zu lösen und damit die Konstitution von Werten überhaupt allein auf der Ebene des Tausches zu lokalisieren: »Wie alle Handlungen, so setzt auch der Tausch geistige Leistungen voraus, etwa beim Abwägen von Alternativen. Der Wert selbst wird mit diesen Vorgängen nicht identifiziert. […] Der Wert selbst ist für Simmel weder etwas Physisches, noch etwas Psychisches, sondern etwas objektiv Ideelles, ein Verhältnis.« (Ebd.: 77)

Aber so einfach ist es ja nicht: Zu (be-)werten ist eine Lebensfunktion für Simmel. Dies erkennt auch Axel T. Paul: »Werte […] müssen eine Schöpfung des Menschen respektive subjektiv sein.« (Paul 2012: 92) Er rekapituliert die sich entfaltende Wertform als Distanzierungsprozess zwischen Subjekt und Objekt (vgl. ebd.: 93). Selbständigkeitsform gewinne der Wert im Tausch, in welchem »Werte […] füreinander hergegeben werden.« (Ebd.: 93) Der »Tausch konstituiert also die Werte und damit die Wirtschaft; er ist – und zwar gerade als Äquivalenten-Tausch – wertproduktiv.« (Ebd.: 94) Wie sich diese Selbständigkeitsform des Tausches zur Individualitätsform des Lebens stellt, überdeckt Paul eher semantisch denn durch Theorie: Die Werte würden im »übertragenen Sinne greifbar«, sie »erscheinen« als etwas »vom wertenden Subjekt Gelöstes«, ihr »subjektiver Charakter wird unkenntlich« (ebd.: 93). Weniger ausführlich, aber sehr ähnlich wie Paul rekonstruiert Christian Papilloud den Übergang von der subjektiven (Be-)Wertung hin zur objektiven Wertung der Wechselwirkung im Tausch (vgl. Papilloud 2003b: 172). Bei Christoph Deutschmann heißt es recht lapidar, dass Simmel »den wirtschaftlichen Wert aus einer inneren Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt« ableite, »die ihren Ausdruck im Austausch findet«, also in der »gegenseitige[n] Bestimmung des Wertes der Güter« (Deutschmann 2008: 44). Auch Natàlia Cantó y Milà zufolge liegt die Quelle der Objektivität von Werten bei Simmel in der Wechselwirkung (vgl. Cantó y Milà 2005: 156). Gemeinsam ist der sekundärliterarischen Rezeption in meinen Augen das fast vollständige Verkennen der genuin lebensphilosophischen Wende, die Simmel mit der »Philosophie des Geldes« vollzogen hatte.21 Dieser Umstand steht zwar nicht prinzipiell einer durchaus fruchtbaren Verwertung simmelscher Analysen entgegen. Aus dem Blick gerät aber die Pointe der Lebensphilosophie: dass die Entfremdung der Form aus dem Leben zum Wesen dieses Lebens gehört (vgl. LA: 232-33); und

21 Schlitte weist gleichwohl auf die Nähe der Tauschobjektivation zum Achsendrehungsmotiv in der »Lebensanschauung« hin (vgl. Schlitte 2012: 225).

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dass Simmel der in der »Lebensanschauung« enthistorisierten, seiner Geschichte entkleideten Ontologie des Lebens in der »Philosophie des Geldes« seine Geschichte gegeben hat: Erst mit der geldvermittelten Objektivierung der Tauschform kommt das Leben als Dualismus von Leben und Form zu sich selbst. Nicht nur die Form verselbständigt sich aus dem Leben, auch das Leben wird aus der Form entlassen. Eine Rücknahme dieses Prozesses würde eine Wiederverflechtung von Leben und Form bedeuten; nicht nur eine Vergemeinschaftung von Wirtschaft, sondern auch eine – erneute – Vergemeinschaftung – und wohl: Vereinnahmung – des ganzen Menschen. Wohl in diesem Sinne hat Simmel den Sozialismus als den idealtypischen, ideengeschichtlichen Antagonisten des Geldes wie der individuellen Freiheit (vgl. PDG: 468-69) beschrieben wie auch als wenig probates Mittel zur Überwindung des proletarischen Elendes im 19. Jahrhundert (vgl. TGLT: 172).22 Hier besitzt Simmel eine gewisse – wenn auch nicht zu übersteigernde – ideengeschichtliche Nähe zu Friedrich August von Hayek (2014). Ich kehre nun vom Vergleich mit der Sekundärliteratur zurück zum Text. Dass Individuen nur dann in den Äquivalenten-Tausch einwilligen, wenn sie einen MehrWert aus diesem ziehen, hat einem offensichtlichen Einwand zu begegnen: Der wirtschaftliche Wert und der wirtschaftliche Preis einer Ware können divergieren. So mag eine sehr geringe Entlohnung für Arbeit nicht dem ›echten‹ Wert dieser Arbeit entsprechen. Wert und Preis aber, so Simmel, würden nur auseinanderfallen, wenn nicht-ökonomische Aspekte in die Beurteilung des Tausches mithineinflössen (vgl. PDG. 81). Dazu gehören beispielsweise die »Traditionen des Gesellschaftskreises« (ebd.: 82). Eine bestimmte Schwelle unterschreitende Löhne können dann als gegen gute Sitte verstoßend empfunden werden. Ein anderer Fall ist es, wenn »die vergegenständlichte, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« als Wertmaßstab herangezogen wird (ebd.: 83). Damit bezieht sich Simmel auf die – von ihm abgelehnte – marxistische Arbeitswertlehre: Arbeit bzw. die Arbeitszeit wird zum Maßstab des ökonomischen Wertes.23 Dann kann es zu einer Abweichung zwischen den ausgetauschten Mengen an Arbeit einerseits und dem gezahlten Preis für Arbeit andererseits kommen. Bevor Arbeit aber zum Wertmaßstab erhoben werden könne, müsse sie selbst als Ware in den Austauschprozess gegeben worden sein und daraus ihren Wert erhalten haben (vgl. ebd.: 83). Der Tausch besitzt also einen praktischen Vorrang in der Konstitution ökonomischer Werte. Simmel argumentiert dabei so, dass im individuellen, situativen Tauschakt jedes Individuum tatsächlich dann und nur dann in den Tausch einwilligt, wenn er sich einen Mehr-Wert gegenüber Alternativen erhofft. Dies gelte auch für den Arbeiter: »[N]iemand würde für einen Hungerlohn arbeiten, wenn er nicht in der Lage, in der er sich tatsächlich befindet, diesen Lohn

22 Wörtlich heißt es: »To be sure, it may be said that between socialism and the interests of the labourer there exists no intimate and necessary connection, that socialism is, perhaps, but a very primitive, a very ill-adapted means to the desired end, and that together with it there might possibly be devised many others whereby these interests might be secured and social distress obviated.« (TGLT: 172-73) 23 Zum Verhältnis zwischen der simmelschen und der marxschen Werttheorie vgl. sowohl den Aufsatz von Fitzi 2003a: 229-33 als auch das entsprechende Kapitel im Buch von Cantó y Milà 2005: 123-142.

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eben dem Nichtarbeiten vorzöge.« (Ebd.: 81) Simmel erklärt die scheinbare Diskrepanz von Wert und Preis über die Unterscheidung der Individualität der Umstände einerseits und dem nur langsamen Wandel gesellschaftlicher Wertvorstellungen andererseits. Unsere Vorstellungen von angemessener Entlohnung sind das Kondensat gesammelter Erfahrungen, ändern aber nur allmählich ihre Gestalt. Der ökonomische Prozess verläuft dagegen kontinuierlich und in der Gestalt der Individualität der »Konstellationen, den Ansprüchen des Augenblicks, dem Zwange der zufälligen Umgebung.« (Ebd.: 82). Die Form beharrt, während das ökonomische Leben weiterfließt: »Gegenüber dem schnellen Wechsel innerhalb der letzteren Schicht verbirgt sich unserer Wahrnehmung die langsame Evolution der ersteren und ihre Bildung aus der Sublimierung jener, und sie erscheint als das sachlich Gerechtfertigte, als der Ausdruck einer objektiven Proportion.« (Ebd.: 82; Hervorhebung im Original)24 Inhaltlich ähnlich, aber in anderem Kontext begegnet die im dualistischen Wechselspiel von Leben und Form begründete prinzipielle Inadäquanz dieses Verhältnisses an anderer Stelle, wenn Simmel zu begründen versucht, warum Geld nie vollständig und allein Symbol des Austauschbarkeitsverhältnisses sein kann, sondern die Vermehrung der materiellen Symbole auch eine reale Verschiebung der Austauschbarkeitsverhältnisse mit sich bringt (vgl. ebd.: 190-92). Vielleicht kann man mit Simmel sagen: Der Tausch ist eine Form des Lebens, welcher sich in den Dualismus aus Leben – den fortlaufend stattfindenden Tauschprozessen – und Form – er nimmt mehr oder minder dauerhafte Gestalten an in Sitte, Konvention, Regeln und Gesetzen – ausdifferenziert. Hierbei würde es sich um eine materielle Anwendung des Leben-FormSchemas handeln. Schließlich argumentiert Simmel gegen die Annahme, dass die außerhalb des Tausches gelegenen Eigenschaften von Brauchbarkeit und Seltenheit die hinreichende Bedingung dafür bilden, dass Güter einen ökonomischen Wert im Tausch erhalten: Waren haben dann einen ökonomischen Wert, wenn sie brauchbar und selten sind (vgl. ebd.: 74-76, 78, 83-84). In beiden Fällen meint Simmel, dass in vorrangiger Instanz der Tausch es sei, der sowohl brauchbare als auch seltene Dinge zu ökonomisch wertvollen Dingen mache. Einerseits, so Simmel, begehren wir Dinge, die man nicht »ohne willkürliche Ausdehnung des Sprachgebrauchs« als brauchbar bezeichnen würde (ebd.: 75). Andererseits gebe es Produkte, deren Nutzen man intellektuell einsehe, aber nicht begehre (vgl. ebd.: 75). Brauchbare Dinge müssten zuallererst von uns begehrt werden, damit sie einen ökonomischen Wert erhalten können. Erst die Vergesellschaftung des Begehrens im Tausch führe zur Bildung eines wirtschaftlichen Wertes (vgl. ebd.: 76-77). Physikalische Seltenheit bzw. Knappheit per se führt ebenso wenig zwingend zur Wertbildung, auch wenn sie notwendige Bedingung für diese sein mag (vgl. von Flotow 1995: 54-57). Den Tausch könne man durchaus als gesellschaftliche Einrichtung zur Reduktion individuell empfundener, relativer Knappheit sehen, nicht von Knappheit schlechthin.25 Man gibt ein minder begehrtes

24 Die Vermeidung einer Lohn- oder Preissenkung in Folge wachsender Angebotskonkurrenz durch Marktöffnung wäre so ein Fall. Die Debatte darum gab es zu Anfang des 21. Jahrhunderts in der Bundesrepublik. 25 Ähnlich, aber doch anders unter systemtheoretischen Prämissen argumentiert Luhmann. Die Reduktion von Knappheit ist Motiv des individuellen Zugriffs auf Güter, erhöht da-

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Gut, um ein höher begehrtes Gut zu erhalten. Die durch den Tausch vollbrachte »Verteilungsart des gegebenen Vorrates« senke »das subjektive Entbehrungsquantum« (PDG: 84). Seltenheit führt aber dann nicht zur Wertbildung, wenn sie dem manipulativen Zugriff gegenüber verschlossen ist. Solange Seltenheit nicht durch den Tausch mit der Natur oder mit anderen Individuen der Bearbeitung offensteht, komme es weder zu einem individuellen Begehren, noch zur Bildung eines wirtschaftlichen Wertes (vgl. ebd.: 43-44, 78). Dazu komme, dass eine alternative Form der Aneignung von Besitz neben dem Tausch »Kampf oder Raub« ist (ebd.: 84). Ein »asketisches Sich-Bescheiden« könne ebenso die Folge von Seltenheit sein (ebd.: 84). In beiden Fällen kommt es nicht zur Konstitution eines Wirtschaftswertes. Diesen gewinnt ein seltenes Gut erst im Tausch: »So kann man wohl zunächst sagen, daß die Knappheit der Güter im Verhältnis zu den darauf gerichteten Begehren objektiv den Tausch bedingt, daß aber der Tausch seinerseits erst die Seltenheit zu einem Wertmoment macht.« (ebd.: 84) Schließlich noch ein letzter Aspekt. Mit der Herausdifferenzierung des Tausches konstituiert sich der ökonomische Wert von Gütern in der selbstreferenziellen Wechselwirkung eben jener Güter miteinander. Damit hat sich auch der zu entrichtende Preis verselbständigt, den ein Individuum zu entrichten hat, um eine Ware zu erhalten, denn der Wert ist gleichbedeutend mit dem Preis. Nun spricht einiges dafür, dass sich für Simmel auch das gegenständliche Begehren mit der Objektivation des Tausches herausdifferenziert und reproduziert. Die Möglichkeitsbedingung individuellen Begehrens ist eine sich der Verfügbarkeit entziehende Objektwelt (vgl. von Flotow 1995: 33-34; Geßner 2003: 73-75; Rammstedt 2003b: 30-32; Paul 2012: 93). Für das Sich-Entziehen verwendet Simmel auch den symbolisch generalisierten Begriff der Distanz, unter den räumliche, zeitliche, sachliche wie soziale Distanzen fallen können, und der Sinn seiner begrifflichen Verwendung erschöpft sich nicht auf wirtschaftliche Distanzen.26 Allein auf seinen ökonomischen Sinn hin betrachtet, darauf

durch aber für andere die Knappheit (vgl. Luhmann 1988a: 179-81). Deshalb müssen Einrichtungen gefunden werden, so dass Dritte den Zugriff auf knappe Waren dulden. Diese Einrichtung ist für Luhmann das Geld: »Geld ist der Triumph der Knappheit über die Gewalt.« (Ebd.: 253) 26 Studien Klaus Lichtblaus zufolge entnimmt Simmel den Distanzbegriff seiner Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche (vgl. Lichtblau 1984). Nietzsche, so Lichtblau, habe eine natürliche, nach Gaben und Talent sich ergebende Distanz zwischen den Menschen angenommen: Auf der einen Seite befindet sich »eine Majorität der Schwachen, Mittelmäßigen und Unbedeutenden«, auf der anderen Seite »eine Minorität der Starken, Vornehmen und sich ihres Eigenwertes bewußten Herrschergestalten« (ebd.: 246). Simmels Geldwirtschaft nivelliere zwar nun einerseits die personalen auf quantitative Werte (vgl. ebd.: 24953). Andererseits würde eine durch das Geld gewonnene Distanz zu den Dingen dem Menschen die Kultivierung seiner selbst erlauben. Die monetäre Distanz wird so »apriorische Voraussetzung« für den »Werterhöhungsprozeß der Kultur« (ebd.: 258). In wichtigen Teilen meine ich mich mit Lichtblau auf einer Linie. Mit einem bedeutsamen Unterschied: dass die vom Geld getragene Verdinglichung des Tausches das Individuum gerade aus der Ökonomie – dem Reich quantitativer Reduktion – erlöst oder ›herauspresst‹. Durch das Geld stehen alle Menschen als Menschen in egalitärer Distanz zu den Dingen. Darin be-

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weist Simmel ausdrücklich hin, wird diese Distanz durch den Tausch (re-)produziert. In diesem von ihm postulierten Umstand sieht Simmel die Begründung für seine andere Hypothese, dass der Tausch die hinreichende Bedingung für die Entstehung ökonomischer Werte ist: »Durch den Austausch, also die Wirtschaft, entstehen zugleich die Werte der Wirtschaft, weil er der Träger oder Produzent der Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt ist, die den subjektiven Gefühlszustand in die objektive Wertung überführt.« (PDG: 73) Im interindividuellen Tausch setzen sich die differenten Begehren der Individuen wechselwirkend einander die Grenzen der Verfügbarkeit über potenziell begehrenswerte Objekte (vgl. ebd.: 73). Andererseits aber ist es gerade dieser Grenzsetzungs- oder Distanzierungsakt – was vom Prinzip her das gleiche bezeichnet –, durch den das individuelle Begehren überhaupt erst entsteht. Der Tausch stimuliert so die Bedingungen seines eigenen Zustandekommens, nämlich das Begehren. Angesichts der Zirkularität seiner Theorieanlage ist zu betonen, dass Simmel hiermit ein vorrangig konstitutionstheoretisches, aber kein historisches Argument verfolgt. Das historische Material ist Mittel zum Zweck, um die distinkte Eigenart der modernen Geldwirtschaft zu verstehen. Vor diesem Hintergrund konstatiert Simmel einen qualitativen Sprung in der ökonomischen Evolution. Wie auch immer allmählich abgelaufen, eine Wegscheide dem Prinzip nach ist für Simmel die Wende von der Subsistenzwirtschaft hin zur Produktion für den Tausch mit anderen: »Der angedeutete Prozeß, mit dem sie dies [die Gegenstandswerdung von Begehren und Befriedigung qua Distanzierung; Anmerkung PB] werden, vollendet sich dadurch, daß der distanzierende und zugleich die Distanz überwindende Gegenstand eigens zu diesem Zwecke hergestellt wird.« (Ebd.: 53; Hervorhebung im Original) Sobald Individuen füreinander produzieren, reproduzieren sie die Distanz zwischen dem ökonomischen Subjekt und dem ökonomischen Objekt. Der eine produziert (und gibt) von vornherein – also: a priori – anderen nur unter der Bedingung einer bestimmten Gegengabe. Beide produzieren ein Mittel, das der jeweils andere begehrt, um einen Gegenstand zu erhalten, der vom Gegenüber wiederum seinerseits nur als Mittel zum Erwerbszweck produziert wird. Individuum und Produkt – Subjekt und Objekt – sind hier schon im Produktionsakt voneinander differenziert – voneinander distanziert – unter Antizipation des Tausches, für den hin produziert wird. Es wird also bereits unter einer Idee produziert, unter der Idee des Tausches. Das geschaffene Produkt ist Mittel zur Überwindung der Distanz, schafft aber auch eine (neue) Distanz: »Damit wird die reinste wirtschaftliche Objektivität gewonnen; und indem diese Herstellung für einen anderen geschieht, der die entsprechende für jenen vornimmt, treten die Gegenstände in gegenseitige objektive Relation. […] Das Ich, wenngleich die allgemeine Quelle der Werte überhaupt, tritt so weit von seinen Geschöpfen zurück, daß sie nun ihre Bedeutung aneinander, ohne jedesmaliges Zurückbeziehen auf das Ich, messen können.« (Ebd.: 53; Hervorhebung PB)

steht die Erodierung der ehemals durch die Stellung des Adels verkörperte Hypothese eines natürlichen Vorzugs vor anderen.

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Das bedeutet: Das ökonomische Leben objektiviert sich in und durch die Warenproduktion für andere in die Tauschform, die ihm genau dadurch als eigengesetzlich funktionierende Sphäre gegenübertritt. Dieses Verhältnis schafft sich der Mensch selbst: Denn es ist das seinige apriorische Prinzip des Tausches, welches nur sein kann, indem es sich in der – fast sprichwörtlichen – Form der Vergegenständlichung im Tausch gegenübertritt. In der Warenproduktion distanziert sich der Mensch von dem von ihm geschaffenen Objekt, nur um diese Distanz wieder zu überwinden. Damit differenziert sich auch die ursprünglich undifferenzierte Einheit von Begehren und Befriedigung aus in die Form des Begehrens nach einem bestimmten Gegenstand, welches immer nur momentan, aber nicht mehr dauerhaft befriedigt werden kann. Natur und Wesen des Begehrens erschöpft sich in keiner punktuellen, weil gegenständlichen Befriedigung, obgleich die Gegenstandswerdung die Möglichkeitsbedingung des Begehrens ist. Ich suche nun die Anknüpfung zur »Lebensanschauung«. Das Leben kann nur sein, indem es sich in den Dualismus aus Mehr-Leben und Mehr-als-Leben ausdifferenziert. Es schafft die Form, nur um diese zu überwinden. Gleichzeitig aber auch ist die Form überhaupt nicht zu überwinden, sondern allein die Individualitätsform des Lebens ist es, die mit ihrer Schaffung zur Überwindung durch die Kontinuität des Mehr-Lebens bestimmt ist. Das Mehr-Leben arbeitet sich am Mehr-als-Leben ab, ohne zur Ruhe kommen zu können. Dies ist das Wesen des Lebens. Beide Seiten des Dualismus, Mehr-Leben und Mehr-als-Leben, lassen sich nun vergleichsweise einfach in der »Philosophie des Geldes« identifizieren. Das Mehr-als-Leben lässt sich dem individuellen Objektivationsakt in die Eigengesetzlichkeit des Tausches zuordnen. So sagt Simmel in der »Transzendenz des Lebens«: »Man kann es geradezu als die Definition des geistigen Lebens aussprechen, dass es etwas erzeugt, was eigenbedeutsam und eigengesetzlich ist.« (LA: 232) Und weiter spricht Simmel dann von der »Selbstentfremdung des Lebens«, welches »in Selbständigkeitsform sich selbst gegenübersteht« (ebd.: 232-33). Das Mehr-Leben des Lebens entspricht nun dem individuellen Mehr-Wert – dem Gewinn –, um dessen willen man überhaupt in den Tausch einwilligt. Das ökonomische Leben wächst durch den interindividuellen Tausch: »Dieses rein sachliche Verhältnis der Werte untereinander, das sich im Tausche vollzieht und von ihm getragen wird, hat aber seinen Zweck ersichtlich in dem schließlichen subjektiven Genuß derselben, d. h. darin, daß eine größere Anzahl und Intensität derselben uns nahe gebracht wird, als es ohne diese Hingabe und objektive Ausgleichung des Tauschverkehrs möglich wäre.« (PDG: 53; Hervorhebung PB; vgl. auch ebd.: 54;)

Die Distanz zur Form des individuellen Waren-Objekts wird überwunden, ohne aber die Form der Ware überhaupt erlangen zu können. Dem durch die Distanz zwischen Individuum und Objektwelt hervorgetriebenen ökonomischen Begehren entspricht die vitaldualistische Einheit aus Mehr-Leben und Mehr-als-Leben. So wie das MehrLeben durch das Mehr-als-Leben bedingt ist – und vice versa –, so ist das Begehren durch die Distanz zum Objekt bedingt. Im Dualismus aus dem Mehr-Leben und dem Mehr-als-Leben der Form ist das Leben ein »Drittes«, weil sich das Leben gerade in und durch dieses Wechselspiel selbst überwindet: Es setzt die »individuelle Geformtheit – und durchbricht eben diese« (LA: 228). Auch der Tausch ist »ein neues

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Drittes« (PDG: 74). Ganz entsprechend – denn der Tausch bildet erst den ökonomischen Wert – ist der Wert »eine dritte […] Kategorie, gleichsam etwas zwischen uns und den Dingen.« (Ebd.: 37; Hervorhebung PB) In der Produktion für den Austausch stellen die Individuen die Distanz zur Objektwelt her – die »individuelle Geformtheit« –, sie verkürzen sie aber auch – sie durchbrechen die singuläre Form. Die dualistische Einheit von individuellem Leben und ökonomischer Form stellt sich psychologisch dann einerseits als Begehren nach Erreichung des ›einen‹ ökonomischen Objekts dar, welches aber nur noch ein Weg ist, der mit keiner Befriedigung abgeschlossen werden kann. Denn ›das‹ Objekt hat sich in einen a priori in keinem inhaltlich bestimmten Warenobjekt mehr zu erschöpfenden Verweisungszusammenhang zwischen Objekten entfaltet.27 Andererseits empfindet das Subjekt eine Forderung bestimmter zu zahlender Preise vonseiten der eigengesetzlich konstituierten Objektwelt, welche die Bedingungen des Erwerbs bestimmter Güter definieren. Empirisch-materiell ist es nach Simmel das Geld, welches eine dauerhafte und in diesem Sinne Struktur gewordene Distanz zu den Dingen etabliert: Man muss zunächst immer und zunächst das Geld haben, um sowohl die großen wie die kleinen Dinge des Alltags zu erwerben. Die Güter stehen dann »in einer nicht aufzuhebenden Distanz zu dem begehrenden und genießenden Ich« (ebd.: 135). Das Geld selbst ist kein zu genießendes Gut, sondern allein Mittel. Aber, wie Simmel sagt: Es ist das Mittel zu allen Elementen der Sphäre des ökonomischen Austausches. Geld stellt alle Dinge in gleichem Maße in die Distanz der Mittelbarkeit, bringt damit aber auch Güter überhaupt erst in die Nähe einer prinzipiellen Verfügbarkeit – »getreu der [...] Korrelation von Distanz und Nähe, uns das sonst Unerreichbare nahe zu bringen.« (Ebd.: 136) 8.2.3 Die Form des Geldes Die wirtschaftswissenschaftliche Theorie definiert Geld inhaltlich über drei Funktionen: (a) Geld ist Tausch- und Zahlungsmittel, d. h. neben dem Warenkauf entrichtet man beispielsweise auch Steuern in Geld. (b) Geld ist Wertaufbewahrungsmittel, d. h. es muss, um Geld zu sein, eine zeitliche Wertbeständigkeit aufweisen. (c) Es ist Rechenmittel, d. h. es macht ganz unterschiedliche Dinge miteinander vergleichbar (vgl. Moritz 2012: 5-8).28 Ähnlich findet es sich auch bei Max Weber (2010: 52-57).

27 In einer freudianischen Simmel-Interpretation meint Axel T. Paul, dass »das Begehren so etwas wie den ›Seinsmangel‹ zu stillen sucht« (Paul 2012: 99). Das individuelle Begehren richte sich auf den Gegenstand, von dem man meint, dass andere durch ihn ihren Seinsmangel zu stillen vermögen (vgl. ebd.: 99-100). Paul unterscheidet gleich wie Simmel zwischen Haben und Sein. Aus lebensphilosophischen Gründen nimmt Simmel ebenfalls an, dass das Sein nie vollkommen sein kann; es aber sehr wohl werden kann. In diesem Sinne macht es für Simmel einen Unterschied, ob sich das Sein um das Haben dreht oder das Haben sich am Sein auszurichten hat – letzteres derart, dass das individuelle Sein das Haben seiner Individualgesetzlichkeit entsprechend selektiert. 28 Für einen volkswirtschaftlichen Text zum Geld aus dem 19. Jahrhundert vgl. den LexikonEintrag von Carl Menger (1892). Neben Geld als Tausch-, Wertaufbewahrungs-, und Re-

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Geld, wie wir es heute kennen, so Weber, ist ein von der staatlichen Ordnung gesetztes Geld, mit dem sich Zahlungsverpflichtungen (Steuern, Miete) erfüllen wie relativ beliebige Dinge erwerben lassen – »ein chartales Zahlungsmittel […], welches Tauschmittel ist.« (Ebd.: 53) Eine Soziologie oder gar Philosophie des Geldes, wie sie Simmel betrieb, stand ausdrücklich nicht im Vordergrund der weberschen Geldüberlegungen in »Wirtschaft und Gesellschaft« (vgl. ebd.: 52).29 Dafür war umso mehr die Ethik des Umgangs mit Geld, genauer: die Domestizierung des in Geld bemessenen Erwerbs- und Profitstrebens, das soziologische Thema Webers in der »Protestantischen Ethik«. Solcherart Definitionsbestandteile – und über diese hinausgehend weitere – finden sich allesamt auch bei Simmel, allerdings gibt er der Tauschfunktion den Vorrang. Geld wird für Simmel notwendig, um das Vereinheitlichungsprinzip des Tausches in die Realität zu übersetzen (vgl. ebd.. 246, 387-88; vgl. Paul 2012: 94). In der Einheitskonstitution liegt die primäre und vorrangige Funktion des Geldes. Das ergibt sich deduktiv aus Simmels Annahme, wonach das Leben selbst Funktion ist. Zu tauschen – die Rhythmik von Gewinn und Verlust – ist eine apriorische Vitalfunktion des Lebens, welche Form annehmen muss, und das Geld ist diese materielle Realisierung der Objektivationsform des Tausches. Geld ist die Form, welche sich das tauschende Leben schafft: In »ihm hat der Wert der Dinge, als ihre wirtschaftliche Wechselwirkung verstanden, seinen reinsten Ausdruck und Gipfel gefunden.« (PDG: 121; Hervorhebung PB) Von sekundärer Wichtigkeit sind dagegen weitere, der Tauschsynthese untergeordnete Aufgaben. Um eine systematische Ordnung, Auflistung und Begründung von den Tausch erleichternden Funktionen des Geldes, wie man sie im Lehrbuch findet, war Simmel nicht bemüht. Die Nennung von Geldfunktionen erfolgt sporadisch und verstreut. Geld ist zeitstabiles Wertaufbewahrungsmittel (vgl. ebd.: 130-31, 269-70), es stellt einen beliebig dividierbaren Wertstandard zwischen heterogensten Gütern zur Verfügung (vgl. ebd.: 135, 229, 263-65, 360). Geld gibt die Freiheit, über den Verwendungszweck zu entscheiden (vgl. ebd.: 26367, 413-14), überlässt die Auswahl des Tauschpartners dem Individuum (vgl. ebd.: 396-99), und schließlich kann man sein Geld auch am anderen Ende der Welt investieren (vgl. ebd.: 289, 448-49, 663-64). Simmels geringes Interesse an einer listenförmigen Summe von Aufgaben des Geldes zeigt sich selbst und gerade in einer Passage, die man hinsichtlich einer Zusammenstellung von Geldfunktionen noch als die systematischste bezeichnen kann. Die »Erleichterung des Verkehrs, […] die Beständigkeit des Wertmaßstabes, […] die Mobilisierung der Werte und die Beschleunigung ihrer Zirkulation, […] ihre Kondensierung in möglichst kompendiöse Form« seien nur einige ausgewählte »unter den vielen, seinen Inhalt bildenden Diensten des

chenmittel nennt Menger weitere Funktionen wie »Das Geld als Mittel für Thesaurierung, Kapitalisierung und interlokale Vermögensübertragung.« (Ebd.: 738) 29 Zu Anfang seiner Bemerkungen zum Geld innerhalb seiner soziologischen Kategorienlehre in »Wirtschaft und Gesellschaft« sagt Weber: »Es sei nachdrücklich bemerkt: daß hier nicht eine Geldtheorie beabsichtigt ist, sondern eine möglichst einfache terminologische Feststellung von Ausdrücken, die später öfter gebraucht werden. Weiterhin kommt es vorerst auf gewisse, ganz elementare soziologische Folgen des Geldgebrauchs an.« (Weber 2010: 52; Hervorhebung im Original)

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Geldes« (ebd.: 229; Hervorhebung PB). Also: Geld ist reine Form der Tauschfunktion, die sich nicht in einer bestimmten, a priori anzugebenden Menge von Inhalten, sprich: Diensten erschöpft.30 Ihre Bedeutung gewinnen die Inhalte aus der Geldform des Tausches: »Denn ersichtlich steht seine Bedeutung als Aufbewahrungs- und Transportmittel nicht in derselben Linie, sondern ist ein Derivat seiner Tauschfunktion, ohne welche es jene anderen Funktionen niemals üben könnte, während sie selbst von diesen unabhängig ist.« (Ebd.: 179; Hervorhebung PB)31 Die vom Geld zustande gebrachte Vereinheitlichung von Dingen zu einem ökonomischen Kosmos schließt aber die soziale Dimension ein insofern, als dass diese fast vollständig ausgeschlossen wird und die Individuen nur den Tausch ermöglichenden »Träger«, aber weder Symbol, noch, als Individuen, Element des Tausches sind (ebd.: 55). Die Verselbständigung des Tausches aus dem individuellen und sozialen Leben impliziert Voraussetzungen, die für die Gestalt des abstrakten Symbols Geld einen Unterschied machen. Das abstrakte Schema des Tausches setzt in einem sehr allgemeinen Sinne die freie Zustimmung der Tauschenden voraus. Niemand wird gezwungen, und man bekommt das, was man vergleichsweise mehr begehrt. An dieser Freiheit im Begehren setzt die Evolution des Geldes an. Dies wird nicht geändert durch den Umstand, dass sich die empirische Form diesem Prinzip über die Jahrhunderte bis in Simmels Gegenwart hinein höchstens approximativ angenähert hat (vgl. ebd.: 55, 84-87). Einen von Simmel aufgegriffenen, materiellen Grund, warum eine ausdifferenzierte Wirtschaft unbedingt Geldwirtschaft zu sein hat, stellt das von dem Ökonomen William Stanley Jevons 1875 formulierte Problem der Koinzidenz der Bedürfnisse dar – auch wenn Simmel es selbst nicht bei diesem Namen genannt hat (vgl. Moritz 2012: 6; Paul 2012: 110).32 Man mag ein Begehren nach einem bestimmten Gut von einem Gegenüber haben; auch bereit sein, selbst ein Gut oder eine Leistung dafür in den Tausch zu geben. Der Tausch funktioniert aber nur, wenn man selbst etwas zu

30 Von Flotow spricht hier von einer primär »quantitätstheoretischen Bestimmung des Geldes«, aus der die »qualitativen Eigenschaften des Geldes« abgeleitet werden (von Flotow 1995: 67). Von Flotow konstatiert, dass das Messen der zu tauschenden Waren den Wert nicht verändert, »das Geld reflektiert« deshalb, so von Flotow, »nur den im Tausch bestimmten Wert.« (Ebd.: 67). Streng genommen ist die quantitätstheoretische Bestimmung selbst Derivat der vorrangigen, den Tausch auf den Nenner bringenden Funktion des Geldes. Die Quantifizierung ist eine inhaltliche Gestalt, welche das Geld annimmt, um die Reinform des Austausches artikulieren zu können. Dazu gleich mehr. 31 Niklas Luhmann sah im Tausch einen wenig geeigneten Ausgangspunkt zu einer Theorie des Geldes (vgl. Luhmann 1988a: 230). 32 »There may be many people wanting, and many possessing those things wanted; but to allow of an act of barter, there must be a double coincidence, which will rarely happen. […] Sellers and purchasers can only be made fit by the use of some commodity, some merchandise banale, as the French call it […]. This common commodity is called a medium, of exchange, because it forms a third or intermediate term in all acts of commerce.« (Jevons 1875: 3-4; Hervorhebung im Original) Ob Simmel Jevons Text kannte oder eine andere Quelle herangezogen hat, ist mir nicht bekannt. Als eine weitere Quelle könnte Menger gedient haben (vgl. Menger 1871: 251-52).

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bieten hat, was das Gegenüber begehrt. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, gäbe es noch die zusätzliche Hürde, sich auf ein quantitatives Austauschverhältnis zu einigen. Manche Dinge mögen einfach miteinander verrechenbar sein, andere Dinge wiederum sind kaum oder nur schwer miteinander in ein Verhältnis zu setzen, in dem das eine das Vielfache des anderen bzw. das eine einen sauber zu bemessenden Bruch des anderen darstellt; wenn nicht schon von vornherein eines der begehrten Güter in zu geringer Quantität vorhanden ist, so dass ein Tausch ausbleibt (vgl. für das Argument bei Simmel folgende Stellen: PDG: 134-35, 263, 388, 650-51). Auf dieses Problem ›reagiert‹ Geld. Geld ist für relativ beliebige Zwecke verwendbar, und deshalb wird es angenommen in dem Glauben, das eigene Begehren wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar – also bei einem Dritten – befriedigen zu können (vgl. ebd.: 215). Es ist – seinem Prinzip nach – dank seiner Quantifizierungsstruktur vergleichsweise beliebig dividierbar, was die Äquivalenz zwischen ansonsten ihrer Substanz nach sehr unterschiedlich ineinander übersetzbaren Dingen erlaubt. Das Geld stellt die Form der Tauschäquivalenz her (vgl. Paul 2012: 90-91). Das Koinzidenzproblem lässt sich mit Simmel noch in der zeitlichen und räumlichen Dimension fortführen. Heute mag man zufrieden sein, übermorgen erwacht das Begehren. Und man mag im engeren räumlichen Umkreis der eigenen Gruppe nicht das finden, was man gern hätte oder Waren begehren, die zwar vor Ort erhältlich sind, aber aus Fernost stammen und eine entsprechend lange Zweck- und Mittelkette durchlaufen sind, deren Realisierung viele unterschiedliche Geldtransaktionen bedurften. Papier- und Münzgeld damals und heute, wie auch elektronische Zahlungsmittel sind Problemlösungen für beides. Ihre Haltbarkeit, geringe Größe und Schwere für den Transport, oder auch, im Falle elektronischer Überweisungen, ihre vergleichsweise Unabhängigkeit von ganz bestimmt gearteten, lokal eingegrenzten Bedingungen sind die Grundlagen dafür. Es hat sich im Laufe der Zeit eine bestimmte materielle, die Symbolisierungsfunktion des Geldes organisierende, soziale Infrastruktur gebildet, wie beispielsweise ein die Konvertibilität der unterschiedlichen Währungen sichernder Devisenmarkt sowie Zentralbanken, deren Auftrag – wie es bei der EZB der Fall ist – unter anderem die Wertstabilität der Währung ist. Die Substanz dient der Funktion, ganz ähnlich, wie es der Fall ist mit Kirche und Priesterschaft auf dem Gebiet der Religion. Dies ist Gegenstand des »Substanzwert«-Kapitels in der »Philosophie des Geldes«, aber dazu später mehr. Unabhängig davon nun, ob in sachlicher, räumlicher oder zeitlicher Hinsicht die Begehren der Individuen voneinander divergieren, stets geht es darum, dass es zu einer Beziehung zwischen Individuen kommt, bei denen die Befriedigung des eigenen Begehrens von der Befriedigung des Begehrens anderer abhängig gemacht wird (vgl. PDG: 179). Die Koordination dieser sozialen Interdependenzbeziehungen in der Synthese des Austausches obliegt dem Geld: »Denn ersichtlich steht seine Bedeutung als Aufbewahrungs- und Transportmittel nicht in derselben Linie, sondern ist ein Derivat seiner Tauschfunktion, ohne welche es jene anderen Funktionen niemals üben könnte, während sie selbst von diesen abhängig ist.« (Ebd.: 179; Hervorhebung PB) Andersherum: dass zu unterschiedlichen Zeitpunkten oder in unterschiedlichen Teilen der Welt stattfindende Produktions- oder Konsumwünsche existieren, mag sein, ihre Bedeutung gewinnen Zeit und Raum in der simmelschen Ökonomie aber eben einzig und allein dadurch, dass es die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit ist, die sich durch Zeit und Raum erstreckt. Diese Beobachtung ist von Wichtigkeit, da

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Simmel zufolge die Herausdifferenzierung einer Geldwirtschaft in Funktion steht zur Ausdehnung der sozialen Gruppe einerseits und arbeitsteiliger Differenzierung zwischen den Individuen andererseits (vgl. ebd.: 469-70, 650-51). Subsistenzgemeinschaften weisen keine Vielfalt erst zu koordinierender Bedürfnisindividualitäten auf. Für arbeitsteilige Gesellschaften beobachtet Simmel eine Form der Individualität zusammen mit einem absoluten Bedürfnisniveau, welches nicht mehr in stammesgemeinschaftlicher Autarkie zu befriedigen ist. Ohne die sozialen Abhängigkeitsbeziehungen bedürfte es nicht des Geldes.33 Geld ist eine soziale Institution (vgl. PDG: 179, 205, 209, 263).34 Seine Problemlösungsfähigkeit ist auf die gesellschaftliche Dimension des Tausches beschränkt. Die natürliche oder auch physikalische Dimension des Tausches, in der die ›reale‹ Produktion wie die Extraktion natürlicher Ressourcen stattfindet, bleibt deshalb außen vor. 8.2.4 Die Transzendentalität des Geldes Simmel vertritt explizit eine transzendentalphilosophische Theorie des Geldes. Gegen Anfang des dritten Unterkapitels von »der Substanzwert des Geldes« durchwandert er unterschiedliche Geldtheorien, deren Annahmen sich im Laufe der Jahrhunderte in entsprechenden Geldpolitiken widerspiegelten. Frühere Geldpolitiken wie der »Fiskalismus des Mittelalters« oder der »Merkantilismus« seien »materialistische Geldpolitik[en]« gewesen (ebd.: 206). Für sie begründete sich Geld als Geld vornehmlich aus dem Wert seines Materials. Die »liberalen Tendenzen« staatlicher Politik hätten dann die »materielle Grundlage für die Theorie Adam Smiths gegeben« (ebd.: 207). Mit der Theorie Adam Smiths – dem Begründer der modernen Nationalökonomie –, so Simmel, sei »die Richtung auf die hier vertretene Geldtheorie eingeschlagen, die man im Gegensatz zu den materialistischen, als transzendentale bezeichnen kann. Denn wenn der Materialismus erklärt: der Geist ist Materie – so lehrt die Transzendentalphilosophie: auch die Materie ist Geist.« (Ebd.: 208; Hervorhebung PB) Nur wenige Zeilen später offenbart Simmel seine Annahme eines dezidiert lebensphilosophischen Charakters des Geldes: »[J]egliches Objekt, körperhafter oder geistiger Art, [besteht] für uns nur [...], insofern es von der Seele in ihrem Lebensprozeß erzeugt wird, oder genauer: insofern es eine Funktion der Seele ist.« (Ebd.: 208) Diese geistige Lebensfunktion ist das Tauschapriori von Gewinn und Verlust, und dieses geistige Apriori objektiviert sich in der materiellen Form des Geldes, wel-

33 Das Modell der Koinzidenz der Bedürfnisse modelliert eine Problemlage, die sich in Stammesgemeinschaften nicht oder kaum stellt: »Barter, in the strict sense of moneyless market exchange, has never been a quantitatively important or dominant model of transaction in any past or present economic system about which we have hard information.« (Dalton 1982: 185). Die Problembeobachtung und die Problemlösung – Geld – stehen in konstitutiver Wechselwirkung miteinander. Wie David Graeber in Sammlung ethnologischer Daten ausführt, hat es eine das Modell der Koinzidenz der Bedürfnisse empirisch erfüllende Tauschgesellschaft aller Wahrscheinlichkeit nach nie gegeben (vgl. Graeber 2012: 27-40). 34 Zum Geld als soziale Institution vgl. auch die Ausführungen von Geoffrey Ingham (1996) sowie von Ann E. Davis (2017).

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ches deshalb nur Symbol der Austauschbarkeit zwischen den Dingen sein kann. Dieses »nur« bedarf einer genaueren Erläuterung. Dass Dinge gegeneinander getauscht werden, stellt ja bereits eine Objektivierung des Tauschaprioris dar. Die Dinge werden vom Individuum begehrt, sie erhalten ihren ökonomischen Wert aber aus dem in sich geschlossenen Wechselseitigkeitsverhältnis der Dinge; eine Tauschwertäquivalenz, die den Wert im Tausch zu etwas Eigenständigem macht, losgelöst aus und objektiviert gegen seine nun erst begehrenden Schöpfer. Mit dem Tauschakt messen sich die Güter aneinander; sie definieren sich wechselseitig das Höhenmaß des in den Tausch zu gebenden Verlusts. Deshalb hat sich der Zweck – der Gegenstand des Begehrens – und das Mittel zur Befriedigung des Begehrens – der zu gebende, minderpräferierte zwar, aber immer noch begehrte Gegenstand – noch nicht voneinander differenziert. In genau diesem Sinne sagt Simmel, dass im Grunde jeder Gegenstand eines Tausches, »in irgend einem Maße« die »Geldqualität« besitzt (ebd.: 121-22). Darin besteht der konstitutionstheoretisch erste Schritt der Objektivation des Tauschaprioris. Der konstitutionstheoretisch zweite Schritt besteht darin, die Wechselseitigkeit des Tauschverhältnisses zwischen den Gegenständen an einem eigenen Gegenstand herauszudifferenzieren. Er dient dann nicht mehr der Befriedigung eines gegenständlichen Begehrens. Symbol und Symbolisiertes, Mittel zum Erwerb der Ware und Ware sind innerhalb des materiellen Gegenstandsbereiches auseinandergegangen. Geld ist dann und genau dann und in dem Maße Geld, indem sich am konkreten, materiellen Gegenstand ausschließlich das vom geistigen Tauschapriori hervorgetriebene Verhältnis, also die Einheit der Wechselwirkung selbst, nicht aber die Elemente dieses Wechselwirkungsverhältnisses, objektiviert. Geld symbolisiert den Geist der Ökonomie; dafür steht es. So und nicht anders ist das folgende, längere Zitat Simmels zu verstehen: »Das praktische Bewußtsein aber hat die Form gefunden, um die Vorgänge der Beziehung oder der Wechselwirkung, in der die Wirklichkeit verläuft, mit der substanziellen Existenz zu vereinigen, in die die Praxis eben die abstrakte Beziehung als solche kleiden muß. Jene Projizierung bloßer Verhältnisse auf Sondergebilde ist eine der großen Leistungen des Geistes, indem in ihr der Geist zwar verkörpert wird, aber nur um das Körperhafte zum Gefäß des Geistigen zu machen und diesem damit eine vollere und lebendigere Wirksamkeit zu gewähren. Mit dem Gelde hat die Fähigkeit zu solchen Bildungen ihren höchsten Triumph gefeiert. Denn die reinste Wechselwirkung hat in ihm die reinste Darstellung gefunden, es ist die Greifbarkeit des Abstraktesten, das Einzelgebilde, das am meisten seinen Sinn in der Übereinzelheit hat; und so der adäquateste Ausdruck für das Verhältnis des Menschen zur Welt, die dieser immer nur in einem Konkreten und Singulären ergreifen kann, die er aber doch nur wirklich ergreift, wenn dieses ihm zum Körper des lebendigen, geistigen Prozesses wird, der alles Einzelne ineinander verwebt und so erst aus ihm die Wirklichkeit schafft.« (Ebd.: 137; Hervorhebung im Original)

Das ökonomische Leben ist, als Leben, aus sich heraus auf materielle Träger angewiesen, ohne sich in diesen erschöpfen zu können. Die Geldform wird zu der Form des ökonomischen Lebens im Sinne des Mehr-als-Lebens, innerhalb deren sich das Mehr-Leben partikularer Tauschakte zu bewegen hat, welche nun die Form des monetären Zahlungsaktes annehmen. Keine einzige Geldzahlung – kein Inhalt – erschöpft die Form des Geldes, weil Geld mehr ist als nur eine bestimmte Summe von Geldscheinen oder das Konto, über das Zahlungsvorgänge laufen; sondern Geld als

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Form meint Form im Sinne der den partikularen ökonomischen Tausch umfassenden Einheit, die sich an konkreten Gegenständen manifestiert und damit dem Individuum gegenübertritt.35 Simmel begreift Geld aus der Lebensfunktion des Austauschens, und diese Hypothese konzentriert Simmel in der Theorieform der »Doppelrolle des Geldes« (ebd.: 126; vgl. von Flotow 1995: 93-114).36 Darunter versteht Simmel eine explizit vitaldualistische Konzeption von Geld: Simmel unterscheidet einmal Geld in der Rolle eines »abstrakten Vermögenswertes« (PDG: 122; vgl. auch ebd.: 714-15) sowie, zweitens, die Rolle des Geldes »als sichtbarer Gegenstand« (ebd.: 122). Ersteres markiert die Form der umfassenden Einheit, letzteres die Form-Werdung in der Form der Individualität, der Partikularität, des Sichtbar- und Greifbar-Machens der Geldökonomie. Nur so kann das Individuum in eine Wechselwirkungsbeziehung mit der Wertform der Ökonomie treten, derer es bedarf, um ein Begehren zu stimulieren. Und – ganz im lebensphilosophischen Sinne – impliziert das Greifbar-Machen einen Widerspruch gegen die Reinheit oder den Idealtypus des Geldbegriffs, obgleich das sichtbare Symbol seine Bedeutung als Symbol aus dem abstrakten, nicht-sichtbaren Vermögenswert zieht. Anders gesagt: Genau dies – und nichts anderes – bedeutet es für Simmel, Symbol des Wertes zu sein. Konkret gesagt besteht der Widerspruch empirisch darin, dass das Geld als greifbares Symbol selbst Teil der Tauschbewegung wird: »Indem es die fragliche Relation mit ihren praktischen Konsequenzen verkörpert, erhält es selbst einen Wert, mit dem es nicht nur in das Tauschverhältnis zu allen möglichen konkreten Werten tritt, sondern mit dem es auch innerhalb jener ihm eigenen, jenseits der Konkretheit stehenden Ordnungen Relationen unter seinen Quanten anzeigen kann.« (Ebd.: 125)

Simmel konstatiert deshalb in einer wiederum sehr allgemeinen, keinen Inhalt vorgreifenden Form, dass aus »jener Doppelheit der Rollen – außerhalb und innerhalb der Reihen der konkreten Werte – […] unzählige Schwierigkeiten in der praktischen wie in der theoretischen Behandlung des Geldes [hervorgehen]« (ebd.: 125).

35 Geßner zeigt, dass und wie Simmels Symbolbegriff in genetischer Verwandtschaft zum Symbolbegriff Ernst Cassirers steht. Simmels Symbolbegriff deutet Geßner als die materiale Verkörperung eines sich nicht in der Materie erschöpfenden, überindividuellen Sinnes – »die Verknüpfung ideeller Bedeutung mit einem materiellen Substrat.« (Geßner 2003: 80) Zum Sinnlichkeitsaspekt des Geldsymbols bei Simmel vgl. auch die Ausführungen bei Schlitte 2012: 267-272. 36 Die Idee einer Doppelrolle könnte Simmel von Carl Menger haben (vgl. Menger 1892). Menger unterscheidet zwischen der Bewegung des inneren wie des äußeren Geldwertes. Beide sind Faktoren, die das faktisch wirksame Geldtauschverhältnis bestimmen. Der äußere Geldwert ist bei Menger die Kaufkraft des Geldes, bei der allein das Verhältnis der Waren untereinander schwanken kann. Der innere Geldwert ist der Einfluss des Geldpreises selbst auf das Austauschverhältnis. Dies sei, so Menger, »eine verhältnismäßig neue und, infolge gewisser festgewurzelter Vorurteile, dem populären Denken auch heute noch wenig vertraute Erkenntnis.« (Ebd.: 745) Den Hinweis auf Menger verdanke ich der Lektüre von Paul 2012: 113.

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In der konzeptionellen Anlage besteht bereits hier die Parallele zur Religion als Form der Wechselwirkung. Das religiöse Individuum objektiviert sich in einem Absoluten. Dieses tritt einmal, als Gott, dem religiösen Individuum gegenüber und mit ihm in Wechselwirkung. Zugleich aber umfasst die Form des Absoluten den gesamten Kosmos und unterwirft auch das religiöse Individuum seinen Gesetzen. Die Semantiken zur Bezeichnung der Funktionsstellen seiner Religionstheorie entnahm Simmel vorrangig der christlichen Ideengeschichte. Im Christentum, so meinte Simmel, habe das religiöse Leben zum geschichtlich ersten Male – annähernd – die ihm adäquate Bezugsform geschaffen. Dies ließe sich auch auf die Geldsemantik übertragen: Geld ist die Bezeichnung oder Semantik für die Form, welche sich die Evolution des tauschenden Lebens geschaffen hat. Als »abstrakter Vermögenswert« ist Geld die Form der Einheit der ökonomischen Wechselwirkungen, indem es das relationale Austauschbarkeitsverhältnis zwischen den Waren, d. h. den wirtschaftlichen Wert, ausdrückt – nicht mehr und nicht weniger. Als »abstrakter Vermögenswert« ist Geld neutral und geht nicht als eigener Vermögenswert in die Form des Tausches ein (vgl. von Flotow 1995: 94). Der Geldpreis einer Ware zeigt das Austauschbarkeitsverhältnis zwischen den Waren an. Die Geldform der Preisverschiebungen selbst besitzt aber keine eigene, inhärente Widerständigkeit (vgl. PDG: 242, 439 und Paul 2012: 111). Idealtypisch entspricht der konkret zu bezahlende Geldpreis dem quantitativen Anteil, den besagte Ware oder besagter Warenkorb innerhalb der Gesamtwarenmenge eines gegebenen sozialen Kreises besitzt (vgl. PDG: 141-42). Eine Ware oder Leistung mag ihrer Qualität wegen geschätzt werden, die Gründe individuellen Begehrens treten aber, wie schon gesagt, hinter der wechselseitigen, quantitativ bemessenen Wertkonstitution der Dinge zurück. Dies besitzt, ceteris paribus, folgende logische Implikation: Ändert sich der konkrete Preis einer Ware, so ist dies auf eine Veränderung innerhalb der Austauschbarkeitsrelationen zwischen den Waren zurückzuführen, aber nicht auf die WertVeränderung eines eigenwertigen Geldes (vgl. ebd.: 122-24). Die die Waren umfassende Form der Geldökonomie bleibt »in einer realen Abstraktion« (ebd.: 57). Dies schafft das Geld durch die Bereitstellung eines einheitlichen, auf Quantifizierung gestellten Maßstabes, welcher das wechselseitige Austauschbarkeitsverhältnis auch einander sehr heterogener Gegenstände ausdrücken kann (vgl. ebd.: 134-35). Quantifizierbarkeit ist die einzige Qualität des Geldes (vgl. ebd.: 340). Sie erlaubt es dem Geld erst, umfassende Formeinheit heterogener, ökonomischer Elemente zu sein. Dieser Beobachtung widmete Simmel das dritte Unterkapitel des »Zweckreihen«Kapitels innerhalb der »Philosophie des Geldes«. Die Deskription in Geldpreisen zeigt aber bereits eine innere Widersprüchlichkeit der Geldform an: Die quantifizierende Artikulation der Austauschbarkeitsverhältnisse in der Geldpreisform ist bereits ein Sicht- und Greifbarwerden von Ökonomie.37

37 Paschen von Flotow lokalisiert die Unterscheidung zwischen der Idealität des abstrakten und der Realität des konkreten Geldes auf der Zeitachse: Die abstrakte Idealform des Geldes sei zeitlos, die materiale Form zirkulierenden Geldes dagegen sei in der Zeit der Geldökonomie (von Flotow 1995: 96-98). Und in der Zeit habe das Geld dann reale, vom Idealtypus neutralen Geldes abweichende Auswirkungen, wie beispielsweise die Orientierung an absoluten statt an relativen Preisen (vgl. ebd.: 99-101). Dies ist richtig, aber inhaltlich

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Simmel zieht die Analogie zu den zu hörenden Tönen oder den Buchstaben einer Sprache, gleich einem Medium, in welchem der Tausch individualisierte Form annimmt (vgl. ebd.: 122). Ein triviales Beispiel für die praktische wie konkret wirksame Symbolisierungsfunktion des Geldes ist es, dass wir stets eine quantitativ begrenzte und dadurch bestimmte Geldsumme in der Tasche tragen oder als – ob digital oder analog – abbuchbares wie transferierbares Buchgeld auf dem Bankkonto haben. Diese Geldsumme gibt eine Tauschwahlfreiheit an die Hand, die Formwerdung geschieht aber eben in der Form quantitativer Begrenzung, und zwar zunächst und a priori unabhängig davon, wie konzentriert Geldvermögen empirisch sind. Würde eine Person oder eine Organisation alles besitzen, der Tausch würde zum Stillstand kommen. Als abstrakter Vermögenswert ist Geld die nicht-greifbare Einheit ökonomischer Wechselwirkungen, in der materiellen Konkretion des Geldsymbols wird die Relationalität verfügbar, aber, mit diesem Akt, quantitativ begrenzt. Lebensphilosophisch formuliert: Genau hier ist der Punkt, wo das Mehr-als-Leben der Form dem Leben einen Widerstand entgegensetzt und dadurch formiert. Diese Grenze ist aber zugleich Bedingung monetärer Freiheit. Nur in der Form der Form funktioniert Geld. Die vom Gelde gewährten Freiheiten variieren mit dem quantitativen Maß, welches dem Individuum zur Verfügung steht – gleichzeitig ›lockt‹ diese Freiheit aber auch als monetäres ›Versprechen‹. Das ökonomische Reich der Freiheit ist also nur ›peu à peu‹ zu erreichen, aber nicht vollständig (vgl. ebd.: 277). Materiell arme Menschen besitzen keine oder so gut wie keine Freiheit, solange ihr Ausgabeverhalten durch ihre Grundbedürfnisse inhaltlich determiniert ist (vgl. ebd.: 277-78). So mag denn eine spezifische Quantitätsform zu überwinden sein – durch die Ein- und Ausgabe von Geld, sei dies durch Transfers, Lohn- oder Kapitaleinkommen –, aber nicht die Geldform überhaupt. Über die Preise und Geldsymbolik wird Ökonomie wortwörtlich sichtbar. Empirisch kommen die unterschiedlichen, ausdifferenzierten Währungssysteme dem abstrakten Vermögenswert zumindest sehr nahe. Über die Einheit der Verrechenbarkeit von Tauschverhältnissen hinaus sagen Währungssysteme nichts über die konkrete materielle Beschaffenheit von Zahlungsmitteln (vgl. ebd.: 148-49). Währungen variieren aber im Außenwertverhältnis zueinander, sie besitzen selbst einen Preis (vgl. ebd.: 125-26). Sie besitzen dann nicht die Neutralität, wie es der reine Geldbegriff aus seiner Tauschfunktion her verlangt. Die Greifbar- und Sichtbarmachung der Realabstraktion der Ökonomie durch Münzen, Scheine und Geldkarten besitzt ihren Sinn in der synthetisierenden Vermittlung des Tausches zwischen Gegenständen, aber nicht im Konsum; genau dadurch aber wird mit dem ›Reinheitsgebot‹: dass das Geld bloß die Austauschbarkeit und deren Veränderungen zu symbolisieren habe, gebrochen. Die Realabstraktion der Ökonomie tritt dem Individuum in der Geldförmigkeit von Preisen, Scheinen, Münzen und Karten gegenüber, wird anfassbar. Dies ist zugleich die verkörperte Eigenständigkeit der Geldwirtschaft, mit der das Individuum dann in Wechselwirkung treten kann. Aber auch hier wieder mit dem Einschub: Diese Wechselwirkung funktioniert nur in der Form der Konkretion und des Singulären. Der Unterschied zur Religion markiert sich erneut darin, dass

verkürzend. Zumal von Flotow diesem in der Zeitdimension sich bewegenden Realtypus des Geldes nicht ohne weiteres den Fall des sich auch in der Sachdimensionen bewegenden »Wertplus« des Geldes einordnen kann (vgl. ebd.: 106-07).

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das Individuum aus der Ökonomie ausgeschlossen ist. Eine Parallele zur Religion kann darin gesehen werden, dass die differenzierten Währungsformen eine analoge Verkörperung ein und desselben Prinzips – des Tausches – darstellen, wie die unterschiedlichen Konfessionen mit ihren unterschiedlichen sozialen Organisationen und in unterschiedlicher Annäherung Verkörperungen ein und desselben religiösen Prinzips sind. Beide Male, sowohl im Falle der Religion wie im Falle der Wirtschaft, impliziert die strukturelle Position des Gegenübers eine Freiheit bei gleichzeitiger Bindung an die Eigenlogik der Form. In Kapitel 8.5 werde ich zeigen, dass die geldförmige Bindung an die Wirtschaft erst jene Restbindung des Lebens an die Ökonomie hervorbringt, die auf der anderen Seite die Eigenselektivität eines seinem eigenen Gesetz folgenden Individuums ›herauspresst‹. Die »Doppelrolle des Geldes« ist eine dualistische Form, deren inhaltliche Ausgestaltungen keine logischen Implikationen sind, man kann sie nicht deduzieren, aber auf erstere eben sinnhaft beziehen. Weitere inhaltliche Beispiele wären die »Produktionskosten« von Münzen und Scheinen, die »von Angebot und Nachfrage« abhängige Kreditgeldschöpfung durch Banken, die sich in der »Verzinsung«, also den Kosten für die Geldleihe, widerspiegelt (ebd.: 126). Notenbankpolitik kann einen Einfluss auf die Preisentwicklung nehmen, und bedingt durch Angebot und Nachfrage bestimmter Währungen kann deren Wechselkurs zueinander – also: der Geldpreis des Geldes – variieren (vgl. ebd.: 126, 184-93). Die Neutralität des Geldes vonseiten des abstrakten Vermögenswertes wird somit ein Stück weit durchbrochen. Auch der Umstand, dass das Geld um seiner selbst willen begehrt werden kann, liegt in diesem psychologischen Mechanismus des Greifbar-Machens begründet: Das Symbol wird mit dem Symbolisierten verwechselt. Ich greife dieses Thema später auf, weise aber darauf hin, dass meines Erachtens psychologische Erscheinungen wie die Gier nach oder der Geiz des Geldes für Simmel derivative, sekundäre Erscheinungen sind – sie sind Symptome, erfassen aber nicht, was es auf sich hat, wenn Simmel vom Geld als einem absoluten Mittel spricht (vgl. Kapitel 8.3.3 in diesem Buch). Weil das ökonomische Individuum im konkreten Falle einer Kaufsituation mit einem quantitativ eingepreisten Gut in Wechselwirkung steht, wirkt der quantitative Moment auch zurück auf die individuelle Psyche. Der Preis selbst wirkt in zunehmendem Maße handlungsmotivierend. Waren können das Begehren wecken, weil sie billig sind – und nicht vorrangig aufgrund ihrer anderweitigen Qualitäten (vgl. PDG: 540-541, 639). Und umgekehrt: Waren wirken attraktiv, weil sie besonders teuer sind – und wiederum: nicht vorrangig aufgrund ihrer anderweitigen Qualitäten (vgl. ebd.: 350). Aus der Epistemologie fehlender Übersicht über die Relativität der GüterWerte zueinander rührt eine Tendenz zur psychologischen Konzentration auf die absoluten, vor uns stehenden Preise (vgl. ebd.: 144-45, 182-83; von Flotow 1995: 99101; Paul 2012: 125-27). Die Vermehrung der materiellen Geldsumme durch – virtuelles oder physisches – Gelddrucken sollte idealtypisch keine Auswirkungen auf die Preisverhältnisse haben. Weil sich die Menschen an bestimmte Warenpreise gewöhnen, neigen sie dazu, Ware und Geldpreis miteinander zu identifizieren (PDG: 19091). Diese festen Gewohnheiten führen dazu, dass Menschen eine der Relativität der Preise angemessenen Erhöhung des absoluten Preises nicht ohne weiteres akzeptieren (vgl. ebd.: 191). Umgekehrt gelte ähnliches, nur in der Richtung der Preissenkung, für Verkäufer (vgl. ebd.: 191). Simmel versteift sich dabei nicht auf eine bestimmte Verhaltenshypothese infolge der Geldvermehrung. Individuen können infolge eines

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absoluten Mehr-Einkommens skeptisch gegenüber der Entwicklung eines nicht einsichtigen relativen Preisniveaus sein und deshalb, relativ gesehen, weniger Geld ausgeben als vorher. Sie sparen. Oder aber – genau andersherum – Leute geben infolge eines absoluten Mehr-Einkommens auch relativ gesehen mehr Geld aus. Die Sparquote geht dann zurück bzw. die Konsumquote herauf (vgl. ebd.: 191, 697). Die individuelle Psyche macht also einen Unterschied, sie verwischt das abstrakte Prinzip des geldvermittelten Tausches. Er ist nie Reinform. Das Lebensprinzip der Ökonomie setzt sich in Formen um, und in diesem Akt der Formwerdung kommt es zu sich selbst in Widerspruch. Das bedeutet nicht, die Annahme eines doch irgendwie wirkmächtigen ökonomischen Prinzips für obsolet zu erklären. Sondern in der Form des hier angeführten Dualismus von individuellem Leben und monetären Formungsarten ›lebt‹ das ökonomische Prinzip des Äquivalenten-Tausches. Es bedarf beider Seiten dieses Dualismus. Das war ein Grund dafür, warum Simmel die vollständige Lösung des Geldes von der Deckung durch Edelmetalle einerseits für unwahrscheinlich, andererseits für nicht ratsam hielt (»technisch untunlich«, ebd.: 193).38 Die Bindung der Geldpolitik an die natürliche Knappheit von Gold und Silber könne der Entwertung des Geldes durch politisch motivierte Geldemission und einem damit einhergehenden, drohenden Vertrauensverlust in das Funktionieren des Geldmaterials als Geld einen Riegel vorschieben (vgl. ebd.: 184-193).39 Andererseits, so Simmel, kompensiere der Wert des Edelmetalls für die fehlende Einsicht in die realen Austauschverhältnisse (vgl. PDG: 182-83). Damit Geld als Geld funktioniert, müsse es entsprechend so sozial organisiert werden, dass es noch nicht-monetäre Elemente enthält, seien diese Anteile auch gering. Auch hier kann eine Parallele zur Religion gezogen werden, denn auch diese behielt auf dem Umformungsprozess hin zu einer objektivierten Form »noch allenthalben gleichsam materielle Stücke jenes ihr Äußeren mit.« (DR: 113)40 Simmel selbst machte die entsprechenden Ausführungen allein zu dem Zweck der Demonstration, dass sich das Geld im Laufe der Geschichte von einer dem Material wegen begehrten Substanz entwickelt habe hin zu einem Trägermedium, dessen Materialität allein den Sinn hat, die Einheit des Tausches zu synthetisieren. Weil dieser auf ein Apriori im geistigen Leben zurückgeht, bezeichnete Simmel die stilisierte Linie der Geldevolution als »steigende Vergeistigung des Geldes«, wodurch »das Geld wirklich Geld« werde, »zu jenem wirklichen Ineinander und Einheitspunkte wech-

38 In diesem Sinne hielt Simmel den Wechsel zwischen ›Boom‹ und ›Bust‹ für das Symptom einer noch verbliebenen Unvollkommenheit der wirtschaftlichen Ordnung: »Und wenn die Kritiker der jetzigen Wirtschaftsordnung gerade ihr den regelmäßigen Wechsel zwischen Überproduktion und Krisen vorwerfen, so wollen sie damit doch gerade das noch Unvollkommene an ihr bezeichnen, das in eine Kontinuität der Produktion wie des Absatzes überzuführen sei.« (PDG: 680) 39 Das steht nicht in Widerspruch zu Simmels Annahme, dass natürliche Seltenheit oder Knappheit nicht den ökonomischen Wert determinieren. Die Restriktion der Geldemission durch die Rückbindung an natürliche Knappheiten soll die Funktionsfähigkeit des Geldes begründen, welches dann erst, in einem zweiten Schritt, die ökonomischen Werte misst. 40 Empirisch sollte Simmel jedenfalls Unrecht behalten. 1973 wurde der Goldstandard des bis dato geltenden Bretton Woods-Systems aufgelöst (vgl. Helleiner 2007).

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selwirkender Wertelemente, der nur die Tat des Geistes sein kann.« (PDG: 246) Diesem von der Theorie nachgezeichneten, analytisch herauspräparierten Prinzip könne sich das historische Leben jedoch nur ansatzweise nähern, da sich die Einheit des Lebens durch unterschiedliche, sich widersprechende Prinzipien auszeichnet, ja, das Leben als solches nur als widersprüchliches sein könne (vgl. ebd.: 193-98).41 Ich halte fest, dass die »Doppelrolle des Geldes« sich zwar in unterschiedlichen inhaltlichen Variationen zeigt, aber immer unter Zugrundelegung des gleichen, dualistischen Schemas, jenem von Leben und Form.

8.3 DIE TRANSZENDENZ DES GELDES Soll die »Philosophie des Geldes« ihrer simmelschen Intention nach als Philosophie genommen werden: die Seins-Einheit anhand eines gegenständlichen Teiles – dem Geld – zu deuten, muss der das Sein konstituierende Vitaldualismus am Geld materielle Wirklichkeit gewinnen. Dies bedeutet: Es muss bewiesen werden, dass und wie Simmel die Geldökonomie als einen selbsttranszendierenden Schöpfungsprozess deutet. Dies ist von fundamentaler Bedeutung, sollen die Formen des Sozialen und die Formen der Kultur als Formspezifikationen des allgemeinen Vitaldualismus letzten Endes – philosophisch und damit aber auch: der Sache nach – auf die umfassende Geldform zurückgeführt werden. Ich leite diesen Abschnitt ein mit einer stilisierten Auseinandersetzung mit aus der Sekundärliteratur entstammenden Kritik an Simmels »Philosophie des Geldes«. Die grobe Linie dieser Kritik verläuft so, dass sie Simmel das Übersehen einer geldwirtschaftlich induzierten Wachstumsfunktion der Ökonomie zur Last legt. Simmel erwähne zwar die Kapitalfunktion des Geldes, belasse es aber bei Erwähnungen und baue sie nicht zu einem System aus. Die Erwähnungen stünden also lose im Raum, ohne an ein diese systematisierendes Argument angeschlossen zu sein. Die Kapitalfunktion des Geldes ist dabei analytisch von der Konsumfunktion des Geldes zu unterscheiden. Geld wird verwendet zum Erwerb von Konsumgütern wie Autos, einem Stück Torte oder einem Paar Schuhe. Geld kann aber auch investiv verwendet werden, um durch seine Verwendung für Zwecke der Produktion einen Gewinn zu erzielen. Dies kann über den Erwerb von Finanzanlagen oder von physischen Produktionsgütern geschehen, durch die wiederum im besten Fall gewinnbringend Güter produziert werden können. Konsum und Investition können natürlich zusammenlaufen. Der Erwerb von Wohneigentum kann der eigenen Nutzung wie der parallel stattfin-

41 Dieser Punkt – das Dualistische in der Geldphilosophie Simmels – wird meines Dafürhaltens nach nicht zur Kenntnis genommen, wenn Simmel allzu vorschnell für eine Kritik am ökonomischen ›Mainstream‹ eingenommen wird, demzufolge Geld neutral sei (vgl. Paul 2012: 123-129). Denn das Abweichen vom Idealtypus neutralen Geldes war für Simmel zwar Realität, ebenso Realität war aber die Entwicklungsrichtung des Geldes auf ein rein neutrales Geld – auch wenn es nie dorthin kommen mag. Die Verselbständigung der Form aus dem Leben gehört für Simmel zum Leben dazu, gleichzeitig aber ist die Form ein Ausdruck oder eine Artikulation des (ökonomischen) Lebens. Die ›Nabelschnur‹ zwischen Form und Leben kann nie ganz durchtrennt werden.

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denden, ertragreichen Vermietung eines Teiles dessen dienen. Diese Unterscheidung zwischen konsumtivem und investivem Gebrauch hat Simmel in der Tat nie zu einem systematischen Argument oder einem relevanten Punkt gemacht.42 Explizite bis implizite Prämisse der hier vorzutragenden Kritik ist, dass ein zumindest nominales Wachstum bzw. eine Kapitalakkumulation für eine Geldwirtschaft oder eine kapitalistische Wirtschaftsordnung ein ganz wesentliches Ordnungs- und Orientierungskriterium darstellt, so dass deren Analyse diesem Ordnungs- und Orientierungskriterium Achtung zu schenken habe. Paschen von Flotow beispielsweise fasst die kapitaltheoretischen Einlassungen Simmels minutiös zusammen (vgl. von Flotow 1995: 101-106). Gleich zu Anfang seiner Zusammenstellung resümiert von Flotow aber bereits, dass Simmels »Äußerungen zu diesem Phänomen […] verstreut [seien] auf verschiedene Kapitel, ohne daß eine systematische Klärung erfolgt.« (Ebd.: 101) Eine Kritik an Simmels »Kapitalvergessenheit« findet sich auch in dem Aufsatz »The Coming Only is Sacred« von Rudolf Wolfgang Müller (2002). Zweck seines Aufsatzes ist der Erweis einer KoEvolution zwischen Geldwirtschaft einerseits und Zeitvorstellungen andererseits. Dem Titel gemäß geht es bei letzterem vor allem um die Vorstellung und das Konzept von Zukunft. Mit Verweis auf Simmel entwickelt Müller die Hypothese, dass derjenige erst wirklich über eine Zukunft verfügt – und zwar in dem doppeldeutigen Sinne des Habens und des Kennens – wer auch Geld hat. Die Verfügung über Zukunft variiere mit dem quantitativen Maß an Geld, welches man sein Eigen nennen kann (vgl. ebd.: 161). Je ärmer man ist, desto zeitlich vorherbestimmter sei die Verwendung des Geldes, so Müller (ebd.: 162). Dabei stolpert er über eine Passage Simmels, der zufolge die »praktische Notwendigkeit, den Zweck um eine dazwischen gestellte Mittelreihe weit von uns abzurücken, […] vielleicht die ganze Vorstellung der Zukunft erst hervorgebracht […] und damit dem Lebensgefühl des Menschen seine Form: auf der Wasserscheide zwischen Vergangenheit und Zukunft zu stehen, seine Ausdehnung und Beschränkung, gegeben [habe].« (PDG: 265; bei Müller 2002: 161)43

42 Paul Nolte sieht in dem Aussparen der Produktions- und der Hervorhebung der Konsumfunktion keine Eigenart Simmels, sondern einen typischen Zug von dessen Zeit (vgl. Nolte 1998: 245-46). Nolte sieht dies auch nicht als einen Mangel, sondern als Entdeckung der »Konsumgesellschaft«, parallel zur gewandelten »Einstellung gegenüber den Dingen als Waren« (ebd.: 246). Die Beobachtungen Noltes sind aber nicht zutreffend, und dieser Irrtum ist nicht bloß peripherer Natur. Denn am ›Anfang‹ war die Subsistenz, die Produktion für den Selbstverbrauch. Am ›Ende‹ steht die Ausdifferenzierung der über Geld vermittelten Produktion und Konsumtion. Nicht peripherer Natur ist diese Annahme des Verkennens der Produktion, weil die Verselbständigung der Produktion gegen ihre Schöpfer für Simmel Bedingung der Ausdifferenzierung der Ökonomie ist (vgl. PDG: 53). 43 »Ausdehnung und Beschränkung« – ähnlich formulierte Simmel das religiöse Apriori als Einheit der Unterscheidung »zwischen grenzenlosem Sich-Erweitern und Gepreßtheit des Lebens, das sich nirgendwohin entladen kann« (DR: 89). Beide Formulierungen entsprechen meines Dafürhaltens nach den vitaldualistischen Prinzipien des Mehr-Lebens und dem Mehr-als-Leben. Die zuerst genannte Textpassage ist ein Beweisstück für die von mir

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Das Geld trete zwischen den Menschen und die Waren, und dieses ›Dazwischen‹ differenziere die Zukunft aus als sich dem Individuum noch entziehende, aber, ebenfalls mittels Geld, zu erreichende Vorstellung. Darin liegt der Unterschied zur Unmittelbarkeit eines zeit- und geldvergessenen Wirtschaftens (vgl. ebd.: 161-62). Was sich im Übrigen – ohne dass Müller dies erwähnt – mit der Theorie Simmels deckt, dass es ohne eine sich zwischen Begehren und Befriedigen schiebende Differenz zu keinem Wirtschaften komme. Müller bemerkt Ähnlichkeiten in den Formulierungen und Gedankengängen Karl Marx’ mit denen Georg Simmels. Er kommt aber zu dem Schluss, dass Simmel im Gegensatz zu Marx allein die Konsumfunktion des Geldes gesehen habe, nicht aber seine Funktion als Kapital, d. h. als Investitionsmittel, das in Forschung und neue Technik investiert wird, um in der Zukunft einen Mehr-Wert zu schöpfen (vgl. ebd.: 163, 165). »Nicht gesehen« ist ebenso wie bei von Flotow nicht gleichbedeutend mit dem Einwand, Simmel lasse die Semantik von »Kapital« und »Geldkapital« unberücksichtigt, sondern dass er die Kapitalfunktion »in keiner Weise erörtert« (Müller 2002: 163). Simmel liefere keine Theorie darüber, was sich auf der Ebene des Unternehmens oder im Arbeitsprozess abspielt, und damit verkenne er »das dynamische Potenzial der kapitalistischen Gesellschaft, unter Einschluss ihres Destruktivitätspotenzials.« (Müller 2002: 165). In eine ähnliche Stoßrichtung wie von Flotow und Müller zielen auch Christoph Deutschmann (2008) und Axel T. Paul (2012). Deutschmann meint, unter anderem mit Beruf auf Simmels »Philosophie des Geldes« die religiöse Natur kapitalistischen Wirtschaftens aufzeigen zu können. Kapitalismus sei Religion, sofern sie eine allmähliche, über die Umwälzungsprozesse technologischer Innovationen vermittelte Einlösung des Geldversprechens auf die Verfügbarkeit »der kollektiven Potentiale der Gesellschaft« sei (Deutschmann 2008: 24). Simmel habe zwar gesehen, dass und wie Geld kein neutrales Medium bleibe, sondern aufgrund seiner Eigenschaften als vergleichsweise beliebigen Zwecken dienliches Medium einen Eigenwert entwickele (vgl. ebd.: 41-54). Nicht aber habe er die für den kapitalistischen Reproduktionsprozess notwendige Kapitalfunktion des Geldes gesehen, wonach Geld aus sich heraus gewinnbringend – bzw. unter Erwartung von Gewinn – investiert werden müsse, um das Geldversprechen auf Allverfügbarkeit praktisch einlösen zu können (vgl. ebd.: 47). Axel T. Paul versucht, ausgehend von systemtheoretischen Prämissen luhmannscher Provenienz, das Funktionssystem Wirtschaft primär als Geldwirtschaft zu beschreiben und durch dem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium Geld eigene Attribute eine Vorrangstellung der Wirtschaft zu begründen (vgl. Paul 2002; 2012). Hier liegt ersichtlich eine Parallele zu Simmel, und Paul greift in seinem Argument auch auf weite Teile der »Philosophie des Geldes« zurück. Simmel habe zwar die Besonderheit des Mediums Geld im Unterschied zu anderen symbolisch generalisierten Medien, wie Macht oder Wahrheit, hervorgehoben. Weder gesehen noch begründet hätte Simmel es allerdings, so Paul, dass der durch einen – nominalen oder realen – monetären Mehr-Wert zu erwirtschaftende Geldzins es sei, welcher unabhängig von dem Profitbegehren einzelner einen Druck zu fortwährendem Wirt-

in dieser Arbeit vertretene Hypothese, dass das Geld die Einheit von Leben und Form verkörpert.

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schaftswachstum ausübe (vgl. Paul 2012: 128-29, 239).44 Das Geld erzeuge eine gewissermaßen die anderen Funktionssysteme zu sich hin ziehende, zentripetale Dynamik. Der Vorwurf Pauls gegenüber Simmel trifft bedingt zu. Ein aus dem Zinsprinzip begründeter Wachstumsimperativ der Ökonomie und damit – im Schlepptau – der Gesellschaft als ganzer spielt bei Simmel praktisch keine Rolle. Simmel sah das Geld sehr wohl und explizit als eine schöpferische »Produktivkraft« (PDG: 200), welches mit laufender Evolution »lebendige Funktion« werde, die sich in der wirtschaftlichen »Produktion« objektiviere (ebd.: 222). Den Zins verstand Simmel als die legitimen Kosten (»die natürlichen Früchte des Kapitals«, ebd.: 221) für die durch Kredit an die Hand gegebene Produktivkraft des Geldes (vgl. ebd.: 126, 200-201, 221-222, 499). Aber es stimmt, dass das Zinsprinzip kein zentrales Element innerhalb der Argumentation Simmels ist. Der hier in stilisierter Form vorgetragenen Kritik ist gemeinsam, dass sie Simmels »Philosophie des Geldes« eigentlich als durchweg positiven und konstruktiven wissenschaftlichen Beitrag rezipieren. Das macht sie zu einer umso wichtigeren Quelle der Schärfung des simmelschen Argumentes. Denn der vorgeführten Kritik ist ebenso gemeinsam, dass sie die »Philosophie des Geldes« nicht als Philosophie liest und genau deshalb eine Systematik aus ihr herauszuziehen erwartet, die Simmel als Philosoph nie zu liefern beanspruchte. Wie ernst Simmel ausschließlich die philosophische Intention war, zeigt ein Brief an Gustav Schmoller. Schmoller verfasste eine – bei Kritik im Detail – alles in allem lobende Rezension über die »Philosophie des Geldes«. Simmels Buch, so Schmoller, bedeute »einen erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt«, an den »jeder künftig anknüpfen müssen [wird], der die allgemeine Bedeutung der Geldwirtschaft erörtern will.« (Schmoller 2003: 297) Schließlich kündigte Schmoller an, sein eigenes, bereits fertiges Buch »nach den Resultaten Simmels modifizieren« zu wollen (PDG: 299).45 Für Schmoller lag der Schwerpunkt von Simmels Buch in der Studie der Rückwirkungen der Geldwirtschaft auf Individuum, Gesellschaft und Kultur (vgl. Schmoller 2003: 282, 297-298). Er erkennt zuweilen auch einen selbstreflexiven Moment Simmels in der »Philosophie des Geldes« (Schmoller 2003: 298). Unabhängig von der Beantwortung der Frage, wie nahe Schmoller der von Simmel intendierten Anlage des Buches als Philosophie kam, zeigt ein Brief Simmels an Schmoller, dass Simmel die Rezension Schmollers vorrangig als eine auf die Sache gehende, fachwissenschaftliche »Prüfung vom Standpunkt des Nationalökonomen u Historikers« verstanden habe – über dessen Bestehen er dann auch »sehr froh« sei (zitiert aus Schullerus 2000: 224). Er dankte Schmoller

44 Paul liest Simmel allerdings ungewöhnlich gutwollend. Simmels »Wertplus« (vgl. PDG: 267-70) – Geld ist die Verkörperung abstrakter Wahlfreiheit und gewinnt deshalb einen in der konkreten Tauschsituation zu berücksichtigenden Eigenwert – interpretiert Paul als ideengeschichtlichen Vorläufer der Geldtheorie des Ökonomen John Maynard Keynes und der von diesem entwickelten Hypothese von der sogenannten »Liquiditätsprämie« des Geldes – jenem Preis, den Individuen zu zahlen bereit sind für die mit einer »Verfügungsmacht« verbundene »Annehmlichkeit oder Sicherheit« (Keynes 2006: 190). 45 Was er denn auch in dem zweiten Band seines »Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre« tat. Vgl. dazu die entsprechende Stelle bei Schmoller 1904: 98-99. Der explizite Bezug auf Simmel ist auf Seite 98 zu finden.

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für sein Urteil »als ein ganz unerwartetes Geschenk«, denn: »[M]eine Absicht ging ausschließlich auf Philosophie.« (Zitiert aus ebd.: 224) Ein philosophisches Urteil sah Simmel in Schmollers Rezension offensichtlich nicht. Will man Simmels eingestreute Bemerkungen zum Zins, der Kapitalfunktion des Geldes, zum Wachstum oder zur Unterscheidung von Kapital und Arbeit korrekt einordnen, so gelingt dies dann und nur dann, wenn man sie als Elemente innerhalb des philosophischen Denkens Simmels betrachtet. Der die Inhalte neu sortierende Rahmen ist die dualistische Einheit von Leben und Form, bzw.: die Selbsttranszendenz des Lebens. Innerhalb dieses Rahmens, so meine These, lassen sich Simmels Bemerkungen zur Schöpfungskraft des Geldes angemessen so einordnen, dass sie Sinn ergeben. Zu diesem Zweck werde ich in einem ersten Schritt auf die nähere, phänomenologische Ebene des Schöpfens und Wachsens der Geldwirtschaft eingehen. In einem zweiten Schritt (vgl. Kapitel 8.3.1 und 8.3.2 in diesem Buch) werde ich mich an einer am Dualismus von Leben und Form orientierten Erklärung der Schöpfungspotenz des Geldes versuchen. Zum Schluss versuche ich, Simmels Formel vom Geld als absolutem Mittel und absolutem Zweck religionsphilosophisch zu reformulieren als Einheitsform des Lebens, welche jedes partikulare Zweckhandeln anzunehmen hat (Kapitel 8.3.3 in diesem Buch). Zunächst einmal könnte man mit Simmel versucht sein, »Wachstum« aus seinem engen ökonomischen Zusammenhang zu befreien und in einem breiten, lebensphilosophischen Sinne zu verstehen als »Mehr-Leben«, wie man dann auch »MehrLeben« als »Mehr-Wert« interpretieren könnte. Intuitiv mag das nahe liegen. In der »Wendung zur Idee« in der »Lebensanschauung« stehen die Objektivation und das dieser zugrundeliegende schöpferische Leben zusammen in einem »Wachstumszusammenhang« (LA: 296). Gegen Ende des ersten Kapitels von »Wert und Geld« der »Philosophie des Geldes« sagt Simmel denn auch ganz in diesem Sinne, dass das individuelle Leben den ökonomischen Wert in der Form des Tausches in die Verselbständigung entlässt, um »eine größere Anzahl und Intensität« an »Genuß« zu erhalten (vgl. PDG: 53). Dies war bereits weiter oben Gegenstand meiner Überlegungen. Im Kapitel »Die Transzendenz des Lebens« werden »Zeugung und Wachstum« (LA: 221) bzw. »Wachstum und Zeugung« (ebd.: 221) zusammen genannt. Sie stehen für das charakteristische Sich-Selbst-Überschreiten des Lebens. Die »physiologische Selbsterhaltung« bedarf der kontinuierlichen »Neuerzeugung« von Leben (ebd.: 229). Darunter versteht Simmel womöglich die Zellreproduktion von Organismen. Andererseits versteht Simmel unter »Mehr-Leben« ausdrücklich kein quantitatives Mehr dieses Lebens in einem substanziellen Sinne. Das Quantitätsmaß – wie auch immer man dies messen mag, beispielsweise in Volumina vorhandener Substanz – sei und bleibe stabil. Sondern, so Simmel, »Leben ist die Bewegung, die auf jedem ihrer Abschnitte, auch wenn dieser, mit anderen verglichen, ein ärmlicherer, herabgesetzter ist, doch in jedem Augenblick etwas in sich hineinzieht, um es in ihr Leben zu verwandeln.« (Ebd.: 229) Aber Simmel sagt – darauf komme ich gleich zurück – auch in der »Philosophie des Geldes«, dass eine Mehr-Wertproduktion bei objektiver Energiekonstanz kein Widerspruch ist. Simmel greift in der »Lebensanschauung« noch häufiger auf das aus dem Bereich der Biologie stammende Vitalvokabular von Wachstum und Zeugung zurück, und dies darf sicher nicht überraschen. Noch das »individuelle Gesetz« formuliert Simmel in Ablehnung jeder Teleologie, stattdessen aber in Anlehnung an die Biologie der Pflanzenwelt als ein »Wachsen aus eigener

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Wurzel« (ebd.: 415), er spricht »von dem aus eigener Wurzel wachsenden Leben« (ebd.: 419). »Wurzel«, »Wachstum« und »Leben« bilden auch gehäuft auftauchende semantische Komponenten der »Kulturtragödie« von 1911. Dort beispielsweise auch im Negativen, wenn Simmel die Unfähigkeit des Lebens, die produzierte Sachkultur zum Element der eigenen Individualitätsentwicklung zu machen, mit der Unfähigkeit des kranken Körpers zur Aufnahme von »Nahrungsmitteln« vergleicht, »aus denen der gesunde [Körper] Wachstum und Kräfte gewinnt.« (TDK: 205) Meines Erachtens bilden Leben und Wachstum bei Simmel einen metaphysischen Zusammenhang. Als Entelechie ist das Leben aus sich heraus Einheit. Die Einheit ›an sich‹ ist aber nicht sichtbar – wie Wurzeln unter der Oberfläche. Und trotzdem ist es diese Einheit oder sind es diese Wurzeln, die der Individualität die Richtung – das Gesetz – seines Lebens geben, welche dann – wenn man die Metapher einer Pflanze weiterdenkt – gleichzeitig die Wachstumsrichtung dieses Lebens ist. Unter dem »substanziellen Fortschritt der Kultur« und dem »funktionellen Fortschritt der Kultur« versteht Simmel Einrichtungen, mittels deren die Ökonomie aus einem Null-Summen-Spiel des Besitzwechsels einen allseitigen Mehr-Wert schafft, und dies unter der Voraussetzung endlicher Ressourcen (PDG: 385). Der Fall eines ökonomischen Null-Summen-Spiels sähe so aus, dass »die Bedürfnisbefriedigung des Einen nur auf Kosten des Anderen erfolgen kann.« (Ebd.: 383) Diese Annahme, so Simmel, ließe sich über die Ökonomie hinaus generalisieren derart, dass »das Quantum der der Menschheit beschiedenen Werte […] ein seiner oder ihrer Natur nach unveränderliches« sei (ebd.: 383). Die erste Möglichkeit – der »substanzielle Fortschritt der Kultur« – besteht nach Simmel nun darin, den »Kampf gegen den Mitmenschen« um knappe Ressourcen in den »Kampf gegen die Natur« umzuwandeln (ebd.: 384). Einmal weicht der Mensch dem interindividuellen Streit aus auf bis dahin noch nicht genutzte Ressourcen, wie beispielsweise unbearbeitete Felder. Individuen können aber unabhängig von letzterem effizientere Produktionsweisen entwickeln. Auf diese Weise werde die gleiche Menge insgesamt quantitativ begrenzter Ressourcen besser ausgenutzt. Bemerkenswert ist, dass sich Simmel hierbei auf den bereits im 19. Jahrhundert ausformulierten Energieerhaltungssatz stützt, wonach die Energie innerhalb eines geschlossenen Systems unveränderlich bleibt (vgl. ebd.: 384). Der Energieerhaltungssatz gelte zwar für »das absolute Ganze der Natur« (ebd.: 384). Auf den Teil des Ganzen bezogen sei durch technischen Fortschritt aber eine »ins unbestimmte« gehende Produktionssteigerung möglich (ebd.: 384). »Substanziell« nennt Simmel die hier genannte Strategie, da es hier gerade um den Ausbau bzw. die Transformation der ökonomischen Beziehung zur Natur geht, um die zwischenmenschliche Komponente der Ökonomie vom Streit zu entlasten. Innerhalb der interindividuellen Beziehungen der Wirtschaft gelingt die Entlastung von einem konfliktbehafteten Null-Summen-Spiel des Besitzwechsels dem Geld. Ein einmal institutionalisiertes Medium Geld bringt zwei Individuen in eine Tauschbeziehung zueinander, der beide aus freien Stücken zustimmen, weil aus beider Sicht jeweils der Wertgewinn den Wertverlust übersteigt. Simmel unterscheidet den geldvermittelten Austausch von nicht-monetär vermittelten Formen des Tausches. Die ursprüngliche Vorform des Tausches sind »Raub und Kampf« (ebd.: 388). Aus diesen evolutionären Vorformen des Austausches könne nur eine Seite einen Mehr-Wert ziehen, sie sind also asymmetrisch angelegt. Friedlichere, aber noch nicht monetarisierte Formen des Austausches besitzen aber gleichermaßen

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die genannte Asymmetrie. Simmel denkt hierbei an den »Naturaltausch« (ebd.: 388). Er ist asymmetrisch, weil der Tausch nicht paritätisch die Individualität des Begehrens auf beiden Seiten zu berücksichtigen vermag. Einmal sei die wechselseitige Messbarkeit der Gegenstände aneinander eingeschränkt durch deren unterschiedliche, materielle Dividierbarkeit. Andererseits würden im Naturaltausch »selten« auf beiden Seiten »gleichmäßig erwünschte Objekte« getauscht (ebd.: 388). Es bedürfe des Zwangs oder einer – von Simmel nicht näher definierten – Überkompensation, damit der Tausch trotzdem vonstattengehe (vgl. ebd.: 388). Dies ist die Wiederholung der Koinzidenz der Bedürfnisse. Simmel nutzt dieses Modell, um konträr dazu die Leistung des Geldes sichtbar zu machen. Geld schafft die Tauschwertäquivalenz durch Berücksichtigung der freien Individualität auf beiden Seiten des Tausches: Mit dem monetarisierten Tausch erhält der eine gegen die Gabe von Geld ein bestimmtes Produkt, was er »ganz speziell braucht«, der andere erhält mit dem Geldsymbol ein Medium, »was jeder ganz allgemein braucht« (ebd.: 388; Hervorhebung PB). Weil Geld in seiner Verwendung unbestimmt ist, ist es der individuellen Bestimmbarkeit offen. Geld kann man immer brauchen. Diese Unbestimmtheit beruht auf der zeitlichen, räumlichen, sachlichen wie sozialen Generalisierung des Geldes. Geld verwirklicht das ideale Prinzip des Tausches (vgl. ebd.: 130, 387-89). Beide am Tausch beteiligten Individuen erfahren eine subjektive Mehr-Wertproduktion (vgl. ebd.: 387). Dieses Wertewachstum ist auch in einer statischen, durch faktische Mengenbegrenzung gekennzeichneten Ökonomie möglich. Jeder erhält, was er vergleichsweise mehr begehrt. Gemäß dem Pareto-Optimum könnte man den geldvermittelten Tausch dann als Allokationsfunktion bezeichnen, in der eine materiell gleich bleibende Menge solange gemäß dem individuellen Begehren vertauscht wird, bis sich keiner mehr besser stellen kann, ohne andere schlechter zu stellen.46 Simmel nennt das allein durch Tausch-Allokation hervorgebrachte Wachstum »ein interzellulares Wachstum der Werte.« (Ebd.: 387) Diese Form ist analytisch zu unterscheiden von dem bereits erwähnten, durch technische Innovation bedingten Produktivitätsgewinn gegenüber der Natur, der den zwischenmenschlichen Konflikt um Ressourcen entschärft. Technische Innovationen öffnen einen größeren Anteil des gegebenen Materials für eine ökonomische Verwertung. Ein und dieselbe Substanz werde »in immer feinere Teile zu immer spezielleren Nutzungen zerlegt«, so Simmel (ebd.: 384-85). Simmel nennt dies – wie schon gesagt – den »substanziellen Fortschritt der Kultur« (ebd.: 385). Er ist gewissermaßen die technische Voraussetzung, aber auch Folge einer arbeitsteiligen Konkurrenzvermeidung um endliche Ressourcen. Nicht technologische Innovationen per se sind das Neue des im 19. Jahrhunderts anbrechenden Industriezeitalters, sondern die Etablierung eines dauerhaften und beschleunigten Pro-Kopf-Wachstums ökonomischer Wertschöpfung. Technologische Veränderungen vollzogen sich bis dahin langsam und kaum wahrnehmbar über die Generationen hinweg (vgl. Berger 2006: 218). Zudem sind Produktivitätserhöhungen bis zu der in England um 1780

46 Zum Pareto-Optimum vgl. die knappen Erläuterungen in Mankiw/Taylor 2016: 250. Um eine »Pareto-Verbesserung« handelt es sich dann, »wenn eine Umverteilung der Ressourcen mindestens einen ökonomischen Akteur besser stellt, ohne einen anderen ökonomischen Akteur schlechter zu stellen.« (Ebd.: 250; Hervorhebung im Original)

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Fahrt aufnehmenden industriellen Revolution durch Bevölkerungswachstum neutralisiert worden (vgl. Prescott 1998: 526). Deutlicher noch aber hebt Simmel die konfliktentschärfende Wirkung des Geldes hervor – »den funktionellen Fortschritt [der Kultur]« (PDG: 385). Diese Deutlichkeit rührt aus der expliziten Parallele zur Nicht-Knappheit des religiösen Seelenheils, die Simmel zieht. Erinnern wir uns: Nach Simmel ist jedes religiöse Individuum von Gott dazu aufgefordert, seine Individualität zu realisieren (vgl. DR: 98-99). Dem Prinzip nach kann jemand sein und nur sein »individuelles Gesetz« befolgen, ohne dadurch andere daran zu hindern, die mit ihrer Existenz objektiv gegebene, eigengesetzliche Individualität zu realisieren. Eine Konkurrenz um das individuelle Seelenheil hat Simmel stets ausgeschlossen. Dies gilt selbst für Prädestinationslehren, denen zufolge der Platz in Gottes Reich begrenzt ist, jedoch aus anderen Gründen.47 »Fast allein auf religiösem Gebiet«, so Simmel, »können die Energien der Einzelnen sich voll ausleben, ohne miteinander in Konkurrenz zu geraten, weil nach dem schönen Worte Jesu für alle Platz in Gottes Hause ist.« (Ebd.: 82) Die Konkurrenzsituation ist es nach Simmel, die die Spezialisierung der Individuen über das ihrer Eigengesetzlichkeit gemäße Maß hinauszutreiben droht: »Was die Religion befähigt, das Besonderssein der Menschen, das Nebeneinander ihrer Mannigfaltigkeit in einem Reiche der Vollendung darzustellen, ist das Ausbleiben der Konkurrenz.« (Ebd.: 103; Hervorhebung im Original) In der Religion sind die religiösen Individuen vor Gott gleich, sie stehen in unmittelbarer Beziehung zu ihm. Und insofern alle religiösen Individuen darin gleich sind, kommen sie in der religiösen Beziehung zum Absoluten zu einer idealen Einheit ohne die Interdependenzen des Sozialen (vgl. ebd.: 94). Empirisch kam die kirchliche Vergemeinschaftung dieser idealen Einheit nahe (vgl. ebd.: 80). Dies war bereits Thema von Kapitel 7.2.6 dieses Buches. Der Verdrängung des zwischenmenschlichen Kampfes um Ressourcen durch die beidseitige MehrWertproduktion des geldvermittelten Tausches gelingt nun Ähnliches: »Je mehr die Werte in solche objektive Form übergehen, um so mehr Platz ist in ihnen, wie in Gottes Hause, für jede Seele.« (PDG: 386; Hervorhebung PB) Die Objektivation des Tausches durch das Geld, so Simmel weiter, verhelfe »dem geschichtlichen Prozeß zu seinem vielleicht edelsten, veredelndsten Ergebnis […], zu dem Aufbau einer Welt, die ohne Streit und gegenseitige Verdrängung aneigenbar ist, zu Werten, deren Erwerb und Genuß seitens des einen den anderen nicht ausschließt, sondern tausendmal dem anderen den Weg zu dem gleichen öffnet.« (Ebd.: 386; Hervorhebung PB)

47 In Prädestinationslehren macht das individuelle Verhalten keinen Unterschied im Hinblick auf das Jenseitsschicksal, so jedenfalls Simmels Argumentation. Webers Protestantismusstudie liegt die These zugrunde, dass die kaum zu ertragende Unkenntnis des individuellen Heilsschicksals in der Praxis dazu trieb, die Bewährung im Beruf zum Zeichen der eigenen Auserwähltheit zu deuten. Ich verweise auf die Ausführungen in Kapitel 9.2 in diesem Buch. Möglich, dass Simmel den Idealtypus der Prädestination von dessen historischen Realtypus unterschied und allein ersteren in seiner soziologischen Theorie der Konkurrenz berücksichtigte.

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Diese Eigentümlichkeit teilen nach Simmel zwar auch die anderen Kulturformen. Literatur und Wissen gehen nicht verloren, weil andere sie sich aneignen. Es handelt sich um keinen begrenzten Vorrat, dem entnommen wird (vgl. ebd.: 386). Die Evolution der Geldwirtschaft bildet nach Simmel aber »die bisher vollendetste Form für die Lösung dieses Kulturproblems, das sich über den einseitigen Vorteil des Besitzwechsels hinweg erhebt« (ebd.: 388; Hervorhebung PB). Für den Vergleich von Geld und Gott ist die primäre und vorrangige Frage die nach einer funktionalen Äquivalenz: Inwiefern ist eine bestimmte Lebensform in der Lage, das religiöse Begehren zu befriedigen? Was für Simmel die Religion zur Religion machte, war ja das dieser Lebensform konstitutiv zugrundeliegende religiöse Apriori. Dessen Funktion bestand in der empirischen Ausformung einer idealen Einheit von Leben und Form, als Form des »individuellen Gesetzes«. Simmel reduzierte Religion ausdrücklich nie auf eine inhaltliche Ausprägung. Die rigide Dogmatizität etablierter Glaubensanstalten war eher Symptom einer kulturellen Sklerotisierung. Sondern umgekehrt bemaß er die sozialen Realisierungen der unterschiedlichen Stammesreligionen, Konfessionen und Sekten daran, wie nah oder fern sie dem religiösen Ideal stehen bzw. gestanden haben48. Und genau hier weist die Konstellation geldvermittelten Tausches bedeutsame Ähnlichkeiten zum religiösen Funktionsprinzip auf. Dass der Tausch gegen Geld eine beidseitige Wert-Steigerung bedeutet, beruht auf jenen schon genannten Attributen des Geldes, die ihm Simmel zufolge nicht nur einen Eigenwert, sondern auch – was analytisch gesehen bereits einen Schritt weiter geht – eine »psychologische Formähnlichkeit« zur Gottesvorstellung verleihen (ebd.: 306). Man tauscht gegen Geld, weil man Geld immer gebrauchen kann. Und Geld kann man stets gebrauchen, weil es beliebige Wege in der Verwendung eröffnet. Und – mindestens ebenso wichtig – gilt nach Simmel das Umgekehrte: Fast beliebige Wege führen zum Geld (vgl. ebd.: 410-414). Simmel spricht hierbei von einem Spiegelungsverhältnis zwischen den diametral entgegenlaufenden Richtungen (vgl. ebd.: 414). Ihre sozialformative Korrelation findet diese Struktur des Geldes in der arbeitsteiligen Differenzierung nach Produktion und Konsumtion, die inhaltlich gleichwohl offen steht. Diesen Aspekt greife ich in Kapitel 8.5.3 dieses Buches auf. Bis hierhin ist allein wichtig, dass Geld wie Gott eine ideale Einheit darstellen, was die Ermöglichung der Koinzidenz nicht nur inhaltlich ganz unterschiedlicher, sondern vor allem: eigengesetzlicher Lebensgestaltungen ermöglicht. Auch darauf weist Simmel bereits in der »Philosophie des Geldes« hin (vgl. ebd.: 397-98, 402, 418-19). An dieser Stelle liegen zwei Einwände nahe, denen ich mich erst später detaillierter zuwenden werde. Denn eine herausdifferenzierte Geldwirtschaft ist sowohl durch Konkurrenz als auch durch Arbeitsteilung gekennzeichnet. Geld ist nach Simmel institutionalisierte Interdependenz der individuellen Bedürfnisbefriedigung. Die religiöse Beziehung zu Gott dagegen steht ganz im Zeichen einer vollständig aus Interdependenzbeziehungen gelösten Verwirklichung des individuellen Gesetzes. Insofern besteht also eine ganz diametral entgegengesetzte Verlaufsrichtung. Von dieser Seite her stehen sich Wirtschaft und Religion als entgegengesetzte Gebilde gegenüber, deren Logiken sich zuwiderlaufen, aber keine Form funktionaler Äquivalenz erlauben.

48 Freilich nachdem Simmel aus den unterschiedlichen inhaltlichen Religionen auf ein diesen zugrundeliegendes, transzendentales Apriori geschlossen hat.

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Ich begnüge den Leser an dieser Stelle mit zwei Hinweisen: Einmal, dass die empirische Ausdehnung sozialer Beziehungen auch in die religiösen Wechselwirkungszusammenhänge arbeitsteilige Differenzierung als auch Widerstreit hineinbringen. Die Durchsetzung religiöser Prinzipien realisiert sich in Vergesellschaftung, gerät im Maße ihrer Ausdehnung zugleich jedoch in einen Widerspruch mit den Eigengesetzlichkeiten des Sozialen. Die Artikulation des Lebens in Formen widerspricht jenem Leben, was zur Artikulation in Formen drängt. Die Abweichung ist der lebensphilosophisch erwartbare Normalfall, sozusagen. Dann, zweitens, betont Simmel einen eigenartigen Zug an der arbeitsteiligen Differenzierung in der Geldwirtschaft. Zwar sei man von immer mehr Menschen abhängig – dies ist ihr quantitativer Aspekt –, dafür wandelt sich aber die Form – die Qualität – der Abhängigkeitsverhältnisse. Sie werden abstrakt, weil sie geldförmige Gestalt annehmen. Geld (er-)löst vom konkreten Gegenüber – dem »Du«. Meine später noch weiter zu vertiefende These wird es also sein, dass die Geldwirtschaft im Maße ihrer Realisierung der Tendenz nach auf eine ähnliche Struktur hinsteuert, wie es die Religion vermag, wenn sie sich sozial-empirisch ausdehnt. Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen und entwickeln sich aufeinander zu: Die Geldwirtschaft nähert sich der religiösen Konstellation an, die Religion entfernt sich mit zunehmender Ausdehnung von dieser. Ich komme nun zum Verhältnis des »substanziellen« und des »funktionellen Fortschritts der Kultur«. Beide verknüpft Simmel, indem er die zukünftige Verteilungsmenge in Abhängigkeit stellt von der gegenwärtigen Form der Verteilung einer bestimmten gegebenen Menge: »Je nach den Händen, in die seine Teilquantitäten gelangen, wird es sich zu äußerst verschiedenen wirtschaftlichen Ergebnissen weiterentfalten. Der bloße Übergang von Gütern aus einer Hand in die andere kann das aus ihnen entwickelte Güterquantum in der Folgezeit erheblich nach oben wie nach unten modifizieren.« (Ebd.: 389)

Manche wirtschaften mit einem bestimmten Kapitalstock besser als andere. Der quantitative Geldertrag variiert. Diese Potenzialdifferenz ökonomischen Handelns zeige sich, so Simmel, bei der Verwendung von Geld noch deutlicher als bei der Verwendung von – beispielsweise in Maschinen – bereits materialisiertem, konkretisiertem Kapital. Das Geldkapital unterscheidet sich von bereits realisierten Produktionsstätten dadurch, dass letztere bereits mehr oder minder in ihrem Gebrauch festgelegt sind und bestimmte Anforderungen an ihren Besitz und Gebrauch stellen (vgl. ebd.: 409-19). Geld tue dies nicht. Gerade deshalb besitze ein und die gleiche Geldsumme eine ganz unterschiedliche qualitative Bedeutung in Abhängigkeit von dessen Eigentümer und dessen Verwendungszweck (vgl. ebd.: 389-90). Dabei meint Simmel, dass der Staat mit Geld nicht so effizient wirtschaftet wie Individuen (vgl. ebd.: 475). Er begründet dies mit einem für den Dissens über Verwendungszwecke maximal möglichen Spielraum des Geldes bei Kollektiveigentum an Geld, der es umgekehrt gerade zur privaten Verfügung prädisponiere (vgl. ebd.: 476). Simmel postuliert in Hinblick auf die für zukünftiges Wachstum relevante gegenwärtige Verteilung von Geldmitteln ein Eigenleben des Geldes, wenn er in vitalphilosophischer Semantik formuliert: »Das Geld sucht sozusagen die fruchtbarere Hand« (ebd.: 390). »Fruchtbarkeit« scheint hier im Sinne von eigentätiger Mehr-Wertproduktion des Geldes gemeint zu sein. Die Verteilung von Geldmitteln auf die Individuen scheint

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dazu eher Mittel zum Zweck des monetären Mehr-Wertes zu sein. Wie wortwörtlich das »Suchen« zu nehmen ist, wird an dieser Stelle nicht wirklich klar. Der Fluss des Geldes zu jenen, die vermeintlich am besten mit ihm umgehen können, setzt immer noch die Freiwilligkeit des Tausches auf beiden Seiten voraus. Dies wiederum setzt »die objektiv-wirtschaftliche Fruchtbarkeit, das intensive und extensive Wachstum des Güterkreises« in Abhängigkeit von der subjektiv wahrgenommenen MehrWertproduktion der am Tausch beteiligten Partner voraus, inklusive der Arbeit gegen Lohn. Die »Fruchtbarkeit« des Geldes bemaß Simmel an der Fähigkeit, »ein Maximum seiner Gesamtbedeutung zu erreichen.« (Ebd.: 390) »Gesamtbedeutung« ist hier nicht in dem funktionalen Sinne der Vermittlung von Tauschchancen durch Geld gemeint, sondern in einem inhaltlichen Sinne: welche Dinge gehen in die Maßstabsund Austauschform des Geldes hinein, d. h. lassen sich tauschen? Hier lässt sich nach Simmel aber nicht mehr eine a priori erschöpfbare Liste von ökonomischen Tätigkeiten und Konsummöglichkeiten definieren. Und in dieser empirischen Tendenz in Richtung einer Abstraktion liegt der Grund, warum das Geld für Simmel ein schöpferisches Eigenleben entwickelt. Bis hierhin bewegte ich mich noch an der Oberfläche, den Ausgang nehmend bei einer spezifischen ›Sorte‹ von Simmel-Kritik mit meiner Replik, dass die Kritik die Philosophie in der »Philosophie des Geldes« nicht gesehen hat. Eine erste lebensphilosophische Einordnung von Begriff und Phänomenologie des Wachstums bei Simmel folgte. Wachstum im Sinne des Mehr-Lebens ist eine Eigenschaft, welche dem Leben aus seinem Wesen heraus zukommt. Aber: MehrLeben ist Simmel zufolge nur eine analytisch herausdestillierbare Komponente eines Vitaldualismus. Mehr-Leben (= des Lebens) und das Mehr-als-Leben (= der Form) bedingen einander. Die Beschaffenheit des Geldes, ein Eigenleben zu entwickeln, möchte ich nun weiter und metaphysisch tiefer begründen, indem ich die »Doppelrolle des Geldes« zwischen »abstraktem Vermögenswert« einerseits und »sichtbarem Gegenstand« andererseits als eine vitaldualistische Verhältnisform der Selbsttranszendenz deute, ganz im Sinne des Kapitels »Transzendenz des Lebens« aus der »Lebensanschauung«. Schließlich werde ich versuchen zu zeigen, inwiefern Geld als Gottes-Substitut gedacht werden kann. Doch zunächst bedarf es eines vorbereitenden Umweges. 8.3.1 Geld – Leben – Gott 2014 haben Daniel Silver und Kristie O’Neill einen bemerkenswerten Aufsatz veröffentlicht. Es ist der erste und bis heute einzige mir bekannte Aufsatz, der Simmels »Philosophie des Geldes« explizit und systematisch als, wenn auch frühe, gegenständliche Artikulation sowohl seiner Lebensphilosophie als auch seiner Religionstheorie deuteten, d. h. aus der ihm eigenen theoretischen Perspektive – »one of Simmel’s crucial earlier efforts to articulate this view of life« (Silver/O’Neill 2014: 390). Ihr Vorhaben ist es ausdrücklich, die Geldpraxis als »an instantiation of a certain set of religious capacities« zu begreifen, die »religious dimension of economic life« in der »Philosophie des Geldes« aufzufinden (ebd.: 390) Geld, so Silver und O’Neill, besitzt abrufbare Kapazitäten religiösen Erlebens. Sie bezeichnen die »Philosophie des Geldes« als »proto-vitalism«, welcher »in religious terms« artikuliert worden sei (ebd.: 390). Noch stärker ist eine Formulierung gegen Ende des Aufsatzes, in der Silver und O’Neill meinen, die »Philosophie des Geldes« sei »in certain crucial ways

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[…] a religious text that points toward his ongoing effort to articulate the transcendent character of life« (ebd.: 403). Sie beziehen sich auf den »Metaphern«-Aufsatz von Hans Blumenberg: Über das Geld mag Simmel sich zuerst einen Zugang zur Werttheorie erschlossen haben, dann einen Pfad zur Lebensphilosophie (ebd.: 391-92). Der Pfad zur Lebensphilosophie über die Geldphilosophie, fügen Silver und O’Neill nun hinzu, »was not straight; it runs through religion.« (Ebd.: 392) Eine am Geld zu gewinnende Werttheorie könne nämlich nur dann eine vollständige sein unter Berücksichtigung von Selbsttranszendenzerfahrungen, welche die Geldpraxis erlaube: »[A]n account of value would be incomplete without elaborating the experiences of ›going beyond oneself‹ that monetized forms of interaction potentiate.« (Ebd.: 392) Religion sei in einer simmelianischen Sichtweise nicht mehr an die traditional hergebrachten Objekte geknüpft, sondern eine von dem Inhalt des Objektes unabhängige Form des Erlebens, eben der »experience of stretching beyond oneself« (ebd.: 394). Das religiöse Erlebnis könne auch durch andere Objekte ausgelöst werden (»engender«, ebd.: 393). Die religiöse Lebensform gewinne ihre Gestalt in drei unterschiedlichen Erfahrungsmodi des Religiösen: Glaube, Einheit, Individualität (»three modes of experience«, ebd.: 396). Diese Einteilung entnehmen sie der ins Englische übersetzten Simmel-Monographie über Religion. Die Anwendung dieser drei Modi auf ausgewählte Passagen in der »Philosophie des Geldes« bildet den Hauptteil der Studie von Silver und O’Neill. »Religiösen Glauben« interpretieren sie als ein nicht allein durch Empirie zu rechtfertigendes, unbedingtes Grundvertrauen an andere, »to commit to the idea that they will ›be there‹ for you, whatever you need or want, unconditionally.« (Ebd.: 396) In der modernen Geldpraxis ist die Befriedigung der eigenen Wünsche abhängig von den Leistungen unbestimmter, vieler anderer. Der Glaube an diese unbestimmten anderen – oder auch: an die abstrakte soziale Ordnung – zeige sich in einem Gefühl innerer Sicherheit und Gewissheit in der Abhängigkeit von anderen (vgl. ebd.: 396). Das Individuum transzendiere im Glauben an andere sich selbst, schmiede »an inner connection with others.« (Ebd.: 397) Silver und O’Neill interpretieren den Glauben an andere einerseits als Voraussetzung des Tausches (»presuppose«, ebd. 396), andererseits scheint das geldvermittelte Geschäft die religiöse Glaubenserfahrung erst zu erzeugen: »In the practical experiences of faith it engenders, exchange in general cultivates potencies that are core elements of the religious life.« (Ebd.: 397) Die für religiösen Glauben charakteristische Hingabe und Sicherheit kommt zwar auch in anderen sozialen Beziehungen vor, geldwirtschaftliche Beziehungen besitzen aufgrund der besonders weitgehenden Zirkulationsweise des Geldes in Raum und Zeit eine entsprechend große Kapazität religiöser Glaubenserfahrungen: »[T]he whole world is potentially with me, and will be with me, just as faith in God involves a sense that God is there, come what may. […] I am connected not just to my exchange partner but also potentially to everybody else. Money’s religious resonance for Simmel thus does not primarily lie in the strong norms that regulate its uses; rather, its use expresses a religious capacity for a kind of togetherness that comes from ›knowing‹ that others are there for and with you.« (Ebd.: 396-97)

Unter der vom Geld zustande gebrachten »Einheit« verstehen sie eine der Form nach mit Gott verwandte Fähigkeit, die unterschiedlichsten bis widersprüchlichsten Dinge

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miteinander in Beziehung zu setzen. Geld schaffe ähnliches durch sein Vermögen zur Quantifizierung und Einpreisung. Je weiter in Raum und Zeit sich geldvermittelte, kommerzielle Tätigkeiten erstrecken, desto mehr und Heterogeneres vermag das Geld zu verknüpfen. Auch hier haben Silver und O’Neill wie beim Glauben eine Weltwirtschaft vor Augen: »Money and God for Simmel thus have a similar phenomenology, namely, the sense that the divergent threads of the worlds are connected. […] Here again is the transcendent character of life revealed in money: its quantification of value suggests that those who wield money may possess capacities to bring seemingly discrete values and spheres into commerce and to carry that commerce beyond any given limits or boundaries.« (Ebd.: 398)

Unter dem dritten und letzten Punkt des Hauptteils – »Individualität« – studieren Silver und O’Neill die Geldpraxis als Helfer der individuellen Entwicklung. Sie rekapitulieren zunächst Passagen aus Simmels Religionsbuch zum individuellen Seelenheil: Es sei göttlicher Befehl, sich von allem Nicht-Eigenen zu befreien und allein das eigene, individuelle Ideal in der Wirklichkeit vollständig zum Ausdruck zu bringen. Das Geld, so Silver und O’Neill, »holds out a similar sort of redemptive promise, with its own sort of compelling allure.« (Ebd.: 399) Das Gelde lasse sich so gut und vollständig aneignen wie kein anderes privateigentumsfähiges Gut, es lasse sich beliebig verwenden: »Any direction one wishes to take it, it could go« (ebd.: 399). Geld ist einerseits Verheißung, »the ultimate vehicle for personal development« zu sein, »it does not direct itself any specific range of uses, but demands that each of us determine how to do so.« (Ebd.: 399) Seine Unbestimmtheit macht Geld also zum geeignetsten Mittel zur Entwicklung des individuellen Ideals, stelle aber auch die Anforderung, seine Verwendung individuell zu spezifizieren. Interessanterweise verknüpfen sie ihre Analyse mit einer Überlegung Simmels zum »system of unequal prices« (ebd.; vgl. PDG: 426-27). Diesem – gleichwohl idealen – System zufolge würden die Warenpreise mit der ökonomischen Situation der potenziellen Konsumenten variieren. Der Preis wäre eine Funktion der Individualität, was der Form nach der vollkommenen Gesellschaft entsprechen würde (vgl. ebd.: 400). Mit Letzterem können sie nur das dritte Apriori der Vergesellschaftung meinen: die soziale Form als durchgehender Ausdruck des individuellen Lebens (vgl. Kapitel 6.3 in diesem Buch). Zu diesem Aspekt – der Beziehung zwischen vollkommener Gesellschaft und ungleichem, mit der persönlichen ökonomischen Lage variierenden Preis – hat Nigel Dodd einen Aufsatz geschrieben (vgl. Dodd 2012). Auf ihn berufen sich auch Silver und O’Neill. Auf den Hauptabschnitt folgt ein weiterer, das Argument erst vervollständigender Abschnitt (»Reversals«, ebd.: 400-01). Religiöses Erleben ist ambivalent, kann von Furcht und Hoffnung, Trauer wie Euphorie getragen sein. Diese Ambivalenz der Religiosität zeige sich auch in der geldwirtschaftlichen Ordnung. So könnten den drei unterschiedlichen Modi der religiösen Erfahrung, Glauben, Einheit und Individualität, jeweils ihre ›Schattenseiten‹ zugeordnet werden: »[T]he full range of religious capacities is at play in money.« (Ebd.: 401) Die vom Geld vermittelte Hingabe an und das Vertrauen in andere können in soziale Unterdrückung durch eben diese anderen umschwenken. Die quantifizierende Gleichheit und Vergleichbarkeit der Dinge nehme den Dingen ihren unvergleichlichen Wert. Die Selbstsuche schließlich kann in

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Geiz und dem reinen Geld-Haben von Potenzialität enden, anstatt dieses in eine konkrete Persönlichkeitsentwicklung umzusetzen: »The ultimate vehicle for selfexpression can become the ultimate excuse for self-denial, just as the promise of redemption can become the temptation to other-worldly escapism.« (Ebd.: 401) Dem Aufsatz von Silver und O’Neill kommt in meinen Augen der Verdienst zu, erstmals den Versuch einer systematischen, rein simmel-immanenten Perspektive auf den Zusammenhang von Religion, Geldwirtschaft und Leben unternommen zu haben. Ein Vorgehen, was äußerst fruchtbar ist: Denn indem sie fragen, was Religion für Simmel überhaupt bedeutet, und von dort aus erst eine derart theoriegeleitete Perspektive auf die »Philosophie des Geldes« durchhalten, verändert sich auch das, was man religionstheoretisch aus der »Philosophie des Geldes« herausgewinnen kann: Geld als Kapazität religiösen Erlebens; und spezifischer, wie der dritte Punkt ihrer Studie zu zeigen beansprucht: Mittel der Erlösung; wohl aber nicht: Ziel der Erlösung. Denn wie Kapitel 7.4 in diesem Buch zeigen sollte, sah Simmel das mögliche Subjekt wie Objekt religiöser Transzendenz für seine Zeit nur noch im individuellen Leben. Die Idee von Silver und O’Neill besitzt ein Potenzial, was sie meines Erachtens aber in Methode und Inhalt ihres Aufsatzes verspielen. Ich meine, dass sie – um mein Anliegen gleich auf einen Punkt zu bringen – noch zu sehr am religiösen Inhalt denn an der Form verweilen, teilweise aber Simmel auch in der Sache falsch verstehen. Bevor ich eine alternative Interpretation des Zusammenhangs von Religion, Geldwirtschaft und Leben bei Simmel anzubieten versuche, werde ich in gebotener Kürze die für mich relevanten Kritikpunkte skizzieren. Einmal entspricht die den Hauptteil der Untersuchung konstituierende Unterteilung in drei Modi religiöser Erfahrung nicht der Anlage von Simmels Religionsbuch. »Glaube« und »Einheit« bilden inhaltliche Exemplifizierungen des Religiösen. Simmel leitet diesen, in der von mir verwendeten deutschsprachigen zweiten Auflage von 1912 sich über die Seiten 68-86 erstreckenden Abschnitt mit den Worten ein: »Wenn ich dazu übergehe, die bisher nur aus einer gewissen Entfernung betrachteten Analogien des sozialen und des religiösen Verhaltens in einzelneren Ausgestaltungen zu verfolgen« (DR: 68; Hervorhebung PB).49 Religiöser Glaube ist nur eine apriorische Funktion unter anderen, wie beispielsweise dem der Kausalität; beide können, rein aus sich heraus schöpferisch wirkend bei Absehung von partikularen Inhalten, ihr jeweiliges Objekt schaffen, das Absolute. Ideengeschichtlich entspricht dem der Glaube an Gott wie die Vorstellung einer göttlichen Erstursache. Insgesamt ging es Simmel beim »Glauben« aber um die exemplarische Vorführung des religiösen Objektivationsakts. Ähnlich, Letzteres weiterführend, verhielt es sich bei dem zweiten Aspekt, »Einheit«. Vom religiösen Apriori überformte Wechselwirkungen gewinnen eine idealisierte Form. Das von Konkurrenz um knappe Güter entlastete Reich Gottes ist ein Beispiel dafür, was gleich – auch innerhalb der Monographie – zum dritten Aspekt überleitet: religiöse Individualisierung deutet Simmel ideengeschichtlich als

49 Durch die Übersetzung bedingte Verzerrungen sind möglich. »Ausgestaltung« kann auch mit »form« oder »mode« übersetzt werden. Leicht kann eine durch die Sprache bedingte Verwischung von Form und Inhalt zustande kommen. Zumal Simmel selbst Form und Inhalt als eine perspektivenrelative Unterscheidung behandelte.

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Heilsweg, was aber nichts anderes als den eigengesetzlichen Weg der Seele zu sich selbst bedeutet. Das Seelenheil steht aber nicht einfach in einer Heterarchie neben Einheit und Glaube, sondern das individuelle Heilsstreben bildet das zentrale Ideal und die Eigengesetzlichkeit der Religion, nach der das religiöse Individuum die Inhalte in eine religiöse Welt formt. Das eigentliche Vitalproblem des individuellen Lebens ist die dualistische Einheit von Leben und Form, und daran setzt Religionsbildung an, indem das Individuum sich in ein Absolutes – Gott – objektiviert, welches das individuelle Leben umfasst und sich ihm zugleich gegenüberstellt. In der religiösen Beziehung zur Transzendenz Gottes empfängt das individuelle Leben die Gesetze seines Handelns: Die Einzelnen, apriorischen Lebensfunktionen werden ausgerichtet auf eine zu gewinnende ideale Einheit des eigenen, individuellen Lebens. Eine beispielhafte Rückwirkung des religiösen Ideals ist nach Simmel dann die Vermeidung von Heilskonkurrenz. Dass Silver und O’Neill »Glaube«, »Einheit« und »Individualität« gleichrangig als Modi behandeln, anstatt zwischen der Formung der Religion und deren Inhalten zu unterscheiden, spiegelt sich wider in dem Auslassen des für die religiöse Welt- und Formbildung konstitutiven Aprioris, dessen Wesen nach Simmel die Objektivation in ein Absolutes ist. Dadurch geht der über die Partikularität einer Lebensform hinausgehende Ganzheitlichkeits- oder Totalitätscharakter verloren, den Simmels Religions- als auch Lebensphilosophie ihrer Idee nach besitzen. Zwar halten Silver und O’Neill gegen Ende ihres Aufsatzes ausdrücklich fest, Religion besitze einen »special status: it points decisively toward the vitalistic metaphysics of perpe-tual self-transcendence that would later form the core of Simmel’s comprehensive philosophical standpoint.« (Silver/O’Neill 2014: 402) Dies bleibt aber Postulat. Denn dem Sachinhalt nach bleibt es bei einer auf die Partikularität reduzierten Analogie zwischen Geld und Gott; so wenn sie beispielsweise Einheit auf die Geldpraxis bezogen interpretieren als Relationierung (und dies vor allem) durch Quantifizierung. Sie bleiben damit in der Enge und dem Partikularen des Ökonomischen. Sowohl Simmels religionstheoretischer wie lebensphilosophischer Ansatz war aber ganzheitlicher Natur. Wenn Selbsttranszendenz Wesen des Lebens wie der Religion ist – und dies konstatieren Silver und O’Neill –, und die »Philosophie des Geldes« als, wenn auch frühe, Artikulation von Simmels Lebensphilosophie als Philosophie, also: als etwas auf das Ganze Gehendes gelten soll – und dies konstatieren Silver und O’Neill ebenso –, implizieren beide Prämissen doch ebenso eine ganzheitliche, den Teilbereich der Ökonomie überschreitende Analyse. Meine Kritik kann im Einzelnen irren, und sie ist natürlich getragen von meiner eigenen Interpretation von Simmels Religions- und Lebensphilosophie. Ich versuche deshalb im Folgenden, eine alternative Lesart des Zusammenhangsverhältnisses von Geldwirtschaft, Religion und Leben anzubieten. Im Kern möchte ich eine Idee von Silver und O’Neill beibehalten: dass Simmel den Weg zur Lebensphilosophie über die Religion geht. Ich gehe aber anders vor, indem ich den allgemeinen Vitaldualismus von Leben und Form auf die »Doppelrolle des Geldes« beziehe. Ich rekapituliere zunächst: Der Dualismus zwischen Leben und Form ist die Form, in der sich die Einheit des Seins nach Simmel reproduziert. Leben ist ein sich in keiner bestimmten Form erschöpfbares Seins-Potenzial, kann aber nur sein in der – irgendwie – beharrenden Form einer in sich geschlossenen Individualität. Form ist Individualität (und vice versa). Die Individualität ist eine Aktualisierung der zur Rea-

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lisierung drängenden, die Form umfassenden Seins-Einheit. Aus der Unterscheidung zwischen dem unerschöpflichen Formungspotenzial der Seins-Einheit des Lebens einerseits und der nur ausschnitthaften Realisierung in der Individualitätsform ergibt sich ein Spannungsgefälle, welches das Leben auszugleichen drängt, aber dieser Ausgleich kann nie endgültig erreicht werden. Das Leben drängt zur Überwindung der beharrenden Form, nur um sich wieder in einer neuerlichen Form auszugestalten. Simmel spricht deshalb von »der Kontinuität« der Bewegung – also dem Leben – als »der extensiven Darstellung der absoluten Einheit des Seins« (LA: 225). Das Eigenartige in der Lebensphilosophie Simmels ist es, dass die lebendige Individualität selbst aus sich heraus Form des Lebens ist – sie ist Entelechie –, und so die umfassende Seins-Einheit umgekehrt eine Funktion der lebendigen Individualität ist (vgl. Kapitel 4.3 in diesem Buch). Individualität ist also Leben und Form zugleich; je nach Perspektive. In diesem Kontext habe ich darauf hingewiesen, dass Individualität bei Simmel einen von jeder empirischen Qualität unabhängigen, ontologischen Tatbestand beschreibt (vgl. Kapitel 4.3 und 4.4 in diesem Buch). Bestimmte inhaltliche Attribute sind hier sekundär und bilden sich in Wechselwirkung mit den Objektivationsformen von Kultur und Gesellschaft (vgl. Kapitel 5.5 in diesem Buch). Wichtig hier ist nun: Das Leben ist, indem es wird in der Vielfalt der Formen, und der Dualismus aus Leben und Form ist die Form dieser Seins-Entfaltung. Individualität ist aus dieser Perspektive das ›Vehikel‹, über das sich die Seins-Einheit in der Zeit realisiert. Diese Dynamik bezeichnet Simmel als die Transzendenz des Lebens. An dieser Stelle eröffne ich einen zweiten Strang. Wo bis hierhin von »Bewegung« und »absoluter Einheit des Seins« die Rede gewesen ist, mache ich nun den Schwenk hin zum Vergleich von Geld und Gott. Auch hier spielt Aufkommen und Wandlung des Bewegungsmotivs in der Relation zum Motiv der beharrenden Form eine bedeutsame Rolle. Ich rekapituliere auch hier erneut bis dato Bekanntes. Das religiöse Individuum objektiviert »sich in der Form des Absoluten« (DR. 112; Hervorhebung im Original). Die Ausdifferenzierung der Religion bestand für Simmel in der Etablierung einer religiösen Wechselwirkung zwischen dem religiösen Individuum und dem Absoluten. Dieses Absolute bezeichnete Simmel in ideengeschichtlicher Anlehnung an christliche Semantik als Gott. Gott ist in Simmels Religionsbuch das Symbol für die »Einheit des Daseins« (ebd.: 78, 104, 105) wie der »Einheit des Weltganzen« (ebd.: 107). Die Eigentümlichkeit der religiösen Beziehung ist nach Simmel ihre A-Sozialität. Die religiöse Beziehung individuellen Lebens bestand allein zu Gott. Aus diesem war der Verweis auf jedes »Du« getilgt. Diese Form der Beziehung gilt für alle Individuen gleichermaßen. Gleichzeitig gewährt die religiöse Wechselwirkung mit Gott jedem Individuum unabhängig von den attributiven Differenzen interindividueller Natur die Möglichkeit, das religiöse Heilsgut zu erreichen. Das Seelenheil, so meine von Volkhard Krech übernommene These, bezeichnet mit aus dem Christentum stammender Semantik die Individualgesetzlichkeit. Da das Heilsstreben des einen nicht auf Kosten des anderen geht, ist Gott die »coincidentia oppositorum« (ebd.: 60) – der Einheitspunkt der heterogensten Individuen. Die Beziehung zu Gott realisiert sich ähnlich wie die Geldbeziehung als Doppelrolle: Das religiöse Individuum objektiviert sich in einem Absoluten, welches (a) das Individuum einschließlich das gesamte Sein umfasst und damit unter seine Gesetze unterordnet sowie (b) sich dem religiösen Individuum gegenüberstellt als ein absolutes Objekt, welches zum Heilsstreben auffordert, aber auch vom religiösen Individuum begehrt wird.

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Es muss darauf hingewiesen werden, dass es dennoch einen augenscheinlichen Unterschied zwischen der individuellen Beziehung zu Gott und der individuellen Beziehung zur Geldwirtschaft gibt: Aus der Geld-Waren-Zirkulation ist das Individuum fast vollständig ausgeschlossen. Das Energetische der Arbeitskraft kann als Ware einen – vom individuellen Begehren unabhängigen – ökonomischen Wert erhalten, als ganzheitliche Entelechie steht das Individuum dem Treiben aber gegenüber. In die religiöse Beziehung zu Gott ist – idealtypisch – das Individuum als ganzheitliches Individuum inkludiert. Es untersteht dem göttlichen Gesetz, insofern es sein »individuelles Gesetz« ist. Dann aber betont Simmel, dass die Verselbständigung der Geldökonomie gegenüber der Individualität des Lebens genau jenes erst, gleichsam korrelativ, auf der anderen Seite ›herauspresst‹, mit der Folge, dass das Individuum erst jetzt, in der Distanz des Ausschlussverhältnisses zur Geschlossenheit ökono-mischer Wechselwirkung, seinem »individuellen Gesetz« folgen kann (vgl. PDG: 396-98, 418-19). Schließlich: In der Vorrede zur Erstausgabe weist Simmel auf den »empirischen Pantheismus« hin, der die vorliegenden »Untersuchungen beherrscht« (ebd.: 732). Für seine Religionstheorie sah Simmel die Anwendung pantheistischen Denkens durch die Vorrangigkeit seines Wechselwirkungskonzepts eingeschränkt, aber nicht vollständig aufgehoben. Von der »Einheit des Daseins« zu sprechen, impliziere in der logischen Konsequenz einen Pantheismus, wo Gott mit allem Sein identisch ist, so Simmel (vgl. VP: 84-86; DR: 110). Als Lebensform gedacht, so Simmel weiter, verweise die Religion aber auf die Wechselwirkung, wo Gott nicht nur Einheit ist, sondern auch gleichzeitig – und im Widerspruch zur pantheistischen Logik – einem irgendwie selbständigen, religiösen Individuum gegenübersteht (vgl. VP: 86-91; DR: 104-05).50 Von einem empirischen Pantheismus spricht Simmel allerdings nur in der ersten Version der Vorrede zur »Philosophie des Geldes«. Es gibt also Divergenzen wie Konvergenzen, die einer übersimplifizierenden Identifikation von Geld und Gott im Wege stehen. Gegeben Simmels philosophische Intention, bleibt die Frage, wie sich die Divergenzen zu einer angenommenen Konvergenz verhalten und, je nachdem und in wel-

50 Volkhard Krech zufolge ist Simmels Streichung des empirischen Pantheismus in der zweiten Auflage der »Philosophie des Geldes« »sozusagen begriffspolitischen Überlegungen« geschuldet (Krech 1998b: 222, Fn. 71). Einmal, so Krech, solle »der Begriff des Pantheismus für eine Formung reserviert [bleiben] […], durch die das Empirisch-Zufällige gleichsam transzendente Legitimation gewinnt« (ebd.: 222, Fn. 71). Ferner stehe »der Begriff des Pantheismus im Widerspruch zum Begriff der Wechselwirkung« (ebd.: 222, Fn. 71). Krechs Einwand, der Pantheismus stehe im Widerspruch zum Wechselwirkungsbegriff, verkennt gerade den inhärent vitaldualistischen Zug der Religionstheorie Simmels: Seinem Prinzip nach tendiert der Gottesbegriff Simmel gemäß sehr wohl zum alles umfassenden und mit allem identischen Gott, als Lebensform bedarf die Religion aber eines Gegenübers (vgl. DR: 104-05). Vgl. dazu auch die detaillierteren Ausführungen in Kapitel 7.2.5 in diesem Buch. Was die Gründe für Simmels begriffspolitische Entscheidung anbelangt, bin ich mir selbst unsicher. Meine Hypothese ist die: Geld substituiert Gott zwar funktional als verkörperte Seins-Einheit. Ein transzendentes Gottesreich in einem religiösen Sinne bildet die Geldform allerdings nicht, da zeitgenössische Religiosität nach Simmel nur noch in der Immanenz der individuellen Lebensführung möglich ist.

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chem Maße, auf letztere hin reduzieren lassen. Beispielsweise mag es – mit Simmel – ja naheliegen, das »Empirische« eines Pantheismus in einer materiell-symbolischen Greifbarkeit der Ganzheitlichkeit zu sehen; während zumindest ideengeschichtlich gesehen monotheistische Götter ihre Transzendenz in das Jenseits sinnlicher Anschaulichkeit verlegten. Dies könnte womöglich auch die Differenz in der Gestaltung des oben genannten Doppelrollenverhältnisses – einmal ganzheitliche Inklusion (religiöse Wechselwirkung), einmal ganzheitliche Exklusion (ökonomische Wechselwirkung) – erklären. Und wenn man noch einen Schritt weitergeht: Die »Transzendenz des Lebens«, wie sie Simmel in der »Lebensanschauung« konzipiert, ist ja eine immanente Transzendenz. Sie ist nichts (mehr), was in einer unüberbrückbaren Kluft zum Leben steht, sondern das Leben selbst. Dem ging eine ähnliche denkerische Bewegung Simmels auf dem Gebiet seiner Religionsphilosophie einher. Die Ideengeschichte mag die Transzendenz Gottes in einer eigenartigen, vielleicht nicht ganz geklärten Distanz zum Diesseits gesehen haben. Die neuere religiöse Lage seiner Zeit bewegte Simmel aber zu einem der Ideengeschichte vom Schöpfergott entgegengesetzten anderen Schluss: Konstitutionstheoretisch ist es das religiöse Leben, welches das transzendente Reich Gottes geschaffen hat und in das sich in der geldwirtschaftlichen Moderne jede Möglichkeit einer religiösen Lebensführung zurückgezogen hat. 8.3.2 Bewegung und Beharrung Eine Nähe oder gar Konvergenz zwischen Geld und Gott war bereits Gegenstand der 1889 publizierten »Psychologie des Geldes«. Das »tertium comparationis« zwischen Geld und Gott, so Simmel, sei »das Gefühl von Ruhe und Sicherheit«, welche den Geldbesitz einerseits, den Glauben an Gott andererseits auszeichne (PSYDG: 65; Hervorhebung im Original). Die Ruhe und Sicherheit, die das Geld gewährt, rühre aus dem Umstand, Mittel zu einer a priori nicht definierbaren Menge von Zwecken zu sein. Als »Abstraktion« stehe es wie Gott über den einzelnen, konkreten Dingen (ebd.: 65). Für sich betrachtet besitzt Geld keinen Wert. Stets braucht man es aber, um beliebige, aber sozusagen erst ›hinter‹ dem Gelderwerb stehende Ziele zu erreichen. Das »Zweckbewußtsein« richtet sich stets zunächst – und damit strukturell vorrangig – ein auf den Gelderwerb (ebd.: 52). Dahinter vermutet Simmel ein »Prinzip der Kraftersparnis«, wonach das Bewusstsein sich tendenziell zunächst auf den aktuell nächsten Schritt konzentriere (ebd.: 52). Simmel meint, dass dieses Prinzip der Vorverlagerung des Zweckbewusstseins auf die zunächst erforderlichen Mittel eine sehr allgemeine psychologische Erscheinung sei (vgl. ebd.: 51-52). Simmel nennt eine im Kleinteiligen sich verfangene wissenschaftliche Forschung, die die eigentlichen Zwecke ihrer Disziplin vergisst, ebenso wie die Begeisterung am technischen Fortschritt, ohne über dessen Sinnhaftigkeit nachzudenken (vgl. ebd.: 52). Dass bestimmte Einrichtungen über ihren Status als Mittel hinaus einen Eigenwert gewinnen, dieses psychologische Phänomen sah Simmel nicht auf das Geld beschränkt. Allerdings meint Simmel, dass das Geld diesen psychologischen Typus in Reinform darstellt (vgl. ebd.: 52). Dieser Umstand ist laut Simmel bedingt durch die vergleichsweise Vielzahl an Zwecken, denen das Geld dient (vgl. ebd.: 56-58). In der Beziehung zum Geld wie zu Gott gleichermaßen würde sich die psychologische Empfindung gleichen, ein »Zutrauen in die Allmacht des höchsten Prinzips« zu besitzen, »uns dieses Einzelne und Niedrigere in jenem Augenblick gewähren« zu können

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(ebd.: 65). Das Geld auf dem Konto beruhigt, zur Aufwendung für beliebige Bedürfnisse dienen zu können. Elf Jahre später, mit dem Erscheinen der »Philosophie des Geldes«, gesellt sich zum unverändert übernommenen Aspekt der Ruhe des Geld-Habens als »Tertium« zwischen Geld und Gott die bewegende Unruhe des Noch-Nicht-Habens.51 Einmal als »wilde Jagd nach dem Gelde«, »die ganze Aufregung und Anspannung im Kampfe um das Geld«, welche erst »die Bedingung für die selige Ruhe im Besitz des Erkämpften bildet« (PDG: 306). Und »jene Meeresstille der Seele, die die religiösen Güter gewähren« erreiche nach Simmel ihren »höchsten Bewußtseinswert erst als Preis des Suchens und Ringens nach Gott.« (Ebd.: 306). Das Noch-Nicht-Haben weckt das religiöse wie ökonomische Begehren nach einer stets nur punktuellen Schließung der Distanz (vgl. Kapitel 8.2.2 und 5.3 in diesem Buch). Die zwischen den Seiten 304 und 307 sich erstreckende Passage ist auf ihre semantische Ausdrücklichkeit hin gesehen die ausführlichste in der Diskussion des Verhältnisses von Geld und Gott. Sie steht im Zeichen einer »Konkurrenz«, die das Geld Gott aufgrund der psychologischen »Formähnlichkeit« seit jeher bereitet habe (PDG: 306). Simmel zögert also auch hier, über Ähnlichkeiten hinaus eine vollständige Identität zwischen »der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen Einheit« zu behaupten (ebd.: 306). Die Annahme einer Konkurrenz zwischen dem Begehren nach Geld und dem Begehren nach Gott impliziert meines Erachtens eine identische Zielfunktion, der beide – wie auch immer tatsächlich oder vermeintlich – dienen. Den Wettbewerb, so meint Simmel, habe Gott – oder, je nachdem: der christliche Gott – in der Moderne verloren. Das religiöse Begehren nach »dem ReligiösAbsoluten« habe »ihre Kraft verloren«, während das Verlangen nach Geld parallel zugenommen habe (ebd.: 304). Mit der Folge, dass »der Gesamtaspekt des Lebens […] durch das Geldinteresse gefärbt [sei].« (Ebd.: 305) Nun ist es interessant, dass Simmel den Grund für die Usurpation der Gottesposition durch das Geld nicht allein in dem Umstand begründet sieht, dass Geld ein Versprechen auf die Erfüllung fast beliebiger Wünsche ist. Gegen Ende seiner Diskussion des Verhältnisses von Geld zu Gott führt Simmel die religiöse Assoziation des Geldes auf eine Änderung des seinerzeitigen Weltbildes zurück: dass »das einzig Absolute […] die Relativität der Dinge [sei]«, wofür »das Geld das stärkste und unmittelbarste Symbol [sei]« (ebd.: 307).

51 Den genannten Unterschied zwischen der »Psychologie des Geldes« und »Philosophie des Geldes« bemerkt auch Daniela Motak (2014: 140). Ihr Vergleich zwischen Geld und Gott mündet in der Identifikation von Kapitalismus und Religion. Ihrer Ansicht nach folgt dieser Schritt logisch aus der strukturellen Quasi-Identität von Geld und Gott: »Money/God homology leads logically to the claim of isomorphy of religion and modern economic system: in other words, to the claim about the religious character of modern capitalism.« (Ebd.: 143) Motak bewegt sich mit dieser logischen Linie explizit von Simmel hin zu Walter Benjamins Fragment, »Kapitalismus als Religion«. Benjamin war ein Student Simmels im Jahr 1912 (vgl. ebd.: 145). Anders als Daniela Motak hat hingegen Natàlia Cantó y Milà in ihrem die Kontinuität und Differenz zwischen »Psychologie des Geldes« und »Philosophie des Geldes« nachzeichnenden Aufsatz die Geld- und Gott-Analogie nicht notiert (vgl. Cantó y Milà 2003).

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Der Verweis auf die Symbolisierungsfunktion des Geldes für das Absolute ist deshalb so sehr von Bedeutung, weil ja auch die der religiösen Ideengeschichte entstammende Gottessemantik eine Symbolik zur Bezeichnung des Absoluten bereitstellt. Es impliziert, dass die Adäquanz eines Symbols sich nach der Beschaffenheit bzw. vorgestellten Beschaffenheit dessen richtet, was symbolisiert werden soll. Dass sich die Beschaffenheit des Absoluten oder, wie Simmel es auch nennt, der Einheit des Seins, verändert hat, das ist eine in der »Philosophie des Geldes« am Geld ausgearbeitete Annahme Simmels. Die Dinge bedingen sich wechselseitig, dies ist auch bei Simmel kein allein auf die Wirtschaft zu reduzierender Sachverhalt. Wahrheit gehört nach Simmel ebenso in die Kategorie relational konstituierter Formen, denn Inhalte werden für wahr oder falsch befunden in Vergleich mit bereits für gültig oder ungültig erachteten Inhalten. Dieses Prinzip der Wissenschaft war ein Gegenstand des dritten »Wert-und-Geld«-Kapitels, in welchem Simmel seine »Weltformel« erklärte, jenen besagten absoluten Relativismus (ebd.: 93). Das Weltbild eines dynamischen, beweglichen und relationalen Absoluten löst das Weltbild eines substanziell Absoluten ab, wonach die Phänomene mehr oder minder dauerhaft und von Anbeginn der Zeit her feststehend und das Produkt göttlicher Kräfte sind (vgl. ebd.: 94-95).52 Reste eines Konfliktverhältnisses finden sich denn auch zwischen der relativistischen Wissenschaft und der Religion – jedenfalls dann und solange Religion auf bestimmte Lehren hin eingeengt wird (vgl. RWG: 77-78). Im Werterelativismus und Intellektualismus kamen Geldwirtschaft und Wissenschaft wiederum zu einer psychologischen Formähnlichkeit zusammen (vgl. PDG: 591-616; Lichtblau 1993: 102-04). Simmel meint nun, dass aus bestimmten Gründen das Geld nicht nur ein, sondern ein in besonderem Maße beispielhaftes Symbol dieses gegenwärtigen Weltbildes sei. Seine Eignung zum Symbol der Ausdeutung dieses neuen Weltbildes geht einher mit dem Begehrt-Werden des Geldes: »In dem Maße, in dem das Absolute des Daseins […] sich in Bewegung, Beziehung, Entwicklung auflöst, treten auch für unsere Wertbedürfnisse diese an die Stelle jenes. Das Gebiet der Wirtschaft hat in dem psychologisch absoluten Wertcharakter des Geldes diesen geschichtlichen Typus restlos exemplifiziert« (PDG: 307; Hervorhebung PB)

Das Zitat lässt sich möglicherweise als eine Antwort Simmels lesen auf die von ihm in der »Moralwissenschaft« selbst aufgestellte Frage nach der Substitutionsmöglichkeit fester Ideale durch »eine Befriedigung am Relativen, Fließenden« (EM II: 31). »Tempo« und »Kritik« hätten diese zerstört und würden es auch nicht mehr zu einer Neubildung substanzieller, bindender Werte kommen lassen (ebd.: 30). Tempo und Bewegung bilden seit 1889 ein zunehmend wichtigeres Motiv von Simmels Geldstudien. Im Geld sah Simmel ein den Übergang von der »Form der Stabilität« hin zu der Form »der Bewegung, des ewigen Flusses, der Dinge, der steten Entwicklung« dienendes Medium, indem es selbst seine »Circulation erleichtert und beschleunigt« (PSYDG: 63). Mit der noch vergleichsweise frischen Prägung durch die Schule von Steinthal und Lazarus sprach Simmel damals noch von den Symptomen einer und

52 Zur Weltbildanalyse als Gegenstand der »Philosophie des Geldes« hat Klaus Lichtblau einen schönen Aufsatz geschrieben (vgl. Lichtblau 1993).

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derselben »völkerpsychologischen Wandlung« (ebd.: 64). Weder Bewegung, noch Tempo bildeten aber eine explizite Grundlage eines Vergleichs des Geldes mit Gott. 1896, in »Das Geld in der modernen Cultur«; wird das Mittel Geld »ein fortwährender Stachel zur Thätigkeit […]. Daher die Unruhe, Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine des Lebens zum Perpetuum mobile macht.« (GMC: 191; Hervorhebung im Original). Inhaltlich bestimmte Bedürfnisse treten zu unterschiedlichen, aber bestimmten Zeiten auf, aber nicht durchgehend. Man hat nicht immer Hunger, braucht nicht immer neue Kleidung. Geld dagegen kann man zu jeder Zeit brauchen, weil man jedes inhaltlich bestimmte, wann auch immer auftretende Bedürfnis mit ihm befriedigen kann. Simmel verknüpft in »Das Geld in der modernen Cultur« erstmals die Eigenschaften des Geldes mit der die Ökonomie übergreifenden Erscheinungsform der Unruhe. Simmel vergleicht die Permanenz des Geldbegehrens mit der Permanenz des Begehrens nach Gott, wie es auf Letzteres bezogen Friedrich Schleiermacher zufolge die Leistung des Christentums gewesen sei (vgl. ebd.: 191).53 Alle Unruhe finde im Geld seine Einheit, weil das Geld »alles Begehrenswerte in sich verdichtet«, es ist ein »Centralpunkt, den man, wie den Zauberschlüssel im Märchen, nur zu gewinnen braucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens zu gelangen.« (Ebd.: 190). Geld ist ein Versprechen auf die Befriedigung unbestimmter Bedürfnisse, deshalb kann man es aber auch nie ganz haben. Ähnlich ist in späteren Veröffentlichungen die pantheistische Verschmelzung mit Gott ein Widerspruch, auch wenn der von Gott eröffnete Horizont seines transzendenten Reiches das nicht final zu befriedigende religiöse Begehren nach Verschmelzung mit ihm entfacht. Die religionspsychologische Assoziation der »Sicherheit und Ruhe« des Geldbesitzes bleiben (ebd.: 192). Zwar mag man sich eine fortwährende psychologische Oszillation zwischen der Unruhe des Geld-Begehrens und der Ruhe des Geldgewinns als Implikation von Simmels Ausführungen gut vorstellen, Simmel selbst zieht beide Phänomene allerdings nicht zusammen. Das Tempo-Motiv erwähnt Simmel ebenfalls, allerdings nur peripher. Es findet Eingang über die aus der »Psychologie des Geldes« bereits bekannte Passage zur Beschreibung einer »Formel« seiner Gegenwart im Unterschied zu vergangenen traditionalen Zeiten (ebd.: 194). Die Gegenwart unterscheide sich gerade durch das »Tempo« des Geld- und Warenumschlages von »naturalwirthschaftlichen Zeiten« (ebd.: 195). 1897 schließlich, in »Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens«, baut Simmel das Tempo-Thema des Geldes zu einem eigenen Aufsatz aus. Der Dualismus von »Bewegung« und »Beharrung« bildet nun die Grundlage eines vitaldualistischen Weltbildes. Noch 1895 schreibt Simmel an Célestin Bouglé, dass er an einer »Psychologie des Geldes« arbeite (vgl. PDG: 726). Erst 1897, im Jahr des »Tempo«-Aufsatzes, sprach Simmel in einem Brief an Georg Jellinek erstmals von einer geplanten »Philosophie des Geldes« (vgl. ebd.: 726). Der Aufsatzinhalt fließt drei Jahre später – nicht vollständig, aber zu einem sehr großen Teil – als Schlussabschnitt in die »Philosophie des Geldes« ein (ebd.: 696-716). Entsprechend seinem methodischen Vorhaben, wonach der »synthetische Teil« der »Philosophie des Gel-

53 Interessanterweise war die Schleiermacher-Passage Teil des Geld-Gott-Vergleichs der ersten Auflage der »Philosophie des Geldes«, fiel jedoch Simmels Redaktion für die zweite Auflage zum Opfer (vgl. PDG: 760-61).

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des« im Unterschied zum »analytischen Teil« die Wirkungen des Geldes auf das Leben nachzuvollziehen hat, beschreibt Simmel zunächst und für den größten Anteil der »Tempo«-Passage die beschleunigenden Wirkungen des Geldes auf das Leben infolge der Veränderung geldwirtschaftlicher Verhältnisse. Die letzten sechs Seiten (711-716) sind vollständig jenseits der Empirie – aber gerade sie beschreiben Simmels Wandel zur Lebensphilosophie: Simmel deutet die »Doppelrolle des Geldes« als empirische Verkörperung des zeitlosen, metaphysischen Dualismus von Bewegung und Beharrung. Es lässt sich damit zeigen, warum Simmels Rede von »Philosophie« statt »Psychologie« durch die Sache gerechtfertigt gewesen ist. Ich widme mich in der Folge nur kurz Simmels Beschreibungen der Beschleunigungswirkung, verknüpfte diese aber bereits mit lebensphilosophischen Überlegungen. Anschließend wende ich mich en detail dem metaphysischen Korpus zu. Für im Prinzip ein und dieselbe Beschleunigungswirkung des Geldes nennt Simmel inhaltlich unterschiedliche Beispiele. Ein ungebremster Druck von nicht durch Edelmetall gedecktem Geld (vgl. ebd.: 698-99); eine nach politischer Stärke von wirtschaftlichen Schichten differenzierte und zeitlich verzögerte Erhöhung der Geldentlohnung im Vergleich zur Erhöhung der Konsumpreise (vgl. ebd.: 702-03); schließlich eine Beschleunigung des Lebens infolge räumlicher Verdichtung des Geldes, sei es auf Jahrmärkten infolge demographischer Verdichtung oder an Börsen infolge der Verdichtung der Handelspapiere selbst (vgl. ebd.: 704-708). Den Beispielen gemeinsam ist Simmels Methode, Beschleunigung vorrangig als ein Phänomen des Bewusstseins zu beobachten. Eine erhöhte Geldemission – das NordamerikaBeispiel – werde von den Individuen antizipiert. Bis zu einem »tipping-point«, an dem die zunehmende Entwertung des Geldes das Geld als Tauschmedium unbrauchbar macht, würden die Individuen darauf bedacht sein, Geschäfte schnellstmöglich abzuschließen, während Geschäfte auf lange Sicht vermieden würden. Schuldner, die zuvor beharrendere, »reale« Werte wie Grundstücke gegen Kredit erworben hatten, zahlten ihre Gläubiger mit entwertetem Geld aus. Eine Inflation macht die Wirtschaft nach Simmel also nicht nur kleinschrittiger, sondern sie kann auch die Vermögensverhältnisse umkehren. Die Differenzen im sozioökonomischen Bereich übersetzen sich gewissermaßen in die Umstrukturierung des Bewusstseinsprozesses hinein, der Bewusstseinsstrom verdichtet sich: Beschleunigungswirksam seien die »fortwährenden Unterschiedsempfindungen, die plötzlichen Risse und Erschütterungen innerhalb des ökonomischen Weltbildes, die sich in alle möglichen anderen Provinzen des Lebens fortpflanzen und so als wachsende Intensität seines Verlaufs oder Steigerung seines Tempos empfunden werden.« (Ebd.: 699) Im Prinzip das gleiche gilt auch für die verzögerte und differenzielle Erhöhung der Geldentlohnung in Relation zur Erhöhung der Warenpreise. Familien und Schichten sähen ihren sozioökonomischen Status in Gefahr, sowohl in Bezug auf das zeitliche Vorher als auch im sozialen Vergleich mit anderen Individuen. Statt »konservatives oder defensives Beharren« wie bisher sei dann »positiver Kampf und Eroberung erforderlich« (ebd.: 703) Obgleich – auf dieses Beispiel bezogen – die Veränderung augenscheinlich sozialer oder sachlicher Natur ist, wirkt die wahrgenommene Veränderung »anregend auf das Tempo des sozialen Lebens« (ebd.: 703). Ähnlich wie im Nordamerika-Beispiel spricht Simmel von psychologischen »Chocs und Erregungen vielerlei Art«, und: »[D]ie aufgetretenen Differenzen zwischen den Schichten fordern fortwährende Anspannung des Bewußtseins« (ebd.: 702). Eine räumliche Ballung

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von Waren- und Geldgeschäften zeitigt die gleiche Wirkung. Dieses Mal nimmt Simmel an, dass mit der Erhöhung der Anzahl an Individuen die Unterschiedlichkeit der zu verarbeitenden Sinneseindrücke einhergeht, was sich wiederum in einer wahrgenommenen Beschleunigung niederschlägt. Die »Steigerung des Lebenstempos« zeige sich »an der Zahl und Mannigfaltigkeit der einströmenden und einander ablösenden Eindrücke und Anregungen« (ebd.: 706). Die Sprache des Geldes bilde den kleinsten noch möglichen gemeinsamen Nenner zwischen unterschiedlichen Individuen, wodurch es »das Mannigfaltigste in den kleinsten Umfang zu konzentrieren [vermag] – diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens, das heißt also sein Tempo zu steigern.« (ebd.: 707) Eine rein soziale und räumliche Verdichtung kann beschleunigende Wirkung haben. Diese Hypothese findet sich wieder in Simmels Charakterisierung des Großstadtlebens in Unterscheidung zum provinziellen Land- und Kleinstadtleben (vgl. GG: 117, 123, 129). Dass sachliche und soziale Differenzen als zeitlich wahrgenommene Veränderungen bewirken können, begründet sich in Simmels Definition des Zeiterlebens, welche er ganz zu Anfang seines »Tempo«-Aufsatzes bzw. seines TempoAbschnittes stellt: »Unsere innere Welt ist gleichsam nach zwei Dimensionen ausgedehnt, deren Maße über das Lebenstempo bestimmen. Je tiefer die Unterschiede zwischen den Vorstellungsinhalten – selbst bei gleicher Zahl der Vorstellungen – in einer Zeiteinheit sind, desto mehr lebt man, eine desto größere Lebensstrecke gleichsam wird zurückgelegt. Was wir als das Tempo des Lebens empfinden, ist das Produkt aus der Summe und der Tiefe seiner Veränderungen.« (PDG: 696)

Dieses Zitat ist von Bedeutung, weil Leben und Zeit zwei aufeinander zugeschnittene Dimensionen zu sein scheinen. Die im Bewusstseinsstrom aneinander anschließenden Inhalte können in unterschiedlichem Kontrast zueinander stehen, sich unterschiedlich scharf gegeneinander abheben. Und in Abhängigkeit dieser Höhe variiert das Lebenstempo. Dieses unterscheidet Simmel offensichtlich von einer nicht näher definierten objektiven – vielleicht physikalischen – Zeit (»in einer Zeiteinheit«). Weil Tempo-Erhöhung identisch mit Kontrasterleben ist, wird entsprechend mehr erlebt; das Leben »fließt« nicht nur still vor sich hin, sondern wird »wachgerüttelt« und deshalb bewusster er-lebt. Simmel meint sogar, dass man überhaupt mehr lebt – vielleicht sogar im Sinne des: Mehr-Lebens –, je unterschiedlicher die Erlebnisse innerhalb einer objektiv bestimmten Zeiteinheit beschaffen sind. Eine Erklärung dafür könnte in einer Rückführung Simmels von individuellen Handlungen und Bewusstseinserlebnissen auf die vital-ontologische Basiseinheit des Lebens gesehen werden: das, was Simmel in der »Lebensanschauung« durchgehend den »Pulsschlag« des Lebens nennt (LA: 365, 382, 401, jeweils mit explizitem Bezug auf die Handlung). Was pulsiert, lebt.54 In der »Lebensanschauung« heißt es, »Zeit ist die – vielleicht abstrakte – Bewußtseinsform dessen, was das Leben selbst in nicht aussagbarer, nur zu erlebender unmittelbarer Konkretheit ist« (ebd.: 221). Zeit ist deshalb ein Symbol für das

54 Es wäre der Spekulation wert, ob sich der Pulsschlag nach Simmel als das eigentliche lebensphilosophische Basis-Element eignet. Simmels Diskussion des Handlungsbegriffs im »individuellen Gesetz« weist meiner Meinung nach darauf hin (vgl. LA: 365).

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Leben. Sie werde erst wirklich, indem der nicht-zeitliche »Gegenwartspunkt« sowohl in die Richtung der Vergangenheit als auch in jene der Zukunft »transzendiert« werde (ebd.: 221). Über diese aus der »Philosophie des Geldes« und der »Lebensanschauung« stammenden Passagen hinaus lassen sich noch in Simmels raumsoziologischen Ausführungen recht kurz gehaltene Bemerkungen zu der Zeit als einer apriorischen Kategorie des Bewusstseins finden. Dies geschieht in Analogie zum Raum, also indirekt (vgl. SOZ: 687, 710, 713, 717, 719, 774-75). Da der Raum für Simmel explizit eine apriorische Formungskraft des Bewusstseins darstellt – »daß der Raum überhaupt nur eine Tätigkeit der Seele ist, nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden.« (SOZ: 688-89) – lässt sich vergleichsweise leicht auf den Status der Zeit als einer Vitalkategorie schließen. Ich widme mich nun Simmels vitaldualistischer Deutung des Geldes als Widerspiel aus Leben und Form, aus Bewegung und Beharrung. Simmel deutet Geld vitaldualistisch, indem er den Vitaldualismus aus Leben und Form am Geld greifbar macht. Dies tut er anhand »des Beharrungs- und Veränderungsbegriffes« (PDG: 711). Später spricht Simmel synonym von Beharrung und Bewegung. Dies wiederum sind beides Semantiken, auf die Simmel zur Symbolisierung des Vitaldualismus von Leben und Form zurückgreift: »Mehr-Leben« oder »Leben« wird als Bewegung oder Kontinuität begriffen; »Mehr-als-Leben« als »Form«, die Form ist, weil sie beharrt und unveränderlich ist (ich verweise auf Kapitel 4.3 in diesem Buch). Simmels Analyse auf den Seiten 711-716 ist eine metaphysische. Er geht drei Möglichkeiten durch, das Verhältnis von Beharrung und Bewegung zueinander zu deuten, unter denen Simmel meines Erachtens die letzte Möglichkeit präferiert. Ausschließlich auf diese letzte Möglichkeit wird Simmel den materiell-empirischen Fall des Geldes beziehen, es sprechen aber auch philosophische Überlegungen für diese Präferenz. Doch der Reihe nach. Die ersten beiden Möglichkeiten zeichnen sich durch den Versuch aus, die Einheit des Seins auf einen einzigen Begriff hin zu reduzieren – entweder Bewegung oder Beharrung –, und den jeweils anderen zum Schein oder zur Ableitung des anderen zu erklären. Zunächst (a) erwägt Simmel die »Idee eines […] unveränderlichen Seins« (PDG: 711). Die Formen verändern sich, aber die zu formende Substanz selbst bleibt unverändert. Dieser Deutung stellt Simmel eine gegenläufige Deutungsweise (b) entgegen. Auf den ersten Blick »sind es gerade gewisse Formen, die eine Zeit hindurch beharren« (ebd.: 711; Hervorhebung im Original). Doch unter der Oberfläche der Form, so Simmel, befänden sich die Elementarteilchen stets in Bewegung: »So beharrt der Regenbogen bei fortwährender Lageveränderung der Wasserteilchen« (ebd.: 712). Diese beiden hier genannten »Welt«-Deutungsmöglichkeiten – Simmel spricht wortwörtlich von »Welt« auf jeder einzelnen Seite (ebd.: 711, 712, 713, 714, 715, 716)55 – entsprechen nun interessanterweise der Einteilung des zweiten Kapitels »Sein und Werden« aus der 1910 veröffentlichten »Hauptprobleme der Philosophie«. »Sein« und »Werden«, darauf weist Simmel in der Ankündigung des besagten Kapitels hin, hätten sich seit Anbeginn der Philosophiegeschichte in der griechischen Antike jeweils »als Zentralpunkte der Vereinheitlichung des Weltbildes,

55 Wie Simmel auch von »Welten« in der »Wendung zur Idee« spricht.

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als umfassendste Ausdrücke der geistigen Reaktion auf dessen Gesamtheit gezeigt« (HPH: 43). Entsprechend ihrer Individualität haben Platon, Zenon, Heraklit und Hegel entweder das Sein (Platon und Zenon) oder das Werden (Heraklit und Hegel) als jenen Teil ausgewählt, anhand dessen sie die Ganzheit des Seins deuteten. Zur Mitte des Kapitels von »Sein und Werden« notiert Simmel dann: »Wie für den Philosophen des Seins die Erfahrung, dass in allem Wechselnden etwas beharrt, so wächst für den Philosophen des Werdens die andre: dass in allem Beharrenden etwas wechselt, zum Weltbild aus.« (Ebd.: 62) Dieser Satz entspricht meines Erachtens den eben vorgestellten Deutungsmöglichkeiten von »Welt« in der »Philosophie des Geldes«. Während Simmel in der »Philosophie des Geldes« die Philosophien des »Seins« (a) und des »Werdens« (b) nicht weiter evaluiert, folgt der ideengeschichtlichen Darstellung in den »Hauptproblemen« ein kritischer Kommentar zu beiden Seiten hin. So setze die Behauptung eines unveränderlichen Seins »ihre eigne Gültigkeit schon voraus!« (Ebd.: 79) Die gegenläufige These, alles sei stets im Werden, sei noch offensichtlicher mit einem Selbstwiderspruch behaftet, da sich die Behauptung selbst zu einer nur vorläufigen Zwischenstufe im heraklitischen Fluss des Seins erkläre (vgl. ebd.: 79). Eine »Werdens«-Philosophie müsste sich dann selbst aus ihrem Gegenstandsbereich herausnehmen. Aufgabe einer Philosophie ist es nach Simmel aber nicht, philosophische Systeme auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, und deshalb hält sich Simmel abgesehen von dem sehr kurz gehaltenen Kommentar auch mit einem eigenen Lösungsvorschlag zurück, die Einheit des Seins an einem Begriff deuten zu wollen. Dies gilt zumindest für die »Hauptprobleme«, die eine ideengeschichtliche Präsentation der Lösungsvorschläge anderer Philosophen ist. Allerdings legt die thematische Auswahl der Kapitel nahe, dass auch in Anordnung der Philosophien anderer Simmel seine Individualität objektivierte.56 Kommen wir aber zu dem, was meines Dafürhaltens nach Simmels eigene philosophische Präferenz in der »Philosophie des Geldes« ist. Was Simmel nun macht, ist, die Einheit des Seins in einer konstitutiven Wechselwirkung zwischen Bewegung und Beharrung zu suchen. Beide, Bewegung und Beharrung, ließen sich als absolut denken. »Absolut« bedeutet für Simmel, dass sowohl Bewegung als auch Beharrung ihrem Prinzip nach »jenseits jeder noch so ausgedehnten Zeitdauer« stehen (PDG: 712). Das funktioniert in beiden Fällen, in denen Simmel zwischen Form und Inhalt oder, was für diesen Fall synonym ist, der Funktion und Substanz unterscheidet. Das nicht-monetäre Beispiel Simmels ist das Naturgesetz. Wir können uns inhaltlich darüber irren, welche Naturgesetze gelten. Seiner Form und seiner Funktion nach aber ist das Naturgesetz »aus der Wirklichkeit herausgezogen und in jenem ideellen Reich der bloßen Gesetze gesammelt« (ebd.: 714). Wir sehen das Naturgesetz nicht direkt. Die Form des Naturgesetzes ist in den Bewegungen der Elemente und den Abständen der Elemente zueinander; in und an ihnen zeigt es sich, es ist aber nicht identisch mit den Dingen. Das Gesetz beharrt, weil es alle irgendwie zugänglichen Elemente nach seinem Prinzip formt, selbst aber nicht Teil der Bewegung ist. Gerade aber weil alle Elemente unter das beharrende Gesetz

56 Nach »Vom Sein und Werden« folgen »Vom Subjekt und Objekt« und »Von den idealen Forderungen«. Simmel scheint die philosophischen Probleme und die zentralen Kategorien zur Lösung der philosophischen Probleme seiner Individualität gemäß geordnet zu haben.

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fallen, so Simmel, könne das gesamte Sein in Bewegung aufgelöst werden, »unaufhörlich Wirkungen aus Ursachen hervortreiben und, was soeben Wirkung war, im gleichen Augenblick schon als Ursache wirken lassen« (ebd.: 713). Simmel greift damit ohne expliziten Rückbezug den spekulativen Atomismus wieder auf: Das Sein mag zwar ein energetisches Werden nicht näher bestimmbarer Atome sein, allerdings ein Werden innerhalb einer dem Werden entzogenen Form – der Welt -, die der ansonsten vollkommen qualitätslosen Flussbewegung ihre Regeln gibt: »[I]n der Wirklichkeit selbst dauern die Dinge überhaupt keine Zeit, durch die Rastlosigkeit, mit der sie sich in jedem Moment der Anwendung eines Gesetzes darbietet, wird jede Form schon im Augenblick ihres Entstehens wieder aufgelöst, sie lebt sozusagen nur in ihrem Zerstörtwerden, jede Verfestigung ihrer zu dauernden – wenn auch noch so kurz dauernden – Dingen ist eine unvollkommene Auffassung, die den Bewegungen der Wirklichkeit nicht in deren eigenem Tempo zu folgen vermag. So ist es das schlechthin Dauernde und das schlechthin Nicht-Dauernde, in die und deren Einheit das Ganze des Seins ohne Rest aufgeht.« (Ebd.: 714; Hervorhebung PB)

Kurz: Alles verläuft gesetzesförmig, und deshalb kann genau dieser durch das Gesetz bezeichnete Werdens-Prozess materieller Inhalte dem Prinzip nach überhaupt erst eine Gestalt, d. h. Form annehmen. Deshalb spricht Simmel von einer absoluten Bewegung, die durch eine absolute Beharrung bedingt ist, und umgekehrt macht die Hypothese einer umfassenden, absolut beharrenden Form nur Sinn, wenn es eine vollständig durch sie umfasste Bewegung aller Elemente gibt: »Nur weil die Realität sich in absoluter Bewegtheit befindet, hat es einen Sinn, ihr gegenüber das ideelle System zeitlos gültiger Gesetzlichkeiten zu behaupten; umgekehrt: nur weil diese bestehen, ist jener Strom des Daseins überhaupt bezeichenbar und greifbar, statt in ein unqualifizierbares Chaos auseinanderzufallen.« (Ebd.: 715)

Wie nun ein Blick in die »Lebensanschauung« zeigt, ist das materielle Beispiel der naturgesetzlichen Bewegung der Weltelemente eine Exemplifikation der die dualistische Einheit des Lebens konstituierenden Komponenten Leben (= Bewegung) und Form (= Beharrung). Dort nämlich impliziert das Prinzip der »Kontinuität«, dass »es zu keinem […] Eigenbestand einer Seinsenklave kommen [kann], man kann dann nicht einmal mehr von fortwährender Zerstörung der Formen reden, weil etwas, das zerstört werden könnte, von vornherein nicht zu entstehen vermöchte.« (LA: 225; Hervorhebung PB)57 Komplementär dazu ist Simmels Notiz zum Beharrungsprinzip der Form bzw. des Mehr-als-Lebens zu lesen: »Die Form ihrerseits kann sich nicht ändern, sie ist das zeitlos Invariable; die Form eines stumpfwinkligen Dreiecks bleibt ewig nur diese, und wenn durch sprunglose Verschiebung der Seiten daraus ein spitzwinkliges wird, so ist die Form des Gebildes, in welchem Moment des Prozess ich sie auch erfasse, eine absolut feste und gegen die in einem anderen Moment, so gering die Abweichung auch sein möge, absolut verschiedene. Der Ausdruck, das Dreieck habe

57 Kleine Unterschiede, es bleibt aber meines Erachtens bei der inhaltlich gleichen Aussage.

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›sich‹ verändert, legt ihm in anthropomorpher Weise eine lebensmäßige Innerlichkeit bei« (ebd.: 226; Hervorhebung PB).

Beide Zitate widersprechen in der Kombination ihres Aussagengehaltes auch nicht, beispielsweise, dem simmelschen Konzept vom »individuellen Gesetz«. Im Gegenteil. Das »individuelle Gesetz« impliziert, dass mit dem Gegeben-Sein von Individualität auch sein Sollen gegeben ist; der Inhalt dessen, was dieses Individuum inhaltlich-substanziell zu tun hat, ist dagegen im Werden und ergibt sich, praktisch, aus der Wechselwirkung in den Formen von Kultur und Gesellschaft (vgl. ebd.: 409). Leben und Form, Bewegung und Beharrung finden dann an der Einheit des Lebens zusammen. Es ist, indem es wird. Gleichermaßen verfährt Simmel mit dem Geld in der »Philosophie des Geldes«. Im Geld sieht Simmel die vitaldualistische Einheit aus Bewegung und Beharrung symbolisiert. So (a) für die Bewegung: »Für den absoluten Bewegungscharakter der Welt nun gibt es sicher kein deutlicheres Symbol als das Geld. Die Bedeutung des Geldes liegt darin, daß es fortgegeben wird; sobald es ruht, ist es nicht mehr Geld seinem spezifischen Wert und seiner Bedeutung nach. Die Wirkung, die es unter Umständen im ruhenden Zustand ausübt, besteht in einer Antizipation seiner Weiterbewegung. Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins.« (PDG: 714)

Und so (b) für die Beharrung: »Wenn das Gesetz, selbst jenseits aller Bewegungen stehend, doch deren Form und Grund darstellt, so ist der abstrakte Vermögenswert, der nicht in Einzelwerte auseinandergegangen ist und als dessen Träger das Geld subsistiert, gleichsam die Seele und Bestimmung der wirtschaftlichen Bewegungen […], sein ideeller Sinn ist, wie der des Gesetzes, allen Dingen ihr Maß zu geben, ohne sich selbst an ihnen zu messen […]. Wie der allgemeine Begriff […], so ist das Geld, d. h. derjenige innere Sinn, durch den das einzelne Metall- oder Papierstück zum Gelde wird – der Allgemeinbegriff der Dinge, insofern sie wirtschaftlich sind.« (Ebd.: 714-15)

Geld ist, so Simmel schließlich, das »Gesetz des Wert-Werdens« (ebd.: 715). Dass Simmel von dem abstrakten Vermögenswert Geld mit »Seele und Bestimmung der wirtschaftlichen Bewegungen« wie von einem schöpferischen – fast göttlichen – Urgrund spricht, aus dem und in das die ökonomischen Inhalte kommen und gehen, ist semantisch frappierend. Der Aufteilung von Bewegung und Beharrung entspricht, wie meines Erachtens recht deutlich wird, die bereits oben genannte »Doppelrolle des Geldes«. Die Differenz liegt in der Dynamisierung der einzelnen, greifbaren Geldmenge. Der abstrakte Vermögenswert indiziert den beharrenden Charakter des Geldes: Es tritt nicht in den Austausch mit den Waren ein, sondern ist quantifizierende Ausdrucksform des wechselseitigen Austauschbarkeitsverhältnisses. Die Eigenständigkeit des ökonomischen Tausches besteht nach Simmel darin, dass die Waren in der Wechselseitigkeit des Tausches ihren Wert aneinander konstituieren. Simmel nennt dies das »Gesetz des Wert-Werdens«, und um dieses »Gesetz« auch wirklich in realiter umzusetzen, bedarf es der die Warenzirkulation umfassenden Form des Gel-

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des. Wenn Simmel vom »Gesetz des Wert-Werdens« spricht, geschieht dies in bewusster Analogie zum Naturgesetz (hier konkret: »des Gravitationsgesetzes«, ebd.: 715). Das Beeindruckende an dieser Parallelstellung ist in meinen Augen, dass Simmel damit zum Ende des Buches die Unterscheidung einholt, mit der er die »Philosophie des Geldes« begonnen hat: der Unterscheidung zwischen der »Ordnung der Dinge« nach »dem Naturgesetz« und der »Rangierung nach Werten« (ebd.: 23; Hervorhebung im Original) – also: Sein und Wert; oder auch: Sein und Sollen. Weil die Natur Simmel zufolge den Wünschen und Wertungen unsererseits gegenüber vollständig indifferent ist, meinte Simmel, Sein und Wert ganz prinzipiell unterscheiden zu müssen (vgl. ebd.: 24-28). Am Ende des Buches unterscheidet Simmel dann vom natürlichen Sein das geldökonomische Wert-Werden. Der Bezug dieser beiden philosophischen Hauptbegriffe »Sein« und »Werden« aufeinander – ohne die Differenz ihres Prinzips aufzuheben – wird umso markanter, als dass Simmel zufolge die Geldform des ökonomischen »Wert-Werdens« es vermag, das natürliche »Sein« umzugestalten und -zupflügen. Die Form des »Wert-Werdens« impliziert die Dynamik in seinem Elementarbereich, und zu deren Vermittlung bedarf es des konkreten, fassbaren Geldes. Das »einzelne Geldquantum« ist greifbar, aber deshalb in »unablässiger Bewegung«, und dies, wie Simmel betont, »seinem Wesen nach« (ebd.: 714). Simmel meint, mit dieser Analyse »den Beitrag« charakterisiert zu haben, welchen »das Geld durch seinen eigenen Charakter« zur »Bestimmung des Lebenstempos« liefere, »abgesehen von seinen zuerst besprochenen technischen Folgen« (ebd.: 711). Simmel meint damit nicht, dass man beispielsweise sein Geld nicht sparen kann, ohne dass es dann seinen Charakter als Geld verliert. Das ist schon empirisch falsch, denn das Sparen der einen ist der Kredit anderer, und Angebot und Nachfrage nach Kredit reguliert sich über die Zinshöhe. Auf diesen Doppelaspekt der Geldleihe wies Simmel selbst hin (vgl. ebd.: 204-05). In der Geldleihe geht das materielle, quantitativ begrenzte Geld in die geldvermittelte Warenzirkulation. Davon zu unterscheiden wäre das zinslose Geldhorten unter dem Kopfkissen oder im hauseigenen Safe.58 Dann arbeitet Geld nicht, wäre aber nur Geld unter der Annahme, es weiterhin in den Tausch geben zu können. Es ist nicht unwichtig darauf hinzuweisen, dass Simmel recht früh im zum »analytischen Teil« gehörenden »Wert-und-Geld«-Kapitel synonym zum Tausch auch von »Austauschbewegungen« (ebd.: 54), der »Ausgleichsbewegung zwischen Opfer und Gewinn« (ebd.: 71), »wirtschaftliche Bewegung« (ebd.: 75), »Tauschbewegung« (ebd.: 84), »Tauschbewegungen« (ebd.: 132) spricht. Plastisch kann man dies gut nachvollziehen: Gegenstände wechseln ihre Eigentümer, und dieser EigentümerWechsel ist eine Bewegung der Gegenstände. Natürlich, beim Kauf eines Hauses bleibt das Haus selbst stehen, aber inwiefern dies ein Einwand ist und wie qualitativ weitreichend er für angesichts einer ansonsten weiträumigen Warenzirkulation ist, lasse ich erst einmal dahingestellt, auch weil die gleichsam natürliche Beharrungsfähigkeit von Grund und Boden für Simmel einen – die »Regel« bestätigenden – Sonderfall darstellt (vgl. weiter unten in diesem Unterkapitel). Die genannte Aufzählung ist eine Auswahl, aber nicht erschöpfend. Sie soll ein Hinweis darauf sein, dass

58 Wenn es einen Negativzins gibt, kann das Horten von Bargeld vor Geldwertverlust schützen.

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Simmel den Tausch bereits seinem Wesen nach und d. h.: a priori als dynamisch konzipiert. Bereits das Tauschapriori im geistigen Leben bezeichnet Simmel als »Kontinuität von Gewinn und Verlust, Zufließen und Abfließen der Lebensinhalte« (ebd.: 60). Die Entwicklung zur Geldwirtschaft wäre dann die zur logischen Konsequenz hervorgetriebene Objektivierung eines innerlichen Vitalprinzips. Bemerkenswert erscheint mir in dem Zusammenhang weiterhin die folgende Bemerkung Simmels: »Geld trägt die Kontinuität der wirtschaftlichen Ereignisreihe. Diese Reihe lebt gleichsam in Endosmose und Exosmose: in der Produktion und Konsumtion der Güter. Aber dies ist nur ihr Material und läßt die Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität ihrer Form noch offen. Jede Konsumtion reißt zunächst eine Lücke in die Stetigkeit der wirtschaftlichen Linie und ihr Verhältnis zur Produktion ist zu wenig geregelt, zu sehr dem Zufall preisgegeben, um den Verlauf der Linie in Ununterbrochenheit zu halten. […] In den […] Strom tritt nun zur Ausgleichung jener drohenden Unterbrechung das Geld ein.« (Ebd.: 129; Hervorhebung im Original)

Diese ›Lückenfüller‹-Funktion erfüllt das Geld als greifbares, quantitativ begrenztes Geld, das seine Bedeutung aber aus der die Ökonomie umfassenden Einheitsform des abstrakten Vermögenswertes gewinnt (vgl. ebd.. 130). Diese Passage wäre ohne die Fluss- oder Strommetapher meines Dafürhaltens nach kaum von exegetischem Wert.59 Simmel geht es hier ja beispielsweise nicht um die wirtschaftswissenschaftliche Frage ökonomischer Effizienz, ob Konsum und Produktion oder Bedürfnis und Befriedigung eher über einen zentral gesteuerten Plan oder die dezentrale Steuerung über den Markt funktionieren soll. Eine ökonomische Wohlstandsfunktion stellt Simmel auch nicht auf. Es geht Simmel um die Bewegung, die Kontinuität, die nicht im Naturaltausch, sondern erst in einer ausdifferenzierten Geldwirtschaft konstituiert wird. Die Geldwirtschaft bringt das Prinzip der Tauschbewegung »der Tatsache nach« auf seinen Nenner (ebd.: 130; Hervorhebung PB). Schauen wir von hieraus erneut in das erste Kapitel der »Lebensanschauung«, in welchem Simmel den Lebensbegriff definiert: Dort versteht Simmel unter dem Prinzip der »Kontinuität« die Form »der extensiven Darstellung der absoluten Einheit des Seins« (LA: 225). Ich fasse kurz zusammen: Die »Doppelrolle des Geldes«, die Unterscheidung in einen abstrakten Vermögenswert und den symbolischen Geldkörper, dynamisiert

59 Paschen von Flotow verknüpft die Passage mit der laut Simmel von jedem Geld geforderten Geldwertstabilität (vgl. von Flotow 1995: 96-98). Die Geldwirtschaft bedürfe eines vergleichsweise wertstabilen Geldes, und nur dann könne die Kontinuität der Wirtschaftsreihe realisiert werden. Simmel nennt dies »Wertkonstanz« (PDG: 130; Hervorhebung im Original). Ich stimme von Flotows Beobachtungen zu. Seine hervorragend minutiöse Analyse übersieht meines Dafürhaltens nach aber, dass Simmel die empirisch erforderlichen Attribute des Geldes unterscheidet von der vorrangigen, primären Funktion des Geldes, die Einheit des Tausches zu konstituieren (siehe oben). Das Erfordernis nach Wertkonstanz ergibt sich ja aus der Individualität der Begehren. Die Individualität ökonomischen Begehrens erschöpft sich umgekehrt aber nicht auf der zeitlichen Achse – auch wenn es hier um die zeitliche Achse gehen mag und zum Verständnis der Dualität von Bewegung und Beharrung von Bedeutung ist.

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Simmel durch deren wechselseitige Bezugnahme aufeinander. Die Beharrung der abstrakten Form und die Bewegung des konkreten, individuellen Körpers finden ihren Sinn aneinander. Eine Eigengesetzlichkeit des Tausches gibt es nur, wenn die Dinge sich in Bewegung finden, und die Dinge können sich nur in Bewegung befinden, wenn sie Elemente einer jenseits der Bewegung stehenden, diese Bewegung erst beobachtbar machenden Geldform sind. Mit der hier genannten Umstellung von Geldpsychologie auf -philosophie verbunden war ein weiterer Dualismus impliziert, dem ich mich an dieser Stelle widme, und zwar Simmels Überlegungen zum »Wertplus des Geldes« (PDG: 268). Unter dem »Wertplus des Geldes« versteht Simmel den Umstand, dass das Geld infolge der individuellen Verwendungsfreiheit in sachlicher wie in zeitlicher Hinsicht einen Eigenwert erhält (vgl. Deutschmann 2000; 2008: 44-48). Oder, wie Simmel es ausdrückt, »die Möglichkeit der Wahl ist ein Vorteil, der im Werte des Geldes eskomptiert werden muß.« (PDG: 267) Symptome des »Wertplus’« zeigen sich nach Simmel in einer Asymmetrie des Tausches, wonach die Geld-gebende Partei von der Ware gebenden Partei mit einem Entgegenkommen im Geschäft rechnen kann, das sich nicht in dem rechnerischen Geld-Ware-Äquivalent erschöpft. Die Geld gebende Partei gebe ja nicht nur das Wertäquivalent der Ware, sondern die Freiheit der Wahl zwischen inhaltlichen Alternativen, und dieser Verzicht baue eine Erwartungsstruktur der Kulanz auf (vgl. ebd.: 270-71).60 Dieser Aspekt des Wertplus ist hier jedoch nicht von Interesse, sondern mir geht es zunächst um die Geldförmigkeit der Wahlfreiheit, welche das »Wertplus« konstituieren. In sachlicher Hinsicht können Individuen frei zwischen den Dingen wählen. Simmel macht keine inhaltliche Auflistung, sondern ihm geht es um die Veranschaulichung des mit dem Geld verbundenen Prinzips der Freiheit. Waren – Simmel nennt das Beispiel Arbeitsleistung – sind nur gegen Geld, »Geld aber gegen alle Mannigfaltigkeit der Waren umzusetzen.« (Ebd.: 267) Weiter spricht Simmel von dem »unbegrenzt großen Kreise«, aus dem das Individuum »statt dieses Gegenstandes« einen anderen wählen könne (ebd.: 267). Neben der Beliebigkeit der Dinge, für welche Geld bezahlt werden kann, steht die Beliebigkeit der »Zeitpunkte, in denen es verwendet werden kann.« (Ebd.: 269) Manche Dinge müssen vergleichsweise rasch verwendet werden. Ihr Gebrauch duldet keinen oder kaum einen Aufschub, ohne dass

60 Paul (2012: 128-29) interpretiert Simmels »Wertplus« als anderes Wort für den zu zahlenden Geldzins: »Dieses ›Wertplus des Geldes‹ […] ist nichts anderes als der Zins, insofern man ihn nicht neoklassisch, sondern mit […] Keynes als Ausdruck der ›Liquiditätsprämie‹ des Geldes versteht.« Das Individuum erhält einen Preis für die Aufgabe der Verfügungsfreiheit des Geldes. Diese Interpretation Pauls geht ein wenig über das hinaus, was Simmel selbst sagte, liegt aber meines Erachtens durchaus auf einer von Simmel einmal angefangenen, dann wirtschaftstheoretisch extrapolierten Linie. Simmel selbst hat den Zins mit dem »Wertplus« nicht explizit in Verbindung gebracht. Den Zins leitet Simmel aus der Doppelstellung des Geldes ab, d. h. einmal die Tauschform zu artikulieren, dann einmal, als zu schaffendes wie handelbares Kapital, selbst Element der Tauschform zu sein, als welches es einen Preis erhalten muss (vgl. PDG: 126). Darüber hinaus scheint der Zins für Simmel ein legitimer Preis nicht allein für die Tauschvermittlung zu sein, sondern für seine Fähigkeit, als produktives Kapital zu dienen (vgl. PDG: 221-22).

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sie den Wert, der Grund für ihren Gebrauch ist, verlieren – wie beispielsweise Nahrungsmittel; auch gegeben den Umstand, dass Nahrungsmittel unterschiedlich schnell verderben, je nach Konservierungstechnik. Bei anderen Dingen, so Simmel, macht eine Verwendung erst später bzw. zu bestimmten Zeitpunkten Sinn. Dicke Jacken, Handschuhe und kurze Hosen trägt man bedingt durch die Jahreszeiten. Jenes Gut, so Simmel, sei nun »das wertvollere, das ich sogleich verwenden kann, aber nicht sogleich verwenden muß.« (Ebd.: 269; Hervorhebung im Original) Ein Gegenstand ist nun umso mehr Geld, je mehr es genau diese Eigenschaften in sich vereint: jederzeit verwendbar zu sein, aber zu keinem bestimmten verwendet werden zu müssen (vgl. ebd.: 269). Simmel spricht hierbei explizit von »wertsteigernden Momente[n]« (ebd.: 269; Hervorhebung PB). Das »Wertplus« beruht auf der Abstraktion der für die Objektivation des Tauschprinzips nötigen Geldform von bestimmten Inhalten, und zwar in der Sach- wie in der Zeitdimension; nicht aber in der Sozial oder Raumdimension: »Aus diesem besonderen Wert des Geldes, der seiner völligen Beziehungslosigkeit zu allen Besonderungen von Dingen und Zeitmomenten, der völligen Ablehnung jedes eigenen Zweckes, der Abstraktheit seines Mittelscharakters entstammt – fließt das Übergewicht dessen, der das Geld gibt, über denjenigen, der die Ware gibt.« (Ebd.: 270)

Weil Simmel zufolge der objektivierte Tausch auf individueller Freiheit beruht, macht die Abstraktion der Geldform von der Bindung an bestimmte Zeitpunkte und Sachinhalte das Geld nicht nur zu Geld, sondern den Tausch erst zum Tausch. Die Geldförmigkeit, auf die Simmel in der Beschreibung des Wertplus zurückgreift, ist nun ersichtlich die »Doppelrolle« des Geldes, die sich unterscheidet nach dem abstrakten – von konkreten Inhalten gelösten – Vermögenswert einerseits und dem konkreten Geldsymbol andererseits, welches den Tausch erst materiell greifbar macht. Die Überlegenheit des Geldes gegenüber der partikularen Ware kann ja nicht daher rühren, dass konkretes Geld gegen konkrete Ware getauscht wird. Seinen Sinn erhält das konkrete Geld ja erst aus der abstrakten Geldform des Tausches: Die abstrakte Geldform umfasst unbestimmt viele Dinge, und dies impliziert für das konkrete Geld erst die die partikulare Tauschsituation transzendierende Wahlfreiheit. Nun ist es so, dass die lebensphilosophische Wende zum Dualismus aus geldförmiger Beharrung und geldförmig induzierter Bewegung zurückwirkte auf Simmels Analyse des Wertplus: Das Geld wird inhaltlich schöpferisch. Was Geld in sachlicher Hinsicht zum abstrakten Vermögenswert macht, ist der Geltungsbereich der Dinge, die gegen Geld eintauschbar sind. Empirisch geschieht dies nach Simmel über die Ausdehnung des Wirtschaftskreises, innerhalb dessen die Tauschform sich reproduziert. In deren Konsequenz steht die Ausformung zu einer über einen gemeinsamen Markt integrierten Weltwirtschaft (vgl. ebd.: 220-21, 290; SOZ: 832). Mit der Lösung der Geldform von der Bindung an bestimmte Inhalte ›kippt‹ das Verhältnis zwischen Form und Inhalt: Die inhaltlich abstrakte Geldform drängt zur Bestimmtheit eines a priori unbestimmten Potenzials: »Die bloße Möglichkeit unbegrenzter Verwendung, die das Geld wegen des absoluten Mangels an eigenem Inhalt nicht sowohl hat als ist, spricht sich positiv darin aus, daß es nicht ruhen mag, sondern wie von sich aus fortwährend zum Verwendetwerden drängt. Wie für wortarme Sprachen, z. B. die französische, gerade die Notwendigkeit, vielerlei verschiedenes mit dem-

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selben Ausdruck zu bezeichnen, eine besondere Fülle von Anspielungen, Beziehungen, psychologischen Obertönen ermöglicht, und man so sagen kann, ihr Reichtum bestünde gerade in ihrer Armut, – so bewirkt die innere Bedeutungsleere des Geldes die Fülle seiner praktischen Bedeutungen, ja, drängt dahin, die begriffliche Unendlichkeit seines Bedeutungskreises mit fortwährenden Neubildungen zu erfüllen, der bloßen Form, die es darstellt, immer neue Inhalte einzubilden, da sie für keinen ein Haltepunkt, sondern für jeden nur ein Durchgang ist.« (PDG: 267; Hervorhebung im Original)

Die nicht-greifbare Seins-Totalität des abstrakten Vermögenswertes kann nur sein im Werden in einer Permanenz der »fortwährenden Neubildungen« wirtschaftlicher Werte. Das Leben kann nur sein in der Form-Werdung der Individualität; so auch das Geld: der abstrakte Vermögenswert kann nur sein in der Form einer konkreten, quantitativ begrenzten Geldsumme; deshalb ist es Symbol, nicht der Tausch selbst. Das Geldsymbol besitzt seinen Sinn in der »Selbstentäußerung« (ebd.: 714) in die Tauschbewegung, und nur darin, um in dieser Bewegung der Geld-Waren-Zirkulation die Einheit des jeden partikularen Tauschakt transzendierenden abstrakten Vermögenswertes zu realisieren, ohne diese Einheit jemals erschöpfend verwirklichen zu können, d. h. irgendwie an ein Ende zu kommen. Die begrenzte Partikularität der individualisierten Geldform bezieht ihren Sinn aus der umfassenden Einheit des Geldes, und deshalb ist sie zur Überwindung jeder bestimmten Grenze einerseits, zur Neubildung andererseits bestimmt. »Bestimmt« aber nicht im teleologischen Sinne, sondern im Sinne eines von ›unten‹ her wirkenden, vitalen Schöpfungstriebes, dem keine individuelle Form genügt, ohne auf die Individualität der Form verzichten zu können. In Anlehnung an die Worte Joseph Schumpeters, aber meines Erachtens gedeckt durch die simmelsche Lebensphilosophie, objektiviert sich die ursprünglich produktive Individualität des Lebens in die Geldform einer schöpferischen Zerstörung.61 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Simmel beispielsweise für die Gegenwart eine »fortwährend variierende Industrie« konstatiert (ebd.: 299). Aus Perspektive der Geldform ist die individuelle Psyche das Vehikel zur Realisierung der Wirtschaft. Individuen erwerben Geld nicht allein mit dem Gedanken feststehender Zwecke der Verwendung. Sondern, wie Simmel meint, verlaufe es auch andersherum: Das Verfügen-Können über ein zweckunbestimmtes Mittel rege zur Zwecksetzung an: »[N]achdem der Zweck den Gedanken des Mittels geschaffen hat, schafft das Mittel den Gedanken des Zweckes.« (Ebd.: 266). Dieselbe abstrakte Geldform, die zur inhaltlichen Neuschöpfung drängt, ist es auch, die überhaupt auf beiden Seiten des Tausches eine subjektive Mehr-Wert-Produktion ermöglicht, weil die Individuen frei nach ihren eigenen, individuellen Präferenzen und damit von sich aus in den Tausch einwilligen. Der Mehr-Wert auf der

61 Vgl. Schumpeter 1997: 99-139; 2010: 71-75. Schumpeters Motor der wirtschaftlichen Entwicklung ist der Unternehmer. Für Simmel sind die Individuen ausführende Träger der eigenlogisch verlaufenden Entwicklung der Ökonomie. Die genaue Zurechenbarkeitsfrage des Innovationsprozesses war kein Gegenstand der Geldphilosophie Simmels. Hugo Reinert und Erik S. Reinert argumentieren in einem Aufsatz für die interessante Hypothese, dass das Konzept der kreativen Zerstörung ihren Weg aus der indischen Philosophie über Friedrich Nietzsche in die Sozialwissenschaften gefunden habe (vgl. Reinert/Reinert 2006).

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Ebene des individuellen Lebens bedingt sich mit der Mehr-Wertschöpfung auf der Ebene der geldvermittelten Tauschbewegung; und beides geht zusammen auf das geistige Apriori aus »Gewinn und Verlust« zurück, das sich in die Geldform der Ökonomie objektiviert und sich damit dem Individuum gegenüberstellt. Geld stellt die – doch aus uns kommenden – Dinge in eine unaufhebbare Distanz zu uns – nun allerdings nicht mehr nur deshalb, weil die Dinge untereinander einen Verweisungszusammenhang bilden, und ›das‹ Objekt ›überhaupt‹ sich nicht nur in dem konkreten, erwerbbaren Objekt nicht mehr erschöpft; sondern: weil jede individuelle Wertform Element einer es umfassenden, a priori in keinem Inhalt erschöpfenden Geldform ist. Damit ist zumindest dem Prinzip nach die Bedingung für ein dauerhaftes, ebenso wenig erschöpfbares Objekt-Begehren gegeben. Nicht impliziert ist damit – die Rede ist nur von Bedingung – ein Automatismus des Begehrens. Andererseits meint Simmel, dass das durch die Eigenproduktivität der Ökonomie hervorgebrachte Angebot die Tendenz besitze, »künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse« zu wecken (TDK: 215). Voraussetzung dessen ist aber, dass das Individuum ein freies Individuum ist, insofern es der Objektwelt der gegenläufig verselbständigten Geldwirtschaft gegenübersteht. Die ganzheitliche Individualität geht nicht in die Wechselseitigkeit des Tauschprozesses ein; in diesem »Akt« des »Gegenübers« oder der »Distanz« besteht die individuelle Freiheit. Freie Individuen sind es dann, die verführt und deren Begehren geweckt werden kann, so dass Form und Maß der Selbstdomestizierung der eigenen Triebkräfte entscheidend sind für das Gelingen oder Misslingen von Individualität (vgl. Kapitel 8.5.3 in diesem Buch) Ähnlich wie in der Sachdimension findet sich in der Zeitdimension eine konstitutive Paradoxie zwischen einer Beschleunigung der Geldzirkulation und der durch diese erst bedingten zeitlichen Dispositionsfreiheit über Geld. Simmels Ausführungen im »Synthetischen Teil« der »Philosophie des Geldes« haben diese Frage nur teilweise berührt. Einmal war Geld dort eine beschleunigend wirkende Kraft aufgrund unterschiedlicher materieller Gründe, wie räumlicher Verdichtung oder Vermehrung der Geldmenge. Die Beispiele selbst waren nicht konstitutionstheoretischer Natur. Sie sagten nichts darüber aus, dass Geld seinem Prinzip nach einen wie auch immer gearteten Beschleunigungsgrad aufweisen muss, um Geldform zu sein. Diesen Nachweis liefere ich nun. Die Ausgangslage ist erneut der abstrakte Vermögenswert des Geldes. Empirisch impliziert sie eine zeitliche Wertstabilität des konkreten Geldes. Simmel spricht hier von »Wertkonstanz« (PDG: 131). Geld transportiert den Wert sozusagen durch die Zeit, die sich zwischen zwei geldvermittelte Tauschakte schiebt. Das bedeutet, die Veränderung – Minderung oder Erhöhung – eines Warenpreises bedeutet die Veränderung der Austauschbarkeitsrelationen der Waren untereinander, aber nicht eine Veränderung der Kaufkraft des Geldes selbst (vgl. ebd. 13031, 715). Die Wertstabilität des Geldes gewährt empirisch erst das Wertplus, nämlich die individuelle Freiheit zur Wahl des Geldausgabezeitpunktes. Geld muss also etwas im zeitlichen Sinne Beharrendes, den Zeitpunkt Überdauerndes haben, um Geld sein zu können. Um beharrende Geldform zu sein, so ist Simmels Hypothese, bedarf es einer Zirkulationsbeschleunigung des konkreten, in der Tauschbewegung sich befindlichen Geldes. Sowohl 1889 in der »Psychologie des Geldes« als auch 1900 in der »Philosophie des Geldes« fand Simmel im Grunde ein und dieselbe Antwort auf die Frage, ob es noch eines intrinsisch wertvollen Geldes bedürfte, damit Geld als Geld funktioniert.

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Beide Male fiel Simmels Antwort negativ aus. Allerdings fiel die Begründung dafür (oder, je nachdem: dagegen) unterschiedlich aus. Ein Vergleich von Gegenständen, so nimmt Simmel 1889 einen hypothetischen Einwand auf, setze die Gemeinsamkeit in jener qualitativen Eigenschaft voraus, in der die Dinge miteinander verglichen werden sollen. Ein Größenvergleich beispielsweise setzt eine räumliche Ausdehnung voraus. Wissenschaftliche oder philosophische Konzepte besitzen keine räumliche Ausdehnung, deshalb kann auch nicht deren materielle Größe festgestellt werden. Um den Wert ökonomischer Waren messen zu können, so Simmel, müsste nun auch das Geld noch einen (Rest-)Warenwert besitzen. Simmel ging 1889 so weit zu sagen, dass das Geld tatsächlich und deshalb wertvoll sein kann, weil jeder Wert auf einen psychologischen Wertungsvorgang im Subjekt zurückgeht – auch jener der Waren. Umgekehrt gibt es keinen Wert jenseits des psychologischen Zuschreibungsvorgangs: »Weder Nahrung noch Obdach, weder Kleidung noch edle Metalle sind an und für sich edle Werte, sondern sie werden es erst im psychologischen Prozeß ihrer Schätzung, wie die Fälle beweisen, in denen die Askese oder andere Seelenverfassungen völlig gleichgültig gegen sie machen.« (PSYDG: 56) Geld eignet sich zum Maßstab von Waren, weil beider Wert, der von Geld und Waren, »nur eine psychologische Thatsache und nichts anderes [sind]« (ebd.: 56). Damit dem Geld ein für die Messung der Waren erforderlicher Eigenwert zugeschrieben wird, muss es bereits hinreichend generalisiert sein in der Zahl inhaltlich unterschiedlicher Zwecke, zu deren Erreichung es dient (vgl. ebd.: 56). Diesen Punkt hatte ich bereits oben erwähnt. In der »Psychologie des Geldes« trägt die psychologische Möglichkeit der Eigenwert-Werdung des Geldes noch die Möglichkeit seiner Mittels-Funktion. Mit der »Philosophie des Geldes« hat sich die Argumentation Simmels auf eine nicht-triviale Art und Weise verändert. Die Veränderung reflektiert Simmels Überwindung seiner ursprünglich reduktiv-psychologischen durch eine lebensphilosophische Perspektive. Die Aufgabenstellung eingangs des zweiten Kapitels der »Philosophie des Geldes« – »Der Substanzwert des Geldes« – ist die inhaltlich gleiche wie jene der »Psychologie des Geldes«: »Ein Meßmittel, so sagt man, muß von derselben Art sein, wie der Gegenstand, den es mißt […]. Ein Maß für Werte muß deshalb wertvoll sein. So beziehungslos zwei Dinge, die ich aneinander messe, auch in allen ihren sonstigen Bestimmungen sein mögen – in Hinsicht derjenigen Qualität, in der ich sie vergleiche, müssen sie übereinstimmen.« (PDG: 139)

Für Simmels dann folgende Ausführungen gilt nun nicht, was ansonsten im Wesentlichen für die »Psychologie des Geldes« gilt: dass diese – wie Schmoller es in seiner Rezension formulierte – »der Keim« zur »Philosophie des Geldes« gewesen sei (Schmoller 2003: 282). Die Frage nach dem Psychologischen der Wertbildung hatte Simmel bereits im ersten Kapitel »Wert und Geld« für sich geklärt: Individuen objektivieren sich in eine umfassende Wertform, stehen dann aber konkreten Werten gegenüber. Die Distanz des Gegenübers ist die Bedingung für das psychologische Empfinden eines Begehrens nach einem und der Befriedigung durch einen inhaltlich bestimmten Wert. Die Form des Wertes erschöpft sich aber nicht in der individuellen Psyche, sondern bildet einen eigenständigen, in sich geschlossenen Wechselwirkungszusammenhang. Das Endprodukt des »Wert-und-Geld«-Kapitels war Simmels dualistisches Modell von der »Doppelrolle des Geldes«: Es ist abstrakter Vermögenswert

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und konkret greifbares Symbol. An diese Ausführungen knüpft das folgende »Substanzwert«-Kapitel an. Zwar sei es richtig, so Simmel, dass ein unmittelbarer Vergleich zwischen zwei Objekten eine den Objekten des Vergleichs gemeinsame Qualität voraussetze. Auf die Ökonomie übertragen hieße das so viel wie: Konkretes, physisches Geld steht konkreten Waren gegenüber, und dann bedarf es einer ihnen gemeinsamen Qualität. Anders aber verhalte es sich im Falle eines mittelbaren Vergleichs. Diesen Weg beschreitet Simmel, und er übernimmt nun die Vorarbeit aus dem ersten »Wert-undGeld«-Kapitel: Er setzt zwei Brüche in ein Äquivalenzverhältnis zueinander, einen Waren- und einen Geldbruch. Der Nenner des Warenbruchs gibt die Gesamtmenge der Waren eines gegebenen Wirtschaftskreises an, der Zähler das anteilige Austauschverhältnis einer Ware bzw. eines Warenbruchs im Verhältnis zu der Gesamtmenge der Waren. Der Nenner des Geldbruchs gibt die Gesamtgeldmenge innerhalb eines gegebenen Wirtschaftskreises an, in dem das Geld gilt. Der Zähler des Geldbruchs bildet den Preis für die konkreten Waren aus dem Warenbruch. Der Preis ist gleich der konkreten zu zahlenden Geldsumme. Das Verhältnis von Geldpreis zur Gesamtgeldmenge korreliert Simmel zufolge mit dem Tauschverhältnis des Warenkorbes zur Gesamtwarenmenge. Eine bestimmte Teilmenge, also hier: das konkrete in der Tasche befindliche Geld, kann dann und genau dann Maßstab eines anderen, konkreten Gutes sein, wenn die jeweiligen Brüche in einem Proportionsverhältnis zueinander stehen: 1/x Ware = 1/x Geld. Empirisch impliziert dies, dass eine wie auch immer zustande gekommene Geldmengenveränderung keinen Einfluss auf das Preisniveau eines Wirtschaftskreises hat. Eine Erhöhung oder Verringerung der Gesamtgeldmenge hätte dann eine proportionale Verringerung oder Erhöhung des Preisniveaus zur Folge, ohne dass sich am Austauschbarkeitsverhältnis der Waren zueinander etwas ändert. Praktisch werden in der Regel nur die Waren im Korb und die zu zahlende Preissumme sichtbar, weshalb Simmel davon spricht, dass die Zähler es seien, »was uns im einzelnen Falle interessiert« (PDG: 145). Das Modell zeigt eine Korrelation, sie trifft keine Aussagen über die empirische Verursachung von Preiserhöhungen. Außerdem ist das Modell statischer Natur. Simmel beobachtet die Annäherung der Realität an die Idealität des Modells nun unter einem bestimmten Gesichtspunkt, und zwar der Geschwindigkeit der Geldzirkulation: Je mehr Warenumsätze ein und dieselbe substanzielle Menge Geld innerhalb einer Zeiteinheit vermittelt, umso mehr ist die Substanz selbst bloßes Mittel, das über die Aktualität seiner singulären Verwendungsaktes hinaus – also: diesen im Sinne transzendierend – auf eine a priori nicht bestimmte Anzahl an Tauschakten verweist und dadurch seine Symbolisierungsfunktion erst gewinnt. Abstrakt gesprochen geht es um die Konstitution eines Geldbruchs, in dem sich der »Nenner« eines abstrakten Vermögenswerts vom »Zähler« des konkretes Geldes bzw. Preises differenziert; die abstrakte Form entkoppelt sich von dem konkreten Ereignis und Inhalt. Beobachte man die tatsächlich für bestimmte Preise verkauften Güter, so Simmel, dann übersteige die dafür erforderte die tatsächlich im Umlauf befindliche substanzielle Gesamtgeldmenge (vgl. ebd.: 149). Die Gesamtwarenmenge übersteigt dann die Gesamtgeldmenge. Zwar gebe es keine unmittelbare Verknüpfung zwischen Geldund Warenmenge, die eine bestimmte Geldquantität zur Funktionsfähigkeit des Geldes als Geld vorschreibt (vgl. ebd.: 149). Eine Diskrepanz zwischen der erforderten und tatsächlich materiell verfügbaren Gesamtgeldmenge widerspricht aber dem Prin-

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zip einer postulierten Proportionalität zwischen Geld und Waren. Simmel sucht dann nach den Voraussetzungen, die gegeben sein müssten, um die »grundlegende Proportion [zu] retten.« (Ebd.: 150) Simmel dynamisiert die Proportionsgleichung nun: (a) Einmal, indem eine Ware nur dann als Ware gilt, wenn sie »sich in aktueller Verkaufsbewegung befindet«, genauso, wie das Geld »erst in dem Augenblick, wo es kauft, d. h. die Funktion des Geldes übt, wirklich Geld ist« (ebd.: 150; Hervorhebung PB). Eingang in die Gleichung zwischen den beiden Brüchen findet dann allein die tatsächliche Austauschbewegung. (b) Zweitens kommt hinzu: Die Geld-WarenProportion bleibt gewahrt, wenn die durch eine bestimmte, substanzielle Geldmenge vermittelte »Zahl der Umsätze« innerhalb eines bestimmten Zeitraums identisch ist mit der in (a) genannten Gesamtmenge an Waren (ebd.: 151). Der Nenner, also das Gesamtgeldquantum, definiert sich dann nicht mehr durch eine konkrete, verfügbare Menge an Geldkörpern, sondern ein »zu bestimmendes Vielfaches desselben« (ebd.: 151). Bei diesem »Vielfachen« handelt es sich nun um die abstrakte Vermögenswertfunktion des Geldes, durch welchen die den partikularen Tauschakt umfassende Form der Tauscheinheit erst konstituiert wird. Die Abstraktion des Mittels Geld wird also erst durch die Beschleunigung der Substanz realisiert. Das materielle Geld ist keine Konsumware, es vermittelt den Tausch. Es überdauert – oder auch: transzendiert – den partikularen Tauschakt, anders als die Ware, und ist, zumindest dem Prinzip nach, in der Lage, »eine unbegrenzte Zahl von Umsätzen« zu vermitteln (ebd.: 150). Simmel belegt seine Annahmen mit wenigen Zahlen. Er verweist darauf, dass im Jahr 1890 die französische Notenbank das 135-fache, die deutsche Notenbank das 190-fache des dort eingelegten Geldes umgesetzt hätte. Für die französische Notenbank heißt das konkret, dass sie in dem genannten Jahr 1890 aus einer gegebenen Substanz von 400 Millionen Franc ein Geschäftsvolumen von 54 Milliarden Franc erlaubte (400 Miollionen * 190 = 54 Milliarden). Simmel sagt aber beispielsweise nichts über eine Schwelle des »Vielfachen«, in der das materielle Geld zu seinem Geldumsatz zu stehen hat, damit es die Geldfunktion übt. Eine Art ›Mindesttempo‹ der Geld-Zirkulation ist nicht sein Gegenstand. Ihm geht es unbesehen dessen allein um eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Substanz und Funktion.62 Aber auch empirisch meint Simmel, dass sich die Geldwirtschaft einer »Verflüchtigung des Geldstoffes sozusagen in Atome« nähert (ebd.: 241). Die Pointe von Simmels Überlegung ist, dass sich das Geld in dem Maße seiner materiellen Beschleunigung erst herausdifferenziert (vgl. ebd.: 238-242). Die Überlegungen implizieren, dass sich das Geld als ein in seinem Verwendungszeitpunkt individuell disponibles Medium erst mit einer gesamtsystemischen Beschleunigung des Geldumsatzes herausschält – ebenso wie der monetäre Drang zur inhaltlichen Neuschöpfung ökonomischer Werte mit der Zweckunbestimmtheit der Geldausgabe einhergeht. Auf der Zeitachse lässt sich nun auch recht gut der Zusammenhang zwischen dem »analytischen Teil« und dem »synthetischen Teil« der »Philosophie des Geldes« aufzeigen. War die Beschleunigung im »analytischen Teil« der »Philosophie des Geldes« noch Voraussetzung des Geld-Seins, kehrt Simmel im »synthetischen Teil« die beschleunigende Wirkung des Geldes heraus. Wo sich die »durch das Geld getragene

62 So wie Simmel die »Wendung zur Idee« nicht an bestimmten Ereignissen festmacht, sondern an einer Veränderung der Leben-Form-Beziehung ihrem Prinzip nach.

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Beschleunigung des wirtschaftlichen Lebens« einmal »durchgesetzt hat«, so Simmel gegen Ende der »Philosophie des Geldes«, wirke sie auch umgekehrt daraufhin, selbst aus ihrer natürlichen Beschaffenheit her beharrende Dinge »nach sich zu rhythmisieren.« (Ebd.: 710) Der lange Zeit kaum verkaufbare Grund und Boden dient dann in der Gegenwart mehr und mehr als materieller Grund zur Schaffung von dem Geld ähnlich mobilen und deshalb handelbaren Formen der Hypotheken (vgl. ebd.: 710). Die Vorrangigkeit der materiellen Bewegung vor der materiellen Beharrung zeigt sich nach Simmel auch darin, dass entwendetes Geld und teilweise auch Waren nicht wieder ihrem ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden müssen, »sobald sie von einer dritten Person gutgläubig erworben [worden]« (ebd.: 711). Dies sei dem Wunsch geschuldet, die Wirtschaft im Fluss zu halten (vgl. ebd.: 711). Simmel spricht dann von der »Macht der geldwirtschaftlichen Bewegung, die übrigen Lebensinhalte ihrem Tempo zu unterwerfen« (ebd.: 710). Der meines Erachtens springende Punkt hierbei ist nun, dass sich die Empirie des Geldes der Metaphysik des Lebens annähert: Das Leben schafft sich seine Form, nur um im gleichen Moment diese zu überwinden. Empirisch kann das Geld zur Gleichzeitigkeit der logischen Paradoxie nur hindrängen in Form einer beschleunigten Geldzirkulation, ohne den Punkt der Gleichzeitigkeit von Bewegung und Beharrung erreichen zu können. Diese empirische Tendenz ist es aber, welche dem Geld seinen metaphysischen oder auch: religiösen Charakter verleiht, die dualistische Einheit von Leben und Form zu realisieren. Auf einen Punkt ist an dieser Stelle hinzuweisen. Simmel begründet nicht, warum er neben der Sach- und Zeitdimension nicht auch die Raumdimension als Faktor der Eigenwertbildung des Geldes nennt. In seinem »Wertplus« unterscheidet Simmel ganz ausdrücklich zwischen den »nebeneinander liegenden Verwendungsmöglichkeiten« und »den nacheinander liegenden« (ebd.: 269; Hervorhebung im Original).63 Unter raumtheoretischen Gesichtspunkten erwähnt Simmel die »raumüberspringende Macht« und die »Überall-Verwendbarkeit« (ebd.: 289) sowie die »Fernwirkung des Geldes« (ebd.: 449). Geld »ist von der lokalen Beschränktheit der meisten teleologischen Reihen emanzipiert« (ebd.: 289). Beispielsweise kann die Geldanlage im Raum nach Ertragsgesichtspunkten gewählt werden, relativ unabhängig von der individuellen Beweglichkeit im Raum (vgl. ebd.: 663-64). Was wiederum ein die räumlichen Distanzen auch materiell überwindendes Substrat der Geldform bedingt (vgl. SOZ: 832). Dies leistet die Innovation entsprechender, praktisch handhabbarer Geldformen wie »Giro« und »Wechselversand« (PDG: 221). Dem Prinzip nach kommt das Geld dem von Simmel in seiner Raumsoziologie beschriebenen »Prinzip der Kir-

63 »Nebeneinander« legt eine räumliche Interpretation eigentlich näher als eine am Sachaspekt orientierte. Simmel spricht aber vom sachlichen Nebeneinander. Überhaupt ist die Kategorie der »Sache« Simmel sehr eigen. Kultivierung ist das, was sich in Sach-, weil eigengesetzlichen Zusammenhängen abspielt. Ebenso tendieren die Vergesellschaftungsprozesse dahin, versachlicht zu werden. Schließlich – um den Punkt vollständig zu machen – ist die Tendenz von der Personalisierung hin zu einer Versachlichung von Beziehungen im Raum auch der Aspekt, unter dem Simmel seine raumsoziologischen Beobachtungen macht. Eine Analyse des Begriffspäärchens Neben- und Nacheinander bei Simmel findet sich bei Bruno Accarino (1994).

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che« nahe, welches, weil die Transzendenz Gottes sozial organisierend, »unräumlich und deshalb […] über jeden Raum sich erstreckend [sei]« (SOZ: 693). Die Kirche besitze »ihrem inneren Sinne nach keine Beziehung zum Raume, eben deshalb aber eine gleichmäßige Beziehung zu allen Raumpunkten« (ebd.: 693). Die Raumdimension ist der »Philosophie des Geldes« nicht fremd, scheint aber dennoch gegenüber »Tempo« und »Sache« eine leicht unterprivilegierte Kategorie darzustellen. Ein Grund dafür kann darin liegen, dass seine raumtheoretischen Studien erst nach 1900 erschienen. Sowohl im »Großstadt«-Aufsatz als auch in seinen raumsoziologischen Studien bilden Raum und Zeit komplementäre Sachverhalte. In der »Soziologie« spricht Simmel ausdrücklich vom »Räumlichen« als einem »Seitenstück« zum Zeitlichen (ebd.: 693). Ich komme zurück zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Das »tertium comparationis« zwischen Geld und Gott ist eine Oszillation zwischen Ruhe und Unruhe. Geld löst Gott als Symbol des Absoluten ab, weil Geld der veränderten Beschaffenheit dieses Absoluten adäquater ist. Es symbolisiert die absolute Einheit des Seins, welches nur sein kann, indem sie wird in der perpetuierten Schöpfung und Zerstörung von Formen; das Absolute ist »Bewegung, Beziehung Entwicklung« (PDG: 307). Von hieraus ergeben sich im Folgenden zu erläuternde Implikationen für einen weiteren Aspekt im Vergleich zwischen Geld und Gott, und zwar der psychologischen Endzweckwerdung des Geldes. Simmel meint: »Das Geld tut sich eben gar zu leicht als Endzweck auf, es schließt bei gar zu vielen die teleologischen Reihen endgültig ab und leistet ihnen ein Maß von einheitlichem Zusammenschluß der Interessen, von abstrakter Höhe, von Souveränität über den Einzelheiten des Lebens, das ihnen das Bedürfnis abschwächt, die Steigerung eben dieser Genugtuungen in der religiösen Instanz zu suchen.« (Ebd.: 307)

Rückt das Geld an die Funktionsstelle Gottes zur Symbolisierung des Absoluten, dann hat sich auch das individuelle Heilsstreben in der Beziehung zum Geld zu realisieren. Die Entfaltung der Individualgesetzlichkeit findet in Bezugnahme auf die Geldform statt, und die Folge daraus ist eine Umgestaltung des psychologischen Wertempfindens und Begehrens von der Vorstellung eines substanziellen Endzweck des Lebens hin zu der Vorstellung vom Endzweck als geistiger Funktion, als die das Leben lebt. 8.3.3 Geld – Gott – Zweckhandeln Simmel meint, Geld werde »psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck«, gerade weil es »das absolute Mittel« ist (ebd.: 298: Hervorhebung im Original). Simmel bezeichnet das Phänomen, absolutes Mittel und Zweck zugleich zu sein, in erneut dualistischem Duktus als eine »innere Polarität im Wesen des Geldes« (ebd.: 298). Aber was heißt es genau, zu sagen: Geld wird Endzweck? Da Simmel Gott und Geld miteinander vergleicht und auf Konvergenzen abtastet, bietet es sich an, den Endzweck-Status des Geldes mithilfe der Religionsphilosophie Simmels aufzuklären. Der Zweck der Religion ist nach Simmel »der Weg zum Heil der Seele« (DR: 93). Das Seelenheil definiert die Beziehung des religiösen Individuums zur Transzendenz des Gottesreichs. Religiöses Handeln und Erleben findet im Hier und

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Jetzt statt, bezieht aber seinen Sinn aus der individuellen Beziehung zur Transzendenz Gottes. Das religiöse Individuum begehrt die Vereinigung mit Gott, kann ihn aber nie ganz haben. Kein partikularer Akt religiöser Befriedigung überdauert, weil die Heilsverwirklichung gerade in dem Heilsstreben selbst liegt. Die Transzendenz wirkt immanent. Die Religionstheorie Georg Simmels ist an christliche Ideengeschichte angelehnt, ohne konfessionell beschränkt zu sein. Die von Gott gebotene Realisierung des individuellen Seelenheils deutete Simmels als Aufforderung, die Individualgesetzlichkeit zu realisieren. Simmel führte die Oszillation zwischen religiösem Begehren und religiöser Befriedigung auf den Objektivationsakt des religiösen Aprioris zurück: Das religiöse Individuum hat sich, um religiös zu sein, zu objektivieren in ein religiöses Objekt, welches das religiöse Individuum umfasst und sich ihm zugleich gegenüberstellt. Das Individuum begehrt das religiöse Objekt, wird aber auch von diesem zum Heilshandeln aufgefordert. Innerhalb der religiösen Form der Wechselwirkung arbeitet sich das religiöse Individuum sozusagen »ab« in der Beziehung zum religiösen Objekt, welches aber immer nur in der Partikularität bestimmter Inhalte, aber nie als umfassende Form besessen werden kann. Simmels theoretische Abstraktion von der christlichen Ideengeschichte öffnet die Religion für alternative Inhalte, welche die Objektstelle besetzen. Schauen wir uns erneut ein Zitat Simmels an, welches seine Hypothese des religiösen Objektivationsaktes in meinen Augen besonders hervorhebt: »In der Hauptsache erschien das objektiv geistige Gebilde der Religion als die Gestaltung des religiösen Lebens, das ein Prozeß, eine Daseinsart ist, und seine Inhalte, die ›Glaubensartikel‹ an den Gegebenheiten weltlicher Existenz gewinnt. Es ist die Art jenes Lebens, sich in der Form des Absoluten zu objektivieren, und so entreißt es gleichsam den sozialen Tatsachen (ebenso wie anderen Lebensgegebenheiten) ihre Formen und läßt sie in die Absolutheit transzendieren – damit auch die immerzu erwiesene Möglichkeit gewinnend, auf die irdisch relativen Tatsachen weihend, erhöhend, sie gleichsam ins Herz treffend zurückzuwirken.« (Ebd.: 112-13; Hervorhebung im Original)«

Das Zitat ist hinreichend offen für funktionale Äquivalente. Wenn sich das Absolute des Daseins Simmel zufolge in »Bewegung, Beziehung, Entwicklung« auflöst, und das Geld das vollkommen adäquate Symbol dafür ist, kann die Geldform zum neuen Absoluten werden, und zwar gemäß jener schon mehrfach erwähnten Doppelrolle: Es wäre absolute Form – die beharrende Einheit des Daseins – und absolutes Objekt, welches, als greifbares Objekt, seinen Sinn nur in der Bewegung, oder plastischer: in der Umsetzung – denn es ist psychologisch ein Mittel – in die (Tausch-)Bewegung besitzt. Es tritt an die Stelle eines ehemals substanziellen Absoluten, für das Simmel zufolge der Glaube an den christlichen Schöpfergott ebenso stand wie der Glaube an eine damit verbundene Unveränderlichkeit des Kosmos und der darin implizierten ständischen Ordnung. Ich verweise darauf, dass Simmel selbst sagt: das Absolute nimmt die Vergesellschaftungsformen als Material, an dem das religiöse Prinzip seine Gestalt gewinnt (vgl. ebd.: 103, 113). Wenn Formen der Vergesellschaftung variieren, dann variiert auch der Inhalt, aus dem sich die religiöse Objektivationsform bildet. Gleiches gilt für die »Glaubensartikel«. Wenn auch in Auseinandersetzung mit der Herausbildung einer arbeitsteiligen Priesterschaft infolge sozialer Ausdehnung, geht es dem Sinne nach in die gleiche, oben genannte Richtung, wenn Simmel

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sagt: »Welchen Körper aber diese religiöse Innerlichkeit sich formt, welche ›Religion‹ als Gebilde aus ihr hervorgeht, zeigt sich durchaus von den soziologischen Möglichkeiten abhängig, die sie vorfindet.« (Ebd.: 96; Hervorhebung PB) Daran anschließend mit Blick auf die geldwirtschaftliche Möglichkeit eines – wie auch immer säkular zu verstehenden – religiösen Heilsstrebens möchte ich die These formulieren: Die inhaltliche Offenheit der Geldform wirkt auf das zweckhandelnde Individuum zurück. Ihrem Prinzip nach erlaubt sie jeder Individualgesetzlichkeit ihr Heilsstreben. Das Heilsstreben findet in der Geldform statt, es ist geldförmig. Simmels lebensphilosophische Interpretation des Seelenheils ging auf die konstitutionstheoretische Annahme einer Wechselwirkungsform zwischen dem religiösen Individuum und dem absoluten Objekt zurück. Das religiöse Objekt wirkt formend zurück auf das Individuum – »auf die irdisch relativen Tatsachen weihend, erhöhend, sie gleichsam ins Herz treffend zurückzuwirken«. Analoges nimmt Simmel offenbar unter Bedingungen an, unter denen sich das Absolute in »Bewegung, Beziehung, Entwicklung« auflöst: Auch »unsere Wertbedürfnisse« transformieren sich (PDG: 307). Damit meint Simmel, dass es zwar noch substanzielle, inhaltlich vorgegebene Vorstellungen des Lebenssinnes geben mag, sie können aber nicht mehr religiös befriedigen. So meint Simmel, dass die äußerliche »Hast und Aufgeregtheit des modernen Lebens« ein »Ausdruck« der »Entladung« des »innersten Zustandes« – also: eine Objektivierung, oder auch: ein Sich-Ausleben des individuellen Lebens, weniger aber umgekehrt eine innere Unruhe das Ergebnis äußerer Unruhe und Hektik sei (ebd.: 675). Dem Individuum fehle das »Definitivum im Zentrum der Seele« (ebd.: 675). Innere und äußere Unruhe entstehe, weil die Individuen in äußeren Dingen ihre SinnSehnsucht zu stillen erhoffen, dort aber nicht mehr finden können. Sie mögen fortwährend unterschiedliche Dinge ausprobieren – »die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart« (ebd.: 675) – aber an keinem Punkt eine endgültige Befriedigung finden. Vermeintliche Ziele entpuppen sich als Zwischenetappen. Überhaupt aber, so Simmel, funktioniere es nicht mehr, »an den Objekten selber [...] Kraft, Festigkeit, seelische Einheit« zu finden (ebd.: 555). Grund dafür sei die durch das Geld gebrochene Unmittelbarkeit individueller Beziehungen zu den Dingen. Die Verkäuflichkeit von Dingen gegen Geld habe eine allgemeine Perspektive der Disponibilität über die Dinge ins Spiel gebracht (vgl. ebd.: 554-556). Deshalb spricht Simmel von der »Entwurzelung personaler Werte« durch die Geldförmigkeit individueller Beziehungen (ebd.: 556). Seinen Sinn bezog das Individuum in vergangenen Zeiten aus seiner festen Stellung und Bindung – dafür war ihm die feudalherrschaftliche Bindung des Bauern an Grund und Boden seines Herrn ein Beispiel, und das offensichtlich gerade weil sie erzwungen war. Bei aller Einschränkung individueller Bewegungsfreiheit, so Simmel, sei gerade die dauerhafte Bindung an den Boden »ein Zentrum der Interessen [gewesen], ein Richtung gebender Lebensinhalt, den er verlor, sobald er statt des Bodens nur seinen Wert in Geld besaß.« (Ebd.: 549) Die monetär vermittelte »Wurzellosigkeit« meint jedoch nicht »Wurzel« per se, sondern Bindung des Werdens der individuellen Ganzheitlichkeit an ein Außen, und, ferner, an eine äußere Substanz, die nun aber unter den Bedingungen geldwirtschaftlicher Kontingenz wegfällt. Die Rückwirkung der überindividuellen Geldform auf das individuelle Heilsstreben ist die Entfernung der reli-

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giösen Substanz durch die relativierende Mittelbarkeit. Oder anders: Die einzig verbleibende religiöse Substanz ist dann das Absolute des individuellen Lebens selbst (vgl. Kapitel 7.4 in diesem Buch). In seinem Buch »Schopenhauer und Nietzsche« erwähnt Simmel, dass für Nietzsche Sinn und Zweck des Lebens nur noch in diesem »Leben selbst« liegen könne, nicht mehr aber in »einem Endzweck [...], der jenseits seines rein und natürlich verlaufenden Prozesses läge.« (SN: 179; Hervorhebung im Original) Dieser Gedanke Nietzsches sei eine »Verabsolutierung der Entwicklungsidee Darwins« gewesen (ebd.: 179). Leben sei »Steigerung, Mehrung, wachsende Konzentrierung der umgebenden Weltkräfte auf das Subjekt« (ebd.: 179). Dass Leben zwar in der Form des teleologischen oder Zweckhandelns stattfindet, selbst aber keinen substanziell festen, inhaltlichen Endzweck mehr besitzt, diese Perspektive übernahm Simmel in sein »Individuelles Gesetz« (vgl. LA: 349-50). Und es ist das »individuelle Gesetz«, in welchem Simmel die Wurzel des Lebens wieder entdeckt, und zwar im Leben selbst: Die Einheit individuellen Lebens stelle sich her als ein »Wachsen aus eigener Wurzel« (ebd.: 415). Diese geldförmige Individualität des Lebens kann dann gleichzeitig als Korrelat zur Selbsttranszendenz des Geldes gefasst werden. Geld mit Gott in eine psychologische Äquivalenz zu setzen, ist ferner nicht identisch mit der Gier nach Geld.64 Dieser Aspekt findet meines Erachtens eher geringe Berücksichtigung in der Sekundärliteratur (vgl. Deutschmann 2000: 307-08; 2008: 48). Zwar attestiert Simmel seiner Gegenwart eine vergleichsweise »Zuspitzung und Ausbreitung dieses Verlangens [nach Geld]« (PDG: 304). Die Geldgier bildet gemeinsam mit dem Geldgeiz und der Geldverschwendung analytische Kategorien zur Identifizierung eines von einem gegebenen Normalmaß abweichenden ökonomischen Verhaltens. Simmel spricht explizit von den »pathologischen Ausartungen des Geldinteresses, dem Geiz und der Geldgier« (ebd.: 312). Sie bilden relative Begriffe. Ob jemand gierig nach Geld oder ein Geldverschwender ist, dies bestimmt sich nach Simmel in »Abhängigkeit [...] von den jeweiligen Wirtschaftsverhältnissen« (ebd.: 308). Ein und dasselbe »absolute Maß von Leidenschaft im Erwerben und im Festhalten des Geldes [könne] bei einer gewissen Bedeutung des Geldes durchaus normal und adäquat sein, bei einer andern aber jenen hypertrophischen Kategorien angehören« (ebd.: 308; Hervorhebung PB). Und in einer ausdifferenzierten Geldwirtschaft, so Simmel, liege die Schwelle der Geldgier »sehr hoch« (ebd.: 308). In meinen Augen ist es daher angemessener, die psychologischen Pathologien als mögliche, aber kontingente Rückwirkungen der objektivierten Geldförmigkeit der individuellen Weltbeziehungen zu beobachten. Gier, Geiz und Verschwendung beziehen sich auf Stufen in einem gedachten psychologischen Kreislauf der Einnahme und Ausgabe von Geld. In der »Psychologie des Geldes« unterscheidet Simmel noch die drei logischen Stufen Geld-Haben, GeldBesitzen und Geld-Ausgabe (vgl. PSYDG: 53), in der »Philosophie des Geldes« zwei

64 Selbst in seiner Kriegspolemik von 1914, »Deutschlands innere Wandlung«, ging Simmel nicht so weit, den Mammonismus und die Geldgier in eins zu setzen. Unter Mammonismus verstand Simmel die Rückwirkung der Geldwirtschaft auf die nicht-ökonomischen Lebensbereiche: Dinge würden ihres in Geld konvertierbaren Wertes wegen geschätzt (vgl. IW: 17-18).

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Stufen, Geld-Besitzen und Geld-Ausgabe (vgl. PDG: 323). Es handelt sich also um eine Art Kreislaufmodell im Mikroformat, an welchem sich Abweichungen erst als solche konstruieren lassen. Jeweils geht es darum, dass im pathologischen Fall das Bewusstsein eine der Stufen zu einem »lustvollen Selbstzweck« fixiert (ebd.: 323). Alle drei Formen, inklusive der Verschwendung, teilen aber die »gleiche Grundlage, die Wertung des Geldes als absoluten Zweckes.« (Ebd.: 308) Der Reiz der Verschwendung liegt in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Geld begründet, das gleichzeitig als etwas wertvolles vorausgesetzt wird (vgl. ebd.: 323). Die Aufnahme der Geldverschwendung in eine Typologie der Geldpathologien zeigt, dass aus dem Auftreten eines besonders hohen Maßes von Geldgier allein kein Verständnis für die religiöse Natur an oder in der Geldwirtschaft gewonnen ist. Geld wird begehrt, weil es prinzipiell eine Wahlmöglichkeit in Bezug auf Verwendungszwecke und in Bezug auf den Zeitpunkt der Geldausgabe an die Hand gibt. In dieser Freiheit besteht das situative »Wertplus des Geldes« gegenüber allen anderen Waren, die diese Verwendungsunbestimmtheit nicht teilen (ebd.: 270). Diese Freiheit besteht nur dann, wenn es um das konkrete, greifbare, quantitativ begrenzte Geld geht. Hätten Individuen die Wahl zwischen allen Waren und allem Geld, verlöre Geld seinen Wert, weil es bloß Erwerbsmittel wäre (vgl. ebd.: 273-74). Diesen besitzt es nur in der Position des Gegenübers, aus der es die Freiheit der Selektion gestattet, nicht als abstrakter Vermögenswert. Geld besitzt einen Eigenwert aufgrund seiner Funktion, nicht wegen seines Materials (vgl. ebd.: 246-51). Geld wird zum Endzweck, allerdings nur dann, wenn es um den Gelderwerb geht. Dies ändere sich, so Simmel, sobald wir das Geld in der Tasche haben: »Die Spannung des Wertgefühls […] läßt mit seiner Erreichtheit nach« (ebd.: 338). Weiterhin, so Simmel, besitze »das Geld, solange es noch nicht gewonnen ist, den Wert eines Endzwecks […], den es zu verlieren pflegt, sobald es nun wirklich gewonnen und in seinem bloßen Mittelcharakter – wo der Geiz dies nicht verhindert – empfunden ist.« (Ebd.: 339) In Proportion zu dem Tempo, mit dem wir es einnehmen, geben wir es auch wieder aus oder verlieren es (vgl. ebd.: 338-39). Der Erwerb von einmal begehrtem Geld, so Simmel, könne für sich genommen nicht befriedigen, wenn man nicht mehr oder minder bestimmte Vorstellungen darüber hat, was man damit anzufangen gedenkt. Eine »tödliche Enttäuschung« sei dann die Folge, denn Geld gibt aus sich heraus keine Nutzungsrichtlinien an die Hand (ebd.: 316). Bei der Geldgier verhalte es sich psychologisch anders: Hier habe sich »der psychologische Endzweckcharakter des Geldes […] für die Dauer gefestigt« und sei »chronischer Zustand geworden«, so dass der Besitz – das Haben – des Geldes befriedigend wirke (ebd.: 316). Auch der Geizige beobachtet Geld nicht als Mittel. Der Geiz macht sich in einer Umkehrung des Wertempfindens an Konsumgegenständen bemerkbar: Der Geizige konsumiert ein Gut unter der Perspektive des für ihn aufgewendeten Geldwertes, nicht seiner Attribute als Konsumgut wegen (vgl. ebd.: 320-21). Bildhaft dafür wählt Simmel das Beispiel, trotz vollen Magens das einmal bezahlte Gericht zu verzehren. Interessanterweise wählte Simmel als Definitionskriterium der Verschwendung eine Geldausgabe »zu sinnlosen bzw. seinen Verhältnissen nicht angemessenen Käufen« (ebd.: 322). Diese Definition setzt der Logik nach eine – vielleicht individuelle? – objektive Angemessenheit voraus, gegen die verstoßen wird. Geldschenkungen sind dagegen aus der Definition ausgeschlossen. Andererseits war Simmel nicht darum bemüht, unter Rückgriff auf Erfahrung ein irgendwie geartetes Normalmaß eines geldwirt-

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schaftlichen Tempos oder des ökonomischen Begehrens von Geld oder Waren zu definieren. Aber das war auch nicht die wirkende Absicht hinter der »Philosophie des Geldes«. Nun ist es von Bedeutung, dass Simmel seiner historischen Diagnose, der moderne Mensch könne in den Dingen keinen dauerhaften Endzweck mehr finden, die konstitutionstheoretische – und insofern: ahistorische – Annahme zur Seite stellt, dass dies von den apriorischen Anlagen des Bewusstseins her gar nicht (mehr) möglich ist. Der »Endzweck«, so Simmel in der »Philosophie des Geldes«, sei eine mit keinem »Inhalt zu erfüllende Vorstellungsform« (ebd.: 303). Der Endzweck sei »Funktion oder eine Forderung«, sei »das heuristische, regulative Prinzip« (ebd.: 303) Das teleologische Handeln und Erleben, so Simmel, komme seiner »inneren Struktur nach nicht zum Stehen« (ebd.: 303). Nur vorübergehend setzen wir einen Endzweck, nach Erreichen stellt sich der gleiche Inhalt als Mittel zu einem darüberhinausgehenden, inhaltlich irgendwie anders beschaffenen Endzweck heraus. Simmel schreibt zwar »Endzweck«, dieser Ausdruck ist aber in seinem Sinn identisch mit »Zweck«. Simmels Bearbeitung des Zweckhandels in der »Philosophie des Geldes« differiert von jener aus der »Psychologie des Geldes«, insofern die »Philosophie des Geldes« den Begriff des Zweckes löst aus seiner Reduktion auf Psychologie und ihn transzendentalphilosophisch erweitert hin zu einer apriorischen Form und Funktion, durch welches das Leben ein Objektverhältnis zur Welt herstellt. Die Inhalte dieser Form variieren, aber die Form bleibt, ist aber auch mit keinem der Inhalte identisch oder zu erschöpfen. Dies impliziert die Unmöglichkeit einer Befriedigung, die beharrt; das einzige, das beharrt, ist die Form des Zweckes, während der inhaltliche »stream of conscience« durch die oder in der Form »fließt«. Die auf Inhalte gerichtete Zwecksetzung unterscheidet sich von der Wertung des gleichen Inhaltes Simmel zufolge nur insofern, als dass die Zwecksetzung praktischer Natur und eine »spontane Willenstat« sei (ebd.: 294). Zwecksetzung ist also die Schaffung eines Inhaltes innerhalb der Zweckform. Von dem praktischen Willen zu etwas unterscheidet Simmel das Werten in seiner »theoretisch-gefühlsmäßigen Bedeutung« (ebd.: 294). Ferner unterscheidet Simmel das Zweckhandeln vom Triebhandeln; letzteres ist unmittelbarer, ersteres ist mittelbarer Natur.65 Triebhandeln setzt kausal und unilinear ein inneres, körperliches Drängen um in ein Verhalten. Es gibt kein über der Handlung liegendes Ziel, sondern mit Vollzug erschöpft sich das Triebhandeln (vgl. ebd.: 254-58).66 Die konkreten Inhalte des Trieb- und Zweckhan-

65 Simmel ist hier semantisch vage. Aprioris bezeichnet Simmel ebenfalls – nicht immer, aber regelmäßig - als Trieb, obgleich diese eine Objektbeziehung aus sich hervorbringen. 66 Eine webersche Analogie zur simmelschen Grenze zwischen Triebverhalten und Zweckhandeln ließe sich ziehen mit Verweis auf die »Grenze sinnhaften Handelns gegen ein bloß […] reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten« (Weber 2010: 4). Wobei es Simmel hier primär nicht um Sinn bzw. Sinnverstehen ging, sondern um den Aufbau einer Wechselwirkungsbeziehung zwischen Subjekt und Objekt als Abgrenzungskriterium zum Triebverhalten. Triebverhalten wie jedes Verhalten in der physischen Welt kann am gleichen Gegenstand stattfinden wie ein zweckgerichtetes Verhalten. Deshalb ist nicht der Inhalt, sondern die Form der entscheidende Unterschied gemäß Simmel.

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delns können die gleichen sein, ihre Differenz liegt im Weltverhältnis begründet. Das Zweckhandeln intendiert die Bewirkung eines Zieles, welches sich, im Idealfall, deckt mit der Ursache des Zweckhandelns, d. h. der Intention (vgl. ebd.: 255). Energetisch gesehen verläuft das Zweckhandeln aber genauso kausal und unilinear wie das Triebhandeln (vgl. ebd.: 255). Zweckhandeln lebt nicht einfach von innen nach außen, sondern findet ihre Form in der Wechselwirkung mit einem Objekt (vgl. ebd.: 256). Das Individuum steht einer Objektwelt gegenüber; das Triebhandeln wird angetrieben, das Gegenüber einer bearbeitbaren Objektwelt spielt dabei keine Rolle. Beispielhaft vergleicht Simmel die Arbeit »des Naturmenschen« mit der »des Kulturmenschen«: Letzterer arbeite »regelmäßig und methodisch«, erstere »unregelmäßig und stoßweise«; die Arbeit des »Kulturmenschen« sei »eine willensmäßige Überwindung der Widerstände, die unser Organismus der Arbeit entgegensetze«, die des »Naturmenschen« »nur die Auslösung der in den psychischen Zentren angehäuften Nervenkraft« (ebd.: 256).67 Der zweckhaft Handelnde will also bewusst etwas, was er noch nicht hat oder nicht erreicht hat. Hier besteht eine Parallele des Zweckhandelns mit der Werttheorie des Begehrens: Auch dort trat das Individuum in Distanz zu den Objekten, die gleichzeitig ein psychologisches Sich-Zurücknehmen der ganzen Person aus der Involvierung in die partikulare Beziehung voraussetzte. Diese Distanz war Voraussetzung für das – »zivilisierte« – Begehren nach einem Objekt. Ebenso erwähnte Simmel im »Wert und Geld«-Kapitel, dass ein Triebhandeln noch ein »Getriebenwerden« sei, welches weder Objekt, noch Subjekt kennt (ebd.: 40). Wichtig ist nun, dass das Zweckhandeln aus seinem Wesen heraus auf das Mittel angewiesen ist. Ist ein Handeln Zweckhandeln, dann bedarf es des Mittels, um eine wie auch immer geartete Distanz zu einem Objekt zu überwinden. Zweckhandeln ist ein willentliches Handeln, das »Widerstände« (ebd.: 256) und »Hemmungen« überwindet (ebd.: 258). Simmels Rückgriff auf diese Semantiken ist von Interesse, weil sich so am plastischsten seine Vorstellung des Zweckhandelns als Selbstüberwindung – Transzendenz – des Lebens greifen lässt: Das Leben entwickelt sich, wird Mehr-Leben, indem es selbstgesetzte Widerstände – das Mehr-als-Leben der Objektivität – überwindet, und für dieses Verhältnis steht das aus dem Zweckhandeln implizierte Mittel. Ein Mittel kann bereits das eigene körperliche Handeln sein, der Begriff umfasst aber auch mehr oder minder intentional geschaffene Mittel. Das Werkzeug beispielsweise ist »durch den Zweck bestimmt« (ebd.: 261). Die Herstellung des Werkzeugs ist dann selbst zweckgerichtetes Handeln. Jedes Werkzeug ist ein Mittel, aber nicht jedes Mittel ein Werkzeug. Natürlich gewachsene Dinge wie ein Ast können als Mittel für bestimmte Zwecke verwendet werden, ohne dass sie von sich her diese Richtung eingeschlagen hätten (vgl. ebd.: 261). Dann gibt es noch soziale Institutionen, die Simmel in geringer Trennschärfe vom Werkzeug unterscheidet, denn das Geld beispielsweise »ist die reinste Form des Werkzeugs« und »eine Institution« (ebd.: 263). Was das Maß an Zweckgerichtetheit in der Entwicklung von Institutionen anbelangt, bleibt Simmel sehr vage und abstrakt. Die summierte Wirkung gleichgerichteter Interessen einerseits und das gegenseitige »Abschleifen« von Zufäl-

67 Simmels Beschreibung erinnert an den weberschen Idealtypus vom affektualen Handeln, welches in der Reinform des Sich-Verhaltens ein »hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz sein [kann].« (Weber 2010: 18)

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ligem würden Institutionen wie das Recht, die Kirche oder eben das Geld hervorbringen (vgl. ebd.: 262). Unabhängig davon geht es der Idee nach darum, dass Werkzeuge und Institutionen den Individuen als Mittel dazu dienen, ansonsten nicht erreichbare Ziele zu erreichen. Kirche und Priesterschaft vermitteln Seelenheil (vgl. Kapitel 7.2.6 und 7.3.3 in diesem Buch), Geld vermittelt den Warentausch. Für Letzteres verweise ich auf den oben bereits bearbeiteten Modellfall der Koinzidenz der Bedürfnisse (vgl. Kapitel 8.2.3 in diesem Buch). Aber: Macht Geld Gott Konkurrenz, so muss es mehr leisten als die Konstitution der ökonomischen Tauscheinheit. Geld muss – irgendwie – ausgerichtet sein oder bezogen werden können auf das individuelle Heilsstreben.68 Dies tut es, wenn es genauso gut oder sogar besser als materielle Konfessionen bzw. besser als Kirche und Priesterschaft Pfade des Heilsstrebens eröffnet. Eine funktionale Äquivalenz mit Gott impliziert die Übertragung der genannten Hypothese auf das Geld: Heilsvermittlung. Das körperliche Handeln teilt mit jeder Form des Mittels die Eigenschaft eines »Doppelcharakters« (PDG: 259). Der Doppelcharakter eines Mittels, so Simmel, bestünde in dem einheitlichen Erleben zweier unterschiedlicher, psychologischer Zustände. Am augenfälligsten werde dies an dem körperlichen Handeln als Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke: »[A]n ihm [dem körperlichen Handeln; Anmerkung PB] fühlen wir ganz nahe den Widerstand des außerseelischen Seins unser selbst und die dirigierende Energie, die ihn überwindet – eines am anderen bewußtwerdend und sein spezifisches Wesen gewinnend.« (Ebd.: 259; Hervorhebung PB) Das individuelle Leben erlebt am und im eigenen Handeln die dualistische Einheit aus Leben (= Mehr-Leben) und Form (= Mehr-als-Leben). Die gesteigerte Intensitätsform dieses Erlebens war für Simmel gleich dem religiösen Erleben (vgl. Kapitel 7.2.1 in diesem Buch). Die besagte dualistische Einheit ist nun, wie das Zitat direkt aussagt (»eines am anderen bewußtwerdend«), Wechselwirkung: Indem das zweckgerichtet handelnde Individuum in die Welt eingreift, wird sie ihm praktisch zu einem Objekt, das er zwar, als Objekt, bearbeiten und seinen Kräften gemäß gestalten kann, aber nur unter der wechselseitig konstitutiven Voraussetzung der Widerständigkeit. Die Widerständigkeit ist es nach Simmel, die Realität als solche erlebbar macht (vgl. PDG: 34-35). Diese Annahmen sind meines Erachtens im Sinn vollständig äquivalent zu jenen aus der »Lebensanschauung«, wenn Simmel das Werden der dualistischen Einheit des Lebens so beschreibt, »daß [es] sein innerstes Wesen ist, über sich selbst hinauszugehen, seine Grenze zu setzen, indem es über sie, d. h. eben über sich selbst, hinausgreift.« (LA: 224; Hervorhebung PB) Das schöpferische Zweckhandeln schafft sich das von ihm zu bearbeitende Objekt aus sich heraus, es stellt es sich als etwas Frem-

68 Was Simmel aus psychologischer Sicht als Mittel bezeichnet, ist aus lebensphilosophischer Perspektive Kulturform. Sind Kirche, Geld und Staat wirklich Kulturformen? Eher nicht. Kulturformen benötigen eine ihre funktionale Einheit vermittelnde Materialität oder auch Substanz. Diese Dualität von Substanz und Funktion ist es, was eigentlich hinter dem Institutionenbegriff Simmels steckt. Geld wäre nicht Geld ohne das ihm inhärente dualistische Verhältnis von materieller Substanz und Funktion. Für Kirche und Priesterschaft gilt exakt das gleiche. Und nur deshalb, weil die Funktion durch eine Substanz bedient werden muss, kann es überhaupt die Möglichkeit einer funktionalen Äquivalenz geben, die durch unterschiedliche Materialitäten d. h. symbolische Gestaltwerdungen, realisiert wird.

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des gegenüber, um sich dann, in der Form der Wechselwirkung, an ihm abarbeiten zu können (vgl. PDG: 258-59). In der Fähigkeit zum teleologischen Handeln sieht Simmel eine menschliche Eigenart. Auf das Mittel angewiesen zu sein, so Simmel, stehe gerade sinnbildlich für eine mittlere »Weltstellung des Menschen« (ebd.: 264). Das Mittel sei »das Symbol des Typus Mensch: es zeigt oder enthält die ganze Größe des menschlichen Willens, zugleich aber die Form, die ihn begrenzt.« (Ebd.: 265; Hervorhebung PB)69 Das auf Objekte gerichtete Zweckhandeln reiche über den Typus der Triebhandlung hinaus, dem sich auch das tierische Verhalten zuordnen lasse. Praktisch kann sich der Mensch über die Einrichtung sozialer Institutionen erst eine sozial wie räumlich ausgedehnte Welt erschließen. Der Mensch unterscheide sich aber auch vom göttlichen Weltverhältnis, dessen Wille umstandslos Wirklichkeit werde (vgl. ebd.: 258, 264-65).70 Diese anthropologische Mittelbarkeit des Zweckhandelns findet noch in der »Lebensanschauung« Niederschlag. Gleich der erste Satz des Buches beginnt mit der Annahme Simmels: »Die Weltstellung des Menschen ist dadurch bestimmt, daß er sich innerhalb jeder Dimension seiner Beschaffenheiten und seines Verhaltens in jedem Augenblick zwischen zwei Grenzen befindet.« (LA: 212) Simmel greift nun auf das Geld zurück. Meinte Simmel, dass das zweckgerichtete Handeln aus sich heraus Distanz und Mittel zur Überwindung jener Distanz schafft, ist das Geld laut Simmel die Objektivationsform, in der sich das Zweckhandeln als solches überhaupt erst ausdifferenziert: »Im Geld hat das Mittel seine reinste Wirklichkeit erhalten, es ist dasjenige konkrete Mittel, das sich mit dem abstrakten Begriffe desselben ohne Abzug deckt; es ist das Mittel schlechthin. Und darin, daß es als solches die praktische Stellung des Menschen […] zu seinen Willensinhalten, seine Macht und Ohnmacht ihnen gegenüber verkörpert, aufgipfelt, sublimiert – darin liegt die ungeheure Bedeutung des Geldes für das Verständnis der Grundmotive des Lebens.« (PDG: 265; Hervorhebung PB)

Es ist wichtig zu sehen, dass Simmel das Geld als die gewissermaßen perfekte Gestaltwerdung der innerlichen, apriorischen Formungskräfte des Lebens zu verstehen versucht; oder leicht anders formuliert: als perfekte Gestaltwerdung des Lebens. Leben kann nur sein, indem es sich in den Widerstreit von Leben und Form objektiviert, und dafür ist das Geld für Simmel das Symbol. Dies legt die – bereits von anderer Seite her bekräftigte – Annahme nahe, dass für Simmel das Geld die Objektivation, d. h. Form- und Gegenstandswerdung des Lebensprinzips ist – jenes Lebens, das aus sich heraus gar nicht zur Ruhe kommen kann. Dafür steht der Symbolbegriff. Attribute, die auf Seiten des Geldes auftreten, treten auf Seiten des individuellen Lebens

69 Dieses Zitat beweist in Wort und Sinn, dass Simmel von dem zu Anfang der »Lebensanschauung« exemplarisch eingeführten Grenzcharakter des Lebens bereits in der »Philosophie des Geldes« einen expliziten, reflektierten Gebrauch macht. Dies widerlegt die Hypothese Gregor Fitzis, noch Simmels Soziologie habe nicht Lebenssoziologie sein können, da er bis dato den Grenzcharakter des Lebens noch nicht intellektuell verarbeitet hatte (vgl. Fitzi 2002: 293; vgl. auch Kapitel 6.3 in diesem Buch). 70 Was korreliert mit der Annahme Simmels, dass ein Gott seiner Idee nach kein Leben ist (vgl. Kapitel 7.2.3 dieses Buches).

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auf – und vice versa –, weil die einheitsbildende Funktion des Geldes im letzten Grunde auf die einheitsbildende Funktion der geistigen Entelechie zurückgeht (vgl. ebd.: 246). Ich versuche, dies an einem weiteren Beispiel Simmels zu belegen. Als abstrakter Vermögenswert ist Geld in seiner Zweckverwendung inhaltlich unbestimmt, und deshalb drängt es umgekehrt zur Neuschöpfung von Inhalten. Dafür nimmt der abstrakte Vermögenswert die konkrete, greifbare Gestalt einer quantitativ begrenzten Geldsumme an, die ihren Sinn in der dynamisierten Konstitution der Tauschbewegung besitzt. Geld ist in Bewegung, weil es seinen Sinn in der Erfüllung einer prinzipiell nicht durch eine bestimmte Summe von Inhalten zu erschöpfenden Abstraktion besitzt, dem ökonomischen Wert. Diese Form eines werdenden Seins besitzt Simmel zufolge nun auch das individuelle, zweckgerichtete Handeln: »Wir sollen das Leben so behandeln, als ob jeder seiner Augenblicke ein Endzweck wäre, jeder soll so wichtig genommen werden, als ob das Leben eigentlich um seinetwillen bis zu ihm gereicht hätte; und zugleich sollen wir das Leben so führen, als ob überhaupt keiner seiner Augenblicke ein definitiver wäre, an keinem soll unser Wertgefühl stillhalten, sondern jeder hat als ein Durchgang und Mittel zu höheren und immer höheren Stufen zu gelten.« (Ebd.: 299)

Zweckhandeln ist eine Form des Lebens, die sich in keinem bestimmten Inhalt erschöpfen kann, sondern diesen im Akt der Zwecksetzung erneut zu transzendieren strebt. Das Leben reproduziert seine Einheit zweckförmig, bzw. in der Form des Endzweckes. Dieser ist aber nur dazu da, um im nächsten Schritt überwunden zu werden. Ähnlich wie in »Schopenhauer und Nietzsche« klingt Simmels Idee an, dass das durch die Zweckform fließende individuelle Leben seinen einheitlichen Sinn in der Höherentwicklung seiner selbst zu haben scheint. Ganz ähnlich sagt Simmel auch noch in einer später folgenden Passage der »Philosophie des Geldes«, »der Zweck der Stunde [gehe] so viel häufiger über die Stunde hinaus« (ebd.: 593). Was meines Erachtens der in Geldform artikulierte Ausdruck dafür ist, dass die Transzendenz dem Leben immanent ist. Die Lebensform des Zweckhandelns nimmt für Simmel deshalb einen ebenso dualistischen Charakter an, wie ihn die »Doppelrolle des Geldes« kennzeichnet: »Diese scheinbar widerspruchsvolle Doppelforderung an jeden Lebensmoment, ein schlechthin definitiver und ein schlechthin nicht definitiver zu sein, quillt aus den letzten Innerlichkeiten, in denen die Seele ihr Verhältnis zum Leben gestaltet – und findet, wunderlich genug, eine gleichsam ironische Erfüllung am Gelde, dem äußerlichsten, weil jenseits aller Qualitäten und Intensitäten stehenden Gebilde des Geistes.« (Ebd.: 299)

Ob Simmel die »Forderung« in dem metaethischen Sinne des »individuellen Gesetzes« verstand, dazu sagt Simmel nichts. Ich würde aber dazu tendieren, diese Stelle genauso zu interpretieren: als ein Leben, welches Sinn und Zweck nicht mehr in bestimmten Inhalten, sondern nur noch in der ihm eigengesetzlichen, reinen Form des Handelns und Erlebens besitzt. Das Geld ist »indifferenter Durchgangspunkt« (ebd.: 264) und »indifferentes Durchgangsstadium« (ebd.: 304) dieses Lebens. Geld ist die Einheitsform unterschiedlichster Zweckhandlungen, und deshalb bietet sie dem nur

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noch und allein aus sich heraus werdenden Leben die dafür adäquate Form.71 Aber: auch nur noch diesem Leben. Die empirischen Individualitäten, welche die Religiosität in der Substanz der Ding-Welt sucht, bleiben in der Geldförmigkeit individuellen Handelns und Erlebens unbefriedigt. In diesem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis zwischen Geld und Leben liegt meines Erachtens der philosophische Grund dafür, dass das Geld für Simmel einmal »das absolute Mittel« ist (ebd.: 264), deshalb aber »psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck« wird (ebd.: 298; Hervorhebung im Original), wie ich zu Anfang dieses Unterkapitels referierte. Darin lag für Simmel Lösung und Problem zugleich, denn die in beide Richtungen – des Erwerbs und der Ausgabe – hin offene Geldform gibt keine Seins-Anweisung mehr an die Hand. Im Gegenteil: Geld ist »absolut formlos«, ist »Formlosigkeit«, es ist »der fürchterlichste Formzerstörer« (ebd.: 360). Geld ist ein Fluidum, besitzt die »Nachgiebigkeit […] eines absolut flüssigen Körpers […] der freilich jegliche Form annimmt, keine aber sozusagen in sich selbst ausprägt« (ebd.: 439). Diese »Nachgiebigkeits«-Charakteristik des Geldes interpretierte ich auch als impliziten, materiellen Hintergrund von Simmels Theorie arbeitsteiliger Differenzierung (vgl. Kapitel 6.4.1 in diesem Buch). In der vorrangig über Geld vermittelten Weltbeziehung ist es Sache des Individuums, eine Form herzustellen. Das Individuum wird »auf sich selbst zurückgewiesen« (SOZ: 846). Mit seiner Philosophie des »individuellen Gesetzes« vollzog Simmel auf metaethischer Theorie die Form geldwirtschaftlicher Beziehungen nach: Auch sie gibt kein annähernd materielles Prinzip an die Hand, sondern verweist das Leben auf sich selbst; und so verhielt es sich auch mit Simmels lebensphilosophischer Deutung des Heilsstrebens. Mit Simmels »Goethe« lässt sich Aufgabe und Gelingen von Individualität unter geldwirtschaftlichen Verhältnissen als »Sich-Selbst-Beherrschen und Entsagen« verstehen, denn: »Form ist Begrenzung« (GOE: 189) – Begrenzung, die aus der entelechischen Form der Individualität entstammt, nicht aber aus äußerlichen Vorgaben (vgl. ebd.: 191). Dem steht in der »Philosophie des Geldes« Simmels Konstatierung gegenüber, dass die »Peripherie des Lebens, die Dinge außerhalb seiner Geistigkeit, zu Herren über sein Zentrum geworden sind« (PDG: 672). Simmel meint, die Begeisterung über den technischen Fortschritt täusche über die selbstgeschaffenen Bedürfnisse hinweg (vgl. ebd.: 671-73). Diese äußerlichen Bedürfnisse würden die Menschen in einem Maße von Äußerlichkeiten abhängig machen, die das Individuum von seiner eigenen Einheit entfremde; die Peripherie beherrsche das Zentrum: »[W]as uns die Natur vermöge der Technik von außen liefert, ist durch tausend Gewöhnungen, tausend Zerstreuungen, tausend Bedürfnisse äußerlicher Art über das Sich-Selbst-Gehören, über die geistige Zentripetalität des Lebens Herr geworden.« (Ebd.: 674). Aus dieser Perspektive ist das individuelle Leben bloßer Inhalt, über den sich die Mehr-Wertschöpfung der Geldwirtschaft reproduziert. Auf der anderen Seite betont Simmel, dass der »Formzerstörer«

71 Christoph Deutschmanns Aneignung von Simmels Geldphilosophie für seine Hypothese, Kapitalismus sei eine Religion, beruht auf der Annahme Deutschmanns, die individuelle Freiheit sei nach Simmel der höchste Wert. Ob er diese Annahme in Simmel hineinliest, ist nicht klar. Da für Simmel Geld Freiheit bedeute, so Deutschmann weiter, könne der Sinn und Zweck von Geldverwendung nur die irgendwie gewinnträchtige Verwertung des Geldes – hier dann: des Geldkapitals – sein (vgl. Deutschmann 2008: 47).

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Geld die Inhalte so zerkleinert, dass sie »das Material für den modernen Individualismus und die Fülle seiner Erzeugnisse« sein können (ebd.: 366; Hervorhebung PB). Explizit spricht Simmel vom Schaffen neuer »Lebenseinheiten« (ebd.: 366). Danach gibt das Geld das Mittel an die Hand, schöpferisches Individuum zu sein. Es ist der Erwähnung wert, dass das christlich geprägte Mittelalter oder auch Stammesgesellschaften nach Simmel »eine viel größere Zahl definitiver Befriedigungspunkte des Zweckhandelns [gekannt haben], als die Gegenwart« (ebd.: 593). Ähnliches gilt Simmel zufolge für das antike Griechenland Aristoteles’ und Platons (vgl. ebd.: 300-01). Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung eines substanziellen, fixen Lebenszweckes, auf den sich das Handeln und Erleben hin dauerhaft ausrichtet. Ebenso gemeinsam ist ihnen eine vergleichsweise geringe geldwirtschaftliche Durchdringung der Gesellschaft. Jeweils geht es Simmel nicht darum, worin die jeweiligen Gesellschaften Sinnbefriedigung gefunden haben, sondern darum, dass dies überhaupt psychologisch einmal der Fall gewesen ist. Das Erreichen eines absoluten Wertes mache sich zwar bemerkbar als ein »Befriedigungsgefühl«, wonach sich die psychischen Energien – Simmels »Innervationen« – der Zwecksetzung erneut konzentrieren können (ebd.: 293-94). Das Befriedigungsgefühl ist allerdings nicht an eine bestimmte Zeitdauer gebunden (vgl. ebd.: 293). Weshalb dann auch der Verlust eines äußerlichen Lebenssinnes nicht allein durch Verschiebungen auf der Zeitachse erklärt werden kann. Die Hinweise darauf sind verstreut und vergleichsweise wenig systematisch, aber Simmel scheint die Chancen auf inhaltlich bestimmte und dauerhafte Werte in Abhängigkeit von der Ausdehnung sozialer Beziehungen zu sehen, in denen ein Individuum sich bewegt. Je kleiner und übersichtlicher die durch ein Individuum zu bewältigende Welt, desto höher die Chancen einer dauerhaften Befriedigung an etwas Substanziellem. Sehr generalisiert lässt sich darunter jede Form der Selbstproduktion verstehen: Das Jagen und Erlegen von Tieren in Stammeskollektiven, der Ackerbau in der Dorfgemeinschaft, sie besitzen ihre Bestimmung in der vom Geist der Individualität noch nicht geprägten Gemeinde, welche die vollständige Produktion für den eigenen Bedarf erledigt. Sie gehen nicht den Weg über Markt und Geldentlohnung, stattdessen bleibt die partikulare Gemeinschaft vergleichsweise in sich geschlossen – während es später die eigengesetzlichen Kulturformen sind, die sich schließen. Die Wege des Zweckhandelns sind ebenfalls noch recht klein. Der Weltzugang moderner Gesellschaften ist dagegen vermittelt: Räumlich ferner gelegene Dinge sind nun erreichbar, räumlich näher gelegene liegen mit ferner gelegenen aber auf einer prinzipiell gleichen gesellschaftlichen Ebene, denn beide Arten sind nur noch – wie im Falle der Ökonomie: über Geld – vermittelt erreichbar. Das räumlich nahe bleibt wirtschaftlich fern, wenn es an Zahlungsfähigkeit ermangelt; oder man entscheidet sich aus preisrationalen Erwägungen für das räumlich weiter entfernte Gut. Natürlich ist es auch in traditionalen und in archaischen Gesellschaften so, dass beispielsweise die der gemeinsamen Speise vorangehende Jagd letzten Endes auch Bedingung für alle weitere Reproduktion der Gemeinschaft ist, sei es im sexuellen, militärischen, politischen oder rechtlichen Bereich. Zwecke stellen sich als Mittel für nachfolgende Zwecke heraus. Dennoch ist das Bewusstsein ein anderes: Hier sind die Zweckhandlungen des einen Kontextes nicht verknüpft mit den Zweckhandlungen eines anderen Kontextes. Diese Verknüpfung ist Aufgabe des Intellekts, dessen Aufgabe in der Besorgung der Mittel für gesetzte Zwecke liegt. Das Geld wird in der Moderne nicht

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nur Mittel, sondern damit auch Übersetzungsmedium zwischen den Zweckreihen, weil Geld aus a priori nicht abschließbaren Erwerbsmöglichkeiten entstammt und auch für relativ beliebige Zwecke verwendet werden kann (vgl. ebd.: 593). Die geistige Widerspiegelung der Geldform ist eine wachsende mentale Intellektualisierung (vgl. ebd.: 593-94). Die Vorstellung konkreter, dauerhafter Zwecke verschiebt sich in den Horizont einer durch keinen bestimmten Inhalt mehr bestimmbaren, abstrakten Zweckform des Bewusstseins, mittels derer sich das Individuum auf die Welt bezieht: Alles steht mit allem in Beziehung, Zwecke stellen sich später als Mittel für darüber hinausliegende Zwecke heraus, und der abstrakte Vermögenswert bildet die umfassende Form, die deren Relationierung ermöglicht (vgl. ebd.: 594). Da Geld eine Schöpfung des Geistes ist, bildet die monetäre Übersetzbarkeit einer Zweckreihe in die andere Zweckreihe – zur praktischen Verwendbarkeit in der greifbar gewordenen, konkreten Geldsumme – die Form, in der das moderne – und das ist bei Simmel vor allem: das großstädtische – Individuum die Weltbeziehungen intellektuell und praktisch zu bewältigen vermag. Dieser Evolutionsprozess ist bei Simmel eine Funktion der Ausdehnung sozialer Beziehungen (vgl. Kapitel 7.3.2.1 in diesem Buch). Max Weber sprach in seiner »Protestantischen Ethik« von der zeitgenössischen »Auffassung des Gelderwerbs als eines den Menschen sich verpflichtenden Selbstzweckes« (Weber 1988a: 56), sowie vom »Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, […] so rein als Selbstzweck gedacht« (ebd.: 35). Mögen manche Passagen eine Ähnlichkeit zu Simmel suggerieren, ging es Weber in seiner »Protestantischen Ethik« um den Beweis, dass gerade nicht das Geld einen bestimmenden Einfluss auf das Zweckhandeln besitzt, sondern die Ethik, genauer: die religiöse Ethik zu einem bestimmten Umgang mit Geld erzieht, welche schließlich die rationale Form kapitalistischen Wirtschaftens an die Stelle des ehemals traditional-kapitalistischen Wirtschaftens setzt (vgl. ebd.: 5253). Die »Geldgier« (ebd.: 41), »Erwerbsgier« und das Streben »nach möglichst hohem Geldgewinn« (ebd.: 4) für sich genommen sind nach Weber gerade ein kulturgeschichtlich universales Phänomen von Gesellschaften, die eine irgendwie geartete Geldwirtschaft herausgebildet haben (vgl. ebd.: 4, 41-43). »Bändigung« und »Temperierung« der Gier sind stattdessen das eigentümliche des rational-kapitalistischen Gewinnstrebens (ebd.: 4; Hervorhebung im Original); und geschichtlich vermag diese ethische »Bändigung« die puritanische Arbeitsethik, indem sie auf überflüssigen Konsum verzichtet und Geldkapital für neuerliche Investitionen aufspart (vgl. ebd.: 190). Die puritanische Arbeitsethik schafft erst die für die rationale »kapitalistische Wirtschaftsordnung« schließlich – nachdem sie einmal entstanden ist – notwendig gewordene »Hingabe an den ›Beruf‹ des Geldverdienens« (ebd.: 55) Von einer ethischen Umwälzungskraft aus der Geldform allein ging Weber gerade nicht aus – und folgende Zeilen zeugen auch eher von einer Distanz zu Simmel: »[Ü]berhaupt [können] nicht einfach mechanische Geldoperationen die ›Erziehung‹ zur kapitalistischen Kultur, und damit die Möglichkeit kapitalistischer Wirtschaft herbeiführen.« (Ebd.: 45, Fn. 1) Die inhaltliche Beliebigkeit der Geldverwendung interessierte Weber gar nicht; und wenn es um die Umsetzung des einmal verdienten Geldes in neuerliche Zweckreihen geht, dann bei Weber eben unter dem Motiv der Re-Investition des einmal verdienten Kapitels um des Profits willens. Für Simmel war das Tauschapriori von Gewinn und Verlust einerseits fundamental für die Wertform der Ökonomie (vgl. Kapitel 8.2.1 in diesem Buch). Das Profitmotiv im engen, betriebswirtschaftli-

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chen Sinne der Rentabilitätsorientierung des investiven Erwerbs von Produktionsgütern (also Kapital) durch Geld zwecks Erwirtschaftung eines Gewinns spielte bei Simmel dagegen keinerlei Rolle. Das mag aber nur dann verwundern, wenn man glaubt, Simmel habe eine Soziologie kapitalistischen Wirtschaftens intendiert. Dies aber ist nicht der Fall gewesen. Simmels Intention ging auf die Deutung der absoluten Einheit von individuellem Leben und überindividueller Form am Geld. Diese absolute Einheit kann unter den modernen geldwirtschaftlichen Bedingungen Simmel zufolge nur noch aus dem individuellen Leben selbst kommen; und dafür steht die überindividuelle Geldform, in welches sich das individuelle Leben objektiviert. Darauf haben sich auch Simmels Überlegungen zum Zweckbegriff einzufügen. Das Absolute des Daseins, so Simmel, löse sich in »Bewegung, Beziehung, Entwicklung« auf (PDG: 307). Was meines Erachtens nun noch fehlt, das ist die Beantwortung der Frage, wie Simmel das Geld aus der »Enge« der Ökonomie herausführen kann zu einem Symbol, durch welches er die Seins-Einheit deuten kann. Es bedarf eines Nachweises, dass Simmel das Geld nicht nur im Ökonomischen sich erschöpfen lässt, sondern dass und wie er mit dem Geld die Ökonomie der Sache nach transzendiert. Denn, wie gesagt: Philosophie ist die Geldphilosophie in der Form einer Aussage über die Sache. Dazu gehört die Demonstration, dass sich Simmels Soziologie wie seine Kulturphilosophie bereits mit der »Philosophie des Geldes« auf diese – als Philosophie – und der Sache nach die in Kapitel 5 und 6 des vorliegenden Buches dargelegten kulturphilosophischen und soziologischen Überlegungen auf die Einheitsform des Geldes beziehen lassen. Die Dualismen von individuellem Leben einerseits, den Formen oder Welten der Kultur und Vergesellschaftung andererseits, sie müssen sich rückbeziehen lassen auf das Geld. Dafür wende ich meine Aufmerksamkeit im Folgenden einer Rekonstruktion des »Wende«- bzw. Ausdifferenzierungsprozesses auf dem Gebiet der Geldökonomie zu. Geld und Tausch kommen aus dem Leben und werden schließlich zu das Leben bestimmenden, eigengesetzlichen Formen. In dem Maße, in welchem die Geldökonomie sich verselbständigt, ›presst‹ diese die Individualität des Lebens aus der ökonomischen Form heraus, weil nur noch die für die ökonomische Reproduktion notwendige Energie benötigt wird. Die Erlösung der Individualität aus der Ökonomie ist an die vorrangige Beziehung zum Geld geknüpft. Die Vorrangigkeitsbeziehung zum Geld impliziert erst die freigewordene Individualität, die nun eine eigengesetzlich gesteuerte, eigenselektive Bindung an Gesellschaft und Kultur führen kann. Das Resultat ist eine monetär konstituierte, beidseitige Verselbständigung von Leben und Form gegeneinander, welche nun, unter diesen Vorzeichen, die Möglichkeit zu einer erneuten Synthese von Leben und Form gibt: die Absorption des Lebens durch die Form oder die eigenlogische Aneignung der Form durch das Leben. Neben der »Philosophie des Geldes« werde ich auf weitere Arbeiten Simmels zurückgreifen. Stets bewege ich mich aber innerhalb ein und desselben lebensphilosophischen Deutungsrahmens.

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8.4 »DIE WENDUNG ZUR IDEE« Das Leben, so führt Simmel aus, habe im Laufe der Geschichte unterschiedliche ökonomische Formen zur Bedürfnisbefriedigung produziert (vgl. LA: 293). Historisch gesehen haben sich unterschiedliche wirtschaftliche Formen – »Sklavenwirtschaft und Zunftverfassung, bäuerliche Schollenpflichtigkeit und freies Lohnarbeitertum« (KDMK: 184) abgewechselt: Das Leben schafft sich seine Form, die zunächst »der adäquate Ausdruck« (ebd.: 184) der wirtschaftlichen Kräfte ist, nach einer – von Simmel nicht definierten – Zeit jedoch nicht länger adäquat ist. Die Kräfte stauen und bauen sich innerhalb der ökonomischen Form auf und entladen sich schließlich, durchbrechen die vom Leben selbstgesetzte Form, »in langsameren oder akuteren Revolutionen […], um eine andere, diesen jetzigen Kräften angemessene Produktionsart an ihre Stelle zu setzen.« (Ebd.: 185) Unabhängig von der aus dem Dualismus des Lebens geborenen Tatsache eines kontinuierlichen Formwandels der Kultur beschreibt das Prinzip von der »Wendung zur Idee« eine Umkehrung im Verhältnis von Leben und Form. Zunächst, vor der Wende, schafft das Leben die Form. Mit und nach der Wende zur Idee verselbständigt sich die Form aus dem und gegen das Leben: Die Form wird selbst schöpferisch und bestimmt das Leben nach seinem eigenen Prinzip. Das Prinzip oder Gesetz, nach dem die Form funktioniert, entstammt apriorischen Formungskräften des Lebens selbst. Insofern ist die Form weiterhin konstitutiv abhängig vom Leben. Das Leben ist allerdings nur noch ein die Eigenlogik der Form ausführendes Element. Es liefert die Energie für den Reproduktionsprozess der Form, hat aber keinen die Relationen zwischen den Elementen determinierenden Durchgriff auf die eigenlogische Prozessebene mehr: »Wohl aber entsteht die vollkommene Drehung, durch die die Wirtschaft wirklich eine Welt für sich wird, sobald sie ein nach rein objektiven, sachlich-technischen Gesetzlichkeiten und Formen ablaufender Prozeß wird, für den die lebendigen Menschen nur Träger, Ausführende der ihm immanenten, aus ihm heraus notwendigen Normen sind, wenn der Besitzer und Betriebsleiter nicht anders als der Arbeiter und Laufbursche Sklaven des Produktionsprozesses sind. Die gewalttätige Logik seiner Entwicklung fragt nach keinem Willen der Subjekte, nicht nach dem Sinn und den Notwendigkeiten ihres Lebens. Die Wirtschaft geht jetzt ihren zwangsläufigen Weg so, als ob die Menschen nur ihrethalben da wären, nicht aber sie um der Menschen willen.« (LA: 293)

Die »Wendung zur Idee« auf dem Gebiet der Ökonomie ist nach Simmel zu unterscheiden von der Selbstzweckwerdung des Geldes. Sowohl in der »Krisis der Kultur« von 1916 (vgl. KDK: 190-92) wie in der »Lebensanschauung« (vgl. LA: 246) bildet das Geld für Simmel die Reinform der Umwertung von Mitteln zum psychologischen Selbst- und Endzweck. Simmel differenziert das Zweckmäßigkeitsprinzip von der freiheitlichen Ebene der Objektivationsform und setzt sie in einen Gegensatz zueinander (vgl. LA: 250-51). Darauf hatte ich bereits im dritten Kapitel hingewiesen: Die apriorischen Prinzipien, denen gemäß das individuelle Leben Welten formt, haben selbst, als Ganze, keinen Zweck mehr, auch wenn das Handeln und Erleben innerhalb dieser Welten oder Formen in der Form des Zweckhandelns stattfindet. Die Psychologie des Eigenwertes von Geld hat ihrem Prinzip nach deshalb nichts mit einer

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»Wende« zu tun – »es bleibt dabei alles in derselben Ebene und wechselt nur die psychologischen Akzente.« (Ebd.: 293) Von »Kapitalismus« oder »kapitalistischem Wirtschaften« ist bei Simmel kaum die Rede. Es ist zwar anders, als Hartmann Tyrell irrtümlicherweise behauptet: dass Simmel »von dem Begriff [des Kapitalismus] noch keinen Gebrauch [mache].« (Tyrell 1997: 193) Sowohl der wortwörtliche und sinngemäße Gebrauch des Begriffes »Kapitalismus« (PDG: 380, 685, 707) wie auch die durch den »Kapitalismus«Begriff bezeichnete soziale Verhältnisform zwischen Kapital und Arbeit (vgl. ebd.: 228, 400, 631) lassen sich bei Simmel finden.72 Letzteres bezeichnet er ausdrücklich als »kapitalistische Differenzierung« in die Funktion der privaten Organisation der Produktionsmittel, dem Kapital, durch den Kapitalisten einerseits und die Produktionstätigkeit an den Produktionsmitteln durch den besitzlosen und deshalb lohnabhängigen Arbeiter andererseits (ebd.: 631). Wohl aber unterscheidet Simmel nicht, wie Weber dies tut, die traditionale Form kapitalistischen Wirtschaftens von der zweckrationalen Form kapitalistischen Wirtschaftens. Auch in diesem Fall gilt, dass die differenzielle Beschaffenheit der Inhalte für Simmel keinen Unterschied in der Formkonstitution macht. So ist denn auch auf die Funktionen einer ausdifferenzierten Ökonomie hin betrachtet die Individualität ihrer Rollenträger relativ gleichgültig. Neben die Unterscheidung von Kapital und Arbeit setzt Simmel sowohl in seiner »Philosophie des Geldes« als auch in seiner »Soziologie« die Unterscheidung nach Produktion und Konsumtion, was nicht das gleiche wie »Arbeit« und »Kapital« bezeichnet (vgl. ebd.: 628-36, SOZ: 604, 611-12). Produktion und Konsumtion treten mit der Verselbständigung der Ökonomie ebenso auseinander wie Arbeit und Kapital: Man arbeitet nicht mehr in geschlossenen Kollektiven für den Konsum eben dieses Kollektivs, sondern für Geld. Das gleiche gilt für den Konsum: Sein Inhalt ist entkoppelt von der eigenen Produktion und gegen Geld erhältlich. Neben dem Geld bildet sich als soziales Organ zur Institutionalisierung des Tausches zwischen Produzenten und Konsumenten der »Handelsstand« (SOZ: 604) oder der »Händler« (PDG: 211, 213) heraus. Der Handel bildet »ein System von regelmäßig funktionierenden, gegenseitig balancierten Kräften und Beziehungen, als eine allgemeine Form, in die sich die einzelne Produktion und Konsumtion nur wie ein zufälliger Inhalt einfügt« (SOZ: 612; Hervorhebung PB). Die Form der Wirtschaft reproduziert sich somit vergleichsweise unabhängig von der partikularen, inhaltlich bestimmten Produktion und Konsumtion, wie es mit Bezug auf die Unterscheidung von Arbeit und Kapital der Fall ist, und sie bilden allesamt von der Personalität gelöste Kategorien, Träger oder Rollen, in die das Individuum die für die Wirtschaft »spezifischen Energien« einspeist (ebd.: 52; Hervorhebung im Original). Wenn und insoweit Menschen Teilhaber der Ökonomie sind, sind sie deren Eigengesetzlichkeit unterworfen. Eine Theorie oder Philosophie des Kapitalismus lässt sich bei Simmel aber nicht gewinnen, und das nicht nur wegen des für einen solchen Zweck dann doch zu seltenen Rekurses auf Form, Funktion und Wandel von Produktions- wie Distributionsverhältnissen im Vergleich zu jenem Gegenstand, der im Vordergrund der philosophischen Untersuchungen steht, dem Geld. In der Geldform schafft sich das individuelle Leben zwar

72 Die Unterscheidung von Arbeit und Kapital taucht bereits 1890 in der »Socialen Differenzierung« auf, und zwar ganz am Ende des letzten Kapitels (vgl. ÜSD: 291-95).

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einen eigengesetzlichen Kosmos, an dessen Objektivität es sein ökonomisches Handeln und Erleben auszurichten hat. Komplementär dazu befreit das Geld aber auch das am Menschen aus der Wirtschaft, was nicht mehr gegen einen Geldpreis aufzuwiegen ist. Und dieser nicht-ökonomische Rest ist gerade die »Gesamtpersönlichkeit«, die der ökonomischen Welt gegenüber steht (SOZ: 52; Hervorhebung im Original). Simmel nannte diese Leistung des Geldes »eine Atomisierung der Einzelpersönlichkeit« (PDG: 463). Diese durch Geld konstituierte Trennung zwischen der Rolle in der Ökonomie und dem Außerhalb und Gegenüber der Individualität macht den Rückgriff auf gesellschaftliche Trägerstrukturen der Ökonomie erst verständlich. Der Hinweis auf Simmels – innerhalb seines theoretischen Rahmens durchweg systematische – Kenntnisnahme der Unterscheidung von Produktion und Konsumtion ist dennoch wichtig, immerhin zeigt es, dass Simmel nicht schwerpunktmäßig die ökonomische Sphäre des Konsums im Blick hatte – wie Paul Nolte es Simmel zu attestieren vermeinte (vgl. Nolte 1998: 245-46) –, sondern Produktion und Konsumtion für ihn symmetrisch zueinander stehende Funktionen bildeten. Und es ist auch deshalb wichtig, weil Simmels Kultur- und Lebensphilosophie überhaupt explizit auf der Verselbständigung der Form gegen die Produktion und den Konsum bzw. der Aufnahme durch die Individualität des Lebens beruhte (vgl. TDK: 194; LA: 238; vgl. auch die Kapitel 5.3 und 6.4.1 in diesem Buch).73 Die Funktion der Religion liegt nach Simmel darin, Leben und Form zur Einheit zu bringen. Im Begehren nach Gott symbolisiert sich das Begehren nach der eigenen, individualgesetzlichen Einheit von Leben und Form. So hatte ich es im religionstheoretischen Kapitel dargelegt. Symbol und Objekt religiösen Begehrens unterliegt einer historischen Variation, und genau dieser Umstand bezeichnet nun den Sinn und Zweck der Rekonstruktion der »Wende zur Idee« auf dem Gebiet der Geldökonomie. Meine nun darzulegende These ist, dass das Geld ebenfalls eine Einheit zwischen Leben und Form schafft, indem es Leben und Form gegeneinander ausdifferenziert, das individuelle Leben auf sich stellt und dadurch und auch nur in dieser monetär bedingten Form des Auf-Sich-Gestellt-Seins, ein religiöses Leben ermöglicht. Die geldförmige Weltbeziehung ist nicht die Ursache der Entkernung religiösen Lebens von jeder Substanz, aber deren Form, ihr Grund. Die Geldform perpetuiert und trägt die Mittelbarkeit und Relativität des individuellen Weltverhältnisses, in welchem das einzig Absolute nur noch das Leben selbst ist. Erneut geht es um Korrelations- und Entsprechungsverhältnisse, nicht um Ursache und Wirkung. In der Trennung liegt die Verbindung, und beides ist die spezifische Leistung des Geldes (vgl. PDG: 135-36). Simmel bezeichnete diesen Vorgang so, dass sich das Geld zwischen die Person und die Sache schiebe und genau dadurch, einerseits, eine höherstufige Form der Synthese zwischen beiden, nun differenzierten Seiten erlaube, andererseits beiden jeweils einen eigengesetzlichen Bewegungsspielraum ermögliche

73 Die Textstellen im Wortlaut: »Der Geist erzeugt unzählige Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt.« (TDK: 194; Hervorhebung PB). Und: »Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenugsamen Bestand, mit dem sie sich sowohl aus dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind, wie aus dem anderen, das sie aufnimmt, gelöst haben.« (LA: 238; Hervorhebung PB)

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(vgl. ebd.: 401-04, 448-451). Dies gilt zunächst für die Wirtschaft, dann aber auch für das »Ganze« – die Kulturwelten und die Vergesellschaftungsprozesse, in denen das individuelle Handeln und Erleben sich bewegt. Daran möchte ich den Zusammenhang zwischen Geldwirtschaft und Religion erweisen. Konkret: Ich bewege mich von der Rekonstruktion der Ausdifferenzierung und Verselbständigung der Geldwirtschaft hin zu einer Ausdeutung von Simmels Kulturphilosophie und Soziologie über das Geld. Geld bewirkt es – um das Ergebnis vorwegzunehmen –, dass sich Leben und Form gegenüberstehen und deshalb jeweils aus sich heraus eigenlogisch auf das jeweilige Gegenüber zugreifen können. Folgendes ist zu beachten. Mit der Geschichte des Geldes bzw. der Geldwirtschaft verfuhr Simmel gleich wie im Falle der Religion in Kapitel 7.3. Wenn Simmel zu Anfang des dritten Unterkapitels von »Der Substanzwert des Geldes« in der »Philosophie des Geldes« festhält: »Es handelt sich jetzt um die historische Ausgestaltung des prinzipiell Konstruierten« (ebd.: 199), dann sind die geschichtlichen Inhalte der zeitlosen Form untergeordnet (vgl. Kapitel 7.3.2.1 in diesem Buch). Ein kausalgenetisches Narrativ à la Weber findet sich bei Simmel nicht, von einer Geld- oder Wirtschaftsgeschichte kann man nur in Ansätzen sprechen. Simmel zieht unterschiedliche Inhalte heran, um das sich allmählich herauskristallisierende Tauschprinzip auf unterschiedlichen Stufen seiner Realisierung herauszupräparieren. Simmel liest die Geschichte von Tausch und Geld von ›hinten‹, dem ›Ergebnis‹ her. Gleichzeitig ist sein Narrativ von der zeitlosen Annahme durchzogen, dass es immer das Leben ist, welches die Form schafft, nur eben, je nach Sozialstruktur, in unterschiedlichen Gestalten und Stufen der Verselbständigung. Ich verfahre in drei Schritten: Der Abschnitt »Evolutionäre Aspekte der Wertform« (Kapitel 8.4.1) rekonstruiert eine Drei-Stufen-Logik der Ausdifferenzierung von ökonomischem Leben und ökonomischer Tauschform. Die beiden Pole des Schemas bilden einmal die Indifferenz von Leben und Form, einmal die Verselbständigung von Leben und Form gegeneinander. Wie ich zu zeigen versuche, konstatiert Simmel eine Ko-Evolution zwischen dem individuellen, tauschenden Geist und der Objektivationsform. Simmel unterscheidet den Tausch analytisch vom Geld, weshalb ich der Evolution des Geldes einen eigenen Abschnitt widme (Kapitel 8.4.2). Schließlich führe ich beide Stränge zusammen in der historischen Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft als Form der Realisierung der aufklärerischen Ideale von Freiheit und Gleichheit (Kapitel 8.4.3). 8.4.1 Evolutionäre Aspekte der Wertform Verselbständigung ist als Verselbständigung der Wertform in einen Objektivationszusammenhang zu denken. Dass es überhaupt zu einer Differenzierung von Leben und Form kommt, dafür lassen sich bei Simmel Hinweise auf die Annahme einer – wie auch immer als ursprünglich definierten – Hemmung oder Unwahrscheinlichkeit einer solchen Entwicklung finden. Während Simmel für seine Gegenwart eine Neigung zum Verkauf gegen Geld konstatiert, sei es in Stammesgemeinschaften umgekehrt gewesen: Geradezu eine »Abneigung des primitiven Menschen gegen den Tausch« meint Simmel festzustellen (PDG: 84). Weil die Individuen nicht für den Markt, sondern für sich selbst und die unmittelbar umgebende Gemeinschaft produzieren, würden die Produkte als mit dem Ich – dem Leben – untrennbar verbunden

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erachtet, weshalb jede Form der Gegenüberstellung im Tausch wie ein Losreißen eines »Stück vom Ich« empfunden werde (ebd.: 85; vgl. auch ebd.: 554). Eine eigentliche Objektwahrnehmung gibt es nicht, Leben und Form bilden noch ein fast ungetrenntes Ineinander, auch wenn es keine vollständige Verschmelzung gebe. Deshalb meint Simmel, eine »mythologische und fetischistische Deutung« zu beobachten, welche »das Objekt erfährt« (ebd.: 85). Der »Abneigung gegen den Tausch« stellt Simmel Formen des Gebens und Nehmens sozialer Natur zur Seite, die aber auf der gleichen kognitiven Stufe verbleiben. So erwähnt Simmel die »Hingabe ohne Äquivalent« (ebd.: 241), »das Leihen und Aushelfen« (ebd.: 241), dann das »Geschenk« (ebd.: 86, 385, 473). Neben diese Form des Gebens stellt Simmel eine rudimentäre Form des Nehmens gegenüber, den Raub (vgl. ebd.: 86, 91, 473). Beispielsweise sei noch bis in die nach-homerische Zeit der »Seeraub« ein »legitimer Erwerb« gewesen (ebd.: 85). Während das Schenken eine zentripetale, also nach innen zum geschlossenen Kollektiv hin orientierte Einrichtung zu sein scheint, scheint sich der Raub auf die Außenbeziehungen eines Stammes zu beziehen. Geht man mit Rudolf Wolfgang Müller, lässt sich für die homerische Zeit tatsächlich eine Bewusstseinsform des Indifferenz-Erlebens zwischen Individualität und Umwelt konstatieren (vgl. Müller 1981: 12). Raub und Landwirtschaft konstituierten den ökonomischen Bereich (vgl. ebd.: 297-98).74 Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen ist zu erwähnen, um verständlich machen zu können, wie eine »Abneigung gegen den Tausch« und das GeschenkGeben ohne Widersprüche zusammenzudenken sind. Als die Urform der Vergesellschaftung sieht Simmel die »kommunistische Enge« (PDG: 473). Eine Ausprägung oder Wahrnehmung von Individualität ist kaum vorhanden, die Menschen würden »in strenger Bindung und Gleichartigkeit« gehalten (ebd.: 469).75 Wo Individuen sich nicht einmal als voneinander differenziert wahrnehmen, sondern im Kollektiv aufgehen, kann es eo ipso zwischen den Mitgliedern des Stammes keinen objektivierenden Tausch geben. Eine Individualisierung herrsche stattdessen zwischen Stämmen, die sich ursprünglich feindselig gegenüberstehen: »[J]e enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden« (SOZ: 796; vgl. auch ebd.: 788). Beide Formen, Raub und Geschenk, zeichnen sich nach Simmel durch die Form der Nicht-Äquivalenz aus. Sie stehen »jenseits der Frage nach Gleichheit oder Ungleichheit der Tauschobjekte« (PDG: 80; Hervorhebung im Original). Simmel qualifiziert die Psychologie dieses Verhaltens als »impulsiv«, »unerfahren«, »ungestüm«,

74 Müller vermutet wie Simmel einen Zusammenhang zwischen der kognitiven und der sozialstrukturellen Entwicklung: Erst mit einer ausdifferenzierten Geld- und Marktwirtschaft komme das Bewusstsein individueller Autonomie in die Welt: »Das Bewußtsein von Autonomie, Freiheit und Gleichheit muß also selbst als unvermeidliches Produkt der Bewegung des Wertes als Kapital und seiner Formbestimmungen in dieser Bewegung dargestellt werden« (Müller 1981: 89). 75 Eine Gleichförmigkeit in der individuellen Beschaffenheit war ebenso die Annahme Durkheims für segmentär differenzierte Gesellschaften (1988: 185-190; 2007: 19). »Wir können also sicher sein, daß die Homogenität um so größer ist, je weiter wir in der Geschichte zurückgehen.« (Durkheim 1988: 190)

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»besinnungslos«, und jeweils unterliege dem Verhalten der »unausgebildete oder befangene Geist«, weil es noch kein Gegenüber zwischen Leben und Objektform gibt (ebd.: 80). Raub und Geschenk sei gemeinsam, keine »Abwägung zwischen Opfer und Gewinn« vorzunehmen (ebd.: 80). Entweder man gibt oder man nimmt, aber jeweils ohne den Gedanken an ein Äquivalent; oder umgekehrt: Einmal taucht der »Verlust« oder das »Opfer«, einmal taucht der »Gewinn« gar nicht im Bewusstsein auf, je nachdem, ob es sich um ein Geschenk oder um einen Raub handelt. Das Individuum verrechnet nicht Gewinn und Verlust miteinander. Der aus der Differenz der Einheit von Gewinn und Verlust entstehende subjektive Mehr-Wert ist nicht intentionaler Gegenstand des Handelns und Erlebens. Der Raub mag anstrengend und insofern ein energiebilanztechnisches, aber kein ökonomisches Opfer darstellen. Zu Letzterem kommt es erst mit wachsender Objektwahrnehmung. Simmel betrieb weder Wirtschafts- noch Sozialgeschichte, und deshalb gibt es auch keine auch nur annähernd längere, abschließende Systematik über historische Vorformen der Geldwirtschaft. Um eine Typologie von Raub und Geschenk war Simmel nicht bemüht. Geschichte war für Simmel das Material, an dem er die allmähliche, zunächst nur ansatzweise Realisierung sich ausdifferenzierender Prinzipien demonstrierte. Aus dieser Perspektive teilen Raub, Geschenk wie die mythologische Deutung des Objekts das gleiche Attribut: das individuelle »Versenktsein in die Subjektivität des Verhaltens« (ebd.: 85).76 Ethnologische Feldforschung bildete sich zu Simmels Zeit erst als eigenständiger Bereich heraus, weshalb Irrtümer und Überzeichnungen für diese Zeit erwartbar sind, seine Aussagen lassen sich aber einordnen. Der Raub ist dem Wirtschaftsanthropologen Marshall Sahlins zufolge beispielsweise eine Möglichkeit der negativen Reziprozität, in der es darum gehe, »to maximize utility at the other’s expense.« (Sahlins 2017: 177)77 Handel ist aber auch möglich. Der negativen Reziprozität stellt Sahlins den Idealtypus der nach innen, zur Verwandtschaftsgruppe hin wirkenden generalisierten Reziprozität gegenüber, in der die Stammesmitglieder altruistisch verfahren (vgl. ebd.: 175). Quantitativ wie qualitativ scheint der vom individuellen Nutzenkalkül geleitete geldlose Markttausch zwischen Individuen ein zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformationen unübliches und ökonomisch unbedeutendes Phänomen gewesen zu sein (vgl. Dalton 1982). In Stammesgesellschaften ist der – nach außen hin stattfindende – interessengeleitete Handel abgetrennt von der inneren Reproduktion (vgl. Sahlins 2017: 169). Die ökonomische Selbsterhaltung bleibt unbeeinflusst vom Handel an der sozialen Peripherie. Auf den Trobriander-Inseln beispielsweise sei es zum geldlosen Handel zwischen Individuen einer niederen Paria-Klasse und Angehörigen einer höheren sozialen Klasse gekommen, da das Land der unteren Klasse nicht zur Selbstversorgung ausreiche. Sie tauschen Holzwerkzeuge gegen Süßkartoffeln. Wie George Dalton bemerkt, verachten die Angehörigen der höheren Klasse sowohl die Form des Handels, aber auch das Paria-Individuum selbst (vgl. Dalton 1982: 187).

76 »Subjektivität« verwendet Simmel in diesem Kontext als bedeutungsgleich mit Indifferenz (vgl. PDG: 30). 77 Insgesamt, so Marshall Sahlins, reiche die negative Reziprozität »through various degrees of cunning, guile, stealth, and violence to the finesse of a well-conducted horse raid.« (Sahlins 2017: 177)

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Dieser Handel wird auch »gimwali« genannt (ebd.: 187; Hervorhebung im Original). In der Regel, darauf weist Dalton hin, bewegen sich die Menschen aller Gesellschaften – ob archaisch, sozialistisch oder kapitalistisch – aber im Regelsystem anderer Austauschformen (vgl. ebd.: 185-86). Eine der bekanntesten Schriften dazu ist vielleicht »Die Gabe« des Schülers und Neffen Emile Durkheims, Marcel Mauss. Er analysiert ethnographische Feldstudien zur Gaben- oder Geschenkökonomie archaischer Gesellschaften. Zu diesen gehören der sogenannte Potlatsch der nordamerikanischen indigenen Einwohner ebenso wie der Kula der bereits angesprochenen Trobriander. Der Kula-Tausch bezeichnet eine periodisch stattfindende, obligatorische Kreisbewegung von Muschelarmreifen und Halsketten zwischen den Inseln, einmal im und einmal gegen den Uhrzeigersinn. Sie ist mehr oder minder verpflichtend. Die Übergabe der hoch bis heilig geschätzten Dinge wird feierlich begangen. Die Armreifen oder Halsketten werden anschließend aber nur zu bestimmten hohen Anlässen getragen. Der Kula ist ferner ein Potlatsch, bei dem es darum geht, dem jeweils besuchenden Stamm gegenüber durch eine geradezu verschwenderische Großzügigkeit die eigene Größe zu zeigen. Mauss bezeichnet die Potlatsch-Festivitäten im Rahmen des Kula deshalb auch als eine »oft rein zerstörerische Form der Konsumtion« (Mauss 1968: 170). Dies ist es wohl, wenn Mauss von einem hybriden Charakter der Gabe spricht: In ihr kombinieren sich Zwang und Freiwilligkeit, Interesse und Selbstlosigkeit (vgl. ebd.: 18, 168). Denn: »Geben heißt Überlegenheit beweisen« (ebd.: 170). Der vom Individualinteresse geleitete Tausch (»gimwali«) tritt auch laut Mauss nur und ausschließlich im Rahmen des umfassenderen Kula-Tauschs auf (vgl. ebd.: 66). Für die neuseeländischen Maori beobachtet Mauss, dass der Zwang zur Einhaltung des obligatorischen, intertribalen Tausches von dem Geist in der Sache ausgeht: Die einmal gegebene Sache, so Mauss, trage den Geist der gebenden Person, und dieser Geist zwinge die empfangende Person, ihrerseits ein beseeltes Ding in den Tausch zu geben. Die »durch die Sache geschaffene Bindung [ist] eine Seelenbindung […], denn die Sache selbst hat eine Sache, ist Seele. Woraus folgt, daß jemand etwas geben so viel heißt, wie jemand etwas von sich selbst geben.« (Ebd.: 35) Simmels Annahme, Stammesbewohner hegten eine Abneigung gegen den Tausch, weil sie einen Teil ihres Selbst verlieren würden, ist nach Mauss umzukehren: Über die Dinge finden die Seelen zusammen. Eine Zwischenstufe in der Differenzierung von Leben und Wertform bilden nach Simmel Tauschformen, in denen bereits eine Wechselwirkung der Objekte untereinander eingerichtet ist. Simmel nennt diese Zwischenform substanziell, da nichtökonomische Elemente des Lebens den Wertkonstitutionsprozess der Form mitbestimmen. Leben und Form sind also noch nicht ganz getrennt, aber auch nicht mehr in dem indifferenten Ineinander fetischisierter Objektwahrnehmung. Es kommt zu einer Warenwertäquivalenz, die allerdings von ›außen‹ her festgelegt wird, und sich nicht allein von der geschlossenen Wechselwirkungsform des Tausches zwischen den Waren her bestimmt (vgl. PDG: 87, 132; SOZ: 236-37). Dazu zählt beispielsweise das Feilschen um einen Preis, da hier die »personalen Qualitäten« wie »Schlauheit«, »Begierde«, »Beharrlichkeit« vorrangig in den »Ausgang« des Handels hineinfließen (PDG: 86-87). Natürlich ist das idealtypisch gemeint, denn auch zu seiner Zeit – »noch heute im Orient und vielfach sogar in Italien« (ebd.: 86) – ist Feilschen um Preise ein Bestandteil der Ökonomie, wie Simmel meint. Ein ausgedehnter ökonomischer »Kosmos« der Warenaustauschverhältnisse schränkt den situativen Spielraum

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eines Tauschakts jedoch ein. Ein weiteres Beispiel für die Determination des Tausches durch nicht-ökonomische Elemente stellt die mittelalterliche Annahme eines den Waren aus ihren Eigenschaften heraus zukommenden intrinsischen Wertes dar, der für den Erwerb einer Ware zu zahlen ist (vgl. ebd.: 87). Ein weiteres, bereits neuzeitliches Beispiel ist die Regulation von Produktion, Preis und Verkauf innerhalb der Zünfte, in denen Simmel zufolge »der Geist strenger Gleichheit herrschte« (ÜSD: 170; SOZ: 793). Die Stärkeren wurden durch den Ausschluss von Wettbewerb im Zaum gehalten. Erst die später »unter schweren Kämpfen« gewonnene Freiheit zur Konkurrenz gab den Spielraum zur kapitalistischen Differenzierung des Handwerkes nach Arbeit und Kapital durch Konkurrenz frei (vgl. ÜSD: 170; SOZ: 793-94). Ähnliches spielt sich in der Auflösung der feudalherrschaftlichen Verhältnisse ab. Darauf komme ich später zu sprechen. Für Karl Polanyi ist die Zunft ein Beispiel für die Einbettung des Wirtschaftens in die Gesellschaft, bevor umgekehrt die Gesellschaft im 19. Jahrhundert zum Anhängsel der Ökonomie geworden sei (vgl. Polanyi 2001: 73).78 Der dieser Stufe adäquate ökonomische Geist bedarf »einer haltgewährenden Objektivität« (SOZ: 237). Simmel geht davon aus, dass eine sich aus der geschlossenen Wechselwirkung der Waren untereinander ergebende Wertrelation eines entsprechend an der »Sache« der Dinge orientierten Geistes bedarf (vgl. PDG: 87). Der sachliche Geist bedarf nach Simmel aber scheinbar so etwas wie einer (evolutionär) vorbereitenden Unterstützung durch eine der Wertform äußerlichen, gesellschaftlichen Regulation, bevor er und der Tausch sich selbst überlassen werden können. In loser Anlehnung an webersche Terminologie könnte man den Geist der ökonomischen Zwischenstufe als einen traditional wirtschaftenden Geist bezeichnen (vgl. Weber 2010: 17). Insofern das vergesellschaftende Moment durch den Bezug auf ein »Du« definiert ist, fallen auch die »Schlauheit und Begierde« des Feilschens unter die Kategorie des hier genannten traditionalen Geistes, denn der ökonomische ›Output‹ des Feilschens steht in Abhängigkeit von über den Tausch vergesellschafteten Personen. Das Gegenteil dazu wäre die anonyme Rollenträgerschaft. Die noch nicht erfolgte Differenzierung zwischen Wirtschaft und Gesellschaft impliziert, dass der Mensch als Mensch noch Teil der Ökonomie ist. Die Zunft, so Simmel, habe so nicht nur die wirtschaftliche Tätigkeit, sondern das ganze Leben eines ihr angehörenden Individuums versucht zu regulieren (vgl. PDG: 464; SOZ: 502). Man war Teil einer Lebensgemeinschaft. Der Handwerkslehrling beispielsweise sei nicht nur Lehrling im Betrieb seines Meisters gewesen, sondern wurde gleich aufgenommen in die Meisterfamilie (vgl. SOZ: 503). »[K]urz, die fachmäßige Beschäftigung zentralisierte das ganze Leben, das politische und das Herzensleben oft mit eingeschlossen, in der energischsten Weise.« (Ebd.: 503) Bauern in feudalherrschaftlicher Abhängigkeit hatten nicht nur ökonomische Dienste für ihren Herrn zu leisten. Darüber hinaus bedurfte die bäuerliche Eheschließung der Einwilligung seitens des Herrn (vgl. BP:

78 Polanyi im Wortlaut: »Under the guild system, as under every economic system in previous history, the motives and circumstances of productive activities were embedded in the general organization of society. The relations of master, journeyman, and apprentice; the terms of the craft; the number of apprentices; the wages of the workers were all regulated by the custom of the guild and the town.« (Polanyi 2001: 73)

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199; PDG: 379). Ein weiteres Beispiel ist die Kaufehe in Stammesgemeinschaften (vgl. PDG: 504-511). Frauen werden zum Gegenstand des Tauschhandels zwischen Familien. In seinem Ablauf ist der Erwerb der Frau traditional: »Strenge Formen und Formeln, Berücksichtigung der Familieninteressen, genaue Konventionen über Art und Höhe der Zahlung binden ihn selbst bei recht tiefstehenden Völkern.« (Ebd.: 505). Die Frau ist ein ökonomisch nutzbares »Arbeitstier« (ebd.: 511). Daneben zu stellen wäre die anderswo von Simmel aufgestellte Hypothese, die Exogamie zwischen Familien stelle einen »Friedensvertrag mit Nachbarn« dar, der den »Frauenraub« ablöst (ebd.: 89). Überhaupt meint Simmel, dass der »interindividuelle Tausch nichts anderes als ein Friedensvertrag gewesen [sei]« (ebd.: 89).79 Tausch löse den Raub ab, der zwischen verfeindeten Stämmen herrscht. Dieser ›Tausch-Friede‹ kann sich allmählich und in Ansätzen realisieren. Als Beispiel dafür nennt Simmel den zwischen »in stetem, allenfalls latentem Kriegszustande und Mißtrauen gegeneinander« lebenden Stämmen pendelnden Händler (SOZ: 788; vgl. auch PDG: 602). Der Handel differenziert die Interessen auf beiden Seiten in auf die reine ›Sache‹ des Tausches gerichteten Interessen einerseits und die persönlichen, aber antagonistischen Motive andererseits (vgl. PDG: 602, 789). Ähnlich wie Simmel hat auch Marcel Mauss den Handel zwischen sich misstrauenden Gruppen als eine Alternative zum Kampf beschrieben: »In allen Gesellschaften […] gibt es keinen Mittelweg: entweder volles Vertrauen oder volles Mißtrauen. […] Wenn zwei Menschengruppen einander begegnen, können sie entweder einander ausweichen – und sich schlagen im Falle des Mißtrauens oder der Herausforderung –, oder aber miteinander handeln.« (Mauss 1968: 180)80 Ebenso weist Marshall Sahlins darauf hin, dass eine in einem staatlichen Gebilde monopolisierte Macht nicht der Zustand gewesen ist, unter dem archaische Stammesgesellschaften aufeinander trafen. Der intertribale Handel ist die permanent zu leistende Überwindung eines Hobbesianischen Kampfes aller gegen alle durch den Sozialvertrag des Tausches: »A great proportion of primitive exchange, much more than our own traffic, has as its decisive function […]: the material flow underwrites or initiates social relations. Thus to primitive peoples transcend the Hobbesian chaos. […] So peacemaking is not a sporadic event, it is a continuous process going on within society itself.« (Sahlins 2017: 169)

Der Handel trägt Nähe und Fremdheit zugleich in die sozialen Kreise: Er stellt eine erste, wie auch immer zu Anfang prekäre Annäherung zwischen fremden Gemeinschaften dar. Der Tausch mit einer anderen Gruppe führt laut Simmel aber auch zu einer jeweils nach innen in hin wirkenden, ersten Ent- oder Verfremdung: Es entstehe eine Differenzierung der Produktion in eine binnen- und außenwirtschaftlich orientierte Produktion, und diese Unterschiedlichkeit reflektiere sich in »zwei ganz entgegengesetzte innere Lebensrichtungen.« (SOZ: 795) Annäherung an das ursprünglich Fremde wie Feindliche geht für Simmel einher mit innerer Entfernung vom ursprüng-

79 Diese Friedensvertragsformel gilt mit Abschlägen auch für den Freihandel zwischen Staaten. Vgl. dazu Schneider 2006. Der Abschlag besteht in der Formation von Partikularinteressen. 80 Den Hinweis auf Mauss verdanke ich der Lektüre Pauls 2012: 85.

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lich Nahen. Simmel deutet diesen Vorgang als Individualisierung (vgl. ebd.: 796). Von qualitativem Interesse kann hierbei der Grad der Verflechtung einer Gesellschaft mit dem Markt sein. Diese variiert von der Subsistenzwirtschaft bis hin zur Abhängigkeit des individuellen Auskommens von Preisbewegungen auf dem Markt. Marktintegration und -schließung waren aber nicht die Kategorien, über die Simmel seine Geldphilosophie betrieb. Zwischen dem Händler und der für das Handelsprinzip konstitutiven Unterscheidung von Nähe und Fremdheit herrscht zu Anfang noch eine fast indifferente Einheit an der konkreten Person. Funktion und Substanz sind eins. Mit der Ausdehnung der Kreise bis hin zum modernen Großstadtleben lösen sich Nähe und Fremdheit von der Personalität des Händlers, sie bilden stattdessen die Lebensform zwischenmenschlicher Beziehungen: Man ist sich räumlich nah und geistig-innerlich doch fremd, nun mit der Tendenz zur latenten Aversion gegenüber anderen überhaupt (vgl. PDG: 664-65; GG: 122-23). Der Fremdheit entspricht der Gewinn individueller Bewegungsfreiheit in der Masse (vgl. GG: 123-26). Insgesamt ist für die Zwischenstufe der ökonomischen Evolution bezeichnend, dass sich die Wertform aus dem sozialen und individuellen Leben zu lösen beginnt. Die Unterscheidung von Wirtschaft und Gesellschaft kommt mit dem Überschreiten der archaischen Unmittelbarkeit in die Welt. Gleiches gilt für die Individualität, die sich aus der kollektivistischen Urform herauszudifferenzieren beginnt. Sie bilden aber auch keine ganz unterschiedlichen Bereiche, denn das personalisierende Moment der Vergesellschaftung durchdringt den Tausch. Eine verselbständigte Wirtschaftsform ist »Welt für sich« (PDG: 181), »Weltwirtschaft« (SOZ: 845; vgl. aber auch ebd.: 832). In der »Philosophie des Geldes« spricht Simmel auch von »Kosmos« (PDG: 181, 651), »Wertkosmos« (ebd.: 695), einem »wirtschaftlichen Kosmos« (ebd.: 123, 404, 634) oder einem »ökonomischen Kosmos« (ebd.: 154). Die Wirtschaft funktioniert nach einem »selbsttätigen Mechanismus« als etwas »gleichsam Gesetzliches (ebd.: 55). Die Verselbständigung der Wertform aus dem sozialen und individuellen Leben besteht in der Autonomie der Preisbildung: Die Dinge begründen ihren Wert nicht mehr aus ihren individuellen, substanziellen Eigenschaften, sondern sie bilden ihren Preis im Tauschprozess; dieser allein ist das Maß der Austauschbarkeit von Waren gegeneinander. Die einzelne Ware erhält ihren Preis im Verweis auf andere Waren, und das gilt auch für die Ware Arbeitskraft wie für das einzusetzende Kapital, die beide einen Marktpreis erhalten. Der Austauschbarkeitszusammenhang entzieht sich der Bindung an bestimmte soziale Kreise. Inhaltlich kennzeichnend für die Wirtschaft ist »die fortwährend variierende Industrie«, ihre schöpferische Zerstörung (ebd.: 299). Verselbständigung ist für Simmel keine Einbahnstraße, sondern eine Form mit zwei Seiten: Die Verselbständigung der Ökonomie geht einher mit »der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit« des Individuums (SOZ: 832). Der »innerlichen Wechselwirksamkeiten« der ökonomischen Wertform entspricht »die Unabhängigkeit und Abschluß allem Äußeren gegenüber« auf der Seite des Individuums (PDG: 402). Produktion und Konsum wie das Schließen von Arbeitsverträgen obliegen der individuellen Entscheidung, und immer weniger der Tradition sozialer Kreise. Mit dem Ausschluss des personalen Momentes der Vergesellschaftung gerät genau dieses Individuum in die Position eines Gegenübers der Wirtschaft. Die Ökonomie ist auf das personale Moment lediglich als eine energetische Ressource angewiesen, es bedarf des menschlichen Begehrens und der Arbeit. Ansonsten bleiben seine nicht-ökonomischen Interessen und

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Motive außen vor, anders als unter den das ganze Leben vergemeinschaftenden – oder vereinnahmenden – Bedingungen der Zwischenstufe. Die Nicht-Relevanz der Personalität geht einher mit der Auflösung einer die ökonomischen Positionen und Tätigkeiten gleichsam von außen her bestimmenden gesellschaftlichen Ständeordnung, die den Individuen a priori Beruf und gesellschaftliche Position zuweist. Der Tausch wird versachlicht: Das Individuum richtet in Kauf und Verkauf sein Interesse tendenziell »nur noch auf die Höhe des Preises« (SOZ: 845). Es entscheidet nicht nach Person. Freigesetzt wird damit auf geistiger Ebene das ökonomische Apriori von Gewinn und Verlust. Ob es sich bei den zu befriedigenden Bedürfnissen um der Individualitätsentwicklung nützliche, überflüssige oder sie gefährdende handelt, diese von Simmel in der »Kulturtragödie« behandelte Frage stellt sich erst mit der praktischen Freigabe des Begehrens, welches die lebensgemeinschaftlichen Restriktionen überwunden hat. Nicht nur Simmels Rückgriff auf Semantiken wie »Welt« und »Kosmos« legt eine räumliche Ausdeutung nahe, ebenso verhält es sich augenscheinlich mit Ausdrücken wie »der moderne internationale Warenaustausch« (PDG: 165), »internationale Kreis« (ebd.: 220), oder der Rede von der »internationalen« Finanzwirtschaft (ebd.: 290). Die umfassende Einheit der Ökonomie transzendiert den partikularen Nationalstaat, und in dem Sich-Entziehen nationalstaatlicher Kontrolle liegt die Verselbständigung von Wirtschaft. Die Letztreferenz der Verselbständigung bleibt bei Simmel dennoch das Leben, aus dem die Tauschform entstammt. Hier eignet sich meines Erachtens ein kontrastierender Vergleich der Vorstellungen Simmels mit denen Karl Polanyis. Polanyi zufolge stellt die Etablierung eines sich selbst regulierenden Marktes im 19. Jahrhundert eine singuläre Abweichung von dem historischen Normalfall dar, der Regulierung – und damit Unterordnung – des ökonomischen Geschehens durch die Gesellschaft, sei es unter tribalen, feudalen oder merkantilistischen Vorzeichen. Mit dem 19. Jahrhundert habe sich das Verhältnis von Ökonomie zu Gesellschaft allerdings gedreht, die Gesellschaft sei Marktgesellschaft geworden. Um einen sich selbst regulierenden Markt handelt es sich dann, wenn jede Form der ökonomischen Produktion zu einer käuflichen Ware auf dem Markt wird, folglich jedes Einkommen ein Markteinkommen und damit abhängig von der Preisbildung auf Märkten ist (vgl. Polanyi 2001: 72). Ein sich selbst regulierendes System ist der Markt dann, wenn auch Land, Arbeit und Geld(-Kapital) einzupreisende Elemente des Marktgeschehens sind. Land und Arbeit aber, so Polanyi, sind künstliche Waren, sie sind nicht für den Markt produziert worden, und das ebenso künstliche Geld komme erst über die Geldschöpfung durch das Bankensystem ins Spiel (vgl. ebd.: 75-76). Warum stellt die Integration von Arbeit, Land und Geld in den Markt nach Polanyi eine Umkehr von Herrschaftsverhältnissen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft dar? Polanyi zufolge ist die Arbeit gleichbedeutend mit den Menschen, aus denen eine Gesellschaft besteht, und das Land gleichbedeutend mit der natürlichen Umwelt, in der die Gesellschaft existiert. Der Mensch bildet nach Polanyi die Substanz der Gesellschaft, die Unterordnung der Arbeitskraft unter Marktgesetze ist deshalb identisch mit der Unterordnung der Gesellschaft unter die Gesetze der Marktwirtschaft: »But labor and land are no other than the human beings themselves of which every society consists and the natural surroundings in which it exists. To include them in the market mechanism means to subordinate the substance of society itself to the laws of the market. […] Labor is on-

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ly another name for a human activity which goes with life itself, which in its turn is not produced for sale but for entirely different reasons, nor can that activity detached from the rest of life, be stored or mobilized« (ebd.: 75; Hervorhebung PB)

Eine Marktwirtschaft macht aus der Gesellschaft dann eine Marktgesellschaft (vgl. ebd.: 74). Die Gefahr einer solchen Entwicklung sieht Polanyi in der möglichen Auflösung zwischenmenschlicher Beziehungen und der Bedrohung von deren natürlichen Habitats (vgl. ebd.: 44). Zu berücksichtigen ist bei einem Vergleich zwischen Simmel und Polanyi, dass Polanyi sein Buch während des Zweiten Weltkrieges geschrieben, er das Erstarken und die Folgen des europäischen Faschismus miterlebt hat.81 Dem gingen die Weltwirtschaftskrise und die Abnahme der internationalen Verflechtungen voran. Polanyi hatte eine andere Vergangenheit vor Augen als Simmel. Wie auch immer: Polanyis Argumentation unterliegt die Hypothese, dass die Lohnarbeit das ganze Leben umfasst. Die marktgängige Ware Arbeit ist nicht trennbar vom Leben, und deshalb ist die Totalität des Lebens dem Gesetz der Marktwirtschaft unterworfen. Beiseite lasse ich an dieser Stelle, dass Simmel nicht von den Marktgesetzen spricht (für die Konkurrenzform der Wirtschaft vgl. Kapitel 8.5.1.2 in diesem Buch). Wohl aber spricht er von der Eigenlogik der Wirtschaft. Und hier liegt ein Widerspruch Simmels zu Polanyi vor. Denn einmal bleibt nach Simmel die Totalität des individuellen Lebens der Ökonomie gegenüber außen vor. Wie noch später zu sehen sein wird, meint Simmel dies gerade mit Hinblick auf die monetär entgoltene Ware Arbeit: In der Lohnarbeit tritt das Individuum sich selbst gegenüber. Die Lohnarbeit ist nach Simmel eine inhaltliche Möglichkeit, die Autonomie des individuellen Lebens im Sinne des »individuellen Gesetzes« zu realisieren. Ferner meint Simmel ja ganz grundsätzlich, dass es das Wesen des Lebens ist, sich in eigengesetzliche Formen zu objektivieren. Pointiert wie provokant formuliert: Das Leben kann erst zu sich selbst kommen, indem es eine autonome Form der Ökonomie schafft. Noch bedeutsamer ist, dass – und hier ist eine weitere Differenz zu Polanyi – es für Simmel gerade die Geldform ist, durch welche das Leben jene autonome Ökonomie zu realisieren vermag. Zur geistigen Bewältigung sich ausdehnender Tauschbeziehungen bedarf das individuelle Leben adäquater, greifbarer Formen. Es bedarf des Geldes, um eine im sozialen Raum maximal weit ausgedehnte Tauscheinheit zu realisieren. 8.4.2 Evolutionäre Aspekte der Geldform Eine »Wendung zur Idee« ist auf die Ökonomie bezogen eine Geschichte des Geldes. In Semantik wie in Theorie am lebensphilosophischen »Wende«-Konzept der »Lebensanschauung« orientiert, finden wir die dafür entscheidenden Hinweise im »Substanzwert«-Kapitel der »Philosophie des Geldes«. Sinn und Zweck des Kapitels ist der Nachweis Simmels, dass das konkrete Geldmaterial seine Funktion zunächst in der

81 »Nineteenth-century civilization has collapsed. This book is concerned with the political and economic origins of this event, as well as with the great transformation which it ushered in.« (Polanyi 2001: 3) Mit diesen Worten beginnt Polanyi das erste Kapitel seines Buches.

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konkreten Form besitzt, dann aber die Geldgeschichte einen Pfad eingeschlagen hat, an dessen – nach Simmel: nie ganz erreichbaren – Ende das konkrete Geldmaterial seine Funktion außerhalb seiner selbst allein in der Konstitution der Tauscheinheit besitzt. In besagtem zweiten Kapitel bestimmt Simmel das Verhältnis vom Geld zum Warentausch als eines von der Idee – oder der Form – zum Leben: »Wenn das Geld nun wirklich nichts wäre, als der Ausdruck für den Wert der Dinge außer ihm, so würde es sich zu diesen verhalten wie die Idee, die sich Plato ja auch substanziell, als metaphysisches Wesen vorstellt, zu der empirischen Wirklichkeit.« (PDG: 181; Hervorhebung PB) Weiter oben habe ich bereits die mit der Verselbständigung der Geldökonomie einhergehende schöpferische Kraft des Geldes dargestellt. Eine »Wende zur Idee« oder, wie Simmel auch schreibt, eine »Achsendrehung des Lebens« lässt die Formen »eigentlich produktiv« werden (LA: 245). Dem geht ein historischer Prozess voraus, während dessen »die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, […] derart selbständig und definitiv [werden], daß umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet« (ebd.: 244-45). In der »Philosophie des Geldes« klingt diese »Wende« nun so: »Die Welt der Werte [...] würde im Geld die ›reine Form‹ ihrer Darstellung gefunden haben. Und wie Plato die Wirklichkeit, aus deren Beobachtung und Sublimierung die Ideen zustande gekommen sind, dann doch als eine bloße Abspiegelung eben dieser deutet, so erscheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse, Abstufungen und Fluktuationen der konkreten Dinge als Derivat ihres eigenen Derivates: nämlich als Vertretungen und Schatten der Bedeutung, die ihren Geldäquivalenten zukommt.« (PDG: 181; Hervorhebung PB)

Simmel nimmt Bezug auf Platons Idealismus, wonach die augenscheinliche Realität unvollkommene Realisierungen der eigentlichen Realität – oder Idealität – sind, die aber das sinnhaft Zugängliche fundamentieren. Simmels Formel vom »Derivat des Derivates« – im Sinne von »Ableitung« – besagt: Das Geld stammt aus dem Leben – die erste Ableitung –, dann aber, mit der Entwicklung des Geldes zu einer abstrakten Reinform der Werte, überformt es das Leben aus sich heraus und wird selbst schöpferisch. Dies wäre die zweite Ableitung. Um diese zwei »Ableitungen« wird es mir im Folgenden gehen. Simmel konstruierte zwar keine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, ordnete das historische Material stattdessen neu entlang einer bestimmten Formungslogik. In der »Wende zur Idee« in der »Lebensanschauung« bestand diese darin, »den Punkt des Umschlags der Form aus ihrer vitalen in ihre ideale Geltung« zu skizzieren (LA: 245). Wobei Simmel unter Umschlagspunkt wiederum kein bestimmtes Ereignis oder eine Ereignisreihung meint, sondern: Gemeint ist die Demonstration von »Wende« als Prinzip: dass die Form immer und zunächst eine aus dem Leben geschaffene Seinsform ihrer ist, bevor sich die Form aus der Unmittelbarkeit der Verhältnisform von individuellem Leben und gesellschaftlicher Form löst, Eigengesetzlichkeit gewinnt und schließlich die Individualität des Lebens nach seiner Logik formt, befreit von den Formen der Vergesellschaftung, zu denen nur noch ein mittelbares Verhältnis existiert. An diesem Prinzip werde ich mich orientieren. Der »geschichtliche Ursprung des Geldes«, so Simmel, stehe »keineswegs« fest (PDG: 121). Sehr wohl aber, so Simmel weiter, sei »von vornherein sicher«, dass das

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Geld nicht immer seine gegenwärtige Gestalt getragen habe (ebd.: 121). Die Evolution des Geldes zeichnet Simmel ex post als einen stilisierten, logischen Pfad, auf dem dieses sich »aus vorher bestehenden Werten entwickelt« hat (ebd.: 121). Im idealtypischen, geldfreien Modell des Tausches bestimmen sich die Waren wechselseitig ihren Wert. Praktisch allerdings eignen sich Dinge unterschiedlich gut dazu, füreinander Wertmaßstab zu sein (vgl. ebd.: 133-35). Ein konkretes, materielles Ding ist umso mehr Geld, je besser es sich zu einem allgemeinen – also die Partikularität von Tauschwaren überwindenden – Wertmaßstab eignet; und, damit impliziert, zu einer Einheit wird, in welchem auch die sonst kaum oder nicht austauschbaren Dinge sich in einander übersetzen können, Brüche und Vielfaches voneinander sein können (vgl. ebd.: 121-22, 133-35). Dies hat umgekehrt die Folge, dass das materielle, partikulare und quantitativ begrenzte Geld seinen Sinn nur noch in der Funktion der Vermittlung des Tausches besitzt. Das historische Material zur Geldgeschichte lässt sich von hier aus dann so lesen, als ob im Laufe der Jahrhunderte Schritt für Schritt das für die Realisierung des Tauschprinzips bestgeeignete Trägermaterial als Geld selektiert worden ist.82 Formen sind immer und zunächst »Erscheinungen des Lebens, […] seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend.« (LA: 244) Die Geldform ist zu Anfangs ein konkreter Wert unter anderen. In der Geldform drücken sich ursprünglich charakteristische Bedürfnisse und Gewohnheiten einer Lebensgemeinschaft aus. Beispielhaft nennt Simmel Überreste der antiken griechische Stadt Olbia, die vorwiegend vom Fischfang lebte. Zu den Fundstücken zählten fischförmige Bronzemünzen, »mit Aufschriften, welche wahrscheinlich Thunfisch und Fischkorb bedeuten.« (PDG: 160) Simmel beruft sich auf eine Hypothese, wonach der Thunfisch einmal Tauschmittel gewesen sei. Die Bronzemünze habe die Funktionsstelle des Thunfisches nur unter der Bedingung einer wahrnehmbaren Formverwandtschaft einnehmen können, so Simmel (vgl. ebd.: 160). Hier verläuft eine gedachte Linie von der hauptsächlich vom Fischfang lebenden Gemeinschaft über den echten – aber wohl nicht mehr lebendigen – Fisch bis hin zu dessen funktionaler Substitution durch ein anderes Material, welches nicht mehr vom Fischfang selbst abhängt, aber in Form und Wert dem echten Fisch entsprach (vgl. ebd.: 160). Nur Schritt für Schritt funktioniert die Abstraktions- und Distanzierungsleistung aus der Unmittelbarkeit der Verhältnisform von individuellem Leben und gesellschaftlicher Form. Ich wende mich einem zweiten Beispiel Simmels zu. Zu seiner Zeit waren Papier und Münzgeld noch per Gesetz an eine anteilige Deckung durch Gold gebunden.83 Warum es dieser damals noch bedurfte, dafür führte Simmel vorrangig sozialpsychologische Motive an. Was aber Simmel zufolge nicht als Grund taugte, das war die Erwägung einer Konvertibilität von Gold in Schmuck. Im Vergleich zu der vorhandenen, potenziell einzuschmelzenden Menge an Edelmetall sei das gegenwärtige Schmuckbedürfnis so gering ausgeprägt, dass der Wert des Goldes oder auch des Silbers »auf ein Minimum sinken müßte«, welches zur Deckung des Papiergeldes nicht mehr ausreiche (ebd.: 157). Umgekehrt aber sei die Entwicklung eines Edelmetallgeldes durch Rekurs auf eine Bedürfnisstruktur zu erklären. Der »primitive Mensch«,

82 Was nicht zu verwechseln ist mit einer teleologischen Perspektive. 83 Zur Währung im Deutschen Kaiserreich vgl. Borchardt 1976.

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so Simmel, halte es »für eine vitale Notwendigkeit, sich in einer bestimmten Weise zu schmücken« (ebd.: 158; Hervorhebung PB). Die Formulierung scheint nicht zufällig gewählt, schreibt Simmel doch, das »Schmuckbedürfnis« habe zu den »empfundenen Notwendigkeiten« gehört (ebd.: 157). Anerkennung durch andere zu erhalten, indem man anderen gefällt, ist gemäß Simmel »ein soziales Bedürfnis« (ebd.: 212; vgl. auch SOZ: 414-421). Dafür eignen sich Edelmetalle »ganz besonders« (PDG: 212), aber auch »Muschelschalen«, die von Indianern als Schmuck wie als Tauschmittel verwendet worden sind (ebd.: 177-78). Andererseits meint Simmel, dass Stammesgesellschaften typischerweise auf Tätowierungen als Schmuck zurückgriffen (vgl. SOZ: 417). Wie genau es zu welcher Ausbildung eines Schmuckbedürfnisses gekommen ist, dazu sagt Simmel nichts. Aber das zum Schmücken verwendete Material dient der Bedürfnisbefriedigung. Aus dem zum Schmücken verwendeten Material wird Geld nun in dem Maße, indem es vergleichsweise häufiger als andere Wertgegenstände die Hände wechselt; Geld wird das Material, was aufgrund seiner »allgemeinen Erwünschtheit besonders häufig eingetauscht« werde (PDG: 156).84 Dieses Argument könnte Simmel von Carl Menger haben.85 In dieser Häufigkeit artikuliert sich das Begehren einer Gemeinschaft. Dass sich ein bestimmter Gegenstand als etwas besonders Begehrtes herausstellt, ist an das wertende Begehren einer Gemeinschaft gebunden. Simmel vertritt hierbei die sozialpsychologische Hypothese, wonach »Objekte, welche gerade wegen ihrer allgemeinen Erwünschtheit besonders häufig eingetauscht wurden und kursierten, also besonders häufig mit anderen Ge-

84 Diesen Punkt übersieht Gregor Fitzi meines Erachtens vollständig (vgl. Fitzi 2003b). Fitzi vertritt die Position, Simmels Interesse an der Entstehung des Geldes habe »der makrosozialen Beziehungsform« gegolten, »die vom Tauschakt zur Entstehung des Geldes führt.« (Ebd.: 68-69). Die »mikrosoziale Funktion des Schmuckes« habe Simmel deshalb nur »auf zurückhaltende Weise in seine Analyse des Substanzwerts des Geldes« eingebaut (ebd.: 66). Die simmelsche Passage zum Schmuckbedürfnis hat Fitzi übersehen, obgleich sie für sein Argument von tragender Bedeutung gewesen wäre. Eine Trennung zwischen Mikro und Makro, wie Fitzi sie für die »Philosophie des Geldes« behauptet, trifft darüber hinaus weder Intention noch Konzept auch nur eines der Kapitel der »Philosophie des Geldes«; denn ihre Trennung beruht auf der Verbindung, wonach das »Makro« der Form aus dem »Mikro« des Lebens erst entstammt und sich dann verselbständigt. 85 Menger vertritt die Hypothese, dass die allgemein erwünschteste Ware sich als Geld am Markt durchsetzt: »[J]ene [Waren], welche mit Rücksicht auf Zeit und Ort die absatzfähigsten sind, von Jedermann im Austausche angenommen werden und deshalb auch gegen Jede andere Waare umgesetzt werden können« (Menger 1871: 253). Dies geschehe allein in Verfolgung des jeweils individuellen Eigeninteresses, dem Geschehen unterliegt (fast) kein Plan. Der Staat segnet lediglich das sich evolutionär durchgesetzte ab (vgl. ebd.: 25960). Ähnlich wie für Bernhard Laum (2006) ist für Carl Menger das Rind ein Kandidat für das erste Geld, dies nun aber aufgrund seiner natürlichen – und nicht als heilig zugesprochenen – Eigenschaften: »Vieh ist eine Waare von ausreichender Conservirungsfähigkeit, seine Erhaltungskosten sind dort, wo Weideland in Fülle vorhanden ist und die Thiere im Freien gehalten werden, verschwindend klein und […] so stellt sich uns das Vieh als die absatzfähigste unter allen vorhandenen Waren, als das natürliche Geld der Völker der alten Welt dar.« (Menger 1871: 261)

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genständen dem Werte nach gemessen wurden, psychologisch am ehesten zu allgemeinen Wertmaßen auswachsen konnten.« (Ebd.: 156) Auch in diesem Falle ist das Prinzip, auf das Simmel hinaus möchte, von vorrangiger Bedeutung: dass die Form – wie auch immer im Spezifischen geartete – Charakteristika des Gesellschaftslebens trägt; präziser: dass die Geldform die Verhältnisform von individuellem Leben und sozialer Form artikuliert, die lange Zeit ein unmittelbares ist. Ähnlich verhielt es sich nach Simmel ja auch mit der Evolution der Gottesform: Die absolute Einheit von Leben und Form war ursprünglich substanzieller Natur, indem sie das Leben in einer partikularen Gesellschaft sakralisierte in der Form bestimmter gemeinschaftlicher Pflichten, Gebote und Verbote (vgl. Kapitel 7.3.1 in diesem Buch). Weiterhin nennt Simmel unterschiedlichste Formen sogenannter »Paläogelder«. Er erwähnt »Vieh, Salz, Sklaven, Tabak, Felle« (ebd.: 156), Äxte und Rum (vgl. ebd.: 160), »Rindergeld« (ebd.: 170), »Hacken« wie »Baumwollknäuel« (ebd.: 218), »Knochen, Perlmutterschalen, Steine, Glasstücke« (ebd.: 363). Salz und Tabak dienen dem Konsum, Knochen und Schalen dem Sich-Schmücken – Paläogelder können unterschiedlichen Bedürfniskontexten entspringen. Der Verwendungszweck des Geldes ist zu Beginn nicht deckungsgleich mit Wirtschaften, und zum Teil scheint Simmel Geld und Wirtschaft dezidiert voneinander zu trennen. Geld ist für besondere, zum Teil heilige Verwendungszwecke vorgesehen, während die täglich anfallenden Bedürfnisse unabhängig davon durch Subsistenzwirtschaft im Kollektiv befriedigt werden (vgl. ebd.: 161, 497-98). Zum besseren Verständnis lohnt erneut ein Blick auf die ethnologische Forschung. George Daltons Annahme ist es, dass die Form und Formen des Geldes die Strukturen einer gegebenen Gesellschaft ausdrücken – ein simmelianisches, noch mehr aber ein durkheimianisches Denkarrangement (vgl. Dalton 1965).86 Das Geld in westlich-kapitalistischen Gesellschaften besitzt seine Funktion vorrangig in der des Markttauschmittels: »The medium of (commercial) exchange function of money in our economy is its dominant function, and all other commercial uses of money are dependently linked – derived from – the use of dollars as media of (commercial) exchange.« (Ebd.: 46; vgl. auch ebd.: 52) Dies gehe einher mit der Dominanz des kommerziellen Markttausches: Westliche Gesellschaften organisieren ihre Wirtschaften größtenteils marktförmig. Arbeit, Land und Kapital werden über den Marktpreis auf die profitabelsten Verwendungsbereiche verteilt (vgl. ebd.: 46, 52). Für ihren Kauf und Verkauf findet das generalisierte Tauschmittel Geld Verwendung. Weiterhin ist es nun so, dass auch nicht-kommerzielle Leistungen in ein und demselben Geld geleistet würden: Steuern an Staat und Kommune, steuerliche Umverteilung, Sozialtransfers, Geschenke für Freunde und Verwandte, ebenso die Bestattung eben jener, all diese Leistungen werden über Geld abgegolten, und ihr Weg führt zu einem

86 Um ein durkheimianisches Arrangement handelt es sich, wenn eine bestimmte Idee oder Form eine gesellschaftliche Struktur ausdrückt, um ein simmelianisches, wenn eine Idee oder Form das individuelle Weltverhältnis ausdrückt. Eine Verwechslung zwischen Simmel und Durkheim ist dadurch möglich, dass das individuelle Leben Form annehmen muss, ohne sich in dieser ganz erschöpfen zu können, weshalb es überhaupt zu einem Verhältnis von Leben und Form kommt. Bei Simmel variiert die Verhältnisform von Leben und Form, bei Durkheim die soziale Form.

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großen Teil – wenn auch nicht nur – über den Markt, wie beispielsweise die staatliche oder kommunale Auftragsvergabe für die Errichtung von Infrastruktur, der Erwerb von Gaben für die Hochzeit (wenn diese Gabe nicht selbst in Geldform erfolgt), auch Bestattungszeremonien werden gegen Geldzahlung privatwirtschaftlich organisiert (vgl. ebd.: 45-48). Dalton meint deshalb, dass die nicht-kommerziellen Leistungen einerseits in ein und demselben Geldmedium zur Einheit finden, andererseits eine Ableitung der Tauschmittelfunktion sind: Die Geldformen »enter modes of transaction to be called redistribution and reciprocity, as enter into market exchange.« (Ebd.: 45) Wo hingegen die Wirtschaft nicht eine durch den Markt integrierte ist, können die unterschiedlichen Geldfunktionen wie Reziprozität und Ressourcenzuteilung voneinander separiert sein in differenten Geldobjekten: »Where economies are organized differently, non-commercial uses of monetary objects become important, and ›money‹ takes on different characteristics.« (Ebd.: 45) Da der Markttausch – wie oben erwähnt – in tribalen Gesellschaften keine für die eigene sozioökonomische Reproduktion signifikante Rolle spielt, dominiert der nicht-kommerzielle Gebrauch von Geldformen, die nichts mit dem einheitlichen Tauschmittel Geld zu tun haben müssen, wie wir es kennen. Als Geldform dürfe man sie trotzdem bezeichnen, so Dalton, da sie Leistungen verrichten, für die wir Seitenstücke in unserer Welt kennen (vgl. ebd.: 51). Umgekehrt werden, sofern es kaum oder gar keine Durchdringung einer Gesellschaft durch Märkte gibt, ökonomische Leistungen durch andere Koordinationsregeln verteilt. Die Allokation von Arbeit, Land und Güter geschieht dann beispielsweise über Verwandtschaftsrechte und Stammeszugehörigkeit. Ferner hat der nicht-kommerzielle Geldgebrauch Merkmale wie sozialen Status, Alter, Herkunft und Rang zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 49-51). Das Geld ist persönlich gefärbt – ein Unterschied zum heutigen Marktgeldgebrauch, wo an die Stelle des askriptiven Status der Kontrakt tritt. Geschenke an Freunde und Verwandte sind ebenso obligatorisch wie Tributzahlungen an Häuptlinge und Priester. Kühe, Ziegen, Steine, Zähne, Muscheln, Speere, sie sind Spezial-Gelder, mit denen spezielle Leistungen abgegolten werden können, bis hin zum Brauterwerb und dem Blutgeld für Mord. Das Arrangement von Spezial-Geldern ist gemäß Dalton ein Ausdruck der sozioökonomischen Struktur: »[S]pecial purpose monies used for non-commercial transactions express salient features of underlying socio-economic structure.« (Ebd.: 50) Dalton referiert schließlich das Beispiel von Rossel Island (vgl. ebd.: 52-59). Auf Rossel Island kommen zwei Typen von Muschelgeld zur Verwendung, nko und ndap. Letzteres ist in 22 Klassen eingeteilt. Güter und Dienste sind in Preisen bestimmter Geldklassen ausgewiesen. Das Besondere dabei: Die Gelder sind nicht rechnerisch ineinander konvertierbar – sie besitzen keinen gemeinsamen Wertstandard –, sondern besitzen feste Zuordnungen zu erwerbbaren Dingen. Ähnlich beobachtet auch Simmel für die »Insel Yap« eine »Rangordnung« der Gelder – er nennt »Knochen, Perlmutterschalen, Steine, Glasstücke« (PDG: 363). Simmel fährt fort: »Trotzdem nämlich feststeht, ein wie Vielfaches der niederen Geldsorten die höheren gelten, so dürfen doch gewisse wertvollere Dinge, wie Boote oder Häuser, nicht etwa mit entsprechend vielen niederen Geldstücken, sondern müssen mit einer für jedes Objekt bestimmten, im Range hochstehenden Geldsorte bezahlt werden. Für den Kauf von Frauen finden wir gleichfalls diese

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Beschränkung auf eine bestimmte Geldqualität, die nicht durch eine Quantität anderer ersetzbar ist, in Gültigkeit.« (Ebd.: 363)

Als ein Zahlungsmittel zum Frauenerwerb nennt Simmel »Ochsen oder Kühe« (ebd.: 508). Im vorangegangenen Kapitel 8.4.1 erwähnte ich bereits, dass Simmel um die traditionale Gebundenheit des Frauenerwerbs in Stammesgesellschaften wusste. Der Frauenerwerb ist eine kollektive, keine individualistische Angelegenheit, entsprechend artikulieren sich die althergebrachten Traditionen der Gruppe im Frauenerwerb, nicht die Individualinteressen. Der »Frauenkauf«, so Simmel, finde »niemals, soviel wir wissen, nach Art der individualistischen Wirtschaft statt.« (Ebd.: 505) »Der Bräutigam« besitzt das Recht, »von jedem Stammesgenossen einen Beitrag zum Brautpreise zu fordern« (ebd.: 505). Wiederum ist zu bemerken, dass Simmels Interesse nicht auf Geldgeschichte als Selbstzweck ging, sondern eingebettet war in andere Kontexte. So versuchte er beispielsweise zu zeigen, dass Geld, Ökonomie und Individualität mit wachsender Ausdifferenzierung auseinandertreten und einander ausschließen: Je mehr Geld zu einem allgemeinen Tauschmittel wird, desto weniger ist es ethisch statthaft und auch praktisch der Fall, der Totalität des Individuums einen Geldpreis zu geben. Derselbe Kontext ist es auch, in welchem Simmel das Blutgeld thematisiert (vgl. ebd.: 482-89). Ich komme zu einem anderen Aspekt. Eine Annahme Simmels ist es, dass das Geld »anfänglich so oft« einen »sakralen Charakter« besessen habe (ebd.: 364). Für die griechische Antike beispielsweise meint Simmel, dass das Geld ursprünglich religiöses Symbol der Kultgemeinschaft gewesen sei. Seine Zirkulation diente weniger der Synthese der Tauscheinheit als der Integration der religiösen Gemeinschaft: »Alles hellenische Geld war einmal sakral, ebenso von der Priesterschaft ausgegangen, wie die andern allgemein gültigen Maßbegriffe: Gewichte, Umfangsmaße, Zeiteinteilungen. Und diese Priesterschaft repräsentierte zugleich die Verbandseinheit der Landschaften, die ältesten Verbände ruhten durchaus auf religiöser Grundlage, die manchmal für relativ weite Gebiete die einzige blieb. Die Heiligtümer hatten eine überpartikularistische, zentralisierende Bedeutung, und diese war es, die das Geld, das Symbol der gemeinsamen Gottheit auf sich tragend, zum Ausdruck brachte. Die religiös-soziale Einheit, die im Tempel kristallisiert war, wurde in dem Gelde, das er ausgab, gleichsam wieder flüssig und gab diesem ein Fundament und eine Funktion, weit über die Metallbedeutung des individuellen Stückes hinaus.« (Ebd.: 229; Hervorhebung PB)

Simmel führte diese Passage nicht weiter aus. Sie hatte ihre Bedeutung allein in dem materiellen Erweis seiner Annahme, dass Geld über die Tauscheinheit hinaus soziale Beziehungen innerhalb eines politischen Verbandes herzustellen vermag (vgl. ebd.: 225). Bemerkenswert ist sie dennoch. Ich hatte bereits im religionstheoretischen Kapitel darauf verwiesen, dass sich bei Simmel Indizien für seine Annahme finden lassen, dass Gesellschaften ursprünglich vorrangig religiös integriert gewesen sind, und die hier zitierte Textstelle trifft sich mit Simmels Behauptung aus »Die Religion«, wonach »das gesellschaftliche Leben der Antike völlig unter dem religiösen Aspekt verlaufen [sei]« (DR: 64). Das Bild vom flüssig gewordenen Gottessymbol suggeriert auch eine Nähe zu jener explizit modernen Vorstellung eines Absoluten, welches sich in »Bewegung, Beziehung, Entwicklung auflöst« (PDG: 307). Andererseits

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würde eine Gleichsetzung mit Simmels Gegenwart ein relativistisches Weltbild voraussetzen. In Hinblick auf die griechische Antike machte Simmel aber gegenteilige Beobachtungen (vgl. ebd.: 300-02). Dies gilt beispielhaft für den Status von Grund und Boden. Über seine wirtschaftliche Funktion der existenziellen Bedürfnisfunktion habe dieser »eine religiöse Färbung« besessen (ebd.: 311). Weil Land aus seiner Substanz heraus sehr unbeweglich ist, eignet es sich wie kaum andere Dinge dazu, jene Beharrungskraft zu verkörpern, die das Ideal der griechischen Antike war. Das gleiche substanzielle Attribut der Beharrung machte den Boden zu einem geeigneten »Träger der überindividuellen, religiös geheiligten Familieneinheit.« (ebd.: 311; vgl. auch SOZ: 560) Zu dieser Familieneinheit gehörten nicht nur Kinder, sondern auch die verstorbenen Vorfahren. Ein Verkauf von Grund und Boden gegen Geld war entsprechend ein Verstoß, weil es die heilige Gemeinschaft entzweite (vgl. PDG: 311; SOZ: 560). Eine ähnliche Beziehung zum Boden entwickelte später die mittelalterliche Kirche. Ihr Eigentum an Landbesitz erklärte sie für unverkäuflich. Auch hier vermutete Simmel nicht bloß »Habsucht« seitens der Kirche, der Nicht-Verkauf lag vielmehr in der Logik des von ihr vertretenen religiösen Anspruchs, für ewige Zeiten geltende Gesetze zu vertreten (vgl. PDG: 312; SOZ: 592). Das diametrale Gegenteil zu dieser Form der Beharrungskraft ist die den Boden umarbeitende »variierende Industrie« von Simmels geldwirtschaftlicher Gegenwart (PDG: 299). Eine Theorie oder zumindest eine Annahme über einen religiösen Ursprung vom Geld lassen sich finden sowohl bei dem Altertums- und Wirtschaftswissenschaftler Bernhard Laum (2006) als auch dem Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss (1968; 2015). Einen nicht näher qualifizierten Hinweis auf »sacred uses« ursprünglicher Gelder findet sich auch bei Dalton (1965: 44). Laum zufolge schuf die Priesterschaft der homerischen Antike mit dem Rind als ihren Göttern dargebrachtes Opfertier einen Wertstandard, der zunächst für die Selektion geeigneter Rinder innerhalb des Kultes seinen Zweck fand, später, über die Vertretung des Rindes durch haltbares Symbolmaterial, den Weg in den profanen Alltag fand (vgl. Paul 2006). Laum bezog sich sogar – wenn auch randständig – auf Simmels Annahme des sakralen Ursprungs vom Geld (vgl. Laum 2006: 153). In der Terminologie einer von Durkheim geprägten Schule ist für Mauss Geld »im Wesentlichen eine soziale Tatsache.« (Mauss 2015: 27) Der von den archaischen Gesellschaften jeweils verwendete Geldbegriff, so fand Mauss heraus, besitzt zuweilen eine magisch bis religiöse Bedeutung (vgl. ebd.: 28-29). Wobei er zwischen Magie und Religion nicht trennt. Mauss spricht auch von einem mit dem Geldbegriff verbundenen »Begriff des Heiligen« (ebd.: 29). Manche Muscheln und Steine gewinnen aus ihrer Verwendung im religiösen Kult eine magische Kraft (vgl. ebd.: 29-30). Ursprüngliche Gelder können Talismane gewesen sein, deren magische Fähigkeiten sie zu allgemein begehrten Gütern gemacht haben (vgl. ebd.: 31-32). Sie verleihen ihren Besitzern – Häuptlinge oder Magier – Befehlsgewalt über andere und »Prestige« (ebd.: 32). Diese mit dem Besitz eines Talismans zugeschriebene Befehlsgewalt über andere interpretiert Mauss interessanterweise als »Kaufkraft« (ebd.: 32). Die Talismane sind auch Gegenstand des periodisch stattfindenden Potlatschs zwischen den Stämmen, den ich oben bereits erwähnt hatte (vgl. ebd.: 29). In seinem Werk »Die Gabe« hebt Mauss in seinen Schlussbetrachtungen hervor, dass der magische Charakter des Geldes »mit dem Clan oder dem Individuum verknüpft« sei (Mauss 1968: 167). Mauss meint einerseits, dass der Gabentausch insofern ein »System der totalen Leistungen« (ebd.: 22) sei, als dass er

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»gleichzeitig juristische, wirtschaftliche, religiöse, sogar ästhetische, morphologische Phänomene« umfasst (ebd.: 176). Der Grad an Verflochtenheit oder ungeschiedener Indifferenz zwischen den Sphären wird nicht klar. Das Religiöse Moment scheint dabei zu überwiegen, liest man Mauss’ Beschreibungen. Der stammesgesellschaftliche Markt z. B., der nicht mit der selbstregulatorischen Polanyis zu verwechseln ist, ist Mauss zufolge »von Riten und Mythen durchdrungen«, er bewahre »einen zeremoniellen, obligatorischen und zweckdienlichen Charakter.« (Ebd.: 167) Interessanterweise – oder sogar passenderweise – rekurriert Mauss auf Durkheim, wenn er meint, seine Beobachtungen einer »mit religiösen Elementen« durchsetzten Wirtschaft bildeten »die Antwort auf die bereits von Durkheim über den religiösen Ursprung des wirtschaftlichen Wertbegriffs gestellte Frage.« (Ebd.: 166-67) Wie ich in Kapitel 7.2.6.1 dieses Buches zu zeigen versuchte, meinte Durkheim, Philosophie und Wissenschaft auf einen religiösen Ursprung zurückführen zu können, ebenso befand Durkheim für die apriorischen Kategorien des individuellen Weltzugangs. Der konstitutionstheoretische Grund dafür war Durkheims Quasi-Identifikation von gesellschaftlicher Teilhabe des Individuums mit religiöser Transzendenz. Gegen Ende seiner »Elementaren Formen des religiösen Lebens« meint er festhalten zu können, dass »fast alle großen sozialen Institutionen aus der Religion geboren wurden.« (Durkheim 2007: 613) Ohne es weiter beweisen zu können, vermutet Durkheim aus der herausragenden Funktion der Religion für die Integration des gesellschaftlichen Gefüges eine nicht näher definierte Verknüpfung zwischen Wirtschaft und Religion (vgl. ebd.: 613, Fn. 4).87 Das von Simmel selbst bloß gestreifte Narrativ von einer ursprünglichen Heiligkeit des Geldes lässt sich ausbauen. Es fügt sich meines Erachtens ein in die von Simmel zeitübergreifend oder auch: zeitlos konstatierte »psychologische Formähnlichkeit zwischen der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen Einheit« (PDG: 306). Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart ist Geld in der Lage, die absolute Einheit des Seins zu symbolisieren. Das impliziert nicht die gleichen inhaltlichen Verwendungsweisen. Opferkulte und zu festlichen Anlässen transferierte und getragene Talismane kollektivistischer Gesellschaften divergieren von den Geldverwendungsweisen individualistischer Gesellschaften, in denen die Wahl von Bindungen nicht der Gruppe, sondern – tendenziell – dem Individuum obliegen. Wie ich in Kapitel 8.3.2 in diesem Buch gezeigt habe, ändern sich mit den Zeiten die Vorstellungen vom Absoluten. Es kann starr und substanzialistisch wie beweglich und relationistisch gedeutet werden, und je nachdem erfüllen unterschiedliche Inhalte die historisch variable Formvorschrift.

87 Im Wortlaut sagt Durkheim: »Eine einzige Form der sozialen Tätigkeit wurde bisher nicht mit der Religion in Verbindung gebracht: die ökonomische Tätigkeit. Aber die Techniken, die von der Magie herkommen, haben darum allein schon indirekt religiöse Ursprünge. Im Übrigen ist der ökonomische Wert schon eine Art von Macht und von Leistungsfähigkeit, und wir kennen die religiösen Ursprünge der Idee der Macht. Reichtum kann mana übertragen; also hat sie es. Daraus ist zu schließen, daß die Idee des ökonomischen Wertes und die Idee des religiösen Wertes nicht ohne Beziehungen sind. Aber die Frage, welches die Natur dieser Beziehungen ist, ist noch nicht untersucht worden.« (Durkheim 2007: 613, Fn. 4; Hervorhebung im Original) Mana bedeutet Marcel Mauss zufolge magische Macht, die er für manche Geldsorten nachweisen zu können meint (vgl. Mauss 2015: 28).

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Es ist meines Erachtens im höchsten Maße interessant, dass Max Weber – der die »Philosophie des Geldes« gelesen hat – für seine Theorie von der Genese des rationalen Kapitalismus auf eine der simmelschen »Formähnlichkeit« ganz ähnliche Figur zurückgegriffen hat, nämlich die der »Wahlverwandtschaften zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik«, welche »auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte« (Weber 1988a: 83).88 Webers Formel von der Wahlverwandtschaft intendierte allerdings historisch-genetische Zwecke der Erklärung und nicht, wie Simmel, eine zeitlos-konstitutionstheoretische Beschreibung. Weiter folgende Bemerkungen zu einem Vergleich von Weber und Simmel verschiebe ich auf Kapitel 9.2 in diesem Buch. Simmel macht zwar keinen systematisierenden Versuch, aber im Grunde wählt Simmel für den Anfang der geldwirtschaftlichen Evolution einen ähnlichen Weg wie im Falle der Religion. Zum einen legt sich Simmel nicht auf den einen, materiellen Ursprung des Geldes fest. Hier mögen Gesellschaften unterschiedliche Entwicklungswege aus unterschiedlichen Gründen eingeschlagen haben. Analog dazu stand in Simmels Religionstheorie die Annahme, dass es nicht den einen, sondern unterschiedliche Gründe gibt, die Anlass zum religiösen Empfinden geben. Die Vielfalt der Motive – wie die sich ganz gegensätzlich zueinander verhaltenden Furcht und Freude – und der Gottesvorstellungen meinte Simmel auf eine ihnen gemeinsame religiöse Funktion im Leben zurückführen zu können, die später, in der Ausdifferenzierung der Religion, in der Coincidencia Oppositorum des Christengottes zusammenliefen. Auch in der Geldwirtschaft läuft es am Ende auf diese Einheit in der Differenz hinaus: Ganz unabhängig davon, wie die Geschichte begonnen hat: Am Ende ist alles Ökonomische gegen Geld zu erhalten, das Alltägliche und Nahe wie das Außeralltägliche und Ferne. Schließlich ist beiden, Religion und Geldwirtschaft, gemeinsam, dass sie außerhalb ihrer ausdifferenzierten ›Reinform‹ »keimhaft, in Verwebung mit anderen Formen und Inhalten« auftreten (SR: 267). Was Wirtschaften und was Geld ist, erschließt sich, wie in der Religion, erst mit deren Herausbildung zur Geldwirtschaft aus einer ursprünglich diffusen Verflechtung der Lebensfunktionen in- und miteinander. Erst mit der umfassenden Abstraktion einer bestimmten Kategorie erschließt sich der Sinn der sie ausmachenden konkreten Inhalte. Für die Logik einer fortschreitenden Evolution der Geldwirtschaft gilt, dass die Ausdehnung eines Wirtschaftskreises eines Geldes bedarf, und zwar derart, dass (a) Wirtschaft immer mehr Wirtschaft im Sinne des nach Gewinn und Verlust abwägenden Tauschprinzips wird und (b) Geld immer mehr Geld wird im Sinne der empirischen Konstitution der Tauscheinheit. Im Maße der zu umfassenden sozialen Kreise bedarf es eines abstrakteren Geldes, und es entfernt sich von seinem Zuschnitt auf das Bedürfen und die Tätigkeiten einer bestimmten Gemeinschaft. Der Geist schafft die Form: Was genau hierbei der inhaltliche Grund oder die inhaltlichen Gründe für die Ausdehnung des Geltungsbereiches eines bestimmten Geldes sind, damit befasst sich Simmel wenig.

88 Auf die »mit zahlreichen Anstreichungen versehenen Handexemplare« der »Philosophie des Geldes« und der »Soziologie« im Privateigentum Max Webers verweist Uta Gerhardt (1998: 114).

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Eine geschichtliche Parallelität zwischen dem Aufkommen von Handel zwischen Kreisen einerseits und dem Bedarf nach Geld andererseits findet sich bei Simmel zwar, sie bleibt aber eher allgemeiner Natur (vgl. PDG: 218-221, 286). Beispielsweise erwähnt Simmel einmal die politische Durchsetzung des geldvermittelten Tausches gegen »den Natural- und Viehtausch« unter Androhung von Strafe zu Zeiten der Karolinger im mittelalterlichen Europa (ebd.: 226). Ein andermal erwähnt Simmel ein Beispiel von den Salomoinseln. Dort stellt eine Gemeinde aus Muscheln Geld her, die als Tauschmittel allerdings nur in einer benachbarten Gegend Verwendung finden, in welche die Muscheln exportiert werden (vgl. ebd.: 285-86). Der Export spielt auch an anderer Stelle eine Rolle. »Tabak in Virginia, Reis in Carolina, Klippfisch in Neufundland, Tee in China, Pelze in Massachusetts« – manche der hier genannten Gelder wurden bereits oben genannt – seien nicht nur »Tauschmittel«, sondern zugleich auch »Exportartikel« (ebd.: 170). Das Tauschmittel wird von Individuen aus anderen sozialen Kreisen als Ware begehrt. Der materielle Körper – was auch immer dann genau seine Attribute sind – ist Ware und Tauschmittel zugleich. Bleiben diese Hinweise auch allgemein, im Fokus der simmelschen Argumentation steht das dem Ausdehnungstheorem inhärente Problem des Überwindens der Grenzen sozialer Kreise hin zu einer umfassenderen Einheit zwischen den Kreisen. Diese Kreise mögen Stammesgemeinschaften, Städte oder Staaten sein, konstitutionstheoretisch und dem Prinzip nach handelt es sich für Simmel um das gleiche Problem: Wenn Geld einen erhöhten Ausdehnungsradius besitzt, was sind seine Formen, unter denen dies möglich ist, und was sind die Implikationen für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Ein länderübergreifender Handel findet nur dann statt, wenn man darauf vertrauen kann, das im Geschäft mit Fremden und von Fremden erworbene Geld nicht nur in dem Lande verwenden zu können, aus dem das Geld stammt, sondern auch im eigenen (vgl. ebd.: 220). Ausgedehnte Wirtschaftskreise haben mit dem Rückgang von Kontrollmöglichkeiten und Vertrauen zu kämpfen, das personalisierte Verhältnisse kleinerer sozialer Kreise kennzeichnet: »[D]ie gegenseitige Einsicht in die Verhältnisse wird unvollkommener, das Vertrauen bedingter, die Vollstreckbarkeit der Ansprüche unsicherer.« (Ebd.: 220; vgl. dazu auch SOZ: 388-89) Dieses Vertrauen muss anderweitig wiederhergestellt werden, und dies geschieht Simmel zufolge durch die Form des Geldes selbst: Ein engere Solidarbande überschreitender Handel bedarf eines Geldes, dessen Kreise übergreifende Begehrtheit gewährleistet ist: »Ganz allgemein muß, sobald der Kreis sich erweitert, auch dem Fremden und den Bezugsländern die Währung annehmbar und verführerisch gemacht werden.« (PDG: 220) Als solches Geld hat sich ein Silber- oder Goldgeld herausgestellt. Das fehlende Vertrauen auf generalisierte Andere wird ersetzt durch das Vertrauen in das Begehren anderer: Gold und Silber werden als allgemein begehrt unterstellt, und darauf wird vertraut (vgl. ebd.: 214-15, 218-220). Aus dem Material des Trägermediums selbst wird das für den Handel notwendige Vertrauen in die Wiederverwertbarkeit des Geldes geschöpft. Ein Beispiel dafür ist die aus Gold bestehende Währung des Gulden, die mit »Anwachsen des europäischen Verkehrs im 14. Jahrhundert« allgemeine »Einheit des Münzsystems« wurde (ebd.: 219). Gold- und Silberbarren wie auch, bereits spezifischer, edelmetallene Münzen, weisen nicht mehr den spezifischen Zuschnitt auf die Eigenschaften und Tätigkeiten von Gemeinschaften auf, wie es Muscheln, Hacke oder Fisch einst getan haben mögen. Gold und Silber lassen sich

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aber auf das allgemein verbreitete Bedürfnis des Sich-Schmückens für andere beziehen. Die Geldform überschreitet die Partikularität des Gemeinschaftslebens, ist aber doch noch mit einem Bedürfnis des Lebens verbunden. Würde man einen Idealtypus modellieren wollen, so handelte es sich bei Edelmetallgeld um eine Zwischenform in der Evolution. Auch die Religion kannte die Zwischenstufe des griechisch-römischen Götterhimmels, der weder die Nähe konkreter Stammesgötter, noch den Abstraktionsgrad monotheistischer Gottesvorstellungen besaß (vgl. DR: 85). Die Zwischenform der Geldevolution wird in dem Maße überschritten, in welchem das Vertrauen in die Wiederverwendbarkeit des Geldes durch den Staat, internationale Gesetze und Handelskonventionen gestiftet wird. Der »internationale Kreis« erhalte »die Züge […], die ursprünglich nur geschlossene Gruppen charakterisierten: […] die durch Gesetze, Usancen und Interessen immer wachsende Verbindung und Vereinheitlichung immer größerer Kreise ist die Grundlage dafür, daß der Substanzwert des Geldes immer geringer werden und immer vollständiger durch seinen Funktionswert ersetzt werden kann.« (PDG: 220-21)

Geld wird eine durch den Rechtsstaat gewährleistete »öffentliche Einrichtung« (ebd.: 224), auf die privat zurückgegriffen werden kann. Wo rechtsstaatliche Garantien stehen, bedarf es nach Simmel immer weniger einer durch die Begehrlichkeit des Edelmetalls garantierten Wiederverwertbarkeit. Dies schafft eine »Wende«, denn nun kann das Trägermaterial umgekehrt danach selektiert werden, was sich am besten für die Vermittlung des Tausches eignet. Simmel nennt »Giro«, »Wechselversand«, »Checks«, »Warrants« (ebd.: 221, 238). Es handelt sich um »Surrogate« gesetzlicher Zahlungsmittel (ebd.: 238). Sie vereinfachen den Tausch über räumliche Distanzen und erlauben eine Vergrößerung des Kreditvolumens bei erhöht auftretender Nachfrage (vgl. ebd.: 239). Simmel weist darauf hin, dass es beispielsweise noch im Antwerpen des 16. Jahrhunderts recht schwierig war, außerhalb periodenhaft veranstalteter Messen »eine erheblichere Geldsumme aufzutreiben.« (Ebd.: 686) Noch ganz zum Schluss der »Philosophie des Geldes« sagt Simmel, dass die »Intensität des Verkehrs [sich] die ihm dienlichste Werkzeugsform verschafft.« (Ebd.: 708) Dazu zählt Simmel gerade auch die physischen Eigenschaften wie Rundheit, Kleinheit, Handhabbarkeit, die das Geld schneller, einfacher, oder – noch mit Termini aus der »Socialen Differenzierung« – mit geringerer Reibung von Hand zu Hand gehen lassen. Unabhängig von jeder Aufzählung ist dabei das Selektionskriterium von Bedeutung, allein der Tauschsynthese zu dienen. Und da der Tausch seiner konstitutiven Quelle nach ein dem geistigen Leben entstammendes Prinzip ist, auf eine räumliche Gestaltwerdung überhaupt aber nicht verzichten kann, kann dessen materiell-monetäre Realisierung nur in einer dem Tauschprinzip möglichst adäquaten, und d. h. anschmiegsamen und fließenden Form bestehen. Ich komme damit auf einen weiteren bedeutsamen Punkt, der räumlichen Dimension der Geldwirtschaft. Simmel meint, dass sich der »moderne zentralistische Staat […] auch an dem ungeheuren Aufschwung der Geldwirtschaft« herausdifferenziert habe (ebd.: 226; Hervorhebung PB). Damit ist natürlich keine ökonomische Determination in dem Sinne gemeint, dass beispielsweise die Industrialisierung den Nationalstaat geschaffen habe; dafür steht das »auch« in dem Zitat. In seiner Geschichtsphilosophie wandte Simmel sich auch explizit mit Bezugnahme auf die Entstehung

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des deutschen wie des italienischen Nationalstaates gegen eine solche materialistische Reduktion der Deutung von Geschichte (vgl. PGP: 404-05). Simmel band den Auf-, aber auch Abstieg von Nationalstaaten an die Fähigkeit einer politischen Instanz, die Ausgabe und Verwendung von Geld zu monopolisieren, analog der Durchsetzung eines staatlichen Gewaltmonopols (vgl. PDG: 225-29). Durchzusetzen hatte sich das staatliche Geldmonopol unter anderem gegen Ansprüche von Privatiers (Banken, Goldschmiede), als auch gegen die Ansprüche von Städten. Wie Simmel sagt, sei Geldpolitik im Mittelalter dezentralisiert auf die Städte verteilt gewesen (vgl. ebd.: 224). Mit Blick auf Deutschland spricht Simmel sogar vom »unsäglichen Leichtsinn«, mit dem die »Münzprivilegien« an die Städte verliehen worden seien, »jedem Kloster und jeder kleinen Stadt« (ebd.: 219). Deutsche Städte besaßen ihre eigenen Münzpressen. Nicht selten seien diese von den jeweiligen Territorialherren zur persönlichen Bereicherung zweckentfremdet worden, so Simmel: Seinem Edelmetallgehalt nach höherwertiges Geld sei eingetauscht worden gegen ein geringerwertiges Geld (vgl. ebd.: 206-07). Ferner meint Simmel, dass im Mittelalter Dinge zum Kauf und zum Verkauf gestanden hätten, die ihrem modernen Sinne nach als nicht-ökonomisch beobachtet würden: »Wir finden in dem mittelalterlichen Verkehr unzählige Verhältnisse, die sich für unsere Auffassung ganz der wirtschaftlichen und privatrechtlichen Aktion entziehen, dennoch zu Gegenständen einer solchen gemacht. Die Herrschaftsgewalt über die Territorien wie die Gerichtsbarkeit in ihnen, kirchliche Patronate wie Steuerrechte, Wege wie Münzprivilegien, alles dies wird verkauft oder verborgt, als Pfand gegeben oder verschenkt.« (SOZ: 707; Hervorhebung PB)

Niklas Luhmann nannte das gleiche Phänomen »überpekuniarisierte Verhältnisse« (Luhmann 1988a: 239). Die auf die Kirche übergreifende mittelalterliche Käuflichkeit war es dann ja auch, was nach Simmel eine religiöse Gegenbewegung der Franziskanermönche provozierte (vgl. PDG: 331). Wie Simmel meint, musste diese Verkäuflichkeit von allem jedoch räumlich fixiert bleiben, um stabile Form zu bleiben. Eine weitere räumliche Ausdehnung dieses Prinzips sei kaum möglich gewesen (vgl. SOZ: 707-708). Simmel meint, gerade die »Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen« (GG: 118).89 Er begründet dies durch eine sich vom Landleben abhebende räumliche Verdichtung des Handelsgeschäfts. Die Konzentration führe zu einem Bedarf eines generalisierten Tauschmittels (PDG: 706; GG: 118) Hierbei ist darauf zu achten, dass Simmel die Großstadt nicht nur vom Landleben, sondern auch vom Kleinstadtleben unterscheidet (vgl. PDG: 705; GG: 126-27). Im Unterschied zu der sich in ihren physischen Umrissen erschöpfenden Kleinstadt wirke die Großstadt gerade über ihre territoriale »Unmittelbarkeit« hinaus »jenseits ihrer physischen Gren-

89 Max Weber wies der »Entstehung der Städte« eine hohe Bedeutung zu mit Hinblick auf die Entwicklung des Handels (Weber 1988b: 259; Hervorhebung im Original). Die Stadt macht die wechselseitige Fremdheit zum Strukturprinzip. »Sie bedeutet das Hineintragen eines rein geschäftlichen Verkehrs in die alten Gemeinschaften selbst, den ersten Schritt zu ihrer Zersetzung.« (Ebd.: 259)

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zen« (GG: 127). Erst in der Überterritorialität liege »ihr wirklicher Umfang, […] ihr Sein« (ebd.: 127). Der physische, substanzielle Raumpunkt besitzt seine Funktion dann allein in der »über einen weiten nationalen oder internationalen Bezirk« sich erstreckenden Wechselwirkung (ebd.: 127). Ein Beispiel dafür wäre die im zwölften Jahrhundert entstandene städteübergreifende Handelsinstitution der Deutschen Hanse (vgl. SOZ: 465, 471). Die Hanse war eine Vereinigung, die »Stadt mit Stadt [verband]« und so den individuellen Kaufmann in einen das städtische Territorium übergreifenden Interessenkreis integrierte, »weit über die Reichsgrenzen« hinaus (ebd.: 465). Dies sind Ansätze ökonomischer Integration, insofern die an der Hanse beteiligten Individuen durch ein vorrangig ökonomisches Motiv miteinander vergesellschaftet sind und die Vereinigung den individuellen Raumpunkt der Stadt zu einem Element innerhalb eines übergreifenden Ganzen machte. Überhaupt scheint es der Bedeutungswandel von Raumgrenzen gewesen zu sein, an dem sich die Ausdifferenzierung einer Geldökonomie nachvollziehen lässt. Die zwei Hafenstädte Antwerpen und Lyon beispielsweise haben Simmel zufolge die »Weltbörsen des 16. Jahrhunderts« hervorgebracht (PDG: 287). Antwerpen, so Simmel weiter, sei dominiert gewesen von Kaufleuten aus Italien, Spanien, Portugal, England und Deutschland.90 Sie waren territorial gesehen Fremde, suchten die Handelsbörse aber um des Geschäfts willen auf. In dieser Funktion genossen sie liberale Handelsrechte (vgl. ebd.: 287-88). Die territorial Einheimischen dagegen bespielten oftmals auf dem Parkett die Funktionsrolle des Finanzintermediärs. Wegen der damit einhergehenden Distanz zum eigentlichen Kerngeschäft, dem Handel, waren sie funktional fremd (vgl. ebd.: 288). Der Raum bildet hier das Medium einer sozialen Einheit, deren Sinn nicht mehr territorial begründet ist. Die »im 15. Jahrhundert« sich entwickelnden »Finanzzentren« und der »Welthandel« sind es nach Simmel auch, die den Zeitbegriff prägten, »als eines durch Brauchbarkeit und Knappheit bestimmten Wertes.« (Ebd.: 707) – Time is money. Simmel sah in der Evolution des Wertpapierhandels an den Börsen einen Beschleunigungstreiber und begründete dies aus dem Formwandel des Wertpapiers, der dieses selbst zu einem geldähnlichen Medium (einem sogenannten »Geldsurrogat«) machte. Simmel geht so weit, dem Geld eine sich in der Geschichte realisierende metaphysische Tendenz zur lokalen Verdichtung (»Zentripetalkraft der Finanz«, ebd.: 705) zu attestieren, die in der Waren- und Wertpapierbörse auf ihren historischen Nenner kommt (vgl. ebd.: 704-08). Als abstrakter Vermögenswert, so Simmel, stehe es »jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: [...] es ist gewissermaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potenzieller Wirkungen« (ebd.: 704). Wie das Reich Gottes transzendiert die Geldform jeden bestimmten Raumpunkt, gerade weil ihre Reichweite global-umfassender Natur ist. Die konkreten, jeweils quantitativ begrenzten Geldwerte besäßen keinen

90 Max Weber (1988b: 274) zufolge entstanden »die ältesten Börsen […] in den Niederlanden im 15. Jahrhundert, waren einfache internationale Versammlungen von Kaufleuten, welche dorthin reisten und ihre Waren veräußerten.« In seiner ursprünglichen Form hatte die Börse äußerlich wenig zu tun mit heutigen Finanzplätzen, sondern mit ›einfachen‹ Märkten. Genau das aber, meint Weber, sei auch nach wie vor, wenn auch in veränderter Gestalt, das Funktionsprinzip der Börse: »Sie ist ein moderner Markt« (Weber 1988b: 260; Hervorhebung im Original).

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Wert für sich. Der Preis von Kartoffeln und Saft ist zwar eine Funktion ihres Austauschbarkeitsverhältnisses mit anderen Waren, aber unabhängig von dem Preis besäßen sie immer noch aus ihnen selbst kommende, konsumierbare Qualitäten (vgl. ebd.: 706). Bei konkreten Geldsummen sei dies nicht annähernd der Fall, und deshalb drängen die Geldsummen zum Vergleich aneinander »auf einen Punkt« (ebd.: 706). Und dieser Punkt ist die Wertpapierbörse. Es ist, als ob der abstrakte Vermögenswert – der Mittelpunkt – in der Wertpapierbörse auf eine empirisch greifbare, lokale Selbstreflexionsform hin tendiere, der räumlich-materiellen Gegenstandswerdung der beharrenden (Mittelpunkts-)Form des Geldes. Das Besondere ist nun, dass die räumliche Konzentration von Wertpapieren Simmel zufolge zu einer Tempobeschleunigung führe: Die »engste lokale Vereinigung« bedinge die »rascheste Ausgleichung, Verteilung, Abwägung« (ebd.: 707). Ein Wertpapier kann Wert gewinnen und verlieren, und schon dieser Umstand macht Simmel zufolge den Handel mit ihnen reizvoll. Beispielsweise, so fährt Simmel fort, habe die wechselnde Bonität der französischen Krone im 16. Jahrhundert den Handel mit königlichen Schuldscheinen überhaupt erst attraktiv gemacht. Der Wertverlauf des Papiers löst sich von dem unterliegenden Fundamentalwert und kann zum Gegenstand von Angebot an und Nachfrage nach Wertpapieren werden (vgl. ebd.: 438). Die Fundamentalwerte – die Vermögenssituation von Schuldnern oder die reale Performance von Unternehmen – werden zum zwar notwendigen, den Wert des Papiers aber nicht mehr determinierenden Medium (vgl. ebd.: 438-39). Mit der Lösung des Wertverlaufs von dem Vermögensgegenstand entsteht Simmel zufolge eine »unbedingte Nachgiebigkeit der Wertform«, die gerade Raum für die »psychologischen Impulse der Laune, der Habsucht, der unbegründeten Meinungen« schafft (ebd.: 438). Diese Nachgiebigkeit des Wertes wirke nun positiv-schöpferisch auf ein erhöhtes Umschlagstempo hin. Sie reizt zum Handel: »Und davon ist es nun sowohl Ursache wie Wirkung, daß die Börse, das Zentrum des Geldverkehrs, und gleichsam der geometrische Ort all jener Schätzungswechsel, zugleich der Punkt der größten konstitutionellen Aufgeregtheit des Wirtschaftslebens ist: ihr sanguinisch-cholerisches Schwanken zwischen Optimismus und Pessimismus, ihre nervöse Reaktion auf Ponderabilien und Imponderabilien, die Schnelligkeit, mit der jedes den Stand verändernde Moment ergriffen, aber auch wieder vor dem nächsten vergessen wird – alles dies stellt eine extreme Steigerung des Lebenstempos dar, eine fieberhafte Bewegtheit und Zusammendrängung seiner Modifikationen, in der der spezifische Einfluß des Geldes auf den Ablauf des psychischen Lebens seine auffälligste Sichtbarkeit gewinnt.« (ebd.: 707-08; Hervorhebung PB)

Es ist die im Wertpapier räumlich verdichtete Geldform des Wertes, die eine Zirkulationsbeschleunigung provoziert. An diesem Schnittpunkt von Raum und Zeit ist es die Erwähnung wert, dass in den soziologischen Untersuchungen Simmels die Stadt den räumlichen »Spezialfall« des allgemeinen Dualismus aus »der beharrenden Form von Relationen und Bewegungen« darstellt (SOZ: 709; Hervorhebung PB). Die Stadt ist für Simmel ein »Drehpunkt«, den die Lebensbewegung des gesellschaftlichen Verkehrs – Verkehr wohl nicht nur in einem ökonomischen Sinne – umso mehr brauche, »je lebhafter er ist« (ebd.: 709). Je mehr Bewegung, desto mehr bedarf es eines beharrenden Punktes im Räumlichen. Die lebenssoziologische Funktion der Stadt ist es, der Bewegung erst ihre eigentliche Form als Bewegung zu geben. Man

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beachte hierbei die Verarbeitung lebensphilosophischer Semantik und Theorie innerhalb von Simmels Soziologie des Raumes, wonach Bewegung und Beharrung einander bedürfen. Genauer gesagt: Erst vom Vitaldualismus von Leben und Form, Bewegung und Beharrung erhält die simmelsche Raumsoziologie ihren Sinn: »Indem der Verkehr die Stadt zu einem solchen [Drehpunkt] ausbildet, erwächst erst der eigentliche Sinn des Verkehrs; denn dieser ist doch, im Gegensatz zu dem einfachen Streben ins Unbegrenzte hinein, daß die Bewegung einer zweiten äquivalenten Macht begegnet, ohne daß diese Begegnung eine feindselige zu sein braucht – was sie vor unausgebildetem Verkehr immer ist. Sie bedeutet nun kein gegenseitiges Sich-Aufreiben mehr, sondern ein Sich-Ergänzen und dadurch Sich-Vermehren der Kräfte, welches den räumlichen Stützpunkt braucht und deshalb erzeugt.« (Ebd.: 709-10; Hervorhebung PB)

Beharrende Form und Bewegung wirken – ohne dass Simmel diesen Mechanismus weiter erläutert – in der Stadt synergetisch zusammen, sie schaffen Mehr-Leben und Mehr-Wert. Das Leben braucht die Form, und raumsoziologisch respezifiziert bedeutet es, dass das gesellschaftliche Leben – ab einem bestimmten Intensitätsgrad – der Formung durch den räumlich-gestalthaften »Drehpunkt« bedarf, ohne dass die Bewegung im Raumpunkt aufgeht. Von dem städtischen Drehpunkt unterscheidet Simmel nomadische Gesellschaften, die von Raumpunkt zu Raumpunkt wandern. Einen festen Drehpunkt ihrer Bewegung kennen sie nicht (vgl. ebd.: 709). Ob Nomaden deshalb einen geringeren Grad an gesellschaftlichem Leben aufweisen, sagt Simmel nicht. Es würde dann passen, wenn man eine Evolution des Lebens innerhalb des Lebens annimmt. Ebenfalls sagt Simmel nicht, was er unter »feindselige Begegnung« versteht, auch wenn der Gedanke an die dem friedvollen Verkehr vorangehenden Formen von Raub und Konflikt naheliegt. Simmels raumsoziologische Reformulierung des Dualismus von Leben und Form bzw. Bewegung und Beharrung steht analog zu seiner Hypothese, die Großstadt sei seit jeher der Sitz der Geldwirtschaft gewesen. Auch die Bewegung des Geldumlaufs zieht ihren Sinn aus der Form des abstrakten Vermögenswertes, und vice versa. Die »Doppelrolle des Geldes« findet neben ihrer zeitlichen und sachlichen auch eine räumliche Realisierung in der Geschichte, auch wenn Simmel dazu neigt, den Zeit- vor dem Raumeffekt zu priorisieren. Es sind Simmel zufolge zuerst die mittelalterlichen Städte gewesen, in denen die individuell freie hypothekarische Belastung von Grund und Boden – die Aufnahme eines Kredits gegen Pfand – ohne Minderung des Ansehens der Person möglich geworden sei (vgl. PDG: 429). In der antiken Polis war dies noch anders, dort stand der Verkauf von Grund und Boden unter religiöser Ächtung. Mit dem Anwachsen der Städte, so Simmel, sei auch die politische Einflussmöglichkeit von »Vermögensbesitz entscheidend [geworden]« (SOZ: 773). Auf die Form städtischer Vergesellschaftung hin betrachtet erodiert dies die Machtposition des Adels. So habe das durch Geldgeschäfte reich gewordene Florenz sich »um das Jahr 1300« nicht nur durch eine »weitgehende demokratische Bewegung« ausgezeichnet, sondern damit korrelierend seien dem Adel »ganz besonders starke Beschränkungen und Lasten auferlegt wurden« (ebd.: 819). Dahinter steckt ein systematisch metaphysisches Argument Simmels: Das Geld kenne nur fließende Übergänge, weil es numerisch beliebig teilbar ist. Eine Ständegesellschaft dagegen kenne keine fließenden Übergänge, sondern

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die Härte undurchdringlicher sozialer Grenzen. Geld verwische diese Grenzen seinem Prinzip nach (vgl. PDG: 536-37). Für den Adel bedeutet die Durchsetzung der Geldwirtschaft daher nicht seine Tilgung, sondern seine soziale »Nivellierung« auf den gemeinsamen Nenner des Geldes (ebd.: 537). Dies sei in England besonders deutlich gewesen: Der Schwächung des Adels standen hier sozioökonomische Aufstiegsmöglichkeiten von durch Herkunft unterprivilegierten Schichten gegenüber. So habe selbst der »ärmste Lehrling […] die höchste Zukunft erhoffen [können], wo diese nur im Geldbesitz lag« (ebd.: 536). Der Struktur nach Ähnliches habe für die Juden gegolten, die von der Ausübung vieler Berufe ausgeschlossen waren. Das Kreditgeschäft war für sie die Chance, ansonsten rechtlich nicht gewährte Einflussmöglichkeiten zu gewinnen. Dies funktioniert nur unter Voraussetzung eines bereits hinreichend generalisierten Geldes, das seiner Einkommensherkunft nach nicht näher bestimmt war. Die in der Diaspora lebenden Juden waren für Simmel eine exemplarische Ausgestaltung der lebensphilosophischen Form des Fremden in seiner Vereinigung von »Nähe« und »Distanz«, allerdings noch personalisiert und nicht, wie es die moderne Großstadt auszeichnet, als generalisierte Form zwischenmenschlichen Lebens. Die Juden seien »Stammfremde« und »Religionsfremde« zugleich gewesen (ebd.: 287). Sie erfüllten eine wichtige Rolle im mittelalterlichen Geldverleih, da sie im Vergleich zu Christen nicht unter das mittelalterliche Geldzinsverbot fielen.91 In ihrem Status als »Fremde« war jüdischer Besitz rechtlich unsicher. So habe es mehrere – um es modern auszudrücken – »Schuldenschnitte« zuungunsten jüdischer Geldverleiher gegeben. Simmel nennt drei Fälle: »König Wenzel für das Land Franken 1390, Karl IV. 1347 für den Burggrafen von Nürnberg, Herzog Heinrich von Bayern 1338 für die Bürger von Straubing usw.« (Ebd.: 287) Zusätzlich waren Juden besonders Raub und Plünderung ausgeliefert, wofür die »mittelalterlichen Judenaustreibungen« ein trauriges Exempel sind (ebd.: 285). Das Zustandekommen großer Vermögen von Geldhäusern wie beispielsweise der Rothschilds habe man – zumindest das »niedere Volk«, wie Simmel meint – sich noch bis in das 19. Jahrhundert hinein in »abergläubischer Weise« erklärt, »als wäre eine dämonische Macht im Spiel.« (Ebd.: 318) Ob sich dies mit einem Ressentiment gegenüber der jüdischen Herkunft der Rothschilds vermengte, dazu sagt Simmel nichts.92

91 Nicht jede Form des Zinses war christlichen Geldverleihern verboten, sondern allein wucherischer Zins. Wie Hans-Jörg Gilomen schildert, hat es »eine ganze Reihe von Kreditinstrumenten für unterschiedliche Bedürfnisse [gegeben], welche wucherrechtlich unbedenklich waren oder bei denen eine wucherrechtlich verbotene Gewinnabsicht nicht nachzuweisen war.« (Gilomen 2007: 148) Beispielsweise bezogen Fürsten und Städte ihre Kredite nicht nur oder nicht einmal vorrangig von jüdischen, sondern (auch) von christlichen Geldverleihern. 92 Für die sich um den Aufstieg aus ärmlichen Verhältnissen zum wirtschaftlich mächtigsten Finanzhaus Europas des 19. Jahrhunderts rankenden Mythen um die Rothschilds vgl. Ferguson (2009: 78) und Backhaus (1997: 149). Meyer Amschel Rothschild entstammte dem Frankfurter Judenghetto des 18. Jahrhunderts. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stieg er mit dem von ihm gegründeten Bankhaus in das sich entwickelnde Geschäft mit

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Bankgeschäfte waren noch in anderer Hinsicht nicht »normalisiert«. Konkret geht es um Geldgeschäfte zwischen Banken und Regierungspolitik im 16. Jahrhundert. Simmel meint, für diese Zeit einen »Haß des Volkes auf die großen Finanzhäuser« beobachten zu können (ebd.: 289). Umgekehrt wurde es gerade als »landesverräterisch« empfunden, wenn beispielsweise italienische Bankiers mit finanziellen Mitteln der spanischen Krone im Krieg gegen Italien unter die Arme griffen oder deutsche Banken selbiges für den französischen Staat leisteten im Kampf gegen Deutschland (ebd.: 290). »Landesverräterisch« kann Geld jedoch nur dann werden, wenn seine Zugehörigkeit noch die »Sentimentalitäten« territorialer Bindungen aufweist (ebd.: 609). Ebenso wenig waren Rechtsinstitutionen und Konventionen etabliert, deren Einrichtung die Ausdifferenzierung einer Geldökonomie erst ermöglicht. Beispielsweise seien die Finanzgeschäfte der Fugger denen »moderner Weltbankiers vergleichbar« gewesen (ebd.: 203). Zusammen mit den Welsern, Florentinern und Genuesen haben sie sich in den politischen Kampf um die europäische Vormachtstellung zwischen Frankreich und den Habsburgern eingemischt. Ihren Einfluss versuchten sie durch Kreditabhängigkeiten der Herrscher herzustellen (vgl. ebd.: 272-73). Fehlende Rechtsinstitutionen und Verhaltenskonventionen erschwerten jedoch das Eintreiben von Regierungsschulden (vgl. ebd.: 203). Vorstellungen über das Wesen des Geldes beeinflussten die Praxis, umgekehrt beeinflussten aber auch gesellschaftliche Lebensformen bestimmter Zeiten das Denken über Geld. In der theologisch-philosophischen Kritik an der Zinsnahme reflektierte sich Simmel zufolge die Situation, dass das Geld größtenteils eine Konsumfunktion erfüllt, also allokativer Natur ist, aber nicht der Investition dient; in der Gegenwart erst gesellt sich die Eigenschaft hinzu, Produktionsmittel zu sein (vgl. ebd.: 200-01, 221-222, 299-300, 499). Aristoteles und Platon sahen im Geld bloß ein »notwendiges Übel« zum Erwerb von Waren (ebd.: 300). Weil die antike griechische Wirtschaft überwiegend agrarischer Natur war und durch Sklaven betrieben wurde, interessierte aus ethischer Perspektive auch nicht die Quelle des Gelderwerbs, sondern allein dessen Verwendung (vgl. ebd.: 299-300). Einen Geldzins lehnte Aristoteles dann auch als unnatürlich ab. Die mittelalterliche Argumentation Thomas von Aquins oder Alexander von Hales’ gegen die Zinsnahme machten sich die Position Aristoteles’ zu Eigen. Geld ist nur Mittel zum Erwerb von Konsumgütern, aber selbst keine Ware, und deshalb leiste es dem Individuum auch keinen Nutzen, wie es eine Ware tue (vgl. ebd.: 200). Geld sei nicht »fruchtbar oder produktiv« (ebd.: 499). In der geldwirtschaftlichen Moderne wandelt sich das Geld »aus einem starren, der Produktion innerlich fremden Elemente in lebendige Funktion in und an derselben« (ebd.: 222). Das Geld ist »Produktivkraft« (ebd.: 200), es dient nun »wesentlich auch der Produktion« (ebd.: 299), und deren materielle Objektivation ist die »fortwährend variierende Industrie« (ebd.: 299). Geld drängt aus sich zur Neuschöpfung von Inhalten. Der Zins ist nun der aus der nicht-greifbaren Transzendentalfunktion des Geldes gerechtfertigte »Ausdruck dieses Wertes, der ihm« – dem materiellen Geldkörper – »als Träger seiner Funktionen zukommt.« (Ebd.: 126)

Staatsanleihen ein, das schließlich die Grundlage des ökonomischen Aufstiegs der Rothschild-Bank wurde.

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Eine Wechselbeziehung zwischen Praxis und theoretischer Vorstellung vollzog sich auch im geschichtlichen Wandel von Geldpolitik und – theorie. Materialistische Geldpolitiken zeichnen sich Simmel zufolge durch materialistische Vorstellungen vom Geld aus, wonach Geld kein bloßes Tauschmittel, sondern zugleich ein wertvolles Gut sei. Ihre Finanzpolitik zeige sich in der Absicht, möglichst viel Gold und Silber zu akkumulieren. Dabei unterscheidet Simmel den mittelalterlichen »Fiskalismus« (ebd.: 206) vom neuzeitlichen »Merkantilismus« (ebd.: 206). Im Fiskalismus würden Regierungen vorrangig sich selbst bereichern wollen, im Merkantilismus würden die Herrscher ihre Akkumulationspolitik von Edelmetallen allerdings als Mittel zum Zweck wirtschaftlicher Stimulation sehen (vgl. ebd.. 206-07). Letztere Strategie konnte allerdings zu Inflationskrisen führen, wie das Beispiel spanischer Einfuhren von Gold und Silber aus den südamerikanischen Kolonien zeigt.93 Funktionale, von Substanzvorstellungen sich lösende Geldtheorien hätten sich dann erst mit der »Wende« zu liberaleren Politikmodellen eingestellt. Dafür stehe die mit Adam Smith im 18. Jahrhundert begründete klassische Nationalökonomie (vgl. ebd.: 207). Wie ich bereits weiter oben erwähnte, hielt Simmel eine vollständige Lösung des Geldes von der materiellen Bindung an Edelmetalle für theoretisch denkbar, praktisch aber für kaum durchführbar (vgl. Kapitel 8.2.4 in diesem Buch). Dafür nennt er zwei sozial-psychologische Gründe (vgl. PDG: 182-193). Auf diese hatte ich bereits oben hingewiesen: (a) Erstens würde eine ungedeckte Währung der politisch motivierten Geldvermehrung keine Grenzen mehr setzen und langfristig der Geldökonomie das Vertrauen entziehen.94 Eine wirksame Grenze könne die objektive, physische Knappheit der Edelmetalle setzen (vgl. ebd.: 185-87). (b) Zweitens spielt die Tatsache, dass die Edelmetalle einen Marktwert erhalten, für Simmel dann doch eine Rolle – auch wenn es sich um minimale Anteile Gold oder Silber in den Münzen handelt. Simmel nennt es das »Stückchen eigenen, materialen Wertes, das im Geld steckt« (ebd.: 182). Auf dieses könnten wir nicht verzichten, und Simmels Spekulation – »Vielleicht« (ebd.: 182) – zielt auf eine epistemische Lücke unsererseits ab: Wir können die Proportionsgleichung zwischen Waren- und Geldbruch (vgl. Kapitel 8.3.2 in diesem Buch) nicht überprüfen, denn in der Praxis vergleichen wir eine stets konkrete, quantitativ begrenzte Geldsumme mit der konkreten Ware, für die wir ersteres aufwenden. Die Unsicherheit der ökonomischen Praxis werde kompensiert durch das Stück Warenwert im Geld. Deshalb spricht Simmel von einem psychologischen »Halt« und einer »Ergänzung«, die der Anteil Edelmetall im Münzgeld stifte (PDG: 182). Mit seiner Argumentation gegen die vollständige Herausdifferenzierung des Geldes aus dem Warenaustauschbarkeitsverhältnis vollzieht Simmel das formal gleiche Argument wie in der Religion. Um Religion zu sein, muss diese eine gegenständliche, an die Materialität gebundene Form annehmen. Religion konstruiert sich sozusagen aus dem verfügbaren Material, welches aber selbst eigenen Prinzipien folgt –

93 Zu dem Zusammenhang zwischen Edelmetallimport, Inflation und wirtschaftlichem Niedergang in Spanien vgl. Ferguson 2009: 27-28. Simmel erwähnte vergleichsweise allgemein den Zusammenhang zwischen Edelmetallimport und der durch diesen induzierten Warenpreiserhöhung in Europa im 16. Jahrhundert (vgl. PDG: 701). 94 Als ein Negativbeispiel für ungedecktes Geld nennt Simmel die »Mißstände der amerikanischen Papiergeldwirtschaft« (PDG: 222; vgl. auch ebd.: 698-99).

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»Formen des Irdischen, Rationalistischen, Sozial-Empirischen« (DR: 113; Hervorhebung im Original). Die monotheistische Gottesvorstellung des Christentums konnte dann nur materielle Annäherung, aber niemals vollständige Religion sein. Mit der Geldwirtschaft ist es nach Simmel nicht anders. Obgleich der Idee nach bloße Verwirklichung des geistigen Prinzips vom Tausch (vgl. PDG: 246), bedingt genau diese empirische Verwirklichung des Tausches im Geld eine diesem Prinzip zuwiderlaufende Gegenstandswerdung. In diesem Fall ist es die individuelle Psyche, deren Eigenlogik die vollständige Realisierung des geldförmigen Taiuschprinzips verhindert. Die Evolution der Geldform beginnt in der Unmittelbarkeit des Indifferenzverhältnisses von individuellem Leben und sozialer Form. Mit der Ausdehnung der sozialen Beziehungen löst sich das Geld allmählich aus dem spezifischen Zuschnitt an eine inhaltlich bestimmte Lebensform. Dabei kann das Prinzip der Austauschbarkeit die Bindung an die Materialität, aus der es ursprünglich kommt, nicht ganz verlassen. Es vermischt sich mit anderen, ihm fremden Prinzipien und Materialitäten von Gesellschaft und Individualpsychologie. Die Essenz von Simmels Argument zur Edelmetalldeckung ist, dass die Form sich doch nie vollständig aus dem Leben verselbständigen kann, sondern eine Restkopplung der Form an das Leben verbleibt. Das Mehr-als-Leben der Form bleibt an das Leben zurückgebunden. 8.4.3 Liberalismus und die Wende zur Weltwirtschaft Für Simmel ist es der lebendige Geist, der mit den geschichtlich überkommenen Formen bricht und neue Formen schafft, und dies gilt auch für die »Ideenwende« auf dem Feld der Geldökonomie. In Simmels Narrativ der Geldwirtschaft spielt die gegen Ende des 18. Jahrhunderts von England ihren Ausgang nehmende industrielle Revolution keine Rolle. Er erwähnt zwar – worauf ich bereits hinwies – die »fortwährend variierende Industrie« als ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft (vgl. Kapitel 8.3.2 in diesem Buch). Simmel nimmt explizit den – in der Beschäftigungsstruktur sich artikulierenden – Wandel vom traditionalen Agrar- zum modernen Industriestaat zur Kenntnis (TGLT: 171). Die enge Symbiose zwischen rationaler Wissenschaft und industrietechnischer Produktion taucht im Bild »der lauten Pracht des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters« (PDG: 675) auf, für das sich der menschliche Geist ebenso begeistern wie er sich von ihm betäuben lasse, ohne nach dessen Sinn und Zweck zu fragen. Simmel beobachtete die Technik-Kategorie unter dem Schema von Zweck und Mittel. Die materielle Form für sich genommen interessierte Simmel nicht, denn Technik war eine Schöpfung des Geistes, der in ihr materielle Gestalt anzunehmen hatte (vgl. ebd.: 258, 261, 297, 670-675). In »Schopenhauer und Nietzsche« versteht Simmel unter »Technik [...] die Summe der Mittel für die kultivierte Existenz« (SN: 177). Die selbstzweckhafte Begeisterung für den technischen Fortschritt war für Simmel Symptom einer Entwicklung, wonach die Menschen in äußerlichen Dingen Letztwerte zu finden meinten, die eigentlich doch nur Mittel für diese sein könnten (vgl. TGLT: 169, 175). Simmel spricht deswegen auch von einer »externalization of life« (ebd.: 167; Hervorhebung im Original). Hinter der Verselbständigung der Geldwirtschaft steht nach Simmel die Durchsetzung einer bestimmten ideengeschichtlichen Strömung, des Liberalismus. Mit keiner spezifischen Kulturform verbindet Simmel Aufkommen und Durchsetzen des Liberalismus so sehr wie mit der Wirtschaft. In der »Soziologie« heißt es so beispiels-

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weise, dass »die liberalen Normen [...] regelmäßig mit der Geldwirtschaft verbunden sind« (SOZ: 832). Und spricht, in Abgrenzung zum stammesgesellschaftlichen Denken in Kollektivverantwortlichkeiten, von den beiden Komplementärseiten der »Freiheit und Selbstverantwortlichkeit« (ebd.: 832) Nur wenige Seiten später heißt es, dass »die Geldwirtschaft und die mit ihr verbundenen liberalistischen Tendenzen einerseits die engeren Einungen, von der zunftmäßigen bis zu den nationalen, gelockert oder gelöst und die Weltwirtschaft inauguriert, andrerseits den wirtschaftlichen Egoismus in allen Graden der Rücksichtslosigkeit begünstigt.« (Ebd.: 845)

In der »Philosophie des Geldes« postuliert Simmel – ganz lebensphilosophisch – einen »tieferen Zusammenhang der Geldwirtschaft mit den Tendenzen des Liberalismus« (PDG: 555) Und schickt gleich hinterher, dass die Menschen seiner Zeit zwar mehr Freiheit besitzen würden als andere Zeiten zuvor, aber »dieser Freiheit doch so wenig froh [würden]«, denn »die Freiheit des Liberalismus« habe »so manche Haltlosigkeit, Wirrnis und Unbefriedigung erzeugt« (ebd.: 555). Geld gebe – sozusagen in Reinform – negative Freiheit an die Hand, aber keine positive Freiheit, die besagt, was mit der gewonnen Freiheit anzustellen ist (vgl. ebd.: 550-53). Geld ist die Form, in der sich der durchgreifende gesellschaftliche Befreiungsprozess des 18. und 19. Jahrhunderts objektiviert. Ideen und Ideale brauchen Formen, und im Falle der Freiheit ist es das Geld.95 Die empirische Gestaltwerdung einer Weltwirtschaft war für Simmel das »größte weltgeschichtliche Beispiel [...] für die Korrelation zwischen der sozialen Erweiterung und der individuellen Zuspitzung des Lebens nach Inhalten und Formen« (SOZ: 831).96 Historisch bekam denn auch der »freie Wirtschaftsbürger« den historischen Vortritt vor dem freien »Staatsbürger« (Henning 1996: 128; Hervorhebung im Original). Andererseits beobachtet Simmel auch parallel laufende antiliberale und nationalistische Strömungen (vgl. SOZ: 813, GS: 147; vgl. für einen systematischen Zusammenhang zwischen Freiheit und Unfreiheit SOZ: 99-100). So verbindet die Konkurrenzform beides, Liberalismus und Antiliberalismus: Sie beruht auf dem mit den festen, traditionalen Bindungen brechenden Liberalismus einerseits (vgl. SOZ: 329), öffnet damit aber auch und vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft das Tor für die »gelegentliche Vernichtung von Individuen« im Wettbewerb (ebd.: 344). Im Deutschen Kaiserreich hat das Reichsgericht die dem Wettbewerbsgedanken entgegenstehende Kartellierung zwischen Unternehmen 1897 legalisiert (vgl. Abelshauser 2005: 187), bestätigte damit einen seit den 1880er Jahren über das europäische Festland bis in die Vereinigten Staaten von Amerika ziehenden protektionistischen Trend mit steigenden Warenzöllen. Es war eine Reaktion der nationalstaatlichen Regierungen

95 Auch hier lässt sich eine Analogie zur Ausdifferenzierung der Religion in der römischen Antike ziehen. Die christliche Ideengeschichte von einem umfassenden und allmächtigen Gott und das von ihm bereitgehaltene Seelenheil war die Antwort auf die individuelle Sinnsuche. Das Christentum gibt der Objektivation vom Absoluten eine empirische Form. 96 Dem Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt zufolge war »Weltwirtschaft« um 1900 das semantische Äquivalent zur »Globalisierung« heute (Borchardt 2001: 15).

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auf drohende Einkommensausfälle weiter Bevölkerungsteile infolge einer nun mehr und mehr in Erscheinung tretenden überregionalen Konkurrenz, wie Knut Borchardt meint (vgl. Borchardt 2001: 24-28). Dass der internationale Handel trotzdem weiter expandierte, scheint vorrangig technologischen Innovationen wie der Dampfschifffahrt oder der beschleunigten Informationsübertragung über ein Telegraphennetz zuzuschreiben. Die mit Gegenkräften zu kämpfende Idee des Liberalismus ist, geht man mit Borchardt, für den geschichtlichen Verlauf zwar nicht unbedeutend gewesen, aber – mit Blick auf »die Globalisierung im 19. Jahrhundert« – eben auch nicht von so vergleichsweise hoher Bedeutung wie der gegen die anti-liberalen Widerstände marktintegrierend wirkende technische Fortschritt (Borchardt 2001: 30).97 Max Webers eigener Nationalismus artikulierte sich in einem vehementen Votum für ein Stopp der polnischen Migration in die ostdeutsche Landwirtschaft zwecks Erhalt des »Deutschtums« (Weber 1988c: 468) und des hiesigen »Kulturniveaus« (ebd.: 452), welches er durch die Einwanderung gefährdet sah. Weber nannte dies die »Polonisierung des Ostens« (ebd.: 457). Er warf ferner den Großgrundbesitzern eine politische Doppelmoral vor, da sie einerseits als Arbeitgeber von der grenzübergreifenden Öffnung des Arbeitsmarktes profitieren, denn der Lohn sinkt bei wachsendem Angebot von Arbeitskräften; andererseits aber engagierten sich die Gutsherren für einen Agrarprotektionismus – womit Weber wahrscheinlich Zölle gemeinet haben wird –, durch welchen die Konsumenten höhere Preise zahlen müssten, als es unter offenen Konkurrenzbedingungen der Fall sei (vgl. ebd.: 454-55). Wie auch immer: Bei Festhalten an der Korrelation hat sich Simmel konkreter Aussagen über Ursachen- und Wirkungszusammenhänge darüber, warum es überhaupt zu einer Ausdehnung sozialer Beziehung kommt, enthalten. Bei Simmel stoßen wir stattdessen auf Spuren eines Kulturwandels, der sich in Schaffung und Zerstörung von Lebensformen vollzieht. Die Deutsche Reichseinigung von 1871 beobachtet Simmel als einen »turning point« (TGLT: 168), der die unterschiedlichen deutschen Staaten zu einem einheitlichen Ganzen zusammengeschweißt habe – ein Beispiel für die Ausdehnung sozialer Beziehungen, gleichzeitig aber auch, so Simmel, für seine Hypothese, wonach quantitative Änderungen qualitative Änderungen implizieren können (vgl. ebd.: 168). Die Reichseinheit ist mehr als die Summe seiner Länder: Das zentralpolitisch geeinte Deutschland, so Simmel, sei mit einem Schlag ein politisches Schwergewicht geworden. Bis zur Einigung hätten sich die ökonomischen Kräfte – »ein ungeheures Maß von wirtschaftlichen Spannkräften« (KGE: 24) – gesammelt, aber die »Kleinstaaterei« hätte die ökonomischen Kräfte gehemmt, die nun »keine rechte Entladung finden konnten« (ebd.: 24). Die Einigung bedeutete die »Freilegung dieser Kräfte« (ebd.: 24).98 In der Folge erfuhr das Deutsche Reich ein

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Gemäß Kindleberger weist die uniforme Hinwendung zum Freihandel in Europa auf eine über Partikularinteressen hinausgehende, wirksame Idee des Liberalismus hin (vgl. Kindleberger 1975: 50-51). Die Trägerschichten – um einen weberschen Terminus zu gebrauchen – der Freihandelsidee konnten je Land unterschiedliche sein, wie beispielsweise Ökonomen in Großbritannien, an einem freien Import interessierte Industrielle in Frankreich oder Landwirte in Deutschland (vgl. ebd.: 50). Einen eigens durch die Reichsgründung ausgelösten ökonomischen Boom hat es wohl nicht gegeben. Der Boom war bereits da, und zwar seit den 1840er Jahren. »Die Reichs-

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»tremendous growth« seiner Wirtschaft (TGLT: 169). In den vergangenen dreißig Jahren seit 1871 habe sich Deutschland von einem Agrar- zu einem Industriestaat entwickelt (ebd.: 171).99 Die industrielle Expansion Deutschlands brachte Simmel zufolge sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene eine verschärfte Konkurrenzsituation mit sich (ebd.: 169). Dieser den sozialen Kreis des Nationalstaats übergreifende wirtschaftliche Wettbewerb habe Simmel zufolge eine Unterordnung aller anderen Lebensinteressen unter das Motiv von »material interests« gekennzeichnet (ebd.: 169). Deutschland wurde damit nur noch ein »Glied« innerhalb des es transzendierenden Weltwirtschaftskreises. Das Kaiserreich, die neue Wettbewerbslage, Industrialisierung und Wachstum gingen miteinander einher, und sie sind Objektivationen des ökonomischen Lebens, die in den alten Formen nicht mehr unterkamen. Die durch Finanzspekulationen 1873 losgetretene sogenannte »Gründerkrise« sieht Simmel sogar als Symptom einer durch eine neue Lebensform noch nicht gebundenen, »hemmungslosen Energie, die ihre Grenzen noch nicht erfahren hat.« (KGE: 25)100 Die Ausdehnung sozialer Beziehungen muss nicht nur geistig verarbeitet werden, sondern, kulturgeschichtlich gesehen, ist es auch das geistige Leben, welches die Beziehungsformen schafft und vernichtet, mit wechselndem Adäquanzgrad zwischen Leben und Form. Die Entwicklung und Durchsetzung des liberalistischen Ideals fällt ebenso in den Rahmen eines Wandels der Kulturformen, ist aber generellerer Natur als die Geschichte vom deutschen Geistesleben, weil sie sich gegen die ständische Gesellschaftsform des 18. Jahrhunderts richtete. Diese Ständegesellschaft zeichnete sich durch ihre institutionalisierte Unfreiheit dem Individuum gegenüber aus, im Politischen, Religiösen wie im Ökonomischen. Die Einschränkung der Berufswahl nach ständischer Herkunft ging einher mit einer Beschränkung der sozialen Mobilität (vgl. Henning 1996: 50-51). Ich hatte auf diesen Punkt bereits in Kapitel 4.5 in Aushandlung des simmelschen Freiheitsbegriffs Bezug genommen, deshalb seien hier nur die für die folgenden Ausführungen relevanten Aspekte erneut aufgegriffen. Die Philosophien des Liberalismus – hier hatte Simmel auf Kant und Rousseau verwiesen – interpretierte Simmel als Reaktionen geistigen

gründung«, so Volker Ullrich, »fiel in eine Phase ökonomischer Prosperität. Ein lang anhaltender Aufschwung sorgte in allen Branchen für Wachstum und Beschäftigung.« (Ullrich 1999: 38) Die 1873 ausgebrochene, sogenannte »Gründerkrise« beendete eine mit dem Eisenbahnbau in den 1840er Jahren beginnende »Take-off-Phase« der »Industrialisierung« (Ziegler 2005: 197). Die »Gründerkrise« markierte nach Ziegler »zugleich den Beginn des Übergangs zur Hochindustrialisierung« (ebd.: 197). 99 Was in der deutschen Öffentlichkeit begleitet war von einer Kontroverse über wirtschaftspolitische Alternativen »zwischen den Anhängern eines halbautarken industrialisierten Agrarstaates und denen eines exportabhängigen Industriestaates.« (Abelshauser 2005: 180) 100 Die »Gründerkrise« genannte Finanzkrise und deren realwirtschaftliche Auswirkungen blieben nicht auf das Deutsche Reich beschränkt, sondern gewann aufgrund der Kapitalmarktverflechtungen internationale Gestalt (vgl. Henning 1996: 793-94). Simmels vitalistische Lesart eines Zusammenhangs aus Reichsgründung und überschießenden Energien setzt einen exzeptionellen Status des Deutschen Reichs voraus, der sich nicht mit den historischen Tatsachen deckt.

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Lebens auf die ständische Gesellschaftsform. Der Liberalismus war eine Stellungnahme zum Sein, und sie deutete das Individuum als ein mit Vernunft begabtes Individuum, dessen Entfaltung allein durch die ständischen Formen verhindert würde. Die Ungleichheit zwischen den Menschen ist eine durch die gesellschaftlichen Strukturen bedingte und würde überführt werden können in den Zustand einer natürlichen Vernunft, denn die Vernunft ist allen Menschen gleichermaßen eigen. Sich selbst überlassen, würde das Individuum nur Gutes tun. Diese »Spannkräfte« des Lebens hatten sich in den sklerotisch gewordenen Formen gesammelt, waren »vorhanden« und bereit, sich die ihrem Sein gemäße Form durch Zerstörung der alten Formation zu schaffen (GS: 129). Diesen Formwandlungsprozess deutete Simmel im vierten Kapitel – »Die Individuelle Freiheit« – der »Philosophie des Geldes« in einem geldphilosophischen Rahmen aus. An die Stelle unvermittelter, personaler Beziehungen tritt mehr und mehr eine über das Geld vermittelte, unpersönliche soziale Beziehung (vgl. Rammstedt 1994: 24-25). Dadurch werden Ökonomie und Gesellschaft voneinander entflochten. Der Beziehungsformwandel betrifft die territorial-politische Herrschaft über Untertanen genauso wie die Institution der Feudalherrschaft zwischen Gutsherr und Bauern. Letzterem widme ich mich im Folgenden. Seine extensivste Auseinandersetzung mit der Transformation der Feudal- in geldwirtschaftliche Verhältnisse führte Simmel in zwei Aufsätzen: in dem 1888 publizierten, 27 Seiten umfassenden »Inhaltsbericht« – so Simmels eigene Worte (BP: 195) – über das von dem Ökonomen Georg Friedrich Knapp verfasste Buch »Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens« sowie sechs Jahre später in einer 18 Seiten langen »Skizze«, deren »Thatsachen« einem Werke des Knapp-Schülers Carl Grünberg »entnommen« sind (BB: 311). Dessen Buchtitel lautete: »Die Bauernbefreiung und die Auflösung des gutsherrlichbäuerlichen Verhältnisses in Böhmen, Mähren und Schlesien«. Deren Inhalte flossen erkennbar wie in komprimierter Form in die »Philosophie des Geldes« ein. In der »Georg Simmel Gesamtausgabe« sind beide Schriften Simmels unter »Rezensionen« eingeordnet«. Um Rezensionen handelt es sich in meinen Augen aber in beiden Fällen nicht. Dies liegt für mich nicht am Umfang, was ich für Auseinandersetzungen in der Sache für ein sekundäres Kriterium halte. Der fehlende Rezensionscharakter liegt in Simmels fast vollständigem Verzicht auf eine wissenschaftliche Evaluation der Bücher Knapps und Grünbergs begründet. Knapps Buch bezeichnet Simmel als »das wundervolle Werk« (BP: 195), bei Grünberg spricht Simmel von einem »tief eindringenden und anschaulichen Werke«, welches die Kenntnisse über die hinter dem Aufhebungsprozess der Leibeigenschaft steckenden politischen Interessen, Widerstände und Bemühungen »bereichert« habe (BB: 311). Bei diesen das Werk beurteilenden Kommentaren belässt es Simmel. Um mehr als einen »Inhaltsbericht« handelt es sich bei dem gut 27 Seiten umfassenden Schriftstück über Knapps Werk, denn Simmel sieht Anlass zur soziologischen Umformung des von Knapp gelieferten Materials: »Einzelne Punkte der von Knapp geschilderten Vorgänge gaben dem Verfasser Veranlassung zu den eingestreuten sociologischen Betrachtungen.« (BP: 195) Simmel lässt dabei die Grenze zwischen der Darstellung Knapps und seinen Hypothesen verschwimmen. Die explizite Selbstmarkierung durch ein »Ich vermuthe« ist die Ausnahme (ebd.: 197). Dies erschwert eine getrennte Referierung auf Knapp oder Simmel, sei dies von Simmel gewollt oder ungewollt. Ähnlich verhält es sich bei der

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durch das Grünberg-Buch gefütterten, sogenannten »Skizze«. Simmel erwähnt den Autoren Grünberg explizit noch ein einziges Mal, und dies ausgesprochen lobend für dessen »echt sociologischen Blick« (BB: 318). Auch trifft man in letzterem Text auf die im fünften Kapitel der »Philosophie des Geldes« wieder anzutreffende Überlegung Simmels, dass der Tausch Geld gegen Bodenrechte den Bauern nicht einfach nur das Geldäquivalent für den Wert eines Stücks Land gegeben hat, der Bauer darüber hinaus ein in Geld nicht zu bemessendes Objekt sinnstiftender Tätigkeit verloren habe (vgl. ebd.: 319). Die Texte Simmels waren bereits durch die geldtheoretische Perspektive eingefärbt, auch wenn Simmel 1894 noch vergleichsweise am Anfang stand: Nachdem er 1889 seine Geldpsychologie veröffentlichte, sollte der nächste Geld-Aufsatz erst 1896 erscheinen (»Das Geld in der modernen Cultur«). In dieser Zeit veröffentliche auch Max Weder seine Studien zur aufkommenden kapitalistischen Entwicklung in der deutschen Landwirtschaft nach Aufhebung der feudalherrschaftlichen Verhältnisse (»Die ländliche Arbeitsverfassung« 1893 und »Entwickelungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter« 1894) im Auftrag des »Vereins für Socialpolitik«, dem Zusammenschluss deutscher Ökonomen. Im Folgenden werde ich Simmels Texte zur Bauernbefreiung als eigenständige Beiträge zur Entfaltung seines geldphilosophischen Liberalisierungsnarrativs behandeln und durch die späteren geldtheoretischen Analysen rahmen. Das Feudalsystem war keine Evolution der antiken Sklaverei, es ging nicht als eine Art logischer Schritt aus dieser hervor. Der neuzeitliche Feudalismus war eine eigenständige Entwicklung des 15. und 16. Jahrhunderts. Bis dahin, so Simmel, sei der Bauer »ein freier Mann [gewesen]«, und zwar sowohl in Bezug auf »Leistungen«, »Eigenthum« und »Vererbung« (BP: 196). Sozialgeschichte verläuft nicht in linearer Progression, sondern in Brüchen. Die Entstehung der bäuerlichen Leibeigenschaft, so Simmel, sei durch einen »Mangel an Macht« einer zentralstaatlichen Instanz zu erklären (ebd.: 196). Simmel zählt mehrere mögliche Wege auf, durch die dieses zentralpolitische Machtvakuum ausgenutzt wurde. Ein Territorialherr kann adeligen Rittern die Herrschaft über bestimmte Bezirke zusprechen, auf denen sich bereits Bauern befinden. Oder aber umgekehrt sucht der Bauer bei den Rittern Schutz vor der »Unsicherheit der öffentlichen Zustände« – Simmel spricht wenig später auch von »mit Gewalt durchschossenen Rechtsverhältnisse[n]« (ebd.: 197) – oder vor der Einberufung zum Kriegsdienst, der den Bauer von der Arbeit am Hof wegziehen und damit seine »wirtschaftliche Existenz« bedrohen würde (ebd.: 196). Der Ritter zog dann stellvertretend für den Bauern in den Krieg. In diesem Fall habe der Bauer das Eigentum an seinem Land zu einem Pfand für die dem Herrn im Austausch für dessen Schutz oder stellvertretende Kriegsleistung abzugeltenden Dienste gemacht. Ohne die Intervention einer zentralpolitischen Instanz, so Simmel, tendieren Machtgefälle zwischen Über- und Untergeordneten zu einer Selbstverstärkung, und genau so sei es in der Einrichtung der Feudalverhältnisse gekommen. So habe der Herr die gegen Schutz verlangten Frondienste auf seinem Land allmählich immer weiter ausdehnen können (vgl. ebd.: 197). Dieser Teil der »Bauernbefreiung« floss auch noch in die »Soziologie« ein: Das Land war Eigentum des Feudalherrn, und dem Bauern wird ein Stück Grund und Boden zur eigenen Nutzung anvertraut; dafür aber hatte er dem Herrn unentgeltliche Dienste auf dessen Acker zu leisten (vgl. SOZ: 795). Auch das ursprünglich als Pfand in das Schutzverhältnis gegebene bäuerliche Eigentum eignet sich der Gutsherr allmählich an. Simmel stellt hierbei nur grob umrissene Spe-

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kulationen über einen sozialpsychologischen Mechanismus an, wonach sich im Laufe der Generationen das Zugriffsrecht auf das bäuerliche Eigentum im Falle der NichtLeistungserfüllung umwandelte in die Vorstellung eines allgemeinen, mit Eigentumsrechten verbundenen Zugriffsrechts des Herrn (vgl. BP: 198, BB: 311). Das Feudalverhältnis blieb aber, wie Simmel beschreibt, nie einseitig, sondern war eine, wenn auch personalisierte, Wechselwirkungsform. Der Feudalherr unterstützte den Bauern im Falle notwendiger Reparaturarbeiten, gewährte diesem »Hütungsrechte auf der herrschaftlichen Weide und im Walde« (BP: 199; vgl. auch BB: 312). Aus Eigeninteresse habe der Herr weiterhin auf den Erhalt der bäuerlichen Arbeitskraft geachtet (vgl. BP: 199). Auch weist Simmel darauf hin, dass der leibeigene Bauer im Unterschied zum Sklaven zumindest de jure Rechte hatte. Er konnte seinen Feudalherrn vor Gericht verklagen, und »er konnte verfügbares Eigenthum erwerben, er brauchte seine Dienste nicht einmal persönlich zu leisten« (BB: 312). Er war kein Eigentum des Feudalherrn (ebd.: 311-12). Dagegen habe es scheinbar eine vorherrschende »Rechtlosigkeit der Bauern« in Polen und Russland gegeben (ebd.: 312). Die Personalisierung der sozialen Beziehung zwischen Herrn und Knecht zeigte sich nicht nur darin, dass, mehr oder minder, Leistung gegen Leistung ausgetauscht wurde und nicht Leistung gegen Geld, und dass, schließlich, letzteres auch den – wenn auch formalen – Charakter des freiwilligen Kontraktschlusses besaß, womit die Verfügungsgewalt über die eigene Arbeitskraft einherging. Die Herrschaftsbeziehung unterschied nicht zwischen Person und der Ware Arbeitskraft, sondern erstreckte sich auf das ganze Individuum. Ohne Erlaubnis des Grundherrn durfte der Bauer sein Land nicht verlassen – das ist mit »Schollenpflicht« bezeichnet –, und auf Gebot des Herrn hatte der Bauer auch ein bestimmtes Land in seine Obhut zu nehmen (vgl. BP: 199).101 Die Ehe, eine vermeintlich rein private Entscheidung, unterlag dem Veto des Grundherrn (vgl. BB: 312). Denn wer die falsche heirate, so das Kalkül, stecke womöglich unnötig Energie in eine Beziehung, die den Fronden entzogen würde (vgl. BP: 199). Es ist die Bemerkung wichtig, dass Simmel in der »Philosophie des Geldes« eine mittlere Stufe zwischen Freiheit und Unfreiheit im personalen Verhältnis zwischen Herr und bäuerlichem Knecht unterschied. Diese mittlere Stufe besteht darin, dass der Bauer nur eine fixe Menge oder einen bestimmten Anteil seiner Ernte an seinen Herrn abzuliefern habe, eine persönliche Arbeit auf dessen Land wird nicht verlangt. Dies lasse, je nach konkreter Ausgestaltung, mehr privaten Freiraum (vgl. PDG: 377). Diese mittlere Stufe ist aber, wie Simmel sagt, nicht notwendigerweise als zeitlich mittlere Stufe zu sehen. Die Naturallieferung folgt nicht linear auf die Frondienste, sondern geschichtlich sei es sogar »sehr oft« (ebd.: 376) so gewesen, dass das frondienstliche Herrschaftsverhältnis auf das der Naturallieferung folgte. So sei »die bäuerliche Freiheit […] wesentlich im deutschen Osten« des 13. Jahrhunderts bereits einmal sehr weit fortgeschritten gewesen, was Simmel ebenso in Korrelation setzt mit einer ausgeprägten Geldwirtschaft wie die wachsende Unfreiheit der Bauern mit einem zwischenzeitlichen Verfall geldwirtschaftlicher Verhältnisse (ebd.: 430-31). Die »Philosophie des Geldes« ordnet das historische Material nach einer gedachten

101 Darin inbegriffen war das Erlernen eines Handwerks, was ebenso von der Zustimmung des Feudalherren oder seines stellvertretenden Beamten abhing (vgl. Henning 1996: 46).

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Stufenfolge einer Begriffsform, die »Bauernbefreiung« dagegen testet soziologische wie auch psychologische Hypothesen an einem historischen Verlaufsprozess, geht also umgekehrt vor. Diese beiden Perspektiven sollten nicht verwechselt werden. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts habe es Versuche seitens preußischer Monarchen gegeben, die Bauern aus den Feudalverhältnissen zu befreien (vgl. BP: 200). In den österreichischen Landen gaben die Bauernaufstände 1679 und 1767 Anlässe zur politischen Regulierung des Verhältnisses, ohne die Vorrechte des Adels überhaupt beschneiden zu wollen (vgl. BB: 315, 319-21). Ferner gab es in Österreich finanzielle Motive, durch den Gewinn von Bauernland aus der Hand der Gutsbesitzer Steuerquellen zu eröffnen, die dem Fiskus durch adelige Privilegien teilweise verschlossen blieben (vgl. ebd.: 317-18). Lange Zeit blieben diese Unternehmungen aber erfolglos. Die Feudalherren hatten ein Interesse am Erhalt des Status Quo, aber auch die Bauern. Diese argumentierten aus Motiven der Gewöhnung: »[S]ie hätten immer einen Herrn gehabt und wollten einen behalten; ohne die bisherige Hilfe könnten sie nicht bestehen und verzichten deshalb lieber auf die Freiheit und den eigenen Besitz.« (BP: 202). Die Perspektive auf den Bauern als Stand gewordene Tradition – ganz gleich in welche inhaltliche Richtung – zeigte sich auch in späteren Werken Simmels (vgl. PDG: 478). Bevormundungsverhältnisse bergen nicht automatisch einen gegen sich selbst gerichteten Widerstand, und unterschiedliche, unter anderen Gesichtspunkten als schlecht beurteilte Einrichtungen können ein und dasselbe Bedürfnis befriedigen, wie beispielsweise das »Bedürfnis nach Sicherung des Lebens« (BP: 219). Diesen Punkt übernahm Simmel in die »Philosophie des Geldes«, wenn auch generalisiert und modifiziert durch lebensphilosophische Annahmen: Verhältnisse der Unfreiheit wie die der Feudalherrschaft können sinnstiftend wirken. Sie formen die Kräfte des Individuums und geben ihm damit jene Grenzen, die andernfalls das Individuum aus sich selbst heraus setzen müsste (vgl. PDG: 549-55).102 In Österreich verhielt es sich Simmel zufolge so, dass bis einschließlich der Herrschaft Maria-Theresias über Österreich die Reformbereitschaft nur soweit gegangen sei, das bestehende Recht liberal zu deuten, es aber nicht umzustürzen und durch ein neues Recht zu ersetzen. Die Form blieb unangerührt. Es war der auf Maria Theresia folgende König Joseph II., der »neue Zustände sozusagen durch Usurpation zu schaffen [strebte], durch den Gedanken, daß es über allem codificirten Recht eine Instanz gebe, von der dieses erst seine moralische Berechtigung entlehne, so daß das neue Recht, vom Standpunkt des alten aus gesehen, zwar Unrecht, vom Standpunkt jenes höheren aber doch Recht sei.« (BB: 323; Hervorhebung PB)

Und weiter meint Simmel, diese »ungeheure Wendung des sittlichen Empfindens« sei »mit der französischen Revolution zum Durchbruch [gekommen]« (ebd.: 323).

102 Formgebung, Gewöhnung an die Form und Formverlust zeigte sich auch im Verhältnis der Befriedigung religiöser Bedürfnisse durch das Christentum. Simmel zufolge hat sich das religiöse Individuum an die Befriedigung durch das Christentum gewöhnt. Die intellektuelle Diskreditierung des Christentums konnte das religiöse Begehren nicht löschen. Eher war es nach Simmel so, dass das religiöse Begehren den Verlust eines stimulierenden Objektes zu beklagen hatte (vgl. PDG: 491-92; SN: 177-78).

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Joseph II: zielte auf die vollständige Befreiung der Bauern aus ihren Diensten, welche diese durch »Geldleistung« abgelten sollten (ebd.: 326). Joseph II. verstarb jedoch früh, weshalb sich die endgültige Durchsetzung bis zu neuerlichen Bauernaufständen während der revolutionären Erhebung im Deutschen Bund 1848 verzögerte (vgl. ebd.: 327). Die Französische Revolution sorgte auch für die »Wende« in der »Sache« in Preußen.103 Die Niederlage Preußens gegen die napoleonischen Truppen im Jahr 1806 waren es, welche »das Land im Zustand unseligster Zerrüttung und Verarmung zurückliess.« (BP: 209) Genau diese »Zerrüttung« infolge des verlorenen Krieges war Anlass für eine grundlegende Reformation des preußischen Staatswesens, in dem der eigentliche Grund für die Niederlage gesehen wurde – »als ob nur durch eine Abkehr von der Verfassung, auf deren Boden ein solches Unheil überhaupt möglich war, ein Heil zu finden sei.« (Ebd.: 209) Nicht eine einzelne Stellschraube, sondern der gesamte Apparat musste reformiert werden.104 Die Umwälzung der preußischen Verhältnisse durch den Krieg – so erschließt es sich mir implizit – sieht Simmel als Symptom der mit der Französischen Revolution erstmals entbundenen Ideale von Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Die Revolution habe die »Verwerfung alles Historischen« zu ihrem Motiv gehabt, so Simmel (ebd.: 208; Hervorhebung PB). Diese liberalisierende Kraft durchwirkte nun auch Preußen. Unter dem neuen begrifflichen Horizont veränderte sich die Sichtweise auf die Ständegesellschaft, wie Simmel mit Beruf auf eine Erklärung der Königsberger Immediatkommission105 aus dem Jahr 1807 beschreibt: Warum sollte der bäuerliche Untertan nicht versuchen, das Beste aus sich zu machen, statt an Ort und Stand seiner Geburt verhaftet zu bleiben? Simmel spricht auch von einem »laisser faire, das damals von den Aufgeklärten als die überlegene staatswirthschaftliche Weisheit betrachtet wurde.« (Ebd.: 209; Hervorhebung im Original) In Deutschland bzw. in Preußen fanden liberale Ideen über die Ausbildung von Verwaltungsbeamten an Universitäten ihren Weg in die Ministerialbürokratie, wie beispielsweise in Königsberg (vgl. Henning

103 Was die tatsächliche Wirkmacht der Französischen Revolution anbelangt, lässt sich folgendes sagen: »Die Auswirkungen der französischen Revolution haben allerdings die bestehenden Systeme ins Wanken gebracht und eher für eine Beschleunigung der Durchführung von Reformen bereit gemacht oder die Verwirklichung solcher Reformansätze beschleunigt.« (Henning 1996: 27; Hervorhebung PB) 104 Fast 120 Jahre später schreibt der Wirtschaftshistoriker Dieter Ziegler ähnliches im Kontext der preußischen Weichenstellungen für die Industrialisierung: »Nach der vernichtenden Niederlage gegen Napoleon gab es für die preußische Staatsführung nur noch zwei Möglichkeiten: den Untergang oder die grundlegende Reform der Gesellschaft. Genau ein Jahr nach der Niederlage legte Hardenberg seine Rigaer Denkschrift vor und leitete damit die preußischen Reformen der Wirtschafts- und Sozialverfassung ein, die als eine notwendige Voraussetzung für die folgende Durchsetzung von Marktwirtschaft und Marktgesellschaft angesehen werden müssen.« (Ziegler 2005: 198) 105 Simmel schreibt Immediatkommission mit »c« statt mit »k«. Immediat kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »unmittelbar«. In dem hier vorliegenden Kontext liegt die Interpretation nahe, dass es sich bei der Immediatkomission um eine direkt vom preußischen König beauftragte Arbeitsgruppe gehandelt hat.

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1996: 16). Eine Hegemonie liberalen Denkens existierte aber scheinbar nicht, eher ein »Kräftedreieck« aus ständischen, absolutistischen und liberalen Ideen (ebd.: 23). Mit Beruf auf den Nationalökonom Johann Gottfried Hoffmann hebt Simmel die damals zu erwartenden ambivalenten Wirkungen eines durch die Reformen freigesetzten Tagelöhnerstandes hervor. Materiell gesehen würde es den freien Bauern besser gehen als den schollenpflichtigen Bauern, aber ideell gesehen werde der Übergang in den Tagelöhnerstand in den Bauern »das bittere Gefühl einer Deprivation« hervorrufen (BP: 213). Wie oben bereits bemerkt, beobachtete Simmel Ähnliches für die Bauernbefreiung in Österreich (vgl. BB: 319). Weiterhin, so Simmel, seien die Bauern nicht an den Umgang mit größeren Mengen Geld bzw. Vermögen gewohnt gewesen. Würde man sie zu markt- und kreditfähigen Eigentümern von Grund und Boden machen, würden sie entweder sehr leicht zu einem Opfer von Missbrauch oder umgekehrt von vornherein eine Aversion gegen das ungewohnte Geldgeschäft hegen (vgl. BP: 205). Zeitweise war der Übergang aus dem feudalen Vormundschaftsverhältnis in beiderseitige Freiheit optional. Der Bauer hatte noch 1811 die Wahl, einen entsprechenden Regulierungsantrag zu stellen (vgl. ebd.: 214-15). Der weitere Befreiungsprozess verlief regional unterschiedlich, und er variierte auch danach, auf welche konkreten Dienste sich das Feudalverhältnis bezog. So hing die auf Antrag hin erfolgende Ablösung der Naturalabgaben und Frondienste in eine jährliche oder einmalige Geldabgabe davon ab, ob es sich bei den abzulösenden Diensten um Spann- oder Handdienste handelte (ebd.: 217-18). Noch 1848, dem Jahr der Märzrevolution, waren die feudalen Strukturen nicht vollständig aufgehoben, auch wenn sie dem »Strom des Liberalismus« eher entgegengestellt waren (ebd.: 218). Eine weitere Etappe zur Aufhebung der Abhängigkeitsverhältnisse bildete das Jahr 1850 mit dem Verbot abergläubischer Rituale wie dem sogenannten Gänserupfen. Die Chronologie endet mit dem 31. Dezember 1858, welchen die Gutsbesitzer als Frist für die Einreichung von Regulierungsanträgen durchsetzen konnten. Allerdings schätzte Simmel, dass dies für den Fall eines einseitig bekundeten Interesses an der Aufkündigung des Verhältnisses zwischen Bauer und Gutsherrn keine Rolle mehr gespielt hätte (vgl. ebd.: 218-19). Langwieriger müssen dagegen die Kompensationszahlungen an die nun ehemaligen Feudalherren gedauert haben, für die Simmel zufolge eigens »Rentenbanken gegründet [worden sind], die die Entschädigungsrentenzahlung wie die Amortisation des Capitals vermitteln.« (Ebd.: 218) Über die Dauer der Ablösungszahlungen sagt Simmel nichts, was daran gelegen haben könnte, dass die Zinse bei Abfassung seines Aufsatzes noch nicht abgegolten waren.106 Die zwischen Gutsherr und Bauer tretende Rentenbank ist symbolisch und beispielhaft zu verstehen für den allgemeineren, breitenwirksamen Prozess der Liberalisierung. Allgemein transformiert sich die Personalität der sozialen Wechselwirkung der Feudalverhältnisse in unpersönliche, monetär vermittelte. Die Individuen treten vorrangig in Beziehung

106 Henning zufolge »gibt es keine zuverlässigen statistischen Angaben«, sondern allein plausible Schätzungen über das quantitative Ausmaß der gesamten Zahlungsströme. Was ihre Dauer betrifft: Die durch staatliche Rentenbanken vermittelten Zinszahlungen, so Henning, hätten sich »teilweise bis in das beginnende 20. Jahrhundert [hineinerstreckt].« (Henning 1996: 76; Hervorhebung im Original)

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zum Geld bzw. zur die Geldströme vermittelnden Rentenbank107, und erst dann, vermittelt über das Geld, in Beziehung mit anderen Individuen. Der sich in Simmels »Inhaltsbericht« andeutende, sich dann sowohl durch die »Philosophie des Geldes« wie auch die »Soziologie« ziehende rote Faden der Argumentation ist der, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Monetarisierung ausdifferenziert, objektiviert und versachlicht hätten.108 Einmal fand eine soziale Differenzierung nach Kapital und Arbeit statt (vgl. SOZ: 795): Ein Teil der Bauern wird zum vollständigen Eigentümer eines Teiles jenes Landes, das sie bis dahin bewirtschaftet und gegen Geldzahlung ihren alten Feudalherren abgekauft haben. Ein anderer Teil der Bauern verkaufte sein Stück Land und wurde zu lohnabhängigen Arbeitern. Ihr Einkommen verdienten sie sich dann oft als Landarbeiter bei ihren ehemaligen Feudalherren. Das mussten sie nicht notwendigerweise, denn zumindest prinzipiell waren sie jetzt frei in der Wahl ihres Berufs, durch den sie ihr Geld verdienten. Der ehemalige Feudalherr war seiner obligatorischen Solidarpflichten entledigt, und er war ebenso Volleigentümer seines Landes, an dem bis dahin die hörigen Bauern noch teilweise Nutzungsrechte besaßen. Dafür stand dem Gutsherrn die Arbeitskraft des Bauern nicht mehr wie selbstverständlich zur Disposition, sondern sie wurde zu einer gegen Geld zu erwerbenden Ware, die er zur weiteren Bewirtschaftung seines Landes benötigte. Des Weiteren bewirkte die geldwirtschaftliche Durchdringung der Sozialverhältnisse eine Veränderung des Verhaltens auf beiden Seiten der geldvermittelten Beziehung, die man mit Simmel als Versachlichung oder auch als Rationalisierung bezeichnen kann. Die durch Erbuntertänigkeit gesicherten Dienste boten weder Anreize noch günstige Bedingungen zur Rationalisierung des betriebswirtschaftlichen Verhaltens. Muss der Herr einen vertraglich definierten Geldpreis zahlen, werden die ökonomischen Kosten dagegen sichtbar, weil in Geldpreisen quantifizierbar. Weil dazu noch die Rechts- und Eigentumsverhältnisse klar differenziert waren, war nun eine die Geschäfte dokumentierende Buchführung möglich, aber auch angeraten: »Erst als die Arbeiten auf den klaren Ausdruck, den das Lohnverhältnis zulässt, gebracht waren, erst als durch die Regulirung der Gutsherr bestimmt wusste, was er verfügbar besass und was nicht, war eine regelmässige und zuverlässige Buchführung sowohl möglich wie erfordert.« (BP: 220) Eine ähnliche Rationalisierungsmöglichkeit des wirtschaftlichen Handelns durch das Mittel Geld attestierte auch Max Weber (2010: 61-64).109 Auch die Bauern, ob nun als abhängige Lohnarbeiter oder unabhängige Eigentümer ihres Grund und Bodens, würden nun rationaler wirtschaften. Ist mit der landwirtschaftlichen Arbeit ein Eigeninteresse verknüpft – wie es sowohl bei der Ar-

107 Analog dazu die Beziehung der Individuen zur das Geld emittierenden Zentralmacht. 108 So auch Henning, der ihre Funktion in einer »Objektivierung ländlich-landwirtschaftlicher Verhältnisse« sah (Henning 1996: 71; Hervorhebung im Original). Die ehemaligen Feudalherren erhielten von der Rentenbank verzinste Wertpapiere, die Bauern wiederum hatten Zinsen an die Rentenbank zu zahlen (vgl. ebd.: 71). 109 Ebenfalls ähnlich, meines Erachtens aber deutlicher als Simmel betont Max Weber, dass die »formale ›Rationalität‹ der Geldrechnung […] an sehr spezifische Bedingungen geknüpft [ist]«, und zwar an »den Marktkampf« und die »Marktfreiheit« (Weber 2010: 77; Hervorhebung im Original).

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beit an eigenem Eigentum wie auch bei geldentlohnter Arbeit an fremdem Eigentum der Fall ist –, geschehe diese Arbeit sorgfältiger und effizienter, als dies bei unentgeltlicher Leistungsverrichtung an fremdem Eigentum der Fall ist. Die mit der erhöhten Produktivität verbundene »Zunahme des Volkswohlstandes« war auch eine Erwartung seitens der deutschen Obrigkeit in die Wirkungen der Bauernbefreiung (Henning 1996: 52). Eine Effizienzauslese erfolgte auch vonseiten der Gutsherrn: Denn diese können aus der Menge der angebotenen Arbeitskraft Individuen »nach ihrer Tüchtigkeit auswählen«, was unter diesen »zu einer Concurrenz und der dieser entspriessenden Steigerung der Tüchtigkeit führen musste.« (BP: 212) Dies lenke den Fokus der Selektion auf die reine Sache (vgl. SOZ: 324). Ein und dieselbe Arbeitskraft konnte von ihrer Funktion her durch beliebige Individuen geliefert werden, die Person – die »Substanz« – hinter der Arbeitskraft wird austauschbar (vgl. PDG: 400). Dieser Aspekt der unpersönlichen Beziehung zwischen Arbeit und Kapital ist für Simmel die Kehrseite des Verlusts an Verantwortung und Kontrolle über den gesamten Menschen: »Die Befreiung des Arbeiters muß sozusagen auch mit einer Befreiung des Arbeitgebers, d. h. mit dem Wegfall der Fürsorge, die der Unfreie genoß, bezahlt werden.« (Ebd.: 400; vgl. dazu auch Cantó i Milà 2003: 209-10) Tatsächlich stellte der Wegfall der Fürsorgepflicht auch für den Gutsherrn eine Befreiung dar. Das starke Bevölkerungswachstum um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert konnte nicht überall durch Beschäftigungsmöglichkeiten auf den Landen der Gutsbesitzer aufgefangen werden, so dass die Hörigen allein der Fürsorge zur Last fielen. Die Auflösung des beide Seiten in die Pflicht nehmenden Feudalismus war deshalb auch ein Wunsch der Feudalherren selbst (vgl. Henning 1996: 26-27). Es sollte schließlich angemerkt werden, dass Simmel beispielsweise nicht auf die materielle Frage einging, ob ehemalige hörige Bauern zu Arbeitgebern anderer ehemaliger höriger Bauern geworden sind – anstelle einer ursprünglichen, mehr oder minder sozialen Gleichheit zwischen den Bauern also eine Differenz in Kapital und Arbeit tritt. Simmel schweigt dazu, ihm geht es allein um die Herausschälung einer von der Individualität absehenden Verhältnisform. Im Fokus steht die »scharfe Differenzierung« (SOZ: 795) oder auch »scharfe Sonderung« (BP: 221): dass »der eine Teil […] zu reinen Eigentümern, der andre zu reinen Arbeitern [wurde].« (SOZ: 795; wortwörtlich identisch, nur in anderer Schreibweise auch zu finden in BP: 221) Ebenso wenig ein ging Simmel auf die Frage der Wanderbewegung der Landarbeiterschaft in die boomende Industrie in den Städten (vgl. dazu Henning 1996: 75). Eine weitere soziale Differenzierung in Arbeit und Kapital beobachtet Simmel als das Ergebnis der Auflösung einer weiteren Institution, der Zunft. Diese war ebenso wenig eine reine ökonomische Interessenorganisation, wie es der feudalherrschaftliche Betrieb war, sondern eine das ganze Individuum vereinnahmende Lebensgemeinschaft. Gegen die auf Ergebnisgleichheit ausgerichtete Regulationsform der Produktion – keine freie Auswahl des Angebots, keine frei gewählte Anzahl an Betrieben – wie des Verkaufs – keine freie Wahl des Preises – habe sich irgendwann der Widerwille unter Handwerksmeistern geregt (vgl. SOZ: 793). Simmel ist recht unbekümmert um historische Details, und auch hier geht es ihm eher um die Überwindung der sklerotisch gewordenen Form, was »zum Teil unter schweren Kämpfen« gelang (ebd.: 793). Die Loslösung von den Bindungen der Zunft hatte eine Differenzierung in »Reiche und Arme, Kapitalisten und Arbeiter« zur Folge (ebd.: 793-94). Denn die gewonnene Freiheit konnte dazu ausgenutzt werden, die jeweils individuellen öko-

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nomischen Energien zu entfalten: Eigene Ideen fließen in die Produktgestaltung, Preise und Absatzmärkte können selbst und nach individueller »Chancenberechnung« gewählt werden (ebd.: 794). Die zuvor bereits vorhandenen, aber durch die Zunft gebundenen ungleich verteilten Talente lebten sich nun aus in »immer schärferen Spezialisierungen und Individualisierungen« bis hin zur »Sprengung« der Zunft (ebd.: 794). Die Zunftauflösung war Element der breiten Durchsetzung der Gewerbefreiheit (vgl. Henning 1996: 128-146).110 Das liberalistische Ideal von Freiheit und Gleichheit realisiert sich in der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft: Die Individuen treten vorrangig und zuerst in Beziehung zum Geld, und erst vermittelt über das Geld treten sie in Beziehung zu anderen Individuen, ganz gleich, ob sie kaufen oder verkaufen, die sozialen Beziehungen sind primär monetärer Natur. Außerdem sind alle vor dem Geld gleich – Geld »nivelliert« (PDG: 691; vgl. auch ebd.: 130, 428, 540-41). Materielle Egalisierungstendenzen kann Simmel damit nicht gemeint haben. Denn bei absolutem materiellem Aufstieg aller Schichten, so Simmel, würde es eine zunehmende materielle »Kluft« zwischen den Schichten in Bezug auf deren »Lebenshaltung« geben (ebd.: 607).111 Was sowohl mit der Aufhebung feudalherrschaftlicher Verhältnisse als auch der Auflösung der Zünfte parallel zerfiel, war »ein erheblicher Teil auch des Netzes der sozialen Absicherung gerade in Notfällen« (Henning 1996: 18; Hervorhebung im Original). Diese war bis dato Aufgabe der genannten traditionalen Einrichtungen. Die allein gewonnene negative Freiheit und die Verelendung breiter Schichten im städtischen Proletariat trieben den Reichskanzler Bismarck ab 1883 dazu, deren revolutionäres Potenzial mit der allmählichen Einführung des Sozialstaates einzuhegen. Die Unsicherheit stiftende Freiheit des Marktes artikuliert sich in einem Bedarf nach einer – wie auch immer im Detail ausgehandelten – Kompensation durch Sicherheit gewährende Planken des Staates (vgl. ebd.: 18). Wirtschaft wird Weltwirtschaft mit der Ausdehnung der sozialen Beziehungen, innerhalb derer Individuen im Austausch mit anderen stehen. Um den Ausdehnungsgrad einer Weltwirtschaft zu gewährleisten, bedarf es Geld, denn Geld synthetisiert die Tauschform bei maximal heterogenen Interessen (vgl. PDG: 470). Die »Bauernbefreiung« war ein materielles Beispiel für diesen Zusammenhang: Die Individuen gewinnen mit Aufhebung der Feudalherrschaft eine private und berufliche Bewegungsfreiheit, und dies tun sie, indem sie nur noch für Geld arbeiten. Das Beispiel ist materiell gesehen natürlich weit entfernt von der konkreten, voranschreitenden Globalisierung des 19. Jahrhunderts, den Abschlüssen von Handelsverträgen oder den divergierenden wirtschaftspolitischen Interessen zwischen Industriellen und Groß-

110 Die Durchsetzung der Gewerbefreiheit entkoppelte die soziale Herkunft von der Bindung an den Beruf. Dieser war nun dem Prinzip nach frei wählbar: »Durch die Einführung der Gewerbefreiheit wurden zunächst insbesondere die ständischen Beschränkungen aufgehoben, d. h. ein Adliger oder ein Bauer konnte eine gewerbliche Produktion für den Markt ebenso beginnen, wie ein Handwerker oder ein Adliger Bauer werden konnte. Die soziale Herkunft war nicht mehr entscheidend.« (Henning 1996: 129; Hervorhebung im Original) 111 Eine Unterscheidung zwischen Einkommens- und Vermögensungleichheit zieht Simmel nicht.

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grundbesitzern in Bezug auf zollpolitische Maßnahmen. Die Bauernbefreiung atmet für Simmel aber denselben liberalistischen Geist wie die Herausdifferenzierung der Weltwirtschaft. Mit dem Aufkommen einer Weltwirtschaft differenziert sich auch ein die partikularen Wirtschaftskreise umfassender, abstrakter Vermögenswert Geld heraus, der, aus der Abstraktion heraus, nun umgekehrt zur Neuschöpfung von jeweils konkreten Inhalten drängt. Welche Gestalt diese Inhalte aber genau annehmen sollen, darüber sagt die abstrakte Geldform nichts aus. In diesem Sinne ist es, wenn Simmel sagt, Geld weise eine »unendliche Biegsamkeit« auf, die erst die »Vielheit ökonomischer Abhängigkeiten« erlaube (ebd.: 395). Für die Umsetzung in materielle Produktion bedarf es der »Trägerschaft« durch die Individualität des Lebens.

8.5 GELD ALS DIE UMFASSENDE EINHEIT VON LEBEN UND FORM »Gott«, so Simmel in seinem Religionsbuch, ist »die Einheit des Daseins« (DR: 104). Diese Einheit sei denkbar nur in der Form der »Einheit als Wechselwirkung«, in der Gott zugleich »dem Individuum gegenüber[trete]« und, als Form, über das Individuum »hinweggreift.« (Ebd.: 105; Hervorhebung im Original) In der »Lebensanschauung« schob Simmel die Transzendenz Gottes in die Immanenz des Lebens. Die absolute Einheit des Lebens war nun ein Leben, das im Dualismus von Leben und Form fortwährend noch zu werden hat. Gott ist ein werdender Gott geworden – Simmel sprach denn auch von »der extensiven Darstellung der absoluten Einheit des Seins« (LA: 225; Hervorhebung PB). Die schöpferische wie zerstörerische Kraft des Geldes als Symbol der »Tauschbarkeit der Gegenstände« (PDG: 122) habe ich bereits zu demonstrieren versucht. Geld entsteht aus und mit der Verselbständigung einer Weltökonomie. Soll das Geld einem werdenden Gott gleich – so hatte es Hans Blumenberg (1976: 131) genannt – die absolute Einheit von Leben und Form bilden, darf der Wirkungsradius des Geldes jedoch nicht auf die ökonomische Sphäre beschränkt bleiben.112 Und so lesen wir auch gegen Ende der »Philosophie des Geldes«, dass das Geld »das Symbol, im Engen und Empirischen, der unsagbaren Einheit des Seins [ist], aus der der Welt in ihrer ganzen Breite und all ihren Unterschieden ihre Energie und Wirklichkeit strömt.« (PDG: 695) Simmel spricht weiter von der »Kraft des Seins«, dem sich »von allem Äußerlich-Praktischen […] das Geld am meisten [nähere].« (Ebd.: 695-96) Es war für Simmel die genuin philosophische Intention bei der Abfassung der »Philosophie des Geldes«, »den Teil für das Ganze« zu nehmen –

112 In diesem Punkt liegt eine Differenz von Simmel zu Luhmann. Luhmann meint, »Geld ist instituierte Selbstreferenz. Geld hat keinen ›Eigenwert‹, es erschöpft seinen Sinn in der Verweisung auf das System, das die Geldverwendung ermöglicht und konditioniert.« (Luhmann 1988a: 16) Ob es eine Rolle spielt, dass es sich bei Simmel um eine philosophisch intendierte Differenz handelt – hierbei bin ich mir nicht sicher. Die Aussage Luhmanns, Geld besitze »keinen Eigenwert«, ist als Behauptung der Systemabhängigkeit des Sinnes von Geld als symbolisch generalisiertem Kommunikationsmedium zu sehen, nicht aber, wie Paul Luhmann verkürzend liest, im Sinne der Negation eines ökonomischen Wertes, welchen das Geld im Markttausch erwerben kann (vgl. Paul 2012: 233-34).

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»für« die Stellvertreter- und Zeichenfunktion heraushebend –, in das »Unendliche und Absolute« hinauszuführen und von dort aus alle anderen Seins-Elemente als »abgeleitet« zu verstehen (HPH: 32; Hervorhebung PB; vgl. auch PDG: 12-13). In dem hier vorliegenden Falle sind die anderen Seins-Elemente die Individualität, die Welt der Vergesellschaftung und die Welt der Kultur. Mit der »Philosophie des Geldes« werden sie als Derivate des Geldes behandelt. Die Eigenweltlichkeit von Gesellschaft und Kultur, die Möglichkeit individueller Kultivierung und freier Assoziation mit anderen, sie müssen dem philosophischen Imperativ gemäß auf das Geld zurückbezogen werden (können). Die umwälzende Wirkung der Geldwirtschaft auf die Natur findet ebenso Erwähnung, sofern die technisierte Beziehung des Individuums zur Natur neue Freiheits- wie Abhängigkeitsverhältnisse schafft (vgl. PDG: 384-85, 672-75). Der Naturaspekt bleibt bei Simmel aber, tendenziell, eher außen vor. Der Grund dafür könnte der sein, dass Simmel Geld vorrangig als soziokulturelle Einrichtung zur Formung des Verhältnisses zwischen dem individuellen Leben einerseits und der Kultur- wie Sozialwelt andererseits beobachtet, dementsprechend auch deren Implikationen als Gegenstand der Analyse präferiert. Eine ähnliche, eher ›stiefmütterliche‹ Rolle wies Simmel der Natur auch in seiner Religionstheorie zu. Aber es sollte klar sein, dass die Einheit des Seins nunmal auch das natürliche Sein umfasst, wo und wie auch immer genau die Grenzlinien und die neuerliche Synthese zwischen Natur, Kultur und Sozialität zu ziehen wären (vgl. ebd.: 617-20; WK: 363). Der Rückbezug der Weltverhältnisse des individuellen Lebens auf die Geldform hat in der Analyse nun so auszusehen, dass das Geld umfassende, absolute Form der Wechselwirkung ist. Mit der Modifikation allerdings, dass diese Form des Absoluten eine Objektivation der Individualität des Lebens zu sein hat, da sie ansonsten nicht für eine Identifikation mit Gott in Frage kommen kann. Das bedeutet: Das individuelle Leben objektiviert sich in die es umfassende Geldförmigkeit des Absoluten, einerseits; andererseits – dies gebietet die Formvorschrift – steht das Individuum dem Geldsymbol des Absoluten gegenüber und damit in Wechselwirkung mit ihm. Diese philosophische Interpretation impliziert, dass das Individuum jeweils vorrangig in eine Beziehung zum Geld tritt und erst dann, vermittelt über die Einheitsform des Geldes, Bindungen mit anderen Individuen oder mit Dingen der Kulturwelt eingeht; so, wie in der Religion das religiöse Individuum in eine vorrangige Beziehung der vollen Selbstverantwortlichkeit vor Gott tritt, um dann sein Handeln und Erleben allein an den Gesetzen Gottes auszurichten – und dadurch, in Freiheit, sein Seelenheil anzustreben. Die Identität der Beziehung von Geld und Gott wird durch ein gemeinsames Bild von Individualität unterfüttert: Die Herausbildung einer religiösen Beziehung zum transzendenten Christengott reflektierte dessen Bedeutung, ein Absolutes zu sein, auf den Menschen zurück, dieser wurde »unendlich wertvoll«, die Beziehung zum Absoluten gab auch dem religiösen Individuum einen absoluten Wert (PDG: 491). Das Aufwiegen, der Kauf und Verkauf des ganzen Menschen gegen Geld, sein Zur-Ware-Werden in der Relativität des Tausches – und damit der impliziten Relativierung seines absoluten Wertes als Mensch – war nun dem Prinzip nach ausgeschlossen (vgl. ebd.: 493). Gerade das Ware-Werden der Arbeit am Markt schafft für Simmel nun Ähnliches. Die Entpersonalisierung des Geldverdienstes im Beruf befreit weitestgehend das Absolute am Menschen aus der Ökonomie – eben: seine Men-

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schenseele.113 In die Relativität des Tausches von Arbeit gegen Geld fließt die für die Arbeit erforderliche Energie hinein. Es war Gegenstand des ersten Unterkapitels vom »Geldäquivalent personaler Werte« in der »Philosophie des Geldes«, dass die Geldförmigkeit sozioökonomischer Beziehungen mit ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung dem Wert des Menschen als immer unangemessenerer Standard empfunden wurde, in umgekehrter Richtung gewann das Menschenleben seine Bedeutung als ein Individuum von unantastbarem, absoluten Wert erst im Laufe der sozialen Evolution (vgl. ebd.: 497). Das Christentum und der quantitative Individualismus des 18. Jahrhunderts nach Kant und Rousseau bereiteten beide jeweils den ideengeschichtlichen Nährboden für die Postulate unveräußerlicher »Menschenrechte« und der »Menschenwürde« (ebd.: 493). Das Vorhaben der nun kommenden Ausführungen ist die Rekonstruktion des Versuchs Simmels, mit der »Philosophie des Geldes« am Geld eine religiöse Beziehungskonstellation zu entwerfen. Hierbei wird es nun primär um die nicht-ökonomischen Formen individueller Weltbeziehung gehen, Gesellschaft und Kultur. Der rote Faden der Argumentation ist dieser: Die Verselbständigung der Geldwirtschaft aus dem Leben von Individuum und Gesellschaft lässt umgekehrt nun Formen der Vergesellschaftung wie der Kultur in ihrer Eigensinnigkeit hervortreten. Jedes Mal werden das individuelle Leben und die überindividuelle Form durch das Geld gegeneinander differenziert und erlauben von hier aus neue Synthesen. Zu meinen Quellen zählt einmal der »synthetische Teil« der »Philosophie des Geldes«. Dann aber auch die kulturphilosophischen und soziologischen Schriften Simmels. Ich knüpfe an meine Ausführungen in den Kapiteln 5 und 6 an, mache nun aber deutlich, dass und wie sich Simmels kulturphilosophische und soziologische Arbeiten in der »Philosophie des Geldes« schneiden – kreuzen –, in ihr zur Einheit kommen und aus ihr entfalten lassen. Begleiten werde ich diese Ausführungen durch wiederkehrende Vergleiche mit der Religionstheorie Simmels. Dies hat den Zweck, den Beweisgang für die von mir postulierte funktionale Äquivalenz zwischen Geld und Gott, als Symbol für das Absolute zu taugen, durch Vergleich und Illustration zu beschreiten. Das Resultat ist ein durch das Medium Geld bedingtes freies, von einer a priori fixierten Koordination gelöstes, spannungsreiches ›Spiel‹ zwischen Leben und Form, die sich wechselseitig für ihre selektive Eigenentwicklung beanspruchen. Fluidität, Formlosigkeit wie Schöpfungskraft des Geldes prägen diesem Wechselspiel seine eigengesetzliche Form auf – die Form von »Bewegung, Beziehung, Entwicklung«, in welches sich Simmel zufolge das ehemals in der Substanzialität Gottes gefundene »Absolute des Daseins« aufgelöst hat (ebd.: 307). Die Struktur meines Vorgehens sieht aus wie folgt: Zunächst werde ich auf das durch die Geldform konstituierte Verhältnis von individueller Freiheit und Bindung an die soziale Form eingehen (Kapitel 8.5.1). Die inhaltliche Essenz dieses Kapitels

113 Dieser von Simmel gemachte Punkt wird meines Wissens nach übersehen. Der absolute Wert des Menschen ist für Simmel aber das Komplement zu den monetären »Verdinglichungen sozialer Beziehungen« (Köhnke 1993: 152). Die Entpersonalisierung von Geldund Marktbeziehungen wird in der öffentlichen Debatte zuweilen politisiert als Entmenschlichung der Ökonomie, so als ob das Modell der personalen (Intim-)Beziehung wünschbar sei für alle Formen des interindividuellen Zusammenseins.

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ist der Erweis meiner Hypothese, dass und wie die Geld-Bindung von der fixen Bindung an Wirtschaft und Gesellschaft erlöst und die Eigenselektivität des Individuums hervorbringt. Diesem entspricht die sozialphänomenologische Konstellation einer freiheitlichen Kreuzung sozialer Kreise. Danach werde ich nach Form und Ausmaß religiösen Glaubens in monetär vermittelten Weltbeziehungen fragen (Kapitel 8.5.2). Inhaltlich fragt das Kapitel nach dem Geldform-Pendant zum Gottesglauben in der Welt der Religion. Schließlich widme ich mich der Geldförmigkeit des Verhältnisses von individueller Kultivierung und der Verselbständigung der Kulturwelt (Kapitel 8.5.3). Ein ganz wesentlicher Aspekt dieses Kapitels wird die exegetische Demonstration sein, dass und wie gerade und nur geldvermittelte, arbeitsteilige Weltbeziehungen eine allgemein zugängige Kultivierung des individuellen Lebens gemäß seinem »individuellen Gesetz« ermöglichen, wenn auch nicht determinieren. 8.5.1 Geld, Individualität und Gesellschaft Die Auflösung feudalherrschaftlicher Verhältnisse ist nicht nur repräsentativ für die »Wende zur Idee« auf dem Gebiet der Geldökonomie, sondern repräsentativ auch für den Typus der Befreiung einer eigengesetzlichen Individualität aus der fixen Gebundenheit an bestimmte äußerlich-materielle Formen.114 Die Feudalherrschaft ist deshalb repräsentativ, weil Simmel in der geldwirtschaftlichen Wende eine Befreiung des Individuums aus vorrangig ökonomischen Verflechtungen gesehen hat, und diese Befreiung geschah über das Geld. So spricht Simmel beispielhaft von der festen »Verbindung des Einzelnen mit dem Grund und Boden«, deren »Obereigentümerin« die Gemeinschaft war, die wiederum »den Einzelnen völlig in ihre Interessen [hineinzog]«(PDG: 429). Dann von der Verknüpfung zwischen der sozialen Stellung der »Persönlichkeit« und dem »Landbesitz« (ebd.: 430) oder der »Fesselung des Bauern an seine ökonomische Stellung« (ebd.: 431). Simmel meint, dass die unterschiedlichen Facetten und Interessen des Menschen – sein ganzheitliches Sein – mit der ökonomischen Tätigkeit – dem Haben – verflochten war, und die schicksalhafte Bindung an die Immobilität des Bodens ist für Simmel das hervorstechendste Merkmal dieser Verflechtung. Simmel interessiert dabei weniger bis gar nicht, welche geschichtlichen Umstände dazu geführt haben, beispielsweise das politische Recht der aktiven wie passiven Wahl an das Eigentum von Grund und Boden zu binden, wie dies in den britischen Kolonien der späteren Vereinigten Staaten von Amerika der Fall gewesen ist (vgl. Ferguson 2012: 111-12). Auch interessierte Simmel nicht, ob jemand

114 Die Sekundärliteratur erwähnt durchgehend zwar die von Simmel erwähnte individualisierende Wirkung der Umstellung auf die Geldförmigkeit sozialer Beziehungen (vgl. Köhnke 1993; Rammstedt 1994; Deutschmann 2008). Viele übersehen meines Wissens nach aber den Konstitutionszusammenhang zwischen der Ausbildung der eigengesetzlichen Form von Individualität und der Verselbständigung der Geldwirtschaft. Eine sehr sanfte Annäherung an den Individualgesetzlichkeitscharakter der Geldwirtschaft findet sich bei Paul (2012: 82-83). Ebenfalls eine Ausnahme ist Klaus Lichtblau, der explizit auf eine parallele Entwicklung von Geldwirtschaft einerseits und einem Individuum mit seinem »irreduziblen Eigenwert« andererseits hinweist (vgl. Lichtblau 1997: 80). Auf Lichtblau komme ich später noch zu sprechen.

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durch Eigentum weitere, nicht-ökonomische Rechte gewann oder umgekehrt mit der unverbrüchlichen Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Stand ökonomische Eigentumsrechte verbunden waren bzw. eine Aussicht auf ökonomisches Hab und Gut a priori ausgeschlossen war. Was Simmel interessierte, war die Form dieser Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen dem ökonomischen Haben und dem individuellen Sein: »Die altgermanische Verfassung, die den Besitz unmittelbar an die Person knüpfte, der spätere Feudalismus, der umgekehrt die Person an den Besitz band; die enge Verbindung mit der Gruppe überhaupt, die jedes Mitglied a priori in seine ökonomische Stellung hineinwachsen läßt; die Erblichkeit der Berufe, durch welche Tätigkeit und Position einerseits, die familiäre Persönlichkeit andrerseits, zu Wechselbegriffen werden; jede ständische oder zunftartige Verfassung der Gesellschaft, die ein organisches Verweben der Persönlichkeit mit ihrem ökonomischen Sein und Haben bedingt – dies alles sind Zustände von Undifferenziertheit zwischen Besitz und Person; ihre ökonomischen Inhalte oder Funktionen und diejenigen, welche das Ich im engeren Sinne ausmachen, stehen in sehr unmittelbarer gegenseitiger Bedingtheit.« (Ebd.: 447; Hervorhebung PB)

Die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft trennt zwar nicht vollständig, aber auf weitestgehende Art und Weise das individuelle Sein vom Haben, gerade indem alle ökonomischen Beziehungen auf Geld gestellt werden (vgl. ebd.: 409-12). Damit geschieht für Simmel zweierlei. Einmal, die Teilnahme und Bindung an die ökonomische Sphäre ist nur noch über den Kanal des Geld-Habens verbunden. Weder die berufliche Tätigkeit, noch die individuelle Konsumtion ist anderweitig festgelegt (vgl. ebd.: 412-14). Zweitens, nur die für den Geldverdienst notwendigen Fähigkeiten und Charakteristiken fließen in die jeweilige ökonomische Beziehung mit ein. Der »Rest« der Individualität – auch wenn diese als Entelechie immer ganzheitlich lebt und als solche nicht dekomponierbar ist – bleibt außerhalb der Ökonomie und damit frei für nicht-ökonomische Bindungen. So ist es zu verstehen, wenn Simmel meint, dass »das Geld, obgleich, oder vielmehr weil es der sublimierteste Wirtschaftswert ist, uns von der wirtschaftlichen Seite der Dinge am vollständigsten erlösen kann« (ebd.: 416; Hervorhebung PB). Im Grunde entsteht erst in dieser Konstellation jene auf sich gestellte und aus sich heraus seiende Einheit des Lebens: Das Leben kommt zu sich selbst, und dieses Leben ist inhärent dualistisch. Das Individuum tritt der Kulturwelt Ökonomie in der Form des Geldes gegenüber, darin besteht die individuelle Freiheit von der Ökonomie. Diese Konstellation des Gegenüber-Stehens zum Geld ist geknüpft an die bereits erwähnten, für eine ausgedehnte Weltwirtschaft charakteristischen sozialen Formen der Arbeitsteilung wie der Konkurrenz. Sie gewähren die Teilnahme an der ökonomischen Welt ohne Aufgehen des individuellen Lebens in der Ökonomie. Sinn und Zweck der nun folgenden Darstellung ist der Beleg meiner Hypothese, dass die an Arbeitsteilung und Konkurrenz gebundene Eigengesetzlichkeit der Ökonomie ein religiös begehrendes Individuum freisetzt – und dessen Befriedigung außerhalb a priori fixierter Bindungen ermöglicht in der Form einer eigenlogischen Lebensführung. Dualismus ist Kampf in der Form und mit der Form: Die individuelle Freiheit bewährt sich in der Bindung an das eigene, »individuelle Gesetz«. Der individuelle Selbsterhalt des einmal liberalisierten Lebens hat seine Freiheit gegen die Vereinnahmungen und Verführungen der ebenso eigenlogisch prozes-

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sierenden Formen aus Kultur und Gesellschaft zu behaupten. Freiheit bleibt prekär – auch und gerade dies ist Leben. 8.5.1.1 Differenzierung und Konkurrenz in der Geldökonomie Ausgeprägte Formen der Arbeitsteilung wie der Konkurrenz stehen Simmel zufolge unter der Prämisse ausgedehnter Sozialbeziehungen – unabhängig von der Frage, wie es dazu gekommen ist. Für beide, Arbeitsteilung und Konkurrenz, hatte ich dies bereits in den Kapiteln 6.4.1 und 6.4.2 dieses Buches dargelegt. Dem vom konkreten geschichtlichen Verlauf absehenden Prinzip nach erfordert eine zunehmende arbeitsteilige Spezialisierung Geld, die Heterogenität von Angebot und Nachfrage auf beiden Seiten des Geschäfts macht ein direktes Tauschgeschäft unwahrscheinlich. Man begehrt das Eigentum des anderen, hat aber selbst nichts im Angebot, was das Gegenüber im gleichen Maße begehrt, so dass es zu einem von beiden Seiten als MehrWert empfundenen Äquivalenten-Tausch nicht kommt. Geld synthetisiert die Einheit des Tausches, indem das angenommene Geld seinem Sinn nach über die Partikularität des Tauschaktes hinaus auf das Angebot anonymer Dritter verweist. Das greifbare Geld ist für Simmel deshalb Symbol sozialer Abhängigkeitsverhältnisse (vgl. ebd.: 179). In der »Philosophie des Geldes« geht Simmel so weit, zwischen der Intensivierung arbeitsteiliger Spezialisierung und der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft eine in der Formulierung zumindest naheliegende wesenhafte, metaphysische Verknüpfung zu behaupten, die sich in der Geschichte realisiert: »[D]ie Verbindung zwischen beiden Kulturwerten findet schon in der Tiefe ihrer Wurzeln statt, und daß die Verhältnisse der Spezialisation, die ich schilderte, durch ihre Wechselwirkung mit der Geldwirtschaft eine völlig historische Einheit mir ihr bilden – das ist nur die graduelle Steigerung einer mit dem Wesen beider gegebenen Synthese.« (Ebd.: 651; Hervorhebung PB)

Die Einheit ökonomischer Tauschbeziehungen realisiert sich monetär und arbeitsteilig. Güter, Leistungen und Arbeitskräfte erhalten in der Geldwertform konkrete Preise, durch die sich ihre wechselseitige Austauschbarkeit füreinander ausdrückt, der ganze Mensch aber bleibt aus dem Tausch ausgeschlossen. Es ist also gerade die Geschlossenheit ökonomischer Wert- bzw. Preiskonstitution, die den Ausschluss der Individualität bedingt. Die arbeitsteilige Differenzierung der Ökonomie verläuft funktional, d. h. wofür Geld gezahlt wird, ist der Inhalt der ökonomischen Produktion, nicht die Person. Dafür werden individuelle, körperliche wie geistige Energien erfordert, aber diese werden allein nach den Erfordernissen der Tätigkeit selektiert; und deshalb wird die Substanz individuellen Lebens frei: »Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muß, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören – hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen. Von je mehr sachlichen Bedingungen vermöge der komplizierteren Technik das Tun und Sein der Menschen abhängig wird, von desto mehr Personen muß es notwendig abhängig werden. Allein diese Personen erhalten ihre Bedeutung für das Subjekt ausschließlich als Träger jener Funktionen, Besitzer jener Kapitalien, Vermittler

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jener Arbeitsbedingungen; was sie außerdem als Personen sind, steht in dieser Hinsicht gar nicht in Frage.« (Ebd.: 392; Hervorhebung PB)

Der Entstehung eines einzelnen Produktes geht – nicht trotz, sondern mit und wegen der Technisierung – durch mehr Hände als früher, die Bedürfnisse sind größere, und die eigene, spezialisierte Tätigkeit ist nicht (mehr) imstande, diese zu befriedigen – auch die einfachsten, alltäglichen nicht (vgl. ebd.: 395-96). Milch wird pasteurisiert und kommt erst über den Umweg des Einzelhandels in die Hände des Verbrauchers, und aus natürlich vorkommendem Mineralwasser werden qua technischem Verfahren Eisen, Schwefel und Fluorid entfernt.115 Selbst verhältnismäßig bescheidene Bedürfnislagen hängen an längeren Zweckreihen zu ihrer Befriedigung – wovon das konkrete Individuum, ob als Konsument oder in der Produktion, nur einen kleinen Ausschnitt einsehen kann. Vergleichsweise seltener zu erwerbende Dinge wie Möbel stehen in gleicher sozialer Nähe oder Ferne – je nachdem –, wie das Alltägliche, weil beide nur gegen Geld zu erwerben sind. Die Geldförmigkeit der Preise (und die Zahlungsfähigkeit) ist dann das noch einzig zählende Maß an Distanz. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass Simmel zufolge die »Kulturentwicklung […] auf Verlängerung der teleologischen Reihen für das sachlich Naheliegende und Verkürzung derselben für das sachlich Fernliegende [gehe].« (Ebd.: 261)116 Die geldvermittelte Form arbeitsteiliger Interdependenzen, so Simmel weiter, gebe »einem gleichzeitigen Maximum von Freiheit Raum« (ebd.: 392 Hervorhebung PB).117 Die Freiheit im zunächst engen, ökonomischen Sinne ist eine abstrakte, funktionale, und sie konstituiert sich durch die Vorrangigkeit geldvermittelter Beziehungen zwischen den Individuen. Die reale Abstraktion besteht in der Wahl darin, an wen man sich bindet für die Erledigung eines bestimmten, funktional definierbaren ökonomischen Begehrens; nochmal präziser: mit der Wahlmöglichkeit abstrahiert sich die Funktion einer Beziehung von der Substanz der Individualität. Von hier aus lassen sich Simmels Ausführungen zur »kapitalistischen Differenzierung« der ökonomischen Produktion in Arbeit und Kapital als eine rein funktional an der Reproduktion der Geldökonomie orientierte Arbeitsteilung verstehen, und entlang dieser Arbeitsteilung interpretiert Simmel auch die Vergesellschaftung zwischen

115 Ich referiere auf innerhalb des Europäischen Binnenmarktes geltende Gesetzesvorschriften, und zwar einmal auf die »EU-Normen für natürliche Mineralwasser«. 116 Die Verwendung des psychologischen Zweckreihen-Vokabulars steht in keinem Widerspruch, sondern einem Komplementärverhältnis zur kultur- und lebensphilosophischen Perspektive. Produktion und Konsumtion werden psychologisch realisiert. Die Realisierung von bestimmten Inhalten fällt für Simmel aber nicht in eins, sondern muss unterschieden werden von der Bedeutung der psychologisch realisierten Inhalte innerhalb einer Form, wie hier der Ökonomie. 117 Diese Hypothese Simmels hat sich Deutschmann zu Eigen gemacht (vgl. Deutschmann 2008: 45). Er übersieht allerdings, dass Simmel in der Geldwirtschaft die Bedingungen der Erlösung aus den allzu engen Verflechtungen mit eben jenem Ökonomischen sah. Deutschmanns Rezeption verkürzt in meinen Augen Simmels Geldphilosophie auf eine machttheoretische Perspektive (»Geld bedeutet Macht, und darin liegt sein eigentlicher Nutzen«, ebd.: 50), die bei Simmel einen marginalen Stellenwert einnahm.

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den Positionsinhabern von Arbeit und Kapital. So sei es »die Funktion des Kapitalisten […], die Arbeitsmittel zu erwerben, zu organisieren, auszuteilen« (ebd.: 631) – jene Arbeitsmittel bzw. Produktionsmittel, an denen der Arbeiter ein wie auch immer definiertes Produkt herzustellen hat, welches nicht ihm gehört, sondern Eigentum des Kapitalisten ist. Die Funktionalisierung sozialer Positionen innerhalb der Ökonomie verändert auch entsprechend deren Herrschaftscharakter, er besitzt ebenso einen funktionalen Charakter. Auf die kapitalistische Organisation hin betrachtet bilden Arbeit und Kapital jeweils Beiträge zu einem »kooperativen Prozeß« der Produktion (ebd.: 452; SOZ: 242). Die Unterordnung der Arbeit unter das Kapital hat seinen Charakter verändert, sie ist nur noch »technischer Natur«, aber nicht mehr persönlichen Wesens, wie es kennzeichnend gewesen ist für feudalherrschaftliche Verhältnisse (PDG: 451). Dazu muss gesagt werden, dass Simmel zufolge die Selbsterhaltung der Gesellschaft auf Formen der Herrschaft angewiesen scheint: »[J]edes gesellschaftliche Leben [fordert] eine Stufenfolge von Über- und Unterordnungen – schon aus technischen Gründen« (GS: 141). Simmel unterstellt apriorische Triebkräfte und Impulse im individuellen Leben, welche das Beherrscht-Werden ebenso wie das Aufbegehren gegen Herrschaft zu einer inneren Bedürfnislage machen (vgl. SOZ: 171). Macht entlastet, befeuert aber auch den Widerstand gegen sie. Wenn Simmel von einem technischen Charakter spricht, dann deshalb, weil sowohl Arbeit als auch Kapital Mittel zum Zweck der am Mehr-Wert orientierten Produktion sind, in der die Individualität der Person keine Rolle spielt. Die Freiheit des Lebens, so Simmel, sei nicht zu verwechseln mit der Befreiung aus materiellen Härten. Es sei »Tatsache, daß sie [die Arbeiter] die Sklaven des objektiven Produktionsprozesses sind« (PDG: 399), und Simmel spricht von der »Härte und Erzwungenheit der Arbeit« (ebd.:399), ihrer »Härte oder Unsicherheit« (ebd.: 400). Da das Gesetz individueller Kultivierung keine materielle Glücksvorstellung entwickelte, widerspricht der Gewinn individueller Freiheit nach Simmel keinem bestimmt gearteten Empfinden, auch nicht dem von Unsicherheit und Härte (vgl. ebd.: 399-400; vgl. dazu auch Kapitel 5.4 in diesem Buch). Letztere sind Simmel zufolge auf die Besonderheit zurückzuführen, dass die Produktionsfaktoren Ware werden. Von beiden Seiten her, dem Unternehmer wie dem Arbeiter, besteht die formale Freiheit zum Vertragsschluss – bei häufiger »Einflußlosigkeit auf die materielle Lage des Arbeiters« (PDG: 399; Hervorhebung PB) – über den Kauf bzw. Verkauf der Ware Arbeit gegen Geld. Arbeit ist abhängig von geldentlohnter Arbeit, und umgekehrt ist das Kapital zwecks Verwertung angewiesen auf Arbeit. Beide Seiten können aber gegebenenfalls den Vertragspartner wechseln und die gleiche Leistung bei jemand anderem eintauschen, und genau dies erzeugt eine ambivalente Gleichgültigkeit gegenüber der konkreten Individualität, die einen qualitativen Unterschied gegenüber den personalisierten Feudalherrschaftsbeziehungen darstellt. Im Feudalismus war der Bauer fest an seinen Herrn und das Land gebunden, und der Herr hatte die Reproduktion der Arbeitskraft des Bauern aus Eigeninteresse zu gewährleisten. Dazu gehörte die Unterstützung »bei besonderen Unglücksfällen« (BP: 199). Die Notwendigkeit zu solch enggeführten Solidarleistungen fällt mit Ausbreitung geldwirtschaftlicher Verhältnisse weg, und die Folge ist die eben erwähnte »Härte und Unsicherheit«, denn jetzt kann man frei zwischen den Individuen wählen, die ihre Arbeitskraft gegen Lohn für ein mehr oder minder bestimmtes Spektrum an Aufgaben zur Verfügung stellen. Freilich befand sich zu Sim-

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mels Zeiten der Aufbau eines die individuelle Unsicherheit am (Arbeits-)Markt absorbierenden Sozialstaats erst am Anfang. Eine weitere Quelle der Unsicherheit einer Geldwirtschaft ist nach Simmel die Möglichkeit von de- und inflationsbedingten Schwankungen der Kaufkraft eines einmal vereinbarten Lohns im Vergleich zur Entlohnung durch Naturalien, wie es teilweise im Feudalismus der Fall war (vgl. PDG: 456-57). Denn Naturalien, anders als Geld, besitzen einen von Marktpreisentwicklungen vergleichsweise unabhängigen inneren Konsumwert für Subjekte. Absatzeinbußen leiten die Unternehmen an ihre Belegschaft in Form von Gehaltskürzungen weiter oder entlassen sie (vgl. ebd.: 68485). Diese Quelle der Unsicherheit kontrastiert Simmel mit der Zunftverfassung in traditionalen Gesellschaftsformen, wo das Teilen der Verluste das Spiegelbild zur Gewinnteilung zwischen den Mitgliedern der Zunft abgab. Englische Gewerkschaften hätten dagegen bewusst Arbeitsplatzunsicherheit in Kauf genommen. Sie bevorzugten kürzere Arbeitsverträge und begründeten dies damit, so Simmel, dass mit zunehmender zeitlicher Bindung an einen Arbeitgeber die Beziehung personalisiert werde: »Durch das Recht, seine Arbeitsstätte zu verlassen, […] unterscheide sich der Arbeiter vom Sklaven […]. Was bei kurzen Kontrakten die Objektivität entschiedener wahrt, ist nichts Positives, sondern nur dies: zu verhindern, daß das objektiv festgelegte Leistungsverhältnis in ein durch subjektive Willkür bestimmtes übergehe, wogegen es bei langen Kontrakten keinen hinreichenden Schutz gibt.« (SOZ: 243)

Der herrschaftliche Zwang geht in letzter Instanz, modern gesprochen, von den anonymen Märkten aus: Dem funktionalisierten Herrschaftsverhältnis im kapitalistischen Betrieb steht auf der anderen Seite die abstrakte Unterordnung unter die Bedürfnisse des Marktpublikums gegenüber, auf die die Produktion ausgerichtet ist (vgl. PDG: 452; SOZ: 245). Wo keine Kartellstrukturen etabliert sind, kann das Publikum frei wählen zwischen Angeboten zur Bedürfnisbefriedigung. Die Konsumenten sind nicht gebunden an bestimmte Produzenten, sondern umgekehrt konkurrieren Produzenten um das Geld der Konsumenten (vgl. SK: 223-27). Einmal kann die soziale Form des Konkurrenzverhältnisses als ein soziales Vehikel der ökonomischen MehrWertschöpfung beobachtet werden. Die durch die Wettbewerbssituation induzierte »antagonistische Spannung« auf Seiten der jeweiligen Konkurrenten schärfe »die Feinfühligkeit für die Neigungen des Publikums« (ebd.: 227). Konkurrenz schaffe sogar neue Bedürfnisse, wenn ihr »das Ausspähen der innersten Wünsche eines anderen« gelinge, noch »bevor sie ihm selbst bewußt geworden sind.« (Ebd.: 227) Angewandt würden Methoden »der Überredung oder Überzeugung« sowie »der Suggestion« (SOZ: 330). Aus Sicht des Publikums ist die Konkurrenz bloße »Technik« zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, und an diesem Kriterium hat sie sich zu messen (vgl. SK: 234-35). Das Verfolgen des Selbstinteresses ist in der Form der Konkurrenz gebunden an die Befriedigung des Interesses anderer (vgl. ebd.: 224). Die schöpferische Kraft der Geldform artikuliert sich unter anderem in der Sozialität der Konkurrenzform. Das ökonomische Interesse könnte ebenso – unbesehen des Effizienzgrades – in der Form von Kartellen oder planerischem Wirtschaften bedient werden (vgl. ebd.: 233-36, 239). Aber: Ein privates oder staatliches Monopol stelle »die vollständige Beherrschung des Marktes und dadurch gewonnene Abhängigkeiten des

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Konsumenten« (ebd.: 239) dar und widerspricht damit dem Prinzip nach jenem liberalistischen Ideal, welches sich Simmel zufolge ja gerade in der – nicht nur auf die Ökonomie beschränkte – Konkurrenzform objektiviere (vgl. ebd.: 230). Andererseits entspricht der freiwillige Zusammenschluss zu einem Interessenverband, wie es Unternehmens- oder Gewerkschaftskartelle sind, der persönlichen Assoziationsfreiheit und artikuliert damit dann doch wieder die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten – wenn auch auf Kosten anderer. Konkurrenzverhältnisse bilden eine logische Implikation der mit dem Geld strukturell an die Hand gegebenen Freiheit. Je mehr Ökonomie zentralplanerisch gestaltet ist, desto weniger bedarf es des Geldes. Der konsequent durchgeführte Idealtypus sozialistischer Wirtschaft kennt kein Geld und bedarf keines Geldes zur Koordination des Handelns, ebenso wenig kennt sie eine Freiheit des individuellen Lebens, welches ebenso bürokratisch verwaltet wird (vgl. PDG: 39495, 468-69). Das ökonomische Leben sei zwar durch »die Vielheit unserer Abhängigkeit« von anderen charakterisiert, dafür aber seien wir »gegen die dahinter stehenden Personen und durch die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt.« (Ebd.: 396). Simmel wiederholt die gleiche Formel, wenn er meint, dass das Individuum »von dem einzelnen […] unvergleichlich unabhängiger« sei, es »wechselt leicht und beliebig oft mit ihm.« (Ebd.: 396) Ebenso wie die arbeitsteilige Differenzierung der ökonomischen Produktion vermitteln Konkurrenzbeziehungen auszufüllende Funktionsstellen zwischen dem – zuvor produzierten – Angebot und der Nachfrage. Es geht um die Sache, nicht um den Charakter der hinter einem Angebot stehenden Person (vgl. SOZ: 324). Die agrarische Produktion für den Herrn und den Eigenbedarf wird abgelöst durch eine allgemeine, von der festen Zuordnung von Individuen zueinander absehende funktionale Beziehung zwischen Produktion und Konsum. Dies zeigt sich darin, dass die Funktionsrolle der Konsumtion durch Individuen unterschiedlicher sozioökonomischer Herkunft belegt werden kann, und weiterhin – mit Blick auf vorher Gesagtes – durch Individuen, die auf der »anderen Seite« der Produktion, innerhalb eines Betriebes, die Funktionsrolle des Kapitalisten oder des Arbeiters belegen. Individuen niederer Schichten produzieren in High-Tech-Betrieben Produkte für Angehörige höherer Schichten, aber es gelte auch umgekehrt, dass die Massenproduktion kapitalistischer Unternehmungen dem Konsum niederer Schichten zugutekommt. Schicht- und Klassenverhältnisse werden nicht aufgelöst, aber sie verlieren laut Simmel zunehmend an Bedeutung und treten zurück hinter primär schichtübergreifenden, aber sachlich-funktional orientierten Interdependenzbeziehungen. Die ökonomischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Individuen nehmen eine abstrakte, arbeitsteilige Form an, in der es vorrangig um den geldvermittelten Kauf und Verkauf von Leistungen geht: »Der große Chemiker, der in seinem Laboratorium über Darstellung der Teerfarben sinnt, arbeitet für die Bäuerin, die beim Krämer sich das bunteste Halstuch aussucht; wenn der Großkaufmann in weltumspannenden Spekulationen amerikanisches Getreide importiert, so ist er der Diener des ärmsten Proletariers; der Betrieb einer Baumwollspinnerei, in der Intelligenzen hohen Ranges tätig sind, ist von Abnehmern in der tiefsten sozialen Schicht abhängig. [...] Möglich aber ist diese Erscheinung nur durch die Objektivierung, die die Produktion sowohl dem produzierenden wie dem konsumierenden Subjekt gegenüber ergriffen hat und durch die sie jenseits der sozialen oder sonstigen Unterschiede der beiden steht. Dies Indienstnehmen der

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höchsten Kulturproduzenten seitens der niedrigstehenden Konsumenten bedeuten eben, daß kein Verhältnis zwischen ihnen besteht, sondern daß ein Objekt zwischen sie geschoben ist, an dessen einer Seite gleichsam die Einen arbeiten, während die Anderen von der anderen her es konsumieren, und das beide trennt, indem es sie verbindet.« (PDG: 635; Hervorhebung PB)

Dieses Objekt, welches trennt und verbindet, ist das Geld (vgl. ebd.: 635, 135-36). Die Umstellung ökonomischer Abhängigkeitsverhältnisse von Schicht auf arbeitsteilige Differenzierung nach den Funktionen von Produktion und Konsumtion zeigt meines Erachtens, wie sich zusammen mit dem Ideal der Freiheit auch das Ideal der Gleichheit in der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft objektiviert. Zum besseren Verstehen ist es wichtig, erneut darauf hinzuweisen, dass für Simmel Arbeitsteilung wie Konkurrenzbeziehungen gemeinsam auf eine und dieselbe ideengeschichtliche Wurzel liberalistischen Denkens zurückgehen. Noch in den »Grundfragen der Soziologie« meinte Simmel, dass die Konkurrenz auf die Vorstellung freier und gleicher Individuen zurückgehe, die Arbeitsteilung auf die Vorstellung freier, aber ungleicher Individuen (vgl. GS: 148-49). Konkurrenz und Arbeitsteilung bilden die zueinander komplementären Seiten der mit dem Geld an die Hand gegebenen Freiheiten: einmal im Weg zum Geld, was Simmel als die »Unabhängigkeit des Geldes von seiner Genesis« bezeichnet, und im Pfad weg vom Geld, was Simmel die »Unbestimmtheit seiner Verwendung« nennt (PDG: 414). Gleich ob in Konkurrenz oder in Arbeitsteilung, in der Geldform ökonomischer Wechselwirkung treten die Individuen primär in eine Gegenüber-Beziehung zum jeweils konkreten Geldsymbol; in dieser Position des Gegenübers zum Geld – ob weg vom oder hin zum Geld – besteht die individuelle Freiheit, und darin sind sich alle gleich. Unabhängig von der sozialen Schicht ist jedes Individuum auf das Geld-Haben hingestellt; auch der Rentier, der von den Dividenden und Zinsen lebt. Nun erscheint es geradezu als dem religiösen Prinzip diametral zuwiderlaufend, aus einerseits wachsenden sozialen Interdependenzen zwischen Individuen einerseits, der Konkurrenzform interindividueller Wechselwirkungen andererseits zu dem Schluss zu kommen, dass die Geldwirtschaft eine der Religionsform adäquate Konstellation empirisch realisiert. Das »Ideal vom Heil der Seele« (DR: 98) schreibt Simmel gerade als Konterideal zu der durch Konkurrenz und Arbeitsteilung forcierten »Verkümmerung« individuellen Lebens (ebd.: 93). Der Idealtypus religiösen Handelns und Erlebens realisiere das »geklärte Bild einer Sozialform […], gereinigt von ihrer Wirrnis und ihrem trüben, rudimentären Wesen.« (Ebd.: 103). Gegen jede Form arbeitsteiliger Integration gerichtet schreibt Simmel, dass das Seelenheilsmotiv zwar eine »religiöse Differenzierung« sei, welche aber »freilich keine Arbeitsteilung ist, weil ja jedes Individuum für sich allein das ganze Heil, wenn auch auf besondere Weise, gewinnen kann.« (Ebd.: 103) Das Ausleben des religiösen Ideals sei gerade der »Verzicht auf das Vereinheitlichungsmittel der physiologischen und der äußerlich sozialen Organisation: auf die Differenzierung« (ebd.: 95), es »lehnt jede prinzipielle Differenzierung ab« (ebd.: 94). Weil das Seelenheil nicht-knapp ist, »können die Energien der Einzelnen sich voll ausleben, ohne miteinander in Konkurrenz zu geraten« (ebd.: 82). Die im Reich Gottes sich entfaltende religiöse »Mannigfaltigkeit« werde gerade durch »das Ausbleiben der Konkurrenz« ermöglicht (ebd.: 103). An Stelle der Friktionen und Konflikte, welche das soziale Zusammenleben mit sich bringen, tritt das religiöse Individuum in ein »unmittelbares Verhältnis« zu Gott

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(ebd.: 93). Weil dies für alle religiösen Individuen gleichermaßen gilt, gilt eine »Gleichheit vor Gott« (ebd.: 100) – trotz und mit der Notiz, dass es eine religiöse Form der Differenzierung gibt. Das in die Transzendenz verschobene Gottesreich steht für die Vorstellung einer idealen Einheit, in der die religiösen Individuen ihr Ideal erreichen, ohne mit anderen in die für Sozialität charakteristischen Friktionen zu geraten (vgl. ebd.: 60-61, 69, 85, 111-112). In diesem Sinne beschreibt Simmel Gott mit den Worten des Nikolaus von Kues als »coincidentia oppositorum« (ebd.: 60). Religion entfaltet sich als eine Lebensform, in der das religiöse Individuum in Wechselwirkungsbeziehung dem Gott gegenüber tritt, der das Individuum – und alles andere – zugleich umfasst und ihm nach seinen Gesetzen zu gehorchen gebietet. Individuelle Freiheit vor Gott ist allerdings paradox, wenn dieser als ein allmächtiger und allumfassender interpretiert wird, an dessen Gesetze das Individuum unbedingt gebunden ist. Der »göttliche Wille« mache einerseits den »Weltprozeß absolut abhängig« von sich (ebd.: 88). Andererseits aber, so Simmel, besitze das religiöse Individuum ein »Verlangen […], auch der höchsten Instanz gegenüber auf sich selbst zu stehen und den Sinn seines Lebens in sich allein zu finden«, es will aber auch »in den göttlichen Weltplan einbezogen sein«, d. h. bloßes »Glied eines absoluten Ganzen« sein (DR: 88; Hervorhebung im Original) Das Auf-sich-selbst-stehen identifiziert Simmel mit dem »Prinzip der Freiheit und des Fürsichseins überhaupt« (ebd.: 91). »Freiheit«, so Simmel ganz im liberalistischen Sinne, trage »den Sinn der vollen Selbstverantwortung« (ebd.: 87). »Die Freiheit des Einzelnen« mache den »Einzelnen […] wirklich für sein Tun verantwortlich« (ebd.: 87). Das religiöse Ideal vom Seelenheil löst den Dualismus zwischen individueller Freiheit und Formgebundenheit auf, indem beides parallel geht: Das individuelle Seelenheil bezeichnet einmal das »Sich-Ausleben nach dem Gesetz des Ich«, bedeutet dann aber »zugleich den Gehorsam gegen den göttlichen Willen« (ebd.: 98-99; Hervorhebung im Original). Schließlich prozessualisiert Simmel die praktische Wirksamkeit der Transzendenz Gottes: Gott kann mit keinem singulären Akt erreicht werden, die Beziehung zu ihm setzt sich um in ein dauerhaftes Streben. Dies gehört zum simmelschen lebensphilosophischen Verständnis von Religion dazu. Eine diesseitige »Verschmelzung« mit Gott ist nicht möglich (ebd.: 111), denn die »religiösen Affekte« seien »daran gebunden, daß der Gläubige sich seinem Gotte gegenüber fühlt« (ebd.: 110; Hervorhebung im Original). Religiosität ist dann ein Handeln und Erleben, welches zwischen Begehren und Befriedigung oszilliert. Von Relevanz sei es dabei, dass »die Peripherie unserer Existenz von ihrem Zentrum her« bestimmt wird, und nicht umgekehrt das Zentrum – das Sein – von den Äußerlichkeiten her (ebd.: 87). Nun stand bereits Simmels Religionstheorie unter der lebensphilosophischen Prämisse, dass die Objektivation in die Form des Absoluten – wofür Gott ideengeschichtliche Semantik und Symbol war – konstitutiv auf »das Absolute in unserer Seele« zurückginge (ebd.: 76; Hervorhebung im Original). Dem entsprach Simmels Beobachtung der religiösen Lage, dass eine – durchgängig – religiöse Lebensführung in der Moderne Simmel allein unter der Möglichkeit einer Achsendrehung nach Innen hin möglich war, einer Wende der Transzendenz in die Immanenz des Lebens. Dies war Gegenstand des letzten Abschnitts des siebten Kapitels. Das Heilsideal wird zum Symbol einer integrativen Gestaltwerdung des individuellen Lebens nach seinem Gesetz. Die gleichbedeutsame Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie findet sich in einer quasi sä-

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kularisierten Variante sowohl in der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG: 533-34 und 672-75) als auch im »Goethe« (vgl. GOE: 190-91). Mit Bezug auf den simmelschen »Goethe« sprach ich auch von Selbsterziehung der individuellen Kräfte durch das Zentrum, d. h. durch das ›Kern‹-Selbst (vgl. Kapitel 5.5 in diesem Buch). Weiter, auf vorangehendem aufbauend, ist es von Bedeutung, Form und Ausformungen religiöser Einrichtungen von der Funktion her zu begreifen. Das religiöse Leben schafft sich die Form, weil es nur in Formen sein kann. Das mit der Objektivation entstehende religiöse Begehren können unterschiedliche Einrichtungen mehr oder minder gut bedienen. Eine vollkommene Religion im Sinne ihres apriorischen Prinzips kann es nach Simmel nicht geben, weil der schöpferische Formungsprozess »aus sich herausgehen« muss, »um von einem Außer-Sich das Gebilde zu gewinnen, das doch nur er selbst in der Form der Gegenständlichkeit ist.« (DR: 113) Der Christengott war nach Simmel einmal in der Lage, religiöses Begehren zu stimulieren. Die Weltflucht des christlichen Armutsideals war eine – sozusagen – Material gewordene Form religiöser Erlösung von den Abhängigkeiten und Friktionen im Diesseits, orientiert an den Gesetzes Gottes aus der jenseitigen, das Diesseits umfassenden Transzendenz. Eine vollständige Lösung war sie nicht. Diese Unvollständigkeit und historische Kontingenz adäquater Lösungen religiöser Probleme öffnet im Prinzip den Spalt für funktionale Äquivalenzen. Schauen wir dazu erneut auf den ökonomischen Wettbewerb. In der »Philosophie des Geldes« spricht Simmel von der »Heftigkeit der modernen Wirtschaftskämpfe, in denen kein Pardon gegeben wird« (PDG: 597). Von dem »todfeindliche[n] Konkurrent[en]« ist die Rede (ebd.: 598). Als »relative[n] Kriegszustand« beschrieb Simmel bereits in den »Bemerkungen zu socialethischen Problemen« die Beziehung zwischen Wirtschaftswettbewerbern (BSP: 31). Ein sozioökonomisches Pendant zur religiösen Harmonie des Weihnachtsfestes schaut wohl anders aus. Gleichwohl: Die – nicht nur ökonomische – Konkurrenz ist aber indirekter Natur. Das Zielobjekt der Wettbewerber auf dem ökonomischen Markt ist das Geld des Publikums. Dies wird es allerdings nur freiwillig geben. Die Freiwilligkeit der Geld-Gabe bindet die Konkurrenzform zurück an die Objektivation des geldvermittelten Tausches. Kein Konkurrent leitet das Geld anderer dadurch in seine Tasche, indem er seinen Konkurrenten physisch angreift oder vor dem Publikum madig macht, sondern unabhängig davon muss das Begehren anderer geweckt bzw. auf die eigenen Produkte gelenkt werden. Aus Sicht der Wettbewerber ist die Produktion begehrenswerter Produkte ein Mittel zum Zweck des Profits. Aus Sicht des Publikums ist das, was für die Produzenten Mittel ist, der Zweck bzw. der eigentliche Mehr-Wert der Konkurrenz (vgl. SK: 234). Das, was im Innenverhältnis der Kombattanten zueinander existenziell verheerende Wirkungen haben kann, besitzt für den gesellschaftlichen Umkreis, in dem die Konkurrenz stattfindet, einen die gesellschaftlichen Kosten vergleichsweise überwiegenden Nutzen (vgl. ebd.: 241). Deshalb wird der durch Wettbewerb mögliche wirtschaftliche Ruin in Kauf genommen. Die Religion schließt ihrem Wesen nach den Konkurrenzkampf um das Seelenheil zwar aus, weil es nicht-knapp ist. Gleichzeitig aber – das ist eine wichtige Pointe der Religionstheorie Simmels – wird der Weg zum Seelenheil mit der wachsenden sozialen Ausdehnung des religiösen Prinzips zu einem umstrittenen Objekt. Mit der durch Arbeitsteilung in Priester und Laie bedingten Standardisierung des Heilsgutes steht der richtige Weg zum Seelenheil infrage (vgl. Kapitel 7.3.3 in diesem Buch).

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Die Bildung von Ketzern und Konfessionen ist eine soziale Möglichkeit, durch die sich die inhaltliche Vielfalt der religiösen Form wieder ihren Weg bahnt. Dann gilt die Konkurrenzlosigkeit nur noch relativ, und zwar innerhalb einer Konfession (wobei dann dahingestellt sei, wie eng definiert der Korridor dieses ›Innerhalb‹ verläuft). Nach außen hin aber, in der Beziehung zu anderen Konfessionen oder zu (wie auch immer ›echten‹ oder ›vermeintlichen‹) Ketzern geht es um den Gewinn der Deutungshoheit über den richtigen oder falschen Weg zum Reich Gottes (vgl. Kapitel 7.3.4 und 7.3.5 in diesem Buch). So auch in der Geldwirtschaft. In der Konkurrenz ist Geld vorrangig nicht das Medium, sondern das Ziel – in diesem Sinne bewegen sich die Kombattanten außerhalb der Geldwirtschaft (vgl. PDG: 597). Im geldvermittelten Geschäft bewegt man sich dagegen innerhalb der durch das Geld konstituierten Tauscheinheit. Diesen Unterschied betont Simmel explizit, und er selbst zieht auch den Vergleich zur Religion: »[D]ie Bestimmungen, die ein Gebiet innerhalb seiner erzeugt, können durchaus denen heterogen sein, die es außerhalb seiner gelegenen, aber von ihm beeinflußten, mitteilt. So kann eine Religion innerhalb ihrer Anhänger und ihrer Lehre die Friedfertigkeit selbst und doch sowohl den Ketzern wie den ihr benachbarten Lebensmächten gegenüber äußerst streitbar und grausam sein« (ebd.: 598; Hervorhebung PB)

Hierbei ist es nun sekundär, dass eine Konkurrenz um Publikum nicht ohne geldvermittelten Tausch funktioniert, sondern es geht um das inhärent vitaldualistische Verhältnis von ›Innen‹ und ›Außen‹, welches sich in beiden Formen, der Geldwirtschaft und den monotheistischen Religionen reproduziert. Die Unterscheidung beruht wiederum auf der vitalphilosophischen »Doppelrolle«, die Gott wie Geld einmal als unfassbare Einheit der Wechselwirkung, dann als sich dem Individuum gegenüberstellendes, zu ergreifendes und damit: zu erkämpfendes und gewinnendes, Material gewordenes (und zu deutendes!) Symbol dieser Wechselwirkung besitzen. Leben ist dualistisch, und solange Religion eine Form des Lebens bildet, liegt die Produktion ihrer eigenen Negation in ihrem Wesen als Form des Lebens. Während die empirische Kulturwelt der Religion mit ihrer sozialen Ausdehnung Abweichungen von ihrem Ideal produziert, verläuft es in der Ökonomie, tendenziell, umgekehrt: Erst mit der sozialen Ausdehnung kommt sie zu sich selbst. Für die Weltökonomie liegt der Wettbewerb auf der Linie der sich erst im und am Geld ausdifferenzierenden Kulturwelt der Ökonomie. Noch eigentümlicher ist nun aber, dass eine verselbständigte Geldökonomie sich dem Ideal der Religion sogar anzunähern vermag. Einen Punkt hatte ich bereits im Verlaufe dieses Kapitels erwähnt: Die Form geldvermittelten Tausches überwindet das Nullsummenspiel von Raub, Streit und erzwungenen Deals, indem jedes Individuum freiwillig dann tauscht, wenn es für sich einen Mehr-Wert erwartet (vgl. ebd.: 385-89). Statt der Knappheit produziert der geldvermittelte Tausch also ein beidseitiges Mehr-Wertgeschäft. Das gleiche Prinzip könne man zwar auch auf anderen Kulturgebieten verfolgen, in der Geldwirtschaft sieht Simmel aber ein Paradigma eines geschichtlichen Prozesses der Objektivierungsform von Werten, der eine Win-win-Situation schafft. Und Simmel macht eine ausdrückliche religiöse Referenz: »Je mehr die Werte in solche objektive Form übergehen, um so mehr Platz ist in ihnen, wie in Gottes Hause, für jede Seele.« (ebd.: 386) Und Simmel spricht von dem »Aufbau einer Welt, die ohne Streit und gegenseitige Verdrängung

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aneigenbar ist, zu Werten, deren Erwerb und Genuß seitens des einen den anderen nicht ausschließt, sondern tausendmal dem anderen den Weg zu dem gleichen öffnet.« (Ebd.: 386) Explizit meint Simmel, dass »die Wüstheit und Erbitterung der modernen Konkurrenz« wie »die Menschheitstragödie der Konkurrenz« durch die monetäre Objektivationsform gemindert würde (ebd.: 386). Ganz analog also zur Wirkung religiöser Feste, die den Streits und Kollisionen zwischenmenschlicher Natur in anderen Hinsichten entgegenwirken (vgl. DR: 82-83). Eine weitere Parallele zwischen Religion und Geldökonomie besteht in den Attributen des Menschenbildes. Ganz gleich der – eben angesprochenen – selbstverantwortlichen, freiheitlichen und auf sich bezogenen Stellung des religiösen Individuums vor Gott beschreibt Simmel das mit der Geldwirtschaft herausdifferenzierte und dem Geld gegenüber stehende Individuum als das »völlig freie und auf sich gestellte, von allen speziellen Daseinstendenzen begrifflich geschiedene Wesen« (PDG: 450). Die Form ökonomischer Interdependenz sei es, so Simmel, die »den Einzelnen stärker auf sich zurückweist« (ebd.: 404). In der »Soziologie« ist das Individuum der Geldökonomie eines von »Freiheit und Selbstverantwortlichkeit« (SOZ: 832), und in der – nicht nur auf die Ökonomie beschränkten, aber wohl aus ihr herstammenden wie auch in dieser ihren Idealtypus realisierend – Konkurrenz entscheide »die volle Selbstverantwortlichkeit der Person« (SK: 246). Im Sinne des dritten Aprioris der Vergesellschaftung (vgl. Kapitel 6.3 in diesem Buch) schafft die Konkurrenzform dem individuellen Leben die Möglichkeit, eine Facette der Totalität seines Seins auszuleben, einschließlich der »antagonistische[n] Triebfeder« (SOZ: 325), welche sich in der versachlichten Konkurrenzform auszuleben vermag, ohne – im logischen Sinne – doch die Person des Gegenübers zu treffen. Die Annäherung an das begriffliche Ideal der Religion durch die Empirie geldökonomischer Beziehungen lässt sich nun auch auf die arbeitsteilige Form der Interdependenzbeziehungen übertragen. Die Abhängigkeit von der oder die Bindung an die Gesellschaft ist auf ein absolut gesehen historisch nie dagewesenes Niveau gestiegen, und nicht nur trotzdem, sondern genau wegen und in dieser Bindungsform »an die Gruppe als – sozusagen abstraktes – Ganzes« (PDG. 400) ist das Individuum frei.118 Das Moment der Vergesellschaftung – durch den Bezug auf ein »Du« charakterisiert – verschwindet so zwar nicht vollständig, aber fast vollständig, insofern die sozialen Beziehungen durch den Primärbezug auf das Geld funktionalisiert werden. Aus dem gegenüberliegenden »Du« wird eine frei wählbare Funktion, eine ›Sache‹. An die Stelle der ehemals urchristlichen Weltflucht tritt die monetär vermittelte Erlösung von personalen Abhängigkeitsverhältnissen. Nun meint Simmel, dass die monetär getriebene Versachlichung von Sozialbeziehungen »die günstigste Lage [sei], um innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins zustande zu bringen.« (Ebd.: 397). Simmel versteht darunter nicht Freiheit im Sinne der »Isolierung« von anderen, keine »Nicht-Abhängigkeit« (ebd.: 397). Wo es zu keinem »Gegensatz«, keiner »Reibung« oder keiner »Versuchung« komme, dort könne »tatsächliche Frei-

118 Hier könnte sogar ein Grund dafür vorliegen, warum Simmel nie näher die Erhöhung der Bedürfnisse thematisiert hat, es aber als bedeutende Prämisse nahm: um der GottesAnalogie wegen. Je höher die Bedürftigkeit, je höher die Abhängigkeit, desto größer das Maß, in welchem das Individuum dem eigenen Heilspfad folgen kann.

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heit zu keinem Bewußtsein kommen« (ebd.: 397). Freiheit ist Freiheit von etwas – das ist ihre, wenn auch an sich leere, Form; »Freiheit im sozialen Sinne ist […] ein Verhältnis zwischen Menschen.« (Ebd.: 400) Frei-Sein-Von impliziert eine soziale Beziehung, aber sie variiert auf einem Spektrum zwischen apriorischer Bestimmtheit und apriorischer Unbestimmtheit: »Wenn jedes Verhältnis zwischen Menschen aus Elementen der Annäherung und Elementen der Distanz besteht, so ist Unabhängigkeit eines, in dem die letzteren zwar ein Maximum geworden, die ersteren aber so wenig ganz verschwunden sein können, wie aus der Vorstellung des Linken die des Rechten. Die Frage ist jetzt nur, welches die günstigste konkrete Gestaltung beider Elemente ist, um die Unabhängigkeit, sowohl als objektive Tatsache wie im subjektiven Bewußtsein, hervorzubringen. Eine solche scheint nun gegeben, wenn zwar ausgedehnte Beziehungen zu anderen Menschen da sind, aus denen aber alle Elemente eigentlich individueller Natur entfernt sind; Einflüsse, welche indes gegenseitig ganz anonym ausgeübt werden; Bestimmungen ohne Rücksicht darauf, wen sie treffen.« (Ebd.: 397-98)

Die Vielheit der Bindungen führt in eine höhere, abstrakte Einheit, und diese Einheit realisiert der abstrakte Vermögenswert Geld, der sich jeweils partikular konkretisiert in der konkreten, quantitativ bestimmten Geldsumme. Geld abstrahiert weitest möglich von der Sozialität und lässt nur das an gesellschaftlicher Substanz übrig, was funktional für das Zustandekommen einer bestimmten ökonomischen Beziehung vonnöten ist. Es bleibt »die bloße Geldbeziehung« (ebd.: 400). Genau deshalb bringt das Geld eine – erneut im Sinne des Begriffs – idealisierte soziale Einheit zustande, in der sich die heterogensten individuellen Angebote und Nachfragen treffen. Geld ist »Coincidentia oppositorum« (ebd.: 305). In der Herausbildung einer unbestimmten, deshalb abstrakten Bindung an das ökonomische Geschehen über Geld besteht der philosophische Begriff von Freiheit, der eine Freiheit des Individuums ist; philosophisch, weil es Simmel um das ganze Sein des Individuums geht im Sinne des »individuellen Gesetzes«, das mit der empirischen Verwirklichung der Geldwirtschaft als ganzheitliche Totalität aus jener Totalität der Ökonomie herausdifferenziert und nur noch dem Geld gegenübergestellt wird: »Was wir Freiheit nennen, steht mit dem Prinzip der Persönlichkeit im engsten Zusammenhang […]. Jene Einheit psychischer Elemente, jenes Zusammengeführtsein ihrer wie in einem Punkt, jene feste Umschriebenheit und Unverwechselbarkeit des Wesens, die wir eben Persönlichkeit nennen – bedeutet doch die Unabhängigkeit und den Abschluß allem Äußeren gegenüber, die Entwicklung ausschließlich nach den Gesetzen des eigenen Wesens, die wir Freiheit nennen.« (Ebd.: 402; Hervorhebung PB)

Es entsteht also erst mit Herausdifferenzierung der Geldwirtschaft die Form des in und aus sich heraus geschlossenen individuellen Lebens (vgl. Kapitel 4.5 in diesem Buch). Damit bezeichnet ist jenes Verständnis von Individualität, welches kennzeichnend ist für Simmels religionstheoretische Überlegungen. Realisiert wird ein Teil der Konstellation, wie sie charakteristisch für Religion ist: Freiheit und Gesetzlichkeit in der Bindung an die Geldform. Es geschieht aber mehr: Mit der Bindung an die Geldform überhaupt wird das individuelle Leben aus der apriorischen Bindung an spezifische soziale wie kulturelle Formen befreit und stellt sich diesen als Totalität

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gegenüber. Das individuelle Leben ist auf Formgebung angewiesen, Auswahl und Gestaltung obliegt nun aber mehr und mehr der Eigenselektion des Individuums. Simmel zeichnet so mit der »Philosophie des Geldes« die religiöse Lage des zeitgenössischen Individuums nach, was auf sich zurückbezogen der Welt gegenübergestellt ist und von hier aus mit dem religiösen Problem einer eigenselektiven Sinngebung konfrontiert ist: das Problem, eigenständig und ein aus sich heraus wirksames Ideal einer Einheit von Leben und Form zu realisieren. Ich werde Form und Konsequenzen dieser Konstellation nun Stück für Stück nachzeichnen. 8.5.1.2 Geld und die individuelle Freiheit zur Assoziation Zwei miteinander zusammenhängende Aspekte sind für Simmel in der »Kreuzung sozialer Kreise« charakteristisch: eine geschichtlich feststellbare Entwicklung hin zu individueller Freiheit einerseits, sowie die – an den Gewinn von Freiheit geknüpfte – freiheitliche Wahl von Assoziationen nach den Gesichtspunkten ihrer Sachdienlichkeit zur Befriedigung persönlicher Interessen. Ich rekapituliere diesen bereits in Kapitel 7 aufgegriffenen Gedanken und versuche dabei zu zeigen, dass und inwiefern Simmel die hinter der Kreiskreuzung stehende Vorstellung von der Wende zur individuellen Freiheit, zweckspezifischer Assoziation und Versachlichung in der »Philosophie des Geldes« auf das Geld zurückführt.119 Dazu ist es zunächst noch einmal wichtig, zwei Zitate aus der »Soziologie« hervorzuholen, die in der »Socialen Differenzierung« noch nicht zu finden und meines Erachtens auf den Einfluss des simmelschen Schaffens an der »Philosophie des Geldes« zurückzuführen sind. Zu Beginn der »Kreuzung sozialer Kreise« bringt Simmel die soziologisch zu konstatierende, sozialgeschichtliche Wende in zwei Formulierungen zum Ausdruck. Jedes Mal geht es um den gleichen Punkt: Das Individuum wird aus der apriorischen Bindung an Geburt, Stand und Ort auf sich und damit auf seine freie Wahlmöglichkeit von Vergesellschaftung geworfen: »Die lokale und physiologische, von dem terminus a quo her bestimmte Zusammengehörigkeit ist hier aufs radikalste durch die Synthese nach dem Gesichtspunkt des Zweckes, des innerlich-sachlichen, oder, wenn man will, individuellen Interesses ersetzt worden.« (SOZ 457; Hervorhebung PB) Eine Seite später benennt Simmel den gleichen Sachverhalt. Indem er nun aber, einerseits, auf Ontologie zurückgreift und diese, zweitens, mit dem empirischen Gewinn von Freiheit in Verbindung bringt, suggeriert Simmel im folgenden Zitat eine schon oben dargelegte Verknüpfung zwischen Freiheit und Individualgesetzlichkeit:

119 Paul macht einen ähnlichen Versuch (vgl. Paul 2012: 73-83). Er liest die »Philosophie des Geldes« soziologisch unter der These, die »Philosophie des Geldes« zeige, dass die Wirtschaft als Geldwirtschaft »mehr als ein funktional ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft, sondern deren Zentrum ist.« (Ebd.: 73) Den Nachweis versucht er über eine synthetische, über Simmel hinausweisende, historische Literatur heranziehende Verbindung zwischen der »Soziologie« und »Philosophie des Geldes«: Einmal wird Soziale Differenzierung »mit der Entwicklung der Geldwirtschaft in Verbindung« gesetzt, dann einmal wird die »Philosophie des Geldes« gelesen als eine »Antwort auf Simmels grundsätzliche Frage […], wie Gesellschaft möglich sei.« (Ebd.: 74; Hervorhebung im Original)

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»Denn gegenüber der lokalen oder sonst irgendwie ohne Zutun des Subjekts veranlaßten Bindung wird die frei gewählte in der Regel doch die tatsächliche Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die Gruppierung auf sachlichen, d. h. in dem Wesen der Subjekte liegenden Beziehungen sich aufbauen lassen.« (Ebd.: 458; Hervorhebung PB)

In seinen Ausführungen zur »Individuellen Freiheit« in der »Philosophie des Geldes« schreibt Simmel nun, dass die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft die Trennung »von Sache und Person« realisiere (PDG: 450). Mit Blick auf Herrschaftsverhältnisse im kapitalistischen Betrieb meint Simmel, dass das Geld es gerade vermocht habe, »die Sache und die Person so zu scheiden, daß die [betrieblichen] Erfordernisse« die Individualität des Lebens, ihre »Freiheit […] ganz unberührt lassen.« (Ebd.: 454) Es komme nur auf die Produktion an. Was das Individuum ansonsten ist oder tut, ist – in der Tendenz – nebensächlich. Ein anderes Beispiel für die gleiche entwicklungsgeschichtliche Tendenz zeigt Simmel am Beispiel der Kapitalgesellschaft. Hier verweist Simmel explizit auf den Zusammenhang zwischen historischer Evolution der Geldwirtschaft und der Differenzierung nach Person und Sache, die aus dieser Trennung heraus neuartige, aber freiheitliche Synthesen zwischen beiden Seiten erlaubt. Die Kapitalgesellschaft findet ihre soziale Einheit aus einem gemeinsamen wirtschaftlichen Interesse von Individuen gespeist. Dies bildet ihren Zweck und ihre Existenzberechtigung. Als Prinzip der sozialen Organisation von Kapital löst sich die Kapitelgesellschaft ab dem 15. Jahrhundert aus der ehemaligen familiären Verflechtung »von Hauswirtschaft und Geschäft« (ebd.: 467). Die Kapitalgesellschaft synthetisiert die Geldsummen ihrer Anteilshaber in einer eigenen juristischen Person. Das ökonomische Risiko möglicher Haftung für Fehlinvestitionen wird auf den eigenen Anteil am Firmenkapital beschränkt. Der Verlust verbleibt auf Seiten der Kapitalgesellschaft, die Anteilseigner haften nicht mit ihrem Privatvermögen (vgl. ebd.: 467). Auch wird die unmittelbare operative Beteiligung der Individuen am Geschäft nicht mehr notwendigerweise verlangt (vgl. ebd.: 448-49). Dieses kann einem Management überlassen werden. Internationale Kapitalmärkte gegeben, ist die räumliche Anwesenheit oder Nähe eines Aktieninhabers nicht vonnöten. Die Personalität des individuellen Lebens bleibt bis auf seine Bindung über seinen Kapitalanteil außerhalb der Ökonomie – zumindest auf die partikulare Organisation bezogen. Schließlich kann ein Individuum zur anderen Seite hin Arbeitnehmer in einer anderen Organisation sein. Mit der Beteiligung von Individuen am Kreis des Kapitals einerseits, mit der Teilhabe am Kreis der lohnabhängigen Arbeit andererseits wird ein Stück weit mit der herkunfts- und geburtsbedingten Zuordnung von Personen auf Klassen bzw. Funktionen gebrochen (vgl. ebd.: 663).120 Beide Male läuft der Eintritt in beide soziale Kreise – theoretisch kann es sich natürlich um ein und dieselbe Firma handeln – über die vorrangige Beziehung des individuellen Lebens zum Geld. Die Konstellation befreit die Kapitalgesellschaft von sozialen Restriktionen, und sie befreit das individuelle Leben von der unmittelbaren Verflechtung seines »Seins« mit dem »Haben« der Ökonomie. Beide, Kapitalgesellschaft und Individuum, können nun ihrem Gesetz folgen:

120 Den in das Individuum verlagerten Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital hat Simmel nicht behandelt.

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»Die Fernwirkung des Geldes gestattet dem Besitz und dem Besitzer so weit auseinanderzutreten, daß jedes seinen eigenen Gesetzen ganz anders folgen kann, als da der Besitz noch in unmittelbarer Wechselwirkung mit der Person stand, jedes ökonomische Engagement zugleich ein persönliches war, jede Wendung in der persönlichen Direktive oder Stellung zugleich eine solche innerhalb der ökonomischen Interessen bedeutete.« (Ebd.: 449; Hervorhebung PB)

Die Kapitalgesellschaft war für Simmel das Paradebeispiel des an der Realisierung bestimmter Interessen orientierten Zweckverbandes. An theorietechnisch wichtiger Stelle erwähnt Simmel den Zweckverband im Kreiskreuzungskapitel der »Soziologie«. Eine im sachlogischen – nicht zeitlichen – Sinne mittlere Stufe der Realisierung individueller Assoziationsfreiheit war der Zusammenschluss von Korporationen – deren Mitglied das Individuum war – eines immer noch gleichen Typus zu einem höherstufigen sozialen Aggregat (vgl. SOZ: 473-74). Gleiche schließen sich mit gleichen zusammen. Die Kreiskreuzung entwickelt sich für Simmel geschichtlich nun so, dass möglicherweise ansonsten ganz unterschiedliche Individuen sich vergesellschaften unter der Einheitsform eines homogenen Interesses (vgl. ebd.: 456-57). Die weitere Beteiligung der Mitglieder an anderen Kreisen bleibt außen vor. Nochmal anders: Der umfassende gesellschaftliche Ballast bleibt in der Vergesellschaftung nach Sachmotiven außen vor, eben weil es allein auf die ›Sache‹ ankommt, um deren willen man mit anderen zusammenkommt. Diese Form sachorientierter Vergesellschaftung realisiert sich Simmel zufolge mit dem historischen Erscheinen des Zweckverbandes. Der »Zweckverband«, so Simmel weiter, gebe dem individuellen Leben erst »die Möglichkeit, mit rein sachlichen Beiträgen zu rein sachlichen Zwecken mit Andern zusammenzuwirken und dabei die Totalität des Ich zu reservieren« (ebd.:474; Hervorhebung PB). In der »Philosophie des Geldes« führt Simmel zwar nicht kausal, aber dem Prinzip nach, die Form und Möglichkeit des Zweckverbandes auf das Geld zurück. Anschließend an das Beispiel der Kapitalgesellschaft, die das Geld des Individuums in den Dienst des Geschäfts treten lässt, das Individuum ansonsten aber außen vor lässt, sagt Simmel: »Das Geld allein konnte solche Gemeinsamkeiten zustande bringen, die das einzelne Mitglied überhaupt nicht präjudizieren; es hat den Zweckverband zu seinen reinen Formen entwickelt, jene Organisationsart, die sozusagen das Unpersönliche an den Individuen zu einer Aktion vereinigt und uns die bisher einzige Möglichkeit gelehrt hat, wie sich Personen unter absoluter Reserve alles Persönlichen und Spezifischen vereinigen können.« (PDG: 467-68; Hervorhebung im Original)

Ein nicht-ökonomisches Beispiel Simmels für den geldvermittelten Zweckverband ist der im 19. Jahrhundert »zur Unterstützung evangelischer Gemeinden« gegründete Gustav-Adolf-Verein (ebd.: 466). Anders als die Kapitalgesellschaft besaß und besitzt er – es gibt den Gustav-Adolf-Werk e. V. noch heute – keinen ökonomischen, sondern religiösen Zweck. Wie Simmel meint, seien die sich im Verein treffenden Glaubensvorstellungen seiner Mitglieder so unterschiedlich gewesen – es trafen sich »Lutheraner, Reformierte, Unierte« (ebd.: 466) –, dass eine gemeinsame religiöse Unternehmung nur durch die Form des Geldbeitrags möglich gewesen sei. Eine über den Förderzweck hinausgehende Sozialisierung der Mitglieder sei nicht möglich gewesen. Es wird gezahlt, um ein religiöses Motiv zu erreichen, nicht mehr. Simmel

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spricht von der »persönlichen Freiheit und Reserve«, mit der das Individuum der Gruppe gegenübersteht, deren Mitglied er ist (ebd.: 465). Seine weitere Lebensführung ist von der Mitgliedschaft nicht betroffen, im Unterschied zu den Lebensgemeinschaften des Mittelalters (vgl. ebd.: 464-65). Es trägt eine Ironie in sich, dass Simmel ausgerechnet religiöse Motive durch die Geldform realisiert sieht, stellt er doch eine von jeher feindschaftliche Attitüde vonseiten der Religiosität allgemein und der Kirche im Speziellen fest (vgl. ebd.: 306). Und doch – die logische Assoziation liegt meines Erachtens doch nahe – bildet im Falle des Gustav-Adolf-Vereins das Geld die Einheit in der religiösen Differenz. Vom Geld die Rede ist in der »Kreuzung sozialer Kreise« in der »Soziologie« nur zweimal und an anderer Stelle, an der es um die Bewusst- und Formwerdung einer durch gemeinsame Geldlohnabhängigkeit gekennzeichneten Arbeiterklasse geht (vgl. SOZ: 493-95). Wie überhaupt das Geld in der »Soziologie« die Rolle eines Inhaltes, nicht den der Form einnimmt – und der Gegenstand der »Soziologie« eben ein anderer ist als jener der »Philosophie des Geldes«. Was meines Erachtens aber nicht daran hindert, der Sache nach den philosophischen Versuch Simmels zu rekonstruieren, das Sein durch einen partikularen Gegenstand bedingt und gebrochen zu sehen. In der »Philosophie des Geldes« vertritt Simmel ausdrücklich die Hypothese, dass es »heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr [gibt], die nicht, als Ganzes, irgend ein Geldinteresse einschlösse, und sei es nur die Saalmiete einer religiösen Kooperation.« (PDG: 468) Ersichtlich ist »Geldinteresse« nicht im Sinne von Geldgewinn oder Geldgier zu verstehen; sondern eher wohl in seinem lateinischen Ursprung, wonach »inter« für »zwischen« und »esse« für Sein steht. Dann ist Geld das, was sich zwischen die Seins-Entitäten schiebt, ja zu schieben hat, soll es zur Assoziation zwischen freien Individuen kommen (vgl. ebd.: 593-94). Geld ist der die Assoziation konstituierende Kreuzungspunkt. Diese Interpretation würde ein entsprechendes Schlaglicht werfen auf ähnlich lautende Textpassagen Simmels, wonach die gegenwärtige »objektive Kultur durch das Geldinteresse gefärbt [sei]« (ebd.: 305), oder dass »die Bedeutung des Menschen für den Menschen mehr und mehr, wenn auch oft in sehr versteckter Form, auf geldmäßige Interessen zurückgeht.« (Ebd.: 664) Das hier genannte Verständnis von Interesse schließt die unter Umständen näher liegende Interpretation der – sich unter Umständen in den Vordergrund schiebenden – Geldbegierde nicht aus, aber umgekehrt wäre eine materialistisch-reduktionistische Interpretation meines Erachtens zu kurz gegriffen. Ich hatte darauf bereits weiter oben aufmerksam gemacht (vgl. Kapitel 8.3.3 in diesem Buch). Eine religiöse Kooperation zahlt die erforderliche Saalmiete, Geld ist Mittel zum Zweck. Ein privater Eigentümer oder öffentliche Kassen mögen ein Verdienstinteresse besitzen, und die religiöse Kooperation muss die Mittel auftreiben, durch Beiträge oder Spenden beispielsweise, die wiederum verdient werden müssen. Dass an irgendeinem Punkt in der Zweckreihe Gewinninteressen im Spiel sind, stellt Simmel nicht in Abrede, aber darum geht es ihm auch nicht. Simmel geht es umgekehrt darum, dass die Bindung individueller Vergesellschaftung an Geld befreit für nicht-ökonomische Dimensionen der Vergesellschaftung.121 Geld ist die Eintrittskarte für den Beitritt in soziale Kreise. Es ist die

121 Eine beispielhafte Fehlinterpretation ist meines Erachtens jene Papillouds (2003a). Er setzte die durch Ausdifferenzierung von Geldwirtschaft vorangetriebene »Entpersonali-

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nach Auflösung der feudalherrschaftlichen Verflechtung des individuellen Lebens mit Grund und Boden noch verbleibende Restbindung an die Ökonomie. Die identische Form des Gedankens an anderen Inhalten exemplifizierend beobachtet Simmel einen ähnlichen Freisetzungsakt aus Gesellschaft mit dadurch bedingter Möglichkeit neuerlicher, aber eigenselektiver Vergesellschaftung an den individuellen Beziehungen zur Familie wie zum Staat. Beide Strukturwandlungsprozesse führt Simmel allein in der »Philosophie des Geldes« auf die »Coincidentia Oppositorum« des Geldes zurück. Ganz unabhängig von der spezifischen Epoche stünde zu Beginn der individuellen wie gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung »der Zufall der Geburt« in »die Familie« mit einer »Anzahl verschiedenartiger Individualitäten, die zunächst auf diese Verbindung im engsten Maße angewiesen sind.« (SOZ: 45657). Das sich an die Geburt anschließende Schicksal weiterer sozialer Bindungen und das Maß, in welchem diese Bindungen in der Hand des Individuums oder durch den umgebenden Gesellschaftskreis bestimmt ist, dies ist Sache der jeweiligen Epoche. Die Befreiung individuellen Lebens aus der Bindung an die familiäre Enge führt Simmel ebenfalls auf das Geld zurück. Die Ausdifferenzierung einer Geldwirtschaft erleichtere dem Individuum »die individuelle Anknüpfung nach außen […], den Eintritt in fremde Kreise«; und dies deshalb, weil in der Fremde tendenziell »nur nach der geldwerten Leistung oder dem Geldbeitrag« gefragt werde (PDG: 664). Eine Geldwirtschaft kann zumindest dem Prinzip nach für jedes Talent eine Verwendung finden – wenn das Talent nachgefragt wird. Dies erlaubt es Individuen, ökonomisch unabhängig von der Familie »die Existenz auf die ganz individuelle Begabung« zu stellen (ebd.: 664). Die Kinder können vom Land in die Stadt ziehen, um dort Ausbildung, Studium und/oder einen Job zu finden; während noch in traditionalen, feudalherrschaftlichen Sozialverhältnissen das Individuum fest an Grund, Boden und Familie gebunden war. Die geldökonomische Struktur führte zur »Lockerung des Familienzusammenhanges« (ebd.: 664). An anderer Stelle der »Philosophie des Geldes« meint Simmel, dass die Geldwirtschaft die familiären Strukturen derart desintegriert habe, dass »die Familie fast nichts mehr […] als eine Organisation der Erbfolge [sei].« (Ebd.: 468) D. h., nach Auflösung der gemeinschaftlichen Verflechtung von Ökonomie und Familie durch das Geld bleibt am Ende das einzige, was die Familie noch zusammenhält, das, was sich in Geld bemessen lässt: das Erbe und, je nachdem, der Streit darum: »[G]erade weil es auf so viele andere Verbindungsarten der Menschen destruktiv wirkt, sehen wir das Geld den Zusammenhang zwischen sonst ganz zusammenhangslosen Elementen herstellen.« (Ebd.: 468) Die durch das Geld getragene Erweiterung von Assoziationsmöglichkeiten gemäß individueller Gesichtspunkte lässt sich mit Simmel aber auch auf das Ideal moderner Liebe übertragen, wie es dem »Bürgerstand des 18. Jahrhunderts« unerhört gewesen sein muss (SOZ: 809). Mit dem Wegfall »religiöser Schranken« wie der »Herabsetzung der elterlichen Autorität« sowie der »Beweglichkeit im lokalen wie im sozialen Sinne usw.« habe sich, so Simmel, der »Kreis möglicher Gattenwahl […] außerordentlich erweitert« (ebd.: 809). Individuen entscheiden sich füreinander in dem »Be-

sierung sowohl aller Werte und Objekte« mit der »der Menschen« in eins (ebd.: 164). Der Mensch wird erst zur Persönlichkeit mit der Entpersonalisierung der Werte und Objekte, Sache und Person verselbständigen sich erst gegeneinander.

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wußtsein« der wechselseitigen Bestimmtheit »für einander« (ebd.: 809). Diese »individuelle Freiheit« sei »Freiheit«, weil sie »durch die Individualität beschränkt ist.« (ebd.: 809). Simmel führt die Form der Liebe zwar nicht explizit auf die Geldform zurück. Hinter der inhaltlichen Beschreibung steht aber das gleiche Muster – oder auch: der gleiche Geist – der beidseitig durch das Geld bedingten Entflechtung und Befreiung der Individualität aus fixen sozialen Bindungen einerseits und der Öffnung des Handlungsraumes andererseits. Familiäre Desintegration und Individualisierung der Liebe wären dann zwei Seiten ein und derselben Medaille. In territorial-politischer Hinsicht sieht Simmel eine Verselbständigung des Individuums in der institutionellen Evolution der Geldsteuer begründet (vgl. PDG: 42223). Im Ergebnis, so Simmel, würden »die Steuern das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern wesentlich geldwirtschaftlich« bestimmen (ebd.: 423). Die Form der Steuer habe sich allmählich aus überindividuellen, vergleichsweise wenig veränderlichen Attributen gelöst. Eine unabhängig von Fluktuationen in den individuellen Einkommens- oder Verschuldungsverhältnissen auf Grund, Boden oder Gebäude erhobene Objektsteuer ist ebenso ein Beispiel für letzteres wie eine »Kopfsteuer« oder eine an der sozial-ökonomischen Klassenlage orientierte »Klassensteuer« (ebd.: 422); auch wenn die an der »Gesamtlage« eines Durchschnitts orientierte Klassensteuer gegenüber einer unabhängig von der individuellen wirtschaftlichen Lage zu zahlenden Kopfsteuer einen Fortschritt im Gewinn individueller Freiheit darstelle (ebd.: 422; Hervorhebung im Original). Die Einkommenssteuer dagegen sei »eine genaue Funktion des individuellen Einkommens« (ebd.: 423). Hier ist die zu entrichtende Steuer vollständig auf den individuellen ökonomischen Output gestellt, und nicht mehr an sonstigen überindividuellen oder Kollektivmerkmalen orientiert. Die Tendenz auf die Einkommenssteuer hin sah Simmel bezeichnenderweise »im 18. Jahrhundert schon beim ersten Aufdämmern der liberalen Ideen« aufgekommen (ebd.: 423). Die Einkommenssteuer, so fasst Simmel seinen Gedanken zusammen, lasse »der Totalität des wirtschaftlichen und sonstigen Seins […] möglichste Freiheit« (ebd.: 423). Wie Simmel an anderer Stelle der »Philosophie des Geldes« meint, habe die Tatsache, dass Individuen nur noch die »bloße Geldsteuer« zu entrichten hätten, in England zu einem Rückzug der oberen Klassen aus dem »Self-Government« geführt (ebd.: 464). Früher seien sie durch den nicht beweglichen Grundbesitz an ihre Gemeinschaften gebunden gewesen, und dies nicht nur in einem ökonomischen, sondern eben auch sozialpolitischen Sinne besitzbürgerlicher Souveränitätspraxis. Geld aber macht von der Lokalität unabhängig – und lässt damit auch der Entscheidung über ein wie auch immer inhaltlich geartetes soziales Engagement einen entsprechenden Raum. Das Individuum gewinne »eine neue Selbständigkeit den unmittelbaren Gruppeninteressen gegenüber«, weil es mit dem Geld »den Anspruch auf die Leistungen der Anderen in verdichteter, potenzieller Form mit sich herum [trage]« und damit »die Wahl [habe], wann und wo er ihn geltend machen will« (ebd.: 463). An die Stelle der lokalen Selbstherrschaft tritt deshalb nun die durch Steuergelder unterhaltene staatliche Bürokratie (vgl. ebd.: 464). Ich möchte an dieser Stelle die Interpretation Wilhelm Hankels erwähnen, der das simmelsche Geld als ein »Kampfmittel der Individuen in ihrem Bestreben nach persönlicher Autonomie und Privatheit« versteht und, so Hankel weiter, »nicht [als] Herrschaftsmittel des Staates, sondern [als] Gegenmittel gegen zu viel und zu drückende Staatsherrschaft, wie auch immer sich diese darstellt und manifestiert.« (Hankel 2003: 246-47) Manche mögen

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hierbei an legale oder illegale Formen der Steuervermeidung denken. Aber auch der Wechsel des Arbeits- und Wohnortes – mit der Zahlungsfähigkeit und der Möglichkeit zur Migration als Voraussetzungen – stellt eine Möglichkeit dar, sich unpässlichern Umständen zu entziehen. Nun muss gesagt werden, dass Simmel die in der »Soziologie« thematisierte Verlagerung des Konfliktes zwischen unterschiedlichen sozialen »Forderungskreisen« in die Individualität des Lebens (vgl. Kapitel 6.4.3 in diesem Buch) in der »Philosophie des Geldes« nicht zum Gegenstand gemacht hat. Er hat aber dessen geldwirtschaftliche Voraussetzung studiert, und damit: den Keim der Entfaltung des Sozialdualismus, der ja für Simmel zugleich Möglichkeitsbedingung der Erfahrung eines Entelechie-Bewusstseins gewesen ist (vgl. SOZ: 468). Die relevanten theorietechnischen Parallelen werden jedoch erst in einem von Simmel selbst nicht explizierten Vergleich sichtbar. Die in der »Philosophie des Geldes« entbundene und an materiellen Beispielen vollführte abstrakte Bindung an die Geldform entspricht die Aussage Simmels in der »Soziologie«, dass die »Entwicklung der Tendenz auf Vermehrung der Freiheit […] nicht die Bindung [überhaupt]« aufhebe, aber »sie macht es zur Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist.« (Ebd.: 458) Die Indifferenz zwischen Leben und Form – oder zwischen dem »Sein« und dem »Haben« – wird durch die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft entflochten durch die (Rück-)Bindung von Vergesellschaftung an die Geldform. Die unterschiedlichen Interessen wie Begehren des Individuums sind nicht mehr an ihre Befriedigung in einer bestimmten, a priori festgelegten Gruppe gebunden, sondern sind frei, jeweils für ein singuläres Motiv eine Vergesellschaftung mit anderen – einen Kreis – zu finden. Um das Gesagte mit einem selbstgewählten Beispiel zusammenzufassen: Eine protestantische Tochter mag um eines Jobs in einer weiter entlegenen Stadt wegen ihr Elternhaus verlassen. Sie nimmt eine gegen Geld entlohnte Arbeitsstelle an. Einen Teil dieses Geldes mag sie in ein Wertpapierportfolio zur privaten Altersvorsorge investieren, einen weiteren Teil ihres Gehalts lässt sie regelmäßig der Diakonie zukommen. Mit ihrem Wertpapieranteil teilt sie das Interesse des Kapital-»Kreises«, als Arbeitnehmerin teilt sie das Interesse lohnabhängiger Beschäftigter, der ArbeiterKlasse. Monatlich überweist sie den Mitgliedsbeitrag ihres Fitnessstudios, ebenso wie die Miete für die Wohnung. Auch der die Liebesbeziehung zum Partner pflegende Kino- und Museumsbesuch sowie die Zutaten für das selbstzubereitete Essen bei Kerzenschein kosten: Geld. Die Begehrungsbefriedigung der individuellen Triebkräfte kann sozusagen arbeitsteilig geschehen. Die Gestaltwerdung individueller Interessen geschieht in Gruppen, Verbänden und Organisationsformen, die nicht mehr a priori miteinander koordiniert sind. Die Teilnahme an der Kulturwelt Ökonomie, um nur ein Beispiel zu nennen, kann so ganz unterschiedliche soziale Gestaltungen annehmen: Konkurrenz, Streit, Herrschaft, Arbeitsteilung, Solidarisierung. Die arbeitsteilige Differenzierung zwischen Kapital und Arbeit im kapitalistischen Betrieb hatte ich bereits erwähnt, ebenso die Marktkonkurrenz. Die Ware Arbeit bildet einen »Faktor« in einem »kooperativen Prozeß« mit der Kapitalseite innerhalb des Betriebs (PDG: 452). Der – wie auch immer brüchige – Frieden im Betrieb kann von einem Konflikt zwischen den organisierten Interessen zwischen Arbeit und Kapital her erfolgen (vgl. SOZ: 309-10, 493-96). Schließlich – eventuell als dritte Form – lässt sich als Ergebnis von Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen die tarifliche Bindung »in ge-

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wissen weit vorgeschrittenen Industrien« (ebd.: 243) erwähnen. Dadurch werden Preise für die Ware Arbeit fixiert, eine Preiskonkurrenz zwischen Arbeitnehmern unterbunden und somit die Eigenlogik der Kulturwelt Ökonomie ein Stück weit durchbrochen durch soziale Organisation. Unternehmen ihrerseits können sich in Konkurrenz gegeneinander, in Interessenverbänden bis hin zum die Marktbeherrschung anvisierenden Kartell miteinander assoziieren. Die Bindung an die eigengesetzliche Sphäre der Ökonomie funktioniert so über unterschiedliche soziale Kontexte in unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung, in denen sich das individuelle Sein einschließlich seiner apriorischen Triebkräfte zu objektivieren vermag. Das sich ergebende Bild ist deshalb auch keines einer prästabilierten Harmonie. Im Gegenteil gehört für Simmel der Dualismus mitsamt dessen sozialer Spezifikation, dem Streit, zum Leben dazu, der Dualismus ist die Einheitsform, in der sich das Leben vollzieht (vgl. ebd.: 286-87, Fn. I). Schließlich noch eine bedeutsame Parallele zwischen der »Soziologie« und der »Philosophie des Geldes«. Simmel meint, wie oben beschrieben, dass das Geld beiden, dem individuellen Leben wie den überindividuellen Formen, einen eigengesetzlichen Verlauf erlaubt, es löst die a priori fixierte Koordination zwischen beiden. Diese Entflechtung zwischen individuellem und sozialem Leben erlaubt es für Simmel erst, dass die sozialen Kreise das Individuum für sich vereinnahmen können. Sie erlaubt aber umgekehrt dem Individuum eine eigenselektive Durchdringung der sozialen Welt. Darin scheint Simmel die – wenn auch nicht offen kommunizierte – Möglichkeit eines religiösen Lebens in der Form selbstgestalteter Ganzheitlichkeit zu sehen, wenn er den Gewinn individueller Freiheit sozialer Assoziationen im Horizont möglicher, wenn auch nicht zwingender Vollendung beobachtet: »[Ü]berall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl von individuellen Lebensinteressen, die sachlich außer Beziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht, – auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemeinschaft usw. – gibt sie die Anlehnung und den Zusammenschluss in Bezug auf jene schließlich an besondere Vereine ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit ist, wodurch denn die Aufgabe der Sozialisierung in viel vollkommenerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere, die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung.« (Ebd.: 487; Hervorhebung PB)

Diese Lage entspricht der Realisierungsmöglichkeit des dritten Aprioris der Vergesellschaftung (vgl. Kapitel 6.3 in diesem Buch). Es ist die Geldform, welche alle Sozialisierung auf die Eigengesetzlichkeit des individuellen Lebens zurückführt – genau das meint Simmel, wenn er meint, das Individuum sei auf sich selbst zurückgeworfen (vgl. SOZ: 846). Die Liberalsemantik der Selbstverantwortlichkeit impliziert philosophisch den alleinigen Schöpfungsgrund der Sozialform in der Logik der Individualität; damit aber auch die Letztverantwortlichkeit für die – in der Praxis wie auch immer prekär und kompromisshaft gehandhabte – Entscheidung zwischen den im Leben zu Einheit und Konflikt kommender divergierenden sozialen Ansprüchen.

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8.5.2 Gesellschaft und Kredit In der arbeitsteiligen Gesellschaft bedarf das individuelle Handeln eines abstrakten, unpersönlichen Vertrauens in das Funktionieren des institutionellen Gefüges dieser Gesellschaft. In kleinen, interaktionistisch strukturierten Kreisen stellt sich eine Vertrauensfrage weniger, sie besorgen die Voraussetzungen ihres Handelns selbst: Die Interdependenzen sind auf die unmittelbare Umgebung beschränkt, und das individuelle Handeln unterliegt der Kontrolle durch die Gruppe (vgl. ebd.: 392-93). In ausgedehnten, arbeitsteiligen Gesellschaften überschreiten die Abhängigkeitsbeziehungen die eigene Wahrnehmung. Eine Kontrolle aller Voraussetzungen, auf denen das eigene Handeln beruht, ist deshalb nicht möglich. Wissen und Unwissen über andere ist nach Sachlogik und Individualität differenziert (vgl. ebd.: 393). Die individuelle Persönlichkeit bleibt vor den von der Gesellschaft bereitgehaltenen Funktionsrollen außen vor und mit ihr unser Wissen über sie. Dafür besitzen wir aus der Erfahrung mit den gesellschaftlichen Institutionen ein hinreichend Vertrauen stiftendes Wissen über die mit den Funktionsrollen verknüpften Verhaltenserwartungen, um ein Handeln auf beiden Seiten der Wechselwirkung zu ermöglichen: »Die Traditionen und Institutionen, die Macht der öffentlichen Meinung und die Umschriebenheit der Stellung, die den Einzelnen unentrinnbar präjudizieren, sind so fest und zuverlässig geworden, daß man von dem andren nur gewisse Äußerlichkeiten zu wissen braucht, um das für die gemeinsame Aktion erforderliche Zutrauen zu haben. Das Fundament an persönlichen Qualitäten […] kommt nicht mehr in Betracht, die Motivierung und Regulierung dieses Verhaltens hat sich so versachlicht, daß das Vertrauen nicht der eigentlich personalen Kenntnis bedarf.« (Ebd.: 394)122

Vertrauen definiert Simmel in der »Soziologie« als eine mittlere Position auf einem sich zwischen vollständigem Nicht-Wissen und vollständigem Wissen entfaltenden Spektrum und bezeichnet es als »Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen« (ebd.: 393).123 »Mittlere Position« ist in einem logischen Sinne gemeint, ein quantitatives Maß gibt Simmel nicht an die Hand. Vertrauen kann also unterschiedlich gut durch Daten unterfüttert sein, aber sie beruht auf Erfahrung, die Verhaltenserwartungen stiftet.124 Die Reproduktion ausge-

122 Mit Luhmann könnte man von »Systemvertrauen« anstelle des Vertrauens in die Person sprechen (Luhmann 1997: 313). Luhmanns Arbeiten an einer Theorie des Vertrauens gehen in Teilen auf Simmel zurück, wie Guido Möllering gezeigt hat (vgl. Möllering 2001: 408-09). 123 In einem von Simmel ausgehenden Versuch einer Theorie des Vertrauens definiert Guido Möllering als eine Eigenschaft des Vertrauens »a state of favourable expectation regarding other people’s actions and intentions.« (Möllering 2001: 404) 124 Luhmann schließt an Simmels Beobachtungen zum vertrauensbasierten Handeln an, wenn er schreibt: »Vertrauen ist ein Wagnis.« (Luhmann 2014: 32) Zwar könne der Vertrauende stets Gründe für sein Vertrauen angeben, diese dienen gemäß Luhmann aber »mehr seiner Selbstachtung und seiner sozialen Rechtfertigung« im Falle des Vertrauensmissbrauchs (Luhmann 2014: 32).

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dehnter Gesellschaften ist durchweg auf die Ressource Vertrauen angewiesen. Deshalb meint Simmel in bemerkenswerter Art und Weise, dass der »Aufbau des modernen Lebens […] in einem viel weiteren als dem ökonomischen Sinne ›Kreditwirtschaft‹ ist.« (Ebd.: 389; Hervorhebung PB) »Kredit« bedeutet im Lateinischen so viel wie Glauben (lat. credere).125 Simmel changiert in seiner Auseinandersetzung mit dem Kreditcharakter des Geldes zwischen den semantisch und sinnhaft nicht leicht auseinanderzuhaltenden Begriffen des Kredits, des Vertrauens sowie des Glaubens (vgl. PDG: 214-218; vgl. Möllering 2001: 405-07; Paul 2012: 215-17). Im Zuge seiner Ausdifferenzierung von dem vorrangig um seiner Substanz willen begehrten Geld hin zum allein der Austauschfunktion dienenden Trägersubstanz – Papiergeld, Münzgeld, Giralgeld – wird Geld eine »bloße Anweisung auf andere, definitive Werte«, ja sogar »eine Anweisung auf die Gesellschaft« (PDG: 213). Simmels Auseinandersetzung mit der Kreditnatur modernen Geldes mündet in der These, dass dessen Funktionsfähigkeit zwar nicht allein, nicht einmal überwiegend, aber »einen Zusatz jenes sozial-psychologischen, dem religiösen verwandten ›Glaubens‹ [besitzt]« (ebd.: 216; Hervorhebung PB). Simmel formuliert den Zusammenhang zwischen Religiosität und Geldökonomie erneut mit der für ihn typischen vorsichtigen Reserve, mit der er auch in der Diskussion funktionaler Nähe zwischen Gott und Geld verfuhr (»psychologische Ähnlichkeit«, ebd.: 305 und »psychologische Formähnlichkeit«, ebd.: 306). Unter der Annahme, dass Geld wie einst Gott eine die Wirtschaft und Gesellschaft erst synthetisierende, umfassende Einheitsform ist, liegt zumindest der Versuch einer Ausdeutung der Reichweite des religiösen Charakters der modernen Kreditwirtschaft nahe, auch wenn Simmel dies selbst nicht unternommen hat. Dafür gehen diese Ausführungen von der bereits dargelegten Substitutionsmöglichkeit Gottes durch Geld als absolute Einheit des Seins aus. Was für Gott gilt, muss – gegeben, die Hypothese funktionaler Äquivalenz trifft zu – für die Geldform gelten. In der »Religion« objektiviert sich der religiöse Glaube aus sich heraus in das Absolute. Den religiösen Glauben interpretiert Simmel als eine apriorische Formungskraft des Geistes, die im Gottesglauben auf keine bestimmte, singuläre empirische Person mehr gerichtet ist, an die man glaubt, sondern »sein Objekt auch dem Inhalte nach aus sich erzeugt« (DR: 74). Ich rekapituliere hierbei bereits in Kapitel 7.2.4 Gesagtes. Den Gottesglauben führt Simmel auf eine Glaubensform zurück, die sich kategorial und analytisch von der theoretischen Form des Glaubens unterscheidet. Letztere ist intellektueller Natur, geglaubt wird aufgrund einer logischen oder empirischen Begründung (ebd.: 73). Dem Inhalt nach ähnelt diese Glaubensform der oben dargelegten Theorie des Vertrauens aus der »Soziologie«. In der »Soziologie« wirkt das Vertrauen handlungsermöglichend, also praktisch; während Simmel dann aber wieder, in der »Religion«, die den Gottesglauben fundierende geistige Glaubenskategorie des Individuums als eine »praktische« definiert (ebd.: 73). Der religiöse Glaube dagegen ist kategorial unabhängig von dem durch Gründe motivierten Glauben (vgl. ebd.: 69-70). Religiöser Glaube steht »jenseits von Wissen und Nichtwissen« (SOZ: 393, Fn. I), er ist »ein überhaupt nicht in der Richtung des Wissens liegender Gemütszustand« (PDG: 216). Beide, religiöser und theoretischer Glaube stehen in unterschiedlichen Ausprägungen einer Wechselwirkung miteinander. Reli-

125 Für die Beziehung zwischen Glauben und Kredit vgl. auch Ferguson 2009: 29-30.

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giosität kann intellektuell stimulierend wirken, und, je nach Wissen, kann theoretischer Glaube ein inhaltlich definiertes Objekt religiösen Glaubens deskreditieren. Im Unterschied zur erkenntnisstiftenden Vitalfunktion des Intellekts besitzt der religiöse Glaube seine Funktion in der Schaffung oder Verstärkung gefühlter Sicherheit und Kraft im eigenen Handeln. Wir können oder tun Dinge, die wir ohne Glauben nicht schaffen würden, wiederum: unabhängig von jeder Evidenz, zumindest für sich betrachtet. Das religiös gläubige Individuum schafft sich ein Objekt, um in der Beziehung zu diesem Objekt dieses dann als Mittel zum Zweck seiner eigenen »Erhöhungen« und ansonsten »unerreichbaren Werterfolgen« zu nehmen (DR: 71). Simmel drückt diese selbstgeschaffene Objektivation in Wechselwirkung in variierenden semantischen Formeln aus wie »Vertrauen auf die Zukunft« (ebd.: 75) oder »Ruhe und Sicherheit« anstelle der »Unruhe und Unsicherheit« (ebd.: 72). Der »Zweifel« wie die »unruhige Sehnsucht« (PRL: 158) gehören für Simmel aber zur Natur religiösen Glaubens dazu wie das Begehren nach Gewissheit (vgl. GLR: 298). Diese »Spannung und Gegenbewegung der Gefühle« (ebd.: 297) artikuliert die Wechselwirkungsform religiösen Lebens, welches mit der Gegenstands-Werdung des apriorischen Prinzips zwischen religiösem Begehren und religiöser Befriedigung oszilliert. Darauf hinzuweisen ist von Bedeutung, schließlich bestand für Simmel die bereits zitierte »psychologische Formähnlichkeit« zwischen Geld und Gott im Wechsel zwischen der Unruhe des begehrenden Noch-Nicht-Habens des Geldes und der befriedigten Ruhe des Geldes (vgl. PDG: 306; vgl. Kapitel 8.3.2 in diesem Buch). Diese sich in wechselnden psychologischen Zuständen äußernde Ähnlichkeit geht nach Simmel wiederum darauf zurück, dass das Geld wie Gott absolute Einheit werde – das Geld ist das »Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrigere in jedem Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können.« (PDG: 305; Hervorhebung PB)

Die Abstraktion der Wertform des Geldes aus der Bindung an zeitlich, sachlich, räumlich oder sozial bestimmte Bindungen macht es erst geeignet, zum Symbol der absoluten Einheit des Seins zu werden. Damit kann es auch an die Funktionsstelle des Christengottes rücken, an den geglaubt wird, um es dann, über die Geldförmigkeit des Tausches, als Mittel zum Zweck von ansonsten »unerreichbaren Werterfolgen« zu verwenden (DR: 71). Geld ist Kredit, so Simmel.126 Simmel interpretiert das konkrete, fassbare Geld als einen abstrakten Schuldschein, der auf unbestimmte andere einlösbar ist (vgl.

126 Vgl. Ingham 1996; Paul 2012: 160-68, 215. Im Unterschied zu wirtschaftswissenschaftlichen oder -soziologischen Untersuchungen interessierte Simmel sich nicht für inhaltliche Details der der Geldzirkulation zugrundeliegenden Strukturation von Finanzmärkten, geschweige denn ihrer politischen Regulierung. Unter welchen (Zins-)Bedingungen Geld von Zentralbanken und von Privatbanken geschaffen werden darf und wird, finanzwissenschaftlich bedeutsame Aspekte wie Eigenkapital, Risiko, Haftung oder die Aufgabe

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PDG: 213-14). Modellhaft unterscheidet Simmel dazu die Unmittelbarkeit des Naturaltausches von der Mittelbarkeit des geldvermittelten Tausches. Im Naturaltausch – aus welchen Gründen wechselseitiger Verpflichtung er auch immer stattfinden mag – bleibt keine Schuld offen, weil die Tauschpartner beider Seiten im Gegenzug für ihre Gabe eine konkrete Gegengabe erhalten. Es werden Werte getauscht. Die Synthese des Tausches durch Geld transzendiert dagegen die Unmittelbarkeit der Tauschsituation. Eine Seite erhält ein konkretes Gut oder eine bestimmte Leistung, die andere Seite erhält für ihre Leistung keine Gegenleistung, oder jedenfalls: keine konkrete, sondern erhält ein Schuldpapier, welches sie bei beliebig anderen Individuen einlösen kann. Dieses Schuldpapier kann natürlich auch eine Münze sein oder, wie gegenwärtig, digitale Gestalt annehmen, was aber im Grunde nur die unterschiedliche Materialisierung ein und derselben Funktion bedeutet: einen Kredit zu geben, der auf unbestimmte Dritte einzulösen ist: »Die Verbindlichkeit aus einer naturalen Leistung ist doch nur auf zweierlei Weise aus der Welt zu schaffen: entweder durch direkte Gegenleistung oder durch Anweisung auf eine solche. Letztere hat der Geldbesitzer in der Hand, und indem er sie an denjenigen, der vorgeleistet hat, übergibt, weist er ihn an einen vorläufig anonymen Produzenten, der auf Grund seiner Zugehörigkeit zu dem betreffenden Wirtschaftskreise jene erforderte Leistung gegen eben dieses Geld auf sich nimmt.« (Ebd.: 214)

Vorausgesetzt ist hierbei der Bedarf nach Geld in einer arbeitsteilig differenzierten Gesellschaft, welcher mit der wachsenden Schwierigkeit entsteht, Angebot und Nachfrage der jeweiligen Partizipierenden an einem Tauschakt miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Die sogenannte Koinzidenz der Bedürfnisse war bereits Gegenstand der Analyse. Simmels Diskussion von Schuld- und Kredit setzt letzteres bereits voraus, problematisiert nun aber deren Lösung: Wie kann es sein, dass das Geld eine die partikulare Tauschsituation umfassende Einheitsform zustande bringt? Und konkret lautet das Problem: Warum nehmen Individuen Geld an? Darauf antwortet Simmel mit den Formeln von Vertrauen und religiösem Glauben. Geld wird zu Geld – in seinem Doppelsinne –, indem die Notenbank eines bestimmten Kreises dem konkreten Geldmaterial ein Symbol aufprägt – »die Prägung« (ebd.: 213). Die Prägung ordnet das Geldmaterial einem bestimmten territorial-politischen Geltungsbereich zu, innerhalb dessen es dann als Tauschmittel funktionieren kann. Natürlich ist dies in einem idealtypischen Sinne gemeint, denn Geld kann auch über seinen ursprünglich intendierten Geltungsbereich als Zahlungsmittel gelten, so wie lange Zeit die Deutsche Mark in Osteuropa als Werterhaltungsmittel zirkulierte oder der Dollar den Status einer global akzeptierten Leitwährung innehaben kann, obgleich die Geldpolitik des Dollars Hoheitsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Das bedeutet, die Funktionsfähigkeit der abstrakten Vermögensform des Geldes ist abgeleitet von der konkreten, durch politischen Akt zustande gekommenen Designation eines Signifikanten. Dies ist die konstitutionstheoretische Umkehr – Wechselwirkung! – der Annahme, wonach der konkrete Geldträger seine Bedeutung

von Banken in der Fristentransformation zwischen kurz- und langfristigen Krediten, diese Dinge spielten in Simmels geldphilosophische Studien keine Rolle.

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als Symbol aus dem abstrakten Vermögenswert bezieht. Die politische »Zentralmacht« – zu Simmels Zeit waren Notenbank und Regierungsexekutive noch nicht unabhängig voneinander – ist es also, die das Kredit- und Schuldgeld erst in Umlauf bringt.127 Mehr noch: Der geldpolitischen »Zentralmacht« obliegt Simmel zufolge neben der Geldemission auch die »Garantie für die Weiterverwertbarkeit des Geldes« (ebd.: 217-218; Hervorhebung PB; vgl. auch ebd.: 213). Die Zirkulation des Geldes – und damit die prozessuale Einheit der ökonomischen Form – setzt die Annahme des Geldes voraus. Das Individuum nimmt aber nur dann Geld an, wenn es darauf vertrauen kann, es auch in Zukunft als Geld verwenden zu können (vgl. ebd.: 215-218).128 Simmel spricht hierbei von »Kreditvoraussetzungen« (ebd.: 215). Zu diesen Voraussetzungen des Kreditgeldes gehört das Vertrauen in seine Wertstabilität wie auch das Vertrauen in die Gesellschaft, welche diese begehrenswerten Güter produziert und gegen Geldzahlung zur Verfügung stellt. Ebenso dazu gehört aber auch das Vertrauen auf die Echtheit der Münze oder des Papiers, welches wir im konkreten Tauschakt entgegennehmen und deren rigorose Überprüfung angesichts der umgesetzten Geld-Waren-Volumina und ihres Tempos sich als eher unpraktisch gestaltet. Das vom Individuum geleistete Vertrauen gleicht Simmel zufolge die Unfähigkeit der Geldpolitik aus, die Weiterverwertbarkeit des Geldes im konkreten, partikularen Tauschakt zu gewährleisten. Geldpolitik vermag dies nicht, weil kein Individuum zur Produktion und zum Verkauf gegen Geld gezwungen werden könne: »Tatsächlich ist der Einzelne also frei, sein Produkt oder seinen sonstigen Besitz dem Geldbesitzer hinzugeben oder nicht – während die Gesamtheit allerdings diesem gegenüber verpflichtet ist.« (Ebd.: 217; Hervorhebung PB).129 Ein kollektivistischer Durchgriff auf

127 Die Deutsche Reichsbank beispielsweise erhielt geldpolitische Autonomie gegenüber der politischen Exekutive erst mit Beschluss vom 26. Mai 1922 (»Deutsches Reichsgesetz über die Autonomie der Reichsbank«). Vgl. dazu auch die Ausführungen von Heike Knortz 2010: 58. 128 Ähnlich heißt es auch bei Max Weber: »Jeder Tausch mit Geldgebrauch […] ist überdies Gemeinschaftshandeln kraft der Verwendung des Geldes, welches seine Funktion lediglich kraft der Bezogenheit auf das potentielle Handeln anderer versieht. Denn daß es genommen wird, beruht ausschließlich auf den Erwartungen, daß es seine spezifische Begehrtheit und Verwendbarkeit als Zahlungsmittel bewahren werde.« (Weber 2010: 489; Hervorhebung PB) 129 Interessanterweise schreibt Axel T. Paul – in Auseinandersetzung mit Simmels Passagen zur Vertrauensproblematik in der Geldannahme – gerade ob der mangelnden Kontrolle über die Geldflüsse den Zentralbanken eine »quasi-religiöse Funktion« innerhalb der Geldökonomie zu (Paul 2012: 219). Zentralbankpolitik, so Paul, simuliere die Kontrolle über die Geldströme, ohne dass dies tatsächlich der Fall wäre. Die absichtsvoll zweideutige Sprache des ehemaligen Präsidenten der US-Amerikanischen Federal Reserve Bank, Alan Greenspan, bezeichnet Paul als »Apotheose bisheriger Geldpolitik« (ebd.: 219). Kraemer und Nessel bezweifeln prinzipiell die Vertrauensbasiertheit der Geldwirtschaft (vgl. Kraemer/Nessel 2015). Ihnen zufolge bedarf die Geldannahme dann nicht des Vertrauens, wenn die eigene Bedürfnisbefriedigung sowie offene Rechnungen bzw. Schuld-

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die Ebene der verkaufenden oder kaufenden Individuen findet nicht statt. Produktionsschwankungen liegen ebenso wenig in der individuellen Souveränität des Geldbesitzers wie der schwankende Geldwert, es können Inflationen und Deflationen entstehen (vgl. ebd.: 456-57). Dies widerspricht doch ein ganzes Stück weit der dazu gleichwohl komplementären, eigenen individuellen Freiheit, die hinsichtlich der Geldausgabe Simmel zufolge gewährt wird (vgl. ebd.: 414). Wie bereits oben beschrieben, bedarf es des abstrakten Systemvertrauens mit der wachsenden, individuellen Uneinsichtigkeit in das Funktionieren des institutionellen Geflechtes. Im Falle des Geldes ist es die Größe der »Gesamtheit des Wirtschaftskreises«, dessen einzelne Individuen durch andere nicht mehr in einem hinreichenden Maß unmittelbar zu beeinflussen oder zu kontrollieren sind (vgl. ebd.: 213). Das Individuum ist von dem es umgebenden Kreis deutlich abhängiger in der Befriedigung seiner nicht mehr autark zu befriedigenden Bedürfnisse, als es in traditionalen Gesellschaftsformen der Fall gewesen ist, zugleich gibt es aber keine – beispielsweise mit physischer Gewalt durchzusetzende – Garantie mehr für deren Befriedigung, und für diese Unsicherheit steht das Geld ebenfalls, dem eigentlich die Aufgabe der Tauscheinheitskonstitution obliegt. »Unsicherheit und Ungleichmäßigkeit« seien »das unvermeidliche Korrelat der Freiheit«, »Unregelmäßigkeit, Unberechenbarkeit, Asymmetrie« stünden in einem »tiefen Zusammenhang mit der Lebensform der Freiheit« (ebd.: 456). Simmel übersetzt nun »das Vertrauen in den Wirtschaftskreise« mit »Glaube« (ebd.: 215). Und er fährt fort: »Wie ohne den Glauben der Menschen aneinander überhaupt die Gesellschaft auseinanderfallen würde, – denn wie wenige Verhältnisse gründen sich wirklich nur auf das, was der eine beweisbar vom anderen weiß, wie wenige würden irgend eine Zeitlang dauern, wenn der Glaube nicht ebenso stark und oft stärker wäre, als verstandesmäßige Beweise und sogar als der Augenschein! – so würde ohne ihn der Geldverkehr zusammenbrechen.« (Ebd.: 215)

Ohne Glaube kein Tausch – und damit eben nicht jene durch ihn beidseitig gestiftete »Werterhöhung«. Simmel meint nun, dass dieser Glaube »in einer bestimmten Weise nuanciert« sei (ebd.: 215). Der die Geldzirkulation tragende Glaube gehe nicht in dem auf empirischen Erfahrungen basierenden Vertrauen auf (vgl. ebd.: 216). D. h.: Die Geldannahme beruht nicht allein – aber auch – auf einem Induktionsschluss vergangener auf zukünftige Erfahrungen. Das Wesen der Geldakzeptanz lasse sich überhaupt nicht auf Empirie reduzieren, auch wenn diese der inhaltliche Anlass sei (vgl. ebd.: 216). Stattdessen meint Simmel: »Allein in dem Fall des Kredites, des Vertrauens auf jemanden, kommt zu diesem noch ein weiteres, schwer zu beschreibendes Moment hinzu, das am reinsten in dem religiösen Glauben verkörpert ist.« (Ebd.: 216) Und weiter: »Auch der wirtschaftliche Kredit enthält in vielen Fällen ein Element dieses übertheoretischen Glaubens, und nicht weniger tut dies jenes Vertrauen auf die Allgemeinheit, daß sie uns für die

kontrakte zur Geldverwendung zwingen. Es bedürfte also der Handlungsalternativen, damit Vertrauen systemrelevant werde.

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symbolischen Zeichen, für die wir die Produkte unserer Arbeit hingegeben haben, die konkreten Gegenwerte gewähren wird.« (Ebd.: 216)

Über einen notwendigen »Zusatz« religiösen Glaubens in Vergesellschaftung überhaupt spekuliert Simmel in der »Soziologie« (SOZ: 393, Fn. I, »Vielleicht«). Phänomenologisch zeigt sich die religiöse Zusatzleistung in dem »Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewährt«, das Sicherheitsgefühl sei »vielleicht die konzentrierteste und zugespitzteste Form und Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung.« (PDG: 216; Hervorhebung PB) Wer Geld annimmt, hat den sozialen Kreis in der Hand, dessen Leistungen es symbolisiert.130 Die Wertform der Ökonomie, eigentlich ein unkontrollierbar Selbständiges, wird durch den religiösen Glauben erneut zu etwas dem individuellen Leben – aus dem die Form stammt – Eigenem gemacht. Der religiöse Glaube schließt die Lücke zwischen Symbol (= Geld) und Symbolisiertem (= Wirtschaftskreis). Er schafft eine Einheit zwischen Leben und Form in dem Sinne, dass letztere der Disponibilität des Individuums obliegt. Diese Lesart legt Simmels Aussage nahe, dass der in der Geldannahme aktive religiöse Glaube das Gefühl einer »Einheitlichkeit« zwischen unserer »Idee von einem Wesen und diesem Wesen selbst« stifte, woraus »Sicherheit und Widerstandslosigkeit in der Hingabe des Ich an diese Vorstellung« stamme, d. h. auf das konkrete Beispiel übertragen: eine in der Geldannahme liegende, durch das materielle Symbol vermittelte Hingabe an den Wirtschaftskreis. Simmel schreibt noch später – freilich in einem anderen Kontext, aber zu hier Besagtem passend –, dass die »Totalität des Habens als Äquivalent der Totalität des Seins« erscheinen könne (ebd.: 435; Hervorhebung im Original). Guido Möllering interpretiert Simmels Hinweis auf den Zuschuss an religiösem Glauben als eine für Vertrauensakte konstitutiv notwendige Komponente der Aufhebung (»suspension«, Möllering 2001: 414, 15). Die die eigenen Handlungen begründenden Handlungserwartungen gegenüber anderen ließen sich nicht einfach aus den Wirklichkeitsinterpretationen

130 Nigel Dodd interpretiert Simmels oben zitierte Aussage, Geld sei »eine Anweisung auf die Gesellschaft«, letzten Endes als eine politische Aufforderung, das gesamte Geld unter politische Kontrolle zu bringen: »Georg Simmel once described money as a ›claim upon society‹. […] The idea that money is a claim upon society is often read as a reference to the connection between money and the state. If this were correct, Simmel’s description of money would represent a call for a reassertation of the rights of states over the production and governance of money.« (Dodd 2015: 435-36) Dodd nimmt Simmel für eine sogenannte Vollgeld-Position in Anspruch, wonach alles geschaffene Geld Zentralbankgeld ist, Privatbanken also keinerlei eigene Geldschöpfung betreiben dürfen, sondern von den Zentralbanken auszuleihen haben. Abgesehen davon, dass aus einem ›Sein‹ kein ›Sollen‹ abgeleitet werden kann, hakt diese Position Dodds noch an einem anderen Punkt, der meines Erachtens symptomatisch für eine breite, ich nenne sie: kollektivistische Lesart Simmels steht. Dodd liest Simmel mit der Letztreferenz Gesellschaft; Simmels Letztreferenz war aber das Leben, seine soziologische Letztreferenz das individuelle Leben, aus der die Formen hervorgehen. Und als solches ist auch die »Anweisung auf die Gesellschaft« eine individualzentrierte, keine gesellschafts-, staats-, oder gar kollektivzentrierte.

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ableiten, es bedürfe stattdessen eines dritten, eigenen Schrittes der Aufhebung der zwischen beiden Schritten liegenden Unsicherheiten und widersprechenden Aussagen: »Suspension can be defined as the mechanism that brackets out uncertainty and ignorance, thus making interpretative knowledge momentarily ›certain‹ and enabling the leap to favourable (or unfavourable) expectation« (ebd.: 414). Das erscheint mir eine plausible Analyse der Leistung der religiösen Glaubensfunktion, Sicherheit aus Unsicherheit zu schaffen. Simmel selbst hat den Bedarf an einem Zuschuss religiösen bzw. »dem religiösen verwandten Glaubens« (PDG: 216) zur Erklärung der Geldannahme nirgendwo weiter begründet.131 Simmel scheint ihn allein aus der Beobachtung eines Gefühlszustands persönlichen Sicherheitsempfindens heraus erschließen zu wollen. Trifft letzteres zu, stellt sich die Frage, ob es sich wirklich nur um einen Zuschuss religiösen Glaubens handeln kann oder der Bogen weiter und umfassender gespannt werden muss. Denn die aus der Oszillation zwischen Unruhe und Ruhe begründete »psychologische Formähnlichkeit« zwischen Geld und Gott geht schließlich über den Charakter eines »religioiden« Spurenelementes hinaus. Geld wird ausdrücklich zu einem Symbol der absoluten Seins-Einheit. Die Seins-Einheit am Geld zu deuten, ist ja gerade der rote Faden der »Philosophie des Geldes«, es ist die ihr zugrundeliegende Intention Simmels. Und sie zeigt sich auch in Simmels Zugriff auf die »Doppelrolle des Geldes«: Die Welt ist uns nur im Konkreten, Greif- und Erfassbaren zugängig, aber das materiell Fassbare besitzt seine Bedeutung aus einer die Individualität der Situation umfassenden Wechselwirkung der Dinge. Geld, so Simmel, sei »der adäquate Ausdruck für das Verhältnis des Menschen zur Welt, die dieser immer nur in einem konkreten und Singulären ergreifen kann, die er aber doch nur wirklich ergreift, wenn dieses [das Verhältnis des Menschen zur Welt; Anmerkung PB] ihm zum Körper des lebendigen, geistigen Prozesses wird, der alles einzelne ineinander verwebt und so erst aus ihm die Wirklichkeit schafft.« (Ebd.: 137; Hervorhebung im Original)

Geld befreit das individuelle Sein aus den Verflechtungen mit der Ökonomie von Grund und Boden, gerade indem es jede Beziehung auf Geld stellt. Der Realabstraktion der Geldform entspricht bei Simmel die Verselbständigung der apriorischen Energien auf Seiten des individuellen Lebens (vgl. dazu Kapitel 8.5.3.1 in diesem Buch). Zu diesen liberalisierten Energien oder geistigen Funktionsarten gehört nach Simmel – ceteris paribus – auch der aus dem Nichts einen Halt schaffende Glaube. Ich meine, die Überlegungen Simmels zum Glauben machen dann Sinn, wenn sie zusätzlich in einen Zusammenhang gebracht werden können mit Simmels kulturphilo-

131 Bruno Accarino verneint ausdrücklich eine Interpretation, welche den Glauben in der Geldannahme religiös aufgeladen sieht (vgl. Accarino 1984). Der wirksame Zusatz des Glaubens sei vor-religiös und ein »Typus von Vertrauen und der Glaube an einen anderen Menschen« (ebd.: 134; Hervorhebung im Original). Ebenso kommt Axel T. Paul nach Vergleich der auch von mir in den Blick genommenen Passagen in der »Soziologie« und der »Philosophie des Geldes« zu dem Schluss, dass die Geldannahme »als vertrauensbasiert und nicht als durch religiösen Glauben zusammengeschweißt« zu charakterisieren sei (Paul 2002: 122).

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sophischen Überlegungen. Wenn Simmel sagt, dass die durch den Glauben gestiftete Sicherheit die individuellen »Kräfte zu […] Erhöhungen aus sich selbst« und »zu sonst unerreichbaren Werterfolgen wachsen lassen« (DR: 71), oder dass der Glaube imstande sei, »eine Begabung […] zu ihrer äußersten Grenze« zu entwickeln (ebd.: 73), dann, so denke ich, steckt dahinter das religiöse Motiv individuellen Heilsstrebens; oder, säkular bzw. immanent gewendet: das Ideal individueller Kultivierung. Eine religiöse Lebensführung bedarf des Glaubens, ob an Gott oder an sich selbst, und dieser Gottes- oder Selbstglaube verleiht die notwendige Sicherheit zur eigenen Höherentwicklung (vgl. Kapitel 7.2.4 in diesem Buch). Die für ein säkulares Heilsstreben erforderliche Selbstsicherheit könnte unter Umständen zusätzlich eines Geldglaubens bedürfen. Ich nehme diesen Punkt im nächsten Abschnitt wieder auf. Dazu muss gezeigt werden, dass und wie sich die Kulturwerdung des Menschen auf Geld als den schöpferischen Einheits- und Fluchtpunkt beziehen lässt. 8.5.3 Geld, Individualität und Kultur Zu beweisen gilt nun, inwiefern Simmels »Philosophie des Geldes« für seine Kulturphilosophie nicht bloß ein in chronologischer Hinsicht bedeutsamer Passagepunkt in der Entwicklung seiner kulturphilosophischen Überlegungen gewesen ist, sondern darüber hinaus auch der Sache nach der Genese verselbständigter Kulturformen als ein einheitlicher Schöpfungspunkt zugrundeliegt.132 Ich rekapituliere hierbei Aspekte der Kulturtheorie, die ich bereits in Kapitel 5 dieses Buches vorgestellt habe. Die »Philosophie des Geldes« ist der erste und einzige Text, in dem Simmel die Herausbildung eigenlogischer Kulturwelten auf die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft zurückführt: »Dieses formale Sich-selbst-gehören, dieser innere Zwang, der die Kulturinhalte zu einem Gegenbild des Naturzusammenhanges einigt, wird erst durch das Geld wirklich« (PDG: 651-52). Simmel greift dabei auf eine vitalphilosophische Metaphorik zurück sowie, zunächst implizit, auf das Bild der Arbeitsteilung: »[D]as Geld funktioniert einerseits als Gelenksystem dieses Organismus; es macht seine Elemente gegeneinander verschiebbar, stellt ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit und Fortsetzbarkeit aller Impulse zwischen ihnen her. Es ist andrerseits dem Blute zu vergleichen, dessen kontinuierliche Strömung alle Verästelungen der Glieder durchdringt, und, alle gleichmäßig ernährend, die Einheit ihrer Funktionen trägt.« (Ebd.: 652; Hervorhebung PB)

Die von vitalistischem Vokabular aufgeladene Sprache von der wechselseitigen Abhängigkeit verweist implizit auf einen arbeitsteiligen Zusammenhang zwischen differenzierten Organen eines Organismus, der durch den Geldstrom vitalisiert und koordiniert wird. Geld und Arbeitsteilung, so hält es Simmel nur kurz davor (erneut) fest, stehen in einem wesenhaften Zusammenhangsverhältnis miteinander: Individuelle Spezialisierung und die Herausbildung einer Geldwirtschaft gehen historisch Hand in Hand (vgl. ebd.: 651). Dies passt zu den soziologischen Ausführungen aus Kapitel 6 dieses Buches: Dort fanden die eigenlogischen Kulturwelten zusammen in der sozia-

132 Ein allgemeiner Hinweis auf den logischen Zusammenhang zwischen Geld, Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung der Kulturwelten findet sich bei Dahme 1993b: 61-64.

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len Form arbeitsteilig herausdifferenzierter, autonom funktionierender Sozialorgane. Dort hatte ich versucht, durch theoretische und semantische Ähnlichkeiten die Geldform gewissermaßen im Hintergrund wirkend indirekt zu lokalisieren. Im letzten Kapitel der »Philosophie des Geldes« weist Simmel ein weiteres Mal auf die die Ökonomie übersteigende, umfassende Rolle des Geldes hin. Geld sei »das Mittel der Mittel, […] die allgemeinste Technik des äußeren Lebens, ohne die die einzelnen Techniken unserer Kultur unentstanden geblieben wären.« (Ebd.: 676)133 Unabhängig davon, in welcher Kulturwelt ein individuelles Zweckhandeln stattfindet: Es bedarf des Geldes. Dies sagt Simmel an dieser Stelle zwar nicht, es lässt sich aber meines Erachtens logisch erschließen. Es fügt sich auch mit der bereits angesprochenen Formnähe zwischen Gott und Geld. Weil jedes Zweckhandeln in der Geldform stattfindet, und d. h.: zunächst Geld haben muss, sprich: vorrangig in Beziehung zum Geld treten muss, um dieses dann umzusetzen für kulturelle Zwecke, ist die Geldform das absolute Mittel (vgl. dazu auch Kapitel 8.3.3 in diesem Buch). So fährt Simmel nun auch weiter fort. In seiner Fähigkeit, die umfassende Einheit der Kulturformen zu sein, vergleicht Simmel das Geld – nicht die Geldwirtschaft – nun nicht mit Gott, aber mit der Religion. Als Form der Wirtschaft stehe das Geld mit den anderen Kulturformen auf einer Stufe, sei »Gleiches oder allenfalls Erstes unter Gleichen« (PDG: 676). Dann stehe das Geld aber »über ihnen […], als zusammenfassende, alles Einzelne tragende und durchdringende Macht.« (Ebd.: 676) Genauso sei auch »die Religion eine Macht im Leben, neben seinen andern Interessen und oft gegen sie, einer der Faktoren, deren Gesamtheit das Leben ausmacht, und andrerseits die Einheit und der Träger des ganzen Daseins selbst – einerseits ein Glied des Lebensorganismus, andrerseits diesem gegenüberstehend, indem sie ihn in der Selbstgenugsamkeit ihrer Höhe und Innerlichkeit ausdrückt.« (Ebd.: 676; Hervorhebung im Original)

In der gefundenen Passage steht der Vergleich für sich, Simmel kommentiert ihn nicht.134 Im »Kulturtragödien«-Aufsatz stellt Simmel eine Analogie her zwischen dem spezifischen Fall des religiösen Dualismus zwischen religiöser Individualität und

133 Hier erneut der Hinweis: Technik versteht Simmel im allgemeineren Sinne des Mittels. Die Kulturformen versteht Simmel auch als Mittel zum Zweck der individuellen Vollendung (vgl. TDK: 196). 134 Silver und O’Neill greifen den Vergleich Simmels zwischen Geld und Religion ebenfalls auf (vgl. Silver/O’Neill 2014). Sie interpretieren das Geld als den Dingen gleichermaßen unterliegende Einheit, die den Dingen die ihnen gemäße Entwicklung erlaube: »Not only is money like religion in that it transcends particular relationships while also permeating and directly transforming them; money also, perhaps most dramatically, goes even deeper. It can be put to simultaneous and even conflicting uses. Money is of use to sinner and saved alike, remaining comprehensive even in practice […]. Because money’s generality holds out the potential for it to be used for anything at all, every particular relationship can direct money according to its own specific terms.« (Ebd.: 392-93) Leider entwickelt sich ihr Aufsatz in der Hauptsache dann doch in eine andere Richtung. Eine kritische Würdigung habe ich weiter oben in Kapitel 8.3.1 versucht.

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Gott einerseits sowie dem allgemeinen Fall des Dualismus zwischen dem individuellen Leben und den Formen, an denen sich das Leben kultiviert, andererseits (vgl. TDK: 213). Ersteren Dualismus interpretiert Simmel als die »weiteste und tiefste Offenbarung« des allgemeinen Vitaldualismus (ebd.: 213). Allerdings: Simmel versteht Religion in dem »Kulturtragödien«-Aufsatz – wie auch in dem entsprechenden Kapitel der »Philosophie des Geldes« – in einem doppelten Sinne: Einmal als partikulare Kulturform neben anderen, die sich aus dem Leben verselbständigt hat. Dann aber als eine über die Spezifik der Kulturform hinausreichende, umfassende Lebensform der Religion. Gemeinsam ist ihnen das unterliegende religiöse Apriori bzw. das religiöse Begehren nach einer umfassenden Einheit. Die Form der Religion, so Simmel in der »Kulturtragödie«, sei »gewiß aus dem Suchen der Seele nach sich selbst entsprungen […], der Flügel, den die eigenen Kräfte der Seele hervortreiben, um sie auf ihre eigene Höhe zu tragen« (ebd.: 212). Dann aber, »einmal aufgekommen«, gehe sie aufgrund »gewisser Bildungsgesetze« vom Leben losgelöste Wege (ebd.: 212). Religion gewinnt Gestalt in von der Individualität des religiösen Lebens gelösten Formen standardisierter Dogmen und arbeitsteiliger Differenzierung einer bestimmten Konfession (vgl. PDG: 645). Zur Heilsstandardisierung kommt es mit der Ausdehnung religiöser Beziehungen und der diese tragenden sozialen Institutionen von Kirche und Priesterschaft. Diese Standardisierung vermag das religiöse Begehren aber nur in geringem Maße zu befriedigen. Die Differenz zwischen Religion und Religiosität spielt an dieser Stelle eine bedeutsame Rolle, denn Simmels Verständnis vom Seelenheil wie jenes von individueller Kultivierung sind identisch. Dies gilt dann bereits aus logischen Gründen, wenn die in Kapitel 7.2.5 dieses Buches vorgestellte Hypothese zur Formgleichheit zwischen »individuellem Gesetz« und Seelenheil ebenso korrekt ist wie die in Kapitel 5.5 dieses Buches vorgestellte Hypothese zur Formgleichheit zwischen dem »individuellem Gesetz« und dem zur individuellen Kultivierung führenden »Weg der Seele zu sich selbst« (TDK: 194). Simmels Theorie individueller Kultivierung kann meines Dafürhaltens nach deshalb als Säkularvariante der Symbolik des Seelenheilsstrebens auf dem Gebiet der Religion gedeutet werden. Abgesehen von den semantischen Vorzeichen beobachtet Simmel mit ihnen aber dasselbe: das Streben und Begehren nach individueller Einheitlichkeit des eigenen Lebens. Diese Einheitlichkeit gewinnt es nicht aus sich heraus, sondern in Formen, in welchen es sich zu objektivieren hat. Das Individuum objektiviert sich in die nach eigenen Gesetzen verlaufenden Formen der Kunst oder der Wissenschaft – obgleich sie konstitutiv auf Aprioris im Individuum zurückgehen –, und an den Produkten der Kunst oder der Wissenschaft – Kunstwerke und Erkenntnisse – kann das Individuum seine Einheitlichkeit gewinnen. Innerhalb der »Philosophie des Geldes« gewinnt der Kultivierungsprozess nun eine monetäre Note. Simmel zufolge ist das Individuum der Schöpfungsgrund des Tauschwertes. Mit der Produktion für den Tausch gegen andere Dinge objektiviert das Individuum den Wert, der in der Eigenlogik des Tausches seinen eigenen Weg geht. Die Dinge erhalten vom individuellen Begehren unabhängige Preise, die zu zahlen (zu »opfern«) sind, um ein Ding zu erhalten. Trotzdem gewinnt das Individuum in genau dieser Form einen ökonomischen Mehr-Wert, weil es mehr zu gewinnen als zu verlieren glaubt. Diese Mehr-Wert-Formel gilt auch für die Kultivierung: »Indem wir die Dinge kultivieren, d. h. ihr Wertmaß über das durch ihren natürlichen Mechanismus uns geleistete hinaus steigern, kultivieren wir uns selbst: es ist der

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gleiche, von uns ausgehende und in uns zurückkehrende Werterhöhungsprozeß, der die Natur außer uns oder die Natur in uns ergreift.« (PDG: 618; Hervorhebung PB) Diese geldförmige Gleichung von ökonomischer und kultivierender MehrWertschöpfung, so meine ich, steckt hinter – oder, als schöpferische Einheitsform: unter – den auf die »Philosophie des Geldes« folgenden kulturphilosophischen Texten, wenn Simmel von dem Weg des Individuums durch die eigengesetzliche Form der Objektivität zu sich selbst spricht – so, wenn Simmel meint, dass es »doch die Formel der Kultur [sei], daß subjektiv-seelische Energien eine objektive, von dem schöpferischen Lebensprozeß fürderhin unabhängige Gestalt gewinnen und diese ihrerseits wieder in subjektive Lebensprozesse in einer Weise hineingezogen wird, die dessen Träger zur abgerundeten Vollendung seines zentralen Seins bringt.« (TDK: 214)

Vollendung oder Kultivierung beschreibt Simmel wiederholt in Termini prozessualer, infiniter Mehr-Wertschöpfung, wie beispielsweise als zur »nächst höheren Station« führend (ebd.: 208), als »ein Mehr, […] ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst« (ebd.: 194), wo die partikularen Kräfte des Individuums »alle auf eine höhere Stufe« gehoben werden, auf der »sie das ganze als Einheit vollenden helfen.« (WK: 370) Von hieraus ergibt sich nun auch eine bereits angedeutete Verknüpfung zum religiösen Glauben, welche die vorangegangenen Ausführungen zu »Gesellschaft und Kredit« (vgl. Kapitel 8.5.2 in diesem Buch) mit Plausibilität anreichern könnten. Im Religionsbuch sagt Simmel explizit, der Gottesglaube ermögliche eine ansonsten nicht mögliche individuelle Wert-Erhöhung. Schaut man genauer hin, weist die folgende Textstelle eine Ähnlichkeit mit der Mehr-Wertstruktur individueller Kultivierung auf: »Die Seele schöpft zwar […] die Kräfte zu jenen Erhöhungen aus sich selbst, aber indem sie sie die Station des Gottesglaubens passieren läßt, gewinnen sie eine konzentriertere und produktivere Form, sie stellt ihre Kräfte sich selbst gegenüber und kann dadurch und indem sie sie in dieser Gestalt wieder in sich zurücknimmt, sie zu sonst unerreichbaren Werterfolgen wachsen lassen.« (DR: 71; Hervorhebung PB)

Dies ist die Sprache der Kultivierung – aber auch, spezifischer wie allgemeiner zugleich, die Sprache der tauschförmigen Entäußerung zwecks individuellen MehrWertgewinns. Gott lässt sich nun recht einfach durch Geld ersetzen – das absolute »Mittel der Mittel«, ohne welche die Kulturwelten nicht wären. Das Individuum glaubt an die durch das Geld vereinheitlichte Sozialordnung, und im – mindestens religiös gefärbten – Vertrauen auf diese umfassende Geldordnung schafft sich das Individuum erst die Welt der Kultur, welche die Vergegenständlichung seiner apriorischen Prinzipien ist, um an deren Inhalten wachsen zu können – denn Kultivierung kostet. Einen Automatismus gelingender Kultivierung impliziert dies freilich nicht. Dabei war und ist es wichtig, dass Simmel zwischen der objektiven und der individuellen Ebene der Wertkonstitution unterscheidet. Obgleich die Dinge eine objektive Äquivalenz zueinander aufweisen, tauschen Individuen nur unter Voraussetzung eines subjektiven Mehr-Werts. Die empirische Voraussetzung zur Synthese heterogener, potenziell entgegenlaufender Interessenlagen bei gleichzeitiger Äquivalenz auf

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der Objekt-Ebene war deren Geldförmigkeit. Eine ähnliche Unabhängigkeit der individuellen Wertschätzung von den zu erfüllenden Standards auf der ObjektivationsEbene gilt ebenfalls für die Kultivierung der individuellen Einheitlichkeit: Was für sie einen Mehr-Wert ihrer Entwicklung darstellt, ist relativ unabhängig von dem Wahrheits- oder ästhetischen Wert innerhalb ihrer entsprechenden, eigenlogisch verfahrenden Formen, und auch unabhängig davon, was andere Individuen als für ihre eigene Entwicklung angemessen beurteilen. Weder bestimmt das »Literarische Quartett« oder die Umstrittenheit bestimmter Hypothesen über den kultivierenden Wert bestimmter Produkte, noch besitzt Kultivierung einen Mindestpreis. Weiterhin gilt es, auf einen Umschlagpunkt hinzuweisen, der mit der Gegenstandswerdung von apriorischen Energien verknüpft ist, den der individuellen Eigenselektivität. Nicht jedes Mehr, sondern nur ein bestimmtes Mehr an von uns erworbenen Produkten kultiviert die Einheitlichkeit, und dies bemisst sich an der Einheitlichkeit – der Entelechie – selbst. Simmel gibt hier keine inhaltlichen Vorgaben; keine Dogmen. Eine bestimmte Fähigkeit, beispielsweise das Sprechen einer Fremdsprache, oder ein Fachwissen mag durch die Lektüre von Fachzeitschriften erworben werden. Dann wird eine bestimmte Formungskraft im Individuum – hier: Intellektualität – in eine bestimmte Richtung hin erzogen. Aus einer psychologischen Sicht des individuellen Lebens können die aneignungsfähigen Produkte der Kultur nur Mittel zum Zweck des Mehr-Lebens selbst sein. Für die einzelnen apriorischen Kräfte heißt dies aber: Die Ausbildung der jeweils singulären Kräfte wie Intellektualität, Erotik, Ästhetik, haben sich an ihrem Entwicklungsbeitrag zum Ganzen zu bemessen: »Dies ist eine, wenn man will, metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens – in wie weitem Abstand von dem realen Verhalten sich auch dieser symbolische Ausdruck halte: daß die Einheit der Seele nicht einfach ein formales Band ist, das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte umschließt, sondern daß durch diese Einzelkräfte eine Entwicklung ihrer als eines Ganzen getragen wird und dieser Entwicklung das Ziel einer Ausgebildetheit innerlich vorangestellt ist, zu der alle jene einzelnen Vermögen und Vollkommenheiten als Mittel erscheinen.« (TDK: 195-96)

Die Entwicklung spezifischer Fähigkeiten für sich genommen besitzt also aus der Perspektive der Selbstvollendung des ganzheitlichen Seins keinen Selbstzweck. Diese Situation unterscheidet sich fundamental von der auf der Objektivationsebene, auf der sich die partikularen Aprioris in jeweils nach eigenen Gesetzen verlaufende, schöpferische Formen bzw. Welten verselbständigt haben. Zu diesem Punkt komme ich gleich zurück. Die soziale Form der Verselbständigung eigenlogischer Kulturwelten aus dem und gegen das Leben bildet nach Simmel die »Arbeitsteilung; und zwar sowohl nach ihrer Bedeutung innerhalb der Produktion wie der Konsumtion.« (PDG: 628; Hervorhebung im Original). Arbeitsteilung als die soziale Reproduktionsform verselbständigter Kulturwelten prononciert Simmel auch in seinen anderen kulturphilosophischen Schriften (vgl. TDK: 221; WK: 372). Die Verselbständigung einer Form gegen Produktion und Konsumtion bedeutet, dass es zwar noch des Lebens zwecks Reproduktion bedarf, die Individualität sich »aber nur wie ein zufälliger Inhalt [in die

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Form] einfügt« (SOZ: 604). Es bedarf des Lebens überhaupt, nicht von Relevanz sind die individuellen Merkmale dieses Lebens. Das Leben vitalisiert die Form, lädt sie auf. In der Produktion hat sich die Form vom individuellen Leben gelöst, weil die Einheit der Form nicht mehr auf ein einziges, singuläres Leben zurückzuführen ist, sondern auf eine a priori nicht abschließbare Vielfalt von Funktionsträgern. Das individuelle Leben nimmt eine arbeitsteilig spezialisierte Position im Form-Reproduktionsprozess ein, die Bedeutung des produzierten Inhaltes entstammt jedoch der von einer unbestimmten Anzahl von Individuen getragenen, deshalb verselbständigten Form (vgl. PDG: 628-30, 633-34; TDK: 221-222). Mit Blick auf die Konsumtion verhält es sich gleich: Formreproduktion findet nicht statt mit Rücksicht auf individuelles Begehren, sondern ist mehr oder minder standardisiert und richtet sich nach einem bestimmten, die Formlogik konstituierenden Ideal. Das Paradigma Simmels sowohl in der »Philosophie des Geldes« als auch in der »Kulturtragödie« war die arbeitsteilige Produktion des Industriearbeiters einerseits und die mit der Arbeitsteilung einhergehende, von der personalisierten Kundenproduktion gelöste, standardisierte Massenproduktion auf der anderen Seite (vgl. PDG: 628-631). Arbeitsteilige Spezialisierung perfektioniere zwar die industrielle Produktion, gehe aber leicht »auf Kosten der Entwicklung des Produzenten« und entziehe dem individuellen Leben »ein für die harmonische Gestaltung des Ich unentbehrliches Kraftquantum« (ebd.: 628). Ähnliche Tendenzen beobachtete Simmel neben der Ökonomie für die Wissenschaft, das Recht oder die Religion. Der individuelle Beitrag zur Erkenntnisproduktion auf dem Gebiet der Wissenschaft ist beispielsweise verschwindend gering. Er baut auf den von anderen erarbeiteten Methoden und dem von anderen erarbeiteten Wissen auf. Und unabhängig von der individuell zugeschriebenen Bedeutung für die Entwicklung der eigenen Individualität erhält die Arbeit einen Wahrheitswert aus dem Verweis auf andere Erkenntnisse (vgl. ebd.: 632-33). In dieser Relationalität besteht die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Wahrheits-Wert-Produktion von dem die Erkenntnis nur tragenden Individuum. Die Verselbständigung der Form aus den individuellen Lebensinhalten der Produktion und Konsumtion verbindet sich bei Simmel mit einem anderen, dritten Aspekt: der ungebremsten Schöpfungskraft, der Eigenproduktivität der Kulturwelten. Die Kulturwelten produzierten »ein Glied nach dem anderen«, unabhängig von dem »Willen der Persönlichkeit« auf Seiten der Produzenten oder Konsumenten von Kultur (TDK: 217; vgl. auch PDG: 619-621). Es reihten sich »Buch an Buch, Kunstwerk an Kunstwerk, Erfindung an Erfindung« aneinander (TDK: 219). Und in der »Philosophie des Geldes« heißt es: »Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt« (PDG: 621). Die Formen weisen eine »Form- und Grenzenlosigkeit« auf, die deshalb keine »Quantitätsgrenze« mehr kenne (TDK: 219). Nur das Individuum ist aus sich heraus Einheit, weshalb es auch aus sich heraus eine – nicht bloß im biologischen Sinne – organische Kapazitätsgrenze besitzt (vgl. ebd.: 219-20). Für die Wissenschaft wie für die Kunst beobachtet Simmel in dem genannten Sinne einen »Leergang der Methode« (ebd.: 218). Methode, Stil und Technik des wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeitens suchten aus sich heraus zu bearbeitende Probleme und Gegenstände, ohne dass diese in gleichem Maße der Höherentwicklung der Individuen dienen könnten (vgl. ebd.: 218). Diese Form der Dreiteilung: Reproduktion, Konsumtion und Verselbständigung der Kulturwelten ist, wie ich meine und hoffe, einigermaßen innovativ. Wie ich spä-

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ter zeigen werde, hat die Sekundärliteratur zu Simmel meines Wissens nach dessen Differenzierung nach Produktion und Konsumtion von Kulturinhalten nicht zur Kenntnis genommen, obgleich sie sich bei Simmel finden lässt und gerade in der Differenzierung der tragisch-ambivalente Möglichkeitsgrund zur individuellen Kultivierung wie zu dessen Verkümmerung liegt. Auf dem Übersehen der Differenzierung beruht meines Erachtens einerseits eine irrtümliche, ihrerseits vereinseitigende – vielleicht sogar ideologische – Vereinnahmung Simmels für eine Kritik an einer das Individuum verkümmernden gesellschaftskulturellen Ordnung. Andererseits können selbst die Ambivalenz von Kultur konstatierende Exegesen nicht hinreichend erklären, worauf genau eine individuelle Kultivierung unter Bedingungen arbeitsteiliger Spezialisierung beruhen kann. Beide Aspekte sind auf die selektive Wahrnehmung einer arbeitsteiligen Ordnung zurückzuführen, in der sich das bloß als produzierend wahrgenommene Individuum nicht mehr wiederfinden kann. Das zur Kultivierung fähige Individuum konsumiert aber auch, es kann auswählen aus von anderen produzierten Kulturinhalten. Wie gesagt, eine detailliertere, inhaltliche Auseinandersetzung erfolgt später. Die bis hier genannten, nur analytisch voneinander zu trennenden drei Aspekte der Kulturwelten: schöpferische Verselbständigung der Form (Kapitel 8.5.3.1), ihre Produktion (Kapitel 8.5.3.2) und Konsumtion durch das individuelle Leben (Kapitel 8.5.3.3) werde ich in den folgenden Abschnitten versuchen, jeweils mithilfe der »Philosophie des Geldes« auf ihre konstitutionstheoretische Quelle, das Geld, zurückzuführen. 8.5.3.1 Die Eigenproduktivität der Kulturwelten Wie lässt sich aus der »Philosophie des Geldes« heraus diese für die Kulturwelten eigengesetzliche, schöpferische Kraft der Kulturwelten erklären? An der Eigenproduktivität der Kulturwelten hielt Simmel noch in der »Lebensanschauung« fest. Mit der »Achsendrehung des Lebens […] werden sie eigentlich produktiv« (LA: 245). Auf die die Kulturwelt vitalisierende Kraft des Geldstroms hatte ich zwar bereits zu Beginn dieses Unterkapitels mit einem Simmel-Zitat hingewiesen. Eine Simmels geldphilosophische Überlegungen berücksichtigende Erklärung des SchöpferischWerdens der Kulturwelten aber war es nicht. Um fündig zu werden, müssen wir zum viertel Kapitel der »Philosophie des Geldes«, der »individuellen Freiheit«, zurückkehren. Die Erklärung liegt in demselben Ausdifferenzierungsprozess der Geldökonomie, welche dem individuellen Leben nur noch eine Funktionsrolle innerhalb des eigengesetzlichen Reproduktionsgefüges der Wirtschaft zuwies: Mit der Umstellung auf formal freiwilligen Kontrakt und geldvermittelte Austauschbarkeit von Bindungen wird die Individualität des Lebens auf der anderen Seite der Ökonomie ›herausgepresst‹. Genau dieser Differenzierungsakt sorgt ebenfalls und komplementär zur Differenzierung zwischen individuellem Leben und ökonomischer Form dafür, dass der durch das Geld getragene Differenzierungsprozess sich nicht auf die Wechselwirkung zwischen dem individuellen Leben und der ökonomischen Form beschränkt. Zusätzlich differenzieren sich auf Seiten des individuellen geistigen Lebens die nicht-ökonomischen apriorischen Formungskräfte heraus aus ihrer vormaligen undifferenzierten Einheit mit den ökonomischen Energien:

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»[E]s sind die verschiedenen Interessen und Betätigungssphären der Persönlichkeit, die durch die Geldwirtschaft ihre relative Selbständigkeit erhalten. Wenn ich sagte, daß das Geld die ökonomische Leistung aus dem Ganzen der Persönlichkeit herauslöst, so bleibt, absolut genommen, jene doch immer ein Teil der Persönlichkeit, diese andrerseits bedeutet jetzt nicht mehr ihr absolutes Ganze, sondern nur noch die Summe derjenigen psychischen Inhalte und Energien, die nach Aussonderung der ökonomischen übrig bleiben. So kann man die Wirkung des Geldes als eine Atomisierung der Einzelpersönlichkeit bezeichnen, als eine innerhalb ihrer vor sich gehende Individualisierung.« (PDG: 462-63; Hervorhebung PB)135

Die Aufmerksamkeit ist in der Folge auf die durch die Geldwirtschaft getragene Wechselwirkung zwischen Strukturevolutionen der Innerlichkeit des individuellen, geistigen Lebens und Strukturevolutionen der Äußerlichkeit objektiver Formen zu richten. Weil nur noch überhaupt Geld verdient werden muss, findet eine weitgehende Erlösung von den ökonomischen Zusammenhängen statt. Diesen Punkt hatte ich bereits weiter oben erwähnt: »Das Eigentümliche ist, daß das Geld, obgleich, oder vielmehr weil es der sublimierteste Wirtschaftswert ist, uns von der wirtschaftlichen Seite der Dinge am vollständigsten erlösen kann« (ebd.: 416; Hervorhebung PB) Man beachte hierbei die mitschwingende religiöse Konnotation der Erlösungssemantik: Wenn schon nicht unbedingt kontemplative Weltflucht, dann aber unter Umständen eine weitgehende Erlösung von den materiellen Bindungen. Der äußerlichen Befreiung scheint nun eine innerliche Befreiung zu korrespondieren. Es findet eine interne, kognitive Differenzierung zwischen den Formungskräften statt. Explizit weist Simmel an anderer Stelle innerhalb des vierten Kapitels auf die Wechselwirkung zwischen Änderungen auf der Ebene der Objektivationsform einerseits und Änderungen auf der Ebene der Individualitätsform des Lebens andererseits hin: »Die Unfreiheit des Menschen ist damit, dass er von äußeren Mächte abhängig ist, doch erst ganz oberflächlich bezeichnet. Diese äußere Abhängigkeit findet ihr Gegenbild in jenen inneren Verhältnissen, die ein Interesse oder ein Tun der Seele mit anderen so eng verflechten, dass die selbständige Bewegung und Entwicklung desselben verhindert wird.« (Ebd.: 418; Hervorhebung PB)

Beispiel: Wer ästhetisch formulierte Sätze mit deren Wahrheit in eins setzt, trennt psychologisch nicht zwischen Wahrheit und Ästhetik. Dem könnte dann – spinnt man dieses Beispiel mit Simmel einmal fort – eine geringer differenzierte Gesellschaft entsprechen, in welcher nur das Schöne wahr ist. Eine äußerlich gewonnene Bewegungsfreiheit geht dann, ceteris paribus und in dieser Logik bleibend, mit einer innerlichen, geistigen Freiheit einher. Unter innerer Freiheit versteht Simmel das »Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen anderen gegenüber« (ebd.: 418). Die Überprüfung von Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt und das ästhetische Urteil ge-

135 Dass Simmel hier die Persönlichkeit von den ökonomischen Energien unterscheidet, obgleich diese Energien doch aus dem gleichen Leben entstammen, erklärt sich meines Dafürhaltens nach durch den Bezug auf die Austauschbarkeit der Funktionsrollenträger: Ist die Ökonomie auf Funktion und nicht auf Personalität gestellt, wirkt im Ökonomischen jene Energie, die den Menschen gemeinsam ist.

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hen getrennte Wege. Das »Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt« (ebd.: 418). Dies ist die Sprache der Eigenlogik. Das geistige Leben weist aber eine Vielzahl apriorischer Formungskräfte auf. Simmel geht deshalb dazu über, das Verhältnis der inneren Triebkräfte zueinander unter den Bedingungen wechsel- und gegenseitiger Differenzierung zu formulieren. »Freiheit«, so Simmel, könne man dann »als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt. Darin ist die Freiheit im gewöhnlichen Sinne, als Unabhängigkeit von äußeren Mächten, einbegriffen.« (Ebd.: 418-19; Hervorhebung im Original)

Dass Simmel von einer »inneren Arbeitsteilung« zwischen den nun voneinander differenzierten Formungskräften spricht, ist meines Erachtens keine semantische Nachlässigkeit. Dass Leben und Form, Innerliches und Äußerliches sich zur wechselseitigen Deutung eignen, war nicht erst das Thema der »Soziologie« (vgl. SOZ: 850-55), sondern ganz ausdrücklich bereits der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG 655-57). Dort hält Simmel fest: »So besteht ein Relativismus, gleichsam ein unendlicher Prozeß zwischen dem Inneren und dem Äußeren: eines, als das Symbol des anderen, dieses zur Vorstellbarkeit und Darstellbarkeit bringend, keines das erste, keines das zweite, sondern in ihrem Aufeinander-Angewiesensein die Einheit ihres, d. h. unseres Wesens verwirklichend.« (Ebd.: 657; vgl. Lichtblau 1993: 104)

Die philosophischen Grundlagen hierzu hatte ich bereits in Kapitel 7.3.2.1 dieses Buches näher expliziert und auch an einzelnen Inhalten exemplifiziert. Es liegt also nahe, auch im Falle der innerlichen Arbeitsteilung zwischen den schöpferischen Triebkräften eine Wechselwirkung zur Objektivationsebene zu vermuten. Interdependenzen sind es ja auch gerade, welche die Formen der Sozial- und Kulturwelt durchziehen. Interdependenz oder auch die arbeitsteilige Differenzierung stellen für Simmel die Bindungsform dar, unter welcher dem Individuum als lebendige Totalität ein eigengesetzliches Leben erst ermöglicht wird. Die Ausbildung arbeitsteiliger Differenzierung ist soziale Funktionsbedingung einer ausgedehnten Geldwirtschaft. Die innere arbeitsteilige Differenzierung zwischen den apriorischen Energien könnte als Rückwirkung einer durch eine ausgedehnte Geldwirtschaft funktional bedingten Objektivationsform arbeitsteiliger Differenzierung gelesen werden. Und: Beide Male ist Differenzierung und Verselbständigung gleichbedeutend mit dem Gewinn von Freiheit auf der Ebene individuellen Lebens.136 Darauf zu achten ist hierbei, dass Simmel

136 Die Dinge wie beispielsweise unsere Arbeitskraft mögen zu einer sich uns gegenüber im Austauschprozess objektivierenden Ware werden, aber diese Verselbständigung eigener Arbeit in den »wirtschaftlichen Kosmos« ›presst‹ auf der anderen Seite die Form des Individuums hervor. Die Provokation dahinter ist vielleicht erst auf den zweiten Blick zu erkennen: dass es gerade die kapitalistische Entfremdung der Ware (= Mehr-als-Leben)

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die Freiheit der Totalität des individuellen Lebens an die Befreiung jeder ihrer partikularen apriorischen Energien knüpft, und zwar im Sinne einer allein aus sich heraus schöpferisch werdenden apriorischen Form: »Jener alte Satz, daß Freiheit bedeutet, der eigenen Natur gemäß zu leben, ist nur der zusammenfassende und abstrakte Ausdruck für das, was hier in konkreter Einzelheit gemeint ist: da der Mensch aus einer Anzahl von Qualitäten, Kräften und Impulsen besteht, so bedeutet die Freiheit die Selbständigkeit und nur dem eigenen Lebensgesetz folgende Entfaltung jedes derselben.« (PDG: 419; Hervorhebung PB)

Jede einzelne apriorische Energie findet nun ihre Freiheit: Intellektuelle, ästhetische, soziale, erotische; deswegen heißt es eben auch: »Atomisierung der Einzelpersönlichkeit«, da es nach Simmel die »Interessen und Betätigungssphären« innerhalb des individuellen Lebens sind, welche das Geld gegeneinander differenziert (ebd.: 46263). Die monetäre Entflechtung des individuellen Lebens aus der Unmittelbarkeit der Ökonomie bedingt nach außen hin eine eigenselektive Bindungwahl, innerlich sind es die apriorischen Kräfte, die sich gegen- wie voneinander verselbständigen. Die Kräfte sind nun ungebundene »reine Funktion« (DR: 76). Wenn und nur wenn es zutrifft, dass es eine konstitutive Wechselwirkungsbeziehung zwischen dem individuellen Leben und den Objektivationsformen gibt – und zwar derart, dass die Gestaltung der Prinzipien auf der Ebene der Objektivation auf eine entsprechende Gestaltung apriorischer Formungsprinzipien auf der Ebene des schöpferischen Lebens zurückgeht, und vice versa –, dann bedingt die monetäre Lösung des Individuums von der Fesselung an Grund und Boden, Stand und Gemeinschaft die Verselbständigung der nach einer eigenen Logik funktionierenden Kulturformen wie Kunst, Wissenschaft, Religion, Erziehung oder staatlicher Bürokratie aus dem individuellen Leben. Das grenzenlose Wachstum der Kulturformen, es hätte seinen Konstitutionsgrund in der Schöpfungskraft der voneinander losgelösten apriorischen Formungskräfte. Die Produktivkraft der Formen ist die objektivierte Produktivkraft des Lebens; der Autonomie des individuellen Geistes entspricht die Autonomie der Formen, in die sich die Kräfte des Geistes objektivieren. Was Uta Gerhardt als zentrale Aussage für die »Soziologie« nachzuweisen bemüht war: dass die »Einheit von Gesellschaft und Individualität […] in den Handelnden verlegt [wird]« (Gerhardt 2011: 119), gilt für die Formen überhaupt: Auch die dualistische Einheit von individuellem Leben und den Kulturformen verlegt Simmel in das individuelle Leben hinein. Was in der »Lebensanschauung« eine zeitlose Aussage über das Wesen des Lebens ist: seine Selbsttranszendenz, gewinnt in der und durch die Geldförmigkeit seinen geschichtlichen Körper. Das Geld ist dann, im Theoretischen – als »Philosophie« – wie im Empirischen, Form und Mittel, über welches das Leben zu sich selbst finden kann. Allerdings muss gesagt werden, dass der von Simmel beschriebene Verselbständigungsprozess der Kulturformen nicht einheitlich ist, was ihrer ebenso gleichförmigen Rückführung auf die Geldform im Wege steht. Beispielsweise nennt Simmel das Recht als eine weitere Kulturform (vgl. PDG: 618; TDK: 194). Eine Aussage über

aus dem Schöpfungsakt des Individuums ist, der dem Individuum die Verfolgung der Eigengesetzlichkeit seines Wesens erlaubt.

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eine wie auch immer geartete ungebremste Produktion von Urteilen oder ein Anschwellen von Klagen findet man bei Simmel nicht. Auch scheint der geringfügige Einfluss von Richtern keine Rolle zu spielen, die den »Kodex fester Gesetze« zur Anwendung bringen (PDG: 645). Simmel problematisiert ebenso wenig die vielleicht merkwürdig erscheinende Implikation der Subsumption des Rechts unter eine mit Wissenschaft und Ökonomie gemeinsam geteilte Kategorie der Kultur, dass die Partizipation am Recht – außer für die in ihrem Beruf u. U. aufgehenden Richter – kultivierend wirken können sollte. Die Verselbständigung des Rechts gegenüber dem individuellen Leben besteht laut Simmel in dem Missverhältnis zwischen dem »logisch geschlossenen System von Gesetzen« des Rechts zu der Ebene der Konkretion der individuellen Lebenssituation (SOZ: 637). Zwar sei dem Richter Interpretationsspielraum in der Anwendung von Gesetzen gegeben, seine nichtsdestotrotz vorhandenen Grenzen mögen das Problem aber höchstens mildern. Die »von allen Rücksichten gelöste Selbsterhaltung« des Rechtes laufe im schlimmsten Falle den Selbsterhaltungsbedingungen einer Gesellschaft zuwider (ebd.: 637; vgl. auch LA: 290). Ob Simmel unter der »Starrheit« (PDG: 645) die zeitliche Trägheit versteht, mit der Gesetze sich an veränderte gesellschaftliche wie individuelle Lebenserfordernisse anpassen (oder eben nicht anpassen), ist nicht klar, für die Problemkonstitution von Verselbständigungstendenzen aber auch zweitrangig. Die Schaffung von Gesetzen ist auch nicht Aufgabe des Rechts, sondern obliegt der Legislative des Parlaments. Da Simmel Gesellschaft und Kultur vom Individuum her konzipierte, spielten Fragen der Beziehungen zwischen den Kulturformen eine untergeordnete Rolle, so auch zwischen Recht und Politik bzw. Gesetzgebung und Verfassung; auch wenn Simmels Annahme einer Art energetischen Wechselwirkung zwischen den apriorischen Bewusstseinsfunktionen, wonach diese jeweils in einem Zweck-Mittel-Verhältnis zueinander stehen, solcherart Beziehungen zu formulieren denkbar macht. Die Schließung des Rechts vor der ihr dennoch unterworfenen Individualität scheint Simmel kulturtheoretisch bedeutender zu sein als ein irgendwie zu spezifizierender Wachstumscharakter ihrer Form. Der Kontrast zur eigenlogischen Schließung ist die »Verwaltung der Gerechtigkeit durch unmittelbaren Urteilsspruch der Gemeinde«, also aus dem gemeinschaftlichen Zusammenhang unmittelbarer Wechselwirkung einer numerisch kleinen Gruppe (SOZ: 604). Selbst wenn diese nicht vollständig egalitär organisiert gewesen sein mag, hätten sich die Lebensbedingungen der Gruppe viel unmittelbarer im Urteil niedergeschlagen als auf weit ausgedehnte räumliche wie soziale Distanzen hin. Gerechtigkeit war das, was lebensdienlich war (vgl. LA: 289, 291). Für Letzteres steht die parallele Evolution eines sich arbeitsteilig herausdifferenzierenden, den rechtlichen Laien gegenüberstehenden Richterstandes und eines logisch geschlossenen Gesetzeskorpus (vgl. SOZ: 637; PDG: 645; SR: 271). Gerechtigkeit und Urteilsspruch sind also nicht mehr Sache der sozialen Gruppe – oder des sozialen Lebens, wie Simmel auch sagt –, sondern einer spezialisierten, von der Vielfalt und Variabilität individueller Lebensverhältnisse gelösten Kulturform bzw., soziologisch gesprochen, eines sozialen Organs. Im Falle der ausdifferenzierten Religion handelt es sich um einen ebenso wie im Recht starr gewordenen »Schatz bestimmter Dogmen« (PDG: 645). Die Dogmen werden »arbeitsteilig durch eine, von den Gläubigen gesonderte, Körperschaft getragen« (ebd.: 645). Religion differenziert sich in einen die göttlichen Gesetze exekutierenden, gleichzeitig aber auch standardisierenden Priesterstand und eine weltliche

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Seite religiöser Laien. Zwar stellt Simmel eine durch Standardisierung der Glaubensvorschriften hergestellte Entfremdung der Form vom religiösen Leben fest. Es ist aber ebenfalls nicht die Rede von einer quantitativen Überschussproduktion von Glaubensvorschriften oder religiös gebotenen Ritualen, wie es Simmel für die Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst feststellt. 8.5.3.2 Produktion und Berufung Die moderne Ökonomie ist vorrangig eine Geldökonomie und deshalb, so Simmel, könnten sich in ihr gerade auf den Umgang mit Geld spezialisierte »Talente zum Geldverdienen« ausleben (ebd.: 411). Ein häufig sich zeigendes Talent sei die »allgemeine kaufmännische Beanlagung« (ebd.: 411). Schließlich attestiert Simmel dem Börsengeschäft, Medium für die Artikulation eines individuellen Stils zu sein. »An den Transaktionen des großen Finanziers oder Spekulanten kann der Kenner vielleicht die ›Hand‹ der bestimmten Persönlichkeit erkennen, einen eigenen Stil und Rhythmus« (ebd.: 411), im Wertpapierhandel lasse sich »viel eher eine Persönlichkeit ausdrücken« (ebd.: 412). Letzteres hängt für Simmel mit der Eigenart der Börse zusammen, eine eigene Technik im Geldgeschäft zu erfordert. Geld ist an der Börse nicht nur Mittel, sondern »Interessenzentrum«, welches »ganz eigene Normen ausbildet« und deshalb die Ausbildung »einer ganz eigenartigen und tatsächlich sehr ausgebildeten Technik« mit sich bringe, in welcher sich der individuelle »Stil der Persönlichkeit« objektivieren könne (ebd.: 412). Zeitgenössische Beispiele für herausstechende Börsen-Persönlichkeiten sind die US-Investoren Warren Buffett oder George Soros. Über die Ökonomie hinausgehend führt Simmel in der »Philosophie des Geldes« die Ausbildung von spezifisch nicht-ökonomischen »Berufsklassen« (ebd.: 418) auf die Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft zurück. Unter diesen Berufen versteht Simmel die »spezifischen geistigen Tätigkeiten, der Lehrer und Literaten, der Künstler und Ärzte, der Gelehrten und Regierungsbeamten« sowie »des Predigers« und »des Forschers« (ebd.: 418). Ihre Funktion besteht in der »Produktion rein geistiger Werte« (ebd.: 418) in der jeweiligen Handlungsorientierung »an einem objektiven Ideale« einer Kulturform (ebd.: 416). Die Geldentlohnung kann daher kein Marktpreis sein, wie er für Arbeit oder Kapital erzielt wird. Die kontinuierliche Geldentlohnung zeige nichtsdestotrotz, dass die eigene Arbeit »für andere Menschen etwas wert sein muß« (ebd.: 417), dazu stifte das Geld vergleichsweise unbesehen des sachlichen Erfolgs »einen gewissen Halt und psychische Erlösung gegenüber dem Schwanken und Fließen qualitativer Lebenswerte« (ebd.: 417). Die geistigen Berufe zeichnen sich für Simmel dadurch aus, dass zwar immer noch Geld verdient werden müsse; oder, im Falle des vermögenden Rentiers-Gelehrten, Geld vorhanden sein muss. Aber es braucht eben nur noch Geld zur Unterhaltung des Berufs, und dadurch sinkt die Bindung an die Ökonomie: »[E]rst die Geldwirtschaft vermochte dies so zu steigern, daß jemand nun bloß geistiger Arbeiter und sozusagen weiter nichts sein konnte. Das Geld ist so sehr nur wirtschaftlicher Wert überhaupt, es steht von jeder ökonomischen Einzelheit soweit ab, daß es, innerhalb der psychologischen Zusammenhänge, der rein geistigen Betätigung die meiste Freiheit läßt; die Ablenkung dieser wird so ein Minimum« (ebd.: 421).

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Je geringer die Durchdringung einer Gesellschaft mit Geld, desto größer die ökonomische Bindung geistiger Kräfte. Ein Beispiel dafür ist für Simmel erneut die Bindung des individuellen Seins an Grund und Boden. Allerdings meint er auch, dass genau deshalb lange Zeit die über Grundbesitz verfügende Kirche und der Rittersadel in der geistigen Produktion tätig gewesen seien (vgl. ebd.: 416, 421). Die Passage zu den geistigen Berufen zieht ihre Bedeutung aus der Hypothese Simmels, wonach sich Individuen, welche einen geistigen Beruf wie den eines Predigers oder Künstlers ausüben, einer »unerbittlichen Frage« gegenübersehen, und zwar: »ob sie sich oder ob sie die Sache suchen.« (Ebd.: 416) Simmel führt die Bedeutung dieser Fragestellung an dieser Stelle nicht aus. Wer aber nur die »Sache« sucht, besitzt das, was Simmel in der »Kulturtragödie« den »Fachfanatismus« des Spezialisten nennt (TDK: 208). Wiederum macht ein Beruf jemanden nicht zum »Fachfanatisten«, nur weil er spezialisiert ist. »Fachfanatisten« gehen aber am Kultivierungsideal vorbei, wonach die Ausbildung einer spezifischen Energie Mittel zum Zweck einer ganzheitlichen Entwicklung von Individualität ist. Es fällt schwer, die Form des Fachfanatismus von dem Falle der großen Künstlerpersönlichkeit zu unterscheiden, der ebenso mit seiner ganzen Kraft vollständig in nur einer Tätigkeit aufgeht, dadurch aber trotzdem einen Mehr-Wert seiner Individualität erreicht (vgl. Kapitel 8.5.3.3 dieses Buches). Simmels Ausführungen in der »Kulturtragödie« legen nahe, dass das Kriterium für den »Fachfanatisten« in der Bewusstheit der Handlungsorientierung liegt (»...der nur nach der reinen Sachvollendung unserer Werke fragt«, TDK: 207). Weiter geht es mir nun aber um die andere Seite des Berufs, d. h. sein Kultivierungspotenzial. Hier treffen sich nun zwar über »Die Religion«, die »Soziologie« wie über die »Philosophie des Geldes« verstreute, aber in einem Bild zusammenlaufende Ausführungen Simmels. In der »Philosophie des Geldes« sagt Simmel, der Beruf durchziehe »einheitlich das Leben« und schaffe eine »Kohäsion der Elemente« (PDG: 593). In der »Soziologie« bezeichnet Simmel das Ausüben eines Berufs als das »ganz Formal-Allgemeine«, das »immer als ein Zentrum wirken [wird], das viele andre Punkte des Lebensumfanges nach sich orientiert.« (SOZ: 505-06; Hervorhebung PB) Diese Rolle gewinne der Beruf mit der Lösung der ökonomischen Tätigkeit von den – nun erst als solche bezeichenbaren – privaten Interessen, wie der Entscheidung zur Heirat oder der Zugehörigkeit zu bestimmten Vereinen oder Verbänden, wie es Simmel in der »Kreuzung sozialer Kreise« ausführt (ebd.: 504-06). Berufliches und Privates werden unabhängig voneinander und frei für neue, aus dem Individuum heraus kommende Re-Kombinationen. Mit der Semantik von dem Beruf als eine innere Kohäsion schaffendes oder zentralisierendes Element im Leben gibt Simmel dem Beruf eine religiöse Komponente, denn unter der Zentralisierung versteht Simmel eine aus der Einheit des Lebens stammende, Ordnung schaffende Leistung. So schreibt Simmel noch in seinem »Goethe« von dem »Zentrum« des »Ganzen dieser Persönlichkeit« und der »Beschränkung« der apriorischen Triebkräfte »aus eben der Kraft und Zentralität des Gesamtwesens, aus der ihr Wachstum kam.« (GOE: 191). Bereits in der »Philosophie des Geldes« verbindet Simmel Zentrum und ganzheitliche Individualität, nun aber als etwas vom Individuum begehrtes: »Das Individuum begehrt, ein geschlossenes Ganzes zu sein, eine Gestaltung mit eigenem Zentrum, von dem aus alle Elemente seines Seins und Tuns einen einheitlichen, aufeinander bezüglichen Sinn erhalten.« (PDG: 690; Hervorhebung PB) Diese Zentralisierung kann Simmel zufolge offensichtlich

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der Beruf stiften, ohne dass ein vollständiges Aufgehen im Beruf impliziert ist. Warum der Beruf zentralisiert, das sagt Simmel nicht. Vorstellbar ist jedoch, dass er damit die in einer bestimmten beruflichen Tätigkeit verbrachte Zeit meint, einschließlich der vorbereitenden Ausbildungszeit. Im »Exkurs« des ersten Kapitels der »Soziologie« sieht Simmel im modernen, von der Antike unterschiedenen »Berufsbegriff« eine »Zuspitzung« des dritten Aprioris der Vergesellschaftung (SOZ: 60). Dem dritten Apriori zufolge ist ein Individuum nur insoweit vergesellschaftet, wie Vergesellschaftung Ausdruck der individuellen Innerlichkeit ist (vgl. ebd. 58-61). Das Berufsideal vereinigt in sich den Dualismus aus Individualität und Gesellschaft (vgl. Fitzi 2002: 119-122). Denn einmal, so Simmel, halte die Gesellschaft bestimmte Rollen bereit, die aber von unterschiedlichen Rollenträgern erfüllt werden könnten (vgl. SOZ: 60). Aus dieser Perspektive ist die Individualität ihrer Träger nicht von Wichtigkeit. Anderseits: Individuen für sich betrachtet sind zweckvoll handelnde Lebewesen, »die sich als Ichs fühlen und deren Verhalten aus dem Boden der für sich seienden, sich selbst bestimmenden Persönlichkeit wächst.« (Ebd.; 61 Hervorhebung im Original) Für sie ist es sekundär, ob die von ihr besetzte Rolle Austauschbarkeitscharakter hat. Sie nimmt die Position ein »auf Grund eines inneren ›Rufes‹, einer als ganz persönlich empfundenen Qualifikation« (ebd.: 60; Hervorhebung im Original). Im Sinne seines Idealtypus bildet der Beruf eine »Harmonie« (ebd.: 60; Hervorhebung im Original) aus den gesellschaftlichen Anforderungen ihrer Selbsterhaltung und den »individuellen Beschaffenheiten und Impulsen« (ebd.: 60; Hervorhebung im Original). Nur peripher streift Simmel die empirische Voraussetzung des – selbst wiederum eine Voraussetzung von Vergesellschaftung bildenden – Berufsbegriffs, wenn er ihn »im Sinne der persönlichen Differenziertheit und der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaft« versteht (ebd.: 60; Hervorhebung im Original). Konnte eine der Innerlichkeit entsprechende berufliche Position noch nicht gefunden werden, wirkt das Berufsideal trotzdem weiter als Forderung, die postulierte Harmonie zwischen Seins-Individualität und Gesellschaft zu realisieren: »Auf ihr als allgemeiner Voraussetzung ruht schließlich die Vorstellung, dass für jede Persönlichkeit eine Position und Leistung innerhalb der Gesellschaft bestehe, zu der sie ›berufen‹ ist, und der Imperativ, so lange zu suchen, bis man sie findet.« (Ebd.; Hervorhebung im Original)137 In religiösen Termini nannte Simmel die hypothetische Durchsetzung einer vollständigen Übereinstimmung zwischen individuellem Sein und den Formen der Vergesellschaftung, in welches es sich objektiviert, »die vollkommene Gesellschaft« (ebd.: 59; Hervorhebung im Original). Die Voraussetzungserfüllung einer ihrem Ideal nach vollkommenen Gesellschaft schafft Simmel zufolge die Religion durch den jenseits der Empirie liegen Einheitspunkt in der Transzendenz. Sie löst die den Dualismus zwischen Individuum und Ge-

137 Birgit Recki interpretierte die Möglichkeit individueller Kultivierung entlang der Analogie von Simmels drittem Apriori der Vergesellschaftung: Wenn es grundsätzlich möglich ist, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, so Recki, dann müsse gleiches auch in der Kultur möglich sein (Recki 2015: 51-54). Reckis Schluss beruht explizit auf ihrer Einordnung von Simmels Kultur- wie Gesellschaftstheorie in eine transzendentalphilosophische Tradition, wonach die Objektivationen des Sozialen wie der Kultur Gegenstandswerdungen des Menschen sind.

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sellschaft begleitenden Friktionen und Reibungen und konstituiert durch den Bezug auf den transzendenten Gott ein »reineres und vollendeteres Gegenbild« zur empirischen Gesellschaft (DR: 104). Die tatsächlich stattfindende arbeitsteilige Spezialisierung, so Simmel, sei ein Resultat zweier unterschiedlicher Wirkfaktoren. Einmal gebe es die »Verschiedenheit persönlicher Anlagen« (ebd.: 96), die sich in einer bestimmten Tätigkeit ausleben wollen »das Gefühl, zu einer unvertretbaren Leistung berufen zu sein« (ebd.: 103). Die Tätigkeit kommt aus dem Leben. Der zweite Wirkfaktor, der eine einzunehmende Stelle im gesellschaftlichen Gefüge definiert, ergebe sich aus »den spezialisierten Bedürfnissen der Gesellschaft, [...] der Notwendigkeit des Austausches, [...] der nachdrängenden Konkurrenz.« (Ebd.: 96) Beide Wirkfaktoren, Gesellschaft und Individualität, können, müssen aber nicht notwendigerweise die gleiche Richtung einschlagen, und die nicht nur auf die Ökonomie beschränkte gesellschaftliche Form der Konkurrenz exponiert Simmel als treibenden Faktor. Über jeden einmal erreichten Grad arbeitsteiliger Spezialisierung treibe »die nachdrängende Konkurrenz« hinaus (ebd.: 93), und Ergebnis sei eine von der ganzheitlichen Ausbildung individueller Triebkräfte abweichende »Unvollendetheit des Individuums« (ebd.: 93). In der empirischen Form der Arbeitsteilung, so Simmel, »vollzieht sich eine charakteristische Synthese des Berufenseins von innen her durch die individuelle Qualifikation und des Bestimmtwerdens durch äußere Einflüsse, die das Individuum, auch wenn seine Begabung eine ganz unentschiedene ist, zu der bestimmten Leistung designieren. Diese beiden aus verschiedenen Richtungen kommenden Motivierungen lassen in der Praxis ihre Harmonie vielfach vermissen. Wozu die innere Stimme treibt, das wird von den überpersönlichen Bestimmungen und Ansprüchen vielfach abgebogen und in der Entfaltung gehemmt. Was umgekehrt die objektiven Potenzen und Situationen von uns fordern, das liegt von unserer Beanlagung, von dem, was wir eigentlich können, oft weltweit ab.« (Ebd.: 97; Hervorhebung im Original)

Im Religionsbuch war der Berufspriester für Simmel die Verkörperung des religiösen Prinzips, in der Befolgung göttlicher Vorschriften dem »individuellen Gesetz« zu folgen (vgl. ebd.: 97-98). Zugleich war der Priester aber ein Produkt arbeitsteiliger Differenzierung innerhalb der Religion (vgl. ebd.: 95-96). Einen ähnlich gelagerten Fall wie die Religion bietet die Kunst. Die Welt der Kunst ist dualistisch strukturiert, da sie einmal selbst eine von Produzenten und Rezipienten unabhängige, überindividuelle Eigenlogik einer nur am »artistischen Ideale« orientierte Produktion ausbildet, das »l’art pour l’art« (PDG: 619). Dann aber ist die Form der Kunst zugleich der logische Ort künstlerischer Persönlichkeiten, die im Kunstwerk die Totalität ihres individuellen Lebens objektivieren. Dann wirkt das »individuelle Gesetz« des Künstlers, weshalb Simmel dann auch von beispielsweise dem individuellen Stil Michelangelos spricht, der seinen künstlerischen Objektivierungen unterliegt (vgl. PS: 375-77). Das Kunstwerk bezieht seine Bedeutung dann einzig und allein aus dem Künstler Michelangelo, nicht aus einem überindividuellen Stil, dem er sein Wirken unterordnet. Das Kunstwerk ist dann »der reinste Spiegel und Ausdruck des Subjekts« (PDG: 630; vgl. dazu auch Lichtblau 1986: 65). Das Kunstwerk nimmt dann jene geschlossene Form an, welche das individuelle Leben als Entelechieform besitzt. Der ästhetische Maßstab zur Beurteilung gelingenden Gestaltens entnimmt der Beobachter entsprechend dem Kunstwerk selbst (vgl. GK: 385). Es besitzt selbst sein – aus dem Schöpfer

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stammendes, ihn artikulierendes – »individuelles Gesetz«: »[D]as wirklich nur künstlerische Kriterium ist ein ›individuelles Gesetz‹, das aus der Kunstleistung selbst aufsteigt und als ausschließlich ihr eigene ideale Notwendigkeit sie zu beurteilen dient.« (Ebd.: 388; Hervorhebung im Original) Deshalb kann Simmel sagen, das Kunstwerk widerspreche seinem Wesen nach einer arbeitsteiligen Differenzierung auf mehrere Produzenten (vgl. PDG: 629-30; TDK: 222). Es kann nicht aufgeteilt werden, und würde es aufgeteilt, ist es kein Kunstwerk mehr. Schon seinem »Wesen [nach] widerstrebt [es] jener Aufteilung der Arbeit in eine Mehrzahl von Arbeitern, deren keiner für sich ein Ganzes leistet.« (PDG: 629) Arbeitsteilung impliziert nach Simmel einen überindividuellen, durch mehrere Individuen reproduzierte Einheit. Damit ist Simmels kunstphilosophisches Narrativ nicht beschlossen. Simmel meint, individualgesetzliche Schöpfungen sind weniger gut geeignet für die Rezeption durch andere zwecks individueller Kultivierung, als es künstlerische Schöpfungen vermögen, die sich einem überindividuellen Stil einfügen: »Je getrennter ein Produkt von der subjektiven Seelenhaftigkeit seines Schöpfers ist, je mehr es in eine objektive, für sich geltende Ordnung eingestellt ist, desto spezifischer ist seine kulturelle Bedeutung, desto geeigneter ist es, als ein allgemeines Mittel in die Ausbildung vieler individueller Seelen einbezogen zu werden.« (WK: 370-71; Hervorhebung im Original)

Eine – wie auch immer im einzelnen realisierte – standardisierte Produktion eignet sich also besser für die Rezeption durch Kulturkonsumenten. Entsprechend unterscheidet Simmel »innerhalb der ästhetischen Sphäre« (PS: 380) »zwischen Kunstgewerbe und Kunst.« (Ebd.: 376) Das Produkt des Kunstgewerbes nennt Simmel dann auch »Kunstgewerbestück« (ebd.: 379). Von dem Prinzip der Individualgesetzlichkeit künstlerischen Schaffens unterscheidet sich das Kunstgewerbe insofern, als dass »vermöge des Stiles […] die Besonderheit des einzelnen Werkes einem allgemeinen Formgesetz untertan [wird], das auch für andere gilt« (ebd.: 375; Hervorhebung PB). Simmel unterscheidet Individualgesetzlichkeit und Allgemeingesetzlichkeit in der Kunst mit Bezug auf deren Kultivierungspotenzial. Um eine bestimmte Menge von Kunstprodukten geht es nicht. Die »Gegenstände« des Kunstgewerbes »sind dazu bestimmt, in das Leben einbezogen zu werden, einem von außen gegebenen Zweck zu dienen. Damit stehen sie in völligem Gegensatz zum Kunstwerk, das selbstherrlich in sich geschlossen ist, jedes eine Welt für sich, Zweck in sich selbst, schon durch seinen Rahmen symbolisierend, daß es jedes dienende Eingehen in die Bewegungen eines ihm äußeren und praktischen Lebens ablehnt.« (PS :378-79).

Simmel sagt, dass das Allgemeinheitsprinzip des Kunstgewerbes »kein minderwertiges Lebensprinzip als die eigentliche Kunst« sei (PS: 380). Das »Allgemeinheitsprinzip und das Individualitätsprinzip«, so Simmel, besäßen keine »Rangordnung untereinander« (ebd.: 377). Simmel meint einerseits, die Vielheit der Reproduktion liege im »Wesen des kunstgewerblichen Gegenstandes«, und »seine Verbreitung [ist] der quantitative Ausdruck seiner Zweckmäßigkeit, denn er dient immer einem Zweck, den viele Menschen haben.« (Ebd.: 376) Dem Allgemeinheitsprinzip entspricht also eine gewisse Allgemeinzugänglichkeit, auch wenn immer noch gewisse ästhetische Kennerqualitäten auf Seiten der Rezipienten gefordert sind, so Simmel (ebd.: 380).

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Andererseits hebt Simmel dann wieder hervor, den unterschiedlichen Kunstprinzipien von Individualgesetzlichkeit und Allgemeinheit korrespondiere nicht notwendigerweise eine bestimmte empirische Menge eines künstlerischen Produktes. Produkte des Kunstgewerbes können durchaus Auftragsarbeit und »vielleicht nur für einen einzigen Benutzer hergestellt« werden (ebd.: 377). Einmalige Produktion ihrer – dabei einen überindividuellen Stil reproduzierend – kann »Kostbarkeit, Kapriziosität oder eifersüchtige Ausschließung« mit sich bringen (ebd.: 378). Ebenso kann Michelangelos Stil kopiert werden (vgl. ebd.: 376) und für das Kunstgewerbe gedachte Produktionen »von ausgesprochenen Persönlichkeiten« gefertigt werden (ebd.: 377), die »Feinheit und Größe, Vertiefung und Erfindungskraft zeigen« (ebd.: 380). Dennoch: Der »Sinn« eines Kunstgewerbestückes, so Simmel, bleibe dessen »Wiederholtheit«, die des eigenlogischen Kunstwerkes »Einmaligkeit« (ebd.: 378; Hervorhebung im Original). Individualgesetzlichkeit und überindividuelle Gesetzlichkeit können auch an einem Kunstwerk selbst zum Widerstreit kommen. Es handelt sich eher um zwei, miteinander einen Dualismus bildende Prinzipien, durch die sich die Kunst reproduziert und im besten Falle der künstlerischen Persönlichkeit Platz für dessen Objektivation im künstlerischen Beruf lässt: »Die Kunst als Ganzes und das einzelne Kunstwerk stellen sich in ein typisches Verhältnis ein, das man wohl als ein Urphänomen der geistigen Welt bezeichnen kann: daß ein Glied, Element oder Teil eines einheitlichen Ganzen selbst ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes ist oder zu sein beansprucht.« (APA: 10)138

Ein allein durch Geldzahlung vermittelter Kauf von künstlerischen Produkten, so vermerkt Simmel, macht schließlich die Möglichkeit künstlerischer Produktion unabhängiger von der Gunst »des Mäcenatentums« (PDG: 462). Ob diese Form der Produktion beide Stilformen – individualgesetzlich und allgemein – annehmen kann, das sagt Simmel nicht. Im Kontext der individuellen Emanzipation von Künstlern durch die Geldzahlung ist es auch, in welchem Simmel von dem »demokratische[n] Charakter des Geldes« spricht (ebd.: 462). Trotz der Semantik: Die politische Kulturwelt bleibt bei Simmel unterbeleuchtet. Sie bildet keine Welt in der »Lebensanschauung«. Dies verhält sich anders bei Max Weber, demzufolge die auf einem Gewaltmonopol fundamentierende Politik in der »Zwischenbetrachtung« eine ausdrücklich eigengesetzliche Wertsphäre ist (vgl. Kapitel 9.2.1 in diesem Buch). Simmel erwähnt den »Staatsmann« und »Gesetzgeber« (TDK: 206), die staatspolitische Sphäre als Raum individueller Kultivierung bei Simmel ist mit diesen Erwähnungen aber bereits fast abgeschlossen.139 Simmel erwähnt die »Staatsverwaltung«, die »sich nur auf Grund einer raffinierten Arbeitsteilung un-

138 Vgl. zu dem dualistischen Aspekt in der Kunst bei Simmel auch Nedelmann 1991: 18082. 139 Davon zu unterscheiden sind Simmels herrschaftssoziologische Untersuchungen. Herrschaft mag auf den ersten Blick als eine durch und durch politische Form scheinen. »Über- und Unterordnung«, wie das Kapitel später in der »Soziologie« heißt, versteht Simmel allerdings als eine allgemeine Form sozialer Wechselwirkungen, die nicht inhaltlich und damit auch nicht politisch gebunden ist.

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ter ihren Trägern erheben kann.« (PDG: 637) Damit ist aber offensichtlich nicht der legislative, sondern der von Fachbeamten exekutierte Bereich einer Landes- und Bundesbürokratie gemeint, wie man sie beispielsweise aus Deutschland kennt und auch damals kannte (vgl. SOZ: 603-4, 635-36). Sporadisch erwähnt Simmel die demokratische Bedeutung der Geldwirtschaft, die unter Umständen eine politische Objektivation der individuellen Seins-Einheit erlaubt. Solange die im Staatsdienst tätigen Individuen nicht oder kaum entlohnt würden, bedeute allein dieser Umstand – unabhängig von anderweitigen Determinanten politischer Diskriminierung – eine politische Selektion nach materieller Eigenausstattung. Die Nicht-Bezahlung staatlicher Tätigkeit mag dabei auch der Idee entsprungen sein, die berufliche Aufmerksamkeit vom ökonomischen Motiv weg und allein auf die Sache hin zu lenken. Politische Macht und ökonomisches Vermögen gingen dann aber Hand in Hand: »[U]nd so bildet sich in Ländern, die ihre Beamten sehr niedrig bezahlen, oft eine völlige Plutokratie, eine Art Erblichkeit der hohen Ämter in wenigen Familien heraus. Während die Unbesoldetheit der Stellungen das Geldinteresse von dem Interesse des Dienstes scheint lösen zu sollen, wird so gerade die Beamtenstellung mit allen Ehren, Macht und Chancen, die sie bietet zu einem Annex des Reichtums.« (PDG: 278-79)

Ist der Staatsdienst besoldeter Beruf, könnten sich dort auch ökonomisch unbemitteltere Individuen entfalten: »[E]rst die Besoldung der Stellen [ermöglicht] dem unbemittelten Talent seine Verwertung an der richtigen Stelle […].Wenn die klassische Welt bis zu den Sophisten bez. bis zur Kaiserzeit kein Entgelt für geistige und staatliche Leistungen kannte oder kennen wollte, so verbaute sie damit unzähligen Talenten den Weg zu ihrer Verwendung.« (PSYDG: 59)

Die auffällig geringe Rolle, welche die Politik in Simmels Schriften spielt, kann unter Umständen einmal schlichtweg Ausdruck eines geringeren Interesses an Politik seitens Simmels gewesen sein, andererseits aber auch ein historisches Faktum artikulieren, welches Max Weber für die demokratische Situation im Deutschen Kaiserreich konstatierte: die »Machtlosigkeit der Parlamente.« (1988c: 541) In Simmels »Soziologie« finden sich – allerdings unter anderen Vorzeichen – ja durchaus längere Ausführungen zu Politik und Parlamentarismus (vgl. SOZ: 614-625). Hinweise auf politische Eigenlogiken wie die eines aus dem Mehr-Parteien-Parlamentarismus geborenen, inneren Widerstreits aus Sachlichkeit und Ideologie – die »formale Tatsache der Parteiung konkurriert als Entscheidungsgrund mit der sachlichen Einsicht.« (Ebd.: 614) – finden sich auch. Dennoch: Mit Blick auf Max Weber – dem vergleichsweise viel politischeren Charakter als Georg Simmel – lässt sich sagen, dass zumindest der Berufspolitiker eine gewisse Achtung unter Gesichtspunkten der Kultivierung verdient hätte, denkt man beispielsweise an Webers Vortrag »Politik als Beruf«. Ökonomisch gesehen, so Weber, ist der Politikerberuf an ein regelmäßiges Einkommen gebunden. Entsprechend ist zwischen einem plutokratischen System der ökonomisch Unabhängigen einerseits und durch Behörde oder Partei bezahlten Berufspolitikern andererseits zu unterscheiden (vgl. Weber 1988c: 514-15). Ferner sei auch das politische Interesse an der Sicherung der eigenen ökonomischen Existenz auch bei den Vermögensunabhängigen ein historisch stabiles Muster (vgl. ebd.: 515).

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Von der ökonomischen Motivlage unterscheidet Weber das ideelle Interesse von Berufspolitikern. Wer im ideellen Sinne »›für‹ die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne ›sein Leben daraus‹: er genießt entweder den nackten Besitz der Macht, die er ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewußtsein, durch Dienst an einer ›Sache‹ seinem Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser Sache.« (Ebd.: 513; Hervorhebung im Original)

Ich hatte bereits in den Kapiteln 8.3.3, 8.3.4 und 8.3.5 dieses Buches darauf aufmerksam gemacht, dass die Realisierung religiöser Prinzipien – die Objektivation in ein Absolutes – nicht in Reinform geschieht, sondern sich mit der Eigenlogik der Vergesellschaftung ›kontaminiert‹, soll Religion gesellschaftliche Wirklichkeit werden. Eher geht es um Annäherungen, und dies ist auch erst die Voraussetzung dafür, dass das auf den Erfordernissen ausgreifender Arbeitsteilung beruhende Geld überhaupt eine Form des Gottessubstituts sein kann: An die Stelle vollständiger Erlösung vom Materiellen – wofür die Bettelmönche ein Beispiel waren – tritt die reale Abstraktion von der sozialen Bindung durch monetarisierte Wahlfreiheit. In der »Soziologie« konstatiert Simmel eine der ständischen Gesellschaft noch unbekannte »Vielfältigkeit und Abstufung in Berufen«, und diese Vielfalt sei aber »nur durch Arbeitsteilung möglich« (SOZ: 680). Und Individuen haben die Möglichkeit, »aus einer ungeeigneten Stellung in eine geeignete überzugehen.« (Ebd.: 679) Wichtig ist hierbei, dass die Form der Arbeitsteilung im Selbsterhaltungskapitel aus gesellschaftstheoretischer Perspektive die adäquate Form der Selbsterhaltung einer Gesellschaft ist, wenn sie einen bestimmten Komplexitätsgrad überschreitet (vgl. ebd.: 680). Simmel bleibt hierbei allgemein, spricht von dem »Zusammenhalt einer großen Kulturgruppe«, welcher nur unter der Bedingung »ihrer Arbeitsteilung« möglich sei (ebd.: 681). Soziale Mobilität und die inhaltliche Variabilität zulassende Offenheit an Berufen verschalten sich in der Arbeitsteilung. Vergesellschaftung im Beruf wird nun Mittel zum Zweck aus der Sicht des Individuums, zugleich können die Individuen sich – tendenziell – ausleben im Beruf (vgl. dafür Kapitel 6.4.1 in diesem Buch). Die individuelle berufliche Spezialisierung ist es nach Simmel auch, welche in der »Selbsterhaltung« die arbeitsteilige Differenzierung einer Gesellschaft in soziale Organe trägt (vgl. SOZ: 612). Das liegt Simmel zufolge an der Dauerhaftigkeit des Berufscharakters: Die durch Individuen auszufüllenden Rollen bleiben im Dienst. Simmel spricht von der – an die Form des Geld-Stroms erinnernden – »Kontinuität der Form« und von der »Chance, sie in jedem Augenblick wieder zu aktualisieren« (ebd.: 612). In dieser Funktion bleibt die Individualität der Trägerperson außen vor, ganz unabhängig davon, ob aus Perspektive des Individuums dessen Kräfte zu dieser Stelle hin gedrängt haben. Der Beruf, ob Staatsbeamte, Richter, Forscher oder Priester, trägt die Reproduktion eines jeweils funktionsspezifischen sozialen Organs. »Soziale Organe« bilden die soziologische Form der Beobachtung von Kulturformen, d. h. im Vordergrund steht die soziale Wechselwirkung zwischen Individuen. Innerhalb der Organe wird die soziale Wechselwirkung durch die Eigengesetzlichkeit der Kulturformen gebrochen. Das hat zur Konsequenz, dass beide ›Seiten‹ des Organs, die berufliche Produktion wie die Konsumtion, funktionalen, d. h. an der »Sache« orientierten Charakter erhalten. Die Wechselwirkung gewinnt standardisierten, von der

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Individualität absehenden Charakter. Das beobachtete Simmel für das durch Richter und Gesetz getragene Recht, für die durch Beamtentum und Amt getragene staatliche Bürokratie wie für die durch Priester und Kirche getragene Religion (vgl. Kapitel 6.4.1 in diesem Buch). Simmel argumentiert im Selbsterhaltungskapitel zwar aus einer vorrangig soziologischen Perspektive, und trotz sporadischer Erwähnungen spielt das Geld keine für das Kapitel explizit tragende Rolle. In den Annahmen über gesellschaftliche Arbeitsteilung und Individualisierung sowie den Semantiken von der Kontinuität, Variabilität oder Vielfalt wirkt die Geldform aber implizit im Hintergrund. Einmal, weil Arbeitsteilung bei Simmel Geld bedarf, und Geld umgekehrt vermittelndes Symbol sozialer Interdependenzen ist. Trifft diese Anwendung deduktiver Logik zu, ist die abstrakte Vermögensform des Geldes die Einheit der Gesellschaft, und das greifbare, konkrete Geld dessen Symbolwerdung – »eine Anweisung auf die Gesellschaft« (PDG: 213). Gesellschaft wird individuell disponibel. Noch wichtiger ist aber, dass die von Simmel der arbeitsteiligen Gesellschaft zugeschriebenen, durch Fließ- und Bewegungsmotive artikulierten Attribute denen des Geldes gleichen. Dazu gehört beispielsweise auch die sich eher assoziativ erschließende Nähe zwischen der durch den Beruf gewahrten Kontinuität eines soziales Organs und der durch die Geldzirkulation gewährten »Kontinuität der Wirtschaftsreihe« (ebd.: 129; Hervorhebung im Original), insofern Simmel mit Letzterem die zeitliche Dimension der Ausdifferenzierung der Geldwirtschaft meint. Geld ist soziale Form der Wechselwirkungen, weil es a priori für beliebige Inhalte offen ist, und dies gilt für Konsum wie für die (kulturell-geistige) Produktion. In der Zusammenschau des Materials scheint es mir daher, dass dem durch Geld ermöglichten und entlohnten Beruf – als Klammer des Dualismus zwischen individuellem Leben und der sozialen Form – eine religiöse Komponente zugeschrieben werden muss, jedenfalls unter der Annahme einer werkimmanenten Konsistenz der Begriffe.140 Dass de facto doch nicht jeder Beruf das Begehren nach einheitlicher Individualität befriedigt, ist kein Widerspruch vor dem Hintergrund des dualistischen Denkens Simmels, wonach gegensätzliche Kräfte miteinander ringen. Die berufliche Funktionsträgerschaft kann der individuellen Kultivierung abträgliche Konsequenzen zeitigen. In diesem kontingenten Sinne möchte ich Simmels Hypothese verstehen, wonach eine arbeitsteilig bedingte Vereinseitigung der beruflichen Tätigkeit eine Verkümmerung der individuellen Totalität bedingen kann, wie es Simmel in der »Philosophie des Geldes« wiederum musterhaft am Beispiel des Fabrikarbeiters ausführt. Dazu widme ich mich im Folgenden dem Zusammenspiel von Produktion und Konsumtion, deren Ausdifferenzierung gegeneinander der Verselbständigung eigenlogischer Kulturwelten entspricht. Von Bedeutung wird dabei sein, in welcher Beziehung der die individuellen Energien zentralisierende Beruf zu den anderen Energien des Individuums steht und stehen kann.

140 Ähnlich sah dies Volkhard Krech. Er verweist auch auf die Identität von religiöser Hingabe an den Beruf und der Erfüllung des dritten Aprioris der Vergesellschaftung (vgl. Krech 1998: 244, Fn. 4).

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8.5.3.3 Konsum und Kultivierung Nicht nur bringe das Individuum lediglich einen Beitrag zu einem Ganzen, so Simmel, sondern diese Differenzierung wirke auch auf das Individuum zurück: In der Fabrikarbeit selbst kann der Arbeiter die Totalität seines Seins nicht zum objektiven Ausdruck bringen – »Die Erfahrung scheint zu zeigen, daß die innere Ganzheit des Ich sich im wesentlichen in Wechselwirkung mit der Geschlossenheit und Abrundung der Lebensaufgabe herstellt.« (Ebd.: 628-29). Es bestehe die Gefahr der Verkümmerung des Individuums, wenn seine Lebenskräfte allein nur noch dazu dienen, reproduktives Element ökonomischer Reproduktion zu sein; das Leben wird durch die Form absorbiert (vgl. ebd.: 628-30). Eine Entwicklungstendenz hin zur individuellen Verkümmerung durch Über-Spezialisierung konstatierte Simmel auch in seinem Religionsbuch (vgl. DR: 93-98). Simmel spricht dort von der »Vereinseitigung des Individuums« und der »Verkümmerung aller, dieser Einseitigkeit nicht dienstbaren Energien« des Individuums, was »dem Ideal seines Eigenwesens, der Ausbildung einer harmonischen, allseitig gerundeten Ganzheit völlig widerspricht.« (Ebd.: 93) Ich habe bereits in Kapitel 5.5 und 6.4.1 dieses Buches darauf hingewiesen, dass arbeitsteilige Spezialisierung wie auch die personale Austauschbarkeit in einer bestimmten beruflichen Funktion nicht per se gegen den Gewinn einer empirischen Einheit, d. h. individuelle Kultivierung sprechen. Ganz im Gegenteil kann gerade Arbeitsteilung unter Umständen Raum und Zeit schaffen für eine unter wenig bis gar nicht arbeitsteiligen Bedingungen nicht mögliche Entfaltung eigener Kräfte (vgl. SOZ: 504). Gerade mit dem Aufstieg maschineller und arbeitsteiliger Massenproduktion seien dem beruflich spezialisierten Individuum vielfältige Bildungsangebote materiell greifbar, so Simmels Argument, und zwar in einem quantitativen Ausmaß, wie es zu Goethes Lebzeiten nicht möglich gewesen sei. An dieser Stelle nun wird es wichtig, dass Simmels Kulturphilosophie zwischen – nicht nur auf die Ökonomie zu reduzierend – Konsum und Produktion unterschieden hat: »Im Ganzen entspricht jener Spezialisierung der Produktion eine Verbreiterung der Konsumtion: wie selbst der in seinem Geistesleben spezialisierteste, fachmäßig einseitigste Mensch der Gegenwart eben doch seine Zeitung liest, und damit eine so umfassende geistige Konsumtion übt, wie sie vor hundert Jahren auch dem in seiner geistigen Aktivität vielseitigsten und weitestausgreifenden Menschen nicht möglich war.« (PDG: 630-31; Hervorhebung PB)

Und noch an anderer Stelle meint Simmel, dass – trotz eines durchschnittlichen Anstiegs relativer sozioökonomischer Ungleichheit – »dem Proletarier heute mancherlei früher versagte Komforts und Kulturgenüsse zugängig sind« (ebd.: 607). Zu einer materiellen Erschwinglichkeit von beispielsweise Kunstproduktion durch untere Schichten hat das maschinelle Reproduktionsverfahren beigetragen (vgl. ebd.: 462). Die Produktion wird Massenproduktion und deshalb standardisierter, aber auch allgemein zugänglicher (vgl. ebd.: 631). Das seinem Sinn nach auf Vervielfachung angelegte Beispiel des Kunstgewerbes hatte ich bereits angesprochen (vgl. Kapitel 8.5.3.2 dieses Buches). Von dem Historiker Hans Rosenberg ist bemerkt worden, dass im Vergleich zu einem sich von 1873 bis 1896 erstreckenden deflationären »Abwärtstrend der Warenpreise, Unternehmergewinne und der Kapitalverzinsung« (Rosenberg 1967: 47) die Realeinkommen der Arbeiterschaft nach einem zwischenzeitlichen Rückgang zwischen 1881 und 1896 um 35% gestiegen seien, bevor sich

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das Verhältnis von Kapital und Arbeit drehte und die Arbeitseinkommen nur noch einen schwachen Anstieg bis 1913 verzeichneten (vgl. ebd.: 47-48). Die materielle Besserstellung habe damals nicht nur zu einer »Lösung der ›Magenfrage‹« geführt, sondern habe das Verlangen »nach Verbesserung auch der politischen und gesellschaftlichen Stellung in der Nation« weiter genährt (ebd.: 50). Es seien »die elementaren Voraussetzungen für das Ansammeln von physischen, geistigen und psychischen Energiereserven geschaffen [gewesen], so daß die deutsche Arbeiterschaft sich nunmehr eine dauernde aktive Beteiligung am öffentlichen Leben erlauben konnte.« (ebd.: 50-51) Natürlich stand Simmel noch nicht das Material geschichtswissenschaftlicher Forschung späterer Jahrzehnte zur Verfügung. Aber auch er spricht bezogen auf die Arbeiterschicht explizit von einem durch die »improvement in their material welfare« hervorgebrachten »uplifting of their mental and spiritual life« (TGLT: 171). Simmel sah die Arbeiterschichten sogar in einer vergleichsweise »fresher, less worn-out«, wenn auch kulturell noch vergleichsweise »less refined« Position (ebd.: 178), sie träumten vom Sieg ihrer Klasse und mit ihnen des sozialistischen Ideals. Die oberen, herrschenden Schichten dagegen seien »decadent, so exhausted and neurasthenic« geworden (ebd.: 178). Dies schrieb Simmel 1902. Auch in der »Philosophie des Geldes« macht Simmel eine Stagnation bis hin zum Rückschritt in Sachen individueller Kultivierung »wenigstens in den höheren Ständen aus« aus (PDG: 620). In der »Kulturtragödie« macht Simmel keine schicht- oder ständebezogene Aussage mehr. In der Simmel-Sekundärliteratur ist die Welt des kulturellen Konsums fast vollständig übersehen worden, was die Kulturphilosophie Simmels auf das Narrativ der (Möglichkeit einer) arbeitsteiligen Verkümmerung in der Produktion zu halbieren droht. Nun ist es nicht so, dass der Konsum nicht erwähnt wird. Von bloßen Erwähnungen abgesehen spielt die Konsumtion aber keine eigenständige Rolle. In der Tendenz geht das Geschehen im Konsum deterministisch aus der Position innerhalb der Produktion hervor. Es wird die Folge der Arbeitsteilung zitiert, dass sich die Kulturwelt aus dem individuellen Leben verselbständigt habe. Die Kulturinhalte bildeten in sich geschlossene Welten, ihnen fehle aber die Beseelung durch die einheitliche Persönlichkeit. In ihrer entpersonalisierten Verselbständigung gegen das Individuum stehen die Produkte auch den potenziellen Konsumenten gegenüber. Eine nicht mehr an das Leben rückgekoppelte Massenproduktion erdrücke das Individuum – und unterbinde dessen Kultivierung. Stellvertretend für die von mir dargestellte und kritisierte Position wähle ich zunächst Wilfried Geßner (2003) und Annika Schlitte (2012). Auf Autoren mit ähnlicher Position weise ich hin. Geßner kommt zu dem Schluss, dass die Inhalte der Kulturwelten sich aufgrund »ihrer arbeitsteiligen Erzeugung und ihrer sachlichen Eigenlogik immer stärker gegen die Aufnahme in die ›seelische Zentralität‹ der Individuen« versperrten (Geßner 2003: 194). Der arbeitsteilig bedingte »Wegfall des Werkcharakters« führe »zum Verlust sinnhafter Rezipierbarkeit, die Eigenlogik der Kulturgebilde zur Zerreißung subjektiver Integrität.« (Ebd.: 195) Das an die »Innerlichkeit« gebundene Ideal der Kultivierung müsse jedoch aufgegeben werden (ebd.: 196). Stattdessen läge ein »Ausweg aus dieser Aporie« der Kultur in der bloßen »Aktualisierung der aufgespeicherten Bedeutungen«, also der Kulturinhalte (ebd.: 195). Inwiefern die reine Reproduktion der Kulturwelten einen »Ausweg« darstellt, wird nicht klar. Auch thematisiert Geßner den Vorgang der »Rezipierbarkeit« gar nicht, er schließt von der arbeits-

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teiligen Produktion auf die individuelle Unfähigkeit in der Rezeption, d. h. in der Konsumtion. Geßner zitiert jene Passage, in der Simmel auf die Differenzierung in Produktion und Konsumtion hinweist. Systematische Konsequenzen in Geßners Arbeit zeitigt dies jedoch nicht. Geßner blendet in seiner Darstellung des Kulturphilosophie-Kapitels der »Philosophie des Geldes« jene Passagen gegen Ende des Kapitels aus, in denen Simmel eine gegenwärtige religiöse Innerlichkeit durch Geld und Arbeitsteilung ermöglicht sieht. Er zitiert recht genau bis zu jener Stelle, an der Simmel die Verselbständigung der Kultursphären auf das Geld zurechnet (vgl. ebd.: 169). Hätte er nur eine halbe Seite mehr hinzugenommen, Geßner hätte seine Perspektive revidieren müssen.141 Ähnliches findet sich bei Annika Schlitte. Schlitte stellt einen »Triumph der objektiven über die subjektive Kultur und dies besonders in der arbeitsteiligen Gesellschaft« fest (Schlitte 2012: 300). Es komme zu einer »Entfremdung […] zwischen dem Subjekt und seinen Objekten durch das Prinzip der Arbeitsteilung, indem das Produkt nicht mehr aus der Einheit einer subjektiven Seele hervorgeht, aber gleichwohl eine Bedeutung, eine Logik hat, die niemand bewusst in es hineingelegt hat« (ebd.: 188). An anderer Stelle ihres Buches schreibt sie erneut von der arbeitsteilig gestifteten Entfremdung zwischen dem Individuum und dessen Objektivationen (vgl. ebd.: 298). Wie bei Geßner finden sich bei Schlitte Spuren des Konsums, wenn sie Simmels Hinweis auf überflüssige Bedürfnisse zitiert (ebd.: 188). Eine eigene, nicht von der individuellen Stellung im arbeitsteiligen Produktionsprozess abgeleitete Funktionsrolle erhält der Konsum aber nicht, obgleich ja die Erwähnung überflüssiger Bedürfnisse auf eine Dimension hinweist, eben die Bedürftigkeit, die sich weder in Natur, noch in einem anders gearteten inhaltlichen Determinismus erschöpft.142 Auf den Seiten 295-301 widmet sich Schlitte wie Geßner der »Diskrepanz von subjektiver und objektiver Kultur« (ebd.: 295) innerhalb der »Philosophie des Geldes«. Vorrangig bezieht sie sich auf das kulturphilosophische Unterkapitel des »Lebensstil«-Kapitels. Wie Geßner klammert sie sowohl die Seite der Konsumtion wie auch den Beitrag von Geld und Arbeitsteilung zur Störung, Ablenkung und Ermöglichung von individueller Kultivierung aus. Schlitte meint zwar – wieder an anderer Stelle – bei Simmel zeige sich »die Ahnung eines gelungenen kulturellen Austauschprozesses«, der sich »am reinsten im Kunstwerk [zeigt], weil es sich der Idee der Arbeitsteilung entgegenstellt« (ebd.: 189). Damit findet sie sich aber ausschließlich auf der Produktionsseite wieder. Ein ästhetischer Genuss seitens des Proletariats ist nicht inbegriffen. Und es bleibt dann dabei: Arbeitsteilung und Kultivierung schließen sich

141 Auf den Seiten 165-171 geht Geßner unter der Überschrift »Die Diskrepanz von subjektiver und objektiver Kultur« fast das gesamte zweite Unterkapitel des »Lebensstil«Kapitels durch. Er beginnt mit der Seite 620 des Unterkapitels – dieses selbst beginnt auf Seite 618 – und endet bei Seite 652 von 654. Danach geht Geßner zu anderen kulturphilosophischen Aufsätzen Simmels über. 142 Ich schreibe »inhaltlichen«, da die Form des »individuellen Gesetzes« eine Ebene der Determination darstellt.

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aus. Andere Autoren gehen in ähnliche Richtungen (vgl. Frisby 1984: 56-57; Levine 1991: 107;143 Dahme 1993b: 62-64). In diesem Kontext ist eine Kritik Birgitta Nedelmanns (1993) bemerkenswert. Nedelmann äußerte an breiten Rezeptionsvarianten der »Philosophie des Geldes« die Kritik, Simmel sei unter marxistischen Prämissen vereinseitigend als Entfremdungstheoretiker vereinnahmt worden, dabei aber seien die »Ambivalenzen, Dualismen, Gegenläufigkeiten und Uneindeutigkeiten« ignoriert worden (ebd.: 400).144 Die Form der Verkürzung lässt sich auch in Darstellungen wie der Natalia Cantó i Milàs (2003) finden, wenn sie Simmels Form arbeitsteiliger Differenzierung auf den Inhalt des Dienstleistungssektors anwendet. Wir müssten, so Cantó i Milà, »uns die Frage stellen, ob sie einen besseren Überblick über den Produktions- und Distributionsprozeß erlauben als die traditionellen industriellen Arbeiten. Oft wird die Antwort negativ ausfallen.« (Ebd.: 214) Warum es des Überblickes überhaupt bedürfte und ob der – mit Simmel gesprochen – Freisetzungswert der Kultur nicht gerade in dem eigenselektiven Zugriff des konsumatorischen Individuums auf die Inhalte der Kultur besteht, dazu sagt Cantó i Milà nichts. Hier schwingen meines Erachtens implizite Sehnsüchte nach dem Modell der überschaubaren Gemeinschaft mit, welche das ›blinde‹ Treiben des Marktes ebenso wenig kennt wie das auf sich gestellte, atomisierte Individuum Simmels.145 Freilich gibt es andere Stimmen. Gerhard Ehrl (2005) und Klaus Lichtblau (1997) sehen die von Simmel ausgebreiteten Ambivalenzen der modernen Kulturwelten. In einer Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur zum Tragödiencharakter der simmelschen Kulturphilosophie konstatiert Ehrl, dass das »Über-das-einzelne-Subjekt-Hinausgehen gerade die Bedingung des Kultivierungsprozesses [sei], indem das wiederaneignende Subjekt damit auch inhaltlich reicher zu sich zurückkehren kann – freilich auch in-eins der Anfang des Entfremdungsprozesses.« (Ehrl 2005: 24) Deshalb aber, so Ehrl, könne »die Arbeitsteilung nicht allein der zerstörerischen Entwicklung zuzuordnen« sein (ebd.: 24), und konstatiert explizit, »die Arbeitsteilung [könne] nicht nur als die Kultivierung zerstörend, sondern auch (zumindest zunächst) als diese vorantreibend […] gelten« (ebd.: 25). Klaus Lichtblau interpretiert bei Simmel eine parallel zur geldwirtschaftlichen Ausdifferenzierung laufende Herausbildung der »menschlichen Seele« mit einem ihr eigenen, differenten »Gestaltungs-

143 Bei Donald Levine heißt es, »Simmel identifies a new order of oppressiveness with the autonomization of objective culture in the modern period.« (Levine 1991: 107) Weiter meint er, das Individualisierungspotenzial hätte sich laut Simmel in den Protest gegen die Entpersonalisierung der Dinge verschoben (vgl. ebd.: 108). 144 Wobei »Entfremdungstheoretiker« bei Simmel durchaus zutrifft, wenn man den Begriff in eine lebensphilosophische Perspektive rückt. Entfremdung bildete in der »Lebensanschauung« eine der Semantiken, mit deren Hilfe Simmel den Vitaldualismus deutete (»diese Selbstentfremdung des Lebens, dieses: daß es in Selbständigkeitsform sich selbst gegenübersteht…«, LA: 232-33). Damit wird das Fremde aber zu etwas dem Leben entstammendes, durch welches das Leben erst es selbst sein kann. 145 So meint Johannes Berger, die »Soziologie« sei »insgeheim wohl immer noch am Ideal der Gemeinschaft einerseits, des staatlichen Plans andererseits orientiert.« (Berger 2001: 13)

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prinzip«, welches »einen irreduziblen Eigenwert besitzt« (Lichtblau 1997: 80). Mit der gegenseitigen Ausdifferenzierung von Individualität und Kulturwelt könne eine herzustellende Kultivierung nicht mehr in »einer seelenhaften Durchdringung ihrer einzelnen Objektivationen« bestehen (ebd.: 80). Lichtblau meint damit, dass Tatsache und Vorstellung einer eigenwerten seelischen Einheit das entwicklungsgeschichtliche Korrelat zu der nun ihrerseits entseelten, aber versachlichten Eigenwelt der Kultur darstellt. Das Individuum könne aber, so Lichtblau unter Rückbezug auf Simmel, eine religiös konnotierte »Entfaltung einer spezifisch neuen Form von Innerlichkeit« herstellen (ebd.: 77). Ich stimme Lichtblaus Argumenten zu: Das Fehlen einer »Form der Seelenhaftigkeit« auf Seiten der »Kulturprodukte« (PDG: 648) ist das Komplement zur Verselbständigung des individuellen Lebens aus der Ding-Welt (vgl. auch ebd.: 556). Dies ist Bedingung, nicht Indikator der Unmöglichkeit von Kultivierung. Die Entseelung der Ding-Welt ist ja nichts anderes als die Differenzierung von Leben und Form, welche dann aber, in der Form der Differenzierung, Platz für eine neuerliche Synthese schafft. Kultivierung setzt gerade die Geschlossenheitsform des eigengesetzlichen Individuums voraus, dessen Weg nicht mehr durch die Äußerlichkeit der Ding-Welt inhaltlich präskribiert ist (vgl. ebd.: 556). Weder Ehrl noch Lichtblau geben aber zu verstehen, wie die individuelle Kultivierungsleistung einer umfassenden Einheit unter arbeitsteiligen Bedingungen zu funktionieren hat, wenn nicht (allein) durch die Stellung im arbeitsteiligen Produktionsprozess. Ein eigenständiges Prinzip der Konsumtion kennen sie nicht. Birgitta Nedelmann spricht explizit vom »modern man as cultural consumer« und von »lifestyle managers« (Nedelmann 1991: 178). Leider relationiert sie ebenso wenig die Produktion und Konsumtion von Kultur über deren gegenseitige, arbeitsteilige Differenzierung. Nedelmann erwähnt beide Stränge – Produktion und Konsumtion – als zwei ihrem Prinzip nach zueinander distinkte Kulturtheorien bei Simmel (vgl. dazu meine Anmerkungen in Kapitel 5.2, Fn. 3 in diesem Buch). An dieser Stelle ist es meines Erachtens instruktiv, das Verhältnis aus arbeitsteiliger Spezialisierung im Beruf und individueller Kultivierung in eine historische Perspektive zu rücken. Wie Durkheim generalisiert Simmel das aus der Ökonomie entstammende Konzept der Arbeitsteilung (vgl. Kapitel 6.4.1 in diesem Buch). Dieser intellektuelle Akt ist bei Simmel wiederum an die Eigenart seiner »Philosophie des Geldes« geknüpft, durch Rückführung auf das Geld die Einheit des Seins zu deuten. Simmels kultur- und lebensphilosophische Argumente schöpfen aus dem Paradigma der Geldwirtschaft, weshalb es in meinen Augen Sinn macht, zur Einordnung von Simmels Kulturphilosophie einen näheren Blick auf die ökonomischen Umwälzungsprozesse des 19. Jahrhunderts einerseits zu werfen, andererseits auf die intellektuelle Verarbeitung dieser Geschehnisse durch Köpfe, deren Vorstellungswelt sich Simmel zumindest teilweise und seinem Denken gemäß angeeignet haben dürfte. Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts wachsende Bevölkerung Deutschlands drang mit der Aufhebung der feudalherrschaftlichen Verhältnisse im 19. Jahrhundert zunehmend in die sich industrialisierenden Städte. Das große Angebot an Arbeitskräften sorgte für eine bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts anhaltend sinkende Entlohnung trotz wachsender Industrien (Sinn 2004: 144-45). Parallel dazu bewegte sich die arbeitszeitliche Inanspruchnahme bis zur Jahrhundertmitte zwischen 60 (im Druck-, Bau- und Holzgewerbe) und 90 Stunden wöchentlich (in der Textilindustrie) und zwölf bis teilweise 17 Stunden täglich je Branche (vgl. Schneider 1984: 22-24). Bis

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in die 80er Jahre hinein reduzierte sich die tägliche Arbeitszeit auf elf bis zwölf Stunden täglich (vgl. ebd.: 45-46). Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 verkürzten sich die Arbeitszeiten weiter. Im Bergbau gab es bereits um 1860 herum Arbeitszeiten von täglich neun Stunden (vgl. ebd.: 45). Werner von Siemens ging 1873 zum Neun-Stunden-Tag über. Der Jalousie- und Holzpflasterfabrikant Heinrich Freese stellte 1889 auf neuneinhalb Stunden um, 1892 auf acht Stunden tägliche Arbeitszeit (vgl. ebd.: 65-66). In den Zeiss-Werken geschah gleiches am 1. April 1900 (vgl. ebd.: 66). 1896 führte Robert Bosch – der in bürgerlichen Kreisen aufgrund seiner links-liberalen, den reformerischen Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie zugeneigten sozialpolitischen Einstellung auch den Spitznahmen »der rote Bosch« trug – den Neun-Stunden-Tag in seinem Unternehmen ein, zum 1. August 1906 reduzierte er den Arbeitstag gar auf acht Stunden (vgl. Theiner 2017: 65). Die BayerWerke reduzierten 1909 die tägliche Arbeitszeit ebenfalls von zehn auf acht Stunden (vgl. Schneider 1984: 66). Die Arbeitszeitverkürzung war eines der bedeutsameren Anliegen der sich seit Ende der 40er Jahre organisierenden Arbeiterschaft. Umgekehrt war eine zeitliche Begrenzung der Berufsarbeit überhaupt die Voraussetzung für die Wahrnehmung eigener (politischer) Interessen (vgl. ebd.: 47). Die zeitliche Beanspruchung war neben dem Aspekt der Entlohnung ein praktisches Problem der Arbeiterschaft des 19. Jahrhunderts, die sie von nicht-ökonomischen Tätigkeiten und Interessegebieten entzog, und Arbeitszeitverkürzungspolitik war entsprechend eine materielle Maßnahme, die Befreiung der Individualität von der Ökonomie zu vollziehen. Unterstützend flankiert war die sich organisierende Arbeiterbewegung von Intellektuellenbestrebungen. Wichtige Motive waren dabei das Schaffen von zeitlichen Freiräumen für Gesellschaft und Kultur. Karl Marx wies im ersten Band des »Kapitals« auf die nicht nur durch »physische Bedürfnisse« gesetzten »Schranken« der Arbeitszeit hin, denn weiterhin bedürfe der Arbeiter »Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind.« (Marx 1973: 197-98) Der schon genannte »rote«, sozialreformerisch gesonnene Unternehmer Robert Bosch ließ eigens für seine Angestellten eine werksinterne Bibliothek einrichten, wenn auch erst nach dem Ersten Weltkrieg. Zum »Bestand der Bibliothek« gehörten »nicht nur Broschüren und Bücher zur betrieblichen Weiterbildung, zur Hygiene, zur literarischen Erbauung und zur sportlichen Entspannung in der Freizeit. Die Werksbibliothek nahm mit Texten der kommunistischen Autoritäten Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Luxemburg auch Werke auf, die ausdrücklich nicht der Pflege eines betrieblichen Zusammengehörigkeitsgefühls im Sinne des Arbeitgebers dienten. Vielmehr folgte die Bibliotheksinitiative der Maxime, dass sich die Arbeiter selbst ihre eigene Meinung bilden sollten.« (Theiner 2017: 199200).

Der deutsch-österreichische Sozialdemokrat und Journalist Adolf Braun sah die mit einer Arbeitszeitverkürzung verbundenen Erwartungen im »Naturgenuß«, der »Verbesserung des Familienlebens«, insgesamt in einer »Steigerung der ›Lebensqualität‹« (Schneider 1984: 60). Politisch einflussreich waren die sogenannten »Kathedersozialisten« um Heinrich Herkner, Lujo Brentano und Gustav Schmoller. Die »Kathedersozialisten« waren Nationalökonomen, die sich – entgegen der Bezeichnung – für

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Sozialreformen innerhalb des institutionalisierten Ordnungsrahmens einsetzten, um die revolutionären Bestrebungen seitens der Arbeiterschaft auf- und einzufangen. Heinrich Herkner sah in der »Arbeitszeitverkürzung […] eine Voraussetzung zur intellektuellen und sittlichen Hebung des Arbeiterstandes«, sie »stärke vor allem die staatspolitische Verantwortung des Arbeiters.« (Ebd.: 65) Lujo Brentano argumentierte, das Eigeninteresse sowohl von Arbeit als auch von Kapital berücksichtigend, dass eine infolge von Arbeitszeitreduktion größere physische Kraft und psychologische Motivationslage einen betriebswirtschaftlich positiven Netto-Effekt aufweise (ebd.: 34, 65). Kommen wir zu Gustav Schmoller. Schmoller ist mit Sicherheit die hier interessanteste Quelle. Er wirkte prägend auf Simmel (vgl. Dahme 1993a), und der ambivalente Blick Simmels auf Individualität, Arbeitsteilung und Kultivierung findet sich auch (und chronologisch zuerst) bei Schmoller wieder. Schmoller meinte, dass es im Grunde darum gehe, den seiner Ansicht nach unbezweifelbaren Nutzen arbeitsteiliger Differenzierung zugunsten menschlicher Entwicklung zu nutzen. Faktisch sei es aber so, dass die Arbeitsteilung »einzelne Gruppen von Arbeitern einer so geistlosen, ungesunden, mechanischen, zu lange dauernden Arbeit unterwerfe, daß die Betreffenden, ja ganze Generationen dadurch verkümmern und verkrüppeln.« (Schmoller 1968: 22) Diese Kritik an dem durch die Form der Arbeitsteilung ruinierten Geist der Arbeiterschaft hat bereits Adam Smith geäußert.146 Und Schmoller formuliert es noch schärfer als Simmel in seinen Beobachtungen drohender Verkümmerung und Zerreißung individuellen Lebens durch einseitige Beanspruchung im Arbeitsleben, wenn er konstatiert, »daß bestimmte Formen der Arbeitsteilung in den untern Klassen verheerend gewirkt haben mit dem körperlichen, geistigen und moralischen Ruin von Hunderttausenden von Arbeitern.« (Ebd.: 23) Schmollers Kritik richtete sich aber nicht gegen »Arbeitsteilung an sich«, sondern gegen bestimmte »Formen, die man ihr zunächst gegeben [hat].« (Ebd.: 23) Eine hinreichende Ausbildung arbeitsteiliger Differenzierung der Tätigkeiten, so Schmoller – und auch hier wird er mit Simmel auf einen Nenner kommen –, sei gerade die Bedingung für »alle höhere, geistige, moralische, ästhetische und wirtschaftliche Kultur [...], zunächst freilich für wenige, nach und nach aber für immer mehrere und viele« (ebd.: 21). Eine Romantisierung traditionaler Gesellschaftsformationen, in denen der Mensch sich hätte harmonisch entfalten können, bezeichnet er als Irrglaube (vgl. ebd.: 21). Ja, vor aller Arbeitsteilung wäre der Mensch »ein Barbar« (ebd.: 21), die »Tätigkeit für andere« dagegen erziehe »zu sittlicher Gemeinschaft.« (Ebd.: 22) Vielmehr trage die »höhere Kultur« die Aufgabe, unter den Bedingungen arbeitsteiliger Differenzierung ein »Gleichmaß zwischen den beiden Tätigkeitssphären« des Privaten und Beruflichen herzustellen (ebd.: 4). Gleich Simmel betrachtete Schmoller das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als dualistisch, deren Ansprüche gegeneinander fortwährend austariert werden müssten. Das »Ideal harmonischer und gesunder Ausbildung aller Menschen« (ebd.: 23), »das individuelle Lebensideal« müsse »immer wieder sich geltend machen [...] gegenüber den Ansprüchen der Gesellschaft und den übertriebenen Gestaltungen der Arbeitsteilung.« (Ebd.: 21) Die Herstellung eines Gleichgewichts zwi-

146 Und hat, worauf Donald Levine hinweist, bereits zu seiner Zeit öffentliche Bildung für die Arbeiterschaft gefordert (vgl. Levine 1991: 100).

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schen individueller Kultivierung und Beruf stellte sich Schmoller als Schaffen – oder Erkämpfen – von Zeiten und Räumen außerhalb des Berufslebens vor. Arbeitsteilige Spezialisierung müsse »in der Erziehung, in der Schul- und Wehrpflicht, in der Geselligkeit, im Vereinswesen, in der Teilnahme an Gemeinde, Kirche und öffentlichen Angelegenheiten die entsprechenden Gegengewichte erhalten.« (Ebd.: 24) Das wiederum ähnelt sehr dem, was Simmel unter der freiheitlichen Bindung des Lebens an soziale Kreise verstand. Der hier referierte Aufsatz Schmollers (»Das Wesen der Arbeitsteilung und der sozialen Klassenbildung«) stammt aus dem Jahr 1890 und erschien ursprünglich in einer Fachzeitschrift, in der auch Simmel selbst publizierte, dem »Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich«. Direkt nachweisen kann ich eine Beeinflussung von Simmels Annahmen über Arbeitsteilung und individueller Kultivierung nicht, die Vermutung, dass es so war, erscheint mir aber plausibler als die gegenteilige Annahme, gegeben ihre akademische Beziehung, welche sich durch wechselseitige Anerkennung wie literarische Kenntnis des jeweils anderen erwies. Beispielsweise schrieb Simmel eine Rezension über Schmollers »Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre«. Weiterhin war Simmel mit einem weiteren »Kathedersozialisten« und Nationalökonomen, Ignaz Jastrow, eng befreundet (vgl. Helle 2015: 10). Schließlich scheint mir Simmels eigene, soweit ich das sehen kann, eher reformistische denn revolutionäre Orientierung in eine ähnliche intellektuelle Stoßrichtung zu gehen. Die Indizien scheinen mir auf eine gemeinsame geistige Grundhaltung schließen zu lassen. Individuelle Freiräume können und müssen gegen die äußeren, vereinnahmenden Anforderungen der Form erkämpft werden, darauf hat auch Simmel hingewiesen (SOZ: 98-99). Den gewerkschaftlichen Kampf um eine Reduktion der Arbeitszeit erwähnt Simmel meines Wissens nur einmal, in der »Philosophie des Geldes« (vgl. PDG: 685-86). Einen Kampf zwischen organisierten Interessen von Kapital und Arbeit um eine nicht auf Lohnforderungen einzugrenzende Änderung der Arbeitsbedingungen erwähnt Simmel im »Streit«-Kapitel, aber auch in der »Kreuzung sozialer Kreise« seiner »Soziologie« (vgl. SOZ: 309, 494-96). Eine berufliche Spezialisierung scheint dann ein Problem zu sein, wenn sie zu weit getrieben wird auf Kosten der Stimulierung anderer Interessen- und Tätigkeitsfelder. Spezialisierung im Beruf scheint dagegen dann nicht auf Kosten der Kultiviertheit gehen zu müssen, wenn sie einhergeht mit einer von Simmel nicht inhaltlich definierten harmonischen Ausbildung anderer geistiger Energien als differenzielle Beiträge zur einheitlichen Entwicklung der Individualität. So meint Simmel in der »Kulturtragödie«, dass der Gewinn individueller Kultivierung – »Vollendung« – zwar immer eine »überspezialistische« zu sein habe, diese könne sich aber »hauptsächlich vermittels« eines »einseitigen Inhaltes [vollziehen]« (TDK: 211; Hervorhebung PB). Eine bestimmte inhaltliche Ausbildung kann durchaus ein überproportionales Gewicht einnehmen: »Künstlerische Kultur eines Individuums z. B. – wenn sie noch etwas außer den kunstmäßigen Perfektionen, die sich auch bei sonstiger ›Unkultiviertheit‹ eines Menschen einstellen können, sein soll – kann nur besagen, daß es in diesem Fall gerade diese sachlichen Perfektionen sind, die die Vollendung des persönlichen Gesamtseins bewirkt haben.« (Ebd.: 211; Hervorhebung im Original)

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Simmel geht davon aus, dass selbst die Höhe einer ausdifferenzierten Leistung von der Ausbildung nebenstehender Kräfte profitiert. Umgekehrt sei die alleinige Konzentration auf eine Leistung dem synergetischen Effekt unterschiedlicher Kräfte unterlegen: »Wer nur ethisch bestrebt ist, aber weder intellektuell noch religiös noch nach der Rhythmik der ganzen Persönlichkeit irgendwie wert- und kraftvoll, der bringt es vielleicht zu einem hohen, aber sicher nicht zum höchsten Grad des Ethischen. Sehr eingreifend tritt dies an der Intellektualität hervor: Die Leistungen der nur klugen Menschen, so erstaunlich sie sein mögen, bleiben doch auch als intellektuelle oft hinter denen zurück, die aus einer breiter angelegten Persönlichkeit kommen, auch wenn deren intellektuelle Fähigkeit, für sich betrachtet, hinter jenen zurücksteht. Wer nur klug ist, ist nicht einmal vollkommen klug.« (APA: 11; Hervorhebung im Original)

An die Stelle der Aufmerksamkeitsabsorption aller Kräfte durch eine einzige, dominante Kraft kann auch eine Synergie der Kräfte treten. Simmel nennt beispielhaft Wechselwirkungen zwischen Intellektualität und ökonomischer Kraft, erotischer und ästhetischer Kraft (vgl. SN: 269), Religiosität und ökonomischer Kraft (vgl. PDG: 215-16), Wille und Intellektualität, Ästhetik und Intellektualität (vgl. ebd.: 419-20). Die wechselseitige Befreiung der differenten apriorischen Energien voneinander geschieht nie vollständig, weil sie die Energien einer und derselben individuellen Entelechie sind. Die transzendentale Einheit des Lebens bildet sozusagen die natürliche Grenze der gegenseitigen Verselbständigung der Kräfte. Dies hat die Folge, dass die Energien selbst bei wechselseitiger Ausdifferenzierung in irgendeiner Form der Wechselwirkung miteinander stehen. Dies kann der Kultivierung zu- wie dieser abträgliche Wirkungen haben. Die genaue inhaltliche Ausgestaltung der Kombination von Kräften bleibt auch hier offen. Die individuelle Berufung in der Wissenschaft zu finden ist also noch nicht gleichzusetzen mit ganzheitlicher Kultivierung. Die Einheitlichkeit bedarf des »Mehr-als«. Dies gilt Simmel zufolge beispielsweise für die Kunst auch dann, wenn sich die Ganzheitlichkeit des individuellen Lebens ausschließlich in der künstlerischen Produktion objektiviert.147 Die künstlerische Produktion bedarf dann immer noch der Inanspruchnahme von nicht-künstlerischen Kräften, um zur vollen Blüte zu gelangen. So sei es mit Rembrandt der Fall gewesen: »Die großen Künstler sind sozusagen immer noch mehr als große Künstler gewesen; selbst wo ihre ganze Lebensenergie so absolut auf die Kunstübung konzentriert ist und in ihr so aufgeht, dass der übrige Mensch, wenigstens für unseren Blick, dahinter unsichtbar wird, wie es bei Rembrandt der Fall ist, spüren wir dennoch eine ungeheure Schwingungsweite und Intensität des Gesamtlebens; so sehr dieses sich nur in der Form der bestimmten Kunst äußert, so fühlen wir es doch in eben jener Weite und Bewegtheit als von dieser Äußerungsform gewissermaßen unabhängig und als wäre es eigentlich zufällig, dass es gerade an diesem Talent seinen Kanal gefunden hat.« (APA: 12).

147 Das kann an der besonderen Eignung der Kunstform für die religiösen Inhalte liegen (vgl. CK: passim).

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Alle Kräfte des Lebens fließen in eine einzige Form ohne Verkümmerung der Individualität. Von der Ausbildung der nicht-künstlerischen Kräfte in anderen Kulturformen neben der Kunst sagt Simmel nichts. Für die Kunst zumindest scheint nicht notwendigerweise zu gelten: Wessen Energien vollständig vom Beruf absorbiert werden, dessen andere Energien verkümmern, und diese Verkümmerung schlägt schließlich auch auf den alle Energien absorbierenden Teil zurück. Diese Annahme hat Simmel bereits sehr früh, in der »Socialen Differenzierung«, vertreten (vgl. ÜSD: 271-72 und 284). Selbst die Monotonie eines Betriebs kann aber durch intellektuelle, ästhetische, gesellige oder sportive Unternehmungen nicht nur ausgeglichen werden, sondern dazu die ganzheitliche Harmonie gemäß den Forderungen der Seins-Totalität entfalten helfen. Der Arbeiter, der neben der Fabrikarbeit Zeit, Geld und intellektuelle Kraft für die Zeitung übrig hatte, konnte sich ein Stück weit kultivieren. Zu dieser Seite hin wird der Arbeiter dann – Simmel hatte dafür meines Wissens nicht diesen Begriff – zum »Kulturkonsumenten«. Er tritt auf die andere Seite der durch ein soziales Organ vermittelten Wechselwirkung. Mag es nach Simmel allein für Künstler möglich sein, sich auf einem einzigen Tätigkeitsfeld vollständig auszuleben und zu kultivieren, ermöglicht die arbeitsteilige Differenzierung eine breitenwirksamere, nicht auf das künstlerische Schaffen beschränkte Möglichkeit zur individuellen Kultivierung. Der Beruf mag die Energien zentralisieren und überproportional binden. Je nach Ausgestaltung des Berufs mag die Kombination der in den Beruf und in außerberufliche Tätigkeiten gesteckten Energien eine mehr oder eine minder geglückte Kultivierung der Einheitlichkeit des Lebens ergeben. Die arbeitsteilige Öffnung für Berufe und die Möglichkeit eigenselektiver Rekombination von Bindungen im Vergleich zu traditional vorgegebenen Bindungen lässt zumindest dem Prinzip nach einen Spielraum der individuellen Kultivierung. Eine Differenzierung zwischen berufsgebundener Produktion und Konsum ist zunächst daran gebunden, dass die individuelle Spezialisierung in einem Beruf nicht einmal mehr annähernd die eigenen, gleichwohl gewachsenen Bedürfnisse zu befriedigen vermag. Die der Geldwirtschaft entstammende Arbeitsteilung setzt die individuelle Entelechie frei durch das Angewiesensein auf andere. Freigesetzt werden damit auch die Kräfte und Energien der Individuen, die nicht mehr unbeachtet ihrer individuellen Eigentümlichkeiten an die Gemeinschaft von Stamm oder Zunft gebunden sind. An die Stelle der gesellschaftlichen Subsistenz einer Gruppe, des Sich-Selbst-Genügens, tritt die nicht auf das Ökonomische zu beschränkende Bindung der individuellen, eigengesetzlichen Kultivierung vielfacher Anlagen und Kräfte über die Differenzierung in Produktion und Konsum. Und das Medium für deren Integration ist wiederum das Geld: Angeeignet wird nun das, was der Individualität zusagt, d. h. einen individuellen, ganzheitlichen Mehr-Wert erzeugt, das individuelle Sein ist eben – dem Prinzip nach – nicht mehr a priori an bestimmte soziale Positionen gebunden. Der Kulturkonsum lässt sich, grob gesagt, ganz ähnlich dem Beruf danach kategorisieren, ob das individuelle Leben allein die Reproduktion der Kulturformen trägt und darin aufgeht, oder ob es die Inhalte der Welt nach seiner individuellen Logik zu sortieren vermag. Ein schönes Beispiel dafür liefert Simmel für die Kunst. Auf dem Gebiet der Kunst gestaltet sich zunächst eine soziale Differenzierung aus nach der produktiven Seite »des Schöpfers« wie »nach der [konsumtiven] Seite des Genießenden« (APA: 13). Zimmer, so fährt Simmel dann mit seinem Beispiel fort, lassen sich

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auf zwei idealtypisch voneinander zu unterscheidende Arten und Weisen mit Kunstwerken herrichten. Einmal könne man das Zimmer mit Bildern gemäß eines diesen gemeinsamen Kunststiles schmücken. Dieser Stil ist (überindividueller) Stil der Kunst, und damit besitzt ihre Anordnung – obgleich durch uns geformt – ein in sich geschlossenes Prinzip, dem das Individuum nur gegenübersteht. Der Raum wird folglich wahrgenommen als »für uns etwas eigentümlich Unbehagliches, Fremdes, Kaltes« (PS: 381). Eine aneignende Durchdringung findet nicht statt, damit auch ebenso wenig eine werterhöhende Kultivierung, mögen wir die Gemälde auch selbst ausgewählt und erworben haben. Die Form bleibt fremd, der Einheit der Individualität peripher im Bereich des bloßen Habens. Anordnen lassen sich die Bilder aber auch nach dem eigenen »Geschmack, […] dadurch bekommen sie ein neues Zentrum, das in keinem von ihnen für sich liegt, das sie nun aber durch die besondere Art ihrer Zusammenfügung offenbaren, eine subjektive Einheit, ein ihnen jetzt anfühlbares Erlebtsein durch eine persönliche Seele und eine Assimilation an diese.« (Ebd.: 382). Simmel betont, dass das hierbei wirkende individuelle Formungsgesetz nicht weniger streng ist als der äußerliche Kunst-Stil einer bestimmten Epoche (vgl. ebd.: 381). In der Anordnung objektiviert sich die ästhetische Beobachtung des Individuums, und genau das bedeutet Durchdringung der Dinge mit der Ganzheitlichkeit des Individuums. Dies spiegele sich auch in dem individuellen Empfinden des Zimmers: Es wirkt »wohnlich und warm« anstatt kalt und fremd (ebd.: 381). Es ist ein Beispiel für die neuerliche, nun eigenselektive Synthese aus dem individuellen Leben und der geschlossenen Form. In Simmels »Kulturtragödie« gilt vom Prinzip her das gleiche, auch wenn sich das dem Individuum stellende Selektionsproblem ein etwas anderes ist. Das der Phänomenologie nach entscheidende Symptom ist, dass das Individuum immer mehr hat, ohne aber mehr zu sein; konkret: dass es viele Dinge besitzt und sich engagieren mag, mit seinem Handeln und Erleben aber nicht seinen, sondern allein den Mehr-Wert einer Kulturform reproduziert: »[W]ir werden belehrt, werden zwecktätiger, reicher an Genuß und Fähigkeiten, vielleicht auch ›gebildeter‹ – aber unsere Kultivierung hält damit nicht Schritt, denn wir kommen so zwar von einem niedrigeren Haben und Können zu einem höheren, aber nicht von uns selbst als den Niedrigeren zu uns selbst als den Höheren.« (TDK: 210)

Stattdessen wird das Leben zu einem bloßen Trägerelement, einem Vehikel in der eigengesetzlichen Reproduktion der Kulturformen. Dies zeigt sich in einer Reihe von phänomenologischen Beschreibungen, denen jeweils eigen ist, dass sich das Individuum durch die Sachen beherrscht fühlt, während Kultivierung gerade Aneignung von Welt gemäß den Gesetzen der Seins-Totalität des Individuums impliziert. Beispielsweise, so Simmel, sei die Pflege des Haushalts früher »umfänglicher und anstrengender gewesen als jetzt.« (PDG: 638) Simmel betont an anderer Stelle, dass gerade »Frauen der bürgerlichen Klasse« infolge der billigeren industriellen Produktion ein Teil ihrer hauswirtschaftlichen Arbeit abgenommen worden sei (ebd.: 644). Gegenwärtig aber, so Simmel, geschehe die Hausarbeit trotzdem mit größerer Abneigung, weil die zu pflegenden Dinge zahlreicher und differenzierter geworden seien (vgl. ebd.: 638). Die Dinge ließen sich nicht mehr »unserem Ich assimilieren« (ebd.: 638). Zugleich ist es aber so, »daß diese vielfachen, umdrängenden Dinge uns im Grunde eben gleichgültig sind, und zwar aus den spezifisch geldwirtschaftlichen

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Gründen der unpersönlichen Genesis und der leichten Ersetzbarkeit.« (Ebd.: 638) Was durch Erwerb mit Geld ersetzbar ist, hat einen monetären Wert; aber was in den Austausch geht, kann eben nicht mehr – oder, wie Simmel im Falle von Prostitution oder käuflicher Ehe meint, nur unter Inkaufnahme persönlicher Entwürdigung – von persönlichem Wert sein, denn die Wertform der Ökonomie und die Wertform des Individuums gehen getrennte Wege. Dieser Tatbestand geht wiederum zurück auf die einstige Befreiung des individuellen Seins aus dem »Haben« von Grund und Boden feudalherrschaftlicher Zeiten. Nicht nur das Individuum, auch die ästhetischen oder intellektuellen Inhalte werden frei, die »Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich zusammenhängenden Welt, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift.« (Ebd.: 639) Trotzdem, auch die Kauf- und Verkaufbarkeit der Dinge allein bringt nicht das zustande, was Simmel die »Tragödie« oder das »Tragische« an der Kultur nennt. Die Tragik der Kulturwerdung besteht nach Simmel darin, dass die die Individualität bedrohenden Kräfte aus dieser selbst stammen, d. h. auf seine apriorischen Formungskräfte konstitutiv zurückgehen (vgl. TDK: 219).148 Aber Herausdifferenzierung einer eigenlogischen Kulturwelt ist für Simmel zugleich Voraussetzung individueller Kultivierung: Das Individuum entäußert sich in der Eigengesetzlichkeit des Mehr-alsLebens, um von dort aus den Mehr-Wert seiner Individualität zu erreichen. Und gegen Ende seines »Tragödien«-Aufsatzes meint Simmel, das »große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft und mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male« (ebd.: 223). Auch wenn – wiederum ersteres relativierend – »diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance« einer sich der individuellen Kultivierung entziehenden »Eigengesetzlichkeit« der Kulturformen zu bezahlen sei (eb.: 223). Richtungweisend scheint meines Erachtens der Hinweis Simmels zu sein, dass jedes einzelne Kulturprodukt »einen Wunsch, es so zu verwerten, in uns anklingen läßt.« (Ebd.: 222). Die Objekte wecken »Velleitäten«, stellen »Ansprüche an das Subjekt« (ebd.: 220). Das Individuum könne sich kaum vor den »Berührungen, Versuchungen, Verbiegungen durch all jene ›Dinge‹ [...] bewahren« (ebd.: 222). Die Welt der Ökonomie ist für Simmel ein »besonders modifizierter Fall«, wonach das wachsende Warenangebot »künstliche und, von der Kultur der Subjekte her gesehen, sinnlose Bedürfnisse« wachrufe (ebd.: 217) Unser Erleben kennzeichne eine Dauerstimulation des Begehrens – »das fortwährende ›Angeregtsein‹ des Kulturmenschen« durch »tausend Überflüssigkeiten« nennt es Simmel (ebd.: 222). Noch anschaulicher beschreibt Simmel selbiges in seinem Großstadtaufsatz. Gesellschaftliche und kulturelle Errungenschaften, wie beispielsweise die moderne Technik, erleichterten das Leben. Die Kehrseite großstädtischer Erleichterungsangebote ist aber, dass das Individuum aus sich heraus, als entelechische Einheit, nichts mehr tut, sondern mehr und mehr – wenn auch nie ganz – ein nachgiebiger, zu formender Inhalt wird, an der die Kulturformen Gestalt gewinnen und sich realisieren. Das Individuum wird Mittel zum Zweck, zur bloßen materiellen Durchgangsstation der Sachkultur:

148 Eine sehr eng am Begriff arbeitende Auseinandersetzung mit dem Tragödienbegriff findet sich bei Ehrl (2005).

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»Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann. Das Leben wird ihr einerseits unendlich leicht gemacht, indem Anregungen, Interessen, Ausfüllungen von Zeit und Bewusstsein sich ihr von allen Seiten anbieten und sie wie in einem Strome tragen, in dem es kaum noch eigener Schwimmbewegungen bedarf.« (GG: 130; Hervorhebung PB)

Jene durch die Objektwelt geweckten Begehren, die »Velleitäten«, sieht Simmel durch die Distanz und, korrelierend damit, durch die Erwerbbarkeit der Dinge durch Geld gestiftet. Simmel konstatiert »eine tiefe Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu verleihen.« (PDG: 555) Die Befriedigung dieser Sehnsucht meint das Individuum aber irrtümlicherweise aus der Sachordnung der Dinge selbst zu erwarten: »Wenn der moderne Mensch frei ist – frei, weil er alles verkaufen, und frei, weil er alles kaufen kann – so sucht er nun, oft in problematischen Velleitäten, an den Objekten selber diejenige Kraft, Festigkeit, seelische Einheit, die er selbst durch das vermöge des Geldes veränderte Verhältnis zu ihnen verloren hat.« (Ebd.: 556)

Dem steht gegenüber, dass das individuelle Leben »eine gewisse Einheit und relative Geschlossenheit seiner Form« besitzt, weswegen es »eine Auswahl mit determiniertem Spielraum unter den Inhalten« treffen müsse, um das Begehren nach individueller Einheitlichkeit zu befriedigen (TDK: 220). »Seelische Einheit« wird nach Simmel zwar an den Objekten gefunden, deren Sinn für das Individuum gewinnen sie aber aus dessen eigener, ganzheitlicher Logik. Die Ding-Welt dient der Formwerdung der Totalität des Individuums. An ihr kann es Form und Ausdruck seiner selbst gewinnen. Die Gegenstände aus Kunst oder Erkenntnis können dem Individuum aber umgekehrt nicht von sich aus einen einheitlichen Sinn geben. Was sich dagegen nicht nach der Individual-Logik quasi organisch einfügen lässt, bleibt in der Peripherie. Man hat es, aber es gehört nicht zum Sein. Das Kulturproblem ist für Simmel, so meine ich, vorrangig ein Problem der Selektion aus einem Möglichkeitsreservoir und damit verbunden der Zähmung eines dem Prinzip nach keine äußerliche Begrenzung findenden Begehrens nach einer sich strukturell entziehenden Objektwelt. Form ist Grenze, und deshalb hat das Individuum, um die Form seiner Einheit zu gewinnen, seine Energien zu begrenzen und auszurichten »gemäß der Logik der Persönlichkeit« (ebd.: 213). Dies war ein Motiv von Simmels »Goethe«: Nicht im Management von Mangel, sondern in der Selbstbegrenzung und -bindung aus dem Zentrum seiner transzendentalen Einheit heraus kann das Individuum seine empirische Einheit gewinnen, die es begehrt (vgl. GOE: 190-91). Das Eigenartige an dem Selektionsproblem ist nach Simmel ja, dass jene der inneren Kultivierung nutzlosen Sachen deshalb und trotzdem ein Begehren im Individuum zu wecken imstande sind, weil die intellektuellen, ästhetischen oder technischen Dinge ja doch »sozusagen potenziell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung« gehören (TDK: 220; Hervorhebung PB). »Potenziell«, weil die Kulturprodukte ihren Sinn aus den apriorischen Prinzipien des Individuums schöpfen – »Die Bedeu-

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tung des Gegenstandes dieser Funktionen [...] ist nur die Bedeutung der Funktionen selbst.« (DR: 67) Die Kulturobjekte sind den jeweiligen, partikularen Kräften insofern adäquat, sie sind ihre Objekte; und an Objekten überhaupt müssen die Aprioris Gestalt annehmen, um sein zu können. Deshalb spricht Simmel mit Bezug auf die Form vom Mehr-als-Leben: Sich ihm entziehend, entfremdend und gegenüberstellend ist sie immer noch Leben. Die Distanz zu den Dingen regt das Begehren an – auf dieser Annahme beruht Simmels Werttheorie –, aber ein und derselbe Inhalt, auf den sich ein Begehren richten kann, hat eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem ob er aus der Perspektive der Wertform einer Kulturwelt oder aus der Perspektive der Wertform der ganzheitlichen Individualität beobachtet wird. Beide besitzen eine unterschiedliche Gesetzlichkeit ihrer Entwicklung, ohne dass sie jeweils aufeinander verzichten können. Das Handeln und Erleben individuellen Lebens braucht die Eigengesetzlichkeit der Form, um seine Einheit zu realisieren, und umgekehrt bedarf die Kulturform des individuellen Handelns und Erlebens, um gegenständliche Realität zu werden. Jeder partikulare, inhaltliche »Akt« des Lebens ist gebunden an die Eigengesetzlichkeit einer Form, ohne dass damit vorgeschrieben ist, an welche spezifischen Objekte, Kreise oder Sphären sich das Individuum je Akt zu binden hat. In der Gesamtschau genommen bildet die »Kulturtragödie« eine materielle Form des generalisierten Dualismus von Leben und Form (vgl. TDK: 213-14). 8.5.3.4 Die geldförmige Einheit und Differenz zwischen Leben und Form Ganz allgemein ist es so, dass Simmel vor allem in der »Philosophie des Geldes« Wert auf die Hypothese legt, dass es gerade die arbeitsteilige Spezialisierung ist, welche die Objektivation der Formen trägt (vgl. PDG: 628). Daran hängt das Gelingen seines Vorhabens, die Objektivation der Formen aus dem Leben auf die Ausdifferenzierung des Geldes als einheitlichen Flucht- und Ankerpunkt der »Sache« nach zurückführen zu können. Diese Rückführung Simmels werde ich nun zum Schluss dieses Kapitels anhand der »Philosophie des Geldes« erweisen. Während die »Geld«-Semantik (einschließlich Komposita wie »geldmäßig«) im kulturphilosophischen Kapitel (ebd.: 617-654) bis einschließlich der Seite 649 nur fünfmal vorkommt, taucht sie auf den Seiten 650-54 gleich 18 Male auf. Dies ist einmalig im Vergleich mit Simmels dem Inhalt nach ganz ähnlich aufgebauten Schriften wie »Vom Wesen der Kultur«, dem »Begriff und der Tragödie der Kultur«, aber auch dem 1900, also im gleichen Jahr wie die Erstausgabe der »Philosophie des Geldes« publizierten Aufsatz »Persönliche und sachliche Kultur«, wo »Geld« nur viermal vorkommt. Bis zur Seite 649 hätte das kulturphilosophische Kapitel der »Philosophie des Geldes« auch genauso gut in einem anderen, allgemein kulturphilosophischen Zusammenhang erscheinen können, aber eine »Philosophie des Geldes« wäre ihr Kontext nicht gewesen. Ihre geldphilosophische Rahmung geht allein, so meine ich, auf die Seiten 650-54 zurück. Von der Arbeitsteilung »herkommend«, sozusagen, wird die wechselseitige Differenzierung von individuellem Leben und den Formen der Kultur auf das Geld zurückgeführt: »Wurde nun die gegenwärtige Gestaltung dieses Verhältnisses von der Arbeitsteilung getragen, so ist sie auch ein Abkömmling der Geldwirtschaft. Und zwar einmal, weil die Zerlegung der Produktion in sehr viele Teilleistungen eine mit absoluter Genauigkeit und Zuverlässigkeit

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funktionierende Organisation fordert, wie sie, seit dem Aufhören der Sklavenarbeit, nur bei Geldentlohnung der Arbeiter herstellbar ist. […] Und dann, weil der wesentliche Entstehungsgrund des Geldes überhaupt in dem Maße wirksamer wird, in dem die Produktion sich mehr spezialisiert. Denn es handelt sich doch im wirtschaftlichen Verkehr darum, daß der eine fortgibt, was der andere begehrt, wenn dieser andere dem ersteren dasselbe tut.« (Ebd.: 650)

Simmel referiert auch erneut die Koinzidenz der Bedürfnisse, für die Geld Abhilfe verschaffe (vgl. ebd.: 650-51). Simmel rekapituliert materielle Gründe für den Tiefenzusammenhang zwischen arbeitsteiliger Differenzierung und Herausbildung der Geldwirtschaft. Die Beschaffenheiten des Geldes – Quantifizierbarkeit, Haltbarkeit, Enträumlichung, Allverwendbarkeit etc. – machen den wechselseitigen Ausgleich von Leistungen bei abstrakter und arbeitsteiliger werdenden Sozialbeziehungen erst möglich. Unabhängig von den spezifischen inhaltlichen Gründen ist Geld die reine Form des Tausches, am welchem die Individuen unter der Bedingung einer jeweils eigenen Mehr-Wertproduktion partizipieren. Wichtiger aber: Korrelieren die Ausprägungen von Arbeitsteilung und geldvermitteltem Austausch miteinander, impliziert das hier genannte Modell des Austausches die Differenzierung nach Produktion und Konsumtion. Man tauscht, weil man die eigenen (Kultur-)Bedürfnisse mittels der eigenen Produktion nicht mehr befriedigen kann. Das Zusammenhangsmodell von Geld und Arbeitsteilung entnimmt Simmel zunächst, wie das letztgenannte Zitat zeigt, ausschließlich der Ökonomie, übertragt es über die Behauptung arbeitsteiliger Differenzierung aber auf die gesamte Kulturwelt. So argumentiert Simmel, dass eine »durch eine wenig spezialisierte Kooperation« getragene Produktion zu einer nur wenig ausgeprägten Differenzierung der Form aus dem Leben führe (ebd.: 646). Eine segmentäre, aber die materielle Egalität wahrende Produktion bestimmter Inhalte kann zu keiner Objektivation führen. Simmels argumentative Konzentration auf Arbeitsteilung wird aber dadurch erschwert, dass er auch heterogene Phänomene wie die Verselbständigung von Mode oder eine immer komplexer werdende Sprache (vgl. ebd.: 620; TDK: 212) in den gleichen Zusammenhang mit den ›großen‹ Welten der Kultur stellt. Die Sprache als arbeitsteilig zustande gebrachte Form zu begreifen impliziert, jeden Beitrag zur Reproduktion von Sprache und zum Sprachwandel als arbeitsteilig begreifen zu wollen, allein weil der Beitrag einer unter unüberschaubar vielen und – wie auch immer – spezialisierten Charakters ist. In der »Philosophie des Geldes« führt Simmel den Dualismus aus Leben und Form konstitutiv auf das Geld zurück: Geld verselbständigt beide, Leben und Form, gegeneinander, und auf dieser Grundlage der Symmetrie erlaubt es erst eine erneute, höhere, nach dem eigenen Gesetz prozessierende Synthese zwischen Leben und Form. Wenn auch selbst Symbol realisiert Geld empirisch den Dualismus aus Leben und Form. Dadurch ermöglicht das Geld eine religiöse Existenz: »[S]o ermöglicht das Geld, indem es zwischen den Menschen und die Dinge tritt, jenem eine sozusagen abstrakte Existenz, ein Freisein von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und von unmittelbarer Beziehung zu ihnen, ohne das es zu gewissen Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit nicht käme; wenn der moderne Mensch unter günstigen Umständen eine Reserve des Subjektiven, eine Heimlichkeit und Abgeschlossenheit des persönlichen Seins – hier nicht im sozialen, sondern in einem tieferen, metaphysischen Sinn – erringt, die etwas von dem religiösen Lebensstil früherer Zeiten ersetzt, so wird das dadurch bedingt, daß das Geld uns in im-

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mer steigendem Maße die unmittelbaren Berührungen mit den Dingen erspart, während es uns doch zugleich ihre Beherrschung und die Auswahl des uns Zusagenden unendlich erleichtert.« (PDG: 652; Hervorhebung PB)

Freilich: Das Sich-Dazwischen-Stellen des Geldes sorgt für die praktisch werdende Doppeldeutigkeit der Distanz, die Dinge in eine zur Überwindung geschaffene Distanz vom Individuum zu stellen. Die Distanz erlaubt den eigenselektiven Zugriff, ist aber auch erst die Bedingungsmöglichkeit für das Begehren, das Verführt-Werden wie das Sich-Verlieren in den Dingen. Schließlich, am Beispiel des durch die Schreibmaschine mechanisierten und, damit korrelierend, anonymisierten Schreibprozesses meint Simmel gerade die Bedingung für die Heimlichkeit des Individuums zu sehen, das eben nicht mehr an der eigenen Handschrift identifizierbar ist. Dies möge zwar ästhetischen Geistern widersprechen, aber, so Simmel, dieser Prozess könne ebenso »der reinen Innerlichkeit günstig sein« (ebd.: 653). Die durch standardisierte Äußerlichkeit begünstigte Wende zur Innerlichkeit beschreibt Simmel in religiösen Termini als »auf das innere Heil gerichtet […], jetzt in gleichsam unterirdischeren Formen«, und er meint, das Geld könne beides sein, »Symbol wie Ursache der Vergleichgültigung und Veräußerlichung alles dessen […], was sich überhaupt vergleichgültigen läßt« und schließlich aber auch »Torhüter des Innerlichsten, das sich nun in eigensten Grenzen ausbauen kann.« (Ebd.: 653; Hervorhebung PB) Die Entfernung alles Seelischen aus der eigengesetzlichen ›Ding‹-Welt ist komplementär zur Entdeckung des Seelischen – des Absoluten – am individuellen Leben. Gelingen oder Nicht-Gelingen von Individualität liegt Simmel zufolge nun – mit der Münze wortwörtlich – in den Händen des Individuums selbst: »Inwieweit dies nun freilich zu jener Verfeinerung, Besonderheit und Verinnerlichung des Subjekts führt, oder ob es umgekehrt die unterworfenen Objekte gerade durch die Leichtigkeit ihrer Erlangung zu Herrschern über den Menschen werden läßt – das hängt nicht mehr vom Gelde, sondern eben vom Menschen ab.« (Ebd.: 653)

Die im »Goethe« formulierte »Kardinalfrage der Lebensanschauung«, ob »das Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens, [...] oder [...] ein Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller Provenienz« ist (GOE: 154), meinte Simmel in der Geldphilosophie zu beiden Seiten hin offen lassen zu können: »Die Geldwirtschaft zeigt sich auch hier in ihrer formalen Beziehung zu sozialistischen Zuständen; denn was von diesen erwartet wird: die Erlösung von dem individuellen Kampf ums Dasein, die Sicherung der niedrigeren und die leichte Zugängigkeit der höheren Wirtschaftswerte – dürfte gleichfalls die differenzierende Wirkung üben, daß ein gewisser Bruchteil der Gesellschaft sich in eine bisher unerhörte und von allen Gedanken an das Irdische entfernteste Höhe der Geistigkeit erhebt, während ein anderer Bruchteil gerade in einen ebenso unerhörten praktischen Materialismus versänke.« (PDG: 653)

Oder anders: Die Geldphilosophie Simmels ist die am Geld vorgeführte wie verkörperte »Kardinalfrage«. Allerdings muss gesagt werden, dass Simmel bei der Aussicht auf eine theoretisch mögliche symmetrische Entfaltung des Dualismus zwischen Le-

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ben und Form nicht stehen blieb. Bis zum Ende seines Lebens nahm er an, dass die Menschen mit der im Geld Körper gewordenen individuellen Freiheit überwiegend nicht viel anzufangen wissen (vgl. auch Kapitel 5.5 in diesem Buch). Unabhängig von den wertenden Aussagen Simmels: Die hier rekonstruierte, primär über Geld vermittelte Weltbeziehung des Individuums zeigt die religiöse Konstellation an, auf die ich hinauswollte. Die Transzendenz religiöser Objektivation, in der die apriorischen Energien zur Einheit kommen, wird mit und durch das Geld zurückverlagert in die Immanenz des selbstverantwortlichen, auf sich selbst zurückgeworfenen Lebens, welches nur Einheit sein kann, indem es wird, und zwar entsprechend dem eigenen, »individuellen Gesetz«. Die in Kapitel 7.4 dieses Buches angezeigte religiöse Evolution findet im Geld ihre empirische Möglichkeitsbedingung. Die Einheit des Lebens ist das Absolute, aber sie kann nur in einem unaufhörlichen Streben erlangt werden: mit und im Leben, solange man lebt, nicht mehr aber durch einzelne gute Taten oder die Befolgung bestimmter, vorgegebener Vorschriften. Der ins Leben zurückgespielte Reflex der fließenden, aus sich selbst heraussetzenden Geldform ist die Flussgestalt der Eigengesetzlichkeit individuellen Lebens: »Indem die fließende Gestaltung des Lebens als Sollen auftritt, indem das Absolute der Forderung in diesem Sinne ein Historisches wird, dies Historische aber ein Absolutes, steigt die normierende Strenge tief unter die Schicht herunter, in der die Ethik bisher die Verantwortung des Menschen allein suchte: ob er nämlich dem bestehenden Sollen gemäß wirklich handle.« (LA: 422; Hervorhebung PB)

Geld schafft auch die geistige Einheit des Lebens aus Mehr-Leben und Mehr-alsLeben. Dies galt für Simmel einmal für die Ökonomie: Wir objektivieren uns in den geldvermittelten, nach eigenen Gesetzen funktionierenden Tausch (= Mehr-alsLeben). Jeder partikulare Tauschakt überwindet eine partikulare Distanz zu einer partikularen Ware und realisiert uno actu einen individuellen Mehr-Wert (= MehrLeben); die Distanz zu dem Wirtschaftskreis überhaupt bleibt bestehen. Der geldvermittelte Tausch und dessen lebensphilosophische Implikationen ist für Simmel nun einmal Analogie und Modell für den Kultivierungsprozess – der »von uns ausgehende und in uns zurückkehrende Werterhöhungsprozeß« (PDG: 618). Dann ist Geld aber auch abstrakte Einheit und greifbares Medium dieses Werterhöhungsprozesses. Unbeachtet der Frage, in welcher Form wir uns bewegen, es wird Geld benötigt oder Geld muss verdient werden (vgl. Kapitel 8.3.3 in diesem Buch). In der psychologischen Omnipräsenz des Geldes in den nicht-ökonomischen Zweckreihen besteht für Simmel die Befreiung von der mehr oder minder starren Bindung an die feudale Ökonomie von Grund und Boden, an deren Stelle eine abstrakte Bindung an die Geldform tritt. Das Leben braucht das Mittel Geld zum Zweck des Mehr-Lebens kontinuierlicher Selbsterhöhung. Dies ist der vorrangige Grund dafür, dass das Geld zum Symbol für »das Absolute des Daseins« wird (PDG: 307). Erst sekundär leitet sich daraus das Begehren seiner als einem psychologischen Endzweck ab. Dazu kommt, dass Geld der Form des abstrakten Vermögenswertes nach eine unbestimmte inhaltliche Bindung impliziert, als konkretes Geld aber nur in der Form quantitativer Begrenzung verfügbar ist. Entsprechend quantitativ begrenzt ist die praktisch verfügbare Freiheit, jedenfalls für den Moment. Als Versprechen auf ein Mehr an Freiheit wirkt es dennoch. Wer nur Geld zur Befriedigung des »Notdürftigen, Generellen und

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Vorherbestimmten« besitzt (ebd.: 277), der besitzt noch keine Freiheit in der Form eines monetären Dispositionsspielraums. Dies unterscheidet Reich und Arm voneinander. Erst mit wachsendem Einkommen bzw. Vermögen ist ein entsprechend geringerer Anteil des Geldes für die zur Subsistenz notwendigen Ausgaben zu veranschlagen, und entsprechend wächst das individuelle Reich der Freiheit (vgl. ebd.: 278). Damit wächst oder öffnet sich aber auch der Raum individueller Kultivierung. Darin fügt es sich, wenn Simmel beispielsweise sagt, dass von dieser Seite her das psychologische Begehren nach Geld als eines zumindest vorläufigen Endzweckes innerhalb einer gegebenen teleologischen Reihe durchaus rational ist, auch wenn sich dieses schließlich dauerhaft in der Psyche sedimentieren mag (vgl. ebd.: 304). Aber auch dies ist nur möglich, weil Geld das Mittel zur individuellen Entfaltung ist; wiederum: ganz analog zu Simmels Feststellung, dass die einst durch das Christentum geschaffene religiöse Befriedigung ihrerseits im Leben ein Dauerbegehren nach Gott geschaffen hat (vgl. ebd.: 491; GMC: 191).

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Zum Schluss: Simmel – Durkheim – Weber

Das vorangegangene Kapitel habe ich abgeschlossen mit einem Rückbezug der soziologischen und kulturphilosophischen Überlegungen Simmels auf die symbolische Verkörperung der absoluten Einheit, das Geld. Gezeigt werden sollte, dass und wie das Geld das individuelle Leben und die Formen – des Sozialen wie der Kultur – gegeneinander verselbständigt und dadurch beiden Seiten eine ihrer eigenen Logik folgende Reproduktion erlaubt. In dieser durch das Geld getragenen Verselbständigung von Leben und Form sind neuerliche, nun eigenlogische Synthesen möglich. Das Geld erlaubt eine religiöse Lebensführung in der Form eines eigenlogischen Zugriffs auf die Welt der Kultur und der Vergesellschaftung. Eine Vereinnahmung durch die Welt ist eine Gefahr für den Selbsterhalt der Form individuellen Lebens, da es keine apriorische Koordination mehr zwischen Leben und Form gibt. Der Preis für die Entflechtung eines urwüchsigen Zusammenhangs zwischen Leben und Form ist der Verlust fixer äußerlicher Vorgaben sowie die entgrenzende Beanspruchung des Lebens durch die Formen. Anstelle einer extensiven Zusammenfassung der einzelnen Argumentationsschritte in dieser Arbeit – dafür verweise ich auf Kapitel 2 sowie auf die Zusammenfassungen jeweils zu Beginn jedes einzelnen Kapitels in diesem Buch – suche ich zum Ende dieser Arbeit den erneuten Vergleich Georg Simmels mit Emile Durkheim und Max Weber. Der Vergleich ist kein Selbstzweck, sondern als Mittel zum Zweck des besseren Sichtbarmachens simmelianischer Positionen suche ich den Dialog mit durkheimianischen und weberianischen Positionen. Der Vergleich beansprucht keine Vollständigkeit, sondern knüpft die Vergleichspunkte an die vorliegende Themenstellung, den Zusammenhang von Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel. Insofern die Stilisierung von Gemeinsamkeiten und Differenzen die eigene Position in ihrer Eigenart erst verständlich macht, sind die folgenden Zeilen dann doch wieder als eine Zusammenfassung der vorliegenden Arbeit zu lesen. Meine These ist, dass Simmel eine theoretische Position zwischen Emile Durkheim und Max Weber einnimmt. Um es mit den Worten Simmels auszudrücken: Seine Position markiert ein Drittes, ein Dazwischen, ohne ihre Eigenständigkeit zu verlieren oder ein Sowohl-als-auch beider zu sein. Ich greife zunächst auf eine Schematisierung Gottfried Küenzlens zur Unterscheidung der Religionssoziologien Max Webers und Emile Durkheims zurück. Für Durkheim stehen gemäß Küenzlen die zeitlose Form und Funktion der Religion im Vordergrund, während »die Inhalte des jeweiligen Glaubens der wechselnden Religionsgeschichte […] nur Reflex des Wandels der Gesellschaft [sind].« (Küenzlen 1995: 89). Für Weber seien umgekehrt »die

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Inhalte der religiösen […] Wahrheits- und Erlösungsversprechen« in ihrer ethischen Stellungnahme zur übrigen Welt von vorrangiger Bedeutung (ebd.: 93; Hervorhebung im Original). Was Simmel anbelangt, schaut es wie folgt aus: Nahe an Durkheim steht Simmel, da für ihn ebenfalls die zeitlose Form der Form in ihren Eigengesetzlichkeiten von Bedeutung war. Die geschichtlichen Inhalte sind dem Willen zur Erkenntnis der einheitlichen Formstruktur untergeordnet. Die Inhalte besitzen keinen qualitativen Unterschied in ihrem Beitrag zur geschichtlichen Konstitution der Form, sondern Inhalte werden nach den Seiten für die Darstellung erwählt, mit denen sie Element eines Formzusammenhangs sind. Dies unterscheidet Simmel zugleich von Weber: Für Weber machen die Inhalte einen realgeschichtlichen Unterschied in der Konstitution der Form, die Form ist Form in Abhängigkeit ihrer differenziellen Inhalte. Unterschiedliche religiöse Vorstellungen werden auf ihre unterschiedlichen Strukturkonsequenzen in der Welt untersucht, weshalb Weber anders als Simmel auf die materiellen, das Handeln bestimmenden Wirtschaftsethiken der Weltreligionen zurückgreift. Andersherum ist vielleicht auch wegen seiner Konzentration auf die Inhalte eine Definition von Religion schwer zu finden. Zu einer Annäherung von Simmel und Weber kommt es in der Frage der theoretischen Letzteinheit. Dies ist bei Weber das sinnhaft sich-verhaltende Subjekt, bei Simmel ist es der Vitaldualismus aus Leben und Form. Die mit Abstand wichtigste Ebene für Simmel ist das dualistische Wechselspiel zwischen dem schöpferischen Geist eines individuellen Lebens und den das Leben umfassenden Formen. Im Geld schafft sich das Leben jene alles umfassende Einheitsform, auf die es auf Schritt und Tritt angewiesen ist, nur um dadurch von der unmittelbaren Berührung mit der Welt weitest möglich befreit zu sein. Aber auch Weber zufolge – wie am Beispiel der »Protestantischen Ethik« zu sehen sein wird – schafft der Geist die (kapitalistische) Form, die ihn dann beherrscht. Hier liegt eine bedeutsame Distanz zu Durkheim: Durkheim erklärte Soziales nicht aus dem Individuum, sondern aus dem Sozialen. Religion ist eine Objektivation der Gesellschaft, nicht des Individuums. Die Eigenheit des Individuums ist eine sekundäre – das eigentlich schöpferische liegt auf Seiten der Gesellschaft. All diese Zusammenhänge werde ich gleich erneut aufgreifen und vertiefen.

9.1 DURKHEIM – SIMMEL Bei einer großen inhaltlichen Ähnlichkeit auf den ersten Blick gehen Emile Durkheim und Georg Simmel in der Theorie getrennte Wege. Für Durkheim ist das Problem der sozialen Ordnung und, weitergehend, das die Gesellschaft integrierende soziale Band entscheidend; für Simmel ist der Selbsterhalt, die Ordnung und Integration des Individuums entscheidend. Dem entsprechen einerseits unterschiedliche sozialontologische Annahmen – was zwar nahe liegen mag als eine Form der Widerspiegelung, aber kein Determinismus ist –, in der Folge dann auch ein diametral entgegengesetztes Konzept von Religion. Beide, Simmel und Durkheim, meinten auf die Krise der Ideale mit Religion zu antworten. Simmel ging allerdings den Weg über die absolute Einheit des Geldes hin zur Verinnerlichung des Individuums: Eine religiöse Lebensführung ist möglich und nur noch möglich auf Seiten des individuellen Lebens, auf sich zurückgeworfen durch die Geldform der Weltbeziehungen. Durkheim dagegen antwortete mit der nationalstaatlich-laizistischen Zivilreligion, in welche die

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Individuen hineinerzogen werden. Hier berührte Aspekte zu Durkheims Religionssoziologie hatte ich bereits in den Kapiteln 7.2.6.1 und 7.3.2.1 dieses Buches herausgearbeitet. 9.1.1 Durkheim und die »Philosophie des Geldes« Wie Weber – zu dem ich später komme – hat auch Emile Durkheim Simmels »Philosophie des Geldes« gelesen. Noch wichtiger: Durkheim hat Simmels »Philosophie des Geldes« in einer in der »L’Année Sociologique« 1900/01 veröffentlichten Rezension kommentiert. Durkheim sieht klar, dass Simmel eine Philosophie des Geldes geschrieben hat, keine Soziologie – einen, wie Durkheim meint, »treatise in social philosophy.« (Durkheim 1979: 323) Durkheim geht weiter, referiert Simmels in der Vorrede präsentierte, umfassende philosophische Intentionen. Er selbst beansprucht, auf das Buch wissenschaftliche Prinzipien anzuwenden, welche Simmel bei Abfassung seines Buches nicht im Sinn gehabt habe (vgl. ebd.: 328). Im Tausch verselbständige sich der ökonomische Wert aus den Individuen. Der objektive Wert, so Durkheim, is »in itself abstract […]. It is thus able to become a dynamic reality only through concretizing itself under a symbolic form […]: this symbol is money.« (Ebd.: 324) Durkheim geht in der Folge auch mit Simmels Annahme, Geld werde immer substanzwertloser und immer mehr reines Funktionsgeld, ohne dass der Wert des materiellen Geldträgers jemals ganz aus dem Tausch verschwinden könne – »The substance it is made of must always contain a modicum of value, to prevent governments from arbitrarily varying the quantity beyond a certain limit.« (Ebd.: 324) Das dritte Kapitel des »analytischen Teils« – »Das Geld in den Zweckreihen« – übergeht Durkheim, dann wendet er sich dem »synthetischen Teil« zu, der, wie Durkheim ebenfalls richtig beobachtet, nun den Einfluss des Geldes auf zwischenmenschliche Beziehungen zum Gegenstand hat: auf die individuelle Freiheit, auf die Form der Wertung von Individuen und »on the rhythm and general quality of life« (Ebd.: 324). Diese drei Kapitel aber, so Durkheim, versperrten sich aufgrund ihrer inhaltlichen Fülle einer die Verknüpfungen zwischen diesen Inhalten herstellenden Analyse, weshalb er sich auf »the most general aspects« konzentriere (vgl. ebd.: 325). Dabei stößt Durkheim auf inhaltlich jenes Phänomen, welches seiner Arbeitsteilungsstudie zugrundelag, die Korrelation aus wachsender individueller Freiheit und wachsenden sozialen Interdependenzen: Geld stifte Freiheit durch Bindung an unpersönliche Kollektivitäten (vgl. ebd.: 325). Die arbeitsteilige Produktion lasse die individuelle Kultivierung allerdings verkümmern (vgl. ebd.: 326). Als nächstes widmet sich Durkheim der Kritik. Er lobt Simmel zunächst für seine genialen Ideen (»ingenious ideas«), seine lebendige Darstellung (»lively observations«), seine interessanten bis manchmal überraschenden Vergleiche (»interesting, even sometimes surprising, comparisons«), anerkennt das zur darstellenden Anwendung gekommene historische und ethnologische Wissen – aber, so Durkheim, dem Buch ermangele es an der wissenschaftslogischen Form der Beweisführung für seine Thesen (»put together without accuracy or proof«, ebd.: 326). Ein inhaltlicher Kritikpunkt Durkheims ist der, dass Simmel seiner Ansicht nach Metall- bzw. Substanzgeld mit dem vertrauensbasierten Funktionsgeld vermenge. Beide müssten aber auseinandergehalten werden, da auch empirisch diese zwei unterschiedlichen Typen von Geld zirkulierten (vgl. ebd.: 326-27). Hier hat Durkheim

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Simmel meines Erachtens falsch verstanden: Simmel unterscheidet Geldfunktion und Substanz und meint, dass sie – logisch und historisch – ursprünglich an ein und demselben Gegenstand aufgetaucht sind. Jede Ware ist in gewissem Sinne Geld, ganz nach dem Maße der Austauschbarkeit. Im Laufe der Entwicklung ist der Warencharakter des Geldes (bei Durkheim: das Metallgeld) mehr zurückgetreten, bis Geld nur noch reine Austauschfunktion zu erfüllen hatte. Durkheim dagegen versteht Simmel meines Erachtens so, als ob dieser Substanz und Funktion gerade nicht voneinander differenziere. Der zweite Kritikpunkt Durkheims ist rigoros in seiner Reichweite und zielt auf die Verwerfung der gesamten These des »synthetischen Teils«: »one can see with little difficulty that money cannot have such a profound moral influence on the moral and intellectual life of peoples by the simple fact of the abstract and symbolic character attributed to it.« (Ebd.: 327). Nicht der sich gegen den Grenzwert Null nähernde Substanzwertbestand am Geld sorge für die gesellschaftlichen – oder, bei Durkheim: die moralischen – Rückwirkungen, sondern die Anwesenheit oder das Fehlen einer sowie die Form einer solchen Regulation des Geldes: »[W]hat matters is the presence or absence of regulation to which money is submitted, as well as the nature of this regulation.« (Ebd.: 328) Auf den Aspekt, dass Durkheim in seiner Rezension Gesellschaft mit Moral annähernd gleichsetzt, gehe ich hier nicht ein. Es reiche die hypothetische Vorstellung einer vollständig sozialistischen Geldwirtschaft, so Durkheim (»a completely socialized economic state«, ebd.: 327), um die Bedeutsamkeit gesellschaftlicher Verteilungsregelungen des Geldes in ihren moralischen Folgen einzusehen. Durkheim stellt die Behauptung in den Raum, ohne sie weiter auszuführen oder zu spezifizieren, welche moralischen oder gesellschaftlichen Folgen wie eingehegt, verhindert oder geschaffen werden sollen. Simmel jedenfalls insistierte ja nur darauf, welche Wirkungen ein sozusagen seinem Begriff vom reinen Tauschmedium entsprechendes Geld besitzt – was Geld bewirkt, wenn es Geld ist. Dies ist eine WennHypothese! Aber ferner auch: Simmel meint, dass das Geld auch historisch wie empirisch in einem hinreichenden Maße genau diese Wirkungen gezeitigt hat. Eine konkrete Währung muss gemanagt und kann auch, wie (Hyper-)Inflationen zeigen, ruiniert werden. Notenbanken tragen das Geldgeschehen, sie sind soziale Träger der aus Gesellschaft und Individualität sich lösenden Ökonomie. Simmels Bezug auf die Beschleunigung der US-Amerikanischen Notenpresse im 19. Jahrhundert ist beispielhaft dafür. Es ist nicht klar, welche Form gesellschaftlicher Steuerung des Geldes nach Durkheim beispielsweise die individuelle Kultivierung heben soll, wo letztere bei Simmel Sache der individuellen Eigenselektivität ist. Eine Sozialisierung des Geldes – wie der Gesamtwirtschaft – scheint für Durkheim eher die Funktion einer theoretischen Kontrastfolie zu besitzen denn politisches Postulat zu sein. Der Schleier lichtet sich ein wenig, blickt man auf Durkheims Auseinandersetzungen mit dem Themenfeld der Ökonomie. Eine eigens ausgearbeitete Theorie der Wirtschaft bzw. Geldwirtschaft findet sich bei Durkheim zwar nicht. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, fand seine Auseinandersetzung mit Phänomenen und Denkkategorien des Feldes der Ökonomie innerhalb soziologisch umfassender angelegter Arbeiten statt, wovon die »Arbeitsteilung« oder »der Selbstmord« zeugen. So ist die Arbeitsteilung nicht bloß ein Merkmal der Industrie oder der Wirtschaft, sondern auch von Recht, Kunst, Politik und Wissenschaft. Arbeitsteilung, so Durkheim, setze sich als gesamtgesellschaftliches Organisationsprinzip durch (vgl. Durkheim

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1988: 83-85). Durkheim setzte sich mit der Realitätstauglichkeit der Idee Herbert Spencers auseinander, eine arbeitsteilig gestiftete Solidarität sei allein durch den freiwilligen, durch das individuelle Interesse geleiteten Vertragsschluss möglich (vgl. ebd.: 256-59). Die interindividuelle Abhängigkeit hätte den Charakter »wirtschaftlicher Beziehungen, frei von jeder Reglementierung […]. Die Gesellschaft wäre, mit einem Wort, nur die Zusammenfassung von Individuen, die die Produkte ihrer Arbeit austauschen, ohne daß im eigentlichen Sinne ein soziales Handeln diesen Austausch regelte.« (Ebd.: 259) Die Gesellschaft wäre eine Summe »privater Verträge« (ebd.: 259). Eine solche am Tausch-Modell entlehnte Vorstellung von Sozietät, so Durkheim, würde aber nur äußerliche und kurzfristige Verbindungen stiften, so wie »die verschiedenen Tauschpartner« nach Beendigung ihres Geschäfts »auf sich selbst verwiesen« seien (ebd.: 259). Eine organische Solidarität, wie Durkheim sie damals vor Augen hatte – bevor das Modell mechanischer/organischer Solidarität durch jenes des zeitlosen religiösen Ideals substituiert wurde (vgl. Maryanski 2014) –, vermochte der Privatvertrag seiner Ansicht nach allein nicht zu stiften. Mit zunehmender arbeitsteiliger Spezialisierung nehmen zwar die individuell und freiwillig geschlossenen Verträge zu (vgl. Durkheim 1988: 263 und 270). Diese Menge bedarf aber eines umfassenden, den partikularen Vertrag übergreifenden, gesellschaftlichen Regelwerks. Das gesellschaftliche Recht legt so aus dem Vertragsschluss implizierte Verpflichtungen fest – wie beispielsweise im Falle des Vertragsverstoßes –, die bei einem alltäglich geschlossenen Kaufvertrag an der Supermarktkasse nicht bedacht werden (vgl. ebd.: 270-71). Das individuelle Nützlichkeitsstreben – und hier scheinen die ökonomische Sphäre und das Tausch-Modell paradigmatisch für Durkheim – ist auf gesellschaftliche Regulation angewiesen. Gerade die Wirtschaft scheint nach Durkheim in einem außerordentlichen Maße deren zu bedürfen, meint er doch einerseits, dass »die ökonomischen Funktionen […] heute an erster Stelle [stehen].« (Ebd.: 44) Und andererseits meint Durkheim, dass die Wirtschaft »nur schwach von Moralität geprägt ist«, es herrsche ein »Fehlen einer jeden ökonomischen Disziplin« (Ebd.: 44). Dies, die Stellung der Ökonomie im gesellschaftlichen Gefüge sowie das Faktum, dass gemäß Durkheim »die ökonomischen Funktionen heute den größten Teil der Bürger absorbieren« und es deshalb »eine Vielzahl von Individuen [gibt], deren Leben fast ganz in einem industriellen und kommerziellen Milieu verläuft«, macht die Dringlichkeit einer Regulation in den Augen Durkheims deutlich. Schauen wir ein wenig weiter. Als Durkheim die Rezension zu Simmels Geldphilosophie schrieb, waren drei Jahre vergangen, seitdem er 1897 seine soziologische Studie zum »Selbstmord« veröffentlichte. Von dem Typus des Selbstmordes aus Egoismus unterscheidet sich der Typus des anomischen Selbstmordes durch eine Deregulation oder schlicht eine fehlende gesellschaftliche Regulation des individuellen Handelns: »Er unterscheidet sich dadurch, daß er nicht von der Art und Weise bestimmt ist, in der der einzelne mit seiner Gesellschaft verbunden ist, sondern in der Art, in der diese ihre Mitglieder reguliert.« (Durkheim 1983: 295) Das paradigmatische Feld des anomischen Selbstmordes ist die »Welt des Handels und der Industrie«, da dort der »Zustand der Ano-

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mie […] eine Art Dauerzustand ist« (ebd.: 290).1 Durkheims Schilderungen ziehen ihre intellektuelle Attraktivität an dieser Stelle aus ihrer Vergleichbarkeit mit Simmels Geld- und Kulturphilosophie. Einerseits behauptet Durkheim eine Verselbständigung der ökonomischen Sphäre aus den ehemals politischen wie religiösen Bindungen seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Wohl angelehnt an Marx’ berühmten Ausspruch von der Religion als dem »Opium des Volkes« (Marx 1972: 72; Hervorhebung im Original) meint Durkheim, dass die Religion sittlich mäßigenden Einfluss auf die herrschende Klasse ausübte und eine Hoffnung auf »gerechte Entschädigung für die Ungerechtigkeiten dieser Welt« im Jenseits für die lohnabhängigen Unterschichten bereit hielt (Durkheim 1983: 291). Jedes Individuum hatte in seiner von Gott vorherbestimmten Klasse zu bleiben. Ferner hätten Zünfte »Löhne und Gehälter, die Warenpreise und die eigentlich Erzeugung« reguliert (ebd.: 291).2 Diese Regulation ist weggefallen, ebenso haben Religion und Politik ihre Steuerungswirkung auf die Wirtschaft verloren, stattdessen ist die »Regierung […] von einer Regelinstanz des wirtschaftlichen Lebens zu dessen Instrument und Diener geworden.« (ebd.: 291) Die Folge ökonomischer Entbindung und Deregulierung sowie, damit einhergehend, der Öffnung zum Weltmarkt (»die ganze Welt zum Kunden zu haben«, ebd.: 292) haben ebenso eine Entgrenzung des individuellen Begehrens zur Folge. Diese normative oder, mit Durkheims Worten, moralische Entgrenzung bezeichnet die Anomie auf dem ökonomischen Gebiet, die über Umwege bestimmter, aus der Regellosigkeit bedingten Handlungen eine strukturelle Tendenz zum Selbstmord mit sich führt. Die Symptomatik ist unterschiedlicher Natur, in Teilen erinnert sie jedenfalls an Georg Simmels Beschreibung vom großstädtischen Hasten und Jagen der Individuen. Um nur eine Art phänomenologischer Aufzählung zu geben: Durkheim spricht von der »Entfesselung der Begierden infolge der Entwicklung der Industrie« (ebd.: 292), konstatiert eine »fieberhafte Betriebsamkeit« (ebd.: 292), »die Begehrlichkeit [ist] entfacht, ohne daß man weiß, wo sie zur Ruhe kommen soll.« (Ebd.: 292-93) Und, noch näher an Simmel sagt Durkheim: »Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekannten Genüssen, nach Freuden ohne Namen, die aber sofort ihren Geschmack verlieren, sobald man sie kennenlernt. […] Das Fieber fällt und man erkennt, wie steril dieses ganze Durcheinander war und wie alle diese unendlich übereinandergehäuften neuen Sensationen keine solide Grundlage für ein Glück bilden können, von dem man in den Tagen der Prüfung zehren könnte.« (Ebd.: 293)

Ferner sieht Durkheim eine »Vergötzung des Wohlstandes« (ebd.: 292) und eine »Lehre vom Fortschritt, und zwar vom schnellstmöglichen«, welcher »zu einem Glaubensartikel geworden« sei (ebd.: 294). Zum Selbstmord führt die Entgrenzung

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Nicht mein Gegenstand an dieser Stelle ist der Selbstmord »bei der Krise der Witwenschaft« (Durkheim 1983: 296). Durkheims Selbstmordstudie interessiert hier ausschließlich unter Vergleichsgesichtspunkten mit Simmel. Durkheim spricht statt von »Zünften« von »Innungen« (Durkheim 1983: 291). Innungen sind meines sehr begrenzten Wissens zufolge noch heute verbreitet, anders als die Zünfte. Durkheims Punkt wiederum ist der, dass die Innung bzw. Zunft weggefallen sei, ohne dass etwas deren regulatorische Funktion übernommen hätte.

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über, wenn ich richtig sehe, zwei Kanäle: Einmal geht laut Durkheim die dauerhafte Fixierung auf das Neue einher mit einer geringen Robustheit gegenüber ökonomischen Rückschlägen. Man ist nicht mehr gewohnt, sich (mit weniger) zufrieden zu geben. Wer nur nach vorne zum Neuen schaue, könne viel weniger oder, im Falle des Selbstmordes, gar nicht mehr auf Dinge verzichten (ebd.: 293-94). Auf der anderen Seite gibt es eine Entgrenzung auf Seiten der Produktion bzw. des Angebots: Unternehmer oder Entwickler sind ebenso auf fortwährende Innovationen ausgerichtet. Dies berge, so Durkheim, ein erhöhtes Risiko mit sich, und mit dem Risiko wachse die Gefahr ökonomischer Krisen – jenen Krisen, die den so schwer fallenden Verzicht auf der Nachfrageseite bringen (ebd.: 294). Eine Entgrenzung des Begehrens, die Erweckung von »Velleitäten« im Individuum kannte auch Simmel. Simmel thematisierte nicht den Selbstmord oder eine gesellschaftliche Anomie infolge fehlender gesellschaftlicher Regulierung, sondern er sprach von der Stagnation bis zum Rückgang individueller Kultivierung. Eine ganz wichtige, aber den Vergleich zwischen Durkheim und Simmel als typische durchziehende Unterscheidung ist die nach der Problem- und Lösungsebene. Simmel zufolge war Begrenzung unter freiheitlichen, geldwirtschaftlichen Bedingungen gerade die Sache individueller Selbstbegrenzung. Die Triebkräfte waren aus dem Zentrum des Individuums heraus zu domestizieren, gemäß dem »individuellen Gesetz«. Durkheim zufolge kam aller begrenzende Zwang nicht aus dem Individuum selbst, sondern aus dem Sozialen, mag das Individuum bestimmte Vorschriften auch schließlich in seine Verhaltensroutine aufnehmen (vgl. Durkheim 1984: 185-86). In seiner Selbstmordstudie war es ja schon die Religionsgemeinschaft als Gemeinschaft – weniger qua ihres besonderen dogmatischen Inhalts –, deren Integrationskraft das Individuum vor dem Suizid aus egoistischen Motiven schützte (vgl. Durkheim 1983: 184). Als heilsames Patentrezept gegen den Selbstmord sowohl aus egoistischen Gründen wie gegen den anomischen Selbstmord sah er diese jedoch nicht, da sie dem Individuum seine Denkfreiheit raube (vgl. ebd.: 445-46). Die Berufsgruppe ist es, welche die nötige soziale Kohäsion und Regulation stiften könne – »die Vereinigung aller Arbeiter derselben Sparte« (ebd.: 449). Wie bereits im Exkurs in Kapitel 7.2.6.1 erwähnt, findet dieser Vorschlag Durkheims seinen Weg in die 1902 erschienene Zweitauflage seiner Arbeitsteilungsstudie. Die Zentralität des Berufs in jedem Leben mache die Berufsgruppe zur prädestinierten Adresse eines überlokalen Systems von miteinander kommunizierenden Gruppen. In dem Austausch würde die Aufmerksamkeit für Gemeinwohlbelange geweckt und vom Egoismus einzelner abgezogen (vgl. ebd.: 453-454). Der Anomie wirken die Berufsgruppen, von Durkheim auch Fachverbände genannt, entgegen, indem sie das Begehren ihrer Mitglieder in Schranken hält und »die Produktion« so regelt, dass »es zu keinen wirtschaftlichen Krankheitserscheinungen kommt« (ebd.: 455). Ferner organisiert sie – ähnlich dem auch heutigen Fall der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern – durch Tarifverträge einen Orientierungsrahmen des individuellen Einkommens (vgl. ebd.: 452). Ihr obliege »auch die Verwaltung der Sozialversicherung, der Unterstützungskassen, der Altersversorgung« (ebd.: 451). Letzteres hat später dann doch der Staat übernommen, obgleich Durkheim diesen als eine von den zu regulierenden Angelegenheiten zu ferne Einrichtung eingeschätzt hat. Was die hier relevante Domestikation des Begehrens anbelangt, will ich einen mäßigenden Einfluss nicht prinzipiell ausschließen. Wenn man an Gewerkschaften oder, auf Kapital-

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seite, an Arbeitgeberverbände denkt, ist ihre Aufgabe aber tendenziell eher Interessenvertretung. Mäßigung von Partikularinteressen zum Zwecke des Gemeinwohls ist hier eine Möglichkeit, genauso kann das Umgekehrte der Fall sein. Aber darauf kommt es mir nicht an, sondern auf den Vergleich mit Simmel. Durkheim zieht die Möglichkeit einer Selbstbegrenzung durch das Individuum nicht in Betracht. Umgekehrtes gilt für Simmel: Er zieht die Moral eines Kollektivs nicht in Betracht. Dies hat seinen Ausgangspunkt in seinen theoretischen Prämissen, wonach bereits der Formbegriff – Form der Gesellschaft, Form der Kultur, Form des Geldes – auf jede inhaltliche Bindung verzichtet. Zumindest ansatzweise lässt sich aus dem Beispiel der Berufsgruppe erahnen, wie sich Durkheim eine Regulierung des Geldes vorgestellt haben wird: In jedem Fall wird es sich um eine gesellschaftliche Regulation des Geldverkehrs handeln, durch welche das soziale Band (wieder-)hergestellt werden soll, zugleich aber um eine Art intermediäre Lösung zwischen Staat und Markt, wähnt Durkheim den Staat doch zu weit von der Einsicht in die individuellen und lokalen Bedürfnissen entfernt. Da Durkheim nichts weiter dazu sagte, ist offen, ob er schlichtweg ein Preis-, Steuer-, Versicherungs- sowie Leistungstransfersystem im Auge hatte, oder ob er noch weitergehend an eine beispielsweise an Geldpreisstabilität oder, wie es gemäß ihren Statuten die Aufgabe der Federal Reserve Bank in den USA ist, an eine an den Arbeitsmarktdaten orientierte Geldpolitik der Notenbanken dachte. Allgemein lässt sich zum Thema Geld bei Durkheim wenig holen – er ist, folgt man Mathieu Deflem, derjenige klassische Soziologe, »who least addressed the issue of money in his sociological work.« (Deflem 2003: 77) Immerhin war Durkheim mit einem Teil der ökonomischen Diskussion seiner Zeit vertraut (vgl. Müller/Schmid 1988: 482-83). Bereits Niklas Luhmann hatte auf das überraschende Fehlen einer Geldtheorie in der Arbeitsteilungsstudie Durkheims hingewiesen. Geld, so Luhmann in seinem Übersichtsartikel zur Arbeitsteilungsstudie Durkheims, neutralisiere gerade die »Moral in der Interaktion« (Luhmann 1988b: 35). 9.1.2 Die Einheit des Individuums – die Einheit der Gesellschaft Der Rückzug des Kollektivgeistes vom Allgemeinen auf das Partikulare, der korrelativ dazu wachsende Raum für einen Individual-Kult, diese inhaltlichen Beschreibungen Durkheims liegen ja gar nicht so fern von der Geldphilosophie Simmels. Der Beobachtung Luhmanns von der Neutralisierung von Moral entsprach ja geradezu Simmels geldphilosophisches Design: Geld ist die Symbolform der absoluten Einheit der Wechselwirkung. Eine die Einheit von Subjekt und Objekt noch zusammenhaltende, inhaltliche Moral kennt Simmels Design nicht. Sein Begriff von der Geldform ist inhaltlich amoralisch. Empirisch kennzeichnet dies bei Simmel das Auf-SichGestellt-Sein der Individuen. Gerade weil Geld als Zentrum der Welt alle Elemente miteinander verknüpft, sind die Elemente – darunter die Individuen – (nur noch) gehalten, ihre eigene, personale Einheit zu erhalten. Es gibt also schon noch eine Einheit – ein Band – zwischen Individuum und Welt, aber eine Einheit, die nur noch aus dem Individuum kommen kann; dies einmal theoretisch – weil in deen lebensphilosophischen Gestalt –, aber auch historisch mit Heraufkunft der Geldwirtschaft; und dieses monetäre Band ist kein soziales Band mehr, gerade weil es alle Individuen miteinander zu verknüpfen mag. Geld ist reine Form: Die Person verschwindet hinter

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der Sache; die Beziehungen sind versachlicht. Das Individuum wird auf die Gesetzlichkeit seiner selbst zurückgeworfen. Früh in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts konstatierte Simmel eine Unwahrscheinlichkeit allgemein-gesellschaftlicher Idealbildung; eine Hoffnung, die Durkheim ja noch 1912 artikulierte. Religiöse Heilsideale konnte das Individuum gemäß Simmel nur noch in sich finden. Was Durkheim umgekehrt – anders als Simmel – scheinbar nicht für möglich – oder für wünschbar – gehalten hat, ist eine Privatisierung von Religion. Privatisierung von Religion hieß für Simmel: In-Wendung der Transzendenz als Eigenschaft des Lebens. Als individualgesetzliches kann das Leben wieder ein umfassend religiöses werden. Die kirchliche Religion mochte ihren allumfassenden Anspruch aufrechterhalten, doch bildete sie nur noch eine Kulturform neben anderen. Hier stoßen wir auf eine erneute, sehr interessante Parallele zu Durkheim bei gleichzeitiger Differenz. Durkheim vertrat einmal eine evolutionstheoretische Perspektive auf Religion, wonach der Herrschaftsraum der Religion über die Jahrhunderte hinweg immer kleiner wird. Es gebe einen feststellbaren Rückzug der Religion aus ihrer ursprünglich das gesamte gesellschaftliche Leben penetrierenden Sphäre, während die ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten mehr und mehr Raum für Autonomie gewinnen. Die nicht-religiösen Gebiete erlangen unabhängige Entwicklungsmöglichkeiten: »Wenn es eine Wahrheit gibt, die die Geschichte über jeden Zweifel erhoben hat, dann die, daß die Religion einen immer kleineren Anteil des sozialen Lebens umfaßt. Am Anfang erstreckt sie sich auf alles; alles, was sozial ist, ist religiös; die beiden Wörter sind Synonyme. Nach und nach lösen sich die politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Funktionen von der religiösen Funktion, richten sich gesondert ein und nehmen immer weltlicheren Charakter an. Gott, der zuerst […] in allen menschlichen Beziehungen gegenwärtig war, zieht sich fortschreitend zurück. Wenn er sie noch weiter beherrscht,, so aus der Höhe und von ferne, und die Wirkung, die er ausübt, wird immer allgemeiner und immer unbestimmter und überläßt dem Spiel der menschlichen Kräfte einen immer größeren Raum.« (Durkheim 1988: 224)

Durkheim schrieb dies unter dem Eindruck der nicht nur in Frankreich politisch forcierten Trennung von Staat und Kirche, der Laizisierung.3 Durkheim, selbst antikatholisch und laizistisch positioniert, attestierte der kirchlichen Religion keine Zukunft, und dennoch wies er der Religion – als reiner Form – die zeitlos invariante Funktion gesellschaftlicher Integration zu, und dies ging Hand in Hand mit den Beobachtungen Durkheims der Laizisierungspolitik in Frankreich. Noch zur Zeit der Publikation der »Elementaren Formen« sah Durkheim »eine Phase des Übergangs und der moralischen Mittelmäßigkeit« (Durkheim 2007: 625). Den Grund für das Mittelmaß des sozialen Bandes erläuterte Durkheim bereits in seinen Vorlesungen an der Sorbonne 1902/1903. Seit den 1880er Jahren, so beobachtet Durkheim, gebe es eine »große pädagogische Revolution«, »eine rein laiische

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Mit begriffsgeschichtlich gesondertem Blick auf Frankreich hält Sylvie-Toscer Angot fest, dass Laizität in Frankreich eine »politische Philosophie« war, deren Bedeutung ein »nicht religiöses, säkulares Welt- und Menschenbild« sei, sowie der Entzug »ganze[r] gesellschaftliche[r] Tätigkeitsbereiche« aus dem Einflussbereich der Religion und der Unterstellung dieser der »politischen Gewalt« (Toscer-Angot 2008: 45-46).

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Moralerziehung« in den öffentlichen Schulen (Durkheim 1973: 59). »Darunter«, so Durkheim weiter, »versteht man eine Erziehung, der eine Anleihe auf die Prinzipien untersagt ist, auf denen die offenbarten Religionen beruhen, die sich vielmehr einzig auf die Ideen, die Gefühle und die Praktiken stützt, die von der Vernunft allein abhängen. Mit einem Wort, eine rein vernünftige Erziehung.« (Ebd.: 59) Eine vernunftbasierte Pädagogik stehe in der Reihe einer Evolution der allmählichen Ausdifferenzierung der Moral aus der Religion. Ursprünglich ist alle Moral religiös und größtenteils eine Verpflichtung gegenüber den Göttern (vgl. ebd.: 61). Die Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen sei von minderer Wichtigkeit als die Einhaltung ritueller Vorschriften. Noch in der griechischen Antike sei Totschlag ein der »Gottlosigkeit« gegenüber minderschweres Verbrechen gewesen (vgl. ebd.: 62). Das Christentum bringe eine Wende, da sie »die Menschenpflicht gegen den Menschen« zum höchsten Gottesgebot lehre (ebd.: 62). Die Moral sei nun für die Menschen da – nicht zu Gottes Selbstzweck –, und der Ritus rücke mehr und mehr in den Hintergrund der Religion. Der Protestantismus treibe noch stärker die »Autonomie der Moral« gegenüber dem Ritual hervor (ebd.: 62). Die Philosophie schließlich meint, daß man die Vorstellung eines strafenden Gottes zur Einhaltung moralischer Gebote im Diesseits noch benötige, nicht mehr aber zu deren Begründung (vgl. ebd.: 62-63). Durkheim meint aber, dass Moral und Religion über die Gottesvorstellung als »das Zentrum des religiösen Lebens« wie als der »gleichzeitig […] höchste Garant der Moralordnung« bis vor kurzem – ob Durkheim damit das 18. oder 19. Jahrhundert meint, ist unklar – miteinander verflochten waren (ebd.: 63). Die heilige Natur von Moralvorstellungen wie den Pflichten des Kindes seinen Eltern gegenüber oder die Achtung des Menschenlebens mache sich an der Intensität der »Mißbilligung« einer Infragestellung oder Übertretung solcher Ideale bemerkbar (ebd.: 65). Die Moral sei – trotz aller Entkopplung von der Religion – »ein heiliger Bereich.« (Ebd.: 65; Hervorhebung im Original) Eine Erziehung der Schüler zu einer laizistischen Moral könne deshalb der religiösen Aura nicht entbehren (vgl. ebd.: 66). Eine vollständige Trennung der Moral von der Religion würde die Erziehung ineffektiv machen (vgl. ebd.: 64-66). Die laizistische Moral könne die Religion nicht ersetzen, sondern bedürfe deren vitalisierender Kraft. Religion und Moral seien über eine so lange Zeit von Jahrhunderten hinweg wie untrennbar erschienen, dass eine vollständige Abtrennung der Moral von Religion die erstere leblos und leer lasse. Deshalb müsse sich die »Moral […] eine neue religiöse Aura verschaffen. Es geht für sie darum, die Kraft der Religion in sich aufzunehmen, aber ohne ihren dogmatischen Inhalt.« (Baubérot 2008: 194; Hervorhebung PB) Um »die Herzen [der Schüler] zu entflammen und die Geister zu beleben«, so Durkheim, müsste der Lehrer »das Gefühl« haben »im Namen einer höheren Wirklichkeit zu sprechen« (Durkheim 1973: 66). Scheinbar geht es darum, in der pädagogischen Situation nahe der Situation kollektiver Erregung zu kommen, welche nach Durkheim die Betriebstemperatur zur Geburt religiös-gesellschaftlicher Ideale ist. Die Religion ist nach Durkheims reifer Religionssoziologie identisch mit dem Symbolsystem, in welchem sich gesellschaftliche Ideale materialisieren. Ihre Funktion der Integration über affektuale Bindung an ein Symbolsystem sozialer Ideale löste innerhalb Durkheims Werksleben die Unterscheidung nach mechanischer und organischer Solidarität ab (vgl. Maryanski 2014). Die emotionale Bindung an die symbolisierten Ideale muss jedoch gepflegt werden – durch die Gesellschaft. Durkheim sah

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als eine wichtige pädagogische Aufgabe »die Erziehung zum Patriotismus, d. h. zur Heiligung Frankreichs und seiner Gesellschaft als eines die Individuen transzendierenden Wesens […]: die moralische Einheit des republikanischen Frankreichs« (Firsching 1990: 183). Ruth A. Wallace meinte denn auch, dass gemäß Durkheim der Pädagogik die Aufgabe der religiösen Einführung in das Glaubensgebäude der Nation oblag: Die Lehrer an den öffentlichen Schulen wären gleich den Priestern in einer Kirche, gepredigt würden die Werte der Nation, und die zum Patriotismus erzogenen Schüler seien die wahren Gläubigen (vgl. Wallace 1973). Die französische Nation wäre die Kirche (vgl. Tyrell 2008: 137). Dies ist der Grund, so hat Hartmann Tyrell herausgearbeitet, warum Durkheim in seine Begriffsdefinition von Religion die Kirche inkorporiert hat (vgl. ebd. 2008: 134 und Durkheim 2007: 76). Eingeschlossen werden sollten sowohl die konfessionellen wie die nicht-konfessionellen Ideale einer zusammengehaltenen Gesellschaft. Eingeschlossen war damit die Möglichkeit eines wechselseitigen Konkurrenz- wie Substitutionsverhältnisses zwischen »civil und church religion« (Tyrell 2008: 133; Hervorhebung im Original) (französischer) Nationalstaat, Gesellschaft und Religion fallen dann, wie Tyrell weiter ausführt, bei Durkheim teilweise begrifflich zusammen (vgl. ebd.: 130). Die Vorstellung vom zivilreligiösen Nationalstaat artikulierte sich in Durkheims späten religionssoziologischen Begrifflichkeiten, die keine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Sphären gestatteten: »Fast alle begrifflich-konzeptionellen Weichenstellungen der Durkheimschen Religionssoziologie sind damit auf Einheit gerichtet, auf die zivilreligiöse Zusammen- und Engführung von Gesellschaft/Nation, Staat und Religion/Kirche, das alles im Singular.« (Ebd.: 136; Hervorhebung PB) »Einheit« – genau der Begriff, auf den auch bei Simmel seine begrifflichen Bemühungen konvergierten. Nur eben, dass Simmels Letztbezug von Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft wie Religion die Einheitsform des individuellen Lebens gewesen ist. Geld ist nach Simmel die absolute Einheit des Seins in der Form der Wechselwirkung, da es nach Simmel die Seins-Bedingung auch des individualgesetzlichen Lebens ist, sich in überindividuelle Formen zu gießen. Es bleibt aber das individuelle Leben, welches sich in die überindividuelle, allumfassende Geldform objektiviert – und rückwirkend auf sich selbst zurückgeworfen wird. Alles Überindividuelle kommt letztlich im Individuum zur Einheit. Es bildet das Gravitations- und Schöpfungszentrum der simmelschen Philosophie. Ein gesellschaftspolitischer Vorschlag Simmels ging deshalb in die Richtung einer Kulturpolitik, die Individuen in ihrer Aneignungsfähigkeit der Kulturprodukte zu schulen (vgl. ZK: passim). Oder in Anlehnung an Kant: Anlernen zur individuellen Autonomie. Wenn Durkheim sagt, dass wir, die Individuen, »nicht erfahren, wie wir unsere Begierden zu zügeln haben«, könnte Ähnliches damit gemeint sein (Durkheim 1983: 296). Durkheim hatte dann aber doch eine gemeinschaftlichere Lösung der Begrenzung im Sinne. Wie die Berufsgruppe im ökonomischen Falle durch die – sozusagen und um der Vergleichbarkeit willen – »richtige« Erziehung das individuelle Begehren begrenzt, obliegt der Pädagogik die Erziehung zur nationalstaatlichen Zivilreligion. Alles Verpflichtende und damit auch: alles Begrenzende entstammt Durkheim zufolge der Gesellschaft; und, da die Religion »nur« die Objektivation der Gesellschaft ist, entstammt alles Verpflichtende und Begrenzende auch der Religion (vgl. Krech 1998a: 195). Für Simmel entstammen die verpflichtenden Gesetze der Form des schöpferischen Individuums selbst. Das Individuum hat sich – radikal formuliert – selbst zu

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regulieren. Bei Durkheim sind die religiösen Kräfte identisch mit den Kollektivkräften, welche das Individuum als etwas ihm Äußeres erfährt. Simmel zufolge sind die religiösen Kräfte individuellen Ursprungs, und das Schaffen von als äußerlich empfundener Formen ist das Werk des individuellen Lebens. Horst Firsching meinte meines Erachtens recht treffend, Durkheims »Fokussierung der Religion auf Symbolisierung der Gesellschaft und die Verpflichtung auf Moral« habe eine »offensichtliche Ausblendung der schon damals wie auch heute noch in der Religionssoziologie vertretenen und in der Geschichte des Christentums, insbesondere des Protestantismus, selbst angelegten These [gehabt], daß sich die christliche Religion in der ›modernen Gesellschaft‹ in die Sphäre des Privaten zurückziehe und derart überleben könne« (Firsching 1990: 166).

Wiederum diametral entgegengesetzt dazu weist Simmels Konzept sowohl der Beziehungsform des religiösen Individuums zu Gott als auch jenes vom erst durch die Geldwirtschaft hervorgebrachten eigengesetzlichen Individuum gerade jene kulturprotestantisch-puritanischen Züge des selbstverantwortlichen und auf sich gestellten Subjekts auf, welche für Weber das kapitalistische Berufsethos maßgeblich konstituiert haben.

9.2 WEBER – SIMMEL Anders als Emile Durkheim hat sich Max Weber Zeit seines Lebens mit der vergangenen wie gegenwärtigen Ökonomie beschäftigt. Später, um die Jahrhundertwende, traten mit der »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« sowie der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« auch die Religion und das historischgenetische Zusammenhangsverhältnis mit der Wirtschaft in das Feld des publizistischen Interesses Webers. Im Folgenden entwickele ich den Vergleich zwischen Max Weber und Georg Simmel den folgenden Schritten gemäß: Zunächst widme ich mich der weberschen »Zwischenbetrachtung« (Kapitel 9.2.1). In der »Zwischenbetrachtung« entwickelt Weber eine typologisch konstruierte Kulturtheorie der möglichen Beziehungen zwischen der religiösen Sphäre einerseits und den Eigengesetzlichkeiten der weltlichen Wertsphären andererseits. Die Beziehungen variieren zwischen Adäquanz und Konflikt. Statt, wie Simmel es macht, das individuelle Leben den Formen gegenüberzustellen, rückt Weber die Religion in ein Verhältnis zur Welt, die Ambivalenz der Kulturverhältnisse konstatieren beide. Schließlich zeige ich in Kapitel 9.2.2, ausgehend vom Ende der »Zwischenbetrachtung«, dass für Weber wie für Simmel die diesseitige Welt mit der Zurückdrängung der (christlichen) Religion ihren Sinn verloren hat, Sinngebung deshalb dem auf sich gestellten Subjekt selbst zufällt. Im »Kampf der Götter« zwischen den Werten bzw. Wertsphären sieht sich das Subjekt der permanenten Entscheidung für wie gegen bestimmte, absolute Geltung beanspruchenden Letztwerten gegenüber. Auch hier gibt es Übereinstimmung zwischen Weber und Simmel. Kapitel 9.2.3 schneidet sich aus dem ambivalenten Beziehungsverhältnis von Religion und Welt das von Religion und Wirtschaft heraus und analysiert die »Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus«. Meine Vergleichshypothese ist die, dass der Kapitalismus für Weber die gleiche Bedeutsamkeit

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besitzt wie das Geld für Simmel. Simmel deutet an der Geldform die Einheit des Seins, für Weber wirkt der moderne, rationale Kapitalismus über die Enge der ökonomischen Sphäre hinausgehend prägend für die gesamte Lebensführung. Eine weitere Vergleichshypothese ist diese: Für Simmel ist stets das Leben jene Instanz, welche die Form schafft, um dann durch diese rückwirkend geformt zu werden. Für Weber ist es die Religion, welche unvergleichbare Durchsetzungs- und Schöpfungskräfte entwickeln kann, welche dann auf das Leben der Subjekte zurückwirken. Der asketische Puritanismus zerstört die traditionale Form des Wirtschaftens und setzt an dessen Stelle die Form rationalen kapitalistischen Wirtschaftens, die, einmal geformt, sich von ihren religiösen Kräften emanzipiert, ihrer nicht mehr bedarf und nun rückwirkend die moderne Lebensführung prägt. Allerdings ging es Weber um ein historisch-genetisches Formungs- und Prägungsverhältnis zwischen religiöser Ethik und ökonomischer Tätigkeit, wohingegen es Simmel um die funktionale Substitution von Gott durch Geld ging, die beide gleichermaßen ein religiöses, nur an das eigene Gesetz gebundenes Leben freisetzen. In Kapitel 9.2.4 steht der Versuch, ausgehend von der Auseinandersetzung Webers und Simmels mit dem Historischen Materialismus, die vorhandene Nähe zwischen Simmel und Weber einer beide Seiten trennenden Differenz gegenüberzustellen. Eine inhaltlich differenzielle Konturierung der Wechselwirkung zwischen Religion und Wirtschaft, wie es Weber mit der Unterscheidung und Korrelation von Schicht, Religion und Wirtschaftsethik getan hat, hätte es bei Simmel nicht geben können, und der Grund dafür ist Simmels Präferenz der Form über die Inhalte. Simmel ging es stets um das Herausarbeiten der Einheit, der Vereinheitlichung wie der abstrakten Form aus der inhaltlichen Differenz, er destillierte transzendentale Funktionsprinzipien heraus. Dies tat Weber nicht im gleichen Maße. Die philosophische Intention Simmels, die dualistische Einheit des Lebens zum Leitmotiv seiner Arbeiten zu machen, verhinderte zur anderen Seite hin, die kulturgeschichtlich unterschiedlich wirksame Prägung der Form durch die geschichtlichen Inhalte zu erfassen. Die Differenz der Inhalte macht für Simmel keinen Unterschied in der Konstitution der abstrakten Form – für Weber war diese Differenz essenziell. 9.2.1 Max Webers »Zwischenbetrachtung« Der »Zwischenbetrachtung« Max Webers – erschienen am Ende des ersten Bandes der »Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie« – kommt seit einer Publikation Friedrich Tenbrucks eine zentrale Bedeutung in der Weber-Rezeption zu (vgl. Tenbruck 1975; Tyrell 2017: 348-49). Zusammen mit der »Vorbemerkung« zu den »Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie« und der »Einleitung« zur »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«, so Tenbruck, bilde die »Zwischenbetrachtung« den werkgeschichtlich letzten Stand in Webers Werk. »Wirtschaft und Gesellschaft« ist zwar nach seinem Tode erschienen, fertiggestellt habe Weber die Arbeit an ihnen aber zwischen 1911 und 1913 (vgl. Tenbruck 1975: 672). Die »Einleitung« habe Weber 1915 geschrieben, 1920 die »Vorbemerkung«, in der Mitte sei die »Zwischenbetrachtung« zu platzieren (vgl. ebd.: 676). Diese letztgenannten Werke geben den »Gesammelten Aufsätzen« demgemäß ihre umfassende Einheit. Neben der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« zählt auch die 1904 und 1905 in zwei größeren Textkörpern erschienene »Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« zu den »Gesammelten Aufsätzen«. Zwischen 1919 und 1920 überarbeitete Weber im

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Zuge der Publikationsvorbereitung der »Gesammelten Aufsätze« erneut die »Protestantische Ethik« und ordnete sie damit ex post auch textuell und ihrem Inhalt nach ein in seine universalgeschichtliche Untersuchung zu den kulturübergreifenden Rationalisierungsprozessen, deren reifste Form nach Webers Ansicht der okzidentale Kulturraum ist (vgl. ebd.: 667-68; 1988a: 1-16). Die »Protestantische Ethik« – welche allein die sehr spezifische Zusammenhangsthese zwischen protestantischer Wirtschafts- wie Berufsethik und dem Geist des Kapitalismus auf ihre kausalgenetische Verwobenheit hin untersucht – wird dann im Nachhinein zum Keim und Ausgangspunkt einer allgemeineren Forschungsrichtung Webers, die zeitlich hinter die »Protestantische Ethik« greift, kulturell über Europa und in der Sache über das Gebiet von Ökonomie und Religion hinausgeht und die Felder von Politik, Wissenschaft, Kunst und Erotik in den Blick nimmt (vgl. Tenbruck 1975: 677). Entdeckt habe Weber sein Lebensthema der Rationalisierung und, auf die Religion bezogen, der Entzauberung der Welt von den Vorstellungen magischer Beeinflussung, erst nach 1905 mit der Arbeit an der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen« und der Konzentration seiner Ergebnisse in der »Einleitung« und der »Zwischenbetrachtung« (vgl. ebd.: 680-91). Die »Zwischenbetrachtung« ist rezeptionsgeschichtlich innerhalb der Soziologie unter anderem zur Quelle einerseits der Kulturtheorie, andererseits der Theorie der Ausdifferenzierung eigengesetzlicher, sogenannter »Wertsphären« bei Weber geworden (vgl. Schwinn 2001: 153-54; 2014a; Tyrell 2017: 349; kritisch zur Interpretation und Einordnung der »Zwischenbetrachtung« als differenzierungstheoretischen Text vgl. Joas 2017: 373-417).4 Im Vordergrund der »Zwischenbetrachtung« steht das Verhältnis von Religion und Welt (vgl. Schwinn 2014a: 259). Es geht Weber dabei – wie auch sonst – vorrangig um die Ethiken der Religion, da Ethiken das lebensumfängliche handlungswirksame Moment einer Religion sind.5 Zu Beginn der Entwicklung steht jeweils eine Einheitlichkeit oder Ungeschiedenheit zwischen der Sphäre der Religion einerseits und den weltlichen Sphären andererseits. So steht am Anfang der religiösen Entwicklung für Weber das magische Handeln, welches »in seinem urwüchsigen Bestande […] diesseitig ausgerichtet [ist].« (Weber 2010: 317; Hervorhebung im Original) Es ist ein Handeln nach »Erfahrungsregeln« – aber nicht zweckrational (ebd.: 317). Einerseits ist die Magie »gar nicht aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns auszusondern«, dann schließlich sind die Zwecke magischen Handelns »überwiegend ökonomische« (ebd.: 317). Als Beispiel verweist Weber auf »die Manipulationen des Regenmachers«, worunter er unter Umständen einen Regentanz versteht (ebd.: 317). Andererseits zieht Weber eine Unterscheidung ein zwischen Religion bzw. Magie und nicht-magischem Handeln entlang der Eignung zur Außeralltäglichkeit, seien es die Kräfte und Fähigkeiten von Individuen oder der von Dingen (ebd.: 317-18). Häufig werde bereits im magischen Handeln mit dem Geisterglauben »eine nur scheinbar einfache Abstraktion

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Ich folge der differenzierungstheoretischen Lesart der »Zwischenbetrachtung«. Hans Joas’ Kritik ist ihrerseits nicht unkommentiert geblieben. Vgl. dafür die Rezension Hartmann Tyrells von Joas’ Buch »Die Macht des Heiligen« (vgl. Tyrell 2018). Folgt man Tyrell, ist die Handlungskategorie die noch vor dem Subjekt bedeutsamere Kategorie in der weberschen soziologischen Kategorienlehre (vgl. Tyrell 1996: 173-74). Das Subjekt als solches komme gar nicht vor. Mehr dazu gleich weiter unten.

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vollzogen«, wonach nicht näher bestimmbare, aber beeinflussbare Kräfte hinter den Dingen liegen (ebd.: 318). Mit der Ausdifferenzierung der Religion einerseits und den weltlichen Sphären andererseits zu jeweils eigengesetzlichen Zusammenhängen tendiert ihre Beziehung zu einem Spannungsverhältnis (Weber 1988a: vgl. 537; vgl. dazu auch Schwinn 2014a: 260). Die Spannung oder der Konflikt ist aber nicht notwendiger Natur, unter bestimmten Bedingungen kann es auch zu förderlichen Adäquanz- bzw. Wahlverwandtschaftsbeziehungen zwischen Religion und Welt kommen. Beispielhaft dafür steht die puritanische Berufsethik. Jeweils geht es in der »Zwischenbetrachtung« auf Seiten der Religion um weltablehnende Religionen, die aber eine unterschiedliche Wirkungsrichtung innerhalb der weltlichen Sphären auszeichnet. Die innerweltliche Askese der Puritaner ist genauso Welt ablehnend wie die weltflüchtige Mystik, der Puritanismus versteht sich aber als ein handelndes Werkzeug Gottes, während der weltflüchtige Mystiker sich als Gefäß Gottes versteht, das Handeln in der Welt ablehnt und das mystische »Erlebnis« als »allein heilsbedeutsam« einstuft (Weber 1988a: 540). Sie zeichnen entsprechend unterschiedliche Konsequenzen: Das puritanische Berufsethos treibt den rationalen kapitalistischen Geist hervor, und mit ihm die Form rational kapitalistischen Wirtschaftens. Wie Weber weiter erläutert, handelt es sich bei der »Zwischenbetrachtung« um ein »Schema«, um »Typen von Konflikten der ›Lebensordnungen‹«, um eine »Konstruktion«, die »einzelnen Wertsphären sind dabei […] in einer rationalen Geschlossenheit herauspräpariert, wie sie in der Realität selten auftreten, aber allerdings: auftreten können und in historisch wichtiger Art aufgetreten sind.« (Ebd.: 537; Hervorhebung im Original) Rationalität bedeutet hier meines Erachtens so viel wie Einheitlichkeit, Eigenlogik oder auch, wie Weber selbst es sagt: Geschlossenheit. Die Vieldeutigkeit des Rationalitätsbegriffs bei Weber ist nicht mein Thema.6 Einerseits scheint es sich bei der »Zwischenbetrachtung« um eine idealtypisierende Konstruktion und Schematisierung möglicher Beziehungen von Religion und Welt zu handeln, an welche sich die Realität mehr oder minder annähern kann und auch historisch angenähert hat. Um eine Theorie der Differenzierung handelte es sich dann nicht. Doch eine reine Idealtypologie scheint die »Zwischenbetrachtung« nicht zu sein: »Aber daneben könnte sie allerdings unter Umständen noch etwas mehr sein.« (Ebd.: 537) Weber zeichnet mit dem, was er rationale Geschlossenheit von Wertsphären nennt, einen im Menschen vorzufindenden Rationalisierungsdrang nach. Darunter könnte man das Zur-Konsequenz-Führen bestimmter Ideen und Gedankensysteme verstehen, ihr Zu-Ende-Denken: »Auch das Rationale im Sinne der logischen oder telelogischen ›Konsequenz‹ einer intellektuell-theoretischen oder praktisch-ethischen Stellungnahme hat nun einmal (und hatte von jeher) Gewalt über die Menschen, so begrenzt und labil diese Macht auch gegenüber andern Mächten des historischen Lebens überall war und ist.« (Ebd.: 537)

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Zur Vieldeutigkeit wie auch Omnipräsenz des Rationalitätsbegriffs bei Weber vgl. Tyrell 1993a: 300; Schimank 2010: 227.

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Tenbruck spricht auch von »einem Zwang zur Vereinheitlichung« der Dinge in der Welt (Tenbruck 1975: 687). Zu dieser Idee könnte Weber durch die Lektüre von Simmels Geldphilosophie gekommen sein, in der Letzterer einen ähnlichen Drang zur Vereinheitlichung der Lebensführung behauptet hat (vgl. PDG: 109, 197). Dieser vornehmlich intellektuelle Drang nach Systemgeschlossenheit ist für Weber etwas, was die eigengesetzliche Evolution religiöser Vorstellungen und Ethiken durch Geistliche maßgeblich bestimmt hat, und von hoher Bedeutsamkeit ist hierbei die Theodizee, die Rechtfertigung der Existenz Gottes angesichts der Unvollkommenheiten in der Welt. Die konkrete »Struktur der Theodicee« ist »ein rationales Element« innerhalb der Entwicklung der »einzelnen weltablehnenden Erlösungsethiken« (Weber 1988a: 571). Mittels der Theodizee-Konstruktion reagiere das »metaphysische Bedürfnis« auf die »unüberbrückbaren Spannungen« der Welt (ebd.: 572). Im Unterschied zu Simmel besitzt bei Weber das intellektuelle Bedürfnis nach Sinngebung eine eigene Schrittmacherfunktion für die Evolution der Religion (vgl. Kalberg 2000; Schwinn 2001: 158; Bienfait 2011: 204-05). Die Theodizee wiederum ist das entwicklungsgeschichtliche Resultat des aus dem polytheistischen Pantheon hervorgehenden Monotheismus. Denn je mehr, so Weber, die »Gottesidee […] in der Richtung der Konzeption eines universellen überweltlichen Einheitsgottes verläuft, desto mehr entsteht das Problem: wie die ungeheure Machtsteigerung eines solches Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne, die er geschaffen hat und regiert.« (Weber 2010: 405)

Noch vor der Theodizee steht bei Weber aber, wie Stephen Kalberg gezeigt hat, »das uralte Problem des Leidens.« (Kalberg 2000: 48; Hervorhebung im Original) Die Frage nach dem Grund für das Leiden in der Welt steht nicht nur am Beginn der religiösen Entwicklung, sondern ist der intellektuelle Motor ihrer eigenlogischen Entwicklung (vgl. ebd.: 53). Jede Erklärung des Leidens oder der Ungerechtigkeit in der Welt durch eine Geister- oder Gotteskonzeption lasse das intellektuelle Bedürfnis nach Sinngebung irgendwann unbefriedigt, so dass eine Revision des Ideengebäudes erfolgt. In der Welt der Geister würde die Vorstellung von bestimmten zu erfüllenden Erwartungen jenseitiger Mächte entwickelt. Ein noch so wohlgefälliges Handeln der Menschen lasse aber »weiterhin unerklärliches Leiden.« (Ebd.: 55) Es folge eine Erklärung durch mächtige wie auch zornige Götter, die sich anders als die Geister nicht mehr manipulieren, zwingen oder bestechen ließen, sondern durch Fürbitte, »Verehrung, Schmeichelei« wie auch heilige Handlungen befriedet und besänftigt werden sollten (ebd.: 57). Keine intellektuelle Erklärungsleistung befriedigt jedoch dauerhaft, ein unerklärliches, mit dem Verlangen nach konsequenter Rationalisierung des Weltbildes nicht zu vereinbarendes Leiden bleibt. Die Interpretation von Leiden als Strafe Gottes für die Verletzung seiner göttlichen Ordnung findet ebenfalls seine Grenzen aufgrund des Missverhältnisses »zwischen dem Maß der Frömmigkeit und dem des irdischen Wohlergehens« (Schulz-Schaeffer 2010: 253). Deshalb entwickelt sich die Vorstellung eines »jenseitigen Ausgleichs« für das diesseitige mehr oder weniger fromme Handeln (ebd.: 254). Die Idee eines jenseitigen Ausgleichs verschiebe jedoch nur das Problem innerhalb der intellektuellen Ebene, es bleibt nämlich die Frage, warum ein vollkommener Gott die Möglichkeit des sündigen Menschen – und damit dessen jenseitige Bestrafung – überhaupt zulasse: »So bleibt das Problem, wie

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die Unvollkommenheit der Welt mit der Vollkommenheit Gottes in Einklang gebracht werden kann, nicht nur bestehen, sondern es verschärft sich weiter.« (Ebd.: 254) Nach Weber gibt es drei intellektuell konsequente Antworten auf das Verlangen nach Lösung der Theodizee: die Lehre von der Prädestination, die Lehre Zarathustras und die indische Intellektuellenreligiosität des Seelenwanderungsglaubens im Buddhismus und Hinduismus (vgl. Weber 1988a: 572-73 und Weber 2010: 408-10).7 Der Zarathustrismus reagiert auf die Theodizee mit Verzicht auf die Allmacht Gottes zugunsten eines Dualismus widerstreitender Mächte, von Rein und Unrein. Der Verzicht auf die Allmacht Gottes, so Weber, sei »von den heutigen Bekennern (den Parsen) tatsächlich aufgegeben worden, weil diese Schranke nicht ertragen wurde.« (Weber 1988a: 572) Alltäglich dagegen sei die Vorstellung von einem Kampf zwischen Gut und Böse wie zwischen Gott und Teufel, wobei Gott am Ende über den von ihm selbst geschaffenen Teufel obsiegen wird; allerdings, so Weber, funktioniere diese Konstruktion nur, wenn an der Liebe oder Güte Gottes eingespart werde. Letzterem entspreche »in voller Konsequenz der Prädestinationsglaube.« (Ebd.: 572; Hervorhebung im Original). Im Prädestinationsglauben wird auf die Güte Gottes verzichtet, indem Gott aller irdischen Maßstäbe entrückt vorgestellt wird. Dauerhaft ertragen worden sei auch diese Vorstellung nicht, erscheine die vor aller Zeit von Gott beschlossene Verdammung doch als rational und gerechtfertigt. Weber meint, im Prädestinationsglauben werde »auf die Zugänglichkeit eines Sinnes der Welt für menschliches Verstehen« verzichtet (ebd.: 573). Die dritte konsequente Lösung der Theodizee ist nach Weber die indische »Intellektuellen-Religiosität« (ebd.: 573). Damit gemeint ist der Glaube an die Wiedergeburt, wie sie im Buddhismus existiert (vgl. Weber 2010: 409-10). Weber ist kein Idealist in der Art, dass die Evolution religiöser Ideen sich bruchlos durchsetzt, sondern sie ist selbst durch Schicht- oder Gruppenzugehörigkeit geprägt: Die »religiöse Bestimmtheit der Lebensführung« ist »selbst […] wiederum innerhalb gegebener geographischer, politischer, sozialer, nationaler Grenzen durch ökonomische und politische Momente tief beeinflußt.« (Weber 1988a: 238-39) Der Bauer beispielsweise neige wegen seiner Naturgebundenheit zum Glauben an das Wirken »von magischer Beeinflussung der irrationalen Naturgeister« (Weber 2010: 378). Die Weltreligionen von Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam besitzen nach Weber typische, ihre Entwicklung forcierende Trägerschichten. So waren Konfuzianismus und Hinduismus von den »literarisch gebildeten« Schichten getragen (Weber 1988a: 239). »Der Buddhismus«, so Weber, sei »von heimatlos wandernden, streng kontemplativen und weltablehnenden Bettelmönchen propagiert [worden].« (Ebd.: 239). Sowohl dem Hinduismus als auch dem Buddhismus ermangelte es in der Praxis »fast aller sozialrevolutionären, religiösen

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Zur Logik der Rationalisierung in der Religion und der Rolle der Theodizee in der religiösen Evolution vgl. den hervorragenden Text von Schulz-Schaeffer 2010. Der Lektüre seines Texts habe ich wichtige Einsichten zum Zusammenhang von Wirtschaft und Religion bei Weber zu verdanken. Ihren Ursprung hat die Hypothese zur entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Theodizee für die Religionsentwicklung meines Wissens nach freilich bei Friedrich Tenbruck 1975: 682-83.

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Ethik«, was sich nach Weber »erklärt […] aus der Art der Wiedergeburtstheodizee« (Weber 2010: 389). Die Wiedergeburtstheodizee ist eine der drei rationalen Lösungen der Theodizee, die »›Karman‹-Lehre […] des sog. Seelenwanderungsglaubens.« (Ebd.: 409) Das der aktuellen eigenen Kaste angemessene oder auch nicht angemessene Verhalten wird im nächsten Leben durch die Geburt in eine höhere oder niedere Kaste vergolten, und die aktuelle Kastenzugehörigkeit erkläre sich durch Sünde oder Wohlverhalten im früheren Leben (vgl. ebd.: 389). »Der Islam« sei anfänglich »eine Religion welterobernder Krieger« gewesen (Weber 1988a: 239). Die jüdische Religion sei seit dem babylonischen Exil »die Religion eines bürgerlichen ›Pariavolkes‹« gewesen (ebd.: 240). Das Christentum entstamme dem Kleinbürgertum, hier vorrangig den Handwerkern, teilweise ist das Christentum auch von kleinbürgerlichen Kleinhändlern getragen worden. Bereits Jesus sei »ein landstädtischer Handwerker« gewesen, die antiken Christengemeinden hätten sich »ganz prononziert städtisch, vornehmlich aus Handwerkern, freien und unfreien, rekrutiert.« (Weber 2010: 377) Noch im »Mittelalter ist das Kleinbürgertum die frömmste, wenn auch nicht immer die orthodoxeste Schicht.« (Ebd.: 377-78) Der berufliche Alltag der kleinbürgerlichen Handwerker und Kleinhändler, so fährt Weber fort, bringe eine bestimmte Lebensführung und eine bestimmte mentale Einstellung mit sich, so z. B. »Berechenbarkeit«, ein Glauben an zweckrationale Beherrschbarkeit der Dinge, »Redlichkeit«, ebenso wie der Glaube, dass »treue Arbeit und Pflichterfüllung ihren ›Lohn‹ finde und daß sie ihres gerechten Lohnes ›wert‹ sei, also eine ethisch rationale Weltbetrachtung im Sinn der Vergeltungsethik« (ebd.: 379). Nach Weber ist auch gerade nicht die privilegierte Oberschicht, sondern das aufstiegsorientierte Kleinbürgertum die soziale Trägerschicht des calvinistischen Berufsethos (vgl. Weber 1988a: 38, 4950, 50, Fn. 1). Die städtischen Oberschichten neigten dagegen weniger zu einem Erlösungs-, sondern mehr zu einem Rechtfertigungsbedürfnis für ihre privilegierte Lage (vgl. ebd.: 242; 2010: 375). Es gebe nämlich, so Weber, nicht nur ein Bedürfnis nach einer Theodizee des Leids – jene Frage nach der Vereinbarkeit der Unvollkommenheit in der Welt mit einem vollkommenen Gott –, sondern auch ein Bedürfnis nach einer »Theodizee des Glückes«, welche das eigene, bessere diesseitige Los religiös legitimiert (Weber 1988a: 242; 2010: 385). Zu beachten ist allerdings, dass Weber sich vor allzu generalisierenden Behauptungen scheut. Er nimmt Behauptungen stets mit einer gewissen Reserve zurück und gibt Beispiele für das ausdrückliche Gegenteil und fügt Ausnahmen hinzu, und eher handelt es sich bei den von ihm artikulierten Zusammenhangshypothesen um Tendenzen, Neigungen, Affinitäten. Angemessener ist es wohl, Weber so zu begreifen, gewisse Linien in ihrer Eigenlogik zu begreifen, die aber stets durch andere, selbst eigenlogische Linienführungen gebrochen werden. Anders als ihre christlichen Pendants beispielsweise seien die »chinesischen, überaus ›rechenhaften‹ Kleinhändler […] nicht Träger einer religiösen Rationalität«, ebenso wenig »die chinesischen Handwerker« (Weber 2010: 379). Weiterhin ist nach Weber eine sozioökonomische Minderprivilegierung »naturgemäß eine sehr wirksame Quelle« der »Entstehung« eines Erlösungsbedürfnisses (ebd.: 385). Materielle Not oder soziale Diskriminierung mag die Annahme einer Erlösungsreligion nahe legen, bei dem Proletariat sei dies dagegen weniger der Fall. Sie wünschten »Erlösung vom Leiden«, das Bedürfnis gewinne aber »nicht immer« Gestalt »in religiöser Form« (ebd.: 386). »Das moderne Proletariat«, so Weber, sei »durch Indifferenz oder Ablehnung des Religiösen ausge-

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zeichnet.« (Ebd.: 381) Weber spricht von einem »proletarische[n] Rationalismus«, der die »Komplementärerscheinung« des »Rationalismus einer im Vollbesitz der ökonomischen Macht befindlichen, hochkapitalistischen Bourgeoisie« sei (ebd.: 381). Schließlich begründeten laut Weber 1906 eine »Mehrzahl« von Arbeitern ihren Atheismus »mit dem Hinweis auf die ›Ungerechtigkeit‹ der diesseitigen Weltordnung«, »nur die Minderzahl« von Arbeitern begründete ihren Atheismus mit »modernen naturwissenschaftlichen Theorien« (Weber 1988a: 247). Was das Wechselwirkungsverhältnis von Religion und weltlichen Ordnungen im Allgemeinen anbelangt, besitzt die Entwicklung religiöser Lehren eine den weltlichen Interessen gegenüber die Lebensführung vorrangig und primär prägende Kraft, welche den Rahmen setzt für die dann erst wirksame, prägende Kraft weltlicher Interessen. Ich zitiere dafür eine etwas längere Passage aus der »Einleitung« der »Wirtschafsethik der Weltreligionen«: »Nun ist es in gar keiner Weise etwa die These der nachfolgenden Darlegungen: daß die Eigenart einer Religiosität eine einfache Funktion der sozialen Lage derjenigen Schicht sei, welche als ihr charakteristischer Träger erscheine, etwa nur deren ›Ideologie‹ oder eine ›Widerspiegelung‹ ihrer materiellen oder ideellen Interessenlage darstelle. Im Gegenteil […]. Wie tiefgreifend auch immer die ökonomisch und politisch bedingten sozialen Einflüsse auf eine religiöse Ethik im Einzelfalle waren, – primär empfing diese ihr Gepräge doch aus religiösen Quellen. Zunächst: aus dem Inhalt ihrer Verkündigung und Verheißung. Und wenn diese nicht selten schon in der nächsten Generation grundstürzend umgedeutet, weil den Bedürfnissen der Gemeinde angepaßt wurden, so doch eben in aller Regel wiederum zunächst: deren religiösen Bedürfnissen. Erst sekundär konnten andere Interessensphären, oft freilich recht nachdrücklich und zuweilen ausschlaggebend, einwirken. Wir werden uns überzeugen, daß zwar für jede Religion der Wandel der sozial ausschlaggebenden Schichten tiefgreifende Bedeutung zu haben pflegte, daß aber andrerseits der einmal geprägte Typus einer Religion seinen Einfluß ziemlich weitgehend auch auf die Lebensführung sehr heterogener Schichten auszuüben pflegte.« (Ebd.: 240-41; Hervorhebung im Original)

Der Sinn der Passage fügt sich ein in an anderen Stellen geäußerte Behauptungen Webers, zumindest – und was den Okzident anbelangt – in früheren Zeiten habe die Religion eine umfassende, auf das ganze Leben bezogene und es bestimmende Relevanz besessen. Weber zufolge gehörten zu »den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung […] in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.« (Ebd.: 12) Noch deutlicher heißt es später: In der Vergangenheit sei »das Jenseits alles« gewesen, »an der Zulassung zum Abendmahl […] hing die soziale Position des Christen«, ferner seien die in »dieser Praxis sich geltend machenden religiösen Mächte die entscheidenden Bildner des ›Volkscharakters‹« gewesen (ebd.: 163-64; Hervorhebung im Original). Zeitgenössisch sehe es dagegen anders aus. Hier diagnostiziert Weber seiner Gegenwart eine Gleichzeitigkeit von Gottlosigkeit und einem – gleichwohl säkularisierten – Kampf der Götter. Dazu weiter unten. Was das Wechselwirkungsverhältnis zwischen (religiösen) Ideen und (weltlichen) Interessen im Detail anbelangt, wie beispielsweise die Frage des Nach- und/oder gleichzeitigen Nebeneinanders der kausalen Wirkmächtigkeit von Interessen und Ideen verweise ich auf die Weber-Forschung (vgl. Kalberg 2000; Schwinn 2001: 158-59; Schulz-Schae-

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ffer 2010; Stachura 2011). Wichtig ist jedenfalls, dass – hier gehe ich mit Thomas Schwinn (2001: 153-55; 2014b: 147-48) – Wertsphären und hier zuvorderst: die Religion der Interpretation bedürfen, diese Interpretationen ihren eigenen Weg einer ideengeschichtlichen Evolution einschlagen und einen Einfluss auf die praktische Lebensführung der Menschen gewinnen. Die »Zwischenbetrachtung« bearbeitet einen bedeutsamen Teilausschnitt des Wechselwirkungsverhältnisses zwischen weltablehnenden Religionen einerseits und weltlichen Sphären andererseits.8 In Abhängigkeit von der Interpretation der religiösen Sphäre kann diese in einem Spannungs- oder in einem Adäquanz- bzw. in einem Wahlverwandtschaftsverhältnis mit der Welt stehen. Von argumentativer Bedeutung innerhalb der »Zwischenbetrachtung« ist der evolutionäre, von charismatisch begabten Propheten vollzogene Schritt von der Außeralltäglichkeit religiösen Erlebens im (ereignishaften) Ritual zum religiösen Dauererleben in Erlösungsreligionen. Weber spricht von einem »Dauerhabitus« (Weber 1988a: 541; Hervorhebung PB) und einer am »Heilsgut« orientierten »rationale[n] Systematisierung der Lebensführung.« (Ebd.: 540; Hervorhebung PB) Es geht also um die Unterscheidung zwischen gelegentlichen, für außeralltäglich empfundenen, zuweilen ekstatischen Ereignissen wie einem magischen Ritual – noch der katholische Priester qualifiziert sich für Weber mit der Spendung der »Sakramentsgnade« als »Magier« (ebd.: 114; Hervorhebung im Original; vgl. dazu auch Schluchter 1979: 245-46) – und der dauerhaften Einstellung auf den Erwerb eines Heilsgutes, was, wie Thomas Schwinn hervorhebt, »eine Ethisierung des Religiösen mit sich [bringt].« (Schwinn 2001: 158) Die Dauerhaftigkeit der Orientierung am Heilsgut übersetzt sich in den Anspruch von Erlösungsreligionen auf eine vollständige Durchdringung des Lebens, weshalb die Religion überhaupt erst in einem »dauernden Spannungsverhältnis« stehen kann (Weber 1988a: 541). Diese Ethisierung ist gleichzusetzen mit der Ausdifferenzierung einer Wertsphäre Religion. Folgen die jenseitig orientierte Wertsphäre der Religion und die diesseitigen Wertsphären aus Wirtschaft, Ökonomie oder Wissenschaft ihren Eigengesetzlichkeiten, wächst das Spannungs- und Konfliktpotenzial zwischen Religion und Welt: »Denn die Rationalisierung und bewußte Sublimierung der Beziehungen des Menschen zu den verschiedenen Sphären äußeren und inneren, religiösen und weltlichen, Güterbesitzes drängte dann dazu: innere Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären in ihren Konsequenzen bewußt werden und dadurch in jene Spannungen zueinander geraten zu lassen, welche der urwüchsigen Unbefangenheit der Beziehung zur Außenwelt verborgen blieben.« (Ebd.: 541-42; Hervorhebung im Original)

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Die Weltablehnung ist, soweit ich sehe, ein Resultat intellektueller Rationalisierung der Welt in der Form der Theodizee (siehe oben; vgl. Weber 2010: 449; Tyrell 2017). Die Begründungsversuche für das Leid in der Welt münden letzten Endes in der Wert- und Sinnlosigkeit der weltlichen Ordnungen. Eine religiös begründete Weltablehnung per se impliziert für Weber aber noch keine materiale Ethik. Puritaner lehnen die selbstzweckhafte Verehrung weltlicher Ordnungen ebenso ab wie die Mystiker.

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Thomas Schwinn liest diese Textpassage als Hinweis darauf, dass Wertsphärenkonflikte Konflikte sind, welche im Subjekt zum Austrag – oder auch: zur Einheit – kommen, indem sie ihm bewusst werden (vgl. Schwinn 2001: 444-45). Das Subjekt ist demnach die Letztreferenz sozialer Differenzierung bei Weber; und nicht: die Gesellschaft. In dieser Form der Einheit der Differenz im Leben besteht eine von Schwinn – und meines Wissens nach auch von anderen – übersehene bedeutsame Parallele zu Simmel. Zwar muss gesagt werden, dass Simmel zufolge die apriorischen Prinzipien der jeweiligen Kulturformen zunächst in einer, sozusagen, transzendental friedvollen Koexistenz im Leben nebeneinander stehen (vgl. DR 41-42). Empirisch gehört der Konflikt zwischen den Kulturwelten für Simmel ebenso zum Leben wie deren wechselseitiges Zweck-Mittel-Werden (vgl. Kapitel 5 in diesem Buch). Die Verknüpfung von Einheit und Zweiheit machen den simmelschen Vitaldualismus aus. Die für die weitere Argumentation innerhalb der »Zwischenbetrachtung« bedeutsame – wenn auch nicht einzige – Sozialform religiöser Gemeinschaftsbildung ist jene mit einer universalen »Brüderlichkeitsethik« (Weber 1988a: 542). Die religiöse Brüderlichkeitsethik bedient sich »der Reziprozitätsethik des Nachbarschaftsverbandes« (Weber 1988a: 543). Die religiöse Brüderlichkeitsethik durchbricht, wie Weber meint, die ursprünglich exklusive Bindung des obligatorischen Gebens und Nehmens an »die naturgegebene Sippengemeinschaft.« (Ebd.: 542; Hervorhebung im Original) Diese kennt noch eine Differenzierung nach Binnen- und Außenmoral, wonach in letzterer die Sphäre von Tausch und Sklaverei beheimatet ist (vgl. ebd.: 543) – damit lag Weber auf einer Linie mit den oben referierten wirtschaftsethnologischen Forschungen. Die religiöse Brüderlichkeitsethik ist universal, wenn sie das gegenseitige Aushelfen allein an die Glaubensbruderschaft bindet (vgl. ebd.: 543). Bemerkenswert ist, dass es sich auch hierbei um eine »ökonomische Nachbarschaftsethik« handelt, an der sich die Brüderlichkeitsethik ausgestaltet (ebd.: 543; Hervorhebung PB). In einen Konflikt gerät eine solche Erlösungsreligion nach Weber mit dem Prinzip jenes moralisch geschlossenen Sippenverbandes, deren Inhalte sie universalisiert, da die Familienbande zugunsten der Glaubensbande entwertet werden (vgl. ebd.: 542). Die universale Brüderlichkeitsethik ist es nun, die Weber fortlaufend mit den Eigengesetzlichkeiten der anderen, im Maße ihrer Ausdifferenzierung unbrüderlichen Wertsphären in ein Spannungsverhältnis setzt. Wie bereits oben erwähnt, bilden Ökonomie und Religion ursprünglich keinen Konflikt, sondern eine »urwüchsige« Einheit (ebd.: 542). Demnach ist die »magische […] Beeinflussung der Geister und Götter im Interesse« von individuellem »Reichtum« ein »selbstverständliches Ziel«, ebenso wie die Beeinflussung im Interesse von »Gesundheit, Ehre« (ebd.: 544). Eine rational-kapitalistische Marktwirtschaft orientiert sich nicht an der Person, sondern am Geldpreis, und das Ziel eines am Markt partizipierenden Betriebs ist der Geldgewinn. Sie gerät damit in Konflikt mit der am Glaubensbruder orientierten, universalen Ethik rationaler, d. h. systematisch am Heilsgut orientierten Lebensführung (vgl. ebd.: 544-45). Keine Spannung, sondern ein Adäquanzverhältnis zwischen religiöser und ökonomischer Ethik bildet die unbrüderliche puritanische Berufsethik. Der puritanische Geist ist nach Weber ein Entwicklungshelfer des kapitalistischen Geistes. Allerdings ist der Puritanismus auch keine Brüderlichkeitsethik mehr, auch keine Erlösungsreligion, sofern er dem Dogma der Prädestination anhängt. Zu diesem Thema später. Ebenso wenig steht der auf ma-

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teriellen Besitz verzichtende »Liebesakosmismus des Mystikers« in Spannung mit der Welt (ebd.: 546). Der Mystiker gibt sich unterschiedslos den Menschen hin. Weber nennt es die »Gestalt objektloser Hingabe an jeden Beliebigen, nicht um den Menschen, sondern rein um der Hingabe als solcher […] willen.« (Ebd.: 546) Nicht unerwähnt bleiben sollte die sich nahe an Simmels Ideengebäude entlang bewegende Aussage, »Geld ist das Abstrakteste und ›Unpersönlichste‹, was es im Menschenleben gibt.« (Ebd.: 544) Anders als Weber ging es Simmel aber nicht um die Marktethik des Unpersönlichen.9 In »Wirtschaft und Gesellschaft« betont Weber noch dezidierter und mit Bezug auf Werner Sombart, dass die »absolute Versachlichung« der »nackten Marktvergemeinschaftung […] allen urwüchsigen Strukturformen menschlicher Beziehungen« widerspreche (Weber 2010: 490). Also auch nach dieser Seite hin Konflikt. Die unpersönliche Geldförmigkeit interindividueller Beziehungen war für Simmel hingegen die empirische Realisierung der individuellen Freiheit von Gesellschaft. Auch ähnlich wie Simmel spricht Weber von einem ökonomischen »Kosmos«, der »seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten« folgt (Weber 1988a: 544). Das ist gar nicht so weit von Simmel entfernt. Ein bedeutsamer Unterschied ist aber Webers Prononcierung der rationalen Wirtschaft als eine kapitalistische Wirtschaft, Simmel dagegen betont die geldförmige Verselbständigung der Tauschverhältnisse. Ich verweise darauf, dass in der Sekundärliteratur zu Weber der Wertsphärencharakter der Ökonomie umstritten ist (vgl. Schwinn 2001: 185-86, 189-193). Im strengen Sinne, so das Argument Thomas Schwinns, ist etwas dann und nur dann Wertsphäre, wenn der verfolgte Wert für das Subjekt einen Eigenwert besitzt im Sinne eines wertrationalen Handelns, wie es Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« definiert, unabhängig davon, dass dieser durch überindividuelle Bedingungen dem Subjekt aufgenötigt wird bzw. werden kann, wie es in der ausdifferenzierten Marktvergemeinschaftung der Fall ist. Ein »wertrationales Handeln ist ein Handeln nach ›Geboten‹ oder gemäß ›Forderungen‹, die der Handelnde an sich gestellt glaubt«, und es geschieht – seinem Idealtypus nach – aus reiner Orientierung an dem »Eigenwert« dieser Handlung, »ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen« (Weber 2010: 18). Dieses Kriterium einer an sich selbst empfundenen Wertforderung sieht Schwinn für das ökonomische Gewinnmotiv erfüllt: Gewinn zu machen, so Schwinn, sei »nicht durch den Markt erzwungen, sondern ein wertgesättigtes Motiv, das ich in den Markt hineintrage. Dort muß ich mich anpassen, wenn ich Erfolg haben will, aber ich setze mich gerade den Zwangsbedingungen des Marktes aus, weil das Gewinnmotiv mich antreibt.« (Schwinn 2001: 193; Hervorhebung im Original). Wer im öffentli-

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Die Marktvergemeinschaftung bringt nach Weber dagegen eine andere materiale Form der Ethik hervor: Die »formale Unverbrüchlichkeit des einmal Versprochenen«, welche »vom Tauschpartner erwartet wird«, bildet »den Inhalt der Marktethik […], welche in dieser Hinsicht ungemein strenge Auffassungen anerzieht: in den Annalen der Börse ist es fast unerhört, daß die unkontrollierteste und unerweislichste, durch Zeichen geschlossene Vereinbarung gebrochen wird.« (Weber 2010: 490) Die Einhaltung von Aufrichtig- und Ehrlichkeit band Weber an den Wunsch beider Tauschpartner, auch in Zukunft Geschäfte machen zu können. Ein durch Ehrlichkeit erarbeiteter guter Ruf – oder zumindest kein schlechter – ist eine Voraussetzung dafür (vgl. ebd.: 490-91).

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chen Dienst oder als Lohnempfänger innerhalb eines am Markt partizipierenden Unternehmens statt als Selbständiger arbeitet, ist zumindest nicht selbst auf das Gewinnmotiv verwiesen. Andererseits stellt sich die Frage, wie hoch veranschlagt das Gewinnmotiv für die Selbständigkeit ist. Unabhängigkeit kann ein weiteres Motiv sein. Ich werde diese Diskussion hier aber nicht länger verfolgen und gehe stattdessen vom Wertsphärencharakter der Ökonomie aus. Eine Wertsphäre der Politik findet sich nicht (oder nur angedeutet) bei Simmel, dafür aber bei Weber (vgl. Kapitel 8.5.3.2 in diesem Buch).10 Der soziale Verband und der ihn beschützende Gott, so Weber, haben ursprünglich eine Einheit gebildet. Hier spricht Weber vom »Lokal-, Stammes- und Reichsgott« (Weber 1988a: 546). Wenn sich Stammesgemeinschaften einander bekämpfen, kämpfen auch ihre jeweiligen Götter gegeneinander. Die universalistische Brüderlichkeitsethik sprengt die Einheit zwischen Gott und Stamm, es entsteht der alle Sozialverbände übergreifende »Welt-Gott« (Weber 1988a: 546). Auf Seiten der Wertsphäre Politik sieht die rationale staatliche Bürokratie von der individuellen Person ab (vgl. ebd.: 546). Die staatliche Ordnung beruht auf der Durchsetzung des Gewaltmonopols nach innen wie nach außen (vgl. ebd.: 547). »Die Staatsräson« bewegt sich nach Weber in ihren »Eigengesetzlichkeiten«, der Erfolg politischen Handelns hängt »letztlich von Machtverhältnissen« ab, nicht von einer Brüderlichkeitsethik (ebd.: 547). Sachlichkeit und Gewalt stellen die Politik in Gegensatz zur Religion der Bruderliebe. Politik kann aber auch in ein psychologisches Konkurrenzverhältnis zur Religion treten: Ein Krieg schafft Pathos und Gemeinschaftsgefühl, er verleiht dem Opfertod für die politische Gemeinschaft einen fast religiös geweihten Sinn (vgl. ebd.: 548-49). Aus Sicht der universalen Brüderlichkeitsethik dagegen erscheint das politische Kriegspathos als eine »Verklärung des Brudermordes.« (Ebd.: 549) Der Mystiker pflegt einen weltflüchtigen und deshalb »radikalen Antipolitismus«, er halte dem Feind auch die andere Wange hin (ebd.: 549). Das puritanische Ethos löst die Spannung zur politischen Sphäre durch den Bruch mit der universalen Brüderlichkeitsethik: Gottes »Gebote« müssten der durch »Gewaltsamkeit und ethischen Barbarei unterworfenen Welt eben auch durch deren eigene Mittel: Gewalt aufgezwungen werden« (ebd.: 549). Ferner besaß der Puritaner einen – anders als Luther – gegen die Obrigkeitshörigkeit gerichteten »antiautoritären asketischen Zug« (ebd.: 183; Hervorhebung im Original). In ihrem religiös gerechtfertigten Anspruch, sich keinem Menschen, sondern allein Gott zu unterwerfen hätten die Puritaner, so Tyrell, einen bedeutsamen Beitrag zur Durchsetzung der Menschenrechte geleistet (vgl. Tyrell 1993a: 338-39). Die ästhetische und die erotische Sphäre stehen mit der Religion nach Weber in »intimster Beziehung« (Weber 1988a: 554). Dies hat nicht allein was damit zu tun, dass sie, ähnlich wie Politik und Ökonomie, eine ursprüngliche Einheit mit der Religion bilden, sondern vor allem damit, dass ästhetisches Erleben und Sexualität in eine Erlösungskonkurrenz mit der Religion treten können. Dies wiederum ist dadurch bedingt, dass Kunst und Liebe anders als Ökonomie und Politik »arationalen oder anti-rationalen Charakters« sind (ebd.: 554). Politik und Ökonomie pflegen zwar ihrerseits eine spezifische Wertrationalität, die aus Sicht der Religion (oder anderer Sphä-

10 Es sei zumindest die Spekulation erlaubt, dass dies bei Simmel mit seiner im Unterschied zu Weber gänzlich fehlenden Politisierung zusammenhängen könnte.

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ren) als irrational erscheint. Die, je nachdem, Irrationalität des Zweckes bzw. Wertes gegeben, bilden Ökonomie und Politik immer noch ein an der Zweck-MittelRationalität orientiertes Sich-Verhalten aus (vgl. ebd.: 552-53). Weber unterscheidet dafür zwischen einer Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Letztere bemisst das Handeln an den Folgen, erstere wertet das Handeln für sich (vgl. ebd.: 552-53). Die religiöse Brüderlichkeitsethik ist – in seiner rational-konsequenten Form – Gesinnungsethik und deshalb »zur Irrationalität der Wirkung [gegenüber] verurteilt.« (Ebd.: 553) Damit zurück zu den Sphären der Erotik und Ästhetik. Tanz, Musik und Rhythmus dienen ursprünglich »als Mittel der Ekstase« (ebd.: 554). In der Form ihrer Eigengesetzlichkeit tritt Kunst jedoch in eine innerweltliche Erlösungskonkurrenz zur Religion. Ästhetischer Genuss ist dann »Erlösung […] vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.« (Ebd.: 555; Hervorhebung im Original) Aus Sicht der religiösen Brüderlichkeitsethik bildet der ästhetische Genuss »ein Reich des […] verantwortungslosen Genießens und: geheimer Lieblosigkeit.« (Ebd.: 555) Die Mystik steht der Kunst feindlich gegenüber, sie lehnt das formgebende Prinzip der Kunst aus sich heraus ab. Die Mystik ist aus ihrem Prinzip her »formfeindlich« eingestellt, weil sie »gerade im Gefühl der Sprengung aller Formen das Eingehen in das jenseits jeder Art von Bedingtheit und Formung liegende All-Eine erhoffen zu können glaubt.« (Ebd.: 556) Nicht ausnahmslos, aber in weiten Teilen lag auch der Puritaner in Spannung zur Kunst, wenn es beispielsweise um eine den Menschen in den Mittelpunkt rückende »Sinnenkunst« ging (ebd.: 185), wie beispielsweise erotische oder den nackten Menschenkörper darstellende Kunst (vgl. Weber 1988a: 187). Weber deutet weiterhin aber auch »positive, die Kunst befruchtende Wirkungen« durch das puritanische Ethos der Lebensführung an (ebd.: 186, Fn. 3). Kirchenbauten hätten »von jeher die Religion zu einer unerschöpflichen Quelle künstlerischer Entfaltungsmöglichkeiten« gemacht (ebd.: 554). Gleich dualistisch ist übrigens auch das Verhältnis von der Religion zur Kunst bei Simmel strukturiert. Kunst und Religion besitzen nach Simmel »tiefste Formgleichheit« zueinander (CK: 265), obgleich für sich genommen »Religion und Kunst nichts miteinander zu tun [haben]«, »weil eine jede schon für sich, in ihrer besonderen Sprache, das ganze Sein ausdrückt.« (Ebd.: 275) Das Christentum habe die Leistungen der Kunst mal »als überflüssig« und einen unzulässigen »Wettbewerb« mit sich empfunden und deshalb »unmittelbar abgelehnt« (ebd.: 266). Das Christentum habe aber auch eine Traditionslinie entwickelt, deren Motive sich besonders gut eignen als materielle Ressource. Das ansonsten negativ konnotierte und für die Kunst wenig geeignete Motiv des Leidens hätten die »Passion Christi« und die »Qualen der Märtyrer« erst zu einem »ästhetischen Wert« gemacht, denn Tod und Leiden bilden die Opfer zum Gewinn des Heils, damit werden sie »integrierender Bestandteil des religiösen Lebens« (ebd.: 74).11 Wieder zurück zu Weber. Schließlich befanden sich auch Sexualität und Religion in einem ursprünglichen Mit- und Ineinander, gleich wie die ästhetische Komponente innerhalb des magischen Ritus. »Der Geschlechtsverkehr war sehr oft Bestandteil der

11 Zu dem Aspekt der Wechselwirkung zwischen Religion und Kunst bei Simmel vgl. auch Krech 1998a: 149-51.

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magischen Orgiastik, die heilige Prostitution […] meist ein Rest dieses Zustandes, in dem jede Ekstase als ›heilig‹ galt.« (Ebd.: 557; vgl. auch ebd.: 562). Einerseits gab es auf die Sexualität spezialisierte »Geister und Götter«, andererseits ist sie wohl entwicklungsgeschichtlich recht früh »als spezifisch dämonisch beherrscht« beobachtet worden, deren Ausdruck die Priesterkeuschheit war (ebd.: 557). Die Ausdifferenzierung eines Spannungsverhältnisses zwischen den Sphären von Religion und Sexualität führt wie in der Kunst zu einer aufgrund psychologischer Formähnlichkeiten bedingten Erlösungskonkurrenz. Zunächst einmal hebt sich die ausdifferenzierende Sphäre der Sexualität als einer »bewußt gepflegten und dabei außeralltäglichen Sphäre« der Erotik ab von der Rationalisierung der anderen Sphären von Ökonomie, Politik und Wissenschaft (ebd.: 557; Hervorhebung im Original). Inwiefern eine logische oder zeitliche Komplementarität dieser Entwicklungen vorliegt, ist nicht ganz klar. Von Interesse ist aber eine andere Sache, und zwar die Begründung dafür, warum die Brüderlichkeitsethik – und nicht nur sie, sondern auch alle anderen Formen religiöser Weltablehnung, wie beispielsweise die dann aber doch diesseitig zur aktiven Askese aufrufende calvinistische Prädestinationslehre – die Erotik aus ihrem Prinzip heraus ablehnen muss. Die vom überweltlichen Welt-Gott ausgehenden Formen der Religion sind Religionen der Weltablehnung. Für diese Weltablehnung steht »der Triumph des Geistes über den Körper« (ebd.: 560). Gerade die gepflegte Sphäre der Erotik aber, so Weber, wird mit der Herausdifferenzierung einer immer mehr am jenseitigen Heilsgut orientierten Erlösungsreligion als deren genaues Gegenteil bemerkbar. Das »Geschlechtsleben« erscheint »als das einzige Band […], welches den nunmehr völlig aus dem Kreislauf des alten einfachen organischen Bauerndaseins herausgetretenen Menschen noch mit der Naturquelle alles Lebens verband.« (Ebd.: 560) Weber spricht auch von der bei aller Rationalisierung und Intellektualisierung der Kultur« noch vorhandenen, »unausrottbaren Verbindung mit dem Animalischen« (ebd.: 560). Andererseits hebt sich eine bewusst gepflegte Erotik von dem ab, was Weber als den »unbefangenen Naturalismus des Geschlechtlichen« bezeichnet, welchen er dem Bauernstand zuschreibt (ebd.: 558). Webers Rede von einer naturalistischen oder auch »organischen Basis der Geschlechtlichkeit« (ebd.: 558) im Unterschied zur gepflegten Erotik lässt sich in simmelsche Termini übersetzen als ein Unterschied zwischen Natur und Kultur oder, noch präziser und am Konzept der »Wendung zur Idee« orientiert, als die Differenz zwischen dem In-Eins von Leben und Form einerseits, dem Zustand, in welchem die Form bloße Lebensartikulation ist – wie das Erkennen nach Simmel ein Leben ist –; und andererseits dem Zustand, in welchem das individuelle Leben sich nach den selbstgeschaffenen, nun eigenlogischen Formen der Kultur richtet, um sich an ihnen zu kultivieren. Tatsächlich spricht auch Weber von einem »Heraustreten der Gesamtdaseinsinhalte des Menschen aus dem organischen Kreislauf des bäuerlichen Daseins«, und dieser Distanzierung zur natürlichen Ursprünglichkeit entspreche »die zunehmende Anreicherung des Lebens mit, sei es intellektuellen, sei es sonstigen als überindividuell gewerteten Kulturinhalten« (ebd.: 558; Hervorhebung PB). Erst gegen die Ausdifferenzierung der Kulturwelt bildet sich die Außeralltäglichkeit gepflegter Erotik. Während die universale Brüderlichkeitsethik in der Sexualität nur »vorgetäuschte Hingabe« an den anderen sehe, unter deren Vorwand sich eine »Vergewaltigung der Seele des [jeweils] minder brutalen Teiles« verberge, zwecks »Genuß seiner selbst im anderen« (ebd.: 562), besteht der Fall der Erlösungskonkurrenz zwischen Mystik und Sexualität gerade in ei-

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ner psychologischen Nähe des Erlebens. Das In-Eins-Werden im Geschlechtsverkehr komme dem In-Eins-Werden mit Gott im kontemplativen Akt nahe: »Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der [sexuellen] Beziehung selbst aber liegt […] in der Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des ›Du‹ gefühlt wird und so überwältigend ist, daß sie ›symbolisch‹ – sakramental – gedeutet wird.« (Ebd.: 560; Hervorhebung im Original) Aus Sicht des Puritaners darf Sexualität nicht des selbstzweckhaften Vergnügens wegen gesucht werden (vgl. ebd.: 184, 563). Allein als Fortpflanzung und nur in der Ehe ist Sex »das von Gott gewollte Mittel zur Mehrung des Ruhmes« (ebd.: 170; vgl. auch ebd.: 563). Sexualität ist und darf nur sein ein Mittel zum Zweck. Eine »Raffinierung« der Sexualität »zu einer Erotik« müsse das puritanische Ethos »als Kreaturvergötterung schlimmster Art ablehnen.« (Ebd.: 563) Zu guter Letzt widmet sich Weber dem Spannungsverhältnis von Wissenschaft und Religion. China habe noch eine »ungebrochene Einheit« zwischen Magie und intellektueller Leistung gekannt (ebd.: 564). Auch sei es ganz allgemein so, dass, je mehr eine Religion eine explizite Dogmatik entwickelt, auf eine irgendwie geartete Rechtfertigung dieser angewiesen ist: »Je weniger sie Magie oder bloße kontemplative Mystik und je mehr sie ›Lehre‹ ist, desto mehr besteht für sie das Bedürfnis nach rationaler Apologetik.« (Ebd.: 564) Dazu postuliert Weber ein durch intellektuelle Ergründung zu tragendes, ethisches Bedürfnis, »daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei« (ebd.: 564; Hervorhebung im Original). Verschriftlichung und eine über Erziehungseinrichtungen tradierte Lehre bergen aber die Gefahr in sich, zum Gegenstand des rationalen Widerspruchs zu werden (vgl. ebd.: 565). Die fortwährende intellektuelle Abarbeitung an der Theodizee gehört zum Schrittmacher der religiösen Entwicklung, die intellektuelle Arbeit stellt bestimmte religiöse Weltbilder in der Folge aber auch immer wieder in Frage. Die Puritaner schätzten die Wissenschaft, nicht dagegen die Philosophie (vgl. ebd.: 184-85). Auf der anderen Seite steht die rationale, zu ihrer selbstzweckhaften Konsequenz geführte Wissenschaft. Wissenschaft ist dann Wissenschaft, wenn Erkenntnis um ihrer selbst willen erstrebt wird, aus dem »Glaube[n] an den Wert wissenschaftlicher Wahrheit« (Weber 1922: 213; vgl. dazu ferner Schwinn 2001: 168). Diese kenne aus ihrem Prinzip heraus keinen Welt-Sinn. Die Erkenntnis formt einen nach Gesetzen verlaufenden »kausalen Mechanismus« (Weber 1988a: 564). Empirisch, so sagt Weber, verlange eine religiöse Lebensführung an einem bestimmten Punkt deshalb »das Opfer des Intellekts« (ebd.: 566). Zwar sei es so, so Weber, dass die Erlösungsreligionen ein vom wissenschaftlichen Erkennen vollständig differentes Prinzip der geistigen Zugriffsweise auf die Welt behaupten. Sie sei allein »eine letzte Stellungnahme zur Welt kraft unmittelbaren Erfassens ihres ›Sinnes‹« (ebd.: 566). Dies funktioniere aber, wie Weber am Beispiel der »Inkommunikabilität des mystischen Erlebnisses« zu erweisen versucht, nur dann, wenn auf intellektuelle Rechtfertigung oder Begründung verzichtet wird (ebd.: 566). Das zeitgenössische Schicksal der Verschiebung der Religion in die – aus Sicht der diesseitigen Welt – Irrationalität ist nach Weber zu großen Teilen auf die innerreligiöse Entwicklung selbst zurückzuführen. Die Entwicklung einer empirischen, experimentell verfahrenden Wissenschaft ist einerseits zwar ebenso schicksalsträchtig für das, was Weber – und an ihn anschließend die Sekundärliteratur (vgl. Schluchter

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2009) – auch »Entzauberung« der Welt genannt hat, d. h. die Entleerung der Welt von einem irgendwie a priori göttlich gegebenen, nicht vom Individuum erst selbst zu gebenden Sinn.12 Andererseits trägt die Religion eine kausalgenetische Trägerschaft an der Rationalisierung einer Wertsphäre Wissenschaft. Sie leistet den ihrigen Beitrag zur Entzauberung der Welt. Eine Referenz für diese die »Entzauberung« tragenden zwei Säulen ist eine erst 1919 oder 1920 hinzugefügte Textpassage innerhalb der »Protestantischen Ethik«: Ausgangspunkt Webers ist seine Ausführung zur calvinistischen Prädestinationslehre, die ihm zufolge keine Mittel mehr zur Erreichung des eigenen Seelenheils kennt. In der irdischen Beeinflussbarkeit des eigenen Heilsschicksals durch Gebete, Buße oder gute Taten lag noch eine Form des magischen Glaubens an die Beeinflussbarkeit des eigenen Jenseitsschicksals, weshalb Weber den Priester auch noch als Magier bezeichnet hat (siehe oben). Die Prädestinationslehre ist von dieser Vorstellung jenseitiger Beeinflussbarkeit befreit: »Dies: der absolute […] Fortfall kirchlich-sakramentalen Heils, war gegenüber dem Katholizismus das absolut Entscheidende. Jener große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier seinen Abschluß.« (Weber 1988a: 94-95; Hervorhebung im Original)

Verzauberung bedeutet Magisierung, wonach eine jenseitige Welt der Geister und Götter durch diesseitige Handlungen beeinflusst werden zwecks Erreichung sowohl dies- wie jenseitiger Ziele. Es existiert eine – teilweise durch Schamanen oder Zauberer monopolisierte und vermittelte – Interaktion zwischen jenseitiger und diesseitiger Welt (vgl. Schluchter 2009: 3-6). Entzauberung bedeutet Entmagisierung, und Entmagisierung ist Rationalisierung der Religion (vgl. ebd.: 7-9). Religionsgeschichtlich sind mehr oder minder weitgehende Schritte dieses Rationalisierungsprozesses in den »asiatischen wie okzidentalen Erlösungsreligionen« vollzogen worden, zu denen »Judentum, Christentum und Islam«, als auch der »Buddhismus« gehören (ebd.: 6). Auf Seiten der religiösen Laien gibt es eine bis in die Gegenwart reichende Persistenz des Magischen, wie beispielsweise die Anbetung von Heiligenbilder (vgl. Weber 2010: 318, 333). Die Persistenz des Magischen geht auf aus dem Alltag herkommende praktische Bedürfnisse nach Beeinflussbarkeit des eigenen Lebensschicksals zurück (Tyrell 1993a: 304-05). Auch hierbei handelt es sich um eine faktische Rückwirkung des Alltags auf von Intellektuellen geschaffene religiöse Ideen. Die durch den Calvinismus vollendete Rationalisierung bricht mit dem noch im christlichen Mittelalter vorherrschenden Wunderglauben. Im Wunder interveniert Gott in einen ansonsten ohne ihn sich erhaltenden Weltverlauf. Gott hält sich nicht an die Naturgesetze (vgl. ebd.: 324-25). Die calvinistische Rationalisierung von Religion bedeutet nicht Entzauberung als Entsakralisierung der Welt, sondern im Gegenteil

12 Wolfgang Schluchter spekuliert, die Verwendung des »Entzauberungs«-Begriffs könnte auf den Richard-Wagner-Biographen Emil Cohn zurückgehen (vgl. Schluchter 2009: 1-2). Er macht es an der erstmaligen Verwendung des Begriffs seitens Webers im Jahr 1913 fest. In demselben Jahr erschien die Wagner-Biographie von Emil Cohn. »Vergöttlichung und Entzauberung«, so Schluchter, seien dort »die Schlüsselbegriffe.« (Ebd.: 1)

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ist der gesamte Weltverlauf determiniert durch Gott. Der Weltverlauf ist heilig, eine irgendwie – zeitlich, räumlich – ausdifferenzierte oder isolierte Sphäre des Profanen gibt es nicht (vgl. ebd.: 323). Die Entdeckung der göttlichen Offenbarung war denn auch eine religiöse Motivation in der Erforschung der Naturmechanik, an der zunächst allerdings vorrangig Katholiken beteiligt waren (vgl. ebd.: 327-30). Die rationale Wissenschaft besitzt nach Weber ihre Wurzeln – wie das oben genannte WeberZitat belegt – im Denken der griechischen Antike, das sie ebenfalls konstituierende Experiment entstammt der Renaissance (vgl. ebd.: 326).13 Wie Tyrell anmerkt, unterliegt der Geschichte intellektueller Rationalisierung nach Weber eine für diese ganz wesentliche, sie vorantreibende Triebkraft des religiös-metaphysischen Bedürfnisses nach Sinnhaftigkeit des Kosmos: »Für die Vorgeschichte der modernen Wissenschaft […] gilt, daß von der Antike bis in die frühe Neuzeit alle wesentlichen, die ›Wahrheitssuche‹ auf den Rationalisierungskurs bringenden Anstöße und Innovationen von starken religiös-metaphysischen ›Sinn‹-Erwartungen getragen waren. Und Webers These ist: ohne diese Erwartungsgrundlagen hätten sie aller Motiv- und Durchschlagskraft entbehrt; von dort her erst gewann die Wahrheitssuche Handlungssinn und Richtung.« (Ebd.: 327)

Das religiöse Sinnmotiv vermag Energien für die Wahrheitssuche zu mobilisieren. Und Tyrell fügt hinzu: »Das Leitmotiv aber ist metaphysischer Bedarf.« (Ebd.: 328) Indem die rationalisierte Wissenschaft den religiösen Glauben ins Irrationale verschiebt, hat die Religion letzten Endes an ihrer eigenen Selbstaufhebung mitgewirkt, weshalb Tyrell von einer an die kulturphilosophische Semantik Simmels erinnernde »Tragödie der Religion« spricht (Tyrell 2014: 180; Hervorhebung im Original). Wobei Tyrell die Begriffsverwendung der »Tragödie« auf Nietzsche, nicht auf Simmel zurückführt (vgl. ebd.: 180). Andererseits bildete sich auch Simmels Denken unter Nietzsche. Inwiefern dieser ein gemeinsamer intellektueller Vorfahre sowohl von Weber wie auch Simmel gewesen ist, dieser Frage gehe ich hier nicht weiter nach.14 Beide, Weber und Simmel, sprechen von Eigengesetzlichkeiten der Sphären oder Kulturwelten, und sie kommen mal mehr, mal minder zusammen was die inhaltliche Ausstaffierung des Kulturreiches anbelangt. Diese Oberflächensymptomatik ist nun nicht das eigentlich mich Interessierende an einem Vergleich beider Denker. So war

13 Notiz am Rande: Johannes Berger widerspricht Max Webers These einer genealogischen Kontinuität der okzidentalen Wissenschaft seit der griechischen Antike (vgl. Berger 2006: 221). Berger meint, die wissenschaftliche Revolution habe mit einer antiken wie mittelalterlichen Denktradition gebrochen, und zwar der Annahme, dass sich das Denken nach der Wahrnehmung der Gegenstände richte. Die wissenschaftliche Revolution habe die (naive) Wahrnehmung der Dinge dagegen in den Dienst der Methode gestellt. Berger beruft sich auf Kant. Leider fehlt es mir in dieser Sache an der für ein Urteil nötigen Fachkompetenz. Schließlich liegt dem Vorrang der Methode vor der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung die transzendentalphilosophische Annahme Kants zugrunde, dass der Verstand den Dingen seine Gesetze vorschreibt. An diese Philosophie schließt auch Simmel an. 14 Für das Verhältnis nicht nur von Simmel und Weber, sondern allgemein der Soziologie zu Nietzsche vgl. Häußling 2000.

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es auch bereits im Vergleich Durkheim – Simmel. Weiterhin: Ob und inwiefern Weber in der Auswahl von Wertsphären und deren Charakterisierung als eigengesetzlicher Sphären von Simmel beeinflusst war, dem kann ich hier nicht nachkommen. Die Idee und Diskussion der Eigenweltlichkeit von Sphären, Welten oder Kulturformen war ja nichts Simmel eigenes oder, sofern ich das sehen kann, originäres. Dafür sei nur auf Durkheim verwiesen (vgl. Durkheim 1988: 224). Und bereits der Theologe Ernst Troeltsch, ein Freund Max Webers, sprach 1895 von der »Selbständigkeit der Religion« (vgl. Troeltsch 1895). Elisabeth Flitner vertritt die Vermutung, dass die »Zwischenbetrachtung« Spuren der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Eduard Spranger trägt (vgl. Flitner 1998). Dazu gehöre beispielsweise die Hinzunahme der Wertsphäre Wissenschaft in die Analyse (vgl. ebd.: 900). Die Wissenschaft war bei Simmel eine der am ausführlichsten behandelten Bereiche mit einem werkgeschichtlich sehr hohen Maße an theoretischer Konsistenz, beginnend mit dem 1895 publizierten Aufsatz »Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie«, über die ausführlichen Passagen in der »Philosophie des Geldes« – vor allem im dritten Unterkapitel von »Wert und Geld« sowie im zweiten Unterkapitel von »Der Stil des Lebens« – bis hin zur »Lebensanschauung«. Deshalb kann meines Erachtens auf dem Gebiet der Wissenschaft wie ansonsten nur auf dem Gebiet der Ökonomie der kontrastreichste, deshalb auch: ergiebigste Vergleich zwischen Simmel und Weber geführt werden. Wo bei Weber und Simmel auf beiden Seiten die Eigengesetzlichkeit steht, ist es für Weber die Wertrationalität des subjektiven Glaubens an den Wert von Erkenntnis, für Simmel besteht Eigengesetzlichkeit in der relationalen Selbstbezüglichkeit von Erkenntnis. Wahrheit ist Wahrheit in Bezug auf andere Wahrheiten, erhoben und validiert durch selbstgeschaffene Methoden. Diese durch Relationalität sich konstituierende Geschlossenheit als Eigengesetzlichkeit scheint bei Weber keine Rolle gespielt zu haben.15 Die Welt der Wissenschaft wird selbst schöpferisch, sie strebt zur Produktion von Erkenntnissen. Das Individuum – wenn es an Wissenschaft teilnimmt – ist das psychologische Vehikel der FormReproduktion. Ursprünglich dagegen ist Erkennen Leben, indem die bewusstseinsförmige Bearbeitung der Welt – Kausalität, Mustererkennung, Lernen – unmittelbar dem Überleben dient, jene Erkenntnisformen selbst das Resultat eines evolutionären Ausleseprozesses sind. Und was die Beziehung zur Psychologie anbelangt, so sagt Simmel: »In psychologischer Realisierung ausgedrückt: zuerst erkennen die Menschen um zu leben, dann aber gibt es Menschen, die leben um zu erkennen.« (LA: 261) Erkenntnis mag ein psychologisches Ziel sein, die Form selbst ist aber nicht psychologisch und besitzt als Form auch keinen Zweck. Simmel betont geradezu, dass die Verselbständigung der Form aus dem Leben auch einer Entkoppelung der Form aus der Sphäre der Teleologie gleichkommt, obgleich das Individuum in der Form des Zweckhandelns lebt. Die Geldökonomie war das theoretische wie kultur-

15 Thomas Schwinn beispielsweise schreibt zur Wertsphäre Wissenschaft, das erkennende Subjekt »orientiert sich dabei nicht am Handeln, sondern an den ideellen Produkten der anderen.« (Schwinn 2001: 171) Mehr lässt sich zur relationalen Konstitution von Wahrheit bei Schwinn zu Weber nicht finden. Wenn ich nicht ganz falsch liege, hat Weber auch in seinem Aufsatz zur »Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis« nichts zur relationalen Geschlossenheit von Wahrheit geschrieben.

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philosophische Paradigma des Leben-Form-Dualismus, und intellektueller Ausgangspunkt war die Überwindung der Unterscheidung nach subjektiver und objektiver Werttheorie. Die Lösung war ein Drittes: Der Tausch, in welchem die Werte der Waren durch ihre im Tauschakt tatsächlich stattfindende Relationierung geschaffen werden, Subjekte und deren Begehren sowie zu begehrende wie zu erwerbende Objekte zwar nötig sind, ohne dass die Wertform selbst etwas an den Dingen oder am Subjekt selbst ist. Die Wertform verselbständigt sich aus den Subjekten des Tausches, aus deren Werturteil die objektivierte Wertform überhaupt stammt. Und gerade auch für die Geldökonomie galt nach Simmel: Einen Formzweck gibt es nicht, höchstens einen Formzweck des Lebens selbst: Der Zweck ist eine apriorische Kategorie des Lebens, und auch die Form individualgesetzlichen Handelns nimmt Zweckrorm an. Simmels geradezu dezidierte Überwindung des Psychologismus durch den Leben-Form-Dualismus gewinnt eine interessante Note eingedenk des Umstandes, dass gerade Weber Simmel einst das Etikett des »Psychologismus« anheftete (vgl. Scaff 1987; Nedelmann 1988). Radikaler – im wahrsten Sinne der lateinischen Wortherkunft nach – als Simmel kann man die Psychologie ja in der Tat kaum überwinden: Die individuelle Psyche ist und bleibt die Quelle der Werte, zugleich aber wohnt diesem Leben eine Triebkraft zur Vergegenständlichung der ihm innewohnenden Prinzipien inne, die dann – noch immer aus dem Leben kommend – dieses Leben seiner Form gemäß bestimmen. Freilich argumentiere ich nicht dafür, dass Weber selbst wiederum eine psychologisierende Reduktion betrieben hat, wenn es heißt: »Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹« (Weber 1922: 149). Wofür ich aber argumentieren möchte ist, dass Weber anders als Simmel keine transzendentalphilosophische Grundierung der Verselbständigung von Wertsphären betrieb. Andererseits aber gilt für Simmel, dass er für seine schwerpunktmäßige Verlagerung auf eine transzendentalphilosophische Begründung von Eigengesetzlichkeit den Preis inhaltlicher Differenzierung zu entrichten hat. Ich vertiefe diesen Punkt in den kommenden Abschnitten Schritt für Schritt. 9.2.2 Individualität, Kultur und der »Kampf der Götter« Auf den letzten Seiten der »Zwischenbetrachtung« resümiert Weber die vorangehend geschilderten Spannungsverhältnisse zwischen der jenseitig ausgerichteten Wertsphäre Religion und den diesseitig orientierten Sphären. Unter dem Gesichtspunkt der religiösen Brüderlichkeitsethik stehen »gerade die üblicherweise höchstgestellten ›Kulturgüter‹ unter Anklage« (Weber 1988a: 568). Die nationalstaatliche Ordnung wird mit Gewalt aufrechterhalten, die kapitalistische Wirtschaft sei versachlicht und dadurch »von der Wurzel« her unbrüderlich, ebenso begleite »Brutalität« und »illusionistische Verschiebung des gerechten Augenmaßes […] unvermeidlich die Geschlechtsliebe«, die zur Konsequenz getriebene Wissenschaft forme aus der Welt einen sinnlosen, weil allein nach Naturgesetzen verlaufenden »Kosmos« (ebd.: 56869). »Alle Arten des Handelns in der geformten Welt« – Politik, Wirtschaft, Liebe, Ästhetik und Wissenschaft – »schienen in die gleiche Schuld verstrickt.« (Ebd.: 569) »Wie alle Kulturwerte«, so Weber weiter, »schuf […] auch der Intellekt eine von allen persönlichen ethischen Qualitäten der Menschen unabhängige, also unbrüderliche Aristokratie des rationalen Kulturbesitzes.« (Ebd.: 569) Strebt das religiös-metaphy-

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sische Bedürfnis ursprünglich zu einer Rationalisierung der Welt, um ihr angesichts ungeklärter Widersprüche oder Ungerechtigkeiten dennoch einen umfassenden Sinn zu geben, führt diese Unternehmung im wissenschaftlichen Erkennen nach Weber zur Entwertung und Sinnlosigkeit der gesamten diesseitigen Welt (vgl. ebd.: 569). Daraus folgt das, was Weber religiöse Weltablehnung nennt. Die daraufhin folgenden, inhaltlich komprimierten Darstellungen Webers weisen Ähnlichkeiten zur Kulturphilosophie Georg Simmels auf. Die Ähnlichkeit beginnt dann, wenn Weber unter der Kultur die innerweltliche »Selbstvervollkommnung zum Kulturmenschen« versteht (ebd.: 569; Hervorhebung PB). Die Ähnlichkeit zeigt sich weiter, wenn Weber eine wachsende Sinnlosigkeit des Lebens mit dem Wachstum der das individuelle Menschenleben überschreitenden Kulturprodukte in Zusammenhang bringt. »Der Bauer«, so setzt Weber an, »konnte lebenssatt sterben«, ähnlich wie der »feudale Grundherr und [der] Kriegsheld auch. Denn beide erfüllten einen Kreislauf ihres Seins, über den sie nicht hinausgriffen. Sie konnten so in ihrer Art zu einer innerirdischen Vollendung gelangen, wie sie aus der naiven Eindeutigkeit ihrer Lebensinhalte folgte.« (Ebd.: 569-70) Das Bild vom an die Natürlichkeit gebundenen Leben des Bauern erwähnte Weber bereits im Kontext der erotischen Sphäre. Weiter scheint Weber damit aber auch die Vorstellung zu verknüpfen, die Individuen verharrten in traditionalen Gesellschaften in ihren qua Herkunft zugewiesenen Positionen. Sie erfüllten ihre an diese soziale Position geknüpfte Berufung – Beruf im nach Weber noch konservativ-lutherischen, nicht im puritanischen Sinne (vgl. ebd.: 69, 74-78). Inhaltlich erinnert zumindest die Figur des Bauern an Simmels Annahme, zu feudalherrschaftlichen Zeiten sei der an die Scholle gebundene Bauer zwar unfrei gewesen, habe aber genau deshalb am Grund und Boden eine feste, seinem Leben Gestalt und Form – Grenzen – gebende Substanz gehabt. Anders gestalte sich die Situation für den »nach Selbstvervollkommnung im Sinne der Aneignung oder Schaffung von ›Kulturinhalten‹ strebende[n] ›gebildete[n]‹ Mensch« (ebd.: 570). Dieser könne »›lebensmüde‹, aber nicht […] ›lebenssatt‹ werden.« (Ebd.: 570) Weber unterscheidet wie Simmel nach einer – so scheint es – beruflichen Produktion und der – wie auch immer gearteten – Konsumtion der Inhalte der Wertsphären. Weber fährt fort, indem er nun beschreibt, dass sich einerseits die Menge der Kulturinhalte erhöht, andererseits – so scheint es – die Kultur- oder Wertsphären selbst auseinander differenziert haben in eine Vielfalt von Wertsphären, die jeweils für sich die Geltung eines kulturellen Eigenwertes beanspruchen: »Und je mehr sich die Kulturgüter und Selbstvervollkommnungsziele differenzierten und vervielfältigten, desto geringfügiger wurde der Bruchteil, den der einzelne, passiv als Aufnehmender, aktiv als Mitschöpfer, im Laufe eines endlichen Lebens umspannen konnte.« (Ebd.: 570) Mit Simmel gesprochen: Die Kulturwelt verselbständigt sich aus dem Leben, welches sie schuf. Die Vielzahl der Kulturgüter ist nicht nur rein quantitativ nicht mehr zu bewältigen. Die Kultur gibt kein Selektionskriterium ihrer Aneignung an die Hand, ferner – und komplementär dazu – scheint die Selektion nun dem Individuum überlassen. Die Teilnahme am »Kulturkosmos« konnte immer weniger »die Wahrscheinlichkeit bieten: daß ein einzelner die Gesamtkultur, oder daß er das in irgendeinem Sinne ›Wesentliche‹ an ihr, für welches es überdies keinen endgültigen Maßstab gab, in sich aufnehmen könne […]. Gewiß bestand ›Kultur‹ für den einzelnen nicht im Quantum des

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von ihm an ›Kulturgütern‹ Errafften, sondern in einer geformten Auslese daraus. Aber dafür, daß diese – für ihn – ein sinnvolles Ende gerade mit dem ›zufälligen‹ Zeitpunkt seines Todes erreicht habe, bestand keine Gewähr.« (Ebd.: 570; Hervorhebung im Original)

Bei dieser Auslese wird es sich um eine vom Individuum selbst vorgenommene Auslese aus den Kulturinhalten handeln. Denn, wie Weber zum Ende der »Zwischenbetrachtung« resümiert, hat die Rationalisierung der diesseitigen Wertsphären die praktische Durchsetzung des Anspruchs vonseiten der Religion auf die gesamte Lebensführung zurückgefahren; die vom Individuum wahrgenommenen, ihm nicht mehr abzunehmenden Spannungen sind deren Resultat: »Und inmitten einer rational zur Berufsarbeit organisierten Kultur blieb für die Pflege der akosmistischen Brüderlichkeit selbst – außerhalb der ökonomisch sorgenfreien Schichten – kaum noch Platz: das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu führen, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein äußerlich zum Mißerfolg verurteilt.« (Ebd.: 571)

An anderer Stelle konstatiert Weber das Schicksal des Menschen, »in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben« (Weber 1922: 552). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Weber eine durchaus mit Simmel verwandte – wenn wohl auch nicht näher explizierte – Konzeption von Individualität als ein Frei-Sein aus der Verwobenheit mit dem Naturgeschehen vertritt; dies – ähnlich wie Simmel und unter Berücksichtigung der Passagen in der »Zwischenbetrachtung« – wiederum als ein ontologisch vorhandenes Potenzial, welches im Laufe der Sozialevolution zu sich selbst findet: »Je ›freier‹, d. h. je mehr auf Grund ›eigener‹, durch ›äußeren‹ Zwang oder unwiderstehliche ›Affekte‹ nicht getrübter ›Erwägungen‹, der ›Entschluß‹ des Handelnden einsetzt, desto restloser ordnet sich die Motivation ceteris paribus den Kategorien ›Zweck‹ und ›Mittel‹ ein […]. Und nicht nur das. Sondern je ›freier‹ in dem hier in Rede stehenden Sinn das ›Handeln‹ ist, d. h. je weniger es den Charakter des naturhaften ›Geschehens‹ an sich trägt, desto mehr tritt damit endlich auch derjenige Begriff der ›Persönlichkeit‹ in Kraft, welcher ihr ›Wesen‹ in der Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ›Werten‹ und Lebens-›Bedeutungen‹ findet, […] desto mehr schwindet also jene romantisch-naturalistische Wendung des ›Persönlichkeits‹gedankens, die umgekehrt in dem dumpfen, ungeschiedenen vegetativen ›Untergrund‹ des persönlichen Lebens, […] welche[n] die ›Person‹ ja doch mit dem Tier durchaus teilt, das eigentliche Heiligtum des Persönlichen sucht.« (Ebd.: 132; Hervorhebung im Original)

Die von Weber genannten Letztwerte sind die Wertsphären, welche auf der Rationalisierung, d. h. dem Zur-Konsequenz-Führen und damit: der Herausdifferenzierung eines jeweiligen Eigenwertes beruhen. Einmal in Distanz zur Verflechtung mit den Zwängen äußerlicher Naturzusammenhänge getreten, desto mehr kann das Individuum es selbst sein; mit Simmel: ist es auf sich gestellt. Ebenso ähnlich wie bei Simmel ist das Auf-Sich-Gestellt-Sein des Individuums bei Weber ein offensichtliches Resultat der Freisetzung der eigengesetzlichen Wertsphären, welche nun um die Lebensführung des Individuums konkurrieren. Das Individuum wiederum hat – befreit von

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dem Zwang der Natur – nun selbst auf Schritt und Tritt Letztwert-Entscheidungen zu treffen. Das »Leben«, so Weber in »Wissenschaft als Beruf«, kenne, »solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander […] – unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.« (Ebd.: 550; Hervorhebung im Original)

Der von Weber in auffällig theologischer Semantik gehaltene »Kampf der Götter« ist zugleich der Ausdruck des Schicksals, welches der Religion in der Moderne nach Weber zuteilwird. Die Religion verschwindet aber nicht, sondern bildet nur mehr eine Wertsphäre neben den anderen. Der ethische Geltungsanspruch der Religion an die individuelle Lebensführung mag nach wie vor umfassend sein, allerdings verhält es sich genauso mit den anderen Sphären. Auch die Wirtschaft, auch die Politik, sie beanspruchen jeweils umfassende Geltung, die ihre Grenze nur an der jeweils anderen Wertsphäre findet (vgl. Schwinn 2014b: 147). Die Wertsphären treten in eine Konkurrenz um die individuelle Lebensführung: »Der ›Kampf der Götter‹ ist ein Kampf um das Individuum und im Individuum.« (Schwinn 2001: 446; Hervorhebung im Original) Nach Hartmann Tyrell bewahren »die christlichen Werte ihr negatorisches Mitspracherecht«, ihre ethische Forderung beharre auf der Universalisierung der Brüderlichkeitsliebe (Tyrell 1993b: 132). Die antike »Vielgötterei«, so Weber, sei zunächst durch den »Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung« abgelöst worden, welcher »aus jeder religiösen Prophetie quillt« (Weber 1922: 547). Der Monotheismus des Christentums sei dann aber zu »Kompromissen und Relativierungen« mit den »Realitäten des äußeren und inneren Lebens« gedrängt worden (ebd.: 547). Das ist der Duktus der »Zwischenbetrachtung«. Weber meint nun, dass der ehemals antike Polytheismus wieder auftauche als Kampf zwischen Letztwerten, zwischen denen der Mensch sich entscheiden müsse. »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.« (Ebd.: 547) Die Entscheidung für den einen Gott ist eine Entscheidung gegen die anderen Götter (vgl. ebd.: 550). Dass Weber von Göttern spricht, ist auf den Letztwert-Charakter der Wertsphären zurückzuführen. Ihre Rationalität ist ausdifferenzierte Wertrationalität. Wer also rein aus Absichten des Heils, oder des Profits oder der Erkenntnis handelt, ist aus einer die Folgen dieses Handelns, aber auch die Zwecke gegeneinander abwägenden Zweckrationalitätsperspektive »irrational« (Weber 2010: 18; Hervorhebung im Original). Sofern der Anspruch der Sphären auf das individuelle Handeln aus sich heraus unbegrenzt ist, ist er eben irrational – weil eben kein Mittel mehr zu einem davon zu unterscheidenden Zweck –, auch wenn sich das Individuum in einem wie auch immer gearteten Grade dann doch bewusst zwischen den »Göttern« entscheidet. Die rational-empirische Wissenschaft beispielsweise verschiebt den universalen Geltungsanspruch der religiösen Bruderliebe »zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale«, bis die Religion »die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin [ist].« (Weber 1988a: 564; Hervorhebung im Original; vgl. dazu auch Tyrell 1993a: 300-01) Weber betont denn erneut in theologischer Semantik die zeitgenössische Forderung, dass »jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines

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Lebens Fäden hält.« (Weber 1922: 555; Hervorhebung im Original) Der Mensch ist einem Kampf der Götter ausgeliefert, der ein Kampf zwischen Letztwerten ist, zwischen denen entschieden werden muss, aber diese Entscheidung wird dem Menschen nicht abgenommen. Noch mehr, das Leben ist nach Weber »eine Kette letzter Entscheidungen […], durch welche die Seele […] ihr eigenes Schicksal – den Sinn ihres Tuns und Seins heißt das – wählt.« (Ebd.: 470-71; Hervorhebung im Original) Wolfgang Schluchter – einer der wohl international besten Weber-Kenner – verglich die webersche Vorstellung von der selbstselektierten individuellen Persönlichkeit mit der metaethischen Theorie des simmelschen »individuellen Gesetzes« (vgl. Schluchter 1988: 82-83).16 Ebenso Hartmann Tyrell, der mit Bezug auf das webersche Persönlichkeitskonzept sogar – aber ohne den expliziten Rekurs auf Georg Simmel – von der »Person« spricht, welche sich »ihr eigenes Gesetz geben [soll]« (Tyrell 2014: 183). Persönlichkeit ist nach Weber kein Zweck, den man mit bestimmten Mitteln verfolgen kann, sondern ist selbst Tätigkeit, und zwar »Selbstbegrenzung« in der »rückhaltlose[n] Hingabe an die ›Sache‹, möge diese und die von ihr ausgehende ›Forderung des Tages‹ nun im Einzelfall aussehen wie sie wolle.« (Weber 1922: 456) Die simmelsche Selbstbegrenzung des individuellen Lebens bezog sich auf die Selbstbegrenzung der Kräfteentfaltung gemäß der Logik des Individuums selbst, bei Weber dagegen ist nicht klar, ob sich die Hingabe an die Sache – die sich auch in Simmels »individuellem Gesetz« finden lässt und jener Metaethik entspricht, nicht widerspricht – nur auf den Beruf bezieht. In der »Zwischenbetrachtung« spricht Weber von der geformten Auslese der Kulturprodukte, am Ende der »Protestantischen Ethik« dagegen zieht Weber eine andere Bilanz, was ja deshalb nur hier von Bedeutung sein kann, weil Weber noch kurz vor seinem Tod die »Protestantische Ethik« überarbeitet hat, eine Kongruenz des Persönlichkeitskonzepts bei Weber also durchaus erwartbar ist. Vorbei, so das Ergebnis der »Protestantischen Ethik«, seien die Zeiten einer »Allseitigkeit des Menschentums«, wie sie noch die »Hochblüte Athens im Altertum« ausgezeichnet habe (Weber 1988a: 203). Stattdessen stehe »die Beschränkung auf Facharbeit« an (ebd.: 203). Weber spricht ferner von den »höchsten geistigen Kulturwerten«, auf deren »Ausdeutung« der Mensch heute oft verzichte (ebd.: 204). Volkhard Krechs Interpretation der weberschen Zukunftsprognose von Religion attestiert der der protestantischen Arbeitsethik entsprungenen »Berufspflicht« einen jenseits des Götterkampfes liegende »Letzt-Wert-Qualität«, gleiches gilt für »die Wichtigkeit des persönlichen Wertstandpunktes« (Krech 1995: 321) – wobei Letzteres als Element der Werturteilsdimension zu unterscheiden ist vom wissenschaftlichen Urteil über Wahrheit. Was den persönlichen Wertstandpunkt anbelangt, bezog

16 Schluchter relativierte zugleich die Identifikation seiner Interpretation von einem »individuellen Gesetz« bei Max Weber mit dem Konzept Simmels (vgl. Schluchter 1988: 259, Fn. 171). Schluchter folge »Simmels lebensphilosophisch inspirierter Argumentation nur sehr bedingt.« (Schluchter 1988: 259, Fn. 171) Soweit ich sehen kann, löst sich Schluchter von der simmelschen Idee einer ontologischen Individualität, die als Form des Lebens eben Gesetzescharakter besitzt. »Individuelles Gesetz« bei Weber bedeutet nach Schluchter die sich in Handlungen manifestierende, durchgehende – und nicht bloß vereinzelte – Bindung des Subjekts an einen von ihm geglaubten Wert (vgl. Schluchter 1988: 258-59).

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Weber selbst dezidiert Position: Er nahm wie Durkheim ausdrücklich eine antikirchliche Stellung ein, vor allem gegen den organisierten Katholizismus und seinen politischen Einfluss in Deutschland (vgl. Tyrell 2008: 148-152). Ähnlich wie Krech sieht es Duk-Yung Kim, demzufolge Weber »das asketisch-rationale Persönlichkeitsund Handlungsideal des bürgerlichen Berufsmenschentums vor Augen hat – vornehmlich des modernen okzidentalen Kapitalisten, Unternehmers und Bankiers.« (Kim 2002: 192) Sowohl Kim wie auch Hartmann Tyrell zufolge hat Weber anders als Simmel keine Theorie der Persönlichkeit oder des Subjekts entwickelt (vgl. Tyrell 1996: 173-74; Kim 2002: 193). Wie Flavia Kippele meint, habe sich Weber – auch hier anders als Simmel – nirgendwo »explizit mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in seiner allgemeinen Form befasst.« (Kippele 1998: 105; Hervorhebung PB) An dessen Stelle stünden die materiellen Untersuchungen und nach »spezifischen Bereichen« unterteilt, in denen soziales Handeln stattfinde (ebd.: 105). Interessanterweise korreliert dies mit der Nicht-Definition Webers von der Religion (vgl. Tyrell 1992). Weber, so Tyrell, habe sich nicht auf die »Einheit des Religiösen« konzentriert, sondern auf dessen »Heterogenität und Vielfalt« (ebd.: 221). Religion werde »kaum irgendwo isoliert [behandelt], sondern immer bezogen auf die Wirtschaft, ›eingebettet‹ in Herrschafts- und Schichtungsverhältnisse oder mit Blick auf die Folge für Kultur und Werte oder den Stil der Lebensführung« (ebd.: 220-21). Religion wird also mit Bezug auf Nicht-Religiöses analysiert, wofür die »Zwischenbetrachtung« ja ein Beispiel ist. Dabei, so mutmaßt Tyrell weiter, sei der Inhalt der Beobachtung unter Umständen zu heterogen gewesen, als dass eine einheitliche Definition möglich gewesen sei (vgl. ebd.: 184). Eine für Weber typische Erscheinung sei die Nicht-Definition eines Gegenstandsbereiches wohl dennoch nicht, denn den Sphären der Politik, des Rechts oder der Wirtschaft habe Weber »erhebliche definitorische Anstrengungen« gewidmet (ebd.: 179). Deshalb lässt sich hier auch nicht ohne weiteres ein weiter qualifizierter Bezug zum fehlenden Persönlichkeitskonzept bei Weber herstellen. Schließlich hatte Simmel bei der Herausarbeitung seines Religionsverständnisses ebenso Schwierigkeiten der Explikation, und dass obwohl seine Intention auf Einheit ging. Wolfgang Schluchter zufolge vertritt Weber keine werterelativistische, sondern »eine wertabsolutistische Position.« (Schluchter 2009: 14) Wer dem einen Gott – der einen Wertsphäre – diene, stoße die Ansprüche der anderen Götter zur Seite. Die Ansprüche dieser Götter sind absolut und aus sich heraus unbegrenzt und umfassend; dies ist es, was ihnen ihre Bezeichnung verleiht. Webers Wertlehre scheint mir, wenn nicht Simmel entliehen, so doch in starker Ähnlichkeit zu ihm entwickelt. Im Hinterkopf behalten werden sollte allemal, dass Weber Simmels »Philosophie des Geldes« gelesen hatte, noch bevor er sich allmählich auf kultur- und sozialtheoretisches Terrain begab. Denn Simmel selbst vertrat zumindest keinen schlichten Werterelativismus, sondern die Werte als Wertform hegen eine Forderung, ja, wie Simmel schreibt, sogar eine absolute Forderung an das individuelle Leben, aus dem sie entstammen. Es gibt unterschiedliche solcher absoluten Forderungen an uns, und sie brechen die Durchsetzung ihres Anspruchs an uns in uns. Wie bereits einmal in dieser Arbeit erwähnt, ist Simmel bei Abfassung seiner Werttheorie auf das Problem gestoßen, dass »absolute und objektive Werthe Anspruch auf Anerkennung machten.« (PDG: 727; Hervorhebung PB) Simmel meinte, er könne nur dann bei seinem Relativismus verbleiben, wenn er den Absolutheitsanspruch theoretisch einholen könne (vgl. ebd.:

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727). Die Übersetzung der Problemlösung war identisch mit der Antwort auf die Frage, ob (ökonomische) Werte subjektiver Natur sind, d. h. ein allein psychologisches Werturteil über die Dinge, oder objektiver Natur und den Dingen aus ihnen heraus anhaften, sei es menschliche Arbeitskraft, Edelmetalle oder Naturalien. Simmel entschied sich für »ein Drittes, Ideelles, das zwar in jene Zweiheit [von Subjekt und Objekt] eingeht, aber nicht in ihr aufgeht.« (Ebd.: 36) Der Wert entstammt dem Subjekt, verselbständigt sich in der Objektivationsform des Tausches, in welcher die Dinge ihren jeweils partikularen Wert durch die Austauschbarkeit gegen andere Dinge erhalten. Der Wert als solcher ist aber eine in keinem partikularen Inhalt sich erschöpfende Form, er ist Einheit als abstrakte Wertform, die dem ebenso aus sich heraus Einheit seienden Leben entstammt. An dieser Theorie hielt Simmel noch ausdrücklich bei Abfassung seiner »Lebensanschauung« fest, wovon ein Brief an Rickert von April 1917 zeugt (vgl. GSG 16: 439-40).17 In der »Philosophie des Geldes« meint Simmel nun weiter, dass die objektivierte Wertform »eine besondere Beziehungsform zum Subjekt« habe (PDG: 36-37). »Diese Form«, so Simmel weiter, »ist als Forderung oder Anspruch zu bezeichnen. Der Wert, der an irgend einem Dinge, einer Person, einem Verhältnis, einem Geschehnis haftet, verlangt es, anerkannt zu werden.« (Ebd.: 37; Hervorhebung im Original) Noch im vorletzten Kapitel der »Philosophie des Geldes« wendet Simmel diesen Gedanken explizit auf die Wissenschaft an. Wann immer wir etwas als für wahr geltend erachten, »empfinden wir unser Denken […] als die Erfüllung einer sachlichen Forderung, als das Nachzeichnen einer ideellen Vorzeichnung.« (Ebd.: 623; Hervorhebung PB) Und nur eine Seite später generalisiert Simmel, wenn er meint, »in allem Wirken haben wir eine Norm, einen Maßstab, eine ideell vorgebildete Totalität über uns, die eben durch dies Wirken in die Form der Realität übergeführt wird.« (Ebd.: 624; Hervorhebung PB) Die Wertform als Form ist auf keinen Inhalt mehr beschränkt, sondern drängt stattdessen auf die Er- oder besser: Ausfüllung seiner Form durch Inhalte. Die Kulturwelten drängen bei Simmel zur inhaltlichen Realisierung. Noch an anderen Stellen spricht Simmel – wenn auch in einem sehr allgemeinen Sinne – von absoluten und unbedingten Forderungen an das individuelle Leben, die sich wechselseitig bedingen. Das Absolute einer Forderung bricht sich an der Absolutheit einer anderen Forderung – gleichzeitig ist dieses Aneinander-Brechen die Bedingungsmöglichkeit ihres tatsächlichen Wirkens. Es bedarf eines jeweils anderen, absoluten Prinzips, damit eine absolute Forderung in eine bestimmte Richtung erhoben werden kann: »So entsteht hier […] die eigentümliche Schwierigkeit: daß ein Unbedingtes bedingt wird, und zwar durch ein anderes Unbedingtes, das seinerseits wieder von jenem abhängt. Daß so das als absolut Empfundene dennoch relativ ist, scheint mir keine andere prinzipielle Lösung zu gestatten, als daß das Absolute einen Weg bedeutet, dessen Richtung, ins Unendliche fortlaufend,

17 Dort heißt es, »daß Wahrheit eine Relation von Inhalten zueinander bedeutet, deren keiner für sich sie besitzt, gerade wie kein Körper für sich schwer ist, sondern nur im Wechselverhältnis mit einem anderen. Daß einzelne Wahrheiten in Ihrem [Heinrich Rickerts; Anmerkung PB] Sinne relativ sind, interessirt mich dabei garnicht, gerade nur ihr Ganzes ist es, oder richtiger: ihr Begriff.« (GSG 16: 440)

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festgelegt bleibt, gleichviel wie weit die endliche Strecke ist, auf die hin er tatsächlich begangen wird.« (Ebd.: 109; Hervorhebung PB)

Und wie ich versucht habe zu zeigen: Für Simmel entspricht der Weg zu sich selbst – dem eigenen Absoluten – dem Beschreiten eines eigengesetzlichen Weges durch die eigenlogischen Kulturwelten. Es gibt eine Vielheit von Prinzipien, nach denen wir handeln und erleben. Zu einer praktischen Einheit kommen sie in uns, indem wir zumindest zeitweise nur nach einem Prinzip handeln: »Mit der Vielheit der Elemente und Tendenzen, als deren Ineinander und Durcheinander das Leben sich vorfindet, scheinen wir praktisch nur so auszukommen, daß wir unser Verhalten auf jedem Gebiet und in jeder Periode von einem einheitlichen und einseitigen Prinzip absolut regieren lassen.« (Ebd.: 197)

Dabei brechen sich die idealen Forderungen aneinander, und dieses wechselseitige Sich-Brechen absoluter Forderungen ist zugleich Bedingungsmöglichkeit dafür, zumindest annähernd und für eine Zeit nur einem Ideal zu folgen. Es bedarf dieses »Kampfes« zwischen den »Göttern« – den Idealen –, da ohne Kampf die Existenzbedingung eines jeden Prinzips zugleich verschwinden würde: »Auf diesem Wege aber holt jene Mannigfaltigkeit des Wirklichen uns immer wieder ein und verwebt unsere subjektive Bestrebung mit allen gegensätzlichen Faktoren zu einem empirischen Dasein, in dem das Ideal überhaupt erst in die Wirklichkeit eintreten kann; das bedeutet durchaus keine Dementierung jenes, vielmehr ist das Leben auf solche absolute Bestrebungen als Elemente seiner eingerichtet wie die physikalische Welt auf Bewegungen, die, ungestört sich selbst überlassen, zu Unausdenkbarem führen würden, aber nun, mit hemmenden Gegenwirkungen zusammenstoßend, gerade das vernunftmäßige Naturgeschehen ergeben.« (Ebd.: 197)

Der innerlich im Leben wirkende Relativismus zwischen absolut wirkenden Idealen spiegelt sich nach Simmel wider in der theoretischen Konstruktion. Geld – dies war Simmels Aufhänger für die hier zitierte Passage in der »Philosophie des Geldes« – weise empirisch eine Tendenz zum reinen Funktionsgeld auf: Die Geldform ist bloße (Symbol-)Form der Austauschbarkeit der Dinge. Darauf reagiere eben auch die Theorie: Sie stellt einen entsprechenden Reinbegriff – mit Weber: Idealtypus – vom Geld auf, wonach Geld allein die synthetische Einheitsform der Tauschform materialisiert. Dann sei es aber doch so – dies war Gegenstand von Kapitel 8.4.2 dieses Buches –, dass Simmel zufolge ein vollständig seines ökonomischen Eigenwertes entkleidetes Geld – also jene Seite, nach der es dann doch zum Element des Tausches wird, dessen Ausdrucksform es auf der anderen Seite ist – sich als praktisch untauglich erweisen würde. Es gäbe keine die Politik hemmende Restriktion, sich das Geld beliebig zu drucken und so das Vertrauen wie die Funktionsfähigkeit des Geldes letztlich zu zerstören. Die Vollendung des Geld-Prinzips würde so zur Zerstörung jenes Prinzips führen, welches die empirische Entwicklung zumindest annäherungsweise realisiert habe. Treffenderweise wird so das Symbol der absoluten Einheit des Seins zum Role Model des individuellen Lebens:

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»Und wenn die praktische Welt so zustande kommt, daß unser Wollen eine Richtung ins Ungemessene verfolgt und erst durch Abbiegungen und Zurückbiegungen gleichsam zu dem Aggregatzustand des Wirklichen gelangt, so hat auch hier das praktische Gebilde das theoretische vorgeformt: auch unsere Begriffe von den Dingen bilden wir unzählige Male so, daß die Erfahrung sie in dieser Reinheit und Absolutheit überhaupt nicht zeigen, sondern daß erst Abschwächung und Einschränkung durch entgegengesetzt gerichtete ihnen eine empirische Form geben kann. Darum aber sind jene Begriffe nicht etwa verwerflich; sondern gerade durch dies eigentümliche, exaggerierende und wieder reduzierende Verfahren an Begriffen und Maximen kommt das unserer Erkenntnis beschiedene Weltbild zustande. Die Formel, mit der unsere Seele zu der ihr unmittelbar nicht zugängigen Einheit der Dinge gleichsam nachträglich, nachbildend ein Verhältnis gewinnt, ist, im Praktischen wie im Theoretischen, ein primäres Zusehr, Zuhoch, Zurein, dem zurückdämmende Gegensätze die Konsistenz und den Umfang der Wirklichkeit wie der Wahrheit eintragen.« (Ebd.: 197)

Uta Gerhardt hat die hier zuletzt referierte Seite zum Element eines Vergleichs von Weber und Simmel gemacht, um die Genealogie des weberschen Idealtypus aus Simmels Formtheorie herauszugreifen (vgl. Gerhardt 1998: 115-121). Wenn auch stets mit der gebotenen Vorsicht, was den Grad der Prägung durch Simmel anbelangt, würde ich hinsichtlich der Nähe zwischen beiden Denkern noch weiter und über den Begriff des Idealtypus hinausgehen. Das Konzept der rationalen Geschlossenheit und des Zu-Ende-Denkens der Wertsphären in der »Zwischenbetrachtung«, so hatte ich mit Weber und Tenbruck angeführt, ist nicht bloße (Ideal-)Typologie, sondern zeichnet darüber hinaus empirisch mögliche, aber auch – wiederum: annäherungsweise – empirisch vorzufindende Tendenzen nach. Der Mensch tendiert zum Zu-Ende-Denken bestimmter Prinzipien. Konzeptionell erlaubt dies Weber das Denken von Spannungs- wie von Adäquanzverhältnissen zwischen den Sphären. Empirisch kommt Weber zum Schluss, dass im Subjekt der Kampf der auf umfassende, absolute Folgsamkeit pochenden Werte-Götter zum Austrag kommt. Der Universalanspruch der Religion mag nicht erloschen sein, erfuhr aber praktisch die Begrenzung ihres Anspruchs durch das Aufkommen der anderen Sphären. So wiederum auch bei Simmel: Die christliche Religion, ehemals das gesamte Leben umfassende Kraft, wird einerseits, in der sozialen Organisationsform des kirchlichen Glaubens, eine Kulturform neben den anderen. Das Bedürfnis nach einem ganzheitlich religiösen Leben bleibt. Zumindest theoretisch ist dieses Bedürfnis in der säkularen Form eigenlogischer Kultivierung zu erfüllen. Interessanterweise band Simmel die Möglichkeit einer gegenwärtigen religiösen Befriedigung an die konstitutionstheoretische Herkunft der Religionsform aus dem schöpferischen Leben: Inhalte nehmen nur deshalb eine religiöse Form an, weil es das Leben ist, welches sie religiös überformt. Vielleicht konnte Weber nicht wie Simmel den Gott in der Individualitätsform des Lebens selbst verorten, weil er keine transzendentalphilosophische Grundlegung der Wertsphären konzipiert hat. Die Werte der Sphären sind zwar nicht aufeinander reduzibel und »stecken Dimensionen ab, in denen man überhaupt handeln kann« (Schwinn 2014b: 147; Hervorhebung PB). Sie bezeichnen selbstzweckhaft verfolgte Inhalte im sinnhaften Sich-Orientieren. Simmel währenddessen unterschied gerade die Psychologie des Zweckhandelns von dem Konstitutionsakt der formenden Objektivation aus dem Apriori des Bewusstseins. Folglich fehlt bei Weber auch eine transzendentalphilosophische Rückführung absoluter Geltungsansprüche von Wertsphären

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auf ihrerseits potenziell ungebremste apriorische Triebkräfte im individuellen Leben, wie es Simmel vorführte. Weber legte den Schwerpunkt auf die empirisch-materielle Diversität der Ordnungen, in welchen das Individuum auftritt, die transzendentalphilosophische Konstitution war für Weber dabei offenbar von geringerem Interesse. Simmel ging dagegen den umgekehrten Weg: Die Differenz der Empirie war für ihn eher Mittel zum Zweck des Erkennens einer jeweils einheitlichen Form der Inhalte, deren Einheit sich der transzendentalen, entelechischen Einheitsform des individuellen Lebens verdankt. Die Einheit kann sowohl Konflikt als auch wechselseitige Förderung bedeuten, beide Male bedeutet Einheit aber Wechselwirkung. Dieses Attribut teilt Simmel mit Weber. In der »Philosophie des Geldes« sowie im »Nietzsche und Schopenhauer« skizziert Simmel eine Art synergetisches Zusammenspiel zwischen den apriorischen Energien (vgl. PDG: 419-20; SN: 269-70). Im »Schopenhauer und Nietzsche« spricht Simmel vom »Füreinander der Funktionen« sowie »dem gegenseitigen Zweck-und Mittel-Werden, mit dem sie zu der Einheit des Lebens verwachsen.« (SN: 270) In der »Lebensanschauung« heißt es, dass »die Wahrheit innerhalb der Praxis um des Lebens willen, innerhalb der Religion um Gottes oder um des Heiles willen, innerhalb der Kunst um der ästhetischen Werte willen gesucht wird.« (LA: 262) Allerdings: Die analytische Unterscheidung zwischen Teleologie einerseits und ›reinem‹ energetischen Zusammenspiel auf der Ebene des Lebens – worauf er ja doch so dezidierten Wert legt – ist bei Simmel nicht trennscharf gelungen. Auch der Konflikt zwischen individuellem Leben und den Formen der Kultur ist bei Simmel ein erst im Leben zum Austrag kommender Konflikt. Der Dualismus zwischen der eigenlogischen Form individuellen Lebens und den eigenlogischen Formen entsteht, weil die Logik des Lebens tendenziell selbstgestaltete Einheit in der Vielheit ist. Kulturformen folgen dagegen nur jeweils einer partikularen Logik, welche das Individuum zu absorbieren tendiert. Unter welchen materiellen Umständen Kulturformen in ein (wechselseitiges) Zweck-Mittel-Verhältnis zueinander treten, wann es zu Konflikten kommt – dieses typologische Interesse war Gegenstand der »Zwischenbetrachtung« Webers –, an dessen Skizze besitzt Simmel kaum ein Interesse. Eine – aber nur unter gewisser Reserve als solche zu bezeichnende – Ausnahme von dieser Regel ist der bereits oben genannte Aufsatz »Das Christentum und die Kunst« von 1907. Nach einer kurzen Erwähnung des Konfliktcharakters geht es Simmel dann aber fast vollständig um das Zweck-Mittel-Verhältnis, durch welches christliche Motive künstlerischen Ausdruck finden. Dass das Leben Konflikt und (synergetische) Einheit ist, darin bestand für Simmel gerade der Begriff des Lebens: Dessen Einheit vollzieht sich eben als ein Dualismus von Leben und Form, der Dualismus ist, sofern zwei sich widersprechende Prinzipien in ihrem Widerspruch zueinander einander bedingen. Simmels Bezugsgröße war einzig die materiell offene Eigenlogik des individuellen Lebens. Dieses allein entscheidet darüber, wann etwas Mittel für welchen Zweck wird, und die Einheit des Lebens allein ist es, welche über das Ausleben der eigenen Kräfte in den Kulturformen entscheidet. Die historischen Differenzen der Inhalte, welche Weber so wichtig waren in der Modellierung von Spannungs- und Wahlverwandtschaftsbeziehungen, sind bei Simmel dem Prinzip der eigenselektiven Einheitlichkeit der lebendigen Individualität untergeordnet.

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Ich gehe nun über zu einem anderen Aspekt und widme mich eingehender einem spezifischen Ausschnitt aus der »Zwischenbetrachtung«, dem Zusammenhangsverhältnis von Religion und Wirtschaft bei Max Weber. Dazu gehe ich über zu einer Analyse der »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus«, einer Studie, welche Weber in den Jahren 1904 und 1905 veröffentlichte. Unter Vergleichsgesichtspunkten mit Georg Simmel betrachtet, vertrete ich die These, dass der Kapitalismus nach Weber eine vergleichbare Position einnimmt wie das Geldsymbol bei Simmel. Die Geldform ist nach Simmel die absolute Einheitsform des Seins. Geld tritt an die Stelle Gottes. Bei Weber verhält es sich so, dass gerade die einst das ganze Leben bestimmende puritanische Religion die kapitalistische Wirtschaft aus ihren traditionalen Verflechtungen herausdifferenziert und zu einem nicht nur seinen eigenen Gesetzen folgenden ökonomischen Kosmos gestaltet, sondern umfassender noch »den Lebensstil aller einzelnen« bestimmt (Weber 1988a: 203) und zur »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens« wird (ebd.: 4). Ich komme auf diesen Punkt zurück. Schließlich greife ich auf eine weitere, eher aber – vielleicht aber nicht nur – heuristisch-funktionale Analogie zwischen Weber und Simmel zurück: Wo bei Simmel das Leben fortwährend die Form schafft und zerstört, ist es bei Weber die Religion, welche die Form schafft und zerstört. Um diese zunächst recht vage und auch nicht bruchlose Analogie zu spezifizieren, berufe ich mich auf zwei WeberAufsätze aus der Feder Hartmann Tyrells (1990; 1993). Wie Hartmann Tyrell dort ausführt, spielt Religion bei Weber eine zwiespältige Rolle. Religion wirke Veränderungen gegenüber hemmend und eher in Richtung eines einmal eingefahrenen, traditionalen Sich-Verhaltens. Dann aber, und die Herausdifferenzierung einer sich schließlich gegen den Eigenwert der Religion richtenden Wertsphäre Wissenschaft ist ein Beispiel dafür, liefere die Religion eine im Unterschied zu allen anderen Bereichen außergewöhnliche motivationale Energie, die zur Durchdringung des gesamten Lebens und – noch bedeutsamer – zur Überwindung eingefahrener Traditionen sowie zur Etablierung neuer Formen und Institutionen eignet. Die allein der göttlichen, aber keiner menschlichen Autorität sich unterwerfenden Puritaner hätten so – wie bereits oben erwähnt – einen bedeutsamen Beitrag zur Etablierung individueller Menschenrechte geleistet (vgl. Tyrell 1993a: 337-39). Die philosophische Aufklärung hätte die Menschenrechte dagegen nicht durchsetzen können, da es ihr an »›positiven Antrieben‹« dafür gefehlt habe (ebd.: 338; Hervorhebung im Original). Was Weber der Religion attestiert habe, so Tyrell, sei eine den Kern des wertrationalen Handelns treffende »Handlungsdisposition zum Prinzipiellen«, die eine »Unbedingtheit und gesinnungsethische Rücksichtslosigkeit gegen die Folgen« impliziere (ebd.: 340; Hervorhebung im Original). Tyrells Hypothese ist also, dass ein aus religiösen Überzeugungen erfolgendes wertrationales Handeln, in welche Richtung auch immer, höchste motivationale Energien freisetzt. Und dies gilt nach Tyrell nun auch für die Durchsetzung der rationalen Form kapitalistischen Wirtschaftens gegen die Hemmnisse traditional-naturalistischer Natur: »Klar ist ferner, daß bei Weber der asketischen Religiosität der Part zufällt, die genannten inneren Obstruktionen zu brechen und die Menschennatur so zu konditionieren, daß sie imstande ist, das so ›unnatürlich‹-rationale Verhaltenssyndrom zu habitualisieren, es sich stabil zu eigen zu machen.« (Tyrell 1990: 139; Hervorhebung im Original)

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9.2.3 »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus « Was das eigentliche Vorhaben Max Webers in der »Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus« gewesen ist, war und ist meiner Kenntnis der Sekundärliteratur gemäß umstritten (vgl. Hennis 1987 und Tyrell 2014: 94-95). Der Titel selbst lässt es ja noch offen, ob allein eine Korrelation oder ein kausalgenetisches Verhältnis zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist gemeint ist (vgl. Schulz-Schaeffer 2010: 269-74). Unabhängig von dieser Frage scheint aber allein der Geist des Kapitalismus berührt, nicht aber die Entstehung dessen, was Weber die »heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung« nennt, den »Kosmos« (Weber 1988a: 37), oder auch: die Wertsphäre der Ökonomie. Nicht die überindividuelle Ordnung, sondern das die Ordnung tragende Subjekt ist gemeint. Mit dem Titel aber nicht kongruent sind zweierlei Dinge: Einmal, dass Weber zufolge das nicht-intendierte Ergebnis der protestantischen Arbeitsethik nicht auf den kapitalistischen Geist beschränkt ist, sondern eine die Ökonomie transzendierende, das Leben überhaupt umfassende Wirkung hat: »Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist […] geboren aus dem Geist der christlichen Askese.« (Ebd.: 202; Hervorhebung im Original) Weber sagt nicht, was »Kultur« oder »Grundlage« bedeutet. Eine Seite weiter heißt es ebenso unspezifisch aber umfassend, die kapitalistische Wirtschaft beherrsche »heute den Lebensstil aller einzelnen […] – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen – mit überwältigendem Zwang« (ebd.: 203; Hervorhebung im Original). Wolfgang Schluchter meint denn auch, es sei Weber in der »Protestantischen Ethik« um »das So-und-nicht-andersGewordensein dieser besonderen Art von Lebensführung und um seine Entwicklungstendenz« gegangen (Schluchter 1988: 65; Hervorhebung im Original). Noch in der 1920 geschriebenen und seine religionssoziologischen Studien – deren Element innerhalb der universalgeschichtlichen Studien Webers die »Protestantische Ethik« ist – einleitende »Vorbemerkung« zählt Weber zu »der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens« den »Kapitalismus.« (Weber 1988a: 4; Hervorhebung PB). Weber spricht vom »Kampf der Götter« zwischen den Wertsphären, innerhalb dieser scheint der rationale Kapitalismus aber eine über die Konstitution der Wirtschaftssphäre hinausreichende, übergeordnete Stellung einzunehmen. Es ist meine Vermutung – auch wenn ich dies nicht vollständig beweisen, sondern nur zu plausibilisieren versuchen kann –, dass Weber den Kapitalismus hier in einer Art logischen Erbfolge zur ehemals ebenso umfassenden Religion zählt – analog zu Simmels philosophischer Demonstration, dass das Geld die Stelle Gottes als Symbolisierung der absoluten Einheit usurpiert. Schließlich gehörten Weber zufolge zu »den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun […] in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.« (Ebd.: 12) Noch deutlicher heißt es später: In der Vergangenheit war »das Jenseits alles«, »an der Zulassung zum Abendmahl […] hing die soziale Position des Christen«, und die in »dieser Praxis sich geltend machenden religiösen Mächte [sind] die entscheidenden Bildner des ›Volkscharakters‹ [gewesen].« (Ebd.: 163-64; Hervorhebung im Original) Ferner beruht das den kapitalistischen Geist schaffende protestantische Arbeitsethos nach Weber auf einer vollständigen Orientierung der individuellen Lebensführung an dem eigenen Seelenheil. Das Dies-

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seits wird vollständig sakralisiert durch die Transzendenz des Gottesreiches, dessen Ausdruck das gottgefällige Handeln im Beruf ist. Ein zweiter Punkt der Inkongruenz liegt meines Erachtens darin, dass Webers Ausführungen explizit, aber auch logisch, ihrem Inhalte nach nicht bloß die Genese des kapitalistischen Geistes, sondern auch jene der überindividuellen ökonomischen Sphäre beschreiben. Weber weist darauf hin, dass das protestantische Arbeitsethos mit dem Berufsethos ein bedeutsames Element neben anderen konstitutiven Elementen gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftens geschaffen hat (vgl. ebd.: 34). Wichtige Voraussetzungen wie die Buchführung, ein funktionierendes Rechtssystem, Unternehmen, Erwerb von Produktionsmitteln und Verkauf von Waren gegen Geld, sie waren allesamt der Reformation vorangehende Institutionen (vgl. ebd.: 6-11 sowie 49-51). Manches Regulierungshemmnis ist nicht durch die Religion, sondern durch tatkräftige Unterstützung der Politik durchbrochen worden (vgl. ebd.: 56). Ein und dieselbe Form des Unternehmens, so Weber, könne von unterschiedlichen Geistern betrieben werden, und der Geist, gegen welchen sich das seiner Pflicht bewusste Berufsethos des modernen kapitalistischen Geistes durchzusetzen hatte, war das traditionale, in eingefahrenen Bahnen verlaufende, kapitalistische Wirtschaften (vgl. ebd.: 50-53). Der ursprünglich religiös sanktionierte wirtschaftende Geist rationalisiert, er optimiert Ertragschancen – und stört dadurch eine bis dato vergleichsweise auskömmliche Lage zwischen den miteinander konkurrierenden Unternehmen. Weber spricht sogar von der gestörten »Behaglichkeit« (ebd.: 52). Der rational-kapitalistische Geist bringt eine neue Konkurrenzlage hervor, die schließlich, in ihrer geschichtlichen wie logischen Konsequenz, nach Weber rückwirkend den rational an Gewinnchancen und Kapitalakkumulation orientierten Geist schafft (vgl. ebd.: 37). Der Geist hat sich nun an die Marktlage anzupassen (vgl. ebd.: 37; dazu auch Schwinn 2001: 191-93.). Die Marktform schafft sich nun ihren Geist, und deshalb bedarf es nicht mehr des religiösen Motives. Mag das explizite Motiv von Webers Studie auch die Subjekt-Seite gewesen sein: Dieses Vorhaben musste logisch den Weg über die umgestaltete Form der Wirtschaftsseite gehen, da es ansonsten keinen Sinn machen würde, von einem von seinen religiösen Stützen gelösten Geist kapitalistischen Wirtschaftens zu sprechen, deren Entkopplung ihrerseits das Resultat einer durch den religiösen Geist verselbständigten Marktlage ist. Simmelianisch und lebensphilosophisch gelesen: Der religiöse Geist schafft die Form, nur um von dieser Form rückwirkend geprägt zu werden, ohne dann aber noch der religiösen Stütze zu bedürfen – es genügt die durch die Form selbstgeformte, adäquate mentale Einstellung. Diese logische Form weist durchaus Ähnlichkeiten mit dem Wechselwirkungsschema zwischen Leben und Form bei Simmel auf. Vorweg weise ich darauf hin, dass ich hier nicht vorhabe, den Wahrheitsstatus der ›Weber-These‹ zu beurteilen, zu der es meiner Kenntnis zufolge nach wie vor kein abgeschlossenes Bild gibt.18 Ich verweise in einer Fußnote auf entsprechende Forschung aus jüngerer Zeit.19 Ebenso weise ich darauf hin, dass Webers Idee als

18 1988 schrieb Wolfgang Schluchter: »Über diese Studie existiert eine ›Kontroversliteratur‹, die inzwischen fast eine Bibliothek füllt.« (Schluchter 1988: 64) 19 Meine Kompetenz reicht nicht aus, die methodische Validität der im Folgenden genannten Tests zu beurteilen. Positiv fällt das Urteil zum Zusammenhang von Protestantismus und

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solche keine neue war. Die Diskussion um einen möglichen Zusammenhang »zwischen protestantischer Mentalität und der Durchsetzung der modernen bürgerlichen Gesellschaft« sei, so der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, »in der deutschsprachigen protestantischen Universitätstheologie schon seit dem frühen 19. Jahrhundert geführt worden« (Graf 1993: 157). Webers Leistung war denn ein theoriegeleitetes Erklärungsangebot dieses Zusammenhangs. Webers Ausgangspunkt ist eine zu seiner Zeit recht aktuell verfügbare statistische Korrelation zwischen konfessioneller Zugehörigkeit und ökonomischer Einkommens- wie Vermögensposition in kapitalistisch entwickelten Ländern, die zunächst noch nichts über einen in eine bestimmte Richtung hin wirkenden Ursachenzusammenhang aussagt: Protestanten sind im Vergleich zu Katholiken überproportional vertreten unter den Unternehmern und Facharbeitern (vgl. Weber 1988a: 18).20 Unter den Bedingungen gleicher formaler Qualifikationen ergreifen protestantische Arbeiter ferner eher die Chance zum Wechsel vom Handwerk in die Fabrik, um dort die Einkommens- und Karriereleiter hochzuklettern (vgl. ebd.: 22). Protestanten würden unabhängig von ihrem demographischen Anteil innerhalb eines Landes, ob Minderoder Mehrheit, »eine spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus« zeigen (ebd.: 23). Sowohl Kapital als auch Arbeit, könnte man sagen, ist ›protestantisch‹. Weber selbst bereiste zu Beginn des 20. Jahrhunderts Verwandte in den Vereinigten Staaten von Amerika. Einer »Baptistentaufe« (ebd.: 210) beiwohnend, machte Weber die Erfahrung, dass die Mitgliedschaft in einer puritanischen Sekte dem Zeugnis einer hervorragenden Geschäftsbonität gleichkommt, funktional äquivalent jenen Bonitäten, welche auf deren Prüfung spezialisierte Rating-Agenturen vergeben. Der Lebenswandel – oder besser: das Ethos – von Mitgliedschaftsanwärtern wird vor ihrer Taufe streng überprüft, und nur weil man um die Strenge des Selektionsverfahrens weiß, kann die Zugehörigkeit zu einer täuferischen Sekte Glaubwürdigkeit nach außen hin erzeugen. Wer Baptist ist, so Webers Schlussfolgerung, besitze deshalb einen Konkurrenzvorteil am Markt gegenüber anderen Teilnehmern (vgl. ebd.: 209-11). Für die Korrelation zwischen konfessioneller Zugehörigkeit und ökonomischem Erfolg könne es, so Weber, teilweise eine ihrerseits ökonomische Erklärung geben. Viele durch ihre gut gelegene Verkehrsanbindung wirtschaftlich entwickelteren europäischen Städte hätten »sich aber im 16. Jahrhundert dem Protestantismus zugewendet und die Nachwirkungen davon kommen den Protestanten noch heute im ökonomischen Kampf zugute.« (Ebd.: 19) Gegenwärtige Verteilungsverhältnisse wären

ökonomischer Entwicklung seitens Becker und Wößmann aus, deren Theorie zufolge sich allerdings eine intermittierende Variable zwischen Reformation und ökonomisches Wachstum schiebt, nämlich der durchschnittlich höhere Alphabetisierungsgrad von Protestanten (vgl. Becker/Wößmann 2009). Keinen empirischen Zusammenhang zwischen Protestantismus und ökonomischem Wachstum findet Davide Cantoni (2015). Eine Korrelationsanalyse von Hillman und Potrafke ergibt einen positiven Zusammenhang zwischen Protestantismus und ökonomischer Freiheit, keinen Zusammenhang zwischen Katholizismus und ökonomischer Freiheit, sowie einen negativen Zusammenhang zwischen Islam und ökonomischer Freiheit (vgl. Hillman/Potrafke 2018). 20 Das statistische Material entnimmt Weber der Arbeit seines Schülers Martin Offenbacher (vgl. Weber 1988a: 18-19, Fn. 3).

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dann die Folge vergangener Verteilungsverhältnisse. Nicht aber seien »allein oder vorwiegend die kapitalistischen Unternehmer des Handelspatriziates« – die städtische Oberschicht –, »sondern weit mehr die aufstrebenden Schichten des gewerblichen Mittelstandes die [geschichtlichen] Träger derjenigen Gesinnung […], die wir hier als ›Geist des Kapitalismus‹ bezeichnet haben.« (Ebd.: 49-50) Auf die partielle, schichtabhängige Affinität zu bestimmten Religionen hatte ich bereits weiter oben hingewiesen. Der »Protestantischen Ethik« geht es vorrangig um die kausalgenetische Wirksamkeit religiöser Ideen. Sie hebt das idealistische Moment hervor. Die umgekehrte Offenheit religiöser Weltbilder für lebensweltliche Einflüsse wird zumindest in der Herausbildung des calvinistischen Berufsethos von Bedeutsamkeit sein. Die protestantische Ethik interessiert Weber vorrangig in einer bestimmten Ausformung, und zwar in der des asketischen Protestantismus, den Weber über seine konfessionellen Differenzen hinweg synonym auch mit dem Begriff »Puritanismus« bezeichnet (vgl. ebd.: 85, Fn. 1).21 Zum asketischen Protestantismus bzw. zum Puritanismus zählt Weber den Calvinismus, den Pietismus, den Methodismus und die Täuferbewegung (vgl. ebd.: 84). Aufgrund seines nach Weber kulturgeschichtlich bedeutsamen Dogmas der Prädestinationslehre widmet er sich dem Calvinismus am ausführlichsten, Pietismus und Methodismus sind nach Weber aus dem Calvinismus hervorgegangene Sekundärerscheinungen (vgl. ebd.: 150). Sie haben die Prädestination teilweise aufgegeben, blieben von dieser aber beeinflusst in der Ausprägung jenes zentralen Elementes, aus dem Weber das konstitutive Attribut des kapitalistischen Geist zu erklären versuchte: die »Berufsidee« als eine zentral an der beruflichen Arbeit ausgerichtete, rationalisierende Lebensführung (ebd.: 164). In der Berufsidee ist der historische wie logische Konvergenzpunkt zwischen dem Explanandum, dem kapitalistischen Geist und der rationalen Lebensführung einerseits, und dem Explanans, dem protestantischen Arbeitsethos andererseits. Zur Täuferbewegung gehören die »Baptisten, Mennoniten« und die »Quäker« (ebd.: 150-51). Sie entwickelte ihre ökonomische Wirkmächtigkeit nicht auf der dogmatischen Grundlage der Prädestination. Die Konzentration auf das Berufsleben kennzeichnete aber auch sie (vgl. ebd.: 158-159). Die quantitativ größte Aufmerksamkeit Webers galt dem Calvinismus. Täufer, Methodisten, Pietisten und Calvinisten sind nach Weber Ausformungen eines puritanischen Ethos, der zentral auf der Berufsvorstellung aufbaut. Webers Erklärungsleistung richtet sich auf einen Ausschnitt des kapitalistischen Wirtschaftens, nicht auf kapitalistisches Wirtschaften per se. Kapitalistisches Wirtschaften als Investition von Geld in Produktionsgüter zwecks Ausnutzung von Gewinnchancen hat es auch früher bereits gegeben, in »China, Indien, Babylon, Aegypten, der mittelländischen Antike, dem Mittelalter so gut wie in der Neuzeit. […] Jedenfalls: die kapitalistische Unternehmung und auch der kapitalistische Unternehmer, nicht nur als Gelegenheits-, sondern auch als Dauerunternehmer, sind uralt und waren höchst universell verbreitet.« (Ebd.: 6)

21 Der Begriff »Puritaner« stammt gemäß Weber ab von dem lateinischen »›ecclesia pura‹«, was so viel wie »Gemeinschaft der Heiligen« bedeutet (Weber 2010: 916).

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Weber geht es um die ethische Normalisierung eines zweckrationalen Erwerb- oder Gewinnstrebens, und er unterscheidet es von einem explizit nicht definierten traditionalen Sich-Verhalten im Wirtschaftsleben, gegen welches sich die Zweckrationalität durchzusetzen hatte: »Der Gegner, mit welchem der ›Geist‹ des Kapitalismus im Sinne eines bestimmten, im Gewande einer ›Ethik‹ auftretenden, normgebundenen Lebensstils in erster Linie zu ringen hatte, blieb jene Art des Empfindens und der Gebarung, die man als Traditionalismus bezeichnen kann. Auch hier muß jeder Versuch einer abschließenden ›Definition‹ suspendiert werden« (ebd.: 43; Hervorhebung im Original).

Anstatt einer Definition arbeitet Weber mit Beispielen. Arbeiter beispielsweise ließen sich danach unterscheiden, wie sie auf Lohnanreize reagieren. Traditional wirtschaftende Arbeiter wollen allein ihren Lebensstandard halten. Wird ihnen mehr Geld je bearbeitete Einheit bei gleicher Zeit geboten, reduzieren sie ihre Arbeitsleistung, anstatt, wie gewünscht, mehr Einheiten zu bearbeiten, um entsprechend mehr Einkommen zu verdienen. Für Weber ist dies eine natürliche Reaktion, »der Mensch will ›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.« (Ebd.: 44) Methodistische Arbeiter hingegen sahen sich ihrer »›Arbeitswilligkeit‹« wegen »im 18. Jahrhundert von seiten ihrer Arbeitsgenossen« verfolgt und verabscheut (ebd.: 48). Auch von Kapitalseite her beobachtet Weber ein bis in das 19. Jahrhundert hinein reichendes, an der Wahrung von Stand und Status orientiertes traditionales Wirtschaften. Die Arbeitszeit ist auf fünf bis sechs Stunden begrenzt, die Preise sind gewohnte Preise, die Gewinne dienten der Vorsorge und die Konkurrenz zeichnet sich aus durch eine »relativ große Verträglichkeit« (ebd.: 51). Ein an Chancen zur Rendite orientiertes Wirtschaften war es nicht. Im Florenz des 14. und 15. Jahrhunderts, »dem Geld- und Kapitalmarkt aller politischen Großmächte«, galt das am Gewinn orientierte Wirtschaften »als sittlich bedenklich und allenfalls tolerabel« (ebd.: 60). Das unternehmerische Handeln galt als sittlich anrüchig, und selbst gegenüber der Religion skeptisch eingestellte Kaufleute spendeten der Kirche Geld als eine Form der Versicherung ihres Schicksals post mortem, wohl um die Unsittlichkeit ihres Handelns wissend, wie Weber meint. Und Jakob Fugger, Bankier und Kaufmann jener Zeit, ermangelte es nicht des »kaufmännischen Wagemuts« und der »›Geschäftsklugheit‹« (ebd.: 33). Und erneut wiederholt Weber: »›Kapitalismus‹ hat es in China, Indien, Babylon, in der Antike und im Mittelalter gegeben. Aber eben jenes eigentümliche Ethos [das Berufsethos; Anmerkung PB] fehlte ihm, wie wir sehen werden.« (Ebd.: 34; Hervorhebung im Original) Und bemerkenswert dabei: Die katholische Kirche tolerierte das (prä-)kapitalistische Handeln, Weber konstatiert sogar eine enge politische Verflechtung zwischen Kirche und Geldmacht (vgl. ebd.: 56-59). Dennoch, »den ›Geist‹ des kapitalistischen Erwerbes lehnte die herrschende Lehre als turpitudo ab oder konnte ihn mindestens nicht positiv ethisch werten.« (Ebd.: 59) Die mit Webers Worten: naturwüchsige Unterscheidung nach Binnenmoral und der sittlichen Indifferenz der Außenmoral bedingte eine von den Fesseln der Brüderlichkeitsethik gelöste Rücksichtslosigkeit und ausgelebte Habgier in der Geschäftspraxis mit dem Stammfremden (vgl. ebd.: 42-43). Hier war der Raum für Raub und

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Krieg. Einerseits meint Weber, sei die Grenze zwischen Binnen- und Außenmoral nie strikt gewesen, andererseits sei das Individualinteressen verfolgende Erwerbsstreben allmählich »auch in das Innere der sozialen Verbände« eingedrungen (ebd.: 43). »Die absolute und bewußte Rücksichtslosigkeit des Gewinnstrebens stand oft ganz hart gerade neben strengster Traditionsgebundenheit.« (Ebd.: 43). Allerdings sei der sich in diesem Handeln offenbarende Geist eher und bestenfalls als notwendiges Übel hingenommen, aber nicht ethisch bejaht worden. So passt es, dass sich nach Weber das »›Streben nach Gewinn‹, nach Geldgewinn« in allen Schichten finde, »zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist.« (Ebd.: 4) Wie das traditionale Nicht-Reagieren auf monetäre Anreize mit dem schicht- und zeitübergreifenden Begehren nach Geld zusammenpasst, sagt Weber nicht. Ferner ist hier eine weitere Unterscheidung einzuziehen, die zwischen einer rein triebhaften Habgier nach Geld und der »Bändigung«, […] Temperierung […] dieses irrationalen Triebes« (ebd.: 4; Hervorhebung im Original). Auch praktisch macht die Form der Aneignung und Ausgabe von Geld einen Unterschied. Der rational-kapitalistische Geist spart eingenommenes Geld für Reinvestition in produktive Unternehmung auf zwecks dauerhafter Kapitalakkumulation. Die Konsumtion von Produktionsgüter – es ist ja eine Form der Konsumtion – ist Mittel und zielt auf die Chance eines zukünftig zu erzielenden Mehr-Werts, der Konsum steht nicht als Letztzweck des Erwerbslebens im Vordergrund. Max Weber verzichtet zu Anfang seiner Untersuchung ferner auch auf eine Definition jenes kapitalistischen Geistes, dem die protestantische Arbeitsethik ein für die moderne Lebensführung ganz wesenhaftes Element aufgeprägt hat. Unter Bezugnahme auf ein Zitat von Benjamin Franklin – wobei es sich wohl um eine von Weber wie von den »meisten seiner Zeitgenossen« nicht als solche verstandene Satire Franklins gehandelt haben soll (Kaesler 2014: 526) – sagt Weber zwar, es handle sich bei diesem fehlenden Element um ein Ethos, was, als solches, Systemcharakter besitzt und nicht auf bestimmte Inhalte oder eine Liste solcher, wie bestimmter Ratschläge zur Geschäftsführung, zu reduzieren ist. Am Ende der »Protestantischen Ethik« steht als die explizite »Grundlage« rationaler Lebensführung die »Berufsidee« (Weber 1988a: 202). Die von Weber intendierte Berufsidee ist die »einer Verpflichtung, die der einzelne empfinden soll und empfindet gegenüber dem Inhalt seiner ›beruflichen‹ Tätigkeit, gleichviel worin sie besteht.« (Ebd.: 36) Von dem Sich-Verpflichtet-Fühlen spricht Weber dann noch an anderer Stelle innerhalb des gleichen Kapitels zum »Kapitalistischen Geist« (vgl. ebd.: 47, 60). Das Pflichtbewusstsein zeigt sich ferner in einer psychologischen Zweck-Mittel-Umkehr: Die Arbeit ist nicht mehr nur Mittel zum Leben, sie wird eigenwerter Selbstzweck: »Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck seiner Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.« (Ebd.: 35-36) Vom Selbstzweck spricht Weber ebenso noch an unterschiedlichen Stellen, stets handelt es sich um auf die Arbeit bezogene Kontexte. Da die Berufsidee dem spezifischen Inhalt gegenüber indifferent ist, ist sie auch der sozialen Rolle innerhalb einer kapitalistischen Ordnung gegenüber indifferent: Egal ob Lohnarbeiter oder Arbeit gebender Kapitalist, sie sind – sofern sie den kapitalistischen Geist atmen – ihrer Arbeit gegenüber verpflichtet; nicht bloß formal-kontraktuell, sondern sie füllen die Form mit Geist aus. Um einen »Dienst nach Vorschrift« handelt es sich wahrschein-

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lich nicht, sondern wohl mehr um eine – wohl im weberschen Sinne wertrationaleigenwertige – »Hingabe« (ebd.: 55) an die »Sache« (ebd.: 54). Diese Berufsidee beschränkt sich nicht auf die Ökonomie – deshalb ordnet Weber die Konsequenzen der protestantischen Arbeitsethik meines Dafürhaltens nach nicht ausschließlich der Herausbildung eines kapitalistischen Geistes zu –, sondern überhaupt auf Berufe innerhalb der differenten Wertsphären. Darauf können unter Umständen Webers Ausführungen zu »Politik als Beruf« wie zu »Wissenschaft als Beruf« bezogen werden. Innerhalb der ökonomischen Ordnung ist der Berufsgedanke durchaus mit der durch Konzentration und Fleiß auf die Sache verbundenen erhöhten Produktivität – Webers Beispiel der pietistischen Arbeiterinnen ist hier zu nennen (vgl. ebd.: 47) –, durch sozioökonomischen Aufstiegswillen sowie durch Geld- oder Kapitalakkumulation statt reiner nicht-investiver Konsumtion gekennzeichnet: »der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht« (ebd.: 35). Auch hier spricht Weber noch an anderen Textstellen innerhalb des Kapitels zum »kapitalistischen Geist« vom Gelderwerb »als eines den Menschen sich verpflichtenden Selbstzweckes« (ebd.: 56) und der »rein auf Gewinn gerichteten Tätigkeit« (ebd.: 60). Wie gesagt, kommt es Weber auf einen durch Religion und gegen die religiös geprägte Tradition durchgesetzten Ethos an. Einmal nämlich ist es nach Weber nicht so, dass eine strenge katholische Herrschaft durch eine, sozusagen, weltlich-libertäre Reformation gekippt worden sei. Im Gegenteil, wie Weber meint, sei eine im Alltag kaum noch spürbare Herrschaft mit der Reformation vollständig durch den religiösen Gedanken an das Jenseits und das eigene Seelenheil ersetzt worden. Eine dogmatische Liberalisierung war es nicht; und zur Durchsetzung jenes kapitalistischen Geistes bedurfte es nach Weber einer dem »Mißtrauen« und dem »Haß« anderer entgegenstehenden »nüchternen Selbstbeherrschung«, der »Klarheit des Blickes« und der »Tatkraft« auf Seiten der individuellen Träger der Berufsidee (ebd.: 53). Es waren »Männer mit streng bürgerlichen Anschauungen und ›Grundsätzen‹.« (Ebd.: 54) Dies war das eine. Dass allein die Religion die erforderliche umwälzende »Potenz« – um bei Hartmann Tyrells Worten zu bleiben – entfalten konnte, liegt an der ungemein hohen Bedeutsamkeit, welche die Menschen nach Weber ihrem jenseitigen Schicksal einst beigemessen haben. Ihre Lebensführung war ganzheitlich verzahnt mit dem zu »jener Zeit absolut beherrschenden Gedanken an das Jenseits […], ohne dessen alles überragende Macht damals keinerlei die Lebenspraxis ernstlich beeinflussende sittliche Erneuerung ins Werk gesetzt worden ist.« (Ebd.: 86; Hervorhebung im Original). Die Beherrschung des individuellen Lebens durch die Gedanken an die Heilsvorstellungen und die Wege zur eigenen Erlösung entfalteten praktisch wirksame, mächtige psychologische Antriebe, und genau nach dieser Seite der Formung psychologischer Antriebe interessiert Weber auch die religiöse Dogmatik: der »Ermittelung derjenigen durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten. Diese Antriebe aber entsprangen nun einmal in hohem Maß auch der Eigenart der religiösen Glaubensvorstellungen. Der damalige Mensch grübelte über scheinbar abstrakte Dogmen in einem Maße, welches seinerseits wieder nur verständlich wird, wenn

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wir deren Zusammenhang mit praktisch-religiösen Interessen durchschauen.« (Ebd.: 86; Hervorhebung im Original)

Die Prägung des modernen kapitalistischen Geistes durch die protestantische Schaffung der Berufsidee bedingt das, was Weber »Wahlverwandtschaften« nennt (ebd.: 83). Die Reformation hat den Kapitalismus nicht erfunden, sondern, so Webers Hypothese, eine ganz bestimmte, aber für den zeitgenössischen Kapitalismus wesenhaftkonstitutive Seite seiner mitgeprägt, eben die Berufsidee: Es »soll nur festgestellt werden: ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ›Geistes‹ über die Welt hin mit beteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen.« (Ebd.: 89; Hervorhebung im Original) Das Wahlverwandtschaftskonzept untersucht inhaltliche Konvergenzen, Schnittpunkte »zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik« (ebd.: 89). Der von religiösen Vorstellungen geprägte Geist ›dockt‹ mit seiner Lebensführung an den weltlichen Sphären an und kann diese dadurch in ihrer weiteren historisch-genetischen Entwicklungsrichtung prägen (vgl. ebd.: 89). Als Interpretationsfolie übernehme ich einen Gedanken Ingo Schulz-Schaeffers, wonach das webersche Konzept der Wahlverwandtschaft zwischen Puritanismus und kapitalistischem Geist eine Kausalität der »maßgeblichen Verursachung« ist (Schulz-Schaeffer 2010: 272; Hervorhebung PB). Der Form maßgeblicher Verursachung unterliegt »ein abgeschwächtes Kausalitätsverständnis« und ist nach Schulz-Schaeffer zu unterscheiden von der Form starker Kausalität (ebd.: 271). Letztere, so Schulz-Schaeffer, beziehe sich auf die nur innerhalb einer Sphäre stattfindende eigengesetzliche Entwicklung – so wie das Problem des Leidens oder die Theodizee den eigenlogischen Motor der religiösen Ideenevolution konstituieren. Eine maßgebliche Verursachung ereignet sich zwischen unterschiedlichen Sphären. Eine maßgebliche Ursache ist einerseits notwendige Bedingung, andererseits eine Bedingung, »die unter sonst gleichen oder vergleichbaren Umständen den spezifischen Unterschied mit Blick auf die Entstehung des interessierenden Phänomens ausmachen« (ebd.: 272; Hervorhebung PB). Dieser durch die puritanische Religion bedingte Unterschied ist das Berufsethos. Beide, Ökonomie und Religion, besitzen jeweils für sich eigengesetzliche Entwicklungsrichtungen, die an einem bestimmten Punkt der Geschichte konvergieren, derart, dass das eigengesetzlich geschaffene puritanische Ethos innerhalb der Ökonomie eine für den modernen, rationalen Kapitalismus bedeutsame Komponente unter anderen kausal hervorbringt, das bereits genannte, später dann seinem religiösen Ursprung entkleidete Berufsethos (vgl. ebd.: 273). Weber negiert damit explizit nicht über diesen Punkt hinausgehende Wechselwirkungen »zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen« (Weber 1988a: 83). Entgegen einer materialistischen Reduktion ging es Weber um »einen Beitrag […] zur Veranschaulichung der Art, in der überhaupt die ›Ideen‹ in der Geschichte wirksam werden.« (Ebd.: 82). Die religiös-ethische Seite war Weber bedeutsam genug, um der materialistischen eine idealistische Erklärung zur Seite zu stellen; nicht aber: sie gegeneinander auszuspielen. Nach ihrer handlungspraktischen und schließlich historischen Konsequenz im Fokus stehen wird nun die calvinistische Prädestinationslehre der »Gnadenwahl«

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(ebd.: 89; Hervorhebung im Original). Die geschichtliche Bedeutung dieser Lehre sowie des asketischen Puritanismus überhaupt nach seinen kulturgeschichtlichen Wirkungen hin stufte Weber in seiner teils recht polemischen Replik auf den Historiker Felix Rachfahl explizit als »sehr hoch« ein (Weber 1982: 325; Hervorhebung im Original).22 Die Wahlverwandtschaft zwischen religiöser Weltanschauung und kapitalistischem Geist ist auf inner-reformatorische (Differenzierungs-)Entwicklungen zurückzuführen, die mit Martin Luther einerseits erst ermöglicht, andererseits jedoch, wie Weber es darstellt, unwahrscheinlicher gemacht worden sei. Die lutherische Reformation hat nach Weber aber die ideelle Grundlage für die kausal-genetische Wirkmächtigkeit der Religion in der Konstitution des kapitalistischen Geistes geschaffen, nämlich den Begriff und die Vorstellung vom Beruf als ein Berufen-Sein zu einer bestimmten Arbeit. Der Begriff, so Weber, entstamme »in seinem heutigen Sinn […] den Bibelübersetzungen« und hier genauer »dem Geist der Uebersetzer«, er stamme dagegen »nicht aus dem Geist des Originals.« (Weber 1988a: 65) Die protestantische Begriffsschöpfung bewirkte eine Versittlichung der Arbeit als eine von Gott gewollte Pflicht. Bis zur Reformation dagegen, so Weber, sei die diesseitige Arbeit »sittlich an sich indifferent [gewesen] wie Essen und Trinken.« (Ebd.: 70) Die »weltliche Berufsarbeit« werde zum »Ausdruck der [brüderlichen] Nächstenliebe«, indem »die Arbeitsteilung jeden einzelnen zwinge, für andere zu arbeiten.« (Ebd.: 71; Hervorhebung im Original) Das in der Praxis weltflüchtige Mönchsleben dagegen gelte vor Gott als »Produkt egoistischer, den Weltpflichten sich entziehender Lieblosigkeit.« (Ebd.: 71) Luther habe eine im Vergleich zur philosophischen (und katholischen) Spätscholastik des Mittelalters geradezu »›rückständige‹ Vorstellungsweise vom Wesen des kapitalistischen Erwerbes« gehabt, so Weber (ebd.: 74). Als ein Beispiel nennt Weber Luthers Stellung gegen die Zinsnahme unter Berufung auf die »Unproduktivität des Geldes« (ebd.: 74). Ferner war das Individuum bei Luther auch zum Verbleib innerhalb seines von Gott zugewiesenen Standes aufgefordert – das Ergreifen wie Suchen der Chance war nicht die Sache der lutherischen Reformation (vgl. ebd.: 76-78). Eine kapitalistische Umwälzung der Verhältnisse war nicht ihre Intention, der Sachlogik nach war deren Keim dennoch in ihr angelegt, und zwar in der ethischen Wertung des Berufes: Der »Gedanke des ›Berufes‹ im religiösen Sinn war in seinen Konsequenzen für die innerweltliche Lebensführung sehr verschiedener Gestaltung fähig. – Die Leistung der Reformation als solcher war zunächst nur, daß, im Kontrast gegen die katholische Auffassung, der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (ebd.: 74; Hervorhebung im Original).

22 Randall Collins zufolge habe Weber gegen Ende seines Lebens seine Ansicht zur historischen Bedeutsamkeit der protestantischen Arbeitsethik revidiert (vgl. Collins 1980). Hätte Weber noch weiter gelebt, so Collins Überzeugung, »he would have found that the High Middle Ages were the most significant institutional turning point of all on the road to the capitalist takeoff.« (Ebd.: 934, Fn. 11) Collins These ist allerdings umstritten und, soweit ich sehen kann, entspricht sie nicht dem Mainstream (vgl. Schulz-Schaeffer 2010: 269-70).

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An der durch die Reformation geschaffenen Berufsidee konnten weitere Auszweigungen eines religiösen Rationalisierungsprozesses andocken, wie beispielsweise im Falle der calvinistischen Prädestinationslehre. Die Prädestination stellt eine der drei oben genannten rationalsten Formen der Theodizee dar, indem der Anspruch auf Sinndeutung schlichtweg aufgegeben und Gott in eine durch den Menschen unbeeinflussbare Distanz in die Transzendenz geschoben wird (vgl. Kapitel 9.2.1 in diesem Buch). Den katholischen Priester bezeichnet Weber noch als »Magier«, weil er Sünden stellvertretend für Gott vergeben und Erlösungshoffnung machen könne (Weber 1988a: 114). Im Calvinismus falle jede Beeinflussung Gottes und damit auch: jeder Rest von Magie weg, so Weber (vgl. ebd.: 93-95). Die Prädestinationslehre besagt, dass Gott vor Anbeginn der Zeit bestimmte Individuen zum »ewigen Leben«, andere zum »ewigen Tode« vorherbestimmt hat (ebd.: 90). Ein für das Individuum erkennbares Zeichen der Erwähltheit in den »Gnadenstand« gibt es nicht. Vollständig unabhängig davon besteht für den Menschen die gottgegebene Pflicht zur Arbeit im Beruf. Die Pflicht zur »Berufsarbeit« ist ebenso wie die »soziale Arbeit des Calvinisten« Mittel zum Zweck der »Mehrung des Ruhmes Gottes« (ebd.: 100; Hervorhebung im Original). »Nicht Gott ist um der Menschen, sondern die Menschen sind um Gottes willen da, und alles Geschehen – also auch die für Calvin zweifellose Tatsache, daß nur ein kleiner Teil der Menschen zur Seligkeit berufen ist – kann seinen Sinn ausschließlich als Mittel zum Zweck der Selbstverherrlichung von Gottes Majestät haben.« (Ebd.: 92)

Der Mensch hat – theologisch und ethisch – keinen Anspruch an Gott (zu stellen). Die Unbeeinflussbarkeit des eigenen Schicksals bewirkt praktisch eine religiöse Individualisierung in der Form einer Vereinsamung oder, mit Simmel, des individuellen Auf-Sich-Gestellt-Seins. So spricht Weber von dem »Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums« (ebd.: 93; Hervorhebung im Original) und einem »illusionslosen und pessimistisch gefärbten Individualismus« (ebd.: 95). Der lutherische Sinn der in der arbeitsteiligen Berufsarbeit artikulierten »Nächstenliebe« bleibt, sie nimmt im Calvinismus allerdings »einen eigentümlich sachlichunpersönlichen Charakter an: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos.« (Ebd.: 101; Hervorhebung im Original). Weber fragt nun nach der psychologischen Tragfähigkeit einer solchen Lehre. Gerade weil das Jenseits eine so umfassende Bedeutung im Alltagsleben gehabt habe, habe sich die Frage nach Zeichen der eigenen Erwähltheit fast unweigerlich aufgedrängt, zumindest für »die breite Schicht der Alltagsmenschen […] mußte die […] Erkennbarkeit des Gnadenstandes zu absolut überragender Bedeutung aufsteigen« (ebd.: 104). Diese Stelle ist von hoher Bedeutsamkeit, da sich erst hierdurch die Tür öffnete für ein katalytisch wirkendes Wahlverwandtschaftsverhältnis zwischen protestantischer Arbeitsethik und kapitalistischem Geist.23 Schließlich ist es nicht ersichtlich, wie ein in keiner Weise zu beeinflussendes Schicksal zur rastlosen Arbeit statt zu einer fatalistisch-resignativen Lebenseinstellung führen sollte: »Vor allem die

23 So auch explizit Wolfgang Schluchter (1976: 273).

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Praxis der Seelsorge« war »mit den durch die Lehre geschaffenen Qualen« konfrontiert (ebd.: 104-105). Dem religiösen Virtuosen Johann Calvin reichte die eigene Selbstgewissheit seiner Erwählung, die Möglichkeit einer äußerlichen Erkennbarkeit lehnte er ab (vgl. ebd.: 103-04). Eine praktische Möglichkeit für die religiösen Laien war nun Uminterpretation bis zur Aufgabe der calvinistischen Prädestinationslehre (vgl. ebd.: 105). Eine zweite – die für Weber kulturhistorisch bedeutsamere – Möglichkeit bestand darin, an der Lehre festzuhalten und auf Zeichen, nicht: Mittel des eigenen Auserwähltseins zu setzen, und zwar den Erfolg im Berufsleben, deren praktische Auswirkung die für den kapitalistischen Geist so wichtige »rastlose Berufsarbeit« war (ebd.: 105; Hervorhebung im Original). Daneben wurde der Glaube an die eigene Erwählung zur Pflicht gemacht. Zweifel sind des Teufels und ein Symptom »unzulänglicher Wirkung der Gnade« (ebd.: 105). Der zur göttlichen Pflicht gemachte Glaubensvorschuss hat sich nun ex post »in seinen objektiven Wirkungen [zu] bewähren, um der certitudo salutis als sichere Unterlage dienen zu können.« (Ebd.: 108) Die Bewährung besteht vorrangig im Berufsleben und bemisst sich an der »Qualität jenes Handelns«, und zwar als ein Handeln, das »von Gott gewirkt« ist (ebd.: 108). Nach wie vor ist der von Gott geschaffene und perpetuierte Kosmos vollständig determiniert, ein Einfluss auf Gott ist nicht möglich, der Erfolg wie der Misserfolg im Beruf ist deshalb ein Zeichen des Wirken Gottes in der Welt. Der Mensch bleibt in dieser Lehre Werkzeug und Mittel zum Zweck der Selbstverherrlichung Gottes, und das erfolgreiche Schaffen im Berufsleben ist nicht Mittel, sondern Symptom des eigenen Gnadenstandes. Psychologisch gesehen aber verändert sich die Sachlage vollständig, denn aus dieser – und nur aus dieser – Sicht wird das Zeichen – der Erfolg – zum begehrten Mittel des eigenen Heils: »So absolut ungeeignet also gute Werke sind, als Mittel zur Erlangung der Seligkeit zu dienen […], so unentbehrlich sind sie als Zeichen der Erwählung. Sie sind das technische Mittel, nicht die Seligkeit zu erkaufen, sondern: die Angst um die Seligkeit loszuwerden.« (Ebd.: 110). Die Konsequenz der ausschließlichen Orientierung der individuellen Lebensführung am eigenen Heilsschicksal war die Permanenz einer »systematischen Selbstkontrolle« (ebd.: 111; Hervorhebung im Original). Das Neue durch den Calvinismus in die Welt gebrachte war die Systematizität von Handlungen. Anders dagegen im Katholizismus, wenn nicht gerade das Klosterleben gemeint war, deren ebenfalls asketisch-rationalisierende Lebensweise außerweltlich blieb (vgl. ebd.: 116-19). Die katholische Kirche, so Weber, habe der Wechselhaftigkeit der menschlichen Natur noch Tribut gezollt. Die »traditionellen Pflichten« waren zu erfüllen, Sünden konnten durch den Priester vergeben, schlechte mit guten Handlungen verrechnet werden (ebd.: 113). Der »Priester war ein Magier, der das Wunder der Wandlung vollbrachte« (ebd.: 114). Der Calvinist wurde an seinen Ergebnissen gemessen, der Katholik an der Gesinnung, mit welcher er einzelne Handlungen vollzog, ungeachtet ihrer Konsequenzen. Die faktische Verantwortung für die Ergebnisse – und damit die Zeichen des individuellen Gnadenstandes – des eigenen Handelns veranlasst den Einzelnen zur die Partikularität von Handlungen übersteigenden, sie umfassenden Rationalisierung seines Handelns: »Das Leben des ›Heiligen‹ war ausschließlich auf ein transzendentes Ziel: die Seligkeit, ausgerichtet, aber ebendeshalb in seinem diesseitigen Verlauf durchweg rationalisiert und beherrscht von dem ausschließlichen Gesichtspunkt: Gottes Ruhm auf Erden zu mehren« (ebd.: 115; Hervorhebung im Origi-

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nal). Ferner spricht Weber auch von »einer konsequenten Methode der ganzen Lebensführung«, von einer »zum System gesteigerte[n] Werkheiligkeit« (ebd.: 114; Hervorhebung im Original). Die Transzendenz Gottes wirkt durch ihre die immanente Welt rationalisierende Kraft – »das weltliche Alltagsleben […] in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten.« (Ebd.: 163; Hervorhebung im Original) Gewinn- und Aufstiegsmöglichkeiten sollen genutzt werden, denn es sind Chancen und Wege, die Gott selbst eröffnet: »Denn für jeden ohne Unterschied hält Gottes Vorsehung einen Beruf (calling) bereit, den er erkennen und in dem er arbeiten soll« (ebd.: 172). Ein Ausschlagen einer Möglichkeit ist das Ausschlagen des Auftrages, »Gottes Verwalter zu sein« (ebd.: 176). Die Akkumulation von Kapital und der Erfolg im Berufsleben werden dann auch nur soweit verachtet, als sie um ihrer selbst willen gesucht werden (vgl. ebd.: 165-67). Die »Erlangung des Reichtums als Frucht der Berufsarbeit« bedeutet »aber den Segen Gottes.« (Ebd.: 192; Hervorhebung im Original) Das im Beruf produzierte hat aber zuvorderst – von Weber nicht näher definierte – Sittlichkeits- und Nützlichkeitskriterien zu erfüllen, erst in diesem Rahmen ist Gewinnstreben erlaubt (ebd.: 175). Der Beruf gewinnt einen die weltlichen Ordnungen um sich herum zentrierenden Charakter. Die Lebensführung wird in den zweckrationalen Dienst der Arbeit genommen. Sowohl Kapitalseite als auch Arbeiterschaft werden rationalisiert zur Berufspflicht: Produktivitätserhöhung durch den Gedanken an die Pflicht (ebd.: 201). Das ganzheitliche Erscheinungsbild des Puritaners ist »nüchterne Zweckmäßigkeit« (ebd.: 187). Überflüssiger, bloß dem Genuss und von der Arbeit ablenkender Luxus sind ebenso gering geschätzt wie Small Talk (vgl. ebd.: 187). Auf der Linie der zweckrationalen Verachtung alles Triebhaften liegt auch die Wendung »gegen die rein triebhafte Habgier« (ebd.: 191). Ergebnis – nicht Selbstzweck – ist ein durch die Ausrichtung auf den Beruf bedingter Habitus der Rastlosigkeit, auch die (Bett-)Ruhe ist nur das notwendige Mittel der Lebensführung (vgl. ebd.: 167). Es dominiert »die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen« (ebd.: 192). Und: »Nicht Muße und Genuß, nur Handeln dient nach dem unzweideutig geoffenbarten Willen Gottes zur Mehrung seines Ruhms.« (Ebd.: 167; Hervorhebung im Original) Auf die die ökonomische Sphäre betreffenden Auswirkungen bricht das puritanische Ethos den traditionalistischen Geist der Lebensführung: Konsum und Investition werden nicht an einem zu haltenden Status Quo ständisch-aristokratischer Lebensführung orientiert, sondern nehmen ebenso zweckrationale Form an, dem gottgewollten Erfolg im Berufsleben – ob als Arbeiter oder Arbeitgeber – zu dienen: »Die innerweltliche protestantische Askese […] wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion, ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern […] direkt als gottgewollt ansah.« (Ebd.: 190; Hervorhebung im Original)

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Und weiter auf dieser Linie bleibend stellt Weber die Hypothese einer sich phänomenologisch in Form und Maß von Kapitalakkumulation zeigenden negativen Korrelation zwischen Konsumtion und Investition auf: »Und halten wir nun noch jene Einschränkung der Konsumtion mit dieser Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang. Die Hemmungen, welche dem konsumtiven Verbrauch des Erworbenen entgegenstanden, mußten ja seiner produktiven Verwendung: als Anlagekapital, zugute kommen.« (Ebd.: 192-93; Hervorhebung im Original)

Die religiöse Lebensführung trat fortan in eine mal mehr, mal minder ausgeprägte Spannungsbeziehung zu den anderen Wertsphären. Dem puritanischen Geiste waren deren Inhalte dann adäquat, sofern sie zum zweckrationalen Mittel seiner allein am Ruhme Gottes orientierten Lebensführung taugten, eine am Eigenwert weltlicher Sphären orientierte Wertrationalität wurde dagegen kritisch beäugt. Sexualität darf nicht selbstzweckhafte, an der Lust orientierte Erotik, Sport nicht um seiner selbst willen geübte Körperkultur sein. Sport als Mittel der Wiederherstellung oder Steigerung körperlicher Fitness für das gottgewollte Berufsleben ist dagegen ebenso legitim wie sexuelle Fortpflanzung als Mittel zum Zweck der Steigerung des Gottesruhms (vgl. ebd.: 170, 184). Puritanische Wertschätzung erfährt die Wissenschaft, nicht die (mittelalterlich-scholastische) Philosophie (ebd.: 184-85). Der staatlichen Obrigkeit gegenüber entwickelte der Puritaner einen »antiautoritären asketischen Zug« (ebd.: 183; Hervorhebung im Original). In ästhetischen Gefilden war der Puritaner der »Sinnenkunst« gegenüber feindlich eingestellt (ebd.: 185), das »Theater war dem Puritaner verwerflich«, ebenso Erotik und »Nuditäten« (ebd.: 186-87). Gleichwohl, so konzediert Weber, habe der »Puritanismus eine Welt von Gegensätzen in sich [eingeschlossen]«, er habe einen »instinktive[n] Sinn für das zeitlos Große in der Kunst gehabt«, und Rembrandt – selbst ja calvinistischen Kreisen entstammend – sei »doch in der Richtung seines Schaffens durch sein sektiererisches Milieu ganz wesentlich mitbestimmt [worden]« (ebd.: 188). In einer Fußnote beruft sich Weber positiv auf ein Rembrandtbuch des Kunsthistorikers Carl Neumann (vgl. ebd.: 188, Fn. 3). Ob Weber den 1916 erschienen »Rembrandt« Simmels gelesen hat, ist mir unklar. Immerhin hatte Simmel seinen 1912 publizierten und ähnlich gelagerten »Goethe« Marianne Weber gewidmet. Die puritanische Religion wies also, alles in allem, unterschiedliche Spannungs- wie Passungsbeziehungen zu den weltlichen Sphären auf, immer aber beobachtet als Mittel zum Zweck der umfassenden religiösen Lebensführung. Die Entstehung einer rationalen, kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit den unpersönlichen Gesetzen des Marktes war eine nicht-intendierte Nebenfolge der religiösen Lebensführung. Was Weber in der »Zwischenbetrachtung« zu einer ausgedehnten Typologie möglicher Beziehungen der weltablehnenden Religionen zu den weltlichen Sphären ausformte, hatte er in der »Protestantischen Ethik« in Zügen bereits vorgezeichnet. Die puritanische Arbeitsethik wirkte nach Weber ökonomisch vor allem langfristig und erzieherisch auf die Form des kapitalistischen Geistes und einer rationalen Lebensführung hin, ohne dass später noch das ursprünglich nötige Vehikel einer religiösen Motivation vonnöten ist. »Ihre volle ökonomische Wirkung«, so Weber, habe die puritanische Arbeitsethik erst mit Überschreiten des Höhepunktes religiöser In-

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tensität erreicht, nachdem […] die religiöse Wurzel langsam abstarb und utilitaristischer Diesseitigkeit Platz machte« (ebd.: 197; Hervorhebung im Original). Die religiöse Rigidität habe abgenommen, die erzieherisch-sozialisierende Wirkung durch den puritanischen Geist aber, so Weber weiter, habe dessen Zenit überdauert: »Ein spezifisch bürgerliches Berufsethos war entstanden.« (Ebd.: 198; Hervorhebung im Original) Der einmal entstandene kapitalistische Geist bedarf keines religiösen Inhaltes mehr, und er ist de facto auch kaum noch religiös ›be-geistert‹. Der historische Grund dafür – die durch die Religion selbst getragene Entzauberung der Welt durch die Rationalisierung der Theodizee einerseits, sowie die unter anderem auch von religiösen Motiven getragene Wissenschaft – ist nicht das Thema der »Protestantischen Ethik«.24 Faktisch wirkte das puritanische Berufsethos innerhalb der Ökonomie auf die Ausdifferenzierung eines vom traditionalen Geist befreiten Wettbewerbs hin, an den sich die Unternehmer wie aber auch Lohnempfänger nun anzupassen hatten. Die rationale Handlungsorientierung drängt das traditionale, am Gewohnten – und nicht an Chancen – orientierte Sich-Verhalten aus der Wettbewerbsordnung heraus und schafft auf diese Art und Weise auch eine neue Lebensform kapitalistischen Marktwirtschaftens. Ferner war der Puritaner ein dezidierter Gegner von staatlich geschützten Monopolen und Privilegien des »Händler-, Verleger-, und Kolonialkapitalismus«, dem er das eigene Ethos »eigener Tüchtigkeit und Initiative« gegenüberstellte (ebd.: 201). Er war durch und durch ein Free-Marketeer. Die Rationalisierung der ökonomischen Wertsphäre liegt dann in der geschichtlich wirksam werdenden Logik dieser protestantischen Arbeitsethik begründet. Das von Weber gegebene Beispiel dafür ist die rational-kapitalistische ›Umkrempelung‹ des bis ins 19. Jahrhundert noch recht gemächlichen Verlagssystems. Letzteres meint in Webers Kontext nicht die Verlegung von Literatur, sondern die Handelsorganisation der »Textilindustrie« (ebd.: 51). Die vom bäuerlichen Zulieferer hergebrachten Rohstoffe wurden mit dem »üblichen Preise« entgolten, Kunden kauften »vom Lager«, persönlicher Kontakt zwischen Verleger und Kunden fand statt »wenn überhaupt, dann selten einmal in großen Perioden«, die Arbeitszeit war im Vergleich zu heute mit »5-6« Stunden am Tag durchschnittlich gering, der Profit sei ein »leidlicher, zur anständigen Lebensführung und in guten Zeiten zur Rücklage eines kleinen Vermögens ausreichender Verdienst«, und die Beziehungen zur Konkurrenz waren charakterisiert durch eine »relativ große Verträglichkeit«, »Dämmerschoppen, Kränzchen und gemächliches Lebenstempo überhaupt« waren charakteristisch (ebd.: 51) – ganz anders, als es die Beziehung des genuss- und geselligkeitsfeindlichen puritanischen Ethos zur Welt ist. Auf die Organisationsform hin betrachtet kapitalistisch, so Weber, sei der dahinterstehende Geist traditionalistisch: »[D]ie traditionelle Lebenshaltung, die traditionelle Höhe des Profits, das traditionelle Maß von Arbeit, die traditionelle Art der Geschäftsführung und der Beziehungen zu den Arbeitern und dem wesentlich traditionellen Kundenkreise, der Art der Kundengewinnung und des Absatzes

24 Wie schon erwähnt handelt es sich bei Webers Erwähnung des aus den Wurzeln antikhellenistischen Denkens mitbeeinflussten Entzauberungsprozesses um einen späten Einschub seinerseits, der nicht Gegenstand des Originals von 1904/05 war.

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beherrschten den Geschäftsbetrieb, lagen – so kann man geradezu sagen – dem ›Ethos‹ dieses Kreises von Unternehmern zugrunde.« (Ebd.: 52).

In »Wirtschaft und Gesellschaft« definiert Weber das traditionale soziale Handeln als ein »durch eingelebte Gewohnheit« definiertes Handeln, durch »die Bindung an das Gewohnte« und als »ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize.« (Weber 2010: 17) Gerade zu der Dumpfheit des sich an Gewohnheiten orientierenden Bewusstseins stellt das den kapitalistischen Geist gebärende puritanische Berufsethos einen Gegensatz dar. Den puritanischen Ethos, zuvorderst der durch die Unsicherheit über das eigene Heilsschicksal belastete calvinistische Ethos, führt ein äußerst bewusstes – oder auch waches –, alles auf die Schaffung der Zeichen des eigenen Erwähltseins hin zentrierendes Leben, einschließlich der fortwährenden kritischen Selbstkontrolle durch ein Tagebuch (vgl. Weber 1988a: 114-24). Der rationalisierende Geist des – nicht mehr unbedingt gläubigen – Unternehmers stört die vergleichsweise harmonisch verlaufenden Konkurrenzbeziehungen durch den Versuch, unterschiedliche Geschäftsbereiche von Einkauf, Produktion und Vertrieb preislich zu optimieren, beispielsweise durch den Versuch, das eigene Produktangebot an die Wünsche der Kunden anzupassen, oder durch eine Preissenkung zwecks Erhöhung des Absatzes. Er geht bewusst vor – »wägend und wagend zugleich« (ebd.: 53-54) –, nicht am Status Quo eigener Lebensführung orientiert, sondern orientiert an ökonomischer Optimierung des betrieblichen Ertrags. Er nimmt Gelegenheiten wahr und nutzt sie, welche das »dumpfe«, an den einmal eingeschlagenen Bahnen orientierte traditionale Wirtschaften gar nicht ›auf dem Schirm‹ hatte: »Alsdann nun wiederholte sich, was immer und überall die Folge eines solchen ›Rationalisierungs‹-Prozesses ist: wer nicht hinaufstieg, mußte hinabsteigen. Die Idylle brach unter dem beginnenden erbitterten Konkurrenzkampf zusammen, ansehnliche Vermögen wurden gewonnen und nicht auf Zinsen gelegt, sondern immer wieder im Geschäft investiert, die alte behäbige und behagliche Lebenshaltung wich harter Nüchternheit, bei denen, die mitmachten und hochkamen, weil sie nicht verbrauchen, sondern erwerben wollten, bei denen, die bei der alten Art blieben, weil sie sich einschränken mußten.« (Ebd.: 52; Hervorhebung im Original)

Es etabliert sich ein »Marktkampf« mit anderen am Markt teilnehmenden Betrieben, die Preise »sind Kampf- und Kompromißprodukte«, Geld ist »Kampfmittel und Kampfpreis« (Weber 2010: 77; Hervorhebung im Original). Existierte zuvor bereits ein gewissermaßen auf traditionale Art und Weise gewonnener, in seiner zu erwartenden Höhe selbst traditionaler Gewinn, schält sich ein vom kapitalistischen Geist zweckrational verfolgter und gepflegter Eigenwert des Gewinnmotives heraus, der den Marktteilnehmern aufgezwungen wird. Eine »Nichtbeachtung« der zweckrationalen Kapitalakkumulation zieht »die Folge des ökonomischen Mißerfolgs, auf die Dauer des ökonomischen Untergangs nach sich« (ebd.: 453). Der ursprünglich religiös motivierte kapitalistische Geist schafft damit auch eine neue Form der Marktordnung, die sich von ihren geistigen Ursprüngen verselbständigt – »von den alten Stützen emanzipiert« (Weber 1988a: 56) – und dann rückwirkend den ihm adäquaten kapitalistischen Geist und die dafür nötige rationale Lebensführung schafft: »Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft

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sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmer und Arbeiter – deren er bedarf.« (Ebd.: 37; Hervorhebung im Original). 9.2.4 Konvergenzen und Divergenzen Ich komme damit zu der meiner Analyse der »Protestantischen Ethik« zugrundeliegenden Vergleichshypothese zurück: In der Moderne nimmt der Kapitalismus bei Weber eine analoge Position ein wie das Geld bei Simmel. Ist das Geld für Simmel die absolute Einheit der dualistischen Wechselwirkung zwischen Leben und Form, so ist der Kapitalismus nach Weber die schicksalsvollste »Macht unseres Lebens« (ebd.: 4). Durch die Religion aus den Verflechtungen der Tradition gelöst, bestimmt der rationalisierte Kapitalismus »den Lebensstil aller einzelnen« (ebd.: 203). Für Simmel ist es die Geldform, welche sich verselbständigt und nicht zur Ruhe kommt, von dort aus rückwirkend auch das individuelle Leben zur großstädtischen Hast formt. Nicht die Hast des Geldes, aber die Ruhelosigkeit des Puritaners spielt in Webers Erzählung die prägende Rolle: Die Ruhe- wie Rastlosigkeit steht zunächst im Dienste Gottes, dann ist sie ein durch das einmal geschaffene kapitalistische Gehäuse aufgeprägtes Element einer rationalen Lebensführung. Schließlich weist Webers Wahlverwandtschaftshypothese zwischen puritanischer Arbeitsethik und kapitalistischem Geist eine Nähe zur simmelschen Formähnlichkeitshypothese »zwischen der höchsten wirtschaftlichen und der höchsten kosmischen Einheit« auf (PDG: 306). Webers Narrativ ist allerdings ein kausal-genetisches, beruhend auf einer funktionalen wie historisch kontingenten Konvergenz zwischen Wirtschaft und Religion im Beruf. Simmels Narrativ ist eines der funktionalen Äquivalenz – oder auch Konvergenz – zwischen der symbolischen Geldform und dem Gottessymbol, beruhend auf einem vorausgesetzten geschichtlichen Wandel, innerhalb dessen das Geld die Position Gottes usurpiert als Symbol der absoluten Einheit des Seins. Diese Differenz gilt unter der Voraussetzung der von Weber und Simmel geteilten Annahme, dass die Individualität die Letztreferenz des historischen Kulturwandels ist. Auch dies gehört allerdings noch weiter nuanciert – nicht zuletzt vor dem vitaldualistischen Hintergrund der Lebensphilosophie Simmels: Jede Individualität ist eine Form des überindividuellen Lebens, und nur als solches schafft das individuelle Leben Formen und zerstört sie, eignet sich Inhalte der Form an und kämpft gegen deren Vereinnahmung. Die individuelle Lebensführung ist eine inhärent dualistische. Wie Birgitta Nedelmann und Gregor Fitzi nachweisen konnten, ist die Metaphysik des aus sich selbst heraus dynamisierenden Lebens in der dualistischen Form von Leben und Form einer Auseinandersetzung Simmels mit dem Historischen Materialismus geschuldet: An die Stelle der die Produktionsverhältnisse schaffenden wie überwindenden Produktivkräfte tritt, metaphysisch generalisiert, der schöpferische wie zerstörerische Vitaldualismus (vgl. Nedelmann 1984: 101-03; Nedelmann 1991: 172; Fitzi 2003a). Weber stellt den aus ökonomischen Kategorien und Positionen ableitbaren Interessen das subjektiv sinnhafte Sich-Verpflichten gegenüber nichtökonomischen Ideen zur Seite (vgl. Schluchter 1988: 75-77). Für Letzteres steht die »Idee einer Berufspflicht« (ebd.: 75; Hervorhebung im Original) sowie der der wertrationalen Orientierung an Eigenwerten zugrundeliegende Wunsch von Menschen, »ihr Dasein in Wertideen zu verankern.« (Ebd.: 77) Beider Konzepte, Webers wie Simmels, können als Stellungnahmen zum Universalanspruch des Historischen Mate-

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rialismus gelesen werden, gegen den sie sich wendeten (vgl. Kocka 1973; Mommsen 1974: 259-62; Schluchter 1988: 64-80; 93-102; Cavalli 1994: 233-36). Ohne die Erklärungskraft ökonomischer Bedingungen generell in Zweifel zu ziehen, ergänzten oder generalisierten Weber und Simmel den materialistischen Faktor um einen idealistischen Faktor der Erzeugung der Geschichte. Dieser idealistische Faktor mag als Apriori, Geist, Leben, Motiv, Sinn oder als Wirtschaftsethik einer Weltreligion bezeichnet werden, jeweils kommt der geistigen Komponente eine nicht auf eine materialistische Komponente zu reduzierende Eigenkraft der Erklärungsleistung zu, so dass Materialität und Idealität – oder bei Simmel: Leben und Form – zwei konstitutiv miteinander in Wechselwirkung stehende, nicht aufeinander zu reduzierende Prinzipien eines Systems bilden. Zunächst zu Simmel. Für seine Stellungnahme zum Historischen Materialismus berufe ich mich auf zwei Quellen, die »Philosophie des Geldes« und die »Probleme der Geschichtsphilosophie«. Das Verhältnis zwischen Geist und Ökonomie begreift Simmel in der »Vorrede« zur »Philosophie des Geldes« explizit als eine Form der irrreduziblen Wechselwirkung. Die Kulturwelten, so Simmel, ruhten auf ökonomischen Voraussetzungen, die ökonomischen Voraussetzungen seien aber ihrerseits abhängig von geistigen und sogar metaphysischen Voraussetzungen: »[D]em historischen Materialismus [ist] ein Stockwerk unterzubauen, derart, daß der Einbeziehung des wirtschaftlichen Lebens in die Ursachen der geistigen Kultur ihr Erklärungswert gewahrt wird, aber eben jene wirtschaftlichen Formen selbst als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja, metaphysischer Voraussetzungen erkannt werden. Für die Praxis des Erkennens muß sich dies in endloser Gegenseitigkeit entwickeln: an jede Deutung eines ideellen Gebildes durch ein ökonomisches muß sich die Forderung schließen, dieses seinerseits aus ideellen Tiefen zu begreifen, während für diese wiederum der allgemeine ökonomische Unterbau zu finden ist, und so fort ins unbegrenzte.« (PDG: 13)

Wie ich in Kapitel 8.2.4 dieses Buches versucht habe zu zeigen, vertritt Simmel eine Transzendentaltheorie des Geldes, wonach das geistige Tauschapriori sich in der das Individuum dann umfassenden Geldform objektiviert, welche dann befreiend wie gleichermaßen bindend auf das individuelle Leben zurückwirkt. Die »Probleme der Geschichtsphilosophie« stellen gemäß dem Wortlaut des »Vorworts« die transzendentalphilosophische Frage: »Wie ist Geschichte möglich?« (PGP: 229) So wie Simmel beispielsweise nach den Möglichkeitsbedingungen von Gesellschaft, Religion oder Ökonomie fragt, verfährt Simmel auf dem Gebiet der Geschichtsforschung, und seine Antwort hält die transzendentalphilosophische Linie Kants ein: »Die Freiheit des Geistes, die formende Produktivität ist, [ist] gegenüber dem Historismus auf demselben Wege zu wahren, den Kant der Natur gegenüber eingeschlagen hat« (ebd.: 231). Der Geist schafft Geschichte. Auf den transzendentalphilosophischen Aspekt komme ich gleich noch einmal zu sprechen. Jede Fachwissenschaft aber, so hatte ich bereits in Kapitel 3 dieses Buches mit Simmel ausgeführt, grenzt zu zwei Seiten zur Philosophie. Den Voraussetzungen des Gegenstandsbereichs im individuellen Bewusstsein ist dann zur anderen Seite hin einerseits die Frage nach dem Sinn der Geschichte zur Seite zu stellen, andererseits die Frage danach, »welches absolute Sein, welche transzendente Wirklichkeit hinter dem Erscheinungscharakter der empirisch-historischen Gegebenheiten [steht]« (ebd.: 362).

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In diesem letztgenannten Sinne widmet sich Simmel dem Historischen Materialismus: als transzendent wirkende Determination des geschichtlichen Geschehens. Dem Historischen Materialismus zufolge, so Simmel, seien es »das wirtschaftliche Leben, der Bau und die Vorgänge des Gruppenlebens, die auf die Produktion und die Verteilung der Unterhaltsmittel gerichtet sind, die Gesamtheit des geschicht-lichen Lebens nach sich bestimmten: die innere wie die äußere Politik, die Religion wie die Kunst, das Recht wie die Technik.« (Ebd.: 401)

Die Ökonomie wäre demnach selbst eine metaphysische Kraft, welche die zunächst ihm angemessenen Formen schafft, um sie dann zu zerstören und neue, nun wieder angemessene Formen zu schaffen – »eine Parthenogenesis der wirtschaftlichen Zustände.« (Ebd.: 407) Würde die Ökonomie nicht als wechselwirkend mit den anderen Seiten des Kulturlebens begriffen, müsste man auf »eine geheime Metaphysik« zurückgreifen, »in der die ›Selbstbewegung der Idee‹ weiterlebt.« (Ebd.: 408) Als heuristisches Instrument sei der Historische Materialismus aber eine probate Formungsperspektive neben anderen zur Erkundung der als solcher nie greifbaren Totalität des historischen Geschehens. Auf ihren Wahrheitsanspruch einer Universaltheorie des gesetzhaften Ablaufs der Geschichte hin betrachtet impliziere die Zurückführung allen Handelns und Verhaltens auf ein unbewusst wirkendes »Interesse an der ›Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens‹« aber einen dogmatischen Abbruch des Begründungsverfahrens (ebd.: 404). Eingehend auf das historische Zusammenspiel von Nationalstaatsbildung und der Entstehung der Großindustrie zeigt Simmel die Grenzen des Alleinerklärungsanspruchs des Historischen Materialismus auf: »Wir hören z. B.: die Großindustrie kann wegen der Beschaffenheit ihrer Materialien und des Absatzes ihrer Produkte keine Vielheit kleiner Staaten brauchen, und sie habe deshalb die großen Einheitsstaaten der letzten Zeit, Deutschland und Italien, geschaffen. Angenommen, diese Kausalität träfe zu – wie steht es mit Frankreich und England, deren Staatseinheit doch nicht durch die Großindustrie bewirkt sein kann? Vielleicht ist auch sie seinerzeit aus wirtschaftlichen Ursachen hervorgegangen; allein, nachdem sie einmal da war, hat sie ihrerseits dort das Entstehen der Großindustrie aus denselben Zusammenhängen heraus begünstigt, aus denen andernorts die umgekehrte Kausalität zu gelten scheint, und ebenso hat auch in dem letzteren Falle der einmal geschaffene Großstaat unzählige Großindustrien erst hervorgerufen.« (Ebd.: 40405; Hervorhebung im Original)

Man könnte auf dem Zeitstrahl weiter in die Vergangenheit zurückgehen und die staatliche Einheit Frankreichs und Englands auf eine ökonomische Ursache zurückführen. Allein, so Simmel, dieses Vorgehen sei jedoch insofern fragwürdig, als dass man die Kausalkette an einem beliebigen Punkt beenden würde. Nichts spreche aber dagegen, umgekehrt ökonomische Tatsachen politisch, rechtlich oder religiös zu erklären. In diesem Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem historischen Materialismus kommt Simmel auf das uns hier interessierende kausalgenetische Verhältnis zwischen Calvinismus und Ökonomie zu sprechen:

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»Ein anderes Beispiel aus der Marxistischen Literatur: Calvins Gnadenwahl sei nichts als der Ausdruck der Tatsache, daß in der Handelswelt der Konkurrenz Erfolg oder Bankerott nicht von der Tätigkeit und dem Geschick des Einzelnen abhängen, sondern von unbekannten Übermächten, und das gelte ganz besonders von jener Zeit ökonomischer Umwälzung. Wenn dies mehr als ein Witz ist, so ist es jedenfalls umkehrbar: ein Gemeinwesen, in dem es aus rein religiösen Gründen zu fatalistischen Überzeugungen gekommen ist, wird in allen Lebensbeziehungen, also auch in ökonomischen, zum laisser aller neigen, da man von der Nutzlosigkeit aller prinzipiellen Vorsorge, aller menschlichen Teleologie und Regulierung durchdrungen ist.« (Ebd.: 405)

Die religiöse Vorstellung calvinistischer Gnadenwahl ist nicht nur als Ableitung aus der überindividuellen Logik des Marktes zu verstehen, sondern umgekehrt kann ein religiös begründeter Fatalismus eine Deregulierung der ökonomischen Tätigkeit mit sich bringen. Mehr sagt Simmel an dieser Stelle nicht zum Wechselverhältnis zwischen Wirtschaft und Religion. Damit zu Weber. Gleich wie Simmel lehnte Weber eine Erklärung der »Gesamtheit der Kulturerscheinungen« durch die »sogenannte ›materialistische Geschichtsauffassung‹« ab, und zwar »auf das Bestimmteste« (Weber 1922: 166-67). Anders dagegen verhalte es sich, solange die ökonomische Bedingtheit sozial-kultureller Phänomene eine heuristische Vereinseitigung sei (vgl. ebd.: 167). Wie für Simmel ist der Historische Materialismus für Weber ein »von seinem Absolutheitsanspruch« befreites »heuristisches Prinzip«, welches »eine Methode unter anderen« darstellt (Kocka 1973: 57). Dabei ist es immer das Subjekt, welches den Dingen einen, wenn auch selektiven, Sinn gibt, die Feststellbarkeit eines objektiven Sinnes der Geschichte lehnte Weber ab (vgl. Mommsen 1974: 259). Wolfgang Schluchter betont denn auch, dass für Weber eine »gesichtspunktabhängige Partialerkenntnis das einzig Erreichbare [sei].« (Schluchter 1988: 71) Weber, so Schluchter, lehnte so die Reduktion der individuellen Lebensführung auf eine »Inkorporation ökonomischer Kategorien« wie »Kapital und Lohnarbeit« ab (ebd.: 77; Hervorhebung im Original). Zum Vergleich: Für Simmel war das individuelle Leben Träger und Vehikel der ökonomischen Reproduktion, dies aber – dem Idealtypus nach – nur nach der notwendig-energetischen Seite hin, während der – wie auch immer dann näher zu quantifizierende – ›Rest‹ ganzheitlicher Individualität außen vor blieb. Simmel behauptete unter explizitem Bezug auf Karl Marx, das Geld sei es, welches das Sein vom Haben, d. h. der Ökonomie, weitgehend entkoppele (vgl. PDG: 410). Die Geldform löst die Reduktion des individuellen Seins auf die ökonomische Position und erlaubt von dort aus die eigenselektive Vergesellschaftung und Kultivierung. Teilweise in expliziter Abgrenzung zu geschichtsmaterialistischen Erklärungen verfolgte Weber in der »Protestantischen Ethik« ein dezidiert idealistisches Programm (vgl. Schluchter 1988: 67). Seine »Studie« verstehe er »auch [als] einen Beitrag […] zur Veranschaulichung der Art, in der überhaupt die ›Ideen‹ in der Geschichte wirksam werden.« (Weber 1988a: 82) Das bedeutet nicht, Max Weber hätte um die sozioökonomische Eigenbedeutung von Geld nicht gewusst.25 Dass eine

25 Wolfgang Streeck greift in seiner Argumentation für die Hypothese, der Euro sei eine zwischen den zwei unterschiedlichen Kapitalismuskulturen Nord- und Südeuropas umkämpfte

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Preisinflation die ökonomischen Verhältnisse nicht indifferent lässt, sondern aufgrund mangelnder zeitlicher Flexibilität kontraktueller Zahlungsverpflichtungen (Weber nennt Lohn und Rente) je nach Ausprägung eine »chronische Tendenz zur sozialen Revolution« in sich bergen, betonte der politisch denkende Weber (2010: 145; Hervorhebung im Original). Ebenso thematisierte er im Kontext von Überlegungen zur Geldpolitik – ein anderes Beispiel – das durch ihre ökonomische Lage bedingte Interesse an einer Abwertung der inländischen Währung seitens exportorientierter Unternehmen (vgl. ebd.: 137). Das Beispiel zeigt aber schon, auch für Weber gilt: »›Geld‹ ist keine harmlose ›Anweisung auf unbestimmte Nutzleistungen‹, welche man ohne grundsätzliche Ausschaltung des durch Kampf von Menschen mit Menschen geprägten Charakters der Preise beliebig umgestalten könnte, sondern primär: Kampfmittel und Kampfpreis, Rechnungsmittel aber nur in der Form des quantitativen Schätzungsausdrucks von Interessenkampfchancen.« (Ebd.: 77; Hervorhebung im Original)

Geld ist Form, Weber interessiert zugleich aber die Differenz, welche der in der Form lebende Geist macht. Die Verfügbarkeit oder Nicht-Verfügbarkeit über Geldkapital – zumindest in einem gewissen, nicht näher definierten Spielraum – habe so eben nicht die entscheidende Rolle in der Ausdehnung kapitalistischen Wirtschaftens gespielt, sondern der sein Geldkapital sich selbst schaffende Geist: »Die Frage nach den Triebkräften der Expansion des modernen Kapitalismus ist nicht in erster Linie eine Frage nach der Herkunft der kapitalistisch verwertbaren Geldvorräte, sondern vor allem nach der Entwicklung des kapitalistischen Geistes. Wo er auflebt und sich auszuwirken vermag, verschafft er sich die Geldvorräte als Mittel seines Wirkens, nicht aber umgekehrt.« (Weber 1988a: 53; Hervorhebung im Original)

Als ein Beispiel bezieht sich Weber auf das US-Amerikanische Pennsylvania des 18. Jahrhunderts. Das Bankwesen sei dort im Entstehen begriffen gewesen und es habe chronischer Geldmangel geherrscht. Trotzdem aber, so Weber, sei der sich am Berufserfolg orientierende puritanische Geist bereits da gewesen: »Hier von einer ›Widerspiegelung‹ der ›materiellen‹ Verhältnisse in dem ›ideellen Ueberbau‹ reden zu wollen, wäre ja barer Unsinn.« (Ebd.: 60; Hervorhebung im Original) Zum Abschluss der »Protestantischen Ethik« meint Weber schließlich, Materialismus und Idealismus wieder zusammenfügend, es könne »natürlich nicht die Absicht sein, an Stelle einer einseitig ›materialistischen‹ eine ebenso einseitig spiritualistische kausale Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide sind gleich

Institution, explizit auf soziologische Überlegungen Max Webers zum Geld zurück (vgl. Streeck 2015). Streeck meint, neben einer Theorie Adam Smith’ vom neutralen, allein aus Interesse am reibungslos funktionierenden Tausch entwickelten Gelde eine weberianische, politisch-ökonomische Theorie des Geldes gegenüberzustellen, wonach Geldordnungen staatlich gesetzte, nicht-neutrale und bestimmte Interessen bevorzugende Herrschaftsordnungen sind.

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möglich, aber mit beiden ist, wenn sie nicht Vorarbeit, sondern Abschluß der Untersuchung zu sein beanspruchen, der historischen Wahrheit gleich wenig gedient.« (Ebd.: 205-06; Hervorhebung im Original)

Die Einnahme einer bestimmten Richtungsperspektive ist eine bewusst selektive Perspektive, die aber auch eine umgekehrte Erklärungsrichtung ermöglicht. Weber schließt Wechselwirkungen beim historischen Zustandekommen einer Form – wie dem rationalen Kapitalismus der Moderne – nicht aus, sondern explizit ein. Er schält bestimmte kausalgenetische Einseitigkeiten heraus, nicht ohne zu betonen, dass es genauso gegenläufig funktioniere. Dass die individuelle Zugehörigkeit zu Stand und Klasse die Lebensführung ebenso prägt wie die Affinität zu bestimmten religiösen Vorstellungen, war sowohl Thema von »Wirtschaft und Gesellschaft« wie von der »Wirtschaftsethik der Weltreligionen«. Simmel war neben beispielsweise Heinrich Rickert einer der Köpfe, über die Weber zu seiner Theorie des Verstehens fand. Dies ist in der Sekundärliteratur mittlerweile gut dokumentiert (vgl. Schwinn 1993; Cavalli 1994; Lichtblau 1994b; Gerhardt 1998). Soziologie nach Weber ist »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.« (Weber 2010: 3) Wobei ein individuelles soziales Handeln ein Verhalten ist, »welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« (Ebd.: 3; Hervorhebung im Original) Webers Erfassung des puritanischen Berufsethos ist ein Verstehen nicht in dem Sinne eines Einzelfalls – den Weber auch in seiner Kategorienlehre auflistet –, sondern in dem Sinne »idealtypische[r] Konstruktionen«, welches ein bestimmtes Verhalten in seiner Reinheit herausschneidet, mit dem Wissen, dass das »reale Handeln« nur »in seltenen Fällen« das Muster des »Idealtypus« erfüllt bzw. erfüllt hat (ebd.: 7). Simmels erkenntnistheoretische Aufgabenstellung in den »Problemen der Geschichtsphilosophie« ist eine andere als in der »Soziologie«. Die Unterscheidung von Motiv und Sachinhalt ist für Simmel konstitutiv relevant für das historische Verstehen. Eine Erkenntnis wie jene des Gravitationsgesetzes, so Simmel beispielhaft, könne als etwas Zeitloses und allein auf seinen Inhalt als Teil der Erkenntniswelt hin betrachtet werden (vgl. PGP: 262-63). In dieser Hinsicht eines intellektuellen Begreifens spiele die individuelle Person des Entdeckers des Gravitationsgesetzes, Isaac Newton, keine Rolle. Sein Bewusstsein ist nur Träger einer allgemein zugänglichen Erkenntnis und als solche nicht relevant, seine Motive spielen keine Rolle für das Begreifen und Beurteilen der Hypothese. Isaac Newtons Person komme dann wieder ins Spiel, so Simmel, wenn die Entdeckung des Gravitationsgesetzes in seiner historischen Entstehung verstanden werden soll. Dann spielten die individuellen Motive Newtons eine Rolle. Gleichermaßen verhalte es sich auch mit einem Gedicht Goethes: Geschichte konstruiere ein »Bild, als Deutung, Auswahl, Zusammenstellung psychologischer Tatsachen von individueller, gesellschaftlicher, wissenschafts- und kunstgeschichtlicher Art.« (Ebd.: 263; Hervorhebung im Original) Simmel unterscheidet wie auch in seiner Lebens- und Kulturphilosophie zwischen dem Sachinhalt einer überindividuellen Form – hier ist das individuelle Leben nur Vehikel – und den individuellen, psychologischen Motiven. Die Geschichte hat es mit bewusstseinsfähigen Individuen zu tun, und auf deren Nachvollzug komme es dem Historiker an,

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aber eben nur dem Historiker. Sei es Weber im Verstehen zunächst – gegen Simmel – vorrangig auf den intersubjektiv zugänglichen Sachinhalt und nicht auf den innerlich erlebenden Nachvollzug des individuellen, psychologischen Motivs angekommen, so Ho-Keun Choi, habe er sich mit »Wirtschaft und Gesellschaft« dem simmelschen Verstehen angenähert (vgl. Choi 2000: 125). Simmels Erkenntnistheorie der »Soziologie« möchte nicht wissen, wie Geschichte, sondern wie Gesellschaft als eine Formung individuellen Lebens möglich ist. Gemeinsame transzendentalphilosophische Möglichkeitsbedingung sowohl der Geschichtswissenschaft als auch von Vergesellschaftung ist für Simmel die Bezugnahme auf ein eigenständiges, autonomes »Du« (vgl. PGP: 233-36; SOZ: 44-45; WHV: passim). Simmel differenzierte dann allerdings Soziologie und Geschichte nach Form und Inhalt. In Simmels »Soziologie« geht es um die Analyse von Formen der Wechselwirkung interindividueller Natur, die Sachinhalte der Wechselwirkung mit anderen können dabei ganz unterschiedliche sein. Die Geschichte dagegen nimmt die individualpsychologischen Motive konkreter historischer Individualitäten in den Fokus (»die individuellen Existenzen«, SOZ: 29). Die hier präsentierte Unterscheidung von Soziologie und Geschichtsphilosophie fügt sich ein in die in Kapitel 6.2 dieses Buches vorgeführte analytische Unterscheidung Simmels nach Kultur, Gesellschaft und Geschichte. Simmels »Geschichtsphilosophie« diente Weber als epistemologische Vorlage seiner eigenen verstehenden Soziologie, anders als die »Soziologie« Simmels. Von deren »Methode« sowie jener der »Philosophie des Geldes« distanzierte sich Weber explizit »durch tunlichste Scheidung des gemeinten von dem objektiv gültigen ›Sinn‹ […], die beide Simmel nicht nur nicht immer scheidet, sondern oft absichtsvoll ineinander fließen läßt.« (Weber 2010: 3, Fn. 1; Hervorhebung im Original) Mit der Objektivation in ein »Du« entsteht Simmel gemäß die Einheitsform sozialer Wechselwirkung, in welchem das »Ich« und »Du« füreinander Ursache wie Wirkung des Handelns und Erlebens sind. In der Form der Wechselwirkung konstituieren sich die Elemente der sozialen Form im wechselseitigen Bezug aufeinander. Simmel, so Klaus Lichtblau in einem Vergleich der epistemologischen Grundlagen Webers und Simmels, erkläre so das Zustandekommen möglicher »›Zurechnungspunkte‹ einer Kausalanalyse«, Weber dagegen setze den transzendentalen Akt der Konstruktion der Subjekte des Verstehens bereits »als ›selbstverständlich‹ voraus, um ihn für sein eigentliches Erkenntnisinteresse – eben das der ›kausalen Erklärung‹ – zu funktionalisieren.« (Lichtblau 1994b: 550-51) Die Verstehenseinheit Webers ist bei Simmel transzendentalphilosophisch fundamentiert. Bei Simmel zeigt sich ein Muster, auf welches ich bereits in Kapitel 3 aufmerksam gemacht habe: Die Rückführung aller Weltverhältnisse des Individuums auf die Einheit, und zwar die Einheit des Lebens. Leben ist Einheit und wird Einheit. Die dualistische Einheit des Lebens bildet die metaphysische Letzteinheit Simmels, um diese kreisten seine (philosophischen) Überlegungen. Schicht- und klassenspezifische Untersuchungen zur Korrelation von Religion und Wirtschaft, wie sie sich bei Weber finden, finden sich bei Simmel dagegen überhaupt nicht. Etwas konkreter: Da Simmel den Einheits-Gedanken der Form überbetont, ist die inhaltliche Konturierung der Form für Simmel nahezu von Null-Relevanz. Darin liegt meines Erachtens ein nicht unerheblicher Schwachpunkt der Theorie Simmels. Auf diesen Punkt möchte ich nun zum Ende dieser Arbeit noch eingehen.

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Max Weber wirft Simmel zu Beginn seiner der »Protestantischen Ethik« vorangehenden »Vorbemerkung« vor, »›Geldwirtschaft und Kapitalismus‹ viel zu sehr gleichgesetzt [zu haben], zum Schaden auch der sachlichen Darlegungen.« (Weber 1988a: 5, Fn. 1) An dieser Aussage ist etwas dran. So spricht Simmel vergleichsweise unterschiedslos vom »Kapitalismus im 14. und 15. Jahrhundert« (PDG: 380), »dem aufkommenden Kapitalismus in Deutschland – als im 15. Jahrhundert einerseits der Welthandel, andrerseits die Finanzzentren mit dem raschen Umsatz billigen Geldes entstanden« (ebd.: 707), sowie dem zeitgenössischen »Kapitalismus« und der ihm »entsprechende[n] wirtschaftliche[n] Individualisierung«, welche »die Arbeit als Ganzes […] zu etwas viel Unsichrerem gemacht [hat], […] als sie zur Zeit der Zünfte bestanden [hat]« (ebd.: 685). Simmel investierte keine Bemühungen in eine Definition kapitalistischen Wirtschaftens. Ebenso wenig aber nahmen Marktstrukturen bzw. die Marktvergesellschaftung eine bedeutsame Rolle bei Simmel ein. Stattdessen kam Simmel über den Tausch. Die simmelsche Eigenlogik der Ökonomie besteht in der Loslösung einer in sich geschlossenen Wertform, in welcher sich die partikularen Werte – die Waren – relational und aneinander konstituieren. Diese Werte sind Preise in der Form des Geldes. Einmal verselbständigt, wird die Geldform der Ökonomie schöpferisch. Sie produziert Inhalte. Welche Inhalte, dies ist sekundär, denn allein um dieses Moment der schöpferischen Wende geht es Simmel. Identifiziert man den Markt mit der Konkurrenz, dann hat Simmel den Markt zwar – wie ich in Kapitel 6.4.2 dieses Buches ausgeführt habe – in seiner »Soziologie der Konkurrenz« entdeckt, diese auch mit einer deutlich ökonomischen Schlagseite versehen. Systematisch verknüpft mit seinen geldphilosophischen Analysen hat Simmel die Konkurrenzform aber nicht. Was Simmel am Geldpreis interessierte, war allein die relationale Konstitution der Wertform. Der Wert besitzt in der Transzendentalform des einheitlichen Lebens seinen Ursprung, hat sich dann aber zu objektivieren in die eigengesetzliche Wertform, und eigengesetzlich wie geschlossen ist diese Form im geldförmigen Tausch: Im Tausch gewinnen die Dinge ihren Wert; die ökonomische Bedeutung der Substanz ist ein Derivat der Tauschfunktion. Der für einen Markt idealtypische variable Preismechanismus zwecks Koordination von Angebot- und Nachfrageverhalten knapper Ressourcen als solcher war Simmel zwar nicht unbekannt. Dass unter Marktbedingungen beispielsweise die zunehmende Knappheit des Angebots von Arbeitskraft deren Preissteigerung zur Folge haben müsste, schreibt Simmel in seinem Essay zur »Bauernbefreiung in Böhmen« (vgl. BB: 314).26 Die wirtschaftssoziologische Beschreibung der Koordinationsleistung des Marktes war für Simmel

26 Genauer heißt es: »[A]ls die Bauern nach ihrer Decimierung im 30jährigen Kriege selten und höchst gesucht waren, [führte] dies nicht etwa zu einer Verbesserung ihrer Lage und zu der Möglichkeit […], ihre Arbeitskräfte theurer zu verkaufen – wie man das nach der Analogie moderner Arbeitsverhältnisse annehmen möchte –, sondern daß umgekehrt diese Kostbarkeit des Bauern gerade eine umso härtere Bindung an die Scholle veranlaßte; gerade die Befürchtung, daß er anderswo günstigere Bedingungen aufsuchen könnte, bewirkte eine Steigerung seiner Unfreiheit, durch die allein der Herr sich die Arbeitskraft dauernd sichern konnte.« (BB: 314) An die Stelle eines variablen Preises und der darüber koordinierten Zuteilung von knappen (Arbeits-)Ressourcen auf bestimmte Zwecke tritt die Gewalt.

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dennoch nicht von Interesse, sondern einzig und allein die durch die Geldform materialisierte Einheit des Tausches. Dies wird dann evident, führt man sich nur Simmels Ausführungen zum Ende des »Wert-und-Geld«-Kapitels in der »Philosophie des Geldes« vor Augen, wo Simmel Geld, Wert und Preis zusammenführt, einschließlich der Bedeutung der markttypischen Preisvariation: »Der Geldpreis einer Ware bedeutet das Maß der Tauschbarkeit, das zwischen ihr und der Gesamtheit der übrigen Waren besteht. Nimmt man das Geld in jenem reinen Sinne, der von allen Folgen seiner konkreten Darstellung unabhängig ist, so bedeutet die Änderung des Geldpreises, dass das Tauschverhältnis zwischen der einzelnen Ware und der Gesamtheit der übrigen sich ändert. Wenn ein Warenquantum A seinen Preis von einer Mark auf zwei steigert, während alle anderen Waren B C D E den ihrigen behalten, so bedeutet dies eine Verschiebung des Verhältnisses zwischen A und B C D E, die man auch so ausdrücken könnte, dass diese letzteren im Preise gefallen sind, während A den seinigen behalten hat.« (PDG: 123; Hervorhebung PB)

Die Textstelle sollte deutlich machen: Ein von der Erwartung geleitetes (soziales) Handeln, sei es im Angebots- oder Nachfrageverhalten, ist nicht Simmels Thema, sondern allein die Einheit der Form. Der theoretische Ort der Geldpreisvariation ist allein das Tauschbarkeitsverhältnis, d. h.: das quantitative Verhältnis, mit welchem eine Ware gegen bestimmte andere eingetauscht werden kann. Die weitere, erwartungsbildende Funktion von Preisen für Geldzahlungen taucht dagegen nicht auf (vgl. Luhmann 1988a: 18). Das von Parsons (1968: 436-37) formulierte wie von Niklas Luhmann (1984: 148-90) adaptierte Problem doppelter Kontingenz der Bildung sozialer Erwartungsstrukturen kannte Simmel nicht. Elaborierte wirtschaftssoziologische Theorien zur Reproduktion und Auflösung sozialer Unsicherheit auf Märkten wie die Orientierung des Angebotsverhaltens durch wechselseitige Beobachtung der Marktteilnehmer konnte Simmel vielleicht noch nicht kennen (vgl. Luhmann 1988a: 108-09; allgemein zur sozialen Ordnung von Märkten vgl. Beckert 2007). Andererseits: Max Weber sprach ja bereits vom »Wirtschaften« als einem sozialen Handeln »dann und nur insofern, als es das Verhalten Dritter mit in Betracht zieht. Ganz allgemein und formal also schon: indem es auf die Respektierung der eignen faktischen Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Güter durch Dritte reflektiert. In materialer Hinsicht: indem es z. B beim Konsum den künftigen Begehr Dritter mitberücksichtigt und die Art des eignen ›Sparens‹ daran mitorientiert. Oder indem es bei der Produktion einen künftigen Begehr Dritter zur Grundlage seiner Orientierung macht usw.« (Weber 2010: 16)

Eine Relativierung der Kritik durch den von mir selbst in Kapitel 8.2.2 dieses Buches gegebenen Hinweis, Simmel unterscheide Wirtschaft von Gesellschaft, gelingt meines Erachtens kaum. Denn auch die Soziologie Simmels operiert vollständig unabhängig von jeder sozialen Erwartungs- wie Ordnungsbegrifflichkeit. Der »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« problematisiert die »gesellschaftliche Einheit«, »die Vereinheitlichung« und deren transzendentalphilosophische Konstitution in den »individuellen Seelen«, d. h. in der Einheitsform des individuellen Lebens (SOZ: 43; Hervorhebung im Original). Freilich, ein vom »Ich« unterschiedenes »Du« ist der Kristallisationskern des »Exkurses«. Das Gegenüber sozialer Wechselwirkungen besitzt ausdrücklich Autonomie – unter diesem Bewusstseinseindruck

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steht das »Du« gerade (vgl. ebd.: 44-45). Die individuelle Freiheit – laut Simmel das Korrelat zur Unsicherheit – war ein bedeutsames Leitmotiv der »Philosophie des Geldes«. Der aus Freiheit und Unsicherheit folgende Mehr-Bedarf an Erwartungsbildung steht dann wiederum außen vor. Was merkwürdig erscheinen mag angesichts des Umstandes, dass Simmel Gesellschaft als Vergesellschaftung denkt, also als etwas, was sich stets aufs Neue zu formen – und auch zu behaupten – hat. Hier war Simmel Weber durchaus nahe, der soziale Beziehungen definierte durch die »Chance« eines »aufeinander gegenseitig« eingestellten und daran orientierten »Sichverhalten[s] mehrerer« (Weber 2010: 19; Hervorhebung im Original). Mit dem Chancenbegriff distanziert sich Weber dezidiert von einer »›substanzielle[n]‹ Auffassung« sozialer Beziehungen (ebd.: 19). Schließlich ein anderer Punkt. Das Geld war für Simmel das Symbol der SeinsEinheit, er griff es aus der Mannigfaltigkeit des Seins heraus, um an ihm das Sein zu deuten. Die webersche Schicksalsträchtigkeit kapitalistischen Wirtschaftens mag der Bedeutung nach eine ähnliche Rolle wie das Geld bei Simmel einnehmen, sich aber nicht genauso gut wie das Geld zur Philosophie der Einheitsform der Differenz geeignet haben. An der Geldform konnte Simmel die Entfaltung des philosophischen Dualismus von Freiheit und Bindung demonstrieren, zudem auch, dass und wie Leben und Form sich gegeneinander verselbständigen und zugleich einander bedingen. Die Individualität des Lebens befreit sich von der unmittelbaren Verflechtung mit den Dingen – wie mit den Menschen – durch eine Steigerung der Abhängigkeit, die allerdings eine geldvermittelte ist. Die Realabstraktion Simmels der Geldform von den Inhalten hat allerdings ihren Preis, und dies ist die Differenzierung der Inhalte nach ihren Beiträgen zur Formkonstitution. Kurz gesagt: Eine vergleichende Analyse der Wirtschaftsethiken der Weltreligionen mit Hinblick auf Nähe oder Distanz zum rational-kapitalistischen Wirtschaften des Okzidents kann es bei Simmel nicht geben. Simmels Geldphilosophie ist frei von jeder materiellen Ethik, und dies liegt auf der Linie der abstrakten Konsequenz, auf die Simmel zusteuert: den Vitaldualismus zwischen der Eigenlogik der Individualität und der Eigenlogik der Form. Das »individuelle Gesetz« kennt keine materiellen moralischen Vorschriften, eine Bindungsneigung zu bestimmten Inhalten widerspricht seiner Formvorschrift. Wie bereits in Kapitel 7.3.4 in diesem Buch und auch eben erwähnt, nahm Simmel Kenntnis von der Neigung bestimmter protestantischer Strömungen zum Erwerbsleben. Er nannte die Quäker, Herrnhuter, Pietisten sowie die Calvinisten. Besonders Simmels Schilderungen des Calvinismus in seinem »Rembrandt« weisen inhaltliche Überschneidungen mit Weber auf, die es nicht unplausibel erscheinen lassen, dass Simmel Notiz von dessen Arbeiten genommen hat. Ihre aus ihrem Inhalt geborene eigentümliche Affinität zur Geldwirtschaft nahm Simmel aber nicht zum Anlass, die zeitgenössische Wirtschaftsform als eigentümlich protestantisch geprägt oder ›gefärbt‹ zu sehen. Was Simmel vielmehr machte, ist dies: Das geschichtliche Material – der Inhalt oder auch der »Stoff« – wurde auf jene Seiten hin beobachtet, mit denen es eine bestimmte Form artikulierte. Die »bewußteste Rechenschaft« des Puritaners (DR: 58) steht so neben der »stärksten« Bewusstseinskonzentration während einer Eheschließung (ebd.: 57), und beide sind inhaltlich gleichermaßen Beispiele für den Idealtypus religiösen Empfindens. Gegen Ende des Religionsbuches werden der Calvinismus und »die täuferischen Sekten« als historische Verwirkli-

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chungen des religiösen Prinzips einer »Vielheit relativer Wege« zum Seelenheil vorgestellt (ebd.: 109). Auf der anderen Seite ist es aber so, dass Simmel im Falle des religiösen Prinzips – die Beziehung zum Absoluten – eine asymmetrische Bindung der Form an einen bestimmten Inhalt konzediert, nämlich dem Christentum. Das Christentum ist der historische Idealtypus der simmelschen Religion, zumindest der Darstellung gemäß. In der Tendenz differenziert und vergleicht Simmel die unterschiedlichen Inhalte nicht nach ihrem – je nachdem – unterschiedlichen Beitrag zur Formkonstitution. Thomas Schwinn hat dies treffend als eine Differenz zwischen Weber und Simmel herausgearbeitet: »Simmel interessiert sich in erster Linie für die Eigenschaften und Funktionen der Formen. Das, was er als Inhalte aussondert, wirkt bei Weber immer formgebend mit. Im Sich-Orientieren aneinander kristallisieren sich zwar gewisse Formen aus; Weber interessieren aber immer zugleich die Motive, Interessen etc., die an den Formen mitwirken und durch diese wiederum geformt werden.« (Schwinn 2001: 36)

In eine ähnliche Richtung ging übrigens auch die Kritik Emile Durkheims an Simmel (vgl. Bevers 1985: 122). Interessanterweise hat Simmel aus der reinen Existenz der puritanischen Prädestination keine Konsequenz für seine religionstheoretische Konstruktion gezogen: Ihrem Ideal nach ist das religiöse Heilsgut nicht knapp. Einerseits also entspricht der Heilswegindividualismus des Calvinismus der Reinform Religion – siehe oben –, andererseits macht die Nicht-Knappheit des calvinistischen Heilsgutes keinen Unterschied für Simmels Konzept. Letzteres ließe sich natürlich schlichtweg als Devianz fassen, so dass eben bestimmte Seiten ein und desselben Inhaltes näher, andere ferner von der abstrakten Reinform Religion entfernt liegen. Ob dies intellektuell befriedigt, lasse ich dahingestellt. Ein weiteres, die unterschiedlichen Standpunkte Webers und Simmels verdeutlichendes Beispiel: Ein bedeutsames, abgeleitetes Attribut des Geldes als absoluter Einheitsform in der Differenz ist Simmel zufolge die implizierte Offenheit für die Wege, auf denen es ausgegeben wird, aber auch für die Wege, auf denen es erworben wird. Diese Formeigenschaft des Geldes – die es, wie gesagt, gerade als umfassende Einheitsform besitzt – will Simmel belegen durch die ebenso abgeleitete Hypothese, dass das Geld zum beruflichen Mittelpunkt solcher Gruppen werde, die per Gesetz ausgeschlossen würden oder durch eigene Entscheidung sich selbst fernhielten von anderen ökonomischen wie nicht-ökonomischen Betätigungen: »Vom Gelderwerb als solchem kann man, weil eben alle möglichen Wege gleichmäßig zu ihm führen, am wenigsten jemanden prinzipiell ausschließen.« (PDG: 281) Das (Bank-)Geschäft mit dem Geld bleibe oft als letzte Möglichkeit, wenn andere Wege bereits verschlossen seien (vgl. ebd.: 281-82). Diese Formeigenschaft illustriert Simmel durch aus unterschiedlichen Epochen und Gesellschaften entstammende Inhalte. Freigelassene Sklaven im alten Rom und Griechenland, verfolgte und verachtete Armenier in der Türkei, die vom Islam zum Christentum zwangskonvertierten Morisken während der Inquisition, Parsen in Indien: Sie teilen nach Simmel das Schicksal, als Gruppe von dem umgebenden sozialen Kreis »von vielerlei persönlichen und spezifischen Zielen« ausgeschlossen gewesen zu sein (ebd.: 281). Wie genau Exklusion in jedem der Fälle funktioniert, darauf geht Simmel fast gar nicht oder nur sehr vage ein. Ein ausführlicher behandeltes Beispiel

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ist jenes bereits in Kapitel 8.4.2 dieses Buches erwähnte der Juden (vgl. ebd.: 28487). Einerseits betont Simmel ihre Jahrhunderte andauernde politische Rechtlosigkeit als religiös-ethnische Minderheitengruppe27, andererseits ihre damit einhergehende Disposition, »ein Handelsvolk« zu werden, sowie »im reinen Geldgeschäft« tätig zu werden (ebd.: 286). Simmel meint, es sei der »tiefe Zug der jüdischen Geistigkeit: sich viel mehr in logisch-formalen Kombinationen als in inhaltlich schöpferischer Produktion zu bewegen«, und dies müsse mit ihrer »wirtschaftsgeschichtlichen Situation in Wechselwirkung stehen.« (Ebd.: 287) Ihre gesellschaftliche »Pariastellung« habe hier ökonomisch prägend gewirkt (ebd.: 285). In bestimmter Hinsicht umgekehrt gelaufen sei es bei den protestantischen Strömungen der Quäker, Herrnhuter und Pietisten. Aus religiösen Gründen leisteten die Quäker keinen Schwur und konnten deshalb »keine öffentlichen Ämter übernehmen«, Herrnhuter und Pietisten hielten sich aus den »Wissenschaften, Künsten, heiterer Geselligkeit« zurück, kurz: Die genannten religiösen Strömungen exkludierten sich selbst aus nicht-ökonomischen Sphären – im Falle der Quäker auch von der Landwirtschaft –, und deshalb blieb als einzige Form für das Ausleben der eigenen Energien »die nackte Erwerbslust«, die »Betriebsamkeit und Habsucht« (ebd.: 282). Die Ursachenrichtung der sozioökonomischen Marginalisierung ist für Simmel also sekundär. Was ihn allein interessiert, ist die zeitlose Form der Marginalisierung und dann, zweitens, deren Bezug zum Gelderwerb. Das religiöse Motiv der asketischen Puritaner floss für Simmel nur nach der Seite hin in die Analyse, als sie der identischen Form zu subsumieren sind. Ein gesondertes, irgendwie konstitutionstheoretisches Interesse an der puritanischen oder, wahlweise, der jüdischen Berufs- und Wirtschaftsethik besitzt Simmel nicht. Ob beispielsweise die gleiche Marginalisierung je nach Religionszugehörigkeit unterschiedliche oder identische Formen des Erwerbsstrebens sowie unterschiedliche oder identische Strukturkonsequenzen hervorbringt, kurz: Die Frage nach der Strukturdetermination bzw. deren Ausmaß stellte Simmel nicht. Anders Weber. Bestimmte Rechtsformen rational-kapitalistischen Wirtschaftens rechnet Weber einer vom Judentum ausgehenden Tradition zu (vgl. Weber 2010: 472-73). Immerhin ist es nach Weber ja, wie bereits erwähnt, das monotheistische Judentum, in welchem die Entzauberung der Welt ihren logischen Ursprung besitzt (vgl. Weber 1988a: 94-95). Juden seien beteiligt gewesen an ökonomischen Geschäftsbereichen wie »Staatslieferungen, Steuerpachten, Kriegsfinanzierung, Kolonial- und speziell Plantagenfinanzierung, Zwischenhandel, Darlehenswucher«, diese Geschäftsformen aber »hat es ja seit Jahrtausenden fast in der ganzen Welt immer wieder als Form kapitalistischer Besitzverwaltung gegeben« (Weber 2010: 473). Sie seien aber nicht spezifisch jüdischen Ursprungs. Worin es dagegen eine auffällige geringe Beteiligung von Juden gebe – Weber schreibt dies zu Anfang des 20. Jahrhunderts, der 1948 gegründete jüdische Staat Israel hat gegenwärtig auf die Einwohnerzahl gerechnet die meisten Start Ups weltweit vorzuweisen28 –, sei »die Organisation der gewerblichen Arbeit in Hausindustrie, Manufaktur, Fabrik.«

27 Simmels Erwähnung der jüdischen Diaspora als eigenen Faktor lasse ich hier außen vor, ebenso den damit von Simmel berührten Topos des »Fremden«. Das Beispiel verliert damit meines Erachtens nichts von seinem Aussagengehalt. 28 Vgl. dazu die Artikel von Benjamin Hammer (2018) und Alison Coleman (2018).

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(Ebd.: 473) Damit meint Weber die für den modernen Kapitalismus charakteristische rationale Organisation formell freier Arbeit (vgl. Weber 1988a: 7; vgl. dazu auch Tyrell 1997: 207-08). Spezifisch modern und rational am Kapitalismus ist die betriebliche Orientierung »an den Chancen des Gütermarktes« (Weber 1988a: 7). Den »Juden recht stark eigen« sei dagegen, so Weber, »der Wille und das Verständnis, rücksichtslos jede Chance des Gewinns auszunutzen« (Weber 2010: 473-74). Die Juden hätten damit zum Typus der »kapitalistischen Abenteurer« gezählt, die »es in aller Welt gegeben« habe, ihr Geschäft habe spekulativen Charakter gehabt (ebd.: 7). Interessanterweise führt Weber die seinerzeit beobachtete ökonomische Position der Juden einerseits auf deren bereits von Simmel genannte »rechtlich und faktisch prekäre Lage« zurück, welche »wohl der Handel, vor allem der Geldhandel, nicht aber ein rationaler, gewerblicher Dauerbetrieb mit stehendem Kapital erträgt.« (Ebd.: 474). Weber sieht also den strukturdeterministischen Faktor als einen Beitrag zur kausalgenetischen Erklärung der ökonomischen Tätigkeit der Juden seiner Zeit. Weber spricht deshalb mit Bezug auf die Juden ebenso wie Simmel vom »Paria-Kapitalismus« (Weber 1988a: 181; Hervorhebung im Original) und dem »besonderen Pariavolkscharakter des Judentums und seiner Religiosität« (Weber 2010: 474; zum Begriff des Paria-Kapitalismus bei Weber vgl. auch Swedberg 2005: 193). Aber, so Weber weiter, zur sozialstrukturellen Erklärung geselle sich eben »auch die innerlich ethische Situation.« (Weber 2010: 474) Die jüdische Wirtschaftsethik reproduzierte nämlich die oben bereits erwähnte Unterscheidung von Binnen- und Außenmoral: Während nach innen hin die Brüderlichkeitsethik des gegenseitigen Aushelfens vorherrsche mit dem – der Tendenz nach – Verbot des an einem individuellen Nutzen orientierten Handels unter Stammesgenossen, ist nach außen hin zum Stammes- oder besser: Religionsfremden der sittlich indifferente Handel erlaubt: »Das Judentum, als Pariavolk, bewahrte die doppelte Moral, welche im Wirtschaftsverkehr jeder Gemeinschaft urwüchsig ist. Was ›unter Brüdern‹ perhorresziert ist, ist dem Fremden gegenüber erlaubt. Den Mitjuden gegenüber ist die jüdische Ethik durchaus unbezweifelbar traditionalistisch […]. Das Gebiet des geschäftlichen Verhaltens zu Fremden aber ist bei Dingen, welche unter Juden verpönt waren, weitgehend eine Sphäre des ethisch Indifferenten.« (Ebd.: 474)

Wie Hartmann Tyrell in einem Aufsatz zur um 1900 geführten Debatte über die Frage nach dem Anteil der Religion an der Genese der modernen kapitalistischen Wirtschaft herausstellt, ist die Universalisierung der für die Marktvergemeinschaftung typischen Versachlichung und Verunpersönlichung nach Weber ausdrücklich auf die puritanische, nicht auf die jüdische Wirtschaftsethik zuzuschreiben (vgl. Tyrell 1997: 211-12). Über die Unterscheidung von Binnen- und Außenmoral hinaus setzte die puritanische Berufsethik die von Gott geforderte Praxis der preislichen Gleichbehandlung durch, d. h. den gleichen Preis für alle. Sie durchbrach die Unterscheidung nach Binnen- und Außenmoral. In »Wirtschaft und Gesellschaft« heißt es denn auch, vom »Puritanismus« unterscheide sich das Judentum »durch das (wie immer: relative) Fehlen systematischer Askese überhaupt.« (Weber 2010: 471; Hervorhebung im Original) Wie bereits in der Prägung des calvinistischen Berufsethos durch das praktische Bedürfnis der Alltagsgläubigen nach einem den eigenen Gnadenstand anzeigenden, sichtbaren und greifbaren – und dadurch praktisch ja dann doch wieder be-

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einflussbaren – Zeichen, ist die jüdische Wirtschaftsethik nicht allein das Ergebnis der religiösen Lehre, aber eben auch. Der religiöse Geist, nach dem gewirtschaftet wird, macht für Weber eine eigene, diesem zurechenbare Differenz in der Konstitution ökonomischer Systeme. So meinte Weber explizit und gegen die Religionspsychologie William James‹ gerichtet: »[D]er Gedankengehalt einer Religion – wie gerade der Calvinismus zeigt – [ist] von weitaus größerer Bedeutung, als z. B. William James […] zuzugestehen geneigt ist. Gerade die Bedeutung des Rationalen in der religiösen Metaphysik zeigt sich in klassischer Weise in den grandiosen Wirkungen, welche speziell die gedankliche Struktur des calvinistischen Gottesbegriffs auf das Leben geübt hat.« (Weber 1988a: 111-12, Fn. 4; Hervorhebung im Original)

Schließlich lässt sich auch Simmels – wenn auch explizit philosophisch motivierte – Reduktion des Dualismus von Freiheit und Bindung auf die Geldform mit Weber als inhaltlich übersimplifizierend kritisieren. In seinen Studien zur Situation in der deutschen Landwirtschaft wies Weber auf den liberalisierenden Charakter des Geldlohnkontraktes hin: Polnische Arbeitsmigranten – gegen deren Zuwanderung er sich mit Vehemenz aussprach – sehen im geldentlohnten Arbeitsverhältnis in der Fremde die Emanzipation von der örtlichen und personalen Bindung in der Heimat: »[D]ie Arbeiter suchen den Geldlohn, weil er sie am meisten von der Abhängigkeit von der Wirtschaft und dem guten Willen des Herrn befreit, trotzdem sie sich dabei wirtschaftlich schlechter stehen. Wie der Geldzins des Bauern im Mittelalter als das wichtigste Symptom seiner persönlichen Freiheit erscheint, so der Geldlohn des Arbeiters heute. Die Landarbeiterschaft opfert ihre materiell oft günstigere, immer aber gesichertere, abhängige Lage dem Streben nach persönlicher Ungebundenheit.« (Weber 1988c: 489; vgl. dazu auch Kapitel 4.5 in diesem Buch)

Hier besteht Übereinstimmung zwischen Weber und Simmel. Während Simmels »Philosophie des Geldes« aber zumindest die philosophische Reduzierbarkeit der historischen Varianz auf die Einheit der Geldform postuliert, ist nach Weber das Ideal individueller Freiheit nicht auf die reale Geldform zu reduzieren, sie ist auch nicht das alleinige Produkt kapitalistischen Wirtschaftens: »Die historische Entstehung der modernen ›Freiheit‹ hatte einzigartige, niemals sich wiederholende Konstellationen zur Voraussetzung. Zählen wir die wichtigsten davon auf. Zunächst die überseeische Expansion: in den Heeren CROMWELLS, in der französischen Konstituante29, in unserem gesamten Wirtschaftsleben, noch heute, weht dieser Wind von jenseits des Meeres […]. Zweitens die Eigenart der ökonomischen und sozialen Struktur der ›frühkapitalistischen‹ Epoche in Westeuropa und drittens die Eroberung des Lebens durch die Wissenschaft, das ›Zusichselbstkommen des Geistes‹ […]. Endlich: gewisse, aus der konkreten historischen Eigenart einer bestimmten, religiösen Gedankenwelt herausgewachsene ideale Wertvorstellungen, wel-

29 Die französische Konstituante bezeichnet die zwischen 1789 und 1791 – also inmitten der Französischen Revolution – tagende französische verfassunggebende Nationalversammlung.

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che, mit zahlreichen ebenfalls durchaus eigenartigen politischen Konstellationen und mit jenen materiellen Voraussetzungen zusammenwirkend, die ›ethische‹ Eigenart und die ›Kulturwerte‹ des modernen Menschen prägend.« (Weber 1988d: 64-65)

Weber betont geradezu die historische Irreduzibilität wie die Unwahrscheinlichkeit des Zustandekommens des Freiheitswertes. So wirkten religiöse und ökonomische Faktoren zusammen. Weber meint ferner, alleine die Entwicklung der ökonomischkapitalistischen Wertsphäre könne keine Gewähr für Freiheit oder Demokratie geben. Wenn Weber vom »Gehäuse für die neue Hörigkeit« spricht, dann meint er die Schaffung von neuerlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die auch und gerade durch »›Wohlfahrtseinrichtungen‹« – ob durch Arbeitgeber oder durch den Staat, das bleibt hier offen, es gab beides –, durch »Verstaatlichung« und die diese begleitende Bürokratie verkörpert würden (ebd.: 63; Hervorhebung im Original). In der in der SPD sich parteipolitisch verkörpernden Arbeiterbewegung sieht Weber ebenfalls Symptome der Hörigkeit: Diese, so Weber (ebd.: 65), müsste ihrem marxistischen Selbstverständnis gemäß aus der behaupteten historischen Zwangsläufigkeit der kapitalistischen Entwicklung als siegreiche Klasse hervorgehen. Aber: »In den Massen drillt die ›korrekte‹ Sozialdemokratie den geistigen Parteimarsch […]. Sie gewöhnt ihre Zöglinge an Gefügigkeit gegen Dogmen und Parteiautoritäten…« (ebd.: 65) Individuelle Freiheit, so stellt Weber klar, artikuliere sich in Eigenheit, Widerständigkeit und Kampf – sein Lebensthema: »›Wider den Strom‹ der materiellen Konstellationen sind wir ›Individualisten‹ und Parteigänger ›demokratischer‹ Institutionen. Wer Wetterfahne einer ›Entwicklungstendenz‹ sein will, der möge, so schnell wie nur möglich, diese altmodischen Ideale verlassen.« (Ebd.: 64) Eigenheit, Freiheit und der Kampf individuellen Lebens gegen die Vereinnahmung durch die äußerlichen Ansprüche, das fügt sich durchaus mit den Ideen Simmels. Dennoch: Für Simmel zählte vorrangig die Einheit in der Differenz; mit dem von ihm selbst zitierten Nikolaus von Kues: die Coincidencia oppositorum. Dass auch für Simmel Freiheit kein nur einmal gewonnenes substanzielles Gut, sondern fortwährend zu erkämpfende Relation zu anderen ist (vgl. SOZ: 98-100), auch daran interessierte ihn weniger die historisch-genetische Zurechenbarkeit der Form auf materielle Inhalte, sondern der funktionale Aspekt, der sich in der Geschichte realisiert. Simmels säkular-religiös gefärbte Konzentration auf die dualistische Einheit des Lebens – Einheit sein und Einheit werden in der Form – blockierte zwar nicht die Kenntnisnahme von inhaltlichen Differenzen, sehr wohl aber deren konstitutionstheoretische Bedeutung: Die Differenzen machten keinen Unterschied.30 Mit Friedrich Tenbruck mag man in Rechnung stellen, dass Simmels an der Formenabstraktion orientiertes Denken notwendig zur »fachliche[n] Selbstlegitimation« der Soziologie als eigenständigem Fach mit eigenständigen Erklärungsprinzipien gewesen sei (Tenbruck 1958: 593). Angesichts der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch diskutierten alternativen Möglichkeiten zur Erklärung gesellschaftlicher Strukturen »aus geographischen« wie »aus klimatischen Momenten« sowie

30 Die Formulierung ist angelehnt an Gregory Bateson, auf den sich auch Niklas Luhmann in seiner soziologischen Systemtheorie der Informationsverarbeitung beruft (vgl. Luhmann 1997: 86; Mathur 2008)

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durch »Vererbungslehre und Rassentheorie« (ebd.: 593) ist gerade der Versuch einer transzendentalphilosophischen Herauspräparierung eines der Vergesellschaftung ganz eigenen apriorischen Formungsprinzips vielleicht tatsächlich nicht zu hoch zu bewerten. Dennoch: Es bleibt eine persönliche Mutmaßung meinerseits, dass es gerade diese – in ihren Wurzeln philosophisch bleibende – Form der Theoriearchitektur Simmels ist, welche die Etablierung eines eigenen Simmel-Paradigmas oder einer eigenen Schule dauerhaft verhindern.31

31 Nicht dagegen ist der Grund für eine mangelnde Schulbildung das »Fehlen einer systematischen Ordnung« im simmelschen Theoriegebäude, wie Richard Münch schreibt (Münch 2002: 235). Das Vorhandensein eines Systems im simmelschen Denken hoffe ich hinreichend dargelegt zu haben.

10 Literaturverzeichnis

10.1 PRIMÄRLITERATUR- UND SIGLENVERZEICHNIS Das vorliegende Siglenverzeichnis listet ausschließlich die gesamten in dieser Arbeit verwendeten Simmelwerke auf. Sie sind ausnahmslos der im Suhrkamp Verlag erschienenen Georg Simmel Gesamtausgabe entnommen. In Klammern sind jeweils angegeben das ursprüngliche Publikationsdatum der Bücher und Aufsätze Simmels sowie das Datum ihres Erscheinens innerhalb der Georg Simmel Gesamtausgabe. Die Sortierung erfolgt alphabetisch. APA BER

BFI

BP BRG BSP CK DIW DR EM I EM II

»L’art pour l’art« (1914/2000), in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 13, S. 9-15. »Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion« (1901/1995), in: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 7, S. 9-20. »Die beiden Formen des Individualismus« (1901/1995), in: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 7, S. 49-56. »Die Bauernbefreiung in Preußen« (1888/2005), in: Klaus Christian Köhnke (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 17, S. 195-222. »Henri Bergson« (1914/2000), in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 13, S. 53-69. »Bemerkungen zu socialethischen Problemen« (1888/1989), in: Heinz-Jürgen Dahme (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 2, S. 20-36. »Das Christentum und die Kunst« (1907/1993), in: Alessandro Cavalli/ Volkhard Krech (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 8, S. 264-275. »Deutschlands innere Wandlung« (1914), in: Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgae Band 16, S. 13-29. »Die Religion« (1912²/1995), in: Michael Behr/Volkhard Krech/Gert Schmidt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 10, S. 39-118. »Einleitung in die Moralwissenschaft, Erster Band«(1892/1989), in: Klaus Christian Köhnke (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 3, S. 7-443. »Einleitung in die Moralwissenschaft, Zweiter Band« (1893/1991), in: Klaus Christian Köhnke (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 4, S. 7389.

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GG

GK GLR

GMC GOE GS GSG 15

GSG 16

GSG 20

GSG 22 GSG 23 HDS

HPH IEU IG

IMZ

KDK KDMK

»Die Großstädte und das Geistesleben« (1903/1995), in: Rüdiger Kramme/ Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 7, S. 116-131. »Gesetzmäßigkeit im Kunstwerk« (1917-18/2000), in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 13, S. 382-394. »Die Gegensätze des Lebens und die Religion« (1904/1995), in: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 7, S. 295-303. »Das Geld in der modernen Cultur« (1896/1992), in: Heinz-Jürgen Dahme/ David Frisby (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 5, S. 178-196. »Goethe« (1912/2003), in: Uta Kösser/Hans-Martin Kruckis/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 15, S. 7-270. »Grundfragen der Soziologie« (1917/1999), in: Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 16, S. 59-149. »Goethe. Deutschlands innere Wandlung. Das Problem der historischen Zeit. Rembrandt« (2003), in: Uta Kösser/Hans-Martin Kruckis/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 15. »Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Grundfragen der Soziologie. Vom Wesen des historischen Verstehens. Der Konflikt der modernen Kultur. Lebensanschauung« (1999), in: Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 16. »Postume Veröffentlichungen. Ungedrucktes. Schulpädagogik« (2004), in: Torge Karlsruhen/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 20. »Briefe 1880-1911« (2005), in: Klaus Christian Köhnke (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 22. »Briefe 1912-1918. Jugendbriefe« (2008), in: Otthein Rammstedt/Angela Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 23. »Vom Heil der Seele« (1902/1995), in: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 7, S. 109-115. »Hauptprobleme der Philosophie« (1910/1996), in: Rüdiger Kramme/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 14, S. 7-157. »Die Idee Europa« (1915/1999), in: Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 16, S. 54-58. »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« (1912/ 2001), in: Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 12, S. 417-470. »Der Individualismus der modernen Zeit« (1910/2010), in: Torge Karlsruhen/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 20, S. 249-258. »Krisis der Kultur« (1916/2000), in: Klaus Latzel (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 13, S. 190-201. »Der Konflikt der modernen Kultur« (1918/1999), Gregor Fitzi/Otthein Rammstedt (Hg.), Georg Simmel Gesamtausgabe Band 16, S. 181-207.

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Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

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Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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