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German Pages 326 Year 2024
Oliver Honer Die kulturelle Logik der Objekte
Edition panta rei
Editorial In Umbruchzeiten und Zeiten beschleunigten Wandels ist die Philosophie in besonderer Weise herausgefordert, Veränderungen unserer theoretischen und praktischen Weltbezüge zu artikulieren. Denn Begriffe, Kategorien und Topoi, unter denen Weltbezüge stehen und unter denen wir unser Denken und Handeln ausrichten, erweisen sich im Zuge jener Dynamik regelmäßig als einseitig, kontingent, dogmatisch oder leer. Dialektisches Denken richtet sich von alters her auf diejenige Gegensätzlichkeit, die die Beschränktheiten des Denkens und Handelns aus sich heraus hervorbringt, und zwar mit Blick auf die Einlösbarkeit seiner Ansprüche angesichts des Andersseins, Anderssein-Könnens oder Anderssein-Sollens der je verhandelten Sache. Dialektik versteht sich als Reflexion der Reflexionstätigkeit und folgt somit den Entwicklungen des jeweils gegenwärtigen Denkens in kritischer Absicht. Geweckt wird sie nicht aus der Denktätigkeit selbst, sondern durch das Widerfahrnis des Scheiterns derjenigen Vollzüge, die sich unter jenem Denken zu begreifen suchen. Ihr Fundament ist mithin dasjenige an der Praxis, was sich als Scheitern darstellt. Dieses ist allererst gedanklich neu zu begreifen in Ansehung der Beschränktheit seiner bisherigen begrifflichen Erfassung. Vor diesem Hintergrund ist für dialektisches Denken der Dialog mit anderen philosophischen Strömungen unverzichtbar. Denn Beschränkungen werden erst im Aufweis von Verschiedenheit als Unterschiede bestimmbar und als Widersprüche reflektierbar. Und ferner wird ein Anderssein-Können niemals aus der Warte einer selbstermächtigten Reflexion, sondern nur im partiellen Vorführen ersichtlich, über dessen Signifikanz nicht die dialektische Theorie bestimmt, sondern die Auseinandersetzung der Subjekte. Die Reihe wird herausgegeben von Christoph Hubig. Wissenschaftlicher Beirat: Christoph Halbig, Christoph Hubig, Angelica Nuzzo, Volker Schürmann, Pirmin Stekeler-Weithofer, Michael Weingarten und Jörg Zimmer
Oliver Honer, geb. 1986, arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter in mehreren Projekten zu un- und antidemokratischen Haltungen an der Hochschule Esslingen. Dort untersuchte er die Rolle von Onlinemedien in der Involvierung bzw. Distanzierung von entsprechenden Haltungs- und Sozialkontexten. Er promovierte im Rahmen des Graduiertenkollegs »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt.
Oliver Honer
Die kulturelle Logik der Objekte Zur technikphilosophischen Aktualität von Georg Simmel und Ernst Cassirer
Zugl.: Darmstadt, Technische Universität Darmstadt, Dissertation
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»Was er webt, das weiß kein Weber.« Heinrich Heine
Inhalt
Vorwort ........................................................................................9 1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer ........ 11 1.1 Aktualisierung als methodischer Zugang zur Kontroverse ................................... 13 1.2 Aktualisierung als methodischer Leitfaden der Textarbeit .................................. 45 2. 2.1 2.2 2.3
Eine virtuelle Kontroverse............................................................... Eine aktualisierte Kontroverse? ........................................................... Leben und Kultur: Die Tragödie als Scheinproblem? ........................................ Historische Tragik und tragische Logik ....................................................
49 50 60 66
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Das Subjekt der Tragödie ................................................................79 Die Tragödie des Subjekts .................................................................79 Anti-substanzialistische Subjektkritik ...................................................... 81 Theoretische und praktische Freiheit...................................................... 86 Entfremdung als Form des Freiheitsverlusts ............................................... 92 Subjekt mit Leib und Leben ............................................................... 118
4. 4.1 4.2 4.3
Freiheit in der Kultur: Kultivierung ......................................................163 Kultivierung der positiven Möglichkeit .....................................................163 Kultur als Erziehungsdrama: »Bruder, nimm die Brüder mit« ............................... 170 Die Orientierung an der »Forderung des Tages« ........................................... 176
5. 5.1 5.2 5.3
Logik der Objektivierung und Objektivierung der Logik ................................. 179 Kulturelle Objekte als Symbole und methodologischer Symbolismus ........................180 Technik in logischen, teleologischen und kulturellen Räumen ..............................184 Sinnüberschuss, Subversion und kulturelle Logik der Objekte ..............................190
6. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte ..............................195 6.1 Die kantische Architektonik der Imperative................................................195 6.2 Die pragmatische Lücke ................................................................. 200
6.3 Glück, Wertorientierung und die Objektivität der Werte .................................... 203 6.4 Die technische Vermittlungsform der Wertprädikation ..................................... 211 6.5 Der doppelte Imperativcharakter .......................................................... 217 7. Übergeordnetes Geschehen: Kultur hinter unserem Rücken? .......................... 223 7.1 Die exzentrischen Welten im zentrischen Weltbild......................................... 224 7.2 Philosophieren als Graben ............................................................... 234 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5
Die Selbstvergewisserung der Kultur................................................... 247 Die Abstraktion in der Transzendentalphilosophie ........................................ 248 Reflektierende Urteilskraft ............................................................... 250 Das Symbolische als »latente Einheit des Problems« ..................................... 262 Cassirers transzendentale Abduktion ...................................................... 271 Das Leben kommt (im Hoheitsanspruch des Geistes) zu sich .............................. 282
9. 9.1 9.2 9.3 9.4
Dialektik und Leibapriori ............................................................... 287 Die Kritik als das logische Gewissen der Kultur ........................................... 288 Das Fenster zur Wirklichkeit ............................................................. 292 Die Perspektivität des weltkonstituierenden Eingriffs ..................................... 294 Die Hürden des dialektischen Verhältnisses............................................... 300
10. Kein Fazit, aber zum Trost ............................................................. 307 Siglenverzeichnis ........................................................................... 309 Werke Simmels............................................................................... 309 Werke Cassirers...............................................................................310 Werke Kants .................................................................................. 311 Literaturverzeichnis .........................................................................313
Vorwort
Bei diesem Buch handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Dissertation, mit der ich im Oktober 2020 am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt promoviert wurde. Viele Menschen haben zu meinem Weg zur Promotion und zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Sie sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Bei Christoph Hubig und Petra Gehring möchte ich mich für die Betreuung meiner Arbeit bedanken. Ihre fachliche Expertise, motivierende Unterstützung und stets konstruktiven Ratschläge haben maßgeblich dazu beigetragen, meine Gedanken weiterzuentwickeln und auf höhere Reflexionsstufen zu treiben. Ein besonderer Dank geht auch an Andreas Luckner für den seit meiner Zulassungsarbeit fortwährenden Austausch, aus dem immer wieder wertvolle Einsichten und Anregungen für meine Arbeit hervorgingen. Außerdem möchte ich Sophie Loidolt, die als Prüferin eingesprungen ist, und Mikael Hård für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes danken. Für die entgegenkommende und verständnisvolle Betreuung dieses Veröffentlichungsprojekts seitens des transcript Verlags gilt mein Dank Jonas Geske. Ermöglicht wurde diese Arbeit auch durch die finanzielle und intellektuelle Förderung, von der ich im DFG-Graduiertenkolleg »Topologie der Technik« an der Technischen Universität Darmstadt profitieren durfte. Bei meinen dortigen Kolleg:innen bedanke ich mich für den angenehmen und regen Austausch. Gesondert erwähnt sollen hier Bahar Şen und Kaja Tulatz sein. Dank Bahar wurde die Interpretationsarbeit an Simmels Werk zu einer gemeinsamen. Ohne Kajas Rat und Beistand während meines Promotionsprojekts, vor allem in den letzten Tagen und Stunden vor der Abgabe, hätte ich dieses nicht erfolgreich beenden können. Emanuel Grammenos, Eva-Maria Scheiber und Timo Klattenhoff danke ich für fachliche, freundschaftliche und vor allem ermutigende Gespräche. Ein ganz besonderer Dank gebührt meinen unermüdlichen Korrekturleser:innen: Lorena Greppo, Eva-Maria Scheiber, Thomas Seitz, Nadine Winkler, Katrin Maier, Andrea Dieter-Mitsch, Timm Schönfelder, Helena Wulff und Janina Eschmann. Meinen Kolleg:innen an der Hochschule Esslingen Kurt Möller, Florian Neuscheler, Katrin Maier, Kai Nolde, Marion Lempp und Johanna Feder möchte ich meinen Dank dafür aussprechen, dass sie mir immer wieder Freiräume für die Fertigstellung dieser
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
Arbeit ermöglichten. Ich bedanke mich auch bei meiner Familie für die vielfältige Unterstützung die ich erfahren durfte: Monika Honer, Gerhard Honer, Jens und Jessica Honer sowie Hannah und Isabell, Karl Retter, Dominik Kösling, Reiner Kösling, Karsten Josupeit, Frank Josupeit, Hildegard Josupeit, Klaus Josupeit, Ingrid Seifert und Peter Seifert sowie meine Großeltern. Last but not least möchte ich meinen Freund:innen den allergrößten Dank aussprechen, die mich während der Jahre der Arbeit an diesem Buch begleitet, ermutigt, gestützt und mir auf die eine oder andere Weise die Kraft gegeben haben, zu einem Abschluss zu kommen: Sascha Brandt, Mercedes Talmon-Braun, Michael Braun, Eva-Maria Scheiber, Estelle Zorn, Silke Bastian, Björn Kässer, Philipp Reichrath, Timm Schönfelder, Jana Freitag, Lorena Greppo, Emanuel Grammenos, Helena Wulff, Thomas Seitz, Lori Hamen Wagner, Björn Schembera, Stefanie Brüggemann, Nadine Andreas, Noemi Soltesz, Benjamin Schaible, Linda Göbl, Jenny Block, Anika Rauschenbach, Stephanie Rifkin, Viktoria Kasak, Anke Schnell, Sarah Feldmaier, Steffi Freudenberg, Kitty Barisic, Anna Zapanta und außerdem Jürgen Hess, Simone Heinold und das Schwarzer Keiler-Team sowie alle Engagierten vom Jugendhaus Kloster Weil der Stadt.
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts legten zwei der maßgeblichen Autoren der deutschen Kulturphilosophie, Georg Simmel und Ernst Cassirer, die textliche Grundlage für die »prominenteste[…] nachidealistische[…] Diskussion« (Hubig 2011a) – gemeinhin bekannt als Simmel-Cassirer-Kontroverse. In der kulturphilosophischen Forschung wurden Simmels Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur (Simmel BuTK) und Cassirers Replik auf diesen Text (Cassirer LdK) unter zwei (zusammenhängenden) Topoi verhandelt: einmal unter der ästhetischen Frage nach dem »Status der Werke« (Hubig 2011a), das andere Mal unter metaphysisch oder erkenntniskritisch-transzendentalphilosophisch begründeten Modellen des Verlaufs kultureller Entwicklung (bspw. Recki 2000, 2004, 2015; Hubig 2006: 135ff.). Welche Kräfte wirken auf welche Weise in der Kultur? Welche Dynamiken entfalten sich in der kulturellen Entwicklung und wohin führen diese? Und in welchem Verhältnis steht der Mensch zur kulturellen Entwicklung und den von ihm geschaffenen Kulturgütern? Simmel begreift den Kulturverlauf als inhärent tragisch und wird wegen dieser Rede von der »Tragödie der Kultur« zumeist als Kulturpessimist charakterisiert. Für den sich optimistischer positionierenden Cassirer präsentieren sich kulturelle Entwicklungsprozesse zwar von Konflikten gezeichnet, aber nicht als Tragödie, sondern als Drama. Was hier jeweils unter »Tragödie« und »Drama« zu verstehen ist, soll später en détail erörtert werden. Von den beiden Topoi aus, unter denen die Simmel-Cassirer-Kontroverse rezipiert wird, schlägt Christoph Hubig die Brücke zur Technikphilosophie als der Reflexion auf die technische Vermittlungsform unserer Handlungs- und Weltbezüge. Simmels Position fungiert dabei paradigmatisch als negatives Kontrastbild zu elaborierteren Ansätzen. Gleichwohl steht eine genuin technikphilosophisch orientierte Ausarbeitung der Tragödie der Kultur1 und Cassirers Kritik an dieser noch aus. Dies gilt vor allem für eine begriffliche Schöpfung Simmels, die an zentraler Stelle des Tragödien-Aufsatzes – und
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Dies gilt nicht nur für die Tragödie, sondern für Simmels gesamtes Werk (vgl. Garcia 2005: 123). José Luís Garcias Aufsatz stellt hier eine Ausnahme dar, der zwar nicht, wie beansprucht, diese Lücke schließt, sondern vielmehr den Anfang hierzu macht.
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nicht nur dort – in zahlreichen Variationen auftaucht, von Simmel selbst aber nie in hinreichender Schärfe entwickelt wurde: Die »kulturelle Logik der Objekte« (Simmel BuTK: 408). Die Ausgangsthese dieses Buches lautet, dass diese, von der kulturphilosophischen Forschung weitgehend ignorierte begriffliche Schöpfung essentiell für das Verständnis der Architektur des Modells der Tragödie ist. Simmel spricht davon, dass die von den Menschen geschaffenen und ihnen vermittels dieses Schaffensprozesses materiell gegenübergestellten Kulturinhalte »in der Zwischenform der Objektivität […] einer immanenten Entwicklungslogik folgen« (Simmel BuTK: 408), die er im Folgenden als »kulturelle Logik der Objekte« (ebd.)2 spezifiziert und von einer naturkausalen Entwicklung und deren gesetzmäßigen Erfassung abzugrenzen bestrebt ist. Mit diesem Konzept will Simmel u. a. den »innere[n] Zwangstrieb aller ›Technik‹« (ebd.) erklären, der sich bemerkbar mache, »sobald ihre [der Technik; O.H.] Ausbildung sie aus der Reichweite des unmittelbaren Verbrauchs herausgerückt hat« (ebd.). Der kulturellen Logik der Objekte wird damit nicht nur eine technikphilosophische Dimension zugesprochen, sie wird in die Nähe der Debatte um einen Technikdeterminismus bzw. der an diese anschließende Debatte um die Macht der Technik gerückt. In der Kultur, so die simmelsche Diagnose, sei eine Eigendynamik am Werk, mit der sich der Mensch konfrontiert sehe. »[K]eineswegs« gemeint jedoch sei das »Auswachsen der Mittel zu dem Wert von Endzwecken« (ebd.: 410), insofern es sich dabei um ein psychologisches Phänomen handle, das in keiner »feste[n] Beziehung zu dem sachlichen Zusammenhang der Dinge« (ebd.: 411) stehe. Der sachliche Zusammenhang, den Simmel hier heraushebt, sei eben gestiftet durch die »immanente Logik der Kulturformungen der Dinge« (ebd.) – hier zeigt sich bereits eine Akzentverschiebung in der Formulierung – und verweist auf die relative Selbständigkeit und Normativität, Simmel spricht von »gelöste[r] Gültigkeit« (ebd.: 408), des behandelten Phänomens. In den sachlichen Zusammenhang der kulturellen Schöpfungen seien objektive Möglichkeiten der Nutzung, Interpretation, Weiterentwicklung und Anknüpfung eingeschrieben und diese bilden »das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukt wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem anderen hervor, oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen
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Neben dieser Formulierung finden sich allein in dem Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur die folgenden: »innere Logik« (Simmel BuTK: 402), »Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit«, der als »völlig sachlich« (ebd.: 402) gelten müsse, »gewisse Bildungsgesetze« (ebd.: 403), »immanente Logik« (ebd.), »Logik der unpersönlichen Gebilde und Zusammenhänge«, die »mit Dynamik geladen« (ebd.) sei, »eigene[...] Sachlogik« (ebd.: 410), »daß die Objekte eine eigene Logik ihrer Entwicklung haben« (ebd.), »Logik des Objekts« (ebd.: 413), »rein sachliche[...] Entwicklungslogik« (ebd.), »Inhalte aber [sind] durch ihre Objektivität einer Eigenlogik überantwortet« (ebd.: 414), vom »Kulturzweck […] immer weiter abführenden Logik« (ebd.: 415 [Herv. i.O.]), »Eigengesetzlichkeit der von ihm [dem Menschen] selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen« (ebd.: 415–416). Allein die Häufigkeit, mit der sich Simmel auf diese kulturelle Logik der Objekte bezieht, mag, wenn zwar nicht als Beweis, als Indiz für die zentrale Bedeutung des Konzeptes gelten.
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
Subjekt überhaupt und in welchem Maße von Tiefe und Vollständigkeit es aufgenommen und seiner Kulturbedeutung zugeführt wird.« (Ebd.) Der kulturkritische Eindruck dieser Zeilen verstärkt sich noch, wenn Simmel erklärt, die »kulturelle Logik der Objekte« sei ein umfassendes Phänomen, von dem »[d]er ›Fetischcharakter‹, den Karl Marx den wirtschaftlichen Objekten in der Epoche der Warenproduktion zuspricht, […] nur ein besonders modifizierter Fall dieses allgemeinen Schicksals unserer Kulturinhalte« (ebd.) darstelle. Vergegenwärtigen wir uns aber, dass der Fetischcharakter jenes Phänomen bezeichnet, dass die Geld- und Warenform – die Simmel selbst in der Philosophie des Geldes untersucht – die gesellschaftliche Beschaffenheit der Produktionsverhältnisse und so den Warengebrauchswert »sachlich verschleiert« (Marx 1965: 55) und dieses »Vergessen[...] der Urheberschaft der Versachlichung« (Hubig 2015: 24) den möglichen Umgang mit ihr einschränkt, so scheint nun in Simmels Rede von der Entwicklung des Reichs der Kulturprodukte, die ›fast beziehungslos zu dem Wollen und der Persönlichkeit der Produzenten‹ stattfinde, die Kritik an einem defizitären Verhältnis auf, das das menschliche Subjekt zu kulturellen Objekten einnimmt. In einem solchen defizitären Verhältnis gerate der Mensch zum »bloße[n] Träger des Zwangs« (Simmel BuTK: 411) und verlaufe sich »in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben« (ebd.), anders ausgedrückt: Der Subjektstatus des Menschen wird prekär. Gleichzeitig will Simmel mit dieser Kritik nicht – und das erkennt grundsätzlich auch sein Kritiker Cassirer an (vgl. Cassirer LdK: 465) – die Kultur bzw. spezifischer die Kulturprodukte selbst als zu überwindendes Übel markieren; begreift er die Form der kulturellen Gegenständlichkeit, zu der sich das Subjekt in ein Spannungsverhältnis setzt, doch weiterhin als Voraussetzung dafür, dass sich das menschliche Individuum überhaupt zur Persönlichkeit kultivieren bzw. die in ihm ruhenden Anlagen zur Verwirklichung bringen könne (vgl. Simmel BuTK: 386–390). Dieser knappe Aufriss gestattet es, die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit in einer ersten Fassung zu formulieren: Die »kulturelle Logik der Objekte« soll im Kontext der Simmel-Cassirer-Kontroverse konzeptionell herausgearbeitet werden, um sie als Begriff für die Technikphilosophie und die Debatte um eine Eigendynamik oder Macht der Technik fruchtbar zu machen. Diese Zielsetzung und die mit ihr verbundenen Herausforderungen gilt es, im Folgenden weiter zu präzisieren. Hierfür wird in den nächsten beiden Unterkapiteln der methodische Zugang zur Kulturphilosophie als historische Erscheinungsform im Kontext der technikphilosophischen Diskussion einerseits (1.1) und der methodische Leitfaden der Arbeit an der textlichen Basis der Kontroverse andererseits (1.2) vorgestellt. Sowohl der methodische Zugang als der methodische Leitfaden lassen sich als »Aktualisierung« fassen.
1.1 Aktualisierung als methodischer Zugang zur Kontroverse 1.1.1
Aktualisierung als doppeltes Medialitätsverhältnis
Nach einer längeren Zeit des Schattendaseins konnte in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance der deutschen Kulturphilosophie beobachtet werden, die sich keinesfalls auf
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
den deutschen Sprachraum beschränkte. Für die von jüdischen Autoren geprägte und vom aufklärerischen Geist getragene Denktraditionen der Kulturphilosophie des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatte der Nationalsozialismus nicht nur einen personellen Bruch bedeutet. Im Nazi-Regime geächtet und im Exil mit institutionellen und sprachlichen Hürden konfrontiert, drohte sich ihre Rezeptionslinie in der Geschichte zu verlieren, während Strömungen mit rechtskonservativer und völkischer Ausrichtung dem Ungeist des Faschismus zuarbeiteten (vgl. Haug 1989: 7; Sandkühler 2006: 17–20; Recki 2010: 1346–1347). Die Spuren der Kulturphilosophie lassen sich zwar noch bei manchen Autoren Nachkriegsdeutschlands erkennen (vgl. Recki 2010: 1346),3 doch markierte »Kulturphilosophie« in der Bonner Republik primär ein Feld philosophiegeschichtlicher Forschung: »Blickt man auf die reife wissenschaftliche Gestalt der K[ultur]-Philosophie, so ist sie weder alt noch auch alt geworden«, schreibt Wilhelm Perpeet (1976a: 44) im Archiv für Begriffsgeschichte (vgl. auch Perpeet 1976b: 1310). Sie sei »die Erscheinung einer Zeit, in der es allenthalben ›kulturte‹« (Perpeet 1976a: 44), eine Art »›Mode‹-Philosophie der sog. Goldenen Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts« (ebd.) und könne nun, »[b]ei ausreichendem Abstand« (ebd.: 49), hinsichtlich ihrer Problembestände und Themengebiete historisch-strukturiert aufgearbeitet werden. Die Kulturphilosophie erscheint in Perpeets Zugang als vergangenes Phänomen, das zeitlich und kontextuell relativ klar umrissen ist, zwar auch einer philosophischen Kritik unterzogen wird, dabei aber wenig zur Gegenwart zu sagen hat. Dem entgegengesetzt sieht Ralf Konersmann (1996a) mit der erneuten diskursiven Konjunktur des Kulturbegriffs »es an der Zeit […], die Kulturphilosophie aus dem Gehege der archivarischen Betreuung herauszuführen« (Konersmann 1996a: 21). Für Konersmann dient der Blick auf den historisch-gesellschaftlichen Kontext, in dem die kulturphilosophischen Ansätze ihre Ausgangsprobleme finden, dazu, »die Aktualität des kulturphilosophischen Horizonts zu ermessen« (ebd.). Die Kulturphilosophie als historische Erscheinungsform soll so »Anregung und Herausforderung« einer »künftigen und zeitgemäßen Kulturphilosophie« (ebd.: 21–22) werden. Konersmann skizziert damit ein Schema des Zugangs zur Kulturphilosophie, das ich als Aktualisierung bezeichnen möchte,4 und dem die vorliegende Arbeit folgt. Insofern der Betrachtung der kulturphilosophischen Texte und ihrer historisch-gesellschaftlichen Kontexte die Aufgabe gestellt ist, die Aktualität einer Kulturphilosophie zu ermitteln, ist jene Betrachtung bestimmt durch den Kontext des gegenwärtigen philosophischen Diskurses – d.h. im vorliegenden Fall durch die Technikphilosophie und die Diskussion über eine Eigendynamik oder Macht der Technik. Der gegenwärtige Kontext wird folglich zum Medium des historischen Textes – in der Geschichtsforschung würde man wohl davon sprechen, dass jede Zeit ihre eigenen Fragen an die Vergangenheit stellt –, so wie der
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Als ein Beispiel mag Erich Rothacker gelten, der versuchte, neben fundamentalontologischen Ansätzen auch kulturphilosophische Motive für eine philosophische Anthropologie nutzbar zu machen (vgl. Rothacker 1964; vgl. hierzu auch seinen Schüler Perpeet 1997: 77ff.). Den Grundgedanken dieser Aufteilung der Zugänge zur Kulturphilosophie und die Bezeichnung »Aktualisierung« entlehne ich einem Seminar an der Universität Stuttgart bei Matthias Neumann. In der Literatur selbst konnte ich eine entsprechende Diskussion über die Ansätze zur Kulturphilosophie nicht finden.
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
historische Text zum Medium eines gegenwärtigen Philosophierens und damit re-kontextualisiert oder eben aktualisiert wird. Die Stärke des konersmannschen Zugangs offenbart sich darin, dass er es ermöglicht, die historischen Kontextbeziehungen, die für den hier gemachten Versuch, die Simmel-Cassirer-Kontroverse für eine Technikphilosophie fruchtbar zu machen, konstitutiv sind, bewusstzumachen und zu reflektieren.5 Nun ist es eine von Sybille Krämer (2000) geltend gemachte Eigenheit, dass Medien im Gebrauch – je besser sie funktionieren – sich unsichtbar machen, diese Unsichtbarkeit Medien aber nicht zum neutralen und eigenschaftslosen Sinntransporter macht. Medien bleiben sinnkonstitutiv, auch für die Philosophie (vgl. Krämer 2000: 73–74 und 81). Medialität ist deshalb einem »jeden Philosophieren vorgängig« (Hubig 2003: 188), als etwas »Unterbewusstes«, »das nicht thematisierbar sei, ohne eben diesen Charakter zu verlieren« (ebd.). Sobald das Medium der Reflexion selbst zum Gegenstand wird, ist es
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Einen weiteren Zugang, der sich stärker einem systematischen Philosophieren verpflichtet sieht und hier nicht unerwähnt bleiben soll, skizziert Recki (2010). Ihre philosophische Perspektive gewinnt Recki über die Reflexion auf den Kulturbegriff, den sie »im Kollektivsingular als grundlegende, in alle Tätigkeiten des Menschen ausdifferenzierte Funktion der Lebensgestaltung und damit als Inbegriff poietisch-praktischer Selbstauslegung« (Recki 2010: 1341 [Herv. i.O.]) bzw. als spezifische Bereiche jener Selbstauslegung sowie im Plural als deren historisch-geografische Instanziierungen bestimmt. Anders als bei Perpeet haben wir es mit einem umfassenden Ansatz des Philosophierens zu tun, der problemgeschichtlich bis zu Platons Diskussion des Prometheus-Mythos zurückreicht – also deutlich weiter als das nominale Phänomen der Kulturphilosophie. Den Beginn einer Kulturphilosophie im engeren Sinne, eines »sachlich wie methodisch reflektiert[n] k[ultur]ph[ilosophischen] Denkens« (ebd.: 1342), sieht Recki, die sich hier der von Perpeet (1976) eingeführten Unterscheidung bedient, als materiale Kulturphilosophie bei Rousseau, als formale Kulturphilosophie bei Dilthey und dem südwestdeutschen Neukantianismus. Gegenüber der Kritik an einem solchen kulturphilosophischen Ansatz, dass dessen Gegenstand Kultur notorisch unterbestimmt sei, versucht Recki aus der Not eine Tugend zu machen: Die Kulturdefinition ist gerade deswegen angemessen, »weil darin auch Aufgaben ins einzelne gehender Theoriebildung formuliert sind« (Recki 2010: 1349). Die Gegenstandsbestimmung leide also nicht an »einer vermeidbaren begrifflichen Diffusion«, sondern offenbart die »sachlichen Schwierigkeiten« (ebd.), an denen sich kulturphilosophische Reflexion abarbeitet. Diese Schwierigkeiten systematisierend unterscheidet Recki eine ontologische (Status der Dinge, die als Träger von Bedeutung nicht im Dingcharakter aufgehen bzw. »Status von Handlungsereignissen, deren Bedeutung sich institutionell verdinglicht«, ebd.), identitätstheoretische (Verhältnis von Ein- und Ganzheit zu sich agonal verselbständigender Pluralität der Kultur), handlungstheoretische (Verhältnis von praxis zu poiesis) und praktisch-ethische Perspektive (insofern sich der »evaluativ-normative[...] Charakter des humanen Selbstverständnisses unweigerlich auf das K[ultur]verständnis« projiziert und sich damit »das methodische Kernproblem aller Moral […] in der Beziehung des Menschen zur K[ultur] als seiner Lebenswelt geradezu exemplifiziert«, ebd. [Herv. i.O.]). Ohne eine Problemgeschichte auszublenden, löst Recki den Problemhorizont von seinem historischen Kontext und konstituiert ihn damit überzeitlich. Einem solchen Ansatz, der die Tradition der Kulturphilosophie bis in die Antike zurückreichen lässt, wirft Perpeet wiederum »eine Verwechslung von Kulturphilosophie [also jener zeitlich begrenzen Tradition, die sich explizit als solche versteht; O.H.] mit Kulturweisheit [vorhergehende philosophische Beschäftigung mit der Kultur, die sich aber in ihrer Gegenstandsbeziehung nicht als Kulturphilosophie reflektiert; O.H.]« (Perpeet 1997: 17) vor. Die Diskussion um diese verschiedenen Zugänge zur und Verständnisweisen der Kulturphilosophie kann und soll hier aber nicht entscheiden werden.
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
eben nicht mehr Medium. Während dieser »blinde Fleck der Philosophie«, so der vielsagende Titel einer Rezension Jochen Hörischs (2003), damit nicht aufzuheben und »Gegenstand einer absoluten Erkenntnis oder Reflexion sein« (Hubig 2003: 188) sein kann, besteht doch die Möglichkeit, nach dem Vollzug der Aktualisierung die oben herausgestellte doppelte Medialität meines Vorhabens als Aspekt der Methodik zu reflektieren (vgl. hierzu auch ebd.). So wird uns der Kontext der technikphilosophischen Diskussion in der Aktualisierung immer wieder begegnen, kann dort jedoch nicht in seiner Medialität reflektiert werden. Geboten erscheint mir diese Reflexion, die im strengen Sinne fragmentarisch bleiben muss6 und der Arbeit nun vorangestellt ist, weil nicht nur die Zielsetzung der Arbeit, sondern vor allem die zu bewältigende philosophische Herausforderung durch diese Medialität vermittelt und aus ihr heraus verständlich wird.
1.1.2 Technikdeterminismus und Macht der Technik Die Rede von der »Tragödie der Kultur« und einer »kulturellen Logik« bzw. »Eigenlogik der Objekte«, auf die ein »Zwangstrieb« der Technik zurückzuführen sei und die den Menschen zum »Träger eines Zwangs« degradiere, lässt Simmel nicht nur als Kulturpessimisten auftreten, sondern rückt ihn zumindest in die Nähe technikdeterministischer Positionen, die wir sowohl in der Philosophie als auch in der Soziologie und Geschichtswissenschaft finden. Ein Blick in entsprechende Diskussionen verrät uns jedoch, dass technikdeterministische Positionen bei ihrer Formulierung auf gewichtige Probleme stoßen. Da es mir darum geht, das von Simmel angedeutete Konzept begrifflich zu schärfen und für die Technikphilosophie fruchtbar zu machen – unabhängig davon, ob es am Ende als technikdeterministisch zu klassifizieren ist oder nicht –, ist es angezeigt, sich in einem Überblick der entsprechenden Probleme und Herausforderungen zu vergewissern. Jene Probleme und Herausforderungen bilden das Medium, durch das auf die Simmel-Cassirer-Kontroverse geblickt wird, und so den Kontext, in dem die Diskussion erfolgt. Aus soziologischer Perspektive identifiziert Nina Degele (2002) drei Merkmale, die so etwas wie den »technikdeterministische[n] Kern« (ebd.: 24) ausmachen. Der Technikdeterminismus begreife (1) »technischen Wandel als unverursacht«, die Technik besitze eine eigene Dynamik, eine eigene Gesetzmäßigkeit, »die sich nicht auf andere Logiken wie die der Wissenschaft, des Militärs oder auch der Politik zurückführen lässt« (ebd.: 24). In dieser eigenen Dynamik sind (2) »technische Entwicklungen vom menschlichen Willen unabhängig, sie geraten außer Kontrolle« (ebd.: 24 [Herv. i.O.]) und können folglich nicht durch intendierte Steuerungseingriffe gelenkt werden. Vielmehr lenkt und verursacht (3) die technische Entwicklung die soziale Entwicklung. Technik wird demgemäß als »unabhängige Variable sozialen Wandels [modelliert], welche Anpassungsleistungen des sozialen Systems an die Eigenlogik der Technik erfordert und erzwingt« (ebd.: 25).
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Gerhard Gamm (1994; 2000) hat für jene bedeutungskonstituierende Funktion des Kontextes den Ausdruck der unbestimmten Bestimmtheit geprägt. Als Hintergrund, vor dem etwas erscheint und allein vor dem etwas erscheinen kann, bleibt er immer unscharf und erfüllt seine Funktion gerade darin, dass er nicht im Fokus steht: »Der Kontext hilft uns trotz seiner definitiven Unabschließbarkeit, den Text zu verstehen.« (Gamm 2000: 297)
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
Technik erscheint insgesamt als »außersoziale[r] Tatbestand« (ebd.: 24; siehe auch Bimber 1996: 88), der eine Gesellschaft über Sachzwänge letztendlich entweder in die Utopie oder eine Dystopie führt. Bruce Bimber (1996) unterscheidet verschiedene Ausprägungen des Technikdeterminismus, von denen er die strengste Form7 als »nomological accounts« bezeichnet. Charakterisiert sind »nomological accounts« dadurch, dass der Einfluss von Technik auf die Gesellschaft in Kausalschemata beschrieben wird, die angenommenen Wirkmechanismen also (quasi) naturgesetzlichen Status besitzen und nicht in sozialen oder kulturellen Normen begründet liegen (vgl. Bimber 1996: 83). Dass sich eine solche Position nicht auf konsistente Weise durchhalten lässt und erhobene Erklärungsansprüche nicht eingelöst werden können, lässt sich am Beispiel des Wirtschaftshistorikers Robert Heilbroner (1996a; 1996b) illustrieren: Zwar beschränkt Heilbroner seinen Anspruch darauf, dass die technologische Entwicklung das Wesen der sozioökonomischen Organisation bestimme, setzt Technologie aber dennoch als »prime mover of social history« (Heilbroner 1996a: 54), der eigenen Gesetzen folge, in denen die historische Entwicklung klar definiert ist: »[T]echnical conquest of nature that follows one and only one grand avenue of advance.« (Ebd.: 55) Neben einigen Plausibilisierungen eines solchen Entwicklungsgesetzes, die uns hier nicht zu interessieren brauchen, gibt Heilbroner zwei Gründe für die Vorherbestimmtheit des Voranschreitens der Technik: Zum einen beschränke der jeweils gesellschaftlich verfügbare Bestand an (naturwissenschaftlichem) Wissen die technologischen Kapazitäten einer Zeit und zeichne über diese Abhängigkeit der technischen Entwicklung eine Bahn vor. Zum anderen sei es das akkumulierte Kapital, das über die Entwicklung spezialisierter Industriezweige, Arbeitsteilung und kongruente Anschlusstechnologien (bspw. die Möglichkeiten, Rohstoffmaterialien ausreichend effizient zu verarbeiten) das technische Vermögen und seine Entwicklung limitiere (vgl. ebd.: 59). Gegebene Technologien, die in ihrem Auftreten und ihrer Verbreitung gemäß jener beiden Faktoren eine notwendige Abfolge beschreiben, prägten dann wiederum soziale und politische Merkmale einer Gesellschaft; jedenfalls insofern diese direkt mit dem Produktionsprozess in Verbindung stünden, wie die Zusammensetzung der Arbeiter:innen, die jeweils für die Nutzung der Technologie notwendig sind, und die hierarchische Organisation des Arbeitsprozesses, der wegen der zum Einsatz kommenden Gerätschaften unterschiedliche Arten der Aufsicht und Koordination bedürfte (vgl. ebd.: 60). Für alle, denen hier noch nicht aufgefallen ist, wie über die Rückführung der technischen Entwicklung auf soziale Elemente wie verfügbares naturwissenschaftliches Wissen abhängige und unabhängige Variable des Erklärungsmodells vermischt werden (vgl. hierzu auch Bimber 1996: 88), macht es Heilbroner noch explizit: »[E]ven where technology seems unquestionably to play the critical role, an independent ›social‹ element unavoidably enters the scene in the design of technology, which must take into account such facts as the level of education of the work force or its relative price.« (Heilbroner 1996a: 60)
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Genau genommen handelt es sich bei dieser Form auch um die Einzige, die als Technikdeterminismus gelten kann, also tatsächlich deterministische Zusammenhänge proklamiert.
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So präge die Maschine das soziale Verhältnis der Arbeit genauso, wie es sie widerspiegle (vgl. ebd.: 61). Wenn in der Folge der technologische Fortschritt selbst zum sozialen Prozess erklärt wird, der als solcher durch politisch-gesellschaftliche Maßnahmen beeinflusst werden kann, bleibt Heilbroner lediglich das Postulat eines »general level of technology« (ebd.: 63), das einem unabhängig bestimmten Pfad folge, aber dann kaum Erklärungskraft für soziale Gegebenheiten besitzt. Heilbroner bleibt aber dabei: »[T]o relegate technology from an undeserved position of premium mobile in history to that of a mediating factor, both acted upon by and acting on the body of society, is not to write off its influence but only to specify its mode of operation with greater precision.« (Ebd.: 63 [Herv. i.O.]) Dieser grundlegende Einfluss der Technik auf soziale Entwicklungen dürfte jedoch unstrittig sein, während die versprochene Präzision mit einem solchen »soft determinism« (ebd.: 61) gerade nicht erreicht wird. Zurück bleibt ein völlig vages Kausalschema, innerhalb dessen ein mächtiger Einfluss der Technik auf die soziale Organisation des Produktionsprozesses formuliert wird, das aber zu den angenommenen Wechselwirkungen zwischen dem Technischen und dem Sozialen nichts zu sagen hat und nicht sagen kann, solange nicht zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen unterschieden wird.8 Entsprechende Mängel, die typisch für im weitesten Sinne technikdeterministische Positionen sind (vgl. Hubig 2015: 28), lassen jedenfalls die Rolle einer Eigendynamik oder Eigenlogik der Technik für soziale Entwicklungen völlig offen, insofern mitunter – wie bei Heilbroner – Steuerungsmöglichkeiten zugestanden werden. Trotz dieser Probleme sind die »Eindrücke einer Übermacht der Technik und eines Kontrollverlustes gegenüber der Technik« (ebd.: 27) nicht weniger geworden und so auch nicht die Versuche, unter Rückgriff auf »Theoriebestände[n] der Fachwissenschaften« (ebd.: 32) Ansätze zu entwickeln, die eine Eigendynamik der Technik formulieren. Eine Variante, die sich großer Popularität erfreut, sind die Bezüge auf Evolutionstheorien. Ausgehend von der Beobachtung, dass nicht alle Folgen, Effekte und Entwicklungen des technischen Handelns intendiert sind, aber künftiges technisches Handeln beeinflussen können, wird die Eigendynamik und die bestimmende Kraft der Technik in einem »übergeordnete[n] Geschehen« (ebd.: 36) verortet, das als Evolution (der Technik) modelliert wird. In Probleme geraten aber auch jene Modellierungen eines »technologischen Evolutionismus« (ebd.: 33), wenn schließlich ein evolutionäres Geschehen »Steuerungsinstanz jenseits menschlicher Vollzüge« sein soll, das »mit diesen Vollzügen ›arbeitet‹« (ebd.: 44). Die »Technikentwicklung als Teil der Kulturentwicklung« wird auf solche Weise mit ihren »Theorien, Hypothesen, zeichenmäßig fixierte[n] Schemata technischen Prozessierens, Patente[n]« (ebd.) mittels einer Ausweitung des »Definitionsbereich[s] der Molekularbiologie mit seinen ›Gesetzen‹« einer »Homogenität des Prozessierens unterstellt«
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Tatsächlich greift Heilbroner (1996a) die Unterscheidung zum Beginn seines Essays sogar auf (vgl. ebd.: 54), um sie im Folgenden umso konsequenter zu vernachlässigen. In einer kritischen Rückschau auf den eigenen Text erfüllt der Rückgriff auf Aristoteles‘ causa materialis und causa efficiens eine entsprechende Funktion. Sein ›soft determinism‹ hat sich dort aber freilich zu einem rein heuristischen Schema gewandelt (vgl. Heilbronner 1996b).
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(ebd.: 45). D.h. jedoch nichts anderes, als dass die Technikentwicklung selbst naturalisiert wird. Die Geltungsbedingungen und Voraussetzungen der Analogiebildung im Rückgriff auf evolutionäre Modellierungen werden mit diesem Schritt ausgeblendet, sodass letztendlich überhaupt keine Analogiebildung mehr stattfindet, sondern kulturelle Prozesse in Absehung von deren Eigenheiten dem Anwendungsbereich entsprechender Modellierungen überantwortet werden. Sollen damit aber die Kriterien, nach denen Technologien ausgewählt, angewandt und weiterentwickelt werden, aus dem evolutionären Prozess abgeleitet werden, stößt eine entsprechende Erklärung an eine »grammatische Schwelle« (ebd.: 43). Sie müsste beschreiben, wie wir als Handelnde zu entsprechenden Kriterien (wenn nicht schon zur Technik selbst) ein anerkennendes oder ablehnendes Verhältnis einnehmen. Hier weitere Determinanten zu suchen und zu identifizieren, stellt uns jedoch »immerfort in die Position, ein Verhältnis zu solchen Determinanten einnehmen zu müssen, gleich ob diese veränderbar erscheinen oder nicht« (ebd.: 47).9 Kulturprodukte wie technische Gerätschaften, technische Systeme oder technologisches Wissen sind eben, wie Hubig hier einwendet, »in anderer Hinsicht Instanzen der Bezugnahme als Natureffekte« (ebd.). Letztere werden »als hinreichende Bedingungen für Erklärungen« (ebd.) erkannt und können so auch technisch genutzt werden, Kulturprodukte stehen demgegenüber »für Anerkennung oder Ablehnung zur Disposition« (ebd.: 46 [Herv. i.O.]). Technik als Kulturprodukt ist demnach nur notwendige Bedingung eines technischen Gestaltens und Handelns (vgl. hierzu auch W. König 2009: 73). »Denn zur Technik gehört neben dem Einsatz eines hergestellten Instruments auch die Sicherung/Regelung des Einsatzes zwecks Antizipierbarkeit und Planbarkeit auf der Basis von Wiederholbarkeit des Gelingens und des Erfolges. Zu deren Beschreibung bedürfen wir eines intentionalistischen Vokabulars. Das gilt höherstufig auch für die Entscheidung, was mit welchem Aufwand geregelt werden soll.« (Hubig 2015: 46) Diese »pragmatische Basis«, die durch die naturalistische Erklärung »gleichsam wegdefiniert« (ebd.: 46) wurde, lässt sich auch nachträglich nicht über eine evolutionäre Theorie des Lernens einholen. Zwar kann auf diese Weise über Erfahrungen von Hemmnissen und Differenzen zwischen »intendierten Zwecken und realen Ergebnissen« (ebd.) adaptive Verhaltensanpassung beschrieben werden, aber nicht, wie aus einem solchen Verhalten Handeln wird (vgl. ebd.: 47).10 Neben dieser erneuten Missachtung der Unterscheidung zwischen hinreichenden und notwendigen Bedingungen steht eine naturalis9
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Dabei lässt die Anknüpfung an Bestände der Evolutionstheorien in der Beschreibung technischer Entwicklungen durchaus zu, jene Probleme zu umgehen, wie Hubig darlegt. Nur handelt es sich bei den entsprechenden Modellierungen dann nicht mehr um ein unaufhaltsames Eigenleben der Technik, dem die Menschen hilflos gegenüberstehen, sondern gerade um ein Hilfsmittel zur Entlastung oder Optimierung, um definierte Felder wegen deren Überkomplexität unter bewusstem Steuerungsverzicht, aber »unter strategischen Vorgaben der Kriterien der Optimierung« (Hubig 2015: 44), einem quasi-evolutionären Geschehen zu überlassen. ›Evolution‹ ist in diesem Fall ein Reflexionsbegriff, der nicht dazu dient, einen bestimmten Bereich der Welt zu bezeichnen und von anderen abzugrenzen, sondern ein bestimmtes Weltverhältnis markiert (vgl. ebd.: 36). »Operieren wir unter der Leitdifferenz ›Zufall‹ (als ontischer Zufall der ›Mutation‹ etc.) – ›Notwendigkeit‹ (des Wirkens der Selektionsprozesse), können wir die Einnahme eines anerkennenden oder ablehnenden Verhältnisses zu Kulturprodukten (einschließlich der zivilisatorischen Überfor-
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tische Theorie der Technikevolution vor dem Problem, dass sie ihre eigene Theoriegenese als Ergebnis eines evolutionären Prozesses begreifen müsste – womit letztendlich auch unklar wird, welchen Wahrheitsanspruch sie überhaupt erheben kann (vgl. ebd.: 46). Wir halten an dieser Stelle fest, dass »nomological accounts« eines Technikdeterminismus, also eines Technikdeterminismus im strengen Sinne, entweder ihren Anspruch eines Determinismus nicht aufrechterhalten können und auf nicht-deterministische, vor allem auf nicht-naturalistische Beschreibungen zurückgreifen müssen, um zu fassen, wie menschliche Subjekte ein Verhältnis zu den angenommenen Mechanismen einnehmen können, oder sie verlaufen sich eo ipso in eine naturalistische Sackgasse. Ansätzen, die in der Technikevolution eine Fortsetzung der ›natürlichen Evolution‹ sehen wollen – und damit Technik und Kultur naturalisieren –, stehen Argumentationslinien gegenüber, die die eigendynamische Entwicklung der Technik als Ablösung natürlicher Evolutionsprozesse betrachten. Zwar bedienen sich entsprechende Argumentationslinien häufig ebenfalls eines evolutionären Vokabulars (vgl. Hubig 2015: 36ff.), nutzen dieses aber metaphorisch, um Rationalitäten und Imperative zu beschreiben, die in der Technikentwicklung und im Umgang mit der Technik wirksam sind. Insofern sie keine deterministisch-kausalen Zusammenhänge formulieren, charakterisiert Bimber (1996) jene Ansätze als »normative accounts«. Prominentestes Beispiel eines solchen Ansatzes ist sicherlich Jacques Elluls The Technological Society (1964). Unter »Technik« als Inbegriff fasst Ellul (1964: 19) die Gesamtheit der Mittel. Eine technische Operation, egal wie primitiv oder komplex, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie einer bestimmten Methode in der Anwendung der Mittel folgt. Das spezifisch moderne technische Phänomen tritt für Ellul jedoch erst dann auf, wenn die Mittel Gegenstand einer bewussten und rationalen Beurteilung werden (vgl. ebd.: 19–21). Die zunächst zögerlichen, spontanen oder instinktiven Versuche der Schaffung von Mitteln werden in planvoll gestaltete und berechnete Konzepte überführt. Bestehenden und tradierten Mitteln werden damit neu geschaffene gegenübergestellt und die entstehende Pluralität erlaubt die Auswahl aus verschiedenen Mitteln. Durch das technische Phänomen der bewussten und rationalen Beurteilung ist diese Auswahl jedoch in eindeutiger Weise orientiert: Technik sei die »quest of the one best means in every field. And this ›one best means‹ is, in fact, the technical means« (ebd.: 21). Die Auswahl besitze ein objektives Kriterium, dem der oder die technisch geschulte Spezialist:in als einem »technical imperative« (ebd.) folge. ›The one best way‹ sei die Formel aller Technik (vgl. ebd.: 79) und schwinge sich zur dominierenden Rationalitätsform empor, die gesellschaftliches Handeln und die gesellschaftliche Entwicklung als »prime mover« (ebd.: 133) bestimme. Die Entscheidung über die zum Einsatz gebrachten Mittel werde dem technischen Imperativ folgend automatisiert: »There is no personal choice, in respect to magnitude, between, say, 3 and 4; 4 is greater than 3; this is a fact which has no personal reference. […] Similarly, there is no choice between two technical methods. One of them asserts itself inescapably: it results are calculated, measured, obvious, and indisputable. […] Technique itself, ipso facto and
mung unserer äußeren und inneren Natur) nicht erfassen. Wir verbleiben, wie erwähnt, im Bereich von Determinanten und hinreichenden Bedingungen.« (Hubig 2015: 47)
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without indulgence or possible discussion, selects among the means to be employed. The human being is no longer in any sense the agent of choice.« (Ebd.: 80) Die technische Perspektive präsentiere die Entscheidungssituation mit ihrer zur Verfügung stehenden technischen Lösungsoptionen in einer solchen Klarheit und Eindeutigkeit, dass die Entscheidung bereits gefällt sei. Es sei jeweils das effizienteste Mittel, das zum Einsatz komme. Ein persönlicher oder individueller Entscheidungsspielraum des Menschen entfalle, sobald das ›technische Phänomen‹ in sein Leben trete. Dem Menschen obliege es nur noch, die technisch gewählte respektive die von der Technik gewählte Option auszuführen. Ferner automatisiere sich auch der Fortschritt der Technik selbst, die Technik betreibe eine »self-augmentation« (ebd.: 85), die sich »almost without decisive intervention by man« (ebd.) vollziehe. Die Technikentwicklung in dieser Form sei weder bewusst gewählt noch beabsichtigt und entzieht sich auch der Berechnung und Voraussagbarkeit. Der Einzelne habe in ihr kaum noch einen Einfluss, aber auch die kollektive Anstrengung, die sie verwirklicht, sei nur durch die Technik selbst orientiert (vgl. ebd.: 86–87). Diese Orientierung und Dynamik entspringe aus dem Verhältnis innerhalb der Technik, aus einem »principle of the combination of techniques« (ebd.: 89): Eine jeweilige neue Technik schaffe stets die Möglichkeit und Bedingungen zahlreicher weiterer Techniken (vgl. ebd.: 87) und so träten – »almost of necessity« (ebd.: 90) – mit einer technischen Neuerung weitere auf. Nicht nur verlangten technische Probleme, die mit dem Entwicklungsprozess auftreten, »consequently« (ebd.: 92) Lösungen durch Technik und damit weiteren Fortschritt, sondern kombinierten sich die verschiedenen Techniken und technischen Elemente, auch über ihre ursprünglichen Anwendungsgebiete hinaus, »more and more spontaneously« (ebd.: 93), ohne dass der Mensch, wie Ellul nicht müde wird zu betonen, noch eine Rolle spiele. Technik stehe in einem komplexen Netzwerk aus Organisation, Distribution, Kommunikation, (Energie-)Versorgung, Verwaltung und weiteren Feldern und forme ein Equilibrium, das nun mit dem Auftauchen jeder neuen, dieses Equilibrium störenden Maschine wiederhergestellt werden müsse – und zwar, wenig überraschend, mit neuer Technik (vgl. ebd.: 112–116). »The more factors there are, the more readily they combine and the more evident is the urgent need for each technical advance. Advance for its own sake becomes proportionately greater and the expression of human autonomy proportionately feebler.« (Ebd.: 92) Der Mensch werde in dieser sich beschleunigenden Dynamik in die Rolle einer »recording devise« (ebd.: 93) gedrängt, die die Effekte der Techniken aufeinander und das jeweilige Gesamtergebnis registriere. Technik, so folgert Ellul, sei zur Realität mit eigener Substanz geworden, einem »own particular mode of being, and a life independent of our power of decision« (ebd.: 93). In dieser Realität, die die Technik geworden sei, forme sie aus der menschlichen Zivilisation ein einheitliches Ganzes, einen universellen Monismus, indem die Technik ihre inhärenten Gesetze Individuen und ihren Handlungen auferlege und diese koordiniere. Zu beobachtende Differenzen seien demgegenüber lediglich oberflächlich und sekundärer Natur (vgl. ebd.: 93–94). Die Technik folge eben dem einfachen Prinzip ›the one best way‹, sie sei »a means with a set of rules for the game« (ebd.: 97). Dementsprechend gebe es eben keine unterschiedlichen, bspw. moralisch gute oder schlechte, Anwendungen der Technik, insofern die Technik ihre Anwendung selbst bestimmt; abweichende Anwen-
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dungen seien schlicht keine technischen, wenn sie einem anderen als dem genannten Kriterium folgen (vgl. ebd.: 98–99). Nutzungen nach nicht-technischen Kriterien sind für Ellul ohnehin nicht realistisch, denn sobald Technik in ein jeweiliges Feld eingeführt worden sei, gäbe es keine ernsthafte Wahl mehr zwischen technischen und nicht-technischen Mitteln: »Nothing can compete with technical means. The choice is made a priori« (ebd.: 84). Jegliche nicht-technische Aktivität müsse im Konkurrenzverhältnis früher oder später verschwinden oder in technische Aktivitäten überführt werden (vgl. ebd.: 83). Was für jeweilige Handlungsfelder gelte, zeige sich auch für Gesellschaften und Kulturen im Ganzen, diese stünden nur jeweils an »different points along the same trajectory« (ebd.: 117). Die Steigerung der Effizienz sei schließlich nur möglich, wenn ihr alles unterworfen, wenn alles technisch geregelt werde und technische Systeme über Grenzen hinweg kompatibel seien (vgl. ebd.: 119–125). Technik ist nach Ellul also nur totalitär zu haben – und zu haben ist sie, insofern der Mensch ob der Strafe seines Untergangs ständig unter dem Druck stehe, technische Mittel einzusetzen, völlig gleich unvorhersehbarer Folgen (vgl. ebd.: 105–106). Ellul geht dabei soweit, zu sagen, dass letztendlich unausweichlich jede Technik zur Anwendung kommen müsse, alles, was technisch möglich ist, auch getan und produziert werden müsse (vgl. ebd.: 81, 93 und 99). Nicht zuletzt erzeuge gar der Schwindel im Angesicht der technisch verfügbaren Macht ein Sicherheitsbedürfnis, dem wiederum nur technisch entsprochen werden könne (vgl. ebd.: 103–104). Die künstlich-technische Umwelt, die der Mensch schuf, um gegenüber dem Selektionsdruck der Natur (die in dieser Vorstellung dann bereits technomorph modelliert ist) zu bestehen, erzeuge einen neuen Selektionsdruck (vgl. Hubig 2015: 37), dem der Mensch sich nun nicht mehr entziehen könne und ihn in Elluls Beschreibung auf eine bestimmte Einstellung zur Realität festlege, insofern auch die Überwindung jeweiliger Technik nur im Namen des technischen Kriteriums mittels neuer Technik erfolgen könne (vgl. Ellul 1964: 110 und 131–132). Autonom sei, so Ellul weiter, schließlich nicht der Mensch, sondern die Technik (vgl. ebd.: 133ff.). Was Ellul hierunter versteht, ist eine Unabhängigkeit von anderen Gebieten wie Ökonomie, Politik, sozialer Situation, moralischen und geistigen Werten. Die Technik emanzipiere sich von den Zielen und Gegebenheiten anderer Bereiche und vervollkommne nur ihre jeweiligen Mittel und bedinge hierüber Veränderungen in diesen anderen Bereichen. Beschränkt werde diese Autonomie lediglich von physikalischen und biologischen Gesetzen, die die Technik jedoch für sich zu nutzen und damit unter Kontrolle zu bringen suche. Vor allem der Mensch als biologisches Wesen werde damit zur Herausforderung für die Technik, je weiter sie in soziale Prozesse eindringe und dort mit der Freiheit und Unvorhersehbarkeit menschlichen Verhaltens konfrontiert werde: ein Hindernis für die Kalkulation von Mitteln und der Steigerung der Effizienz. »The individual must be fashioned by techniques, either negatively (by the techniques of understanding man) or positively (by adaption of man to the technical framework), in order to wipe out the blots his personal determination introduces into the perfect design of the organization.« (Ebd.: 138)
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Vor der Technik gebe es folglich kein Entkommen: Weder materiell lasse sich ein Leben jenseits der technischen Gesellschaft noch effektiv führen noch könne eine Unabhängigkeit im Geiste bewahrt werden: »Spiritually, it will be impossible for the individual to disassociate himself from society. […] We are constrained to be ›engaged,‹[sic!] as the existentialists say, with technique. Positively or negatively, our spiritual attitude is constantly urged, if not determined, by this situation. […] The autonomy of technique forbids the man of today to choose his destiny.« (Ebd.: 140) Die technische Gesellschaft, in der früher oder später alles vom »technical point of view« gesehen werde, bedeutet in Elluls Vision schlicht »technical enslavement« (ebd.: 117). Jegliche Gegenmaßnahmen, die die Macht der Technik ausgleichen und die menschliche Kontrolle über das eigene Leben bewahren könnten, kämen bereits zu spät (vgl. ebd.: 130), die technischen Systeme sind in ihren planmäßigen Abläufen zu inflexibel geworden (vgl. ebd.: 112). Die Notwendigkeit, die die komplexen technischen Zusammenhänge charakterisiere, verunmögliche eine Modifikation des Systems, die nicht von der Technik selbst ausgeht (vgl. ebd.: 116). Residuen mögen in der technischen Gesellschaft zwar noch existieren, doch hätten sie keine Zukunft, sie seien verdammt sich der Technik zu unterwerfen oder völlig zu verschwinden (vgl. ebd.: 147). Damit jedoch nicht genug, denn indem die Technik in ihrer alles durchdringenden Weise den Menschen auch ihre Mysterien raubt, setzt sie sich selbst an ihre Stelle, wird selbst zum heiligen Mysterium, werde als Heilsbringerin verehrt und als Zerstörerin gefürchtet, aber von den wenigsten verstanden (vgl. ebd.: 141–144). Die weltumfassende und weltdurchdringende technische Rationalität, die alles mithilfe ihrer Effizienz eben dieser Effizienz unterwerfe, so lässt sich Elluls Argumentationslinie in prägnanter Formel zusammenfassen, schwingt sich zur Schicksalslenkerin der Menschheit auf. Fraglich ist, ob sich Ellul der Ironie bewusst war, dass er wohl seinerseits ein Opfer jener Mystifikation der Technik wurde, wenn er sich offensichtlich davor scheut, das zentrale Kriterium der technischen Rationalität, die Effizienz der Mittel, selbst einer begrifflichen Untersuchung zu unterziehen. Ziehen wir nur ein paar seiner Formulierungen heran, in denen Ellul darüber spricht, welche Techniken sich im evolutionären Geschehen durchsetzen werden, also am effizientesten seien, sehen wir schnell, wo das Problem in der ellul‘schen Fassung einer Eigenlogik liegt: Die beste Technik sei nämlich stets jene, »which makes itself felt the least and which represent the least burden« (ebd.: 100), die »most adaptable and, consequently, the most plastic one« (ebd.: 139) sei. Nicht nur, dass ein solcher Technik-Evolutionismus in die Verlegenheit gerät, erklären zu müssen, wie eine »technical environment« (ebd.:130), der sich alles anpassen oder untergehen müsse, sich nun gleichzeitig selbst den Gegebenheiten anpasse, sodass sich nur die effizientesten Mittel durchsetzen,11 auch wird das Kriterium der Effizienz zur
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Mit dieser Herausforderung könnte eine technikevolutionistische Argumentationslinie, die Technik und Kultur nicht naturalisiert und dementsprechend auch keine naturwissenschaftliche Beschreibung von Entwicklungsprozessen anstrebt, noch umgehen, doch scheint Ellul dieses Problem nicht einmal zu bemerken.
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Tautologie: Wie in einer prädikativen Rede vom Gesetz des »survival of the fittest« das Anpassungskriterium über faktisches Überleben bestimmt wird (vgl. Hubig 2015: 35), wird bei Ellul Effizienz, die sich in der Anpassung an Gegebenheiten zeige, nur danach bestimmt, welche Technik sich eben durchsetze. Wären Elluls Aussagen jedoch nichtprädikativ zu verstehen, sondern markierten nur im Sinne eines »Modells für…« einen epistemischen Möglichkeitsraum (vgl. ebd.: 41), stünden wir erst am Anfang der Theoriebildung zu einer Eigenlogik der Technik. Die Rede vom ›one best way‹ und den ›rules for the game‹ löst sich begrifflich in Nichts auf. Hinzu kommt, dass die empirische Betrachtung technischer Entwicklungsprozesse und technischer Entscheidungen nicht die Eindeutigkeit eines ›one best way‹ zeigt und sich auch nicht ohne weiteres auf eine solche reduzieren lässt (vgl. Degele 2002: 31). Solchen Betrachtungen entzieht sich Ellul unter anderem dadurch, dass er Beispiele auf der Makroebene technischer und gesellschaftlicher Entwicklung wählt und dabei von der Rolle der Individuen und anderen Akteuren in Aushandlungsprozessen abstrahiert (zu dieser für Technikdeterminismus typischen Fokussierung der Makroebene siehe Misa 1994) und damit ex-post die stattgefundene Entwicklung als notwendig und der Effizienz geschuldet präsentiert. Mit dieser Wahl der Betrachtungsebene hängt eine weitere Unschärfe der Argumentationslinie zusammen. Die Notwendigkeit in der Technikentwicklung, von der Ellul immer wieder spricht, bleibt stets schwammig wie bspw. in der oben zitierten Formulierung (»almost of necessity«). Sie zeigt sich eben nur auf der Makroebene des gesamtgesellschaftlichen Wandels, während unklar bleibt, welchen Charakter die Imperative der technischen Rationalität, die die Gesellschaft durchdringen, besitzen und wie sie die Individuen überhaupt nötigen: Ist die Nötigung hypothetisch, assertorisch oder kategorisch? (Vgl. Hubig 2015: 28) Die Beispiele Elluls lassen hier durchaus verschiedene Interpretationen zu und er selbst kümmert sich um diese Frage offenbar wenig. Vor allem offenbart sich erneut das Grundproblem, wie denn unser Verhältnis zu jenen indisponiblen oder indisponibel werdenden Mechanismen, Imperativen und dem Kriterium der Effizienz gebildet wird und wie die Freiheit in dieser Verhältniseinnahme verschwindet (vgl. Hubig 2013: 171); denn von Ellul scheint sie entweder verleugnet oder für bedeutungslos erklärt. Warum sollte es denn unmöglich sein, sich durch Technik automatisierte oder vorgegebene Entscheidungen – wenn wir solche einmal annehmen – selbst frei anzueignen? Warum und in welcher Form schließt eine solche Entscheidung das persönliche oder menschliche Maß aus? Die kritische Sichtung der Ausführungen Elluls liefert uns freilich keine Antworten, sondern legt jene Fragen offen, die es bei der Formulierung eines Begriffs einer kulturellen Eigenlogik zu diskutieren gilt. Von einer technischen respektive »technologischen Rationalität«, die den Menschen unfrei mache und halte, spricht auch Herbert Marcuse (1979; 1967). Für Marcuse ist Technologie ein »gesellschaftlicher Prozess« (Marcuse 1979: 286), sie nimmt – im Unterschied zu Ellul – also nicht nur Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse, sondern ist selbst wesentlich in diese verflochten. D.h., wenngleich der Technik eine eigene Dynamik und spezifische Mechanismen zugesprochen werden, erfolgt dies nicht im Modus einer Gegenüberstellung von Technologie und Gesellschaft. Technik sei also gerade nicht, wie Ellul es behauptet, gegenüber gesellschaftlichen und speziell wirtschaftlichen Faktoren ›autonom‹ (im Sinne von unabhängig), besitze aber die Tendenz, diese ihre gesellschaftliche Herkunft und Prägung zu verschleiern. Die technologische Rationalität erscheint
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als Herrschaft der Vernunft selbst, während sie tatsächlich die »Herrschaft partikularer Interessen« (ebd.: 315) sichert. »Heute verewigt und erweitert sich die Herrschaft nicht nur vermittels der Technologie, sondern als Technologie, und diese liefert der expansiven politischen Macht, die alle Kulturbereiche in sich aufnimmt, die große Legitimation.« (Marcuse 1967: 173 [Herv. i.O.]) Es ist also nicht kontingent, dass die Technik zur Herrschaft und sozialer Kontrolle gebraucht wird, jene Ausrichtung sei vielmehr »im Begriff und Aufbau der Techniken am Werke« (ebd.: 18). Bereits die Annahme eines reinen naturwissenschaftlichen Denkens, das kausale Gesetzmäßigkeiten offenlege, die in einem anschließenden, aber unabhängigen Schritt technisch angewendet werden können, führt in die Irre. Wenn die moderne Naturwissenschaft Materie »durch ihre mögliche Reaktion auf Experimente des Menschen und durch die mathematischen – also geistigen – Gesetze, denen sie genügt« (Weizsäcker 1948: 51; zitiert nach Marcuse 1967: 170) bestimme, also ihren Gegenstand im weitesten Sinne über die Operationalisierung definiert, erweist sich die gegenstandskonstitutive Beziehung als praktisch. Die »Rationalität [nimmt] die Form methodischer Konstitution, Organisation und Handhabung der Materie als bloßen Stoff der Kontrolle an, als Mittel, das sich für alle Ziele und Zwecke eignet – Mittel per se, ›an sich‹« (Marcuse 1967: 170). So wie damit das Gegenstandsverhältnis als technisch zu begreifen ist und »sich unter einem instrumentalistischen Horizont« entwickelt, ist die wissenschaftliche Rationalität »a priori Technologie […] und das Apriori einer spezifischen Technologie – nämlich Technologie als Form sozialer Kontrolle und Herrschaft« (ebd.: 172).12 Es ist dabei nicht eine konkrete Zielsetzung, die seitens der Technologie oder Wissenschaft in die Natur hineingelegt würde, denn es war das naturwissenschaftliche Denken, das zunächst die Natur über ihre Quantifizierung von jeder Teleologie entkleidete, Ziele und Werte in das Reich des Subjektiven verbannte, während allein das Faktische objektiv bestehen und der Rationalität zugänglich bleiben sollte (vgl. ebd.: 161–162). So erscheint das wissenschaftlich-technische Subjekt in seiner Beziehung zum Gegenstand, die Marcuse als praktisch ausgewiesen hatte, als neutral und eben nicht als »ethisch, ästhetisch oder politisch handelndes« (ebd.: 161): »Aber diese Neutralität ist ein positives Merkmal« (ebd.: 171 [Herv. i.O.]), insofern mit dieser Reduktion auf quantifizierbare Qualitäten, dem Entwurf der Natur und Materie als universellem Mittel, das allen Zwecken und Werten gegenüber offen sei, als Mittel per se, eine »spezifische gesellschaftliche Organisation« (ebd.: 171) einhergeht. Das husserlsche Konzept der Lebenswelt aufgreifend (vgl. Husserl 2019), legt Marcuse dar, dass die technisch-wissenschaftliche Leistung auf der vor-wissenschaftlichen Praxis fußt und diese vor-wissenschaftliche Praxis im wissenschaftlichen Entwurf idealisiert, aber deren wesentliche Struktur darin »aufbewahrt« (Marcuse 1967: 174 [Herv. i.O.]), stabilisiert und konserviert (vgl. ebd.: 179). »Formalisierung und Funktionalisierung sind vor aller Anwendung die ›reine Form‹ einer
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»Beobachtung und Experiment, die methodische Organisation und Zusammenfassung der Daten, Sätze und Schlußfolgerungen gehen niemals in einem unstrukturierten, neutralen theoretischen Raum vonstatten. Als Entwurf umfaßt Erkenntnis Einwirkungen auf Objekte oder Abstraktionen von Objekten, was sich in einem gegebenen Universum von Sprache und Handeln abspielt. Die Wissenschaft beobachtet, berechnet und theoretisiert, indem sie von einer Position in diesem Universum ausgeht.« (Marcuse 1967: 172)
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konkret-gesellschaftlichen Praxis« (ebd.: 171 [Herv. i.O.]), die diesseits und jenseits der Idealisierung trotz ihrer Offenheit für alle Zwecke »unter derselben Logik und Rationalität von Herrschaft« (ebd.: 169) steht. Wenn sich nun aber in der Technologie Herrschaft manifestiert und festigt, wie gestaltet sich die Rolle und Dynamik der Technologie konkret? Unter den Bedingungen des Leistungswettbewerbs der freien ökonomischen Subjekte führt technologische Macht zur Konzentration von ökonomischer Macht. Die am weitesten mechanisierten und rationalisiertesten Produktionsabläufe gewähren in der freien Konkurrenz den Vorteil, der es schlussendlich erlaubt, Konkurrenten zu verdrängen und in Abhängigkeit zu bringen – damit einhergehend aber immer mehr Individuen ihres Status als freie ökonomische Subjekte zu berauben oder diesen zumindest einzuschränken (vgl. Marcuse 1979: 289). Während der technische Produktionsapparat durch die profitabelste Anwendung bestimmt ist, wird das abhängig gewordene Subjekt im Produktionsapparat »zum Objekt der großangelegten Organisation und Koordination« (ebd.: 291) und zu einem kleinzuhaltenden Kostenfaktor. Zur Koordination und Organisation werden individuelle Leistungen, Fähigkeiten, Einsichten und Wissen in Quantitäten in einem »allgemeinen Bezugsrahmen standardisierter Leistung« (ebd.: 290) transformiert. Das Individuum sieht sich beurteilt und angeleitet durch äußerliche Maßstäbe, die »zugeschnitten sind auf vorgegebene Aufgaben und Funktionen«, auf die »objektiven Anforderungen des Apparates« (ebd.: 291). Dieser Anpassungsdruck des Apparates, dem Gewalt eigen ist, insofern er von Interessen bestimmt wird, die der Erhöhung des Lebensstandards der Arbeiter entgegenstehen, folgt der technologischen Rationalität der herrschenden Denkweise und sorgt dafür, auch das Denken der abhängigen Individuen entsprechend zu prägen: »Diese Rationalität begründet Urteilsformen und begünstigt Einstellungen, die die Menschen befähigen, das Diktat des Apparats zu akzeptieren und sogar zu verinnerlichen.« (Ebd.: 290) Die technologische Rationalität begrenzt sich dabei aber keineswegs auf den Produktionsapparat. Technik wird zum gesellschaftlichem Medium, in dem »Kultur, Politik und Wirtschaft zu einem allgegenwärtigen System [verschmelzen], das alle Alternativen in sich aufnimmt oder abstößt« (Marcuse 1967: 19), alles ineinandergreifen lässt, »um menschliche Triebe, Sehnsüchte und Gedanken in Zulieferungen für den Apparat zu verwandeln« (Marcuse 1979: 294). Die Bewerkstelligung dieser Verschmelzung basiert jedoch, und dies ist der entscheidende Punkt bei Marcuse, nicht oder zumindest nicht nur auf Zwang und Gewalt, sondern auf der »höchste[n] Zweckmäßigkeit« und »höchste[n] Bequemlichkeit« (ebd.: 293), mit der der Apparat das Leben für die Menschen einrichtet. Die technologische Gesellschaft ermöglicht Zeit- und Energieersparnis, passt Mittel an die Zwecke an, verschafft dem Menschen Sicherheit und Vorteile dafür, die eigene Spontaneität »dem anonymen Ratschluß« (ebd.: 293) der Technik anzuvertrauen. Die Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit, die in dem »vorgegebenem Kontinuum[...] der Mittel und Zwecke« (ebd.: 293) verwirklicht ist, die Rationalität des Apparats lässt »individuelle[n] Widerstand und Befreiung nicht nur hoffnungslos erscheinen, sondern völlig irrational« (ebd.: 296). Die Gesellschaft in ihrer technischen Ausführung wandelt »allmählich die persönliche Abhängigkeit« zur »Abhängigkeit von der ›objektiven Ordnung der Dinge‹« (Marcuse 1967: 159), verbleibt dabei aber in denselben Herrschaftsstrukturen, die sich in und über die Technik eine gesteigerte Rationalität verliehen haben. In allen Bereichen charakterisiert eine
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»neue Sachlichkeit« (Marcuse 1979: 291), wie Marcuse in Anlehnung an Thorstein Veblen formuliert, das Verhalten der Menschen, eine »höchst rationale Willfährigkeit«, die bestehenden Tatsachen, denen eine vernünftige Ordnung zugrunde zu liegen scheint, zu akzeptieren. Die »eigenen Motive und Absichten« (ebd.: 292) nach diesen Fakten einzurichten, »garantiert, daß man in der herrschenden Gesellschaft zurechtkommt« (ebd.: 296). »Die Individuen werden«, so Marcuses Urteil, »ihrer Individualität beraubt, aber nicht durch äußeren Zwang, sondern durch eben die Rationalität, die ihr Leben bestimmt« (ebd.: 295). Der Angriff auf die eigene Freiheit erscheint nicht einmal als solcher, man »tritt seine Freiheit ab an den Machtanspruch der Vernunft selbst« (ebd.). Nun ließe sich, genauso wie wir es oben bei Ellul getan haben, die Frage stellen, warum diese individuellen Entscheidungen entlang technisch geprägter Rationalität als Freiheitsverlust gewertet werden müssen, ob sie nicht reflexiv als frei anerkannt werden können. Doch anders als Ellul legt Marcuse die kritische Instanz, auf deren Grundlage er seine Anklage gegen die technologische Rationalität führt, offen: Marcuse beruft sich auf den Begriff des Individuums, den die Verfechter:innen einer liberal-individualistischen Gesellschaft selbst zum obersten Wert erkoren hatten und der eine Lebensform antizipiert, »die der vollen Entfaltung der Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen am angemessensten« (ebd.: 288) ist. Das individuelle Auffinden dieser Lebensform sowohl im Denken als auch ihre praktische Verwirklichung sieht sich jedoch mit den »Normen und Erfordernissen der herrschenden Gesellschaftsform, die nicht durch autonomes Denken und Bewusstsein eingesetzt […], sondern durch äußere Mächte« (ebd.) diktiert sind, konfrontiert. Ein solcher Individualismus kommt damit notwendig zu einer Entgegensetzung von Gesellschaft und Individuum und einer Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse im Namen eines autonomen Denkens und Handelns des Individuums. Eine solche kritische Rationalität transzendiert nun je das Faktische, um den Horizont für die unverwirklichten Möglichkeiten des Denkens, der Praxis und gesellschaftlicher Organisation zu öffnen (vgl. ebd.: 298). Sobald jedoch Vernunft im Rahmen der technologischen Rationalität in Begriffen der »höchste[n] Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit […] definiert wird, wird [sie] gleichbedeutend mit der Praxis, die diese Welt erhält. […] Rationalität wurde von einer kritischen Kraft in eine Kraft der Anpassung und Willfährigkeit verwandelt. Die Autonomie der Vernunft verliert ihre Bedeutung in dem Maße, wie die Gedanken, Gefühle und Aktionen der Menschen durch die technischen Erfordernisse des Apparats geprägt werden, den sie selbst geschaffen haben. Vernunft findet ihre Ruhestätte im System der standardisierten Kontrolle, Produktion und Konsumtion. Sie herrscht darin vermittels der Naturgesetze und Mechanismen, die Leistungsfähigkeit, Zweckmäßigkeit und Zusammenhalt des Systems sichern.« (Ebd.: 296–297) Das Individuum verbleibt in der Verfolgung seines Eigennutzes in den bestehenden, durch die technische Rationalität versiegelten Verhältnissen (vgl. hierzu auch Luckner 2008: 11ff.). Es will »keine neue Ordnung, sondern größeren Anteil an der herrschenden« (Marcuse 1979: 304). Eine neue und andere Ordnung ist nicht mehr vorstellbar, zumin-
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dest nicht als Projekt einer (kritischen) Rationalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. »Es [das Individuum] verliert seine Fähigkeit, jene [die kritische Rationalisierung] von der besonderen Form zu unterscheiden, in welcher Rationalisierung durchgeführt wird, und es verliert sein Vertrauen in ihre unverwirklichten Möglichkeiten. Seine Sachlichkeit, sein Mißtrauen allen Werten gegenüber, welche die beobachtbaren Fakten transzendieren, sein Ressentiment gegenüber allen ›quasi-persönlichen‹ und metaphysischen Interpretationen, sein Argwohn gegenüber allen Leitvorstellungen, welche die erscheinende Ordnung der Dinge, die Rationalität des Apparats auf die Rationalität der Freiheit beziehen – diese ganze Einstellung dient denen nur allzu gut, die an nichts anderem interessiert sind als daran, die herrschende Ordnung der Dinge aufrechtzuerhalten.« (Ebd.: 295) Wie in der technologischen Gesellschaft die individuelle Vernunft letztendlich partikularen, herrschenden Interessen dient und für diese ausgebeutet wird, so verkehrt sich auch die individuelle Entfaltung zu einem Mittel, das ebendiese gesellschaftliche Ordnung aufrechterhält, und gemäß diesem Zweck geformt und gestaltet wird (vgl. ebd.: 300 und 303). Marcuse spricht von »der totalen Mobilisierung der Privatsphäre für Massenproduktion und Massenkultur« (ebd.: 303), in der hinter der vermeintlichen Selbstentfaltung nur die standardisierte Funktionserfüllung steht und sich Individualität auf die besondere Form der Pflichtverinnerlichung und -übernahme »innerhalb eines allgemeinen Grundmusters« (ebd.: 304) beschränkt. Gleichwohl hält Marcuse am kritischen Anspruch fest, die unverwirklichten Möglichkeiten der Wissenschaft und Technik in den Blick zu nehmen, anstatt sich angesichts der Technikentwicklung – wie Ellul – einem Fatalismus zu ergeben oder in vor- und antimodernen Fantasien zu schwelgen, die die (moderne) Technik in toto verdammen, damit aber gewissermaßen das Kind mit dem Bade ausschütten (vgl. ebd.: 315–316). Technologie hat durchaus das Potential, in einem kritischen Verständnis befreiend und erleichternd zu wirken. Auch das durch die technologische Rationalität etablierte allgemeine Bezugssystem der Fachkenntnisse, innerhalb dessen die Funktionen und Abläufe der gesellschaftlichen (Re-)Produktion organisiert sind, versperrt nicht grundlegend eine Demokratisierung der Arbeitsprozesse; dies sei nur dann der Fall, wenn die Spezialisierung der Berufe und Tätigkeiten in der Weise zur Isolation führt, dass sie eine hierarchisch übergeordnete Aufsicht und Koordination in Form von Bürokratie und Management benötigen, die sich dann gleichzeitig rational legitimieren kann (vgl. ebd.: 307–308). Was hieran deutlich wird, ist, dass kritische und technologische Rationalität weder im vollständigen Widerspruch stehen noch als komplementär zu erachten sind. Ihr Verhältnis zueinander und ihre jeweiligen Inhalte sind im gesellschaftlichen Prozess dynamisch, sodass Elemente des kritischen Denkens in die herrschende Denkweise aufgenommen, aber dabei aus ihrem Zusammenhang gerissen werden, nur innerhalb dessen sich das progressive und befreiende Potential des Gedankens entfalten könnte (vgl. ebd.: 299). Nur wo es dem kritischen Denken gelingt, Erfahrungszusammenhänge zu verändern, die Versiegelung der Lebenswelt aufzubrechen, kann eine andere Wissenschaft und Technik entstehen (vgl. Marcuse 1967: 180–181). Eine solche Tech-
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nik und solche (Natur-)Wissenschaft könnten nach Marcuse ihr Potential verwirklichen, die materielle Produktion und Reproduktion und den Kampf ums Dasein durch eine Abschwächung oder Verabschiedung der Konkurrenz zu erleichtern (vgl. Marcuse 1979: 318). Technologie in diesem Sinne ermöglichte es der natürlichen Quelle der Individualität des Menschen, »der Einzigartigkeit seines Körpers und seiner einzigartigen Stellung im raum-zeitlichen Kontinuum« (ebd.: 316), sich nicht durch die Notwendigkeiten des Konkurrenzkampfes als »Mittel der Arbeit und der Orientierung« (ebd.) in diesem Kampf ausformen zu müssen, sondern aus eigenen »natürlichen Wurzeln her zu entwickeln« (ebd.: 318). Eine solche Entfaltung sei jedoch auch ohne den Druck der Konkurrenz und der materiellen Überlebenssicherung keine innere Angelegenheit, sondern vollziehe sich in Auseinandersetzung mit Mitmenschen und Gegenständen. Die Verwirklichung dieser Bedingungen bedeuteten eine neue Form der Individualität, insofern sie es erlauben, dass die »natürliche Einzigartigkeit« und nicht Anforderungen eines äußerlichen Apparats die »Gedanken, Triebe, Gefühle, Leidenschaften und Sehnsüchte [des jeweiligen Individuums] prägt« (ebd.: 316). Marcuse gelingt es in seiner Formulierung einer technologischen Rationalität, einige Probleme, die sich bspw. in Elluls Fassung einer solchen stellen, zu lösen oder zumindest Wege anzudeuten, auf denen eine mögliche Lösung gesucht werden kann, und damit Topoi zu markieren, die in der Aktualisierung der Simmel-Cassirer-Kontroverse von Bedeutung sein werden. Auf der anderen Seite werden auch in Marcuses Ansatz Probleme ersichtlich, die dessen Grenzen deutlich machen. Indem Marcuse Technologie als gesellschaftliches Medium begreift, das durch lebensweltliche Praktiken und Verhältnisse gestaltet und orientiert wird, können die ›rules for the game‹ über die Bedingungen des Leistungswettbewerbs und die kapitalistische Wirtschaftsordnung erklärt werden und müssen nicht wie bei Elluls ›one best way‹ in ein der Gesellschaft Jenseitiges verlegt werden – wo sie dann vielleicht nicht angreifbar sind, aber eben auch nicht erklärt werden können, weil diese Erklärung bereits wieder eine Verhältniseinnahme einschließen würde. Das Kriterium der technologischen Rationalität, mit der die Technikentwicklung und darüber gesellschaftliche Entwicklung vorangetrieben wird, ist in Marcuses Modellierung der Technik nicht inhärent oder genauer gesagt: nur insofern, wie es den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt inhärent ist. Es ist aber gerade der Schein, dass die technologische Rationalität eine Rationalität jenseits gesellschaftlicher Interessenkonstellationen verkörpert, den Marcuse als Problem einer technischen Eigenlogik ausmacht und klar benennt. Denn die herrschende Denkform und herrschenden Interessen, die in der technologischen Rationalität tatsächlich am Werk sind, führen nicht in die gleiche Richtung wie der rationale Eigennutz des Individuums, der, wenn er durch ein autonomes Denken erkannt wird, in der vollen Selbstentfaltung des Individuums liegt. Zwar besteht kein vollständiger Widerspruch zwischen beiden, insofern Bequemlichkeit und in der bestehenden Welt zurechtzukommen je auch als im Interesse des Individuums gelegen anzunehmen sind, doch versiegelt und intensiviert die technologische Rationalität die bestehenden Verhältnisse von Konkurrenz und Druck, während die wahre Selbstentfaltung des Individuums auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse als ihre Vorbedingung abzielt. Marcuse adressiert die Möglichkeit, in einer dialektischen Reflexion das Weltverhältnis der technologischen Rationalität als lediglich besondere Aktualisierung eines wissenschaftlich-
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technologischen Denkens auszuweisen und zu überwinden, und gleichzeitig die Schwierigkeit dieser kritischen Reflexion, die darin besteht, dass die technologische Rationalität ihren eigenen Charakter verschleiert und die Menschen zunehmend verlernen lässt, eine solche Reflexion vorzunehmen und auch ernst zu nehmen. Die technologische Rationalität, die von partikularen herrschenden Interessen bestimmt wird, die die scheinbare Vernünftigkeit der bestehenden Verhältnisse versichert und im Apparat von den Menschen selbst verinnerlicht wird, ist in der Tradition des marxistischen Denkens und der kritischen Theorie Ideologie. Damit sie die Gesellschaft jedoch durchdringen kann, muss als hierfür »ursächlich die Realität mächtiger Verfechter […] [ihres] Prinzips« (Hubig 2015: 29) angenommen werden. Auch wenn Marcuse dabei deutlich ist, dass diese Verfechter:innen keine geheimnisvollen verschwörerischen Mächte im Hintergrund sind, sondern Klassen, die sich und ihre Interessen über ihre Stellung im Produktionsprozess konstituieren,13 steht die Frage im Raum, »wie weit die Gestaltungskompetenz« entsprechender Klassenakteure »angesichts ihrer endlichen Verfasstheit reicht« (Hubig 2013: 171). Die Frage nach der Macht und Eigenlogik der Technik wandelt sich auf diese Weise zur Frage nach der Macht der Ideologie und ihrer Durchsetzung. Marcuse verweist an dieser Stelle auf den Anpassungsdruck, der vom Apparat auf die ökonomisch abhängigen Individuen ausgeht, die Bequemlichkeit, die die technologische Gesellschaft in vielen Bereichen ermöglicht, und die Begründbarkeit der Verhältnisse aus der technologischen Rationalität heraus. Der letztgenannte Punkt setzt natürlich zunächst voraus, dass die technologische Rationalität bereits verinnerlicht wurde, die ersten beiden Punkte entsprechen positiven und negativen Sanktionen für ein an- bzw. unangepasstes Verhalten.14 Zu zeigen wäre dann aber weiter, wie aus einem solchen Verhalten ein Handeln wird, insofern die Individuen ihr Agieren als sinnvoll und in gewissem Maße als frei begreifen, um zumindest den prekären Subjektstatus des Individuums und seine Orientierung auch jenseits wirtschaftlicher Prozesse in der technologischen Gesellschaft zu erklären. Marcuse zufolge vollzieht sich Subjektwerdung und Individualisierung in der technologischen Gesellschaft in der Masse. Der Modus ist hier jedoch der einer »Vollendung der individuellen Isolation« (Marcuse 1979: 302), die den aggressiven Impulsen unter den Bedingungen von Konkurrenz und Mangel die Hemmungen nimmt. Was den Individuen in der Gesellschaft der rücksichtslosen »Verfolgung ihres Eigennutzes« (ebd.) noch entgegenstand, löse sich in der Masse auf. Der Mensch werde so »zum standardisierten Subjekt tierischer Selbsterhaltung« (ebd.), angepasst an die Verhältnisse der technologischen Gesellschaft, die auf diese Weise aufrechterhalten werden (vgl. ebd.: 303). Ist es aber für das zugrundeliegende Problem, der Frage nach der Durchsetzung und Wirkmächtigkeit einer Ideologie, hinreichend, die Praktiken der Individuen in der technologischen Gesellschaft durch die ›Verfolgung des Eigennutzes‹ und ›tierische Selbsterhaltung‹ zu charakterisieren, aus der heraus sich die Subjektposition, Urteilsformen und Einstellungen entwickeln? Eine Reduktion
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Deutlich wird dies bspw., wenn Marcuse die Rolle der Manager:innen im Produktionsprozess behandelt und dabei Deutungen zurückweist, die in diesem Berufstyp eine neue Klasse erblicken wollen (vgl. Marcuse 1979: 310–311). Eine genauere Beschreibung der Art der erfahrenen Nötigung durch die technologische Rationalität finden wir auch bei Marcuse nicht.
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auf tierische Selbsterhaltung spräche bereits für sehr fortgeschrittene prekäre Verhältnisse der ökonomisch abhängigen Individuen, während unter ›Eigennutz‹ zunächst beinahe alles fallen kann. Explizit führt Marcuse die Bequemlichkeit an, doch erscheint es als fraglich, ob hierüber die allgemeine Gesetzlichkeit von Praktiken beschreibbar sind, die die Urteilsformen der technologischen Rationalität begründen.15 Nun mag möglicherweise auch Marcuse dies nicht als eine erschöpfende Beschreibung betrachten, doch ist festzuhalten, dass in diesem Punkt offene Fragen bleiben. Zuletzt bedarf auch die Profitorientierung in der Anwendung des Apparats, über die der Anpassungsdruck generiert wird, weiterer Erklärung, insofern man nicht einem naiven Konzept von Ökonomie als der »Optimierung des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag in der Ressourcenallokation« (Hubig 2015: 29) aufsitzen möchte. Selbstverständlich ließe sich nun mit zahlreichen weiteren Ansätzen fortfahren, um den diskursiven Kontext und die dort zu verhandelnden Probleme weiter zu katalogisieren und zu beschreiben, doch erscheint mir dieser Überblick für meine Zwecke, einige der Herausforderungen und Topoi in der Formulierung einer Eigenlogik der Objekte herauszuarbeiten, als hinreichend. Es stellt sich jedoch die Frage, warum in Anbetracht der Probleme der referierten Ansätze – die außerdem allesamt bereits einige Jahrzehnte zurückliegen – überhaupt noch technikdeterministische Positionen diskutiert oder Versuche zur Formulierung einer Eigenlogik bzw. Eigendynamik der Technik unternommen werden. Tatsächlich gelten technikdeterministische Positionen innerhalb der Philosophie, Soziologie und auch der Geschichtswissenschaft heutzutage als überwunden und bestenfalls als Randerscheinungen (vgl. MacKenzie 1996: 5; Degele 2002: 22–23; W. König 2009: 71). Doch schränken selbst Autor:innen, die den Technikdeterminismus bereits seit längerem wissenschaftlich als überwunden ansehen, dabei ein, dass dieser nach wie vor die Art prägt, wie »technology is thought about and discussed in society at large, especially where modern high technologies are concerned« (MacKenzie 1996: 5). Diese technikdeterministische Tendenz speist sich schlicht aus der kaum zu bestreitenden Tatsache, dass Technologie einen großen Einfluss auf unser gesellschaftliches Leben hat, und dem intuitiv daraus entspringenden Gedanken, Technik als wesentliche oder Haupttriebkraft von Entwicklung anzusehen (vgl. Smith/Marx 1996: xiv). Und wie diese gesellschaftlichen Phänomene erhalten bleiben, so überdauern auch technikdeterministische Denkfiguren: »Technological determinism seems to lurk in the shadows of many explanations of the role of technology in human history.« (Bimber 1996: 80) Man denke 15
Ich verweise hierzu auf mein Argument gegen Matthias Kettners (2012: 19) Begriff »GESUNDHEIT« (sprichwörtlich großgeschrieben), der alles beinhalten könne, was zum Entwurf eines subjektiv guten Lebens gehört. Mit diesem Begriff versucht Kettner Entwicklungen und Orientierungen innerhalb der sogenannten wunscherfüllenden Medizin zu begreifen. Also eine Medizin, die sich nicht mehr allein daran orientiert, Menschen von Krankheit zu heilen, sondern ihre Mittel auch für andere, bspw. für kosmetische Zwecke oder zur Leistungssteigerung nutzt. Ein solcher Begriff der »GESUNDHEIT« bleibt aber ohne Erklärungskraft oder im besten Fall ein Platzhalter, solange diese Entwürfe eines subjektiv guten Lebens nicht näher und gleichzeitig allgemein gefasst sind (was mit Blick auf deren subjektiven Charakter zu nicht unerheblichen Problemen führt) sowie deren Bezug auf die zur Verwirklichung jener Entwürfe eingesetzten Techniken herausgestellt wird (vgl. Honer 2018a).
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hier lediglich an die Debatten wie sie nach dem Votum Großbritanniens zum Austritt aus der EU 2016 oder dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA 2016 um die Sozialtechniken politischer Kampagnen geführt wurden, die Soziale Medien und dort generierte Daten nutzen, um Wahlentscheidungen zu beeinflussen, oder an die Verheißungen und Untergangsszenarien, die mit den Themen künstliche Intelligenz, Gentechnik und sogenannten Human Enhancement-Technologien verknüpft sind (zu letzterem siehe Honer 2018a). Allein deswegen kann es sich der wissenschaftliche Diskurs kaum leisten, entsprechende Argumentationsfiguren nicht zu beleuchten, zu kritisieren und ihre Probleme aufzuweisen. So setzt die hier bereits einige Male zitierte dialektische Philosophie der Technik, die Hubig in ihren Grundlinien in den drei Bänden der Kunst des Möglichen (2006; 2007; 2015) vorgelegt hat, immer wieder bei kulturpessimistischen und kulturoptimistischen Interpretationen der Technik an, um von hier aus elaboriertere Konzepte der Technik und technischen Handelns zu entwickeln. Kulturpessimistische Positionen, von denen wir bei Ellul (und in gewissem Sinne auch bei Marcuse) bereits Argumentationslinien untersucht haben, diagnostizieren mit dem Aufkommen der Maschinentechnik sich verfestigende Abhängigkeiten von den technischen Mitteln und Mittelkonzepten, die den Spielraum möglicher Zwecksetzungen verengen und bestehende Zwecke und Handlungsmuster als indisponibel erscheinen lassen. Ein solches Dominantwerden technischer Kategorien führe zu einem technizistisch verkürztem Handlungsverständnis als Bewirken in einem Zweck-Mittel-Schema und zur Verstellung (vermeintlich) ursprünglicher unmittelbarer Natur- und Selbstverhältnisse (vgl. Hubig 2006: 136–138). In kulturoptimistischer Sicht stellt sich das Voranschreiten der Technik dagegen als Entfaltung ihres Potentialcharakters dar. Nicht eine Verengung der möglichen Zwecke sei zu attestieren, sondern eine Erweiterung, indem im »realen Möglichkeitsraum« der Technik »flexibel und variabel jegliche Mittel generiert werden könnten« (ebd.: 138). Technik sei also nicht die Einschränkung des Menschen, sondern das »universelle[...] Medium theoretisch und praktisch a limine unbegrenzter Welterschließung« (ebd.: 139 [Herv. i.O.]). Diese konträren Einschätzungen der Auswirkungen technischer Mittel auf die Möglichkeiten der freien Wahl von Zwecken und Weltverhältnissen nimmt Hubig zum Anlass, »die ›Medialität‹ der Mittel, also ihre Rolle bei der Identifizierung möglicher Handlungszwecke« (ebd.: 144) zu untersuchen. Mit der Einsicht in diese Medialität der Technik erweitert sich zunächst das Verständnis von Technik über den Inbegriff der Mittel (oder des Verfügens über diese) hinaus. Technik verweist auf eine bestimmte Art und Weise, Möglichkeitsräume zu strukturieren bzw. zu überformen, sodass bestimmte Vollzüge ermöglicht sowie gesichert werden und andere verunmöglicht (vgl. ebd.: 155f.). Das Technische am Mitteleinsatz ist dann als Sicherung der Möglichkeit des Gelingens und Wiederholens von Praxisvollzügen zu bestimmen (vgl. ebd.: 141). Unter 1.1.1 wurde bereits auf die Grenzen verwiesen, vor die sich eine Konzeptualisierung von Medialität gestellt sieht, und die ebenso für die Medialität der Technik gelten. Die Herausforderung für eine solche Konzeptualisierung besteht in der »universelle[n] Mittelbarkeit menschlicher Existenz« (ebd.: 145). Denn insofern sämtliche menschlichen Weltverhältnisse, ob ontologisch, epistemisch oder praktisch, vermittelt sind, kann Vermitteltheit »nicht im eigentlichen Sinne als Ganze zum Gegenstand einer Vorstellung werden, welche sich ja dann selbst einschließen müsste«
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(ebd.: 146). Medialität oder Vermitteltheit ist also nicht auf den Begriff zu bringen. Hubig verweist deshalb auf andere Formen der Rede und des Vorstellens, wenn es darum geht, Medialität für die Technikphilosophie fruchtbar zu machen. Konkret hebt Hubig dabei auf den Charakter von Medium/Medialität als Metapher ab. Philosophische Ansätze zu Metaphern (vgl. hierzu J. König 1994; Snell 1993) unterscheiden zwischen »bloßen Metaphern« und »eigentlichen Metaphern«. Während bloße Metaphern bildhafte oder illustrative Ausdrücke von etwas sind, das sich auch in begrifflicher Rede ausdrücken lässt, und sich deshalb in eine solche begriffliche Rede rückübersetzen lässt, »drücken ›eigentliche‹ Metaphern eine Wirkung aus, […] der wir sozusagen einfach unterliegen« (Hubig 2006: 146). Der Ausdruck in der eigentlichen Metapher bringt das »Erlebnis des Vorstellens, i.e.S. Wahrnehmens, Erkennens, Kommunizierens, Herstellens etc. […] überhaupt in eine bestimmte Form« (ebd.: 147). Eigentlichen Metaphern kommt demnach eine konstitutive Rolle bei der Ausbildung neuer Vorstellungen zu, sie sind Teil des Erlebnisses von Vorstellungen selbst. Unterschieden werden kann hier – auf zweiter Ebene – wiederum zwischen »ursprünglichen Metaphern« und »absoluten Metaphern«. Erstere formen das Erlebnis assoziativ zu anderen, zu denen wir bereits eine Vorstellung besitzen. In begrenztem Maße sind sie »in bloße Metaphern überführbar, und von dort aus in Begriffe« (ebd.: 146). Im Gegensatz dazu stellen absolute Metaphern einen »unbedingte[n] Anfang« (ebd.) dar, der nicht auf andere Vorstellungen oder bloße Metaphern rückführbar ist. Der Geist zielt in absoluten Metaphern darauf, »die Wurzeln seines Vorstellens zu erhellen« (ebd.), sich grundlegend in seiner Existenz zu formieren. Ihre philosophische Reflexion erfolge deshalb »nicht auf dem Wege einer Rekonstruktion (sozusagen Auffüllung mit begrifflichen Inhalten), sondern auf dem Wege des Aufzeigens von Teilaspekten der Wirkung dieser Formierung und ihrer Rückführung auf eine bezüglich einer Bedingtheit nicht zu hinterfragende ›Absolutheit‹« (ebd.: 147). Für Hubig stellt ›Medialität‹ nun eben eine solche absolute Metapher dar, die folglich »Teilaspekte der Widerfahrnis von Vermitteltheit« (ebd.) ausdrücke. Insofern es hier um Wirkungen geht, denen wir einfach unterliegen, um Widerfahrnisse, kann eine Medialität der Technik nur ausgehend von den Resultaten technischer Handlungsvollzüge, in denen sich die Spuren des Mediums erkennen lassen, reflektiert werden. Hinsichtlich dieser Spurensuche lassen sich vier Ebenen der medialen Verfasstheit unterscheiden: Erstens die potentielle Ermöglichung, zweitens die reale Ermöglichung, drittens das Resultat, in das sich die Spuren der Medialität einschreiben, die es viertens erlauben, über abduktive Schlüsse ein »unvollkommenes Bild der Medialität« (ebd.: 151) zu zeichnen. Technische Medialität zeichnet sich auf erster Ebene als »Raum einer möglichen Generierung technischer Mittel[…]« für verschiedene Zwecke aus, die auf zweiter Ebene in Gestalt faktisch bestehender Mittel »Potentiale einer technischen Realisierung sind« (ebd.: 155), mit denen drittens über einen hinzukommenden Impuls Zwecke realisiert werden. Die Reflexion auf den realisierten Zweck versetzt uns schließlich in die Lage, in planender Absicht Anpassungen des Mediums vorzunehmen. Eine solche Reflexion auf Resultate unter Maßgabe der Disponibilität relativ zu unserem Planungsvermögen bzw. unsere Beschreibung derselben verweist darauf, dass es sich bei dem Ausdruck ›Technik‹ um einen Reflexionsbegriff handelt (vgl. Hubig 2011c). Nun ist evident, dass auf Grundlage eines solchen Technikverständnisses, das auf die Reflexion technisch ge- und überformter Möglichkeitsräume sowie unseres Planungs-
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vermögens (also auf unsere Verhältniseinnahme zu diesen) abhebt, nicht in kausaler Hinsicht von Effekten der Technik die Rede sein kann. Technik ist dann eben keine (rein) »dinghafte Angelegenheit« (Hubig 2015: 29). Gleichwohl nimmt auch die dialektische Technikphilosophie die Frage nach so etwas wie einer Eigenlogik bzw. Eigendynamik der Technik ernst. Denn »eine Bestimmung der Technik in ihrer Ermöglichungsfunktion für bestimmte Weisen des Handelns« droht abstrakt zu bleiben, wenn sich nicht über die »bestimmende Kraft« (ebd.: 8) der Strukturierung technischer Möglichkeitsräume vergewissert wird. Selbiges gilt für Versuche, technischem Handeln eine moralische Orientierung zu verleihen. Die »Möglichkeiten und Grenzen eines Umgangs mit Möglichkeiten« (ebd.) sind deshalb höherstufig aufzuzeigen. Unter diesen begrifflichen Schärfungen der dialektischen Technikphilosophie gewinnt jedoch die Frage nach einer Eigenlogik bzw. Eigendynamik der Technik eine andere Kontur. Zu fragen ist nun nach der Macht der Technik »im Sinne einer allgemeinen Möglichkeitsmacht« (Gehring 2004: 109), als einem »Modalphänomen« (Graduiertenkolleg Topologie der Technik 2018: [28]) des Öffnens, Schließens und Strukturierens von Möglichkeitsräumen (vgl. Brenneis et al. 2018: 10). In dieser Richtung entwickelt Hubig (2015) eine Modellierung von Netzund Strukturdynamik, die sich in der »Topologie der Technik« als interdisziplinärem Forschungsprogramm wiederfindet (siehe hierzu Brenneis et al. 2018). Auf Basis dieses Einblicks in die Debatte um die Macht der Technik lässt sich nun die Herausforderung formulieren, die es in einer begrifflichen Ausarbeitung der »kulturellen Logik der Objekte« zu bewältigen gilt. Der Begriff muss erklären, in welcher Form die Konstitution, Strukturierung und Ausrichtung von Möglichkeitsräumen eines jeweiligen individuellen Agierens einer bestimmten Logik folgt und wie wir uns reflexiv zu dieser in ein Verhältnis setzen können (vgl. Hubig 2013). An dieser Verhältniseinnahme hängt nicht nur die Möglichkeit, eine solche kulturelle Logik der Objekte überhaupt zu beschreiben und zu modellieren, sondern auch die Fragen, in welcher Form sie für uns indisponibel sein kann und in welchem Nötigungsverhältnis (Imperativcharakter) sie zu uns steht. Hinzu kommt, dass der Standpunkt ihrer Problematisierung als kritische Instanz kenntlich gemacht werden muss. Die eingangs formulierte Zielsetzung der Arbeit ist demnach folgendermaßen zu präzisieren: Es muss darum gehen, die kulturelle Logik jeweiliger Möglichkeitsräume im Verhältnis zu den agierenden Individuen zu modellieren, um den prekären Subjektstatus der Individuen in entsprechenden Räumen zu bestimmen. Nach diesem Abriss der technikphilosophischen Diskussion zur Eigendynamik bzw. Macht der Technik, in deren Kontext die Simmel-Cassirer-Kontroverse aktualisiert werden soll, wird im Folgenden der Blick auf die Simmel-Cassirer-Kontroverse selbst und ihren historischen Kontext gerichtet, um aus dieser Textgrundlage Impulse für die gegenwärtige Diskussion zu gewinnen.
1.1.3 Kulturphilosophie und die Simmel-Cassirer-Kontroverse Die Kulturphilosophie als geistesgeschichtliche Strömung in toto kann als Reaktion auf ein sich um den Wechsel zum 20. Jahrhundert einstellendes neues Krisenbewusstsein, das sich in einem fundamentalen geschichtlichen Bruch wähnt, und gleichzeitig als Ausdruck desselben charakterisiert werden. Dieses Krisenbewusstsein löste sich nach und nach aus einem bis dahin vorherrschenden Fortschrittsdenken heraus. Die Krise, die die
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Kultur selbst erfasst zu haben schien, verweigerte sich ihrer Deutung als zu bewältigende Herausforderung in einer größeren Erzählung des menschlichen Triumphs. Denn was zuvor als Mittel und Weg der menschlichen Befreiung verstanden wurde – die Kultur –, war sich über die selbst hervorgebrachten Defizite fraglich geworden (vgl. Konersmann 1996a: 11f.; 1996b: 348–350; 2018: 61). Noch vor dem Gipfel dieser Entwicklung im Ersten Weltkrieg war das geistige Klima geprägt von der Erfahrung der »konstruktiven wie destruktiven Potenz« (Konersmann 2018: 73) des Modernisierungsprozesses. In einem für eine amerikanische Zeitschrift verfassten Aufsatz über die sozialen und geistigen Entwicklungen in Deutschland bezeichnet Simmel das Jahr 1870 als »turningpoint« (Simmel TGLT: 168). Das Deutsche Reich fand sich nicht nur in einer neuen weltpolitischen Rolle wieder, sondern erlebte auch im Inneren mit dem wirtschaftlichen und vor allem industriellen Wachstum, der Ausweitung der kapitalistischen Geldwirtschaft und der Urbanisierung der Bevölkerung gewaltige Umwälzungen (vgl. ebd.: 168–171; Müller/Reitz 2018: 23). Neben der rasanten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung prägte der technische Fortschritt die Wahrnehmung der Menschen. Autobiografische Zeitzeugnisse heben vor allem die »Zunahme der Kraft- und Luftfahrt sowie Entwicklungen der Waffentechnik, insbesondere im Bereich der Kriegsmarine« (Knorrig 2014: 228) hervor. Die Frankfurter Zeitung preist zum Ende des 19. Jahrhunderts darüber hinaus euphorisch eine ganze Reihe neuer Technologien an: »Dampfschiffe, Eisenbahnen, Telegraf, Telefon, Elektrizität als Licht- und Kraftquelle, Spektral-Analyse, Übertragung der Kraft, Entdeckung des Äthers, Röntgen-Strahlen, die erstaunlichen Fortschritte der Chemie und des Maschinenwesens, Phonograf, Kinematograf, drahtlose Telegrafie und wie die Erfindungen und Entdeckungen alle heißen mögen.« (Frankfurter Zeitung vom 31.12.1899; zitiert nach Epkenhans/von Seggern 2012: 164) Obgleich sich die technischen Neuheiten nur langsam verbreiteten und dabei längst nicht die Heime der Massen erreichten, erlangte »die Vision der ›elektrischen Fee‹« Popularität, »die den Alltag der Menschen zu erleichtern und zu verschönern versprach« (Epkenhans/von Seggern 2012: 164). Bemerkbar machte sich die technische Entwicklung jedoch vor allem in der Arbeitswelt – ob dabei immer erleichternd oder verschönernd, darf in Zweifel gezogen werden. Die Industrialisierung hatte in Deutschland erst mit der Reichsgründung umfassend eingesetzt und erst bis 1901 den Punkt erreicht, an dem die industrielle Produktion den Anteil der Agrarwirtschaft an der nationalen Wertschöpfung überstieg (vgl. Berghahn 2003: 42; Schnädelbach 2013: 29). Damit einhergehend veränderte sich die politische und gesellschaftliche Konstellation: Das Bürgertum konnte – gleichwohl wirtschaftliche Konkurrenz und Entwicklung auch hier ihre Opfer forderten – auf deutliche Wohlstandsgewinne blicken, die ihm nicht nur größeren Einfluss auf die politischen Geschicke des Kaiserreichs verschafften, sondern sich auch im Anspruch auf eine kulturelle Leitfunktion im neuen Staat niederschlugen (vgl. Mommsen 2000a: 12–13 und 17–22; Berghahn 2003: 47–49; Schnädelbach 2013: 28–29; Epkenhans/von Seggern 2012: 108). Dem Bürgertum gegenübergestellt konstituierte sich mit dem Ausweiten des industriellen Sektors eine stetig wachsende Arbeiterschaft, als die Menschen
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zahlreich vom Land in die Städte strömten, um dort Arbeit in den Fabriken zu finden (vgl. Berghahn 2003: 44 und 68). Vorausgegangen war bereits früh im 19. Jahrhundert eine Liberalisierung der Wirtschaftsordnung und auch Staat und Verwaltungsapparat wurden im Zuge von großangelegten Reformen rationalisiert und bürokratisiert. Mit den veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen erhob sich in den deutschen Staaten und vor allem schließlich im Deutschen Reich die Soziale Frage (vgl. Schnädelbach 2013: 27–28). Als Koalitionsverbote aufgehoben wurden, ermöglichte dies Arbeitgeber:innen, sich zu Verbänden zusammenzuschließen. Sie sahen sich aber nun gewerkschaftlich organisierten Arbeiter:innen gegenüber, die entschlossen waren, sich ein würdiges Auskommen und bessere Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Die folgende Streikwelle »wirkte wie ein Schock auf die politischen und wirtschaftlichen Eliten des frühen Kaiserreichs« (Caruso 2021: 25). Die Lebensverhältnisse weiter Teile der Arbeiterschaft blieben zwar weiterhin prekarisiert, doch zeichnete sich für das Gros der Bevölkerung eine Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen ab (vgl. Berghahn 2003: 42 und 51–52). Die gesetzliche Beschränkung der täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden, die immerhin bis 1900 erstritten wurde, gestattete es Arbeiter:innen in Grenzen, an Freizeitaktivitäten zu partizipieren. Hatten in vorindustriellen Zeiten die dominierenden »Wirtschaftssektoren Handwerk und Landwirtschaft […] keine Trennung von beruflicher und privater Sphäre erlaubt[...]« (Epkenhans/von Seggern 2012: 136), entstand mit den veränderten Beschäftigungsverhältnissen eine neue Freizeitkultur, die sich in Gestalt von Kabarett, Tingeltangel, Varieté, Bierhallen, von der Arbeiterbewegung getragenen Volksbühnen, Sportund Gesangsvereinen und den späteren Kinos gerade in den Städten verankerte. Parallel wuchs mit »der sogenannten zweiten Leserevolution nach 1850 […] ein nicht nur zum Buchstabieren, sondern zum Genuss literarischer Texte fähiges Massenpublikum heran« (Maase 2012: 35), das mit einem eigenen Markt von Kolportageromanen, illustrierten Groschenheftserien, Familien- und Witzblättern sowie Liederheften versorgt wurde (vgl. ebd.: 60–75; Berghahn 2003: 236–237). Getragen wurden viele der vertriebenen Publikationen von »überbordender Handlungsfülle, die von Sensationen zu Rührszenen und weiter zu Katastrophen jagten, Nerven und Gefühle bis zum Äußersten anspannend« (Maase 2021: 35). Dem gedruckten Spektakel stand ein »ein buntes Angebot neuartiger Bildwaren« zur Seite, das »den visuellen Appetit« (ebd.: 33) der Massen weckte. Bildpostkarten entwickelten sich nicht nur zum beliebten Kommunikationsmittel, sondern auch zum Sammel- und Dekorationsgegenstand. Hinzu kam die auf Reiz und Aufmerksamkeit ausgelegte Bildsprache der Reklame, die auf den Wandel in der Konsumkultur hindeutete. In den neu entstandenen Warenhäusern wurden zunehmend ein breites Angebot an für den nationalen oder gar internationalen Markt produzierter Markenartikel vertrieben, deren Ästhetik immer größere Bedeutung bekam. Zumindest für die bürgerlichen Schichten, die über ausreichend Zeit und Budget verfügten, verlor das Einkaufen den Charakter einer bloßen Notwendigkeit und unterlag mehr und mehr dem »Lustprinzip« (Epkenhans/von Seggern 2012: 130). Das Aufkommen der modernen Massenkultur, die in den skizzierten Entwicklungen kenntlich wird, erregte gerade im Bürgertum und bei den alten Eliten Unbehagen. Alltäglich in den Genuss von Kunst zu kommen, war nicht länger ein Privileg der gehobenen Schichten; noch weniger war es die Kontrolle darüber, was als (vermeintliche)
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Kunst zirkulierte (vgl. Maase 2012: 35–36). Das bürgerliche Kunst- und Kulturverständnis, dem das Ideal einer erzieherischen Funktion hin zu einer nationalen Identität und Sittlichkeit untrennbar eingewoben war (vgl. Mommsen 2000b: 158–161), wurde nun auf der einen Seite durch eine Masse an Kulturschöpfungen herausgefordert, die kommerziellen Interessen folgte und damit in erster Linie den Regeln des Marktes gehorchte. Auf der anderen Seite schickten sich Naturalismus, Berliner Secession und künstlerische Avantgarde dazu an, die erstarrte Akademiekunst des Monumentalen zu überwinden. Die Vertreter:innen dieser Strömungen schlugen hierbei durchaus gegensätzliche Richtungen ein: Der Naturalismus wandte sich bejahend der Moderne zu und wollte frei von überkommenen Idealisierungen die Wirklichkeit einschließlich ihrer Hässlichkeit zur Darstellung bringen. Dass damit die Soziale Frage berührt war oder gar sozialistische Positionierungen angedeutet wurden, machte den Naturalismus in den Augen der herrschenden Eliten erst recht verdächtig (vgl. ebd.: 164–165; siehe auch Simmel TGLT: 173–177). Statt sich der modernen Welt zuzuwenden, vollzog die Avantgarde in einem fehlgeleiteten Nietzscheanismus den »Rückzug auf die Innerlichkeit der Persönlichkeit« (Mommsen 2000b: 171). Der lebenspraktische Materialismus, der als Begeisterung für die objektiven Kulturerrungenschaften und den technischen Fortschritt sowie Wissenschaftsglaube Teile der bürgerlich-industriellen Gesellschaft im Kaiserreich prägte (vgl. Simmel TGLT: 168; siehe auch Knorrig 2014: 235), erschien ihr als dekadent, »mechanistisch und menschenverachtend« (Mommsen 2000b: 174). Gleichzeitig bereitete sich in dem hochgehaltenen individualistischen Bestreben nach Heroismus, Jugendkult und Antimodernismus das faschistische Denken vor (vgl. Sternhell 2019: 24–32 und 66–71). Der »enorme[n] Diversifikation der Richtungen und Tendenzen innerhalb des kulturellen Lebens im Kaiserreich«, die wir »um die Jahrhundertwende« (Mommsen 2000b: 166) beobachten können, versuchte die preußische Kulturpolitik eindämmend zu begegnen. Doch gelang es kaum, die Moderne aus den Museen und Ausstellungen herauszuhalten, um so die Vorherrschaft der Akademiekunst zu sichern (vgl. ebd.: 164–168), und auch die Kampagnen gegen die als ›Schund‹ gebrandmarkten Hefte und jene Literatur, der nicht nur Pädagog:innen einen schädigenden und verderblichen Einfluss auf die Jugend attestierten, zeigten nur mäßige Erfolge (vgl. Maase 2012: 75ff.). Weiter angeheizt wurden diese und andere Modernisierungskonflikte durch die politische Rechte und die neu entstandene nationale Medienlandschaft. Die Diffamierung politischer Proteste und Streiks als »Terrorismus« sowie die Skandalisierung der urbanen (Unterhaltungs-)Kultur, der Armut und eines wahrgenommenen Verfalls der Sitten (vgl. Caruso 2021: 10–11 und 27; siehe auch Knorrig 2014: 234) erzeugten »das Gefühl, in unübersichtlichen Zeiten zu leben« (Caruso 2021: 8). Die schmerzlich erlebten Umbrüche in der Kultur riefen ins Bewusstsein, »dass ihre Weitergabe an die nächste Generation scheitern könnte« (Maase 2012: 14). Der gefürchtete »Verlust einer unersetzlich scheinenden Ordnung« (ebd.) an Normen, Werten und Orientierungen, der »Ausfall der Verläßlichkeiten« (Konersmann 1996b: 349) ließ die Kultur sich selbst in den Blick nehmen und zwar in Gestalt der Kulturphilosophie. Ihre Ansätze zur Reflexion eigener und fremder Lebens-, Wissens- und Rationalitätsformen verdanken sich diesem Epochenbewusstsein (vgl. ebd.: 349–353). Die frühe Kulturphilosophie »fügt sich in das Tableau der seinerzeitigen Bemühungen, die im allmählichen Entschwund vormals fragloser Geltungen zutage getretene Krise durch wissenschaftsförmige Präparierung lebensbedeutsamen
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Wissens auszugleichen« (Konersmann 2018: 64). Diese Bemühungen umfassten einerseits die pädagogischen Unternehmungen, »Enkulturationsapparate« (Maase 2012: 15) zu installieren, die den Zugang zu Wissen und kulturellen Erzeugnissen kontrollieren sollten, und andererseits die Vision, die »menschliche Gemeinschaft mit Hilfe des Leistungsangebots von Wissenschaft und Technik vollkommen neu« (Konersmann 2018: 65) zu ordnen. Ludwig Stein, als einer der ersten Vertreter der sich so bezeichnenden Kulturphilosophie, wies der neuen philosophischen Disziplin die Rolle zu, die Anstrengungen zur Überwindung der Krise zu orientieren. Doch die Hoffnungen auf eine Kompensation negativer Erscheinungen durch wissenschaftliche Methodik und Weltanschauung erfüllten sich trotz eines rasanten Fortschritts sowie der Ausdifferenzierung der Disziplinen in der Wahrnehmung vieler nur unzureichend (vgl. ebd.: 64–66). Zu einem nicht unerheblichen Teil fußte das entstehende Krisenbewusstsein auf dem Gefühl bürgerlicher Schichten, dass die eigene hegemoniale Position und Autorität bedroht waren (vgl. Mommsen 2000b: 173). Erwartungen der Steuerbarkeit von Kultur und der Erziehung zur Kultur, die in der für das bürgerliche Gesellschaftsbild konstitutiven Annahme lagen, »daß in einer fortgeschrittenen bürgerlich-liberalen Ordnung objektive und subjektive Kultur weitgehend miteinander deckungsgleich sein würden« (ebd.: 172), entpuppten sich nach und nach als illusorisch. Zu beobachten war vielmehr das Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Seite. Die Kultur erkannte sich jenseits »der imperialen Gebärde eines Generalsubjekts« (Konersmann 2018: 82) von Vernunft oder (Heils-)Geschichte, die sie als Mittel und Weg menschlicher Befreiung verbürgten, in ihrer Kontingenz. Für die folgenden kulturphilosophischen Debatten wurde Simmel in vielerlei Hinsicht der Stichwortgeber (vgl. Konersmann 1996a: 17). Prominent verlieh Simmel in seinem 1911 erschienenem Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur dem neuen Krisenbewusstsein Ausdruck und Deutung. Wie wohl kein anderer Philosoph seiner Zeit widmete sich Simmel kulturellen Phänomenen in ihrer Breite. Mit einem oft als essayistisch bezeichneten Stil erweiterte Simmel die Gegenstände philosophischer Betrachtung und ging dem nach, was aus vermeintlich unwichtigen Dingen und Erscheinungen für das kulturelle Leben herauszulesen war. Neben großen Persönlichkeiten der Kunst- und Literaturgeschichte wie Goethe, Rembrandt und Da Vinci und ihren Werken behandelte er auch Alltägliches wie den Brief, Schmuck, Mode, die Karikatur, Vasenhenkel, Schauspielerei, die Koketterie, Kunstausstellungen und Bilderrahmen. In Zeitungsartikeln und Zeitschriftenbeiträgen kommentierte Simmel unter anderem Schul- und Hochschulpolitik, Prostitution, Strafrecht und zeitgenössische Werke wie bspw. Gerhart Hauptmanns Die Weber. Die Symptome der empfundenen Krise entgingen dem Kulturphilosophen selbstverständlich nicht. Auf ihrer Basis deutete Simmel den Kulturbegriff metaphysisch aus, um daraus die die Formel von der Tragödie der Kultur zu entwickeln – wobei ich an dieser Stelle noch offenlassen möchte, was Simmel unter metaphysisch versteht. Im modernen Auseinandertreten von objektiver und subjektiver Seite der Kultur diagnostiziert Simmel eine eigentümliche Logik und Dynamik der kulturellen Schöpfungen, die zwar unverzichtbare historische Bedingungen der Entfaltung menschlicher Freiheit und Individualität darstellen, in denen sich die Individuen ebenso selbst verlieren können (vgl. Simmel BuTK: 413). Die Tragödie der Kultur präsentiert sich als »Soziodizee« (Koners-
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mann 1996a: 17) der Moderne und fügt sich in die »kulturphilosophische Grundformel« einer »Kritik der Moderne im Namen der Moderne« (Konersmann 1996b: 347). Die »oft formulierten spezifischen Kulturleiden« (Simmel BuTK: 415), die die Zeit um den Wechsel zum 20. Jahrhundert kennzeichneten, interpretiert Simmel aus Ausdruck einer tragischen Verfasstheit der Kultur. Disparate Erscheinungen offenbaren damit nach Simmel eine einheitliche Wurzel, die es auszugraben gilt. Die Tragödie selbst stellt sich in ihren spür- und sichtbaren Erscheinungen vielgestaltig dar. Nicht erst in seinem 1911 veröffentlichten Aufsatz beschreibt Simmel eine ganze Reihe solcher Kulturleiden. Bereits in der Philosophie des Geldes von 190016 hält Simmel im Angesicht der immer rasanteren Entwicklung und Vervollkommnung der Manifestationen der Kultur fest: »[D]ie Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst – sind unsäglich kultiviert; aber die Kultur der Individuen, wenigstens in den höheren Ständen, ist keineswegs in demselben Verhältnis vorgeschritten, ja vielfach sogar zurückgegangen. [...] In diese Kategorie gehört es [auch], daß die Maschine so viel geistvoller geworden ist als der Arbeiter.« (Simmel PdG: 620–621)17 Es ist die oben angeführte Wahrnehmung eines Auseinandertretens von subjektiverund objektiver Kultur, das aus diesen Zeilen spricht. Die Kultur der einzelnen Menschen halte nicht Schritt mit dem, was die Menschheit an kulturellen Erzeugnissen hervorbringe. Was in diesen Erzeugnissen an Geist investiert sei, werde von den einzelnen Individuen kaum durchdrungen und verstanden (vgl. ebd.). Auch in der Lebenspraxis der Einzelnen schlage sich der kulturelle Fortschritt häufig lediglich in einer Verflachung nieder: »[A]us den sozialen Normen« erwachse »nur noch das gesellschaftlich gute Benehmen, aus den Künsten nur noch [...] [der] unproduktive[...] Genuß, aus den technischen Fortschritten nur noch das Negative der Mühelosigkeit und Glätte des Tagesverlaufes« (Simmel BuTK: 396). Es gelinge vielfach nicht mehr, »aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und Förderung zu ziehen« (ebd.). Die Menschen fühlten sich mit »tausend Überflüssigkeiten« überladen, »von denen wir uns doch nicht befreien können« und die sie in einem Zustand des »fortwährende[n] ›Angeregtsein[s]‹« halten, in einem Modus des »bloße[n] Kennen[s] oder Genießen[s] von tausend Dingen« (ebd.: 415).18 Das »Leben [sei] in sich hohl und sinnlos« (ebd.: 396) geworden, wo es zu keiner tieferen Auseinandersetzung mit den eigentlichen Sachgehalten der Kultur komme, die eine Ent16 17
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Einschlägig für die Diagnose entsprechender Kulturleiden sind außerdem Persönliche und sachliche Kultur (Simmel PusK) und Die Zukunft unserer Kultur (Simmel DZuK). In späteren Schriften verwendet Simmel der Begriff »kultiviert« freilich nicht mehr, um den Entwicklungsstatus objektiver Kulturerzeugnisse zu beschreiben. Den Kultivierungsbegriff reserviert Simmel dann für jene Prozesse, die zwar durch die Interaktion mit einem objektiven Faktor zustande kommen, aus denen dann aber Zustände »aus den eigenen Triebkräften« (Simmel BuTK: 388) einer Sache oder Person hervorgehen. »Daraus ergibt sich, genau genommen, dass nur der Mensch der eigentliche Gegenstand der Kultur ist; denn er ist das einzige uns bekannte Wesen, in dem von vornherein die Forderung einer Vollendung liegt.« (Simmel WdK: 366) Simmel geht es hier im Übrigen explizit nicht um den Anfang des 20. Jahrhunderts populären Gegensatz von Zivilisation und Kultur (vgl. Simmel BuTK: 388).
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wicklung im Individuum anstoße und »zu einem eigenen Schöpfertum anregt« (ebd.: 415). Insofern jedes menschliche Erzeugnis – völlig gleich, ob es sich um ein großes Werk der Geistesgeschichte handelt oder etwas Triviales – einen solchen Anstoß bieten könne, aber keines dies notwendig tun müsse (vgl. ebd.: 396), stimmt Simmel offenbar nicht in den Kampf gegen (vermeintlichen) Schund ein. Was Simmel vielmehr beklagt, ist eine Form der Rezeption kultureller Erzeugnisse, die deshalb defizitär sei, weil sie dem Individuum nicht mehr zu einer persönlichen Entwicklung gereicht. Die Verantwortung hierfür lastet Simmel aber nicht einfach den Individuen an. Denn selbst dort, wo Individuen großes Interesse an der Kultur und ihrer eigenen Entwicklung zeigten, sei eine »merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, Ablehnung« (ebd.) gegenüber den Sachgehalten der Kultur zu beobachten. Die Hürde läge im »überspezialistischen Ertrag« der in der Moderne weitläufig ausdifferenzierten kulturellen Sphären, der »zu viel und zu ablenkend ist« (ebd.), als dass es ohne Weiteres gelinge, für sich eine Förderung hieraus zu ziehen. Neben die quantitative Überforderung durch Masse der Kulturerzeugnisse tritt eine qualitative: Manche »Menschenwerke« verwehren uns gerade wegen ihrer »letzterreichbaren Vollendung« den Zugang oder finden umgekehrt »keinen Zugang zu uns« (ebd.: 400). Zugehörige Kehrseite dieser qualitativen Überforderung ist das »Spezialistentum« (ebd.: 413). Schöpferisch tätige Personen und Gruppen treiben die Entwicklung in den verschiedenen Kulturbereichen immer weiter voran. Sie dringen dabei immer tiefer in Wissens- und Tätigkeitsfelder vor, widmen sich immer kleineren Ausschnitten in immer stärkerer Vergrößerung. Diese »übermäßige Spezialisierung, die heute auf allen Arbeitsgebieten beklagt wird« (ebd.: 410), erscheint gleichzeitig als logische Konsequenz des Fortschritts und als seine Bedingung. In extremster Weise verkörpert sich diese Tendenz durch den »im Fachfanatismus eingeschlossene[n] Spezialist[en]« (ebd.: 399). Der oder die Spezialist:in frage »nur nach der reinen Sachvollendung unserer Werke [...], danach, daß diese ihre Idee [...] erfüllen« (ebd. [Herv. i.O.]). Er verliere sich in der »Leidenschaft für die Sache, in deren eigengesetzlicher Vollendetheit das Subjekt sich selbst gleichgültig geworden und ausgelöscht ist« (ebd.: 397). Der entgegengesetzte Umgang mit den Eigendynamiken der kulturellen Werke sei in der Figur des »Säulenheilige[n]« (ebd.: 399) zu beobachten. Der Säulenheilige konzentriere sich völlig auf die innere Welt des Individuums, in dessen »individuell-innerliche[...] Entwicklung [...] kein äußeres Moment eingreifen darf« (ebd.). Während die Aufmerksamkeit des Spezialisten der Sache allein gilt und alles andere als Ablenkung erscheint, sind die Kulturerzeugnisse und Ereignisse dem Säulenheiligen eine Gefährdung auf dem Weg zum »Heil der Seele oder dem Ideal der persönlichen Kraft« (ebd.). Diese verschiedenen Erfahrungen und Beobachtungen, letztendlich auch ihre Bewertung als Kulturleiden, wurzeln für Simmel im »Zentrum des Kulturbegriffes« (ebd.: 413). »[D]ie Idee der Kultur« entspringe dem Dualismus von Subjekt und Objekt, der damit einsetze, dass »der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet«, sondern sich ihr gegenüberstellt sowie sie zu gestalten und zu begreifen versucht. Dieser Dualismus gewinne eine besondere Ausgestaltung im Geist, wenn dieser sein Objekt selbst als Geist begreift, als eines der von ihm erzeugten, »unzählige[n] Gebilde, die in einer eigentümlichen Selbständigkeit fortexistieren, unabhängig von der Seele, die sie geschaffen hat, wie von jeder anderen, die sie aufnimmt oder ablehnt« (ebd.: 385; vgl. auch ebd.: 389–390). Nach Simmel besteht die Idee der Kultur nämlich darin, Subjekt
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und Objekt, die jeweils als Form des Geistes erkannt sind, in eine bestimmte Art der Synthese zu führen. Diese Synthese ist der »Weg der Seele zu sich selbst« (ebd.), auf dem die Seele die »Keimkräfte[...] der Persönlichkeit« (ebd.: 387) zur Entfaltung bringe und von »ihrer Möglichkeit« zur »vollen Wirklichkeit« (ebd.: 386) ihrer selbst gelange. Er könne aber nur dadurch beschritten werden, dass das Subjekt »über Werte und Reihen geht, die nicht selbst subjektiv seelisch sind« (ebd.: 389). »Es muß diese in sich einbeziehen, aber es muß sie auch in sich einbeziehen, darf sie nicht einfach als objektive Werte bestehen lassen.« (Ebd. [Herv. i.O.]) Anders ausgedrückt ist die Idee der Kultur die Idee der Kultivierung des Subjekts, aber insofern sich diese Kultivierung durch die Objektivierung des Geistes bedingt ist, stelle sie eine »Lösung der Subjekt-Objekt-Gleichung« (ebd.: 388) dar. Dies sei die »metaphysische Bedeutung dieses historischen Gebildes« (ebd.: 389), in dem sich der Geist in Gestalt des Subjekts am Geist in Gestalt des Objekts abarbeite und sich mit der Vollendung der Persönlichkeit eine Einheit gebe respektive sich »zu einer innerlich einheitlichen Bezogenheit organisiert« (ebd.: 390). Um diesen Kulturprozess zu verstehen, will Simmel die Form der »Vergegenständlichung des Geistes« (ebd.) untersuchen. Geht diese Vergegenständlichung des Geistes zwar aus »dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele« (ebd.) hervor, besteht doch je ein Widerspruch zwischen beiden. Das Leben als reine Schöpfungskraft, reine Möglichkeit, sieht sich durch seine eigene Schöpfung festgelegt und in ihrer Schöpfungskraft negiert, so »als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe« (ebd.: 391). Diese Spannung vermag das Leben dadurch abzumildern, dass es seine »Erzeugnisse oder Inhalte als einen in einem bestimmten Sinne selbständigen Kosmos des objektivierten Geistes sich gegenüberstellt und erblickt« (ebd.). In einem solchen Kosmos gehören die Erzeugnisse »einer nicht verfließenden, sachlichen Ordnung von Werten an« (ebd.). Simmel meint hiermit die verschiedenen Formen, in denen sich die Kultur differenziert, wie das Recht, Wirtschaft, Religion, Sittlichkeit, Kunst, usw. »Indem sie [die Erzeugnisse] sich als Träger solcher Werte, Glieder solcher Reihen offenbaren, sind sie nicht nur durch ihre gegenseitige Verwebung und Systematisierung der starren Isoliertheit enthoben, mit der sie sich der Rhythmik des Lebensprozesses entfremdeten, sondern dieser Prozeß hat damit eine Bedeutsamkeit erhalten, die aus der Unaufhaltsamkeit seines bloßen Verlaufs nicht zu gewinnen ist. Es fällt auf die Vergegenständlichungen des Geistes ein Wertakzent, der zwar im subjektiven Bewußtsein entspringt, mit dem dieses Bewußtsein aber etwas meint, was jenseits seiner liegt.« (Ebd.) Wenn das subjektiv-seelische Leben sich nun im Denken und Handeln von seinen eigenen Erzeugnissen bestimmen und orientieren lässt, sei der Gegensatz zu seiner eigenen Ruhlosigkeit und Unbeständigkeit dadurch »auf einen Grund und ein Recht gebracht«, dass diese Erzeugnisse einer »ideellen Welt oberhalb des individuellen Bewußtseins« (ebd.: 392) angehören. Wenn sich der Geist als subjektiv-seelischer Prozess und der Geist als objektives Gebilde so auseinandergelegt haben, wird erst die Synthese unter der Idee der Kultivierung möglich (vgl. ebd.: 397). Der Gedanke der Kultivierung ist aber »ein Sekundäres, Reflexionsmäßiges« (ebd.: 398) in diesem Prozess, weshalb der objektive Wert der Erzeugnisse auch unabhängig von diesem Gedanken betrachtet werden könne.
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»Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffs, eine Paradoxe, ja, eine Tragödie werden lässt.« (Ebd.: 402) Dieser Spalt liege darin, dass die »innere Logik«, nach der sich das Subjekt unter der Idee der Kultivierung entfalte, und jene, nach der sich das Objekt entfalte, »keineswegs selbstverständlich zusammen[fallen]« (ebd.). Gleich auf drei Ebenen drohe dieser Spalt zu einem tragischen Konflikt aufzubrechen. Erstens seien es die Inhalte, auf die sich das Subjekt beziehe und die es in sein Leben einbeziehe, die wegen ihrer eigenen Logik und Zusammenhänge sich dagegen widersetzen, vom Subjekt »gemäß der Logik der Persönlichkeit um sich herum« (ebd.: 404) geordnet zu werden. Das Subjekt stehe hier im »Schnittpunkt« verschiedener Kreise, die jeweils die Inhalte des Lebens »nach ihren Ansprüchen [zu] formen« (ebd.) versuchen. Die Idee der Kultur »drückt die Parteien dieser Kollision aufs engste aneinander, indem sie die Entwicklung der einen geradezu daran bindet (d.h., sie nur so zur Kultiviertheit werden läßt), daß sie die andere in sich einbezieht« (ebd.). Hinsichtlich der »formalen Bestimmungen« (ebd.: 405) des Objektiven sind es zwei weitere Ebenen, auf denen sich der tragische Konflikt zeigt. Zum einen sei es die »Selbständigkeit« der kulturellen Objekte, die zum Hindernis für die Kultivierung werde. Hinter dieser Selbständigkeit verbirgt sich eine Eigendynamik der Bedeutung kultureller Objekte. Die Bedeutung der von den Subjekten geschaffenen Gebilde schreibe sich nach einer eigenen Logik fort und führe je über das hinaus, was an Bedeutung durch die Subjekte in sie hineingelegt worden sei (vgl. ebd.: 406–407). Dies ist die eingangs des Buches hervorgehobene »kulturelle Logik der Objekte« (ebd.: 408), die sich nicht nur in isolierten Objekten als Eigendynamik des Sinns, sondern gerade in den Zusammenhängen der objektgewordenen Kultur als Eigendynamik des Wachstums äußere. Das vom Geist Geschaffene folge »in der Zwischenform der Objektivität« »einer immanenten Entwicklungslogik« (ebd.) und entfremde sich mit dieser zunehmend davon, taugliches Mittel der Kultivierung für die Subjekte zu sein, ja, mache letztere zum »bloße[n] Träger des Zwangs« (ebd.: 411) dieser Entwicklung. »Dies ist die eigentliche Tragödie der Kultur. Denn als ein tragisches Verhängnis – im Unterschied gegen ein trauriges oder von außen her zerstörendes – bezeichnen wir doch wohl dies: daß die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen; daß sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat.« (Ebd.) Zum anderen ist es die »Form- und Grenzenlosigkeit, die dem objektiven Geist durch die numerische Unbeschränktheit seiner Produzenten [zu]kommt« (ebd.: 411), durch die der tragische Konflikt eine weitere Ebene gewinnt. In der »Form der Objektivität« besitze der Geist »eine schrankenlose Erfüllungskapazität« und so wachse der Umfang der Kulturobjekte, angetrieben durch ihre eigendynamische Entwicklungslogik, immer weiter an. Die »Form des persönlichen Lebens« ist aber in seiner Dauer, Kraft und Organisation beschränkt und deshalb einer immer weiter anwachsenden Welt der Kulturobjekte gegen-
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über »inkommensurabel« (ebd.: 412). Der Prozess der Kultivierung, der auf der »Logik des Objektes« basiert, droht an eben dieser »entzwei« (ebd.: 413) zu brechen. »Das große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft, um mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muß diese Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer gesteigerter Beschleunigung und immer weiterem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.« (Ebd.: 415–416) Gegenüber dieser pessimistischen Sicht auf die Kultur tritt Cassirer in seiner Entgegnung auf Simmel als Erneuerer der Kulturphilosophie auf, der dem Krisenbewusstsein der Jahrhundertwende eine neue Form verleiht (vgl. Konersmann 1996a: 20–21). Cassirer eröffnet seine Antwort auf Simmel mit einem Verweis auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dessen »Überzeugung, daß ›alles in der Geschichte vernünftig zugehe‹« (Cassirer LdK: 462). Eine solche Überzeugung sei aber angesichts des Leids und der Konflikte – Cassirer veröffentlicht diese Zeilen immerhin auf der Höhe des Zweiten Weltkriegs – nur aufrechtzuerhalten, wenn der Maßstab für die Beurteilung der Geschichte und des menschlich-kulturellen Strebens in ihr nicht das erlebte Glück ist. Der Wert der Kultur liege allein im »eigenen Tun« des Menschen »und in dem, wozu er sich durch dieses Tun macht« (ebd.: 463). Es gehe nicht um das Schaffen eines glückseligen Zustands, »sondern [um] die Verwirklichung der Freiheit, der echten Autonomie, die nicht die technische Herrschaft des Menschen über die Natur, sondern die moralische Herrschaft über sich selbst bedeutet« (ebd.). Sein intelligibles Wesen könne der Mensch nur finden, »wenn er die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte« (ebd.). Simmel habe mit seiner Tragödie genau hier angesetzt, indem er aufzeigte, wie in der kulturellen Entwicklung »Spontaneität« und »die reine Selbsttätigkeit des Ich« (ebd.) zu ersticken drohen. Für Cassirer spricht Simmel hierin aber weniger »die Sprache des Skeptikers« als vielmehr »die Sprache des Mystikers« (ebd.: 465). Denn Simmel wolle, entsprechend des letzten Motivs der Mystik, »sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich [...] versenken« (ebd.). Dagegen aber könne das Ich sich doch nur finden und bestimmbar machen, indem es sich von der Welt scheidet, weil es eben nicht als »ursprünglich gegebene Realität besteht« (ebd.: 466). Das Auseinandertreten von Ich und Welt ist der »Zielpunkt [...] des geistigen Lebens« (ebd.) und in diesem Auseinandertreten, in dem der Geist die Welt ausdrückt, ihr erst Gestalt und Festigkeit verleiht, zeige sich die freie Aktivität. Cassirer stellt Simmel damit ein kritizistisch-idealistisches Motiv gegenüber und glaubt hierin das »aufgeworfene Problem in ein neues Licht« (ebd.) rücken zu können. Denn wenn auch das Leben des Ichs im Bestand seiner Werke immer ein Quell der Leiden erblickt, so verwandle das rezipierende »Du« das Werk in einen »Durchgangspunkt«, in dem sich seine eigene Tätigkeit »entzündet« (ebd.: 469). Deutlich werde dies vor allem dort, »wo die beiden [beteiligten] Subjekte [...] nicht Individuen, sondern ganze Epochen sind« (ebd.: 470) und die spätere Epoche durch die Rezeption der früheren ihre eigenen produktiven Energien entfesselt. So wenig dieser Prozess »ohne innere Reibungen« und die
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Vernichtung »vielversprechender Keime« (ebd.: 471–472) auskomme, so wenig könne er erstarren. Wandlung der Kulturformen finde immer statt, wenn auch oft in einer »Tiefe, über die das bewußte Planen und Wollen der Individuen keine Macht mehr hat« (ebd.: 472), doch hätte auch Wandlung »in der unbewußten Abweichung« (ebd.: 473) ihre Bedeutsamkeit. Zum »eigentlichen Schöpfertum« (ebd.) erheben sich sodann die großen Gestalten der Kunst, Dichtung, Religion und Wissenschaft. Aber auch ihr »Schaffensprozeß hat stets zwei verschiedenen Bedingungen zu genügen: Er muß auf der einen Seite an ein Bleibendes und Bestehendes anknüpfen, und er muß auf der anderen Seite stets zu einem neuen Einsatz und Ansatz bereit sein, der dies Bestehende wandelt« (ebd.: 474). Jede »Verständlichkeit« (ebd.) eines Neuen bedürfe zumindest der teilweisen Anerkennung der »Konvention« der Form und unterliege hierin einer »Art von Zwang« (ebd.: 473). »Dieses ›Beharrungsgesetz‹ das für die Fortbewegung der Formen gilt« (ebd.: 476), liege einerseits »in all dem, was man die Technik der einzelnen Künste nennt« (ebd.: 475), aber andererseits auch in den Formen selbst, in Gestalt von »›Pathosformeln‹, die sich dem Gedächtnis der Menschheit unauslöschlich einprägen« (ebd. 476). »Formkonstanz« und »›Modifizierbarkeit‹ der Form« (ebd.: 480) sind so gewissermaßen zwei immer gegebene Pole, während sich die jeweilige Spannung zwischen beiden »in den verschiedenen Künsten« (ebd.: 480) spezifisch auspräge. Aber überall vollziehe sich die Entwicklung mit dem Hin und Her Schwingen eines »Pendels« (ebd.: 482) zwischen diesen Polen, ohne dass dieses Pendel je zum Stillstand kommt. In der Art, wie die Kultur Beharrung und Wandelbarkeit ermögliche, unterscheidet sie sich wesentlich von der Entwicklung der biologisch-organischen Formen. Betrifft in der Evolution die Veränderung nur die Gattung und nicht das Individuum, weil sich die erworbene Veränderung des Individuums nicht vererbt, ist in der Kultur »das Werden und Wirken des einzelnen in ganz anderer, tief eingreifender Weise mit dem Ganzen verknüpft« (ebd.: 485), weil das objektivierte, herausgestellte Werk allen zugänglich ist. Und indem sich das Werk auf diese Weise dem Formgedächtnis der Menschheit einschreibt, ist auch sein Beharren »nicht nur ein Stoffliches« (ebd.). Die Kultur ermöglicht dergestalt die die Verbindung des Individuums mit dem »Ganzen der Menschheit«, erlaubt es dem Individuum, »die Schranke der Individualität [zu] überspringen« (ebd.: 463). Ohne kulturkritischen Ansätzen abzusprechen, in den Konflikten einen wahren, krisenhaften Kern des Kulturprozesses zu beschreiben, fasst Cassirer die Krise als »Dauerzustand« (Konersmann 1996a: 20) oder als Normalzustand, nämlich als die beständige Forderung und Herausforderung der Kultur. Die Spannungen und Dynamiken innerhalb der Kultur seien Zeugnis der Pluralität und Produktivität der geistigen Schöpfungskraft. Es handle sich dann aber um ein »Drama der Kultur« und nicht um eine Tragödie, weil es in ihm »ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie es einen endgültigen Sieg gibt« (Cassirer LdK: 482). Es birgt eine gewisse Ironie, sich mit der kantisch-idealistischen Kritik Cassirers an Simmels Denken und der Tragödie abzuarbeiten. Denn obwohl Immanuel Kant in Simmels Denken zweifelsfrei einen der wichtigsten Bezugspunkte darstellt, wollte sich Simmel ausdrücklich von der durch »Kant eingesetzte[n] ›Polizei‹« befreien, die gegenüber jeder »unmittelbar auf die Dinge gerichtete[n] Spekulation und Bildformung« die »erkenntnistheoretische Frage [stellt]: ob wir denn auch Recht und Mittel zu solcher Erkenntnis hätten« (Simmel ÜgPP: 383). Die Philosophie sah Simmel durch diese »Kanti-
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
sche Kette am Fuß«, die das Denken noch immer mitschleppe, »gehemmt« (ebd.). Man könnte das hier skizzierte Unterfangen sodann als den Versuch ansehen, Simmel wieder an die Kette zu legen. Aber es könnte sich zeigen, dass das simmelsche Philosophieren durch das Mitschleppen dieser Kette auch an Kraft gewinnen kann. Ist hier nun von der Aktualität der skizzierten Auseinandersetzung zwischen Simmel und Cassirer die Rede, meint dies nicht, wir stünden in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts vor denselben Herausforderungen. Zweifelsohne lassen sich historische Parallelen vom Beginn des 20. Jahrhunderts zur Gegenwart ziehen. Mit Blick auf die politische Lage, die Gefährdung der Demokratie und die gesellschaftlichen Spannungen zwischen progressiven Bewegungen und alten Eliten wird dies gerade für die 1920er Jahre verstärkt getan. Daneben bieten sich weitere Vergleichspunkte an: die wirtschaftliche Transformation, die einem neuen Sektor die dominierende Rolle zuweist, neue Technologien, mit denen sich sowohl utopische als auch skeptische oder gar dystopische Vorstellungen verknüpfen oder das Aufkommen und die Verbreitung neuer Medien, die mit völlig neuen Freizeit-, Konsum- und Kommunikationskulturen einhergehen. Solche Vergleichbarkeiten und Unterschiede(!) seriös herauszuarbeiten, wäre allerdings eine eigene, umfangreiche Aufgabe. Worum es mir geht, sind die philosophischen Antworten auf solcherlei Entwicklungen. Für die Frage der Macht der Technik erscheint mir die Aktualität dieser Antworten in der Reflexion der (Eigen-)Dynamiken und Logiken kultureller Formungsprozesse im Verhältnis zur menschlichen Freiheit sowie zur individuellen Entwicklung und Konzeption eines personalen Subjektstatus gelegen. Unter dieser Perspektive lässt sich die Zielsetzung dieser Arbeit dahingehend konkretisieren, den prekären Subjektstatus der Individuen im Verhältnis zu den kulturellen Logiken jeweiliger Möglichkeitsräume unter der Leitdifferenz von Kultivierung und Entfremdung zu diskutieren.
1.2 Aktualisierung als methodischer Leitfaden der Textarbeit »Aktualisierung« bezeichnet nicht nur den gewählten Zugang zur Kulturphilosophie, sondern in einem zweiten Sinne die im Folgenden angewandte Methodik: »Aktualisierung« ist der Leitfaden für die unmittelbare Arbeit an und mit den Texten. Unter der »Simmel-Cassirer-Kontroverse« werden in der Regel die beiden oben eingeführten Aufsätze verstanden, von denen jener Cassirers im Jahr 1942 – also immerhin 24 Jahre nach Simmels Tod – erschien. Birgit Recki (2000: 162) spricht deshalb von einer »virtuelle[n] Kontroverse«. Gemeint ist, dass diese Kontroverse in ihrer eigentlichen Form nicht stattgefunden hat. Sie wurde nicht in einem wechselseitigen Für und Wider beider Autoren dialogisch ausgetragen, sondern ist in der Textgrundlage angelegt. Die jeweiligen Positionen müssten, und dies bedeutet hier Aktualisierung, durch Interpretationsarbeit offengelegt werden, damit diese so aufeinander bezogen werden und sich argumentativ aneinander abarbeiten können. Die für die Aktualisierung relevante textliche Grundlage umfasst aber tatsächlich deutlich mehr als die beiden Aufsätze von 1911 und 1942. Im Falle Simmels sind nicht nur die früheren Veröffentlichungen zu beachten, die als Vorarbeiten zur Tragödie gelesen werden können, sondern auch spätere Werke, die sich (teils explizit, teils implizit) mit dem Thema der Tragödie auseinandersetzen,
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
neue Akzentuierungen vornehmen und ergänzende Erläuterungen bieten. Und auch im Werk Cassirers lässt sich noch an weiteren Stellen, darunter im Nachlass und im Aufsatz Form und Technik, eine Auseinandersetzung mit der Tragödie der Kultur finden. Darüber hinaus wird natürlich deutlich, dass beide Autoren jeweils vor dem Hintergrund ihres Gesamtwerks argumentieren, das so im Verlauf der Aktualisierung mehr und mehr ins Spiel kommt und entfaltet wird. Dass eine solche Aktualisierung in der bisherigen kulturphilosophischen Forschung bislang nicht stattgefunden hat, wird im nächsten Kapitel zu zeigen sein. Ein solches Projekt der Aktualisierung brachte einige Herausforderungen mit sich. Erstens führte das Vorgehen dazu, dass die Interpretationen der jeweiligen Positionen wechselseitig voneinander abhängig wurden. Denn die Kontroverse in geschilderter Form zu aktualisieren, d.h., aktiv zu führen, bedeutete, dass die herausgearbeiteten Positionen jeweils im Lichte der vorgebrachten Kritikpunkte (re-)formuliert werden mussten, um dann erneut aufeinander zu antworten. Eine zweite Konsequenz dieses Vorgehens war, dass die Einschätzungen der jeweiligen Ausführungen Simmels und Cassirers zwischen berechtigter Kritik, Missverständnis, ›aneinander Vorbeireden‹ und re-formulierter Kritik schwankte.19 Wenngleich sich dies für die Kontroverse natürlich als fruchtbar erwies, folgte der Arbeitsprozess damit nicht einem klar vorformulierten Programm, sondern nahm unerwartete Abbiegungen, wenn plötzlich neue Fragen oder interne und externe Bezüge aufschienen oder bereits diskutiertes auf einer höheren Reflexionsstufe erneut aufgegriffen wird. Um die Eigenheit des vorliegenden Projekts kenntlich werden zu lassen, wurde der auf diese Weise entstandene Aufbau beibehalten und nur kleinere Glättungen vorgenommen. Es lässt sich erkennen, dass drittens ein solches Projekt nur schwerlich abzuschließen ist, insofern die Möglichkeiten zur Interpretation und Reformulierung potentiell unbegrenzt erscheinen. Eine relative Abgeschlossenheit lässt sich jedoch durch vorgenommene Re-Kontextualisierung und die damit verbundene Fragestellung bzw. Perspektive hinsichtlich der Kontroverse erzielen – also durch die Aktualisierung im Sinne des Kapitels 1.1. Viertens resultierte aus dem Vorgehen die Frage, wie mit philosophie- und textgeschichtlichen Interpretationen umzugehen sei. So fiel bspw. auf, dass Cassirer sich in seiner Replik von 1942 nur auf den ›eigentlichen‹ Tragödien-Aufsatz von 1911 bezieht und nicht auf die späteren Arbeiten zum Tragödienkonzept von 1916 und 1918 oder die Vorarbeiten in der Philosophie des Geldes und dem Aufsatz Sachliche und persönliche Kultur (1900). Jene Texte rücken aber nicht nur die Tragödie in ein anderes Licht, sondern auch Cassirers Kritik selbst, bspw. den Vorwurf, Simmel gebare sich als Mystiker. Simmel behandelt in späteren Aufsätzen explizit die Mystik als zeitgenössische Bewegung, deren Anspruch auf intuitive unmittelbare Erfassung eines substanziellen Ich Simmel klar abgelehnt. Dabei setzt sich Cassirer in zahlreichen Schriften aus seinem Nachlass (besonders
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Mitunter tauchte so sogar die Frage auf, was letztendlich das »Kontroverse« an dieser Kontroverse sei, wenn Cassirer die Konflikthaftigkeit der Kulturentwicklung – solange man diese als Konflikt zwischen kulturellen Formungen begreift – anerkennt und als einen offenen und produktiven dialektischen Prozess werten will. Trotz dieser Schwierigkeiten ließen sich bestimmte Konfliktlinien zwischen beiden Autoren herausarbeiten.
1. Zur Aktualisierung der Kontroverse zwischen Georg Simmel und Ernst Cassirer
Zur Metaphysik der Symbolischen Formen, Symbolische Formen. Zu Band IV und Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen) mit den späteren Werken Simmels auseinander, was impliziert, dass Cassirer Simmels Distanzierung von der Mystik bekannt gewesen sein muss. Sich dabei aufdrängende Fragen, ob sich Cassirer in seiner Replik von 1942 mit mehr als nur mit Simmels Philosophie auseinandersetzt und wenn ja, mit wem oder was, hätten jedoch weitaus mehr Quellenarbeit erfordern als es im Rahmen der vorliegenden Arbeit möglich und sinnvoll gewesen wäre – ohne dass mit einer zufriedenstellenden Antwort zu rechnen gewesen wäre. In diesen Kontext gehört auch die Frage, wie der Aufsatz Die »Tragödie der Kultur« in Cassirers Studiensammlung Zur Logik der Kulturwissenschaften überhaupt zu verorten ist, insofern er sich nicht, wie noch die vorherigen Studien, mit dem wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Status der Kulturwissenschaften befasst. Pragmatisch orientiert sich hier die Interpretation der Texte daran, wie sie sich für die Re-Kontextualisierung in der Debatte um die Macht der Technik möglichst fruchtbar aufeinander beziehen lassen. Bezüglich des Mystikvorwurfs – um das genannte Beispiel wieder aufzugreifen – hieß dies, ihn so zu lesen, dass Cassirer seine Kritik trotz Simmels Abgrenzung nicht beeinträchtigt sah. Bezüglich der philosophiegeschichtlichen Dimension der textlichen Basis beschränke ich mich, wo sie relevant wird, auf Hypothesen, deren genaue Prüfung ausstehen mag. Zuletzt eröffnete sich die Frage, wie jenseits von Sekundärliteratur mit Texten anderer Autor:innen umgegangen werden sollte. Insofern die gewählte Methode der Aktualisierung darauf zielt, die Kontroverse für gegenwärtige Debatten fruchtbar zu machen, erscheint es hinderlich, weitere Ansätze gänzlich auszublenden. Dementsprechend treten an einigen Stellen der Kontroverse weitere Diskutant:innen auf, wo die Werke Simmels und Cassirers Lücken aufweisen oder zu aufkommenden Fragen nicht ausreichend beitragen können. Neben jüngeren Autor:innen spielte dabei Kant eine wichtige Rolle. Besonders für Cassirer aber auch für Simmel bildet Kant einen zentralen Bezugspunkt, der es ermöglicht, beide Kulturphilosophen besser miteinander ins Gespräch zu bringen. In einigen Kapiteln war deshalb auch eine Auseinandersetzung mit Kant notwendig. Diese dient allein dem Zweck, jeweils Simmels und Cassirers Positionen weiter zu schärfen und aufeinander zu beziehen.
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2. Eine virtuelle Kontroverse
In den einleitenden Ausführungen habe ich bereits unter Rückgriff auf Reckis Formulierung auf den Status der Simmel-Cassirer-Kontroverse als »virtuelle Kontroverse« verwiesen: Simmel und Cassirer traten hinsichtlich der »Tragödie der Kultur« nie direkt beziehungsweise in ihren Texten, in eine reziproke Diskussion. Was vorliegt, sind die beiden Aufsätze der Autoren, die jedoch gute 30 Jahre auseinander liegen. Die Aktualisierung einer solchen virtuellen Kontroverse bedarf es, dass die jeweiligen Positionen zu einer bestimmten Frage oder einem Problem aufeinander bezogen werden, sodass sich die Debatte entfalten kann. Ich habe dabei behauptet, dass eine Aktualisierung dieser Kontroverse bislang nicht erfolgt ist – und dies nicht nur in dem Sinne, dass eine technikphilosophische Aktualisierung (hier im Sinne von Konersmann) aussteht, sondern dass das eigentliche Problem der »Tragödie der Kultur«, um das es sich dabei dreht, noch nicht verhandelt wurde. Die Kontroverse ist genauso virtuell wie sie offen ist. Eine solche Behauptung bedarf angesichts der Forschungsbeiträge, die die Simmel-Cassirer-Kontroverse zum Gegenstand haben, selbstverständlich Belege. Um diese Behauptung zu begründen, werde ich im Folgenden (2.1) einige Probleme der bisherigen Rezeption der Simmel-Cassirer-Kontroverse anreißen. Dies betrifft einerseits die von Missinterpretationen geprägte Behandlung, die Simmels Rede von der »Tragödie der Kultur« erfahren hat, und andererseits Cassirers Reaktion auf Simmels Aufsatz, die einige Fragen aufwirft, auf die die kulturphilosophische Forschung keine Antworten bietet. Anhand der Problematisierung Cassirers Kritik am simmelschen Lebensbegriff werde ich (2.2) zeigen, dass der grundsätzliche Status der Tragödie und ihre Bedeutung einer Untersuchung bedarf. In den ersten Grundzügen erfolgt diese Untersuchung im anschließenden Unterkapitel. Es wird mir dabei darum gehen, (2.3) die von Simmel beschriebene »kulturelle Logik der Objekte« (Simmel BuTK: 408) als den eigentlichen Kern der Tragödiendiagnose auszuweisen und in einer ersten interpretativen Annäherung diese als ein im weitesten Sinne technisches Phänomen zu bestimmen. Damit einhergehen wird eine revidierte Deutung des tragischen Konflikts, um den es Simmel geht, der in seiner Aktualisierung historisch und nicht metaphysisch ist. Entgegen des vielleicht entstehenden Eindrucks ist es dabei nicht mein Ziel, Simmel einseitig gegen Kritik zu verteidigen, sondern Missverständnisse zurückzuweisen, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der Kontroverse, also auch mit Cassirers Replik, versperren.
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2.1 Eine aktualisierte Kontroverse? Neben Kritik, die von marxistischer Seite am Konzept der Tragödie vorgebracht wurde (vgl. Lieber 1974; Scheible 1980) und Simmel dezisionistische Tendenzen und Apologetik vorhält,1 findet die Kontroverse und das Verhältnis Cassirers zu Simmel vor allem bei Autor:innen der in Deutschland seit den 1990ern neuauflebenden Kulturphilosophie Beachtung (siehe u.a. Recki 2000; 2004; 2015; Peters 2002; Möckel 1996, 1998; Becker 2008; Fetz 2008; Ullrich 2008). Sie orientieren sich stärker an Cassirer und dessen Kritik an Simmel. In ihren Beiträgen fällt auf, dass Simmels Position zumeist eine eher knappe Darstellung findet, sodass eine eingehendere Interpretation bewusst unterbleibt.2 Allein die Tatsache der knappen Darstellung der Tragödienschrift muss angesichts des dichtgedrängten, andeutungsreichen und oft dunklen Aufsatzes Simmels verwundern. Die gedanklichen und argumentativen Figuren, die in der Tragödienkonzeption verwoben sind, tauchen spätestens seit der Philosophie des Geldes immer im Werk Simmels auf und sind als eine Konsequenz dieses Werks zu betrachten. Es erscheint deshalb problematisch, die Tragödie ohne diesen Hintergrund verstehen zu wollen. Tatsächlich treten bei jenen Autor:innen auch immer wieder Fragen auf, wie sich die Tragödie in das restliche Werk Simmels fügt (s.u.), ohne diesen Fragen jedoch nachzugehen. Stattdessen wird darauf abgehoben, anhand der Kontroverse um die Tragödie der Kultur und Cassirers Simmel-Kritik3 bestimmte Aspekte und Züge Cassirers Philosophie herauszuarbeiten. Für Recki (2000; 2015; 2004: 172–181) sind dies die normativen und evaluativen Elemente, die notwendig unsere Bezüge zu Kultur und kulturelle Selbstverständnisse konstituieren, und bei Cassirer in einem »Ethos der Freiheit« (Recki 2000: 168) bzw. »praktischem Optimismus« (ebd.: 167) zum Ausdruck kommen. Günther Peters (2002) zeigt auf, wie die Lösung des von Simmel aufgeworfenen Problems Cassirers Auseinandersetzung mit Goethes Pandora entspringt und dort vorgezeichnet ist. In welcher Weise die symbolischen Formen und Gestaltungen im Urphänomen des Lebens gründen, dort ihre »Quellstätte« (Möckel 1998: 386) haben, markiert für Christian Möckel das Interesse seiner Behandlung Cassirers Kritik am simmelschen Lebensbegriff. Ralf Becker (2008) arbeitet anhand der Tragödienaufsatzes die sogenannten Basisphänomene
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Eine eingehendere Behandlung dieser Kritik muss an dieser Stelle unterbleiben. Ein vergleichbarer Vorwurf findet sich allerdings auch bei Recki (2000: 169). Die Kritik Hans-Joachim Liebers (1974) wird uns jedoch noch an späterer Stelle der Arbeit beschäftigen (siehe Kapitel 7.2). »Simmels Philosophie der Kultur, wie er sie in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts entwickelt, dürfte in wesentlichen Punkten unstrittig sein« (Recki 2000: 163; siehe auch 2004: 172) und sein Begriff der Kultur sei von »unspektakulärer Nachvollziehbarkeit« (Recki 2015: 41). Bemerkenswert ist dabei, dass sich Recki ausschließlich auf die teleologische Konzeption des Kulturbegriffs aus Vom Wesen der Kultur von 1908 bezieht und das Spätwerk (vor allem die Lebensanschauungen), das eine Revision der Kategorie der Teleologie für den Kulturbegriff vollzieht, unberücksichtigt lässt. Die Veröffentlichung des ersten Bandes der nachgelassenen Manuskripte und Texte Cassirers 1995 (ECN 1) rückte Cassirers Rezeption der Lebensphilosophie in den Fokus und half offene Fragen zum Ursprung und zur Begründung der symbolischen Formen zu klären. Siehe hierzu besonders den Sammelband von Fetz und Ullrich (2008).
2. Eine virtuelle Kontroverse
»in ihrer strengen und funktionalen Einheit« (ebd.: 173) und ihrer Bedeutung für Cassirers Verständnis der Kultur als »kommunikatives Geschehen« (ebd.:176) heraus. Cassirers Diskussion der simmelschen (und lebensphilosophischen) Problematisierungen eines Gegensatzes »zwischen Leben und Geist« (Fetz 2008: 18) bzw. Form und das in dieser entwickelte Begriffspaar forma formata und forma formans dient Retio Luzius Fetz (2008) dazu, die Stellung einer Metaphysik des Symbolischen und der Philosophie als Ganzes in Cassirers Projektarchitektur zu bestimmen. Zuletzt geht es im gleichen Kontext Sebastian Ullrich (2008) um die Konzeption des Cassirerschen Geistbegriffs als »Voraussetzung jeglichen Lebensvollzugs, weil er als ursprüngliche Konstruktion des Sinns ideeller Zielpunkt jeglichen Lebensvollzugs ist« (ebd.: 54). Gleichwohl diese Veröffentlichungen so in erster Linie wichtige Beiträge zur Cassirer-Forschung sind, liefern sie auch Interpretationen, was Cassirer Simmels Tragödiendiagnose entgegenhielt und prägen damit die Einschätzung der Kontroverse. Was Simmel versäumt habe, sei den kulturellen Rezeptionsprozess, die Art wie sich Subjekte kulturelle Werke aneignen, angemessen zu würdigen. Statt der »triadischen Struktur von Ich, Werk und Du« (Becker 2008: 170; siehe auch Recki 2015: 46)4 der Kultur Rechnung zu zollen, begreife Simmel »Kultur als einen linearen Produktionsprozess geistigen Lebens« (Becker 2008: 166). Kultur sei nun aber als kommunikatives Verhältnis von mehreren Subjekten zu denken, das durch kulturelle Werke vermittelt wird (vgl. ebd.: 166; siehe auch Peters 2002: 133). In dieser Funktion werde erst ihr Potential kenntlich, »die unabdingbare Spontaneität und unabsehbare Produktivität menschlichen Agierens« (Recki 2000: 170) anzuregen.5 Die Entwicklung der Kultur, der objektiven wie der subjektiven, komme nicht zum Stillstand, denn »[i]rgendeine Weise von Aufnahme und Aneignung, von Rezeption und Realisierung, findet immer statt« (ebd.). Ein bei Simmel »unausgesprochen« waltendes »Absolutheitskriterium« (ebd.) für die Rezeption kultureller Werke verwehre ihm die Anerkennung der »Unvorhersehbarkeiten lebendiger Aneignung« (Recki 2015: 49). »[D]ass das Angeeignete niemals dasselbe bleibt« (ebd.: 50 [Herv. i.O.]), erinnere an die Beweglichkeit und Wandelbarkeit der kulturellen Formen. Der Konflikt zwischen einer strömenden Bewegung und der festen, überzeitlichen Geltung als Gegensatz »zwischen Leben und Geist [...], den Simmel zur ›Tragödie der Kultur‹ emporstilisiert hat« (Fetz 2008: 18) sei mehr Schein als Sein (vgl. hierzu auch Möckel 1998: 370–372). Angemessen zu begreifen, seien die Hervorbringungen der Kultur, die kulturellen Werke, nur aus ihrem Gestaltungsprozess heraus. Dann werde nämlich deutlich, wie der vermeintliche
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Dies sind eben die sogenannten Basisphänomene, die uns im weiteren Verlauf der Aktualisierung noch öfter beschäftigen werden. Ähnlich argumentiert hier Hubig (2011a). In den kulturellen Werken liege eine Spannung aus »›Formkonstanz‹ und ›Modifizierbarkeit der Form‹«, »ein Gegensatz von einer Wirklichkeit und einer Möglichkeit (als Modifizierbarkeit), die dieser Wirklichkeit bedarf, einer Wirklichkeit, die die Möglichkeit als Möglichkeit negiert (›dialektischer Widerspruch‹).« (Hubig 2011a) Die Entfaltung dieses dialektischen Widerspruchs in der Rezeption der Werke sorge dafür, »dass die Kulturentwicklung nicht zwangsläufig zur Tragödie eskaliert, sondern den Charakter eines Dramas mit immer währenden Krisen und ihrer punktuellen Auflösung aufweise« (ebd.). Jedoch sei auch Cassirer nicht »[z]um Kern dieser Dialektik [...] vorgedrungen« (ebd.). Diesen Kern jenseits der »idealistischen Lösung« Cassirers möchte Hubig schließlich mit dem »Philosophen unter den Musikwissenschaftlern« (ebd.), Carl Dahlhaus, darlegen.
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Gegensatz immer schon vermittelt ist. Die Werke sind nicht nur eine fertige Form, »forma formata«, sondern immer gleichzeitig »forma formans« (Cassirer SF IV: 217 [Herv. i.O.]), die formende Energie (vgl. auch Cassirer MsF: 18). »Die forma formans, die sich zur forma formata entwickelt, behält ihrerseits die Kraft, als forma formans in den Prozess weiterer Formbildungen einzugehen.« (Fetz 2008: 20) Gestaltungsprozesse, darauf weist das relative Begriffspaar hin, beginnen und enden bei der Form (vgl. ebd.; siehe auch Ullrich 2008: 46–47). Simmel verkenne durch seine metaphysischen Hypostasierungen von Lebens- und Formbegriff den wahren Charakter der kulturellen Werke (vgl. auch Peters 2002: 132–133). Gleich dem goetheschen Zauberlehrling (vgl. Recki 2004: 175–177) stehe Simmel den Folgen (respektive Folgerungen) seiner (begrifflichen) Schöpfungen hilflos gegenüber. Mehr noch: Er lege mit dem Begriff der »Tragödie« für das geschilderte Problem die »Haltung des Ästhetisch genießenden« (Recki 2000: 169) nahe. Sicherlich sei die hierin liegende Distanznahme von Problemen eine wichtige und entlastende kulturell-geistige Funktion, aber »sie zu verabsolutieren muß zu völlig unangemessenen Formen der Praxis führen« (ebd.). Angesichts des »Existenziellen Ernst[s]« (ebd.: 170) der zugrundliegenden Frage der Kulturentwicklung offenbare Simmel, dass ihm »der Sinn für das Wesentliche« (ebd.: 169) fehle (vgl. auch Recki 2015: 49). Der »Ethos der Freiheit« (Recki 2000: 168), den Cassirer der tragischen Haltung entgegenstellt, gleiche einer »positive Arbeitshypothese« (ebd.: 167), die gerade wegen der zu bewältigenden Krisen und Herausforderungen aufrechterhalten werde: »Aus Achtung vor der unabsehbaren Spontaneität unserer selbst wie der anderen steht uns weder zu, im Namen pauschaler aufs Ganze gehender Theoreme deren Aktivität festzustellen, noch steh es uns zu, die Art und Weise, in der durch diese Spontaneität kulturelle Bestände angeeignet und in der Transformation tradiert werden, im voraus abzuurteilen. Eben diese Feststellung aber liegt im Begriff einer Tragödie der Kultur.« (Recki 2004: 181 [Herv. i.O.]; vgl. auch Recki 2000: 171)6 Die Tragödie sei folglich geradezu unredlich, weil sie (zumindest in der Betrachtung) »die Subjekte zu festgenagelten Instanzen im Zustand der Erstarrung« (Recki 2000: 170) werden lasse. Ihr Handeln und Verhalten werden fatalistischer Manier vorgezeichnet. Neben bereits beschriebenen Kritikpunkte sei dafür Simmels Kultivierungsideal verantwortlich, das einer auf Basis eines »kanonischen Kulturbestandes«, der in seiner objektiven Bedeutung aufgenommen werden müsse, »einheitlich durchgebildeten Persönlichkeit« (ebd.). Dies seien die überzogenen und unrealistischen Vorstellungen eines Kulturkonservativen, »der alles und der es objektiv richtig haben will – und sich nicht klar macht, daß es nicht geben kann, was er da verlangt« (ebd.). Die Unterschiede zwischen Simmel und Cassirer, die hinsichtlich des vertretenen Bildungs- und Kultivierungsideals ausgemacht werden können, greift Peters (2002: 125–126 und 130) implizit auf. Pe6
Recki sieht deshalb in Cassirers Rede vom »Drama der Kultur« kein Entgegenkommen, sondern vielmehr »eine rhetorische Strategie teils des distanzierenden Zitats (siehe in Anführungszeichen die korrigierende Rede von der ›Katharsis‹ [...]), teils der terminologischen Nachgiebigkeit [...] zum Zweck einer um so entschiedeneren Abgrenzung in der Sache. Cassirer ist weit davon entfernt, die Kultur in erster Person als ein theatralisches Drama konzipieren zu wollen« (Recki 2000: 166, Fußnote 29).
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ters verweist auf Habermas (1983: 247) Einschätzung, dass wir es bei Simmel mit einem »expressivistischen Bildungsideal« zu tun haben, in dem das Leben »nach dem Modell des schöpferischen Produktionsvorgangs gedeutet« werde. Der Bildungsprozess habe die Entfaltung der »Totalität« der »eigenen Wesenskräfte« und »die Steigerung des individuellen Lebens« (ebd.) zu leisten.7 Dieses »individualistische Ideal« trete für Cassirer hinter das »soziale Ideal« (Peters 2002: 125) des späten Goethe zurück. Letzteres markiert die Einsicht, dass die Totalität der »gestaltbildenden Kräfte« erst im gesellschaftlichen Ganzen der Kultur »ineinandergreifen und sich gegenseitig ergänzen« (ebd.). Insofern aber das Individuum gerade durch die Kultur an diesem Ganzen teilhabe, sei der Begriff des Lebens ungeeignet, die Rechte des Individuums »gegen die verdinglichte Welt und ihre Übermacht einzuklagen« (ebd.: 135).8 Der Grundtenor ist jeweils der gleiche: Simmels Diagnose der Tragödie der Kultur ist das pessimistische Eingeständnis eines philosophischen Scheiterns an metaphysischen Problemen, die Cassirer erkenntniskritisch als Hypostasierung zeitdiagnostischer Beobachtungen entlarve. Simmel erscheint damit lediglich als Vorläufer Cassirers, der gewisse Probleme aufwarf und Cassirer zu ihrer Lösung inspirierte. Doch tauchen schnell Zweifel an dieser Darstellung auf. Bspw. stellt Recki die Frage, warum Simmel nicht selbst die Einwende Cassirers vorwegnahm, wenn er an anderer Stelle entsprechende Erkenntnisse formuliert (vgl. Recki 2000: 173). Im Rahmen des »Exkurs über das Problem: Wie ist Gesellschaft möglich?« in Simmels Soziologie findet sich bei der Analyse der soziologischen Aprioritäten die These, dass, in Analogie zum »Erkenntnisleben«, »das gesellschaftliche Leben als solches auf die Voraussetzung einer grundsätzlichen Harmonie zwischen dem Individuum und dem sozialen Ganzen gestellt« (Simmel Soz: 59) ist. »Indem Simmel hier ausdrücklich von einer ›prästabilierten Harmonie‹ spricht, geht er von der Vorstellung einer grundsätzlichen, sich in der Dynamik der bestimmenden Kräfte einer Gesellschaft stets einpendelnden Entsprechung zwischen Individuum und Allgemeinheit aus«,9 so Recki (2000: 173). Wenn hierin tatsächlich ein Gedanke formuliert ist, der bereits zu Cassirers Kritik führt, lässt sich ebenso berechtigt die Frage stellen, ob die Tragödie hierdurch gerade nicht widerlegt werden kann und damit ein anderes Problem zugrunde liegt, als Simmels Kritiker:innen annehmen. Weiter lässt zeigen, dass Reckis Interpretation des simmelschen Kulturkonservatismus und Bildungsideals fragwürdig ist. Bereits in der Philosophie des Geldes wendet sich Simmel explizit gegen ein kanonisches Bildungsideal und beschreibt ein solches als historische Erscheinungsform (vgl. Simmel PdG: 621–622). Auch Simmels Ausführungen, dass es keineswegs nur die größten oder vollkommenen Werke und Schöpfungen sein müssten, 7
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Hieraus erklärt sich auch Hubigs (2011a) Annahme, das Scheitern einer Re-Subjektivierung, wie es in der Tragödie beschrieben sei, liege darin, dass sich die Autor:innen in ihren Werken nicht mehr wiedererkennen. Die eigene Authentizität werde in den Werken nicht erreicht, sondern »verstellt« (ebd.) und damit verloren. Diese Argumentationsfigur wird uns in Kapitel 4.2 intensiver beschäftigen. Reckis Spekulation darüber, ob Simmels soziologische und philosophische Untersuchungen zu keiner systematischen Einheit gebracht wurden, ist mit den Studien von Antonius M. Bevers (1985) und Annika Schlitte (2012) zurückzuweisen. In der Tat entwickelte Simmel kein philosophisches System wie es bspw. in Cassirers Philosophie der Symbolischen Formen versucht ist, was aber nicht gegen einheitliche Methodik, Begriffe und Thesen spricht.
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die Kultivierungsprozesse im Subjekt anstoßen, deuten in eine andere Richtung. Der rein sachliche Maßstab sage noch wenig darüber aus, ob sich ein Werk »in den Entwicklungsweg vieler Menschen aufs wirkungsvollste einzufügen« (Simmel BuTK: 399) vermöge. Möckel (1998) und Becker (2008: 176) melden ihrerseits Zweifel an, ob sich Simmels Tragödie nach der Erwiderung Cassirers einfach so ad acta legen lässt. »Als fragwürdig« erscheint Möckel (1998: 372) Cassirers Problematisierung des simmelschen Lebensbegriffs, insofern bei Simmel bereits einige der Pointen Cassirers zumindest impliziert seien.10 Unberührt des von Cassirer vorgelegten Verständnisses von Kultur als »kommunikatives Geschehen [...], das notwendigerweise arbeitsteilig organsiert ist«, lässt Becker offen, ob die Kritik an Simmel »diesen nun trifft oder nicht« (Becker 2008: 176) – und fügt außerdem an, dass Simmel womöglich »die Folgen einer exuberanten kulturellen Produktivität, die immer unüberschaubarer und immer weniger durchschaubar wird, für die Orientierungsbemühungen des Einzelnen feiner herausgespürt [habe] als Cassirer« (ebd.: 176). Die klare Position, dass Cassirers Kritik die Tragödie weder entkräften könne noch treffe, vertreten Willfried Geßner (1996b; 2003) und Heinrich Adolf (2003), die sich beide in der Tradition Simmels verorten. Geßner (1996b: 60) unterscheidet zwei strategische Ansätze in der cassirerschen Kritik. Der erste ziele darauf ab, die Tragödiendiagnose »a priori zu widerlegen« (ebd.), indem Simmel in der Gegenüberstellung von Leben und Geist bzw. Form eines Denkfehlers überführt wird und die Tragödie sich als »Scheinproblem« (Cassirer Form: 214) erweist. Dieser Punkt wurde zuvor bereits angesprochen und soll im nachfolgenden Kapitel genauer untersucht werden. Vorläufig ist mit Geßner (1996b: 60) nur auf die Schwierigkeit zu verweisen, dass Cassirer in dieser Kritiklinie dazu neigt, Simmels Position mit der von Henri Bergson zu identifizieren (aber selbst hierin keine Einheitlichkeit zeigt).11 Der zweite Ansatz der cassirerschen Kritik beleuchtet die »empirische Seite der von Simmel formulierten Problematik« (ebd.). Die Kritik basiert auf dem oben beschriebenen Begriff des Werks als forma formata und forma formans, sie hebt also die Wandelbarkeit und Plastizität der Form hervor. Anhand der Sprache zeigt Cassirer auf, wie sich die Formen dem Leben anpassen und von ihm modifiziert werden. Eine Erstarrung der kulturellen Produkte und des gestalterischen Prozesses, wie die Tragödie sie behaupte, gebe es demnach nicht. Auffällig ist, dass sich Cassirer in seiner Erwiderung auf Simmel lediglich auf Der Begriff und die Tragödie der Kultur, während die anschließenden Veröffentlichungen Die Krisis der Kultur von 1916 und Der Konflikt der modernen Kultur von 1918 weitgehend unberücksichtigt bleiben.12 Bereits die in den Titeln anklingende Abschwächung – von der Tragödie zur Krise und zuletzt zum Konflikt der modernen Kultur – deutet eine Veränderung des Konzepts an, sodass offen bleibt, ob 10 11
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Das folgende Kapitel 2.2 wird sich eingehender mit dieser Frage beschäftigen. Darüber hinaus verweist Geßner (1996b: 65–66) mit Blick auf die zeitlebens unveröffentlichten Manuskripte Cassirers darauf, dass dessen Position bezüglich der Tragödie keine Kontinuität zeige. Während Cassirer bereits 1928 in seinen Manuskripten die zentrale Kritik an Simmel formulierte, zu der er auch 1942 zurückkehrte, attestiert Geßner Cassirers Aufsatz Form und Technik von 1930 eine wesentlich größere Nähe zu Simmel. Gleiches gilt für Simmels vorangehende Überlegungen in der Philosophie des Geldes und im Aufsatz Persönliche und sachliche Kultur.
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Cassirer wirklich recht hat, wenn er schreibt, Simmel sei an diesem Problem »verzweifelt« (Cassirer LdK: 463).13 Für die Beurteilung der Kontroverse sind die späteren Texte Simmels aber auch deshalb relevant, weil Simmel in Der Konflikt der modernen Kultur ausführt, wie das Leben selbst eine dauerhafte kulturelle Erstarrung verhindere, indem seine Kräfte stets »an den einmal entstandenen Kulturgebilde[n]« »nagen« (Simmel Konflikt: 184). Die geschichtliche Entwicklung der Kulturformen skizziert Simmel, implizit auf Marx bezugnehmend, als beständig revolutionären Prozess (vgl. ebd.: 184–185) und damit durchaus im Einklang mit Cassirers Metapher eines Pendelschlags zwischen »Erhalt« und »Erneuerung« (Cassirer LdK: 482) kultureller Formen.14 Die hier aufscheinende Nähe beider Autoren in der Modellierung der Kulturentwicklung verlangt eine eingehendere Prüfung ihrer jeweiligen Einschätzung dieser Entwicklung als Tragödie bzw. Drama. Cassirer habe mit seinen Ausführungen zum offenen kulturellen Wandel bei Simmel »offene Türen« (Adolf 2003: 85) eingerannt, urteilt Adolf, und verkenne, wie sich »[die] dem Kultivierungsprozeß innewohnende Tragik« gerade »als Motor des Kulturwandels« (ebd.: 98) erweise. »Angesichts dieses in der Tragödie enthaltenen Moments eines kulturellen Wandels wird Cassirers Kritik nicht nur entkräftet, vielmehr erweist sich sein eigener Versuch, die vermeintliche Aporie in Simmel [sic!] Kulturtheorie in die Theorie eines dramatischen Kulturwandels überzuführen, gerade nicht als Korrektur, vielmehr nur um eine Entfaltung dessen, was Simmels Kulturauffassung je schon implizierte.« (Ebd.: 100) Auch Geßner hebt den »Konflikt« als »modus procedendi« der Kultur hervor – »dementiert« in diesem Zuge »allerdings auch ihre Deutung als Tragödie« (Geßner 1996b: 69). Es gebe in diesem sich selbst reproduzierenden Konflikt nicht den Sieg der einen oder anderen Seite (vgl. ebd.). Michael Landmann unterbreitet dieselbe Lesart, wenn er erklärt, »[n]icht ihrem Wesen nach« sei »die Kultur Tragödie« (Landmann 1987: 13). Sie zeichne sich jedoch durch immer wieder eintretende »tragische Phase[n]« (ebd.) aus. Kritisiert wird dies wiederum von Adolf, der hier gerade die Quintessenz des von Simmel Intendierten verloren gehen sieht, nämlich »den kritischen Verlauf der Kultur gerade als ein in deren Wesen verankertes Geschehen« (Adolf 2003: 95). Aber auch Adolf betont, dass 13
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Geßner (2003: 255) sieht mit der Schrift zur Krisis der Kultur gar einen »Bruch« im Konzept der Tragödie: Simmel löse sich zunehmend von der »bildungsgeschichtlichen Deutung«, deren Tragik in der Entfremdung des Individuums von der objektiven Kultur liege, um den generellen Konflikt zwischen Leben und Form herauszuarbeiten. So stehe nicht mehr das Scheitern der individuellen Aneignung von Kultur im Fokus, sondern die Gefahr der »Erstarrung« (Geßner 2003: 254–255) des Kulturprozesses. Jedoch lassen sich auch an dieser Lesart Zweifel geltend machen: Zwar ergeben sich mit der Akzentuierung des Lebensbegriffs in den späteren Aufsätzen durchaus neue Perspektiven auf die Kulturentwicklung und damit auch auf die Tragödie, aber das Individuum und seine bildungsgeschichtliche Problematik sind nicht aus dem Kreis der Überlegungen herausgefallen, wie Simmels Behandlung des Begriffs des Ich, der Endlichkeit und des individuellen Gesetzes in seinem letzten großen Werk von 1918, den Lebensanschauungen (Simmel LA), zeigen. Die Rede von einem »Bruch« erscheint deshalb zu stark. Ohne auf Cassirer zu verweisen oder ein Zitat kenntlich zu machen, nutzt Landmann (1951: 123) in seinem Aufsatz Konflikt und Tragödie die Metapher der Pendelbewegung für den Wechsel zwischen Phasen eines Konflikts des Lebens mit den hervorgebrachten Formen und der Harmonie.
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die Tragödie deshalb nicht »jene radikalen kulturpessimistischen Züge« (ebd.: 99) trage, die von Kritker:innen in ihr gesehen werden, und dürfte sich hierin in Übereinstimmung mit Geßner und Landmann wissen. Individuen und Leben können sich gegen einschränkende Verfestigungen in der Kultur durchaus wehren (vgl. ebd.: 98–99). Aus der wesenhaften Tragik der Kultur folge deshalb kein »tragische[r] Kulturverlauf« (ebd.: 97). Eine entschieden schärfere Lesart der Tragödie vertritt Gerhard Ehrl (2005). Nicht nur sei der auftretende Bruch innerhalb der Struktur der Kultur, der »Spalt«, wie Simmel (BuTK: 402) sagt, in ihrem Wesen gelegen, er begründe im Weiteren auch den tragischen Verlauf des Kulturprozesses (vgl. Ehrl 2005: 21). Ehrl (2005: 30) macht hier eine Zuspitzung oder zunehmende Eskalation der Entwicklung aus, weshalb die Kultivierung »unter bestimmten Bedingungen (oder ab einem bestimmten Entfaltungsgrad) mißlingen muß und auf diese Weise der Kulturprozeß von einer ›tragischen Finalität‹ gesteuert wird«. Insofern es sich bei Simmel um Wesensanalysen handle, sei diese tragische Finalität unvermeidbar. Die Tragödie sei der menschlichen Fähigkeit steuernd einzugreifen entzogen, nicht als eine naturkausale Notwendigkeit, sondern als etwas, das sich jenseits bzw. oberhalb der freien Entscheidung vollziehe (vgl. ebd.: 16 und 32). Ohne an dieser Stelle bereits eine klare Einschätzung dieser Positionen bieten zu können, bleibt festzuhalten, dass der Status der Tragödie auch in der Simmelforschung umstritten ist. Bestritten wird seitens der Simmeltradition ferner, dass Kultur in der Tragödie als linearer Prozess gedacht wäre, der mit der Schöpfung von Werken durch Individuen ende. Die »Wechselbeziehung zwischen Produzenten und Rezipienten«, die »Ich-Du-Beziehung«, sei bei Simmel »immer vorausgesetzt« (Adolf 2003: 100). Tatsächlich war es Simmel selbst, der bereits 1918 im Essay Vom Wesen des historischen Verstehens darauf hinwies, »daß das Du vielmehr ein Urphänomen ist ebenso wie das Ich« (Simmel VWhV: 160), wie Geßner (1996b: 62) der Kritik Cassirers entgegenhält. Für Simmel liege hier schlicht ein anderes Problem vor, nämlich, dass die Spielräume der Rezeption Vorstrukturierungen erfahren, »greifbar etwa im Spezialistentum, das eine Konzentration auf einen kleinen Wissensbereich erfordert« (Adolf 2003: 100). Auch Geßner formuliert entschieden, dass Cassirers Kritik »ihren Gegenstand verfehlt« (Geßner 1996b: 66), wenn er schreibe, dort, wo die oder der Kulturschaffende »ein Zuwenig sieht«, bedränge die oder den Rezipierende:n »ein Zuviel« (Cassirer LdK: 469). Dies sei eben keine Lösung, sondern gerade Teil des Problems, nämlich der »unerschöpflichen Fülle« (Cassirer LdK: 469), in der sich die Individuen verlieren können (vgl. Geßner 1996b: 62). Es helfe auch nicht, »exzeptionelle Gestalten wie Propheten und Sprachschöpfer« (ebd.) als Ausnahmeerscheinungen von der Tragödie anzuführen. Denn diese könnten »den sozialpsychologischen, individualitäts- und bildungsgeschichtlichen Befund Simmels nicht widerlegen« (ebd.: 67). Den kulturellen Formen ein ethisches Telos zu unterstellen, präsentiert sich für Geßner gar »als Akt eines verzweifelten Optimismus« (ebd.: 65). Cassirers Optimismus begreift Adolf (2003) als den wesentlichen Unterschied zu Simmel – sofern man Cassirers Abgrenzung nicht auf die »eingeschränkte Textbasis« (Adolf 2003: 100), die er bei seiner Kritik rezipiere, zurückführen wolle. Adolfs weitere Ausführung dieses Unterschieds vermag aber nicht zu überzeugen. Für Cassirer obliege »die Gestaltung des Kulturraums einzig dem Menschen, d.h. soweit dessen diesbezügliche Fertigkeiten und Kapazitäten reichen« (ebd.: 100–101). Was Adolf damit jedoch meint ist, dass »ein nicht-rationalisierbarer Kern« (ebd.: 103) der Kultur (anders als bei
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Simmel) keine (ausreichende) Berücksichtigung finde, weswegen »das Korrektiv [für kulturelle Entwicklung] eine von der Kultur selbst generierte (symbolische) Form [...] und nicht etwas, das von einem kulturell nicht verfügbaren Außerhalb her agiert« (ebd.: 102). Zu widersprechen ist dem erstens, weil das Korrektiv für Cassirer die philosophische Reflexion bildet, die selbst nicht als symbolische Form gefasst werden kann (vgl. Cassirer SF IV: 264; siehe auch Fetz 2008: 31–32), und zweitens, weil Cassirer in Vom Mythus des Staates den irrationalen Boden der Kultur betont, der sich nie ausmerzen lasse (vgl. Cassirer MdS: 389). Die Rationalisierung als eine Ethisierung der Kultur ist eine stetige Auseinandersetzung mit den nicht-rationalen Elementen und ein nie zu vollendendes Projekt. Dagegen erklärt Geßner (1996b: 66) den Unterschied zwischen beiden Philosophen »mit den verschiedenen Kulturbereichen, welche einerseits Simmel, andererseits Cassirer ihrer Theoriebildung zugrunde legen«. Für Cassirer sind hier die Kunst, Wissenschaft, Sprache und Religion bzw. der Mythos maßgeblich und es sind auch jene Bereiche auf die er sich in seiner Antwort auf Simmel bezieht. Der Ausgangspunkt Simmels Kulturphilosophie bildet bekanntermaßen die Betrachtung des Geldes. Kennzeichnend für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Phänomene, die Simmel in erster Linie untersucht, sei »die Transzendenz von Intentionalität«, womit bei ihnen »die werktheoretische, ja überhaupt handlungstheoretische Betrachtungsweise an ihre Grenzen stößt« (ebd.). Die Zugänglichkeit vermittels werktheoretischer Interpretationen ist Geßner zufolge gerade ein durchgängiges Merkmal der von Cassirer behandelten Bereiche. Weiter deutet Geßner an, dass die unterschiedliche Einschätzung eigendynamischer Tendenzen in der Kultur in diesem Unterschied begründet liegen könnten. Nun ließe sich anmerken, dass natürlich auch Simmel neben der Wirtschaft, dem Recht und der Technik auch von Kunst, Sprache, Religion und Wissenschaft spricht. Allerdings ist die unterschiedliche Gewichtung der jeweiligen Bereiche augenfällig. Dieser Unterschied wirft zumindest die Frage auf, ob das von Simmel beschriebene Problem nicht in Abhängigkeit jeweiliger Kultursphären besteht, sich unterschiedlich ausprägt und gegebenenfalls lösen lässt. Cassirers Argumentation stützt sich auf den Vorwurf, Simmel offenbare sich in seinem Ansatz als Mystiker, der danach strebe, »sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken, um in ihm das Wesen Gottes zu finden« (Cassirer LdK: 465). Simmels Tragödie beruhe auf einem Ideal der Unmittelbarkeit, von dem die Kultur als Inbegriff vermittelter Welt- und Selbstverhältnisse abfalle und sich immer weiter entferne. Zurecht beharrt Cassirer auf der Universalität der Vermittlung menschlicher Existenz, die erst die Voraussetzung für menschliche Freiheit schaffe. Es mag nun verwundern, dass Simmel in seinen beiden späteren Aufsätzen, die Die Krisis der Kultur und Der Konflikt der modernen Kultur, explizit die Mystik als eine zeitgenössische Bewegung beschreibt, die danach strebe, jegliche äußere Form zu überwinden. Er weist jedoch diesen und allgemein den Versuch einer formlosen Äußerung des Lebens als unmöglich zurück (vgl. Simmel Konflikt: 201–205; Simmel Krisis: 44). Geßner (1996b: 62) attestiert Cassirer darüber hinaus, seinem eigenen Vorwurf zu widersprechen, wenn er Simmel zugesteht, nicht auf die Kultur verzichten zu wollen. In seiner Replik formuliert Cassirer abschließend den Gedanken, dass die Kultur durch die Tradition geistiger Inhalte die biologische Schranke des Somas überwindet,
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womit der Mensch zum aktiven Gestalter seiner selbst wird (vgl. Cassirer LdK: 485–486). Dasselbe Fazit zieht Simmel in der Philosophie des Geldes (vgl. Simmel PdG: 627) – womit wir vor der Frage stehen, wie es einzuordnen ist, dass Cassirer in seiner Replik auf Simmel ein Argument gegen die Tragödie entwickelt, dessen Inhalte wir so auch bei Simmel selbst finden. Fällt Simmel in der Tragödie hinter seiner Einsicht aus der Philosophie des Geldes zurück? Sah er die Tragödie hiervon unberührt? Und was folgt daraus für die Einschätzung Cassirers Kritik? Dass sich in der bisherigen Literatur kaum Querverweise finden,15 ist ein weiterer Hinweis darauf, dass eine Aktualisierung der Kontroverse bisher nicht erfolgt ist. Woran es hier mangelt, ist vor allem die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Einschätzungen, ob Cassirers Kritik Simmels Tragödiendiagnose stichhaltig widerlegt oder am eigentlichen Problem vorbei formuliert ist. Bleiben die Bezugnahmen auf beide Positionen selbst wieder unverbunden nebeneinanderstehen, haben wir zwar eine Vorarbeit, aber noch keine Kontroverse vor uns. Die vermeintlichen Aktualisierungen, die ja die Kontroverse erst eigentlich führen bzw. selbst darstellen sollen, bleiben ihrerseits wieder bloß virtuell. Die divergierenden Ansichten zu Simmel und Cassirers Kritik, die in der die virtuelle Kontroverse behandelnden Literatur zutage treten, weisen jedenfalls daraufhin, dass noch eine Menge Unklarheiten bezüglich dessen besteht, worum es in der Tragödie der Kultur tatsächlich geht. Der »Bekanntheit der Parole« steht so nach wie vor die »Verschlossenheit ihres Inhalts« gegenüber, lässt sich mit Hubertus Busche (2004: 211) konstatieren. Nur trägt Busche selbst leider kaum zur Klärung des Inhalts bei. Seine Interpretation bleibt letztlich bei einigen der (vermeintlichen) Symptome der Tragödie der Kultur stehen, ohne zur tragischen Struktur der Kultur selbst vorzustoßen. So missversteht Busche die Bedeutung des von Simmel geschilderten Auswachsens von Mitteln zu Endzwecken als Grundlage der kulturellen Eigendynamik. Dieses psychologische Phänomen sei eben eine typische Erscheinung der Moderne, stehe aber gerade in keiner »Beziehung zu dem sachlichen Zusammenhang der Dinge« (Simmel BuTK: 411) und ist damit nicht gleichbedeutend mit der von Simmel diagnostizierten Eigendynamik. Wie in den Vorbemerkungen bereits herausgestellt, ist es aber dieser sachliche Zusammenhang, der durch die »immanente Logik der Kulturformungen der Dinge« (ebd.: 411) gestiftet wird, um den es Simmel geht. Entsprechend sieht Busche in den ›tragischen‹ Erscheinungen lediglich die Konflikte der Moderne, die in der Massenproduktion und Massenkultur lägen, aber eben kein Auseinanderdriften zwischen subjektiver und objektiver Kultur bedeuteten: »Was vom Einzelnen nicht mehr assimiliert werden kann, ist nicht etwa eine fortgeschrittene ›Kultur‹ der Objekte, sondern einfach die rasant gesteigerte Vielfalt an Produktion innerhalb der fortgeschrittenen ›Gesellschaft‹.« (Busche 2004: 232) Angesichts »Schund und Trash« (ebd.), der zwar im weiteren Sinne als Kulturprodukt gelten kann, damit aber nichts über seinen Wert gesagt ist, habe das Individuum der Moderne kein »Kapazitätsproblem«, sondern ein »Selektionsproblem« (ebd.: 233; ähnlich äußert sich Schäfer 2018, spricht aber von einer »Relevanzkrise«). Hierzu gehört für Busche auch das Auseinanderdriften objektiver Kulturgebiete, wie Wirtschaft, Recht, Kunst usw. Busche erkennt in Simmels Ausführungen den unbeholfenen Versuch, autonome und autopoietische Funktionssyste15
Ausgenommen ist die Diskussion innerhalb der Simmeltradition über den Status der Tragödie.
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me mit jeweils eigenen Codes, wie wir sie in Niklas Luhmanns Systemtheorie finden, zu konzipieren (vgl. Busche 2004: 235–236). Nur seien diese Systeme nicht unverbunden, insofern die Individuen jeweils immer Teil verschiedener Systeme sind, deren Teilsprachen sie lernen und somit vermitteln können. Auch hier wären es also wieder die spezifischen Bedingungen der modernen Gesellschaft, die zwar erhöhte Anforderungen an Aufnahmefähigkeit und Orientierung der Individuen stellen, aber zu bewältigen sind. Im Gegensatz zu den Positionen in Cassirers Tradition spricht Busche (ebd.: 234) Simmel zu, sich nicht völlig dem Pessimismus zu ergeben, wenn er bspw. auf die Möglichkeit einer Schulbildung hinweist, die junge Menschen »befähigt, die Inhalte der objektiven Kultur, die wir erleben, besser und schneller als bisher zum Material der subjektiven zu machen« (Simmel DZuK: 82–83). Simmel deutet hier also Kulturtechniken an, die helfen könnten, negative Erscheinungen der modernen Kulturproduktion abzumildern. Was Simmel Busche zufolge eigentlich vorgelegt habe, sei eine »soziologische Kausalerklärung« (Busche 2004: 336) für die vermeintliche »Selbstständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst« (Simmel BuTK: 408). Nun lässt sich dieses Urteil nur treffen, wenn man den Begriff der »kulturellen Logik der Objekte« und die mit ihm verbundenen Abgrenzungen von Kausalerklärungen vollständig übersieht. Simmel gibt hier nämlich durchaus Hinweise, dass es nicht alleine die Massenhaftigkeit der Kulturerzeugnisse ist, die Probleme bereitet, sondern die Art ihrer Berechtigung und wie die Idee der Kultur bzw. Kultivierung sich uns an dieser reiben lässt. Es ist ein durchgängiges Merkmal der bisherigen Literatur, dass der Begriff der »kulturellen Logik der Objekte« keine eingehendere Würdigung erfährt. Wo überhaupt Bezug auf diesen genommen wird, entsteht der Eindruck, als wäre intuitiv zu verstehen, was damit gemeint ist. Häufig wird die kulturelle Eigendynamik und die Anhäufung der Kulturprodukte – und damit zentrale Aspekte der Tragödie – schlicht auf die Arbeitsteilung zurückgeführt (vgl. Busche 2004: 222; Recki 2000: 164; 2015: 43–44; Becker 2008: 165; Lichtblau 1997: 74–75). Fraglos ist die Arbeitsteilung für Simmel an dieser Stelle relevant, allein setzt sie Simmel nur als »radikale[n] Fall eines ganz allgemeinen, auch jene Fälle von Arbeitsteilung übergreifenden menschlichen-geistigen Schicksals« (Simmel BuTK: 406) an. Worum es Simmel offensichtlich geht, ist weniger die Arbeitsteilung als ein grundlegenderes Phänomen, das mit ihr in Zusammenhang steht. Eine Interpretation, die Tragödie und Eigendynamik der Arbeitsteilung entspringen sieht, bleibt bestenfalls oberflächlich. Deutlich sieht dies auch Ehrl (2005: 22), wenn er klarstellt, »die Arbeitsteilung [setzt] ein bei der schon begonnenen Emanzipation des objektiven Geistes«. Die Rolle der Arbeitsteilung ist für Ehrl gewissermaßen die eines Katalysators, der die Entwicklung insgesamt beschleunige und so die Kultivierung, aber auch Entfremdung zwischen subjektiver und objektiver Kultur vorantreibe (vgl. ebd.: 25–26). Als einer der wenigen sieht Ehrl deshalb recht klar, dass es die »Eigenlogik« (ebd.: 22) der Kulturinhalte ist, die die Tragödie begründet. Jedoch findet sich auch bei Ehrl keine Bemühung, den Begriff einer kulturellen Logik der Objekte genauer herauszuarbeiten. Folglich bleibt der Begriff für ihn eine Art Blackbox, weshalb Ehrl auch nicht zur Frage gelangt, in welcher Hinsicht eine kulturelle Logik der Objekte Individuen denn nötigen könne. Für Ehrl besteht die Tragödie denn auch vielmehr darin, dass die Kulturinhalte durch ihre Eigenlogik eine bestimmte Art »von ›Objektivität‹« (ebd.: 15) gewinnen respektive »die dem Subjekt [für seine Kultivierung] noch dienliche Form der Gegenständlichkeit« (ebd.: 16)
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verlieren und es so zur erwähnten Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur komme. Der kurze Überblick konnte die Probleme der bisherigen Forschungsliteratur vor Augen führen. Die Kontroverse erscheint bei vielen Autor:innen als erledigt, noch bevor sie überhaupt begonnen hat. Gleichzeitig treten zahlreiche Unstimmigkeiten in der Darstellung von Simmels Tragödie sowie abweichende Einschätzungen zu Cassirers Kritik an dieser auf. Weder finden wir eine hinreichende Interpretation dessen, was unter der Tragödie der Kultur wirklich zu verstehen ist, noch wurden gegensätzliche Urteile zur Kontroverse gegeneinander abgewogen. Ohne zu allen diesen Punkten weiter ins Detail gehen zu können, bestätigt dies die These, dass eine Aktualisierung der Kontroverse zwischen Simmel und Cassirer, die beiden Autoren gerecht wird, bisher noch nicht geleistet worden ist. Auch Cassirers Argumentation ist im Lichte dieser Unstimmigkeiten und aufgeworfenen Fragen keineswegs hinreichend aufgearbeitet. Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, einige grundlegende Fragen zum Status der Tragödie zu klären, um eine Annäherung an die dort virtuell verhandelten Probleme zu geben, an die eine Aktualisierung erst anknüpfen kann.
2.2 Leben und Kultur: Die Tragödie als Scheinproblem? Eine der seitens Cassirer vorgebrachten Kritiklinien zielt, wie oben dargestellt, darauf, die Tragödie als ›Scheinproblem‹ zu erweisen, nämlich als Folge der unberechtigten begrifflichen Hypostasierung von »Leben« und »Form«. Nun wäre, sollte sich dieser Vorwurf bestätigen lassen, das (vermeintliche) Problem der Tragödie bereits abgehakt und mehr als fraglich, was sich aus den simmelschen Analysen für eine Aktualisierung gewinnen ließe. Gleichzeitig kann die kritische Würdigung des Lebensbegriffs aber dabei helfen, den Status und den Ursprung des tragischen Konflikts, den Simmel beschreibt, zu deuten. Die unterschiedlichen, sich widersprechenden Interpretationen der Tragödie, die beim Überblick der Forschungsliteratur zutage traten, fordern heraus, zu klären, welche ›Parteien‹ sich im tragischen Konflikt gegenüberstehen und in welcher Form sie einander gegenübergestellt sind. Kündigt die Tragödie vom Niedergang der Kultur oder des Lebens? Und sind Eintreten, Verlauf und Ausgang der Tragödie vorherbestimmt? Ferner lenkt die Diskussion des Lebensbegriffs den Blick auf die philosophische Methodik, die im Tragödienaufsatz angewandt ist. Aus diesen Gründen ist es angezeigt, sich zunächst diesem Topos zuzuwenden. Cassirer entwickelt diese Kritiklinie an Simmels Rede von der Tragödie der Kultur um 1928 im Rahmen einer im Nachlass überlieferten Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, als deren Vertreter neben Oswald Spengler, Max Scheler und Ludwig Klages vielen auch Simmel galt. Lebensphilosophische Ansätze und der Lebensbegriff16 sollten dann auch im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen von 1929 in Cassirers Fokus rücken. Cassirer beschäftigt die Frage, in welcher Art das Leben als subjektive und einheitsstiftende Quellschicht der Kultur im Sinne des objektivierenden Bewusstseins zu begreifen ist – gelangt aber hinsichtlich der Konzeption des Lebensbegriffs und 16
Für eine umfassende Diskussion des Lebensbegriffs in Cassirers Werk siehe Möckel (2005).
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des Verhältnisses von Leben und Kultur zu ganz anderen Schlüssen als die Lebensphilosophie (vgl. Möckel 2005: 188–190). Die Lebensphilosophie bildete sich im ausgehenden 19. Jahrhundert in Ablehnung rationalistischer Traditionen als Strömung heraus. Die Verstandeserkenntnis gilt ihr als defizitär und reduktionistisch, sie entfremde den Menschen von sich selbst, entziehe ihm das fließende und schöpferische Leben und mache ihn gar zum Sklaven der Begriffe (vgl. Cassirer MsF: 23). Dem Geist als vermitteltem und vergegenständlichendem Denken stellt die Lebensphilosophie den »Standpunkt des konkreten Erlebnisses« gegenüber, das »das Bewusstsein der Wirklichkeit ausbilden soll« (Möckel 1998: 366). Die Erkenntnis des wahren, absoluten Seins, nämlich des Lebens, sei eine Sache der Intuition. Den hierin liegenden Anspruch der irrationalistischen Metaphysiken des Lebens auf unmittelbare Erkenntnis attackiert Cassirer in seiner nachgelassenen Schrift Zur Metaphysik der Symbolischen Formen. Auch ein absolutes Sein, so wendet Cassirer ein, bedarf schließlich eines Mediums, in dem es sich erkennen und ausdrücken, sprich, zum Gegenstand machen lässt. Die Unterscheidung zwischen Sichtbarkeit und dem, was sichtbar wird, offenbart, wie immer man diese Unterscheidung spezifiziert, dass hier dennoch eine »Art des Sehens, eine spezifische Form der ›Sicht‹« (Cassirer MsF: 12) vorliegt, die nicht eliminiert werden kann. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen beharrt deshalb auf der universellen Vermitteltheit des menschlichen Weltverhältnisses, darauf, dass »alle Objektivierung [...] in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß« (Cassirer PsF I: 4–5). Wenn die Lebensphilosophie behauptet, das Leben sei wahrhaft nur in Absehung jeglicher »Formen des Wissens« (Möckel 1998: 366) zu erfassen, zugleich aber ein »Wissen vom Leben« (Cassirer PsF III: 45) präsentieren möchte, formuliert sie eine selbstwidersprüchliche Forderung. Damit das Leben sich selbst erfassen könne, müsse es sich zunächst entäußern, sich selbst eine Form geben (vgl. ebd.). Damit erübrigt sich für Cassirer freilich jedweder Versuch eines unmittelbaren Erfassens des Wirklichen. Und so führt auch die Vorstellung eines unmittelbaren, geistlosen Lebens in die Irre. Der Einbruch des Geistes, der geistigen Vermittlungsweisen, sprich: der Kultur, die Cassirer im Begriff der symbolischen Formen reflektiert und untersucht, zerstört die unmittelbare Einheit in der »Gesamtheit der organisch-vitalen Funktionen« (Cassirer PsF III: 319 [Herv. i.O.]). Die rein instinkt- und triebbestimmte feste Verknüpfung von Merknetz- und Wirknetz des Organismus, wie Cassirer, die Terminologie des Biologen Jakob von Uexküll (1973) aufgreifend, formuliert, sind mit der kulturellen Lebensform durchbrochen (vgl. Cassirer MsF: 42–43). Die entstandene Distanz wird durch die symbolischen Formen gefüllt und geweitet (vgl. Cassirer VüM: 49ff.). Das autonome, symbolische Reich eigener Bedeutsamkeit hebt sich deutlich von der biologischen Sphäre des natürlichen Lebens- und Zwecksystems ab – aus »unmittelbarer Lebenszwecktätigkeit« erwächst hier ein mittelbares Verhalten, das zwar »[d]ie organisch vitalen Lebensfunktionen [...] nicht außer Kraft« (Möckel 1998: 367) setzt, an ihnen aber eine völlig neue Sphäre des Symbolischen erscheinen lässt, die neben dem organischen Sein auch das Ideal-Sinnhafte eröffnet. Dieser Bruch mit der »Unmittelbarkeit des Lebens« (Cassirer PsF III: 319) ist in einer »reine[n] Phänomenologie der Formen« (Cassirer PdK: 97) der Vermittlung dann aber nur noch zu konstatieren und eben nicht (kausal) zu erklären oder intuitiv zu hintergehen (vgl. auch Möckel 2005: 203–205 und 246). Der Blick zurück auf die eigene unmittelbare vital-organische Lebensform setzt je logisch die kulturelle
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Vermittlung voraus. Die Kultur als die sogenannte ›zweite Natur‹ des Menschen erweist sich als die tatsächlich ›erste Natur‹ (vgl. hierzu Hubig 2017; 2006: 236ff.; siehe außerdem Hogh 2011). Die Klage, die die Lebensmetaphysik gegen den Geist richtet, ist also ihrerseits nicht nur in der Sprache des Geistes verfasst, sondern auf Grundlage seines Rechts formuliert (vgl. Cassirer MsF: 30–31; hierzu auch Möckel 2005: 250). Nicht einmal das Bedauern des geistigen Lebens ist möglich, ohne den Geist anzuerkennen. Der (vermeintliche) »Verzicht auf den Logos«, auf das Denken, stellt immer noch »eine Tat des Logos« (Cassirer MsF: 12) dar. Das vermeintlich unmittelbare Erlebnis birgt bereits den ersten und grundlegenden Akt der Objektivierung, der als solcher jedoch noch nicht durchschaut ist. Die Hinwendung zum Leben ist damit je bereits eine Wendung zum respektive im Geist (vgl. ebd.; siehe auch Möckel 2005: 280). Der Lebensbegriff spielt im Spätwerk Simmels eine zunehmend größere Rolle und auch Der Begriff und die Tragödie der Kultur sei »von der tiefen Fremdheit oder Feindschaft aus[gegangen], die zwischen dem Lebens- und Schaffensprozeß der Seele auf der einen und seinen Inhalten und Erzeugnissen auf der anderen Seite besteht« (Simmel BuTK: 390). Wenn nun Simmel die Tragödie formuliert, interpretiert sie Cassirer als »eine innere Spannung, eine polare Gegensätzlichkeit dieses Lebens- und Kulturgefühls selbst, die hier zum Ausdruck drängt« (Cassirer MsF: 8). Die Tragödie greife also den von der Lebensphilosophie postulierten Gegensatz von Leben und Geist bzw. Form auf und versuche diesen neu zu formulieren. Simmels Methode sei aber darauf aus, »die gefühlte Polarität in eine rein gedachte« (ebd.) zu verwandeln, d.h., dass ein real erlebter Gegensatz zwischen Leben und Form fixiert und begrifflich abstrahiert wird. Der auf diese Weise festgestellte Gegensatz wird ins »Unendliche« projiziert und »zugleich aufs höchste verdichtet« (ebd.: 11). Auf die »einfachste logische Formel« gebracht, lässt sich dieser gebildete Dualismus aber »nicht lösen, […] [die Philosophie] wird ihn nur von einer bestimmten Seite her bezeichnen und aussprechen können« (ebd.: 8 [Herv. i.O.]). So ist aber gerade nicht mehr verständlich, wie sich Leben und Form noch wechselseitig bestimmen und zueinander korrelativ werden. Doch genau dies ist in unserem alltäglichen Erleben als Kulturwesen das primär Gewisse. Damit verfehle Simmel in seiner begrifflichen Fassung also gerade jenen realen Prozess von Leben und Kultur, von dem er seinen Ausgang nahm. Den Grund hierfür veranschlagt Cassirer in der »metaphysischen Methode« als eines Typus des »verräumlichenden Denkens« (ebd.: 14 [Herv. i.O.]), der in Simmels Formulierungen und Analogien17 zum Ausdruck kommt: »Den rein symbolischen Charakter, den alle seine [räumlichen; O.H.] Beschreibungen und Vergleiche tragen, hat sich Simmel nicht verhehlt – aber darüber hinaus unterliegt seine Darstellung nach Inhalten und Form ständig der Gefahr[,] daß das, was als Symbol gemeint ist, unvermerkt zur Metapher wird und als Metapher wirkt.« (Ebd. [Herv. i.O.])
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»Es ist[,] als würde das ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹, das ›In-Sich-Bleiben‹ und das ›Über-Sich-Hinausgehen‹, das ›Innere‹ des Lebens und seine ›Entäusserung‹ hier[,] trotz aller Kautelen, immer wieder im eigentlichen Wortsinne verstanden.« (Cassirer MsF: 14)
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Was ist damit gemeint? Wenn Cassirer das Symbol als die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit fasst (vgl. Cassirer BdsF: 79), dass also in einem sinnlichen Wahrnehmungserlebnis etwas zur Darstellung gelangt, das seinerseits nicht anschaulich gegeben ist, dann kann die Rede von der Raumsymbolik nur so verstanden werden, dass hiermit nicht der Raum unserer Anschauung gemeint sein kann, sondern eine nicht-anschauliche Raumkonzeption.18 Wenn das Symbol nun aber zur Metapher wird und als solche wirkt, dann kann dies so interpretiert werden, dass die abstrakte Ordnungsrelation in eine anschauliche Raumkonzeption übertragen wird und in dieser modifizierten Form in der begrifflichen Fassung ihre Wirkung entfaltet. Tatsächlich sehe auch Simmel klar und formuliere in den Lebensanschauungen die Einsicht, dass das Leben zuletzt nur in der »Wendung zur Idee« (Simmel LA: Kap. 2) erfasst werden könne, also nur dadurch, dass es die Form in Anspruch nimmt und d.h. auf vermitteltem Wege (vgl. Cassirer MsF: 12–13 und 18). Wie aber, wendet Cassirer gegen Simmel ein, sollte sich das Leben der Idee zuwenden, »wenn nicht die Beziehung und Spannung, die ›Intention‹ auf sie schon ursprünglich in ihm beschlossen lägen?« (ebd.). Simmels Beschreibung von der Transzendenz des Lebens in die Form offenbart für Cassirer die Wirkung der räumlichen Metapher: Leben und Form werden als reine, unabhängige Substanzen begriffen, zwischen denen eine (räumliche) Kluft besteht, die mit den Mitteln dieses Denkens eben nicht mehr geschlossen werden kann – der Gegensatz zwischen beiden Polen wird verewigt (vgl. Cassirer MsF: 16). Das Leben wird dabei trotz allem, so der Vorwurf, intuitionalistisch als ein ursprünglich-unmittelbar gewisses Sein gefasst, das damit als »ein absolut geistloses, sinnloses Innen« (Möckel 1998: 369) beschrieben werden müsse. Was dabei aber reflexiv nicht mehr eingeholt wird, ist, dass jene ›Reinformen‹ selbst nur auf dem Wege einer vermittelten Abstraktion gewonnen worden sind und sich als solche ›Reinformen‹ eben gerade nirgendwo anders auffinden lassen. Für Cassirer ist hiermit das bestehende Problem erst markiert und neu formuliert (vgl. Cassirer MsF: 14–15). Aufgrund dieser Schwierigkeiten lässt »Cassirer [...] einen Denkwiderspruch, zwischen dem unmittelbar gelebten Leben und seiner begrifflichen Deutung und Aussprache nicht gelten« (Möckel 1998: 372 [Herv. O.H.]). Deshalb sei das Verhältnis und die Dialektik von Leben und Form aus seiner vermittelnden Mitte, aus den symbolischen Formen, heraus zu bestimmen: Denn erst in diesem Vermittlungsprozess setzen sich die beiden Pole als Innen- und Außenwelt erst auseinander. Die kulturelle Form kann dann nicht mehr als starre Entität begriffen werden, sie bildet wie auch das Leben eine Funktion dieses Vermittlungsprozesses (vgl. Cassirer MsF: 16). »Diese Auseinandersetzung würde um ihren eigentlichen Sinn gebracht, wenn sie die Beziehung aufheben, wenn sie zu einer Isolierung der Subjekt- oder Objektpoles führen könnte« (Cassirer LdK: 387). Deswegen reicht es mithin nicht, die geformten Gebilde der Kultur in den Blick zu nehmen, sondern es muss immer wieder auf die Entstehungsprozesse und -prinzipien zurückgegangen werden (forma formans statt forma formata), auf das geistige Schaffen. Die geistigen Energien als Formen sind eben nur in ihrer Betätigung und damit immer auch energeia, niemals nur ergon, »was als forma 18
Man kann vermuten, dass der Grund dafür, dass Cassirer Simmel bescheinigt, sich auf symbolischer Ebene bewegen zu wollen, darin zu sehen ist, dass Simmel in der Philosophie des Geldes so wie Cassirer in seinem Werk die Kategorie der Substanz überwinden will.
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formata am Ende eines Prozesses steht, bestimmt in seiner Verjüngung als forma formans den Anfang eines neuen Prozesses« (Fetz 2008: 20 [Herv. i.O.]). In diesem Vermittlungsprozess erkennt sich das Leben »selbst als unendliche Formungsmöglichkeit« und die jeweils in den Formen gesetzte Schranke seiner selbst erscheint aus dieser Perspektive als »Zeugnis seiner Freiheit« (Cassirer MsF: 18 [Herv. i.O.]), seiner Lösung von der kausalen Naturnotwendigkeit. Die Formen der Kultur sind als selbstgesetzte Schranken kein Hindernis, sondern die »Voraussetzung« für das menschliche Leben, sich in seiner »eigenen Wesenheit« (Cassirer LdK: 466 [Herv. i.O.]) zu finden und zu verstehen. Es wäre folglich ein naiver Irrglaube, die kulturellen Formen rissen den Menschen aus einer Heimat der natürlichen Unmittelbarkeit heraus; die Kultur ist seine Heimat, dies aber nun freilich in dem Sinne, dass hier die Aufgabe besteht, sich gestaltend einzurichten. Simmel stolpere demnach über seine eigene Metaphorik in diesen Irrtum hinein, um dort in einer Sackgasse einer unlösbaren, weil streng genommen undenkbaren, Antithesis zwischen Leben und Form zu stehen (vgl. Möckel 1998: 373). Cassirer seinerseits revidiert den Lebensbegriff dahingehend, dass das Leben in der von den Werken ausgehende Reflexion auf den Arbeitsprozess erkannt wird. Das Leben begreift sich in einem dialektischen Widerspruch zwischen der seiner Formungsmöglichkeit und den begrenzten Aktualisierungen in den Werken. Es kommt erst über die Werke zu sich und wird dabei der Dynamik und Anpassungsfähigkeit der Form gewahr. Cassirers Kritik an der Tragödienkonstellation fußt hier also im Wesentlichen auf einer bestimmten Auffassung und Verwendung des Lebensbegriffs, eines Lebensbegriffs, der unmittelbar und infolgedessen geist- und formlos erscheint. Allerdings merkt Möckel an, dass sich auch bei Simmel Leben und Idee nicht gänzlich fremd sein müssen. »Inwieweit ein ›zu sich selbst Kommen‹ des Lebens, indem es die ›Wendung zur Idee‹ vollzieht, nicht auch schon für Simmels Darstellung des Grundproblems gilt, ist nicht schlüssig.« (Ebd.: 372) In seinem letzten großen Werk, den Lebensanschauungen, nimmt Simmel seinen Ausgangspunkt bei der Konzeption des Lebensbegriffs von der Feststellung, dass die menschliche Weise zu existieren sich dadurch auszeichnet, in einem Verhältnis zu Grenzen zu stehen, nach denen sich das menschliche Leben strukturiert und orientiert (vgl. Simmel LA: 212–213). Menschliche Existenz als Grenzverhältnis bedeutet für Simmel notwendig in einem Verhältnis zu Grenzen zu stehen, während jede bestehende Grenze historisch kontingent erscheint, insofern das Wissen um die Grenze eine Form des Überschreitens der Grenze darstelle (vgl. ebd.: 213–214). Das Grenzverhältnis markiert ein Bewusstsein, das es ermöglich, die Grenzen zum Gegenstand der Bestimmung werden zu lassen und dabei zu überschreiten, und, insofern es sich auf die Prinzipien des Bewusstseins selbst bezieht, ein »Sich-selbst-Überschreiten des Geistes« (ebd.: 215). Die »Unendlichkeit der Lebensbewegung« eröffnet sich damit für Simmel »auf der Stufe des Geistes« und der Geist erscheint »als das schlechthin Lebendige« (ebd.: 217). Und es ist gerade der dialektische Widerspruch zwischen notwendig einseitigen Weltbezügen und dem Wissen um deren Einseitigkeit in der Reflexion möglicher Andersheit der Bestimmung (vgl. ebd.), in dem sich das Leben für Simmel symbolisiert. Die Transzendenz, das Sich-selbst-Überschreiten findet sich in der doppelten Beschreibung des Lebens als »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben« (ebd.: 229) wieder. »Mehr-Leben« verweist auf die rastlose Kontinuität des Lebensprozesses, der über sich selbst hinaus strebt und sich so nicht scharf abgrenzen lässt, als »ein nicht weiter
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beschreibliches Gefühl von Dasein, Kraft, Richtung« (Simmel Konflikt: 205). Es lässt sich nicht in Augenblicke oder einzelne Bestandteile auflösen und verweist darauf, dass sich die Bedeutung des Lebens nur aus seinem szenenförmigen Prozess ergibt (vgl. Simmel LA: 365; siehe hierzu eingehend Kapitel 3.5.3). »Mehr-als-Leben« bezeichnet demgegenüber die Selbstüberschreitung des Lebens hin zur Form und Grenze, das Leben schafft etwas, das mehr ist als es selbst. Zu schöpfen gehört wesenhaft zum Leben selbst (vgl. Bevers 1985: 158). »In der Tiefe des Lebensgefühles liegt jene Zweiheit eingebettet, nur daß sie hier freilich von einer Lebenseinheit umgriffen und nur, wo sie gleichsam deren Rand überschreitet, als dualistische Zerreißung bewußt wird (was nur in bestimmten geistesgeschichtlichen Lagen geschieht); an dieser Grenze erst überliefert sie sich als Problem dem Intellekt, der sie, weil er bei seinem Charakter gar nicht anders kann, als Antinomie auch in jene letzte Lebensschicht zurückprojiziert.« (Simmel LA: 227–228) Simmel geht es also nicht darum, wesensmäßige Substanzen gegenüberzustellen, sondern eine innere, dialektische Spannung des Lebens in einer, wie man sagen könnte, behelfsmäßigen, aber notwendigen Konstruktion zum Ausdruck zu bringen. Es handelt sich dabei aber um eine »nachträgliche Deutung des unmittelbar gelebten Lebens« (ebd.: 230), eine begrifflich vorgenommene Unterscheidung (keine Trennung!) an einem einheitlichen Akt. »Indem es Leben ist, braucht es die Form, und indem es Leben ist, braucht es mehr als die Form. Mit diesem Widerspruch ist das Leben behaftet, daß es nur in Formen unterkommen kann und doch in Formen nicht unterkommen kann.« (Ebd.: 231) Die Formen sind ihm etwas Notwendiges, um sich selbst zu begreifen, um sich selbst als individuelles zu kultivieren, in dem »seine Freiheit wirklich zu werden vermag« und in denen es sich allein »haben« kann (Simmel Konflikt: 204 [Herv. i.O.]). Das Leben lebt und erkennt sich nur in der Form respektive im Wandel der Formen. So ist Möckel beizupflichten, dass die Form bei Simmel dem Leben eben nicht absolut fremd ist, sondern die Intention auf die Form wie bei Cassirer inhärent ist. Hierin zeigt sich Simmels Wende zur Kulturphilosophie (vgl. Landmann 1987: 9; Geßner 2003: 250) und gleichzeitig die Modifikation klassischer lebensphilosophischer Modelle, wenn Formen und Leben hier nicht mehr als absolute Gegensätze begriffen werden (vgl. Bevers 1985: 142). Mit Geßner (1996b: 60) ließe sich hinzufügen, dass der Konflikt, den Simmel hier ausmacht, gerade von einer ursprünglichen Einheit und keineswegs von einer absoluten Fremdheit zeugt. Was sich absolut fremd ist, kann auch nicht miteinander in Konflikt stehen. Der Konflikt markiert eine »nur begrifflich, aber nicht tatsächlich auseinanderzutrennende[...] Einheit« (Simmel Soz: 285), er ist tatsächlich eine »Form der Einheit« (Simmel EPmK-KG: 837).19 Leben ist bei Simmel stets kulturelles Leben, d.h., geistig-schöpferisch und durch seine eigenen Schöpfungen geformt (vgl. Landmann 1987: 11). In der Schöpfung und Auseinandersetzung mit den Formen sind diese dem Leben »Mittel und Stationen« (Simmel BuTK: 388) seiner Kultivierung,
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Geßner (1996b: 60) bringt hier dasselbe Argument vor und verweist in Fußnote 10 auf eine ganze Reihe weiterer Stellen, an denen Simmel den Konflikt als Einheitsstifter konzipiert, und damit darauf, dass es sich hierbei um einen durchgängigen Topos bei Simmel handelt.
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des Überschreitens eines »bloßen [vitalen] Wachstum[s]« (Simmel WdK: 366–367) in der Entfaltung der eigenen Anlagen (vgl. Simmel BuTK: 385–389).20 Ist der Konflikt, der in der Tragödie der Kultur beschrieben und gedeutet wird, also nicht der zwischen einem geistlosen, unmittelbaren (oder gar rein biologisch verstandenen) Leben und den geistigen Formen, sondern die Dialektik zwischen Möglichkeiten des kulturellen Lebens und seinen Aktualisierungen in kulturellen Formen, die sich zunächst im Gefühl äußert, sind weitere Fragen zu klären. Zu untersuchen ist dann, in welcher Strenge und Form sich die Pole dabei gegenüberstehen, in welchem Sinne sich eine Auflösung ausschließt oder möglich ist, oder anders ausgedrückt: welchen Status die Tragödie respektive der tragische Konflikt überhaupt einnimmt. Dieser Aufgabe nimmt sich das folgende Kapitel an, in dem ich als den Kern der simmelschen Tragödie »die kulturelle Logik der Objekte« offenlegen werde. Erst im Anschluss kann die Kontroverse im eigentlichen Sinne beginnen. Eine genauere Aufklärung des Begriffs der »kulturellen Logik der Objekte« wird jedoch erst im 5. Kapitel erreicht werden, insofern zuvor zu fragen ist, von welcher kritischen Instanz aus eine »kulturelle Logik der Objekte« überhaupt problematisiert werden kann (Kapitel 3. und 4.).
2.3 Historische Tragik und tragische Logik Der Kulturprozess vollzieht sich für Simmel im Dualismus des Lebens von »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben«, zwischen schöpferischen und rezipierenden Subjekten und der geschaffenen objektiven Kultur, den Gütern, Werken und Strukturen. In der Auseinandersetzung mit den Kulturgegenständen entwickeln die Subjekte ihre natürlichen Anlagen und »Keimkräfte« über das »Stadium, das wir das natürliche nennen« (Simmel WdK: 366), hinaus. Simmels Idee der Kultivierung, die sich in die ursprüngliche Begriffstradition der »cultura animi« (Cicero 1992: II, 13) stellt, stützt sich auf die Spannung zwischen einem objektiven Wert und Gehalt der kulturellen Gebilde und dem Kulturwert, den diese Gebilde erst in der fruchtbaren Auseinandersetzung gewinnen. Der »objektive Wert« des Kulturgutes bemisst sich dabei durch seine Stellung und seine Verhältnisse innerhalb einer kulturellen Sphäre und ist dadurch grundsätzlich unabhängig von einem individuell wertenden Subjekt. Wenngleich der »Werkakzent« aller Kultur nur einem »subjektiven
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Interessant ist deshalb der Vorwurf, Simmel denke hier in einer metaphysischen Einheitsidee (so erhoben bei Möckel 1998: 369). So zeichnet sich Simmels Philosophie doch gerade dadurch aus, eben nicht im strengen Sinne von einer metaphysischen Einheit her respektive auf eine solche hin zu denken, eine Einheit also, die sich im weiteren Prozess entfaltet, um letztendlich wieder durch dialektisches Abschreiten der Widersprüche versöhnt zu werden (vgl. Landmann 1987: 16). Simmel halte Landmann zufolge vielmehr an einem »pluralistischen Universum« (ebd.: 17) fest, dem das Leben dann wohl nachgeht; aber entgegen einem Monismus wird es, wenn es den Gegensätzen in die Tiefe – oder vielleicht besser: in die Höhe – folgt, keine Auflösung in der Idee finden. Es handle sich um eine »Dialektik ohne Verstönung« (ebd.: 16). Zu fragen ist aber, ob Simmel dem Leben ein problematisches Einheitsideal gibt. Es ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Simmel auch das »Ich« als kulturelle Formung des Lebens begreift (vgl. unter anderem Simmel BuTK: 403). Wie wir noch sehen werden, spielt tatsächlich die Fassung der Einheit des Individuums und des Selbst-Seins des Individuums eine fundamentale Rolle in der Tragödiendiskussion.
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Bewußtsein« (Simmel BuTK: 391) entspringen kann, muss es ihn, einmal geschaffen, als etwas Eigen- und Widerständiges anerkennen, als etwas, das einem »ideellen, historischen, materialisierten Kosmos des Geistes« (ebd.: 395) angehört. In diesem geistigen Kosmos unterliegt es »Normierungen und Ordnungen« (ebd.), die jenseits eines individuell-subjektiven Urteils liegen. »Das Kunstwerk soll nach den Normen der Kunst vollkommen sein, die nach nichts als nach sich selbst fragen und dem Werke seinen Wert geben oder verweigern würden, […] das Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts [...]. Alle diese Reihen verlaufen in der Geschlossenheit rein innerer Gesetzgebung.« (Ebd.: 398) Simmel vertritt hier offensichtlich eine Art Kultur- oder Wertobjektivismus.21 Weiter wird diesem objektiven Wert ein »Kulturwert« zur Seite gestellt, deren Abhängigkeitsverhältnis folgendermaßen gefasst wird: »Man kann also die Struktur des Kulturbegriffs auch so ausdrücken. Es gibt keinen Kulturwert, der nur Kulturwert wäre; jeder vielmehr muss, um diese Bedeutung zu erwerben auch Wert in einer Sachreihe sein. Wo aber auch ein Wert dieses Sinnes vorliegt und irgendein Interesse oder eine Fähigkeit unseres Wesens durch ihn eine Förderung erfährt, bedeutet er einen Kulturwert nur dann, wenn diese partielle Entwicklung zugleich unser Gesamt-Ich eine Stufe näher an seine Vollendungseinheit heranhebt.« (Simmel BuTK: 395) Die Kultivierung bedarf also des objektiven Werts und der objektive Wert erweist sich nur durch erfolgreiche Kultivierungsprozesse als Kulturwert. Das Erfolgskriterium des Kultivierungsprozesses sei die Entfaltung der »undefinierbaren personalen Einheit« (ebd.: 387) des Menschen, die Erfüllung eines »selbst gegebene[n] Versprechen[s]« der »seelische[n] Totalität« (ebd.: 386). Ich möchte an dieser Stelle diese sich mystisch gebarende Formulierungen Simmels noch stehen lassen und mich zuerst der formalen Struktur der Tragödie zuwenden, die sich im Kultivierungsprozess abspielt. »Nun aber entsteht innerhalb dieses Gefüges der Kultur ein Spalt, der freilich schon in ihrem Fundament angelegt ist und der aus der Subjekt-Objekt-Synthese, der metaphysischen Bedeutung ihres Begriffes, eine Paradoxie, ja eine Tragödie werden läßt. Der Dualismus von Subjekt und Objekt, den ihre Synthese voraussetzt, ist doch nicht nur ein sozusagen substanzieller, das Sein beider betreffender. Sondern die innere Logik, nach der jedes von beiden sich entfaltet, fällt mit der des anderen keineswegs selbstverständlich zusammen.« (Simmel BuTK: 402 [Herv. O.H.]) Der entstehende Spalt, auf den es Simmel hier ankommt und der die Synthese störe oder gar verhindere, ist die jeweilige innere Logik der Entfaltung der subjektiven und 21
Die Objektivität der Kultur selbst ist begründet über Wechselwirkungen zwischen subjektiven Veräußerungen des Lebens. In diesen Wechselwirkungen stabilisieren sich Eigenschaften und Dinge – sie bilden so Simmels »umfassende[s] metaphysische[s] Prinzip« (Simmel FE: 304). Ausführlicher wird dieser Punkt in Kapitel 6. behandelt.
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der objektiven Seite. Kultivierung besteht für Simmel darin, dass sich das Subjekt entlang einer »übersubjektiven Logik der geistgeformten Dinge«, also mit ihrer Hilfe, »sich über sich selbst erhebt« (ebd.: 413). Die Entfaltungslogik der geschaffenen Gebilde und Strukturen ist selbst das notwendige Vehikel des Kultivierungsprozesses. Nun falle diese übersubjektive Logik aber »keineswegs selbstverständlich zusammen« (ebd.: 402) mit der Entwicklungslogik des Subjekts, nach der es seine Anlagen verwirklicht und zu einer höheren Form seiner selbst gelangt; eine Parallelität der Entwicklung beider Seiten kann nicht vorausgesetzt werden, ist aber genauso wenig auszuschließen (vgl. ebd.: 403). Was an dieser Stelle zunächst festgehalten werden muss: Der Kultivierungsprozess, wie von Simmel entworfen, kann grundsätzlich gelingen – und tut dies »unzählige Male« (ebd.: 415), wie er selbst betont. Die Kultivierung des Subjekts schließt sich also keineswegs kategorisch – oder präziser gesagt: aus ihrer metaphysischen Struktur heraus – aus. Nicht hierin liegt die Tragödie. Damit lässt sich näher bestimmen, welchen Status die Tragödie hat. Wenn Landmann schreibt, dass die Kultur nicht ihrem Wesen nach Tragödie sei, sondern sie nur notwendig nur immer wieder in tragische Phasen eintritt (vgl. Landmann 1987: 13),22 verweist dies darauf, dass der tragische Konflikt der Kultur selbst nichts Metaphysisches ist – er ist historisch aufzufassen. Es seien, so konnten wir bereits oben bei Simmel lesen, bestimmte geistesgeschichtliche Lagen, in denen eine dualistische Zerreißung erscheine. Gegen Landmann ist jedoch einzuwenden, dass dieser Konflikt eben durchaus in der metaphysischen Struktur der Kultur angelegt ist und sie deshalb durchaus auch ihrem Wesen nach als tragisch zu begreifen ist. Der tragische Konflikt ist die »historische Wirklichkeit« eines »metaphysische[n] Verhältnis[ses] zwischen Subjekt und Objekt« (Simmel BuTK: 405). Die tragischen Phasen brechen nicht von außen über die Kultur herein, sondern entsprießen aus ihrer eigenen Entwicklung heraus. Die metaphysische Beschreibung des Lebens- und Kulturbegriffs, die von der Erfahrung des Konflikts ihren Ausgang nimmt,23 dient Simmel schließlich dazu, die Möglichkeit dieses Konflikts, die »tragische[...] Chance« (ebd.: 414), die im Kultivierungsprozess liegt, verständlich zu machen. Ist diese Möglichkeit metaphysisch angelegt, aktualisiert sie sich aber doch erst in der Geschichte: »Die metaphysische Frage [der Vereinigung von Subjekt und Objekt in der Kultur; O.H.] findet damit eine historische Antwort.« (Ebd.: 413 [Herv. O.H.]) Eine metaphysische Antwort ist zwar möglich und sie zeigt genauso die Möglichkeit der kulturellen Daseinsform und des geistigen Lebens auf – auch dies
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Landmann war von seiner Lesart, mit der er m.E. einen wichtigen Punkt trifft, so überzeugt, dass er beschloss, sie Simmel bei der Herausgabe der erstveröffentlichten Fassung des Aufsatzes Der Begriff und die Tragödie der Kultur in seinem Band Das individuelle Gesetz (1987) selbst in den Mund zu legen. Dort endet der Text mit dem Zusatz: »Der Widerspruch, den ihre Hand [die Hand der Kultur] versöhnt, wird, mindestens als Möglichkeit und Drohung, in ihrem Herzen wiedergeboren« (ebd.: 147). Der editorische Bericht des 14. Bands der Simmel-Gesamtausgabe erwähnt diesen Satz nicht als Änderung zwischen ursprünglicher Fassung und der überarbeiteten Variante in der Neuauflage von Philosophische Kultur. Herausgeber der Gesamtausgabe Otthein Rammstedt bestätigte auf Nachfrage, dass entsprechender Satz bei der Edierung des Werks nicht aufgetaucht sei. Wir können ihn folglich als der Feder Landmanns entsprungen erachten. Hierin deutet sich bereits Simmels Konzept von Metaphysik an, dass er in der Einleitung zu Philosophische Kultur (Simmel EPK) und der Einleitung zur Philosophie des Geldes (Simmel PdG) etwas genauer bestimmt. In Kapitel 7.1 und 7.2 werde ich diesen Punkt erneut aufgreifen.
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soll Simmels Lebensbegriff leisten – aber eine solche rein im Metaphysischen verbleibende Antwort droht, zu übersehen und zu verdecken, ja »abzuschneiden« (ebd.), wie sich die Tragödie in der Geschichte abspielt. Denn dort halte »die Kultur gerade an dem vollen Gegenüber der Parteien fest« (ebd.: 413). Die historische Antwort lautet, dass diese Vermittlung aufgrund der kulturellen Eigenlogik der Objekte im konkreten Prozess stets vom Scheitern bedroht ist, dass die Entwicklung der objektiven Seite eben nicht mehr zur Entwicklung der subjektiven führt. Die Subjekte werden zum Mittel der Entfaltung der objektiven Kultur, so wie die kulturellen Schöpfungen ursprünglich die Subjekte zur »Vollendung ihrer Totalität, auf die ihre eigenen Möglichkeiten sie weisen« (ebd.: 403), führen sollten. Die von Ehrl (2005: 29) eingeführte Unterscheidung aufgreifend, entspräche dies zunächst einem schwachen Tragikbegriff. In der schwächeren Fassung besteht die Tragik darin, dass die Möglichkeit des Konflikts sich mit Notwendigkeit eröffnet. »Es ist zwar nun nur mehr möglich, daß sich das die Kultivierung Ermöglichende im weiteren Verlauf derselben gegen diese wendet, aber daß dies geschehen kann, ist unumgänglich.« (Ebd.) Als unumgänglich erweist sich dies, weil »die Bedingung der Kultivierung identisch ist mit der Bedingung der Möglichkeit ihrer Zerstörung« (ebd.) respektive ihres Scheiterns. Wie dargestellt, vertritt Ehrl allerdings einen stärkeren Tragikbegriff, nach dem »die Notwendigkeit die Möglichkeit dann ablöst, wenn dieser Weg an ein Ende geführt hat und die Kultivierung überhaupt nicht mehr gelingt« (ebd.). Zur Tragödie gehört dann eine Zuspitzung oder Eskalationsdynamik, die unausweichlich von einer »›tragischen Finalität‹« (ebd.: 30) bestimmt wird. Diese Finalität zeichne sich dadurch aus, dass die Inhalte der Kultur »immer mehr und immer ausschließlicher ›objektiver Geist‹ und damit immer weniger ›objektive Kultur‹« (ebd.: 15–16) werden. Ehrl meint damit die zuvor beschriebene Unterscheidung zwischen dem objektiven Wert oder Sachwert der kulturellen Schöpfungen – worunter er Simmels Rede vom »objektiven Geist« subsumiert – und ihrem Kulturwert, der sich erst durch erfolgreiche Kultivierungsprozesse erweist, in Ehrls Rede »objektive Kultur«, also »die der Entwicklung der Subjekte dienliche Seite am objektiven Geist« (ebd.: 10).24 Die Tragödie läge dann darin, dass die Inhalte der Kultur durch ihre innere Logik die Eigenschaft verlieren, sich überhaupt für Kultivierungsprozesse zu eignen, oder anders ausgedrückt: in einer notwendigerweise eintretenden Verunmöglichung der Kultivierung. Wenn die Inhalte der Kultur mit »immer gesteigerter Beschleunigung« (Simmel BuTK: 416) voranschreiten, müsse »der sich emanzipierende objektive Geist irgendwann die Integrationsfähigkeit eines jeden übersteigen« (Ehrl 2005: 32) – mit der Folge, dass er »nicht eigentlich uns [entwickelt], sondern sozusagen eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet« (Simmel BuTK: 400). Aber spricht Simmel wirklich von einer notwendig eintretenden Verunmöglichung der Kultivierung? Und unabhängig davon, was jene tragischen Phasen bedeuten, welche Notwendigkeit kommt ihrem Auftreten zu? Wie wir sehen konnten setzt Simmel bei
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Von »objektiver Kultur« spricht Simmel im Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur nicht mehr, wie Geßner (2003: 157) anmerkt. Ehrl hält die Unterscheidung von objektivem Geist und objektiver Kultur mit Blick auf Simmels Rede vom objektiven Wert in Abgrenzung vom Kulturwert weiterhin für gerechtfertigt.
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akuten Phänomenen an, die er als Ausdruck der Tragödie deutet. Geht es, wie herausgestellt, um die Möglichkeit des tragischen Konflikts, dann handelt es sich um eine Möglichkeit, die ausgehend von einer Aktualisierung untersucht wird, von der historischen Wirklichkeit des tragischen Konflikts der Menschen mit der von ihnen hervorgebrachten Kultur. Ob Simmels Zeitdiagnose bereits das völlige Scheitern der Kultivierung respektive die Unmöglichkeit von erfolgreichen Kultivierungsprozessen beinhaltet, kann bezweifelt werden. Denn trotz all der angeführten Krisenerscheinungen stellt Simmel diese These nicht explizit auf. Dass die kulturellen Inhalte eine Form der Gegenständlichkeit erlangen, die sie grundsätzlich aus der Vermittlungsfunktion in der Kultivierung herausrückt, erscheint unplausibel angesichts der Aussage, dass es »kein menschliches Erzeugnis« gebe, das nicht einen »Ertrag für die Förderung der Gesamtpersönlichkeiten [...] zeigen könnte« (ebd.: 396 [Herv. i.O.]). Zumal mutet es tautologisch an, wenn man, wie Ehrl, davon spricht, dass die Kultivierung scheitern müsse, weil die Inhalte der Kultur nur noch objektiver Geist und nicht mehr objektive Kultur seien. Bewähren sich die Inhalte der Kultur nicht in einem Kultivierungsprozess sind sie per Definition keine Kulturwerte. Umgekehrt erklärt es dann auch wenig zu sagen, der Kultivierungsprozess müsse scheitern, weil die Inhalte der Kultur keine Kulturwerte mehr seien. Führt Simmel zunächst die historisch aktualisierte Möglichkeit der Tragödie auf das »Fundament« (ebd.: 402) der Kultur, ihre metaphysische Bedeutung und Anlage zurück, dann spricht dies eindeutig dafür, dass diese Möglichkeit notwendig gegeben ist. Jedoch erscheint diese Möglichkeit angesichts der von Ehrl durchaus zurecht herausgehobenen Zuspitzung der kulturellen Lage nicht hinreichend bestimmt. Der objektivierte Geist erlange »ein Entwicklungstempo, hinter dem das des subjektiven Geistes in einem rapid wachsenden Abstand zurückbleiben muß« (ebd.: 414–415), und so zum Ballast für diesen werde. Auch hinsichtlich der Entwicklungsrichtung besitze ein »Parallelismus [...] keine prinzipielle Notwendigkeit« (ebd.: 403); ein solcher schließt sich damit zwar explizit nicht aus, doch prognostiziert Simmel, dass die »Logik und Dynamik« der kulturellen Welten »die Inhalte der Kultur mit immer gesteigerter Beschleunigung und immer weiterem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt« (ebd.: 416). Die Diskrepanz von subjektiv-personaler und objektiver Entwicklungslogik erscheint also einerseits als stets möglich, aber nicht notwendig gegeben, und andererseits bei fortschreitender Entwicklung immer wahrscheinlicher werdend. Die Modalität der Möglichkeit der Tragödie, kann also – durchaus in Übereinstimmung mit Ehrl – dadurch bestimmt werden, dass sie geschichtlich einmal wirklich wird. Ihr Wirklich-Werden ist bereits mit den ersten kulturellen Schöpfungen angelegt: »Wenn gewisse erste Motive des Rechts, der Kunst, der Sitte geschaffen sind – vielleicht nach unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität –, so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderung unserer Individualität, so zentral sie seien, nicht weniger unbekümmert ist, als die physischen Mächte und ihre Gesetze es sind.« (Ebd.: 402–403)
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Tritt die Kultur so also immer wieder in tragische Phasen ein, bleibt die Frage, ob diese Phasen, wie Ehrl behauptet, gleichbedeutend sind mit der Unmöglichkeit erfolgreicher Kultivierungsprozesse. Eine Antwort lässt sich nur finden, wenn wir uns Simmels Rede von der inneren Logik der Kulturformen, der kulturellen Logik der Objekte anschauen, die den tragischen Konflikt heraufbeschwört. Was können wir hier von Simmel erfahren? Zunächst erscheint sie als eine Art Steuerungsproblem: Die Entwicklungen der kulturellen Gebilde folgen ihr und wir haben keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten, sie zu beeinflussen oder vorherzusehen. Mehr noch: Sie ist ihrerseits lenkende Instanz, die sich unabhängig oder zumindest unbeeindruckt von den »Forderungen unserer Individualität« zeigt. Wie aber soll sie zur lenkenden Instanz werden? Kultivierung erfolgt in der Auseinandersetzung des Menschen mit den selbstgeschaffenen Gegenständen. Die kulturellen »Gebilde und Zusammenhänge« (ebd.: 403) werden zu Inhalten seines Lebens. Diese Inhalte gehören einem »ideellen Außerhalb«, sie sind Teil »anderer Welten« (ebd.: 404) – des Rechts, der Kunst, der Sitte, der Wissenschaft etc. – und besitzen als solche Teile jeweils eigene Formungen, Zusammenhänge und Bewegungsgesetze. Durch die mannigfaltigen Kulturinhalte findet sich der Mensch im »Schnittpunkt« verschiedener »Forderungskreise[...]« (ebd.) wieder. Das Kulturleben wird damit zum Austragungsort des Kampfes verschiedener Ansprüche an das Subjekt und die Inhalte seines Lebens – von denen die »inneren Triebe und Normen der Persönlichkeit« (ebd.: 403) nur eine Partei bilden. In diesem Bild erscheint zwar eine kulturelle Logik der Objekte nicht notwendig als lenkende Instanz, jedoch stellt sie das Subjekt vor die Aufgabe, mit konkurrierenden Forderungen zu ringen und diese zu organisieren.25 »Der metaphysische Dualismus von Subjekt und Objekt, den dieses Gefüge der Kultur prinzipiell überwunden hatte, lebt als Diskordanz der einzelnen empirischen Inhalte in subjektiver und objektiver Entwicklung wieder auf.« (Ebd.: 403) Simmel schildert noch zwei weitere Hinsichten, in denen sich jene kulturelle Logik zeige und eine Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt schafft (vgl. ebd.: 405). Zum einen besäßen die kulturellen Werke eine Selbständigkeit in ihrem objektiven Gehalt, ein Gehalt, der sich nicht auf intentionale Gestaltung zurückführen ließe. Der Schaffensprozess wird begleitet von der Widerfahrnis, dass das Werk mehr Bedeutung enthält, als wir als Schaffende bewusst hineingelegt haben.26 Offensichtlich sei dies bei kollektiv und arbeitsteilig entstandenen Gebilden, habe jedoch prinzipielle Gültigkeit, also auch bei Schöpfungen, die auf eine oder einen Autor:in zurückgehen: »Die Elemente haben sich zusammengetan wie nach einer ihnen selbst, als objektiven Wirklichkeiten, innewohnenden Logik und Formungsintention, mit denen ihre Schöpfer sie nicht geladen
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Dass es sich hier tatsächlich um eine Form von Zwang bzw. ggf. eine »Herrschaft der Sachen« handelt und nicht um eine »als ob«-Figur, wie Karl-Heinz Mamber (2007: 80) annimmt, kann mit Verweis auf die Philosophie des Geldes (Simmel PdG: 672–673) gezeigt werden: Simmel betont explizit, dass der Herrschaftsbegriff nur sinnvoll sein kann, wenn ein entgegenstehender Wille gegeben ist. Während »Herrschaft über die Natur« deshalb nur eine metaphorische Rede sei, hat die Rede von der »Herrschaft der Sachen« über die Menschen für Simmel eine eigentliche Bedeutung, insofern der menschliche Wille durch diese Herrschaft geformt oder geleitet wird. Um das womöglich offensichtliche vorauszuschicken: Dieses Phänomen lässt sich als Spur eines Mediums rekonstruieren (siehe hierzu Kapitel 5. und 6.).
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haben.« (Ebd.: 406) Ob nun jener Sinn von Interpret:innen jemals herausgezogen werde oder nicht, er sei da, »objektiv und für jedes Bewußtsein reproduzierbar« (ebd.: 407). »Diese eigentümliche Beschaffenheit der Kulturinhalte – die bisher für die einzelnen, gleichsam isolierten gilt – ist das metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst, als triebe eine innere logische Notwendigkeit ein Glied nach dem anderen hervor, oft fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit der Produzenten und wie unberührt von der Frage, von wie vielen Subjekten überhaupt und in welchem Maße von Tiefe und Vollständigkeit es aufgenommen und seiner Kulturbedeutung zugeführt wird.« (Ebd.: 408) Das einzelne Werk schreibe sich gewissermaßen eigenständig fort und auf dieser Basis, getragen von den Zusammenhängen und Verhältnissen der einzelnen Erzeugnisse, auch das Reich der Kulturprodukte im Ganzen. Zum anderen, allerdings mit dem vorherigen Punkt zusammenhängend, charakterisiere die »Form der Objektivität« eine »Form- und Grenzenlosigkeit« (ebd.: 411). Gemeint ist die unbeschränkte Möglichkeit, weitere kulturelle Objekte zu schaffen, die »numerische Unbeschränktheit« (ebd.) der schöpferisch Tätigen. Der Dynamik, mit der die Entwicklungslogik voranschreitet, ist auf dieser Seite keine Grenze gesetzt. Ein solcher, unendlich großer Körper der Kultur erscheint damit aber »inkommensurabel« gegenüber »Form des persönlichen Lebens«, die sich durch ihre (leibliche) Endlichkeit und »gewisse Einheit und relative Geschlossenheit« (ebd.: 412) auszeichne. Das endliche Individuum finde sich mannigfaltigen kulturellen Welten gegenüber, die es unmöglich bewältigen könne. Busche (2004) wendet gegenüber Simmel ein, hier bestehe lediglich die Herausforderung, die persönlich relevanten und interessanten Teilen der objektiven Kultur auszuwählen. Denn die meisten Erzeugnisse, all der »Schund und Trash« (ebd.: 232), seien ja nun nicht wirklich relevant und würden das Subjekt deshalb auch nicht überfordern. Die Möglichkeit, dass das Individuum »beiseiteliegen läßt, was seine Eigenentwicklung sich nicht assimilieren kann« und so »diese Inkommensurabilität nicht praktisch zu werden« (Simmel BuTK: 412) brauche, erwog Simmel auch seinerseits. Doch fällt sein Fazit negativ aus: »Der ins Unabsehbare wachsende Vorrat des objektivierten Geistes stellt Ansprüche an das Subjekt, weckt Velleitäten in ihm, schlägt es mit Gefühlen von eigener Unzugänglichkeit und Hilflosigkeit, spinnt es in Gesamtverhältnisse ein, deren Ganzheit es sich nicht entziehen kann, ohne doch ihre Einzelinhalte bewältigen zu können.« (Ebd.) Simmel bezweifelt, dass es hier so einfach gelinge, sich gegenüber der Masse an objektiviertem Geist abzuschirmen und abzukapseln. Im Gesamtgefüge der Kultur, in der sich das Subjekt je schon befindet, erreichen die quantitativ nahezu unbegrenzten Erzeugnisse es weiterhin und rufen, wie Simmel es nennt, »Velleitäten« in ihm hervor: Ein unwillkürliches, aber letztendlich kraftloses Begehren, all die Erzeugnisse sich anzueignen und zu bewältigen. Selbst bei aller Ablehnung und Zurückweisung sind sie eben doch
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»nicht bedeutungslos« für das Subjekt, da sie letztendlich »potentiell in die Sphäre seiner kulturellen Entwicklung« (ebd.) gehören. Man vergegenwärtige sich das Gefühl, das einem beim Betreten einer großen Bibliothek ereilen mag. Reihe um Reihe gefüllter Bücheregale, die Wissensschätze zu bergen versprechen, die man jedoch in der eigenen Lebenszeit und mit den zur Verfügung stehenden Kapazitäten nie auch nur ansatzweise alle heben können wird. Recki (2000: 169) wirft Simmel vor, hierbei die tragische Haltung eines ästhetisch Genießenden einzunehmen. Nun geht es Simmel laut eigenem Bekunden zunächst nur darum, aufzuweisen wie die Tragödie als historische Erscheinung aufgrund der metaphysisch angelegten, unterschiedlichen Entwicklungslogiken notwendig früher oder später eintritt (vgl. Simmel BuTK: 412–413). Zum Umgang und praktischen Auseinandersetzung mit dieser Erscheinung äußert sich Simmel erst in späteren Texten – deren Entstehungskontext des Ersten Weltkriegs deutlich zu spüren ist.27 Wie viele andere zeitgenössische Intellektuelle setzte Simmel seine Hoffnungen auf den Krieg und sprach ihm zu, »immerhin [...] für die Verschmälerung jenes Risses [zwischen subjektiver und objektiver Seite der Kultur] zu wirken« (Simmel Krisis: 40). Als reinigende und erneuernde Kraft werde der Krieg »von den zeitlichen Einzelinhalten der Kultur manches definitiv beseitigen, manches definitiv neu schaffen« (ebd.: 52). Auf einer grundlegenderen Ebene als jener der kulturellen Einzelinhalte sah Simmel in den »Erschütterungen unseres Krieges« eine Art Weckruf, die »das ins Nichtige verlaufende und auseinanderlaufende Kulturleben für eine Weile zur Besinnung brächten« (ebd.). Um keine Zweifel daran zu lassen, was Simmel hier vorschwebt, sei der Originalton des Aufsatzes Die Krisis der Kultur angeführt: »Hinter dem Soldaten versinkt der ganze Apparat der Kultur, nicht nur weil er ihn tatsächlich entbehren muß, sondern weil Sinn und Forderung der Existenz im Kriege auf einer Leistung steht, deren Wertbewußtsein nicht erst den Umweg über Objekte nimmt. Ganz unmittelbar bewähren sich Kraft und Mut, Gewandtheit und Ausdauer als die Werte seiner Existenz, und ersichtlich hat die ›Kriegsmaschine‹ ein ganz anderes, unendlich viel lebendigeres Verhältnis zu dem, der sie bedient, als die Maschine in der Fabrik.« (Ebd.: 40) Im »Felde« sei es in diesem Sinne möglich, die »Spannung zwischen der Subjektivität des Lebens und seinen Sachgehalten« (ebd.) zumindest zeitweilig zu überwinden oder ein
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Ehrl (2005: 30–31) weist es zurück, die »Theorie des Kulturwandels« (ebd.: 30) der späteren (stärker) Lebensphilosophischen Schriften bereits auf den Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur zu beziehen, wie dies bspw. auch Adolf (2002; 2003) tut. Der Vorwurf, den Ehrl gegenüber Adolf erhebt ist, dass dieser derlei Ansätze in dem früheren Text nur behaupte, aber nicht herausarbeite – dies sei allerdings auch gar nicht möglich, weil »im Tragödienaufsatz eben nichts zu finden ist, was diese Integration in die späte Konflikttheorie rechtfertigen könnte« (Ehrl 2005: 33–34 [Herv. i.O.]). Nun ließe sich fragen, was denn dagegenspricht, diesen Bezug herzustellen, insofern Simmel in seinen späteren Schriften ganz offenbar auf das Tragödienkonzept Bezug nimmt und es weiter ausführt respektive weiterentwickelt – oder was damit gewonnen wäre, wenn man den Tragödienaufsatz vom späteren Werk isoliert betrachtet. Die Trennung, die Ehrl hier aufmacht, erscheint deshalb willkürlich und vermag nicht zu überzeugen.
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Gefühl dieser Überwindung zu gewinnen. Die Absurdität dieses Gedankens wird deutlich, wenn wir uns die historische Bedeutung des Ersten Weltkrieges als erstem voll industrialisierten Krieg in Erinnerung rufen: Gerade hier, in den Materialschlachten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zeigt sich, dass der ›objektive Fortschritt‹ der Kriegstechnologie nichts mit einem tatsächlichen Kultivierungsfortschritt (und schon gar nicht mit einem moralischen Fortschritt) zu tun hat, sondern wie die Menschen(leben) zu einer kalkulierbaren Größe innerhalb einer Kriegslogik herabgewürdigt werden (vgl. hierzu auch Hubig 2015: 226). Es sei der »allgemeinen Kulturlage« (Simmel Krisis: 44) um die Jahrhundertwende zu eigen, die verfügbaren objektiven Formen und ihre Eigengesetzlichkeiten als dem Leben inadäquat zu empfinden, jedoch (noch) keine neuen Formen entwickelt zu haben. Im Naturalismus, Expressionismus, Futurismus und in der Mystik verkörpere sich eine hieraus geborene Tendenz, »die gerade jede Formung dieses Lebens ablehnt« (ebd.).28 Die »Verneinung der Form« (ebd.: 42), die hier zum Prinzip gemacht werde, deutet Hubig, ausgehend von Simmels Rede einer »Pathologie der Kultur« (ebd.: 40), als »Immunreaktion« (Hubig 2011a): »Das ›ruhlose weiterströmende Leben‹ vermag sich nur in jenem Angriff auf die Form zu äußern, und die Apotheose dieses Angriffs – man hört Ernst Jünger – sei der Krieg. Dort [...] trete [der Mensch] wieder in ein lebendiges Verhältnis zu den Mitteln, die er nutzt, Mitteln, die nun in einer ursprünglichen, existenziellen, quasi archaischen Situation wieder ›authentisch‹ einsetzbar würden. Bezogen auf die Kunst klingt hier die naive Variante einer Destruktion der Werke an.« (Ebd.) So zutreffend die Kritik an Simmels naiver Auffassung vom Krieg und einer archaischen Nahezu-Unmittelbarkeit sein mag, ist hier das entscheidende, dass bezogen auf seine Entwicklung der Tragödienkonzeption der Krieg Simmel als ein aktuelles Beispiel dient. So verquer die Formulierung mit dem Blick auf das von Simmel gewählte Beispiel auch klingen mag, geht es darum, dass gegenüber den tragischen Erscheinungen »das Positive und Sinnvolle der Kultur immer wieder Gegenkräfte« (Simmel Krisis: 52) in Anschlag bringt. Solcherlei »Aufrüttelungen« (ebd.) vermögen zwar nicht, den Selbstwiderspruch der Kultur, das tragische Wesen, zu beheben – dieser bleibt »unabtrennbar« (ebd.: 40).
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Ohne dies freilich jemals zu erreichen oder überhaupt erreichen zu können (vgl. Simmel Krisis: 41–44). Deutlich spricht Simmel dies auch in Der Konflikt der modernen Kultur aus: »Hier will also das Leben etwas, was es gar nicht erreichen kann, es will sich über alle Formen hinweg in seiner nackten Unmittelbarkeit bestimmen und erscheinen – allein das durchaus von ihm bestimmte Erkennen, Wollen, Gestalten kann nur die eine Form durch die andere, niemals aber die Form überhaupt durch das Leben selbst, als das der Form Jenseitige, ersetzen. Alle jene leidenschaftlich stürmenden oder sich langsam vorarbeitenden Angriffe gegen die Formen unserer Kultur, die klarer oder verhüllter gegen diese die Kraft des Lebens eben nur als Leben und weil es Leben ist, einsetzen, sind Offenbarungen des tiefsten inneren Selbstwiderspruches des Geistes, sobald er sich zur Kultur entwickelt, das heißt sich in Formen dartut. Und es will mir allerdings scheinen, als ob von allen geschichtlichen Epochen, in denen dieser chronische Konflikt sich zum akuten gesteigert hat und die ganze Breite der Existenz zu erfassen suchte, noch keine ihn so deutlich wie die unsere als ihr Grundmotiv enthüllt hätte.« (Simmel Konflikt: 206)
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Jedoch können sie sich in den »tragischen Rhythmus der Kultur« einreihen, in den Rhythmus eines »fortwährend gefährdeten und nur durch fortwährende Gegenwirkungen zu erhaltenden Gleichgewicht[s]« (ebd.: 52). Der »chronischen Krisis aller Kultur« (ebd.: 51) ist folglich nicht zu entgehen, aber ihr Verlauf brauche eben nicht »an den Punkt des Untergangs [zu] führen« (ebd.: 52). Die Kultur ist für Simmel eindeutig und wesenhaft Tragödie, eine andauernde Krisis, aber eben auch »eine fortwährend aufgehaltene Krisis« (ebd.: 53). So erweist sich auch der Umgang mit dem historischen Ereignis der tragischen Phasen selbst als ein historischer (vgl. Simmel Konflikt: 205–207). Zurückzuweisen ist damit einerseits, dass der Kulturverlauf von einer unaufhaltsamen tragischen Finalität bestimmt sei, und andererseits, die Simmel vorgeworfene passive Haltung eines ästhetisch Genießenden, insofern für den beständigen Umgang mit der Krise Anstrengungen gefordert werden. Dominieren in Die Krisis der Kultur noch die martialischen und auch durchaus destruktiv anmuteten Formulierungen hinsichtlich des Umgangs mit der Tragödie, betont Simmel zwei Jahre später in Der Konflikt der modernen Kultur eine positive, schöpferische Seite des Gegensatzes von subjektiver und objektiver Kultur. Das Leben als »Mehr-Leben« kann nicht untätig in der Spannung verharren, die mit seiner kulturellen Formung als »Mehr-als-Leben« entsteht. Es ›nagt‹ an den bestehenden Kulturgebilden, wie sein eigenes strömendes Leben diesen nicht mehr entspricht und diese es einzuengen beginnen (vgl. ebd.: 183–184). Wirksam kann das Leben selbst aber wiederum ausschließlich in einer Form werden. Indem es sich eine neue Form schöpft, die seiner Verfassung mehr entspricht, beginnt ein Prozess der »langsameren oder akuteren Revolutionen« (ebd.: 185), in der die alten Formen gesprengt werden (vgl. auch Landmann 1951: 122). Zwar spricht Simmel, wohl mit Anspielung auf Marx, von den Produktionsverhältnissen, doch kann man davon ausgehen, dass »Revolution« von Simmel in einem sehr weiten Sinne gebraucht wird, und zwar als allgemeine Veränderung der kulturellen Strukturen in verschiedenen Bereichen. Ein rein zerstörerischer Vorgang würde dem nicht entsprechen (siehe auch Schlitte 2012: 187). So muss bedacht werden, dass der Begriff der Formung ein symbolisches Verhältnis, d.h. die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit, ausdrückt (vgl. Geßner 1996a: 3–5). Die Revolutionierung der Form ist damit eben nicht unbedingt ein materielles Zerstören. Das Leben, in seiner reinen Dynamik, gibt sich eine seinen aktuellen Kräften angemessene Form, mit der jene alte Form ›untergraben‹ wird. Der »Kampf« findet also, genauer gefasst, zwischen Formen statt, entsprechend ist bei Simmel die Rede vom »tiefsten inneren Selbstwiderspruchs des Geistes« (Simmel Konflikt: 206). Die Dynamik des Lebens kann nur durch Formung in Konflikt mit dem Bestehenden treten, denn das Leben ist »unlöslich damit behaftet, nur in der Form seines Widerspiels, das heißt in einer Form in die Wirklichkeit zu treten« (ebd.: 205; vgl. auch LA: 352; vgl. hierzu auch Landmann 1951: 122).29 Wenn also Cassirer (vermeintlich) gegen Simmel vorschlägt, den Konflikt als einen der gegenläufigen Kräfte des Geistes zu betrachten (vgl. Cassirer
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Zwar diagnostiziert Simmel, wie erwähnt, zu jener Zeit eine allgemeine Formfeindschaft, insofern noch kein neuer und passenden Formausdruck gefunden worden sei. Jedoch beschreibt Simmel dies als eine Übergangsphase an deren Ende wieder eine neue Form stehen wird (vgl. Simmel Konflikt: 189ff.).
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LdK: 472; FuT: 173),30 ist Simmel bereits auf dieser Linie (vgl. Geßner 1996b: 59).31 Dass dabei problematische Entwicklungstendenzen bestimmter kultureller Formen gar die menschliche Freiheit bedrohen können, behandelt Cassirer in Form und Technik. Wenngleich nach Cassirer diese Entwicklungstendenzen nur unter großen Anstrengungen gebrochen werden können, will er sie entschieden nicht dem jeweiligen Wesen dieser Formen zuschreiben (vgl. Cassirer FuT: 180–181). Die kulturelle Entwicklung vollziehe sich je unter der Vernichtung »einer Fülle vielversprechender Keime« (Cassirer LdK: 472), deren Verwirklichung der Wirklichkeit anderer Formen widerspricht. »Sieht man in derartigen Gegensätzen tragische Konflikte, so behält das Wort von der ›Tragödie der Kultur‹ sein volles Recht.« (Ebd.) Cassirer will dabei jedoch nicht vergessen wissen – und wir haben gesehen, dass Simmel bereit ist, dabei mitzugehen –, dass jene Konflikte auch ihr Produktives, Schöpferisches, ja Heilendes haben (vgl. ebd.). Vom »Drama der Kultur«, und nicht von der Tragödie, will Cassirer deshalb sprechen, weil es hier weder »endgültige Niederlage« noch »endgültigen Sieg gibt« (ebd.: 482). Wie dargelegt, bezieht sich die Rede von der Tragödie allerdings in erster Linie darauf, dass der Konflikt mit den »gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte[n]« unentrinnbar ist, eben weil sie »aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen« (Simmel BuTK: 411). Zwar vollzöge sich, so heißt es jener Stelle weiter, »mit seiner Zerstörung ein Schicksal [...], das in ihm selbst angelegt und sozusagen die logische Entwicklung eben der Struktur ist, mit der das Wesen seine eigene Positivität aufgebaut hat« (ebd.), doch verweisen Der Konflikt der modernen Kultur und selbst Die Krisis der Kultur klar darauf, dass es sich hier um kein notwendig eintretendes Schicksal handelt. Historisch werden dem Leben damit seine eigenen Erzeugnisse eben wegen ihrer inneren Logik immer wieder zur Last, zum Zwang und zur Gefahr. So tritt das Leben in die tragischen Phasen ein, in denen es sich »schöpferisch« (Simmel Konflikt: 205) bewähren muss. Die Tragödie, die im Konflikt kenntlich wird, »äußert sich am sie tragenden Leben als Schöpfertum« (Landmann 1951: 123). Eine letztliche Lösung des Konflikts scheint Simmel jedoch nicht in Sicht – der Konflikt ist notwendig, er ist produktiv, bewirkt den Fortschritt der Geschichte und beide Seiten bleiben aufeinander bezogen (vgl. Geßner 2003: 197). Beide Seiten der Kultur haben ihre Aufgabe und jede ist ohne die andere nicht zu denken (vgl. Simmel Konflikt: 205). Sieht Cassirer, zumindest in seinem Aufsatz von 1942, »keine endgültige Niederlage« im Drama der Kultur, erscheint bei Simmel das Eintreten des Schicksals der »Zerstörung« oder »Punkt des Untergangs« als durchaus realistische und drohende Möglichkeit. Doch was bedeutet in diesem Kontext überhaut ›Zerstörung‹ und ›Untergang‹? Simmel geht hier nicht ins Detail. Geßner (2003: 180) bemerkt, die »Möglichkeit eines tragischen Endes [...] [spiele bei Simmel] eine relativ geringe Rolle«, besonders gelte diese für den »Gedanke des letalen Endes«. Ein tödliches, letales Ende wird zumindest im Kontext
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»Die wahre Kampffront« tue sich da auf, »wo nicht mehr lediglich die Mittelbarkeit des Geistes mit der Unmittelbarkeit des Lebens streitet, sondern wo statt dessen die Aufgaben des Geistes selber, indem sie sich immer feiner differenzieren, sich zueinander mehr und mehr entfremden.« (Cassirer FuT: 173) Dieses Hase-und-Igel-Spiel werden wir in der Kontroverse noch mehrmals beobachten können – was aber den angenehmen Begleiteffekt hat, dass sich beide Autoren einem gemeinsamen Ziel nähern.
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der Schriften zur Tragödie der Kultur auch nicht explizit erwähnt.32 Unter Verweis auf Schelers (1955) Schrift Zum Phänomen des Tragischen argumentiert auch Ehrl, dass »zwar zum Phänomen des Tragischen eine ›Vernichtung‹« gehöre, es sich dabei aber nicht »um eine von Dasein und Leben des Menschen handeln muß« (Ehrl 2005: 34). Es müsse jedoch auf alle Fälle ein »Wert [...] wie eine Kraft, ein Gut oder Glaube« (ebd.: 16) sein, was der Vernichtung anheimfällt (oder droht anheimzufallen). Geßner interpretiert Simmel so, dass die Überlegungen vom möglichen Untergang nicht »auf die Kultur überhaupt zu beziehen« sind, sondern auf »eine bestimmte Kultur: die moderne Kultur Europas« (Geßner 2003: 181) – um dann, insofern der »Untergang der Kultur bislang ausgeblieben« (ebd.: 194) sei, nach einer anderen möglichen Bedeutung der Tragödie zu fragen.33 Worum es stattdessen gehe, sei die »Zerstörung des harmonischen Verhältnisses von Produktion und Rezeption, das Simmel mit emphatischen Begriffen, wie ›Aneignung‹, ›seelische Zentralität‹, ›Seelenhaftigkeit‹ usw. beschreibt« (ebd.: 195). Ob dieses Verhältnis jedoch jemals so harmonisch gewesen sei, es Zeiten gegeben habe, der dieser innere Widerspruch »ganz fremd gewesen wäre«, bezweifelt Simmel (PdG: 674) bereits in der Philosophie des Geldes, wie auch Geßner (2003: 196) anmerkt. Schließlich sei es »garnicht der Sinn des Lebens, die Dauer versöhnter Zustände, nach der es strebt, auch wirklich zu erlangen« (Simmel PhG: 674). Welcher Wert ist dann aber letztendlich in der Tragödie gefährdet? Es ist eben jenes Ideal der Kultivierung der je eigenen Persönlichkeit »ihre volle Wirklichkeit« (Simmel BuTK: 386) zu verleihen, die »in den Keimkräften« (ebd.: 387) angelegt ist. Dass es sich dabei um »eine im Unendlichen liegende Aufgabe« (ebd.: 401) handle, sie also nie abschließend vollendet werden könne, verschweigt Simmel nicht. Nun ist es also ein spezifisches, historisches Bildungsideal – hier sind sich auch Geßner (2003: 195) und Ehrl (2005: 34) einig –, das den Maßstab für Simmels Kulturkritik und Problematisierung einer kulturellen Logik der Objekte bildet. Folglich »ist der eigentliche Ort der ›Tragödie der Kultur‹«, wie Geßner (2003: 197 [Herv. i.O.]) prägnant formuliert, »Simmels Begriff der subjektiven Kultur als material bestimmtes Telos«. Subjektive Kultur bedeutet damit eine bestimmte, normativ gehaltvolle Vorstellung von Subjektivität, die in ihrer Entfaltung in der und durch die Kultur als gefährdet erkannt wird – und zwar durch die inneren Logiken der (objektiven) Kultur selbst, die die Entfaltung 32
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Geßner (2003: 180) bezweifelt mit Verweis auf Simmels Hauptprobleme der Philosophie darüber hinaus, ob ein letales, tödliches Ende für Simmel überhaupt ein wirkliches, sachlich-versöhnendes Ende der Tragödie wäre. Denn Simmel besteht darauf, dass »mit der letalen Lösung, die der Konflikt mindestens auf der Bühne zu finden pflegt, die Rechnung nicht aufgeht, weil die objektiven Forderungen in ihrer Unversöhntheit weiter bestehen: der Abgrund zwischen ihnen schließt sich nicht, nachdem dieses Opfer hineingestürzt ist; der Konflikt ist nicht seinem inneren Sinne nach, sondern nur in einer zufälligen historischen Erscheinung zu Ende« (Simmel HP: 139). Kritisiert wird diese Interpretation wiederum von Ehrl (2005: 34–35). Schließlich sei es eben nicht die Gefahr des Untergangs der Kultur, jedenfalls ihrer objektiven Seite, die drohe. Eine Einsicht, die Geßner in einem früheren Aufsatz selbst formuliert, wie Ehrl betont: »In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß in der ›Tragödie der Kultur‹ gar nicht die ›objektive Kultur‹ auf dem Spiel steht – also Kunst, Sprache, Wissenschaft, Religion, Wirtschaft –, sondern allein die ›subjektive Kultur‹. Wir wären demnach in der paradoxen Situation, daß wir die ›objektive Kultur‹ steigern, während wir selber zusehends verkümmern« (Geßner 2002: 25). Für Ehrl war es ja der objektive Geist der Kultur, der zu einer Form gerinnt, an der die Kultivierung des Subjekts notwendig scheitern muss.
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dieser Subjektivität überhaupt ermöglichen. Eingebettet ist diese Tragödie in den kulturgeschichtlichen Prozess, in dem sich das Leben jeweils in Gestalt der Formen selbst konfligierend gegenübersteht. Bis hierher konnte eine Interpretation der Tragödie zurückgewiesen werden, die sie als antithetische Konstruktion einer dogmatischen (Lebens-)Metaphysik lesen möchte. Ihr gegenüber wurde eine Lesart der Tragödie der Kultur stark gemacht, die diese als einen historisch notwendig eintretenden Konflikt begreift, dessen Ausgang jedoch stets offen ist. Ich habe nun eine Interpretation von Simmels Tragödienformel dargelegt, in deren Kern die eigene Logik der kulturellen Objekte und Gebilde steht. Dieser Kern wurde aber lediglich offengelegt und wirft mehr Fragen auf, als dass er bereits Antworten liefert. Eine tatsächliche Aktualisierung der Kontroverse kann hiervon jedoch ihren Ausgang nehmen und sich um diese Fragen entfalten. Entsprechend ist auch Cassirers Position unter diesen Fragen herauszuarbeiten, Simmels skizzierten Ausführungen gegenüberzustellen und beide ausgehend hiervon weiterzuentwickeln.
3. Das Subjekt der Tragödie
Im Fokus dieses Kapitels, das den ersten Schritt zur Aktualisierung der Simmel-Cassirer-Kontroverse nach den geleisteten Vorarbeiten macht, steht der Subjektbegriff und die aus dem Begriff folgende Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Entfremdung. Die Tragödiendiskussion wird dazu unter der Leitdifferenz Kultivierung/Entfremdung aufgerollt. Hierfür werde ich die bisherigen Erkenntnisse kurz rekapitulieren und die Bedeutung des Subjektbegriffs für die Tragödiendiagnose herausstellen (3.1), um auf dieser Grundlage (3.2) Cassirers Kritik am simmelschen Subjektverständnis zu erläutern. Folgt man jedoch dem Subjektbegriff Cassirers, ergibt sich eine problematische Unterbestimmung des praktischen Freiheitsbegriffs, die dazu führt, dass das Entfremdungsproblem nicht gelöst, sondern nur verdeckt wird (3.3). Mit Rahel Jaeggi lässt sich dagegen ein Konzept von Entfremdung als Freiheitsverlust des konkreten Individuums einführen, der die formale Selbstbestimmung inhaltsleer werden lässt (3.4). Damit wird es aber notwendig, für das Individuum eine Quelle der individuellen Normativität aufzufinden, die es erlaubt, Jaeggis Konzept material anzureichern. Dies erfolgt im Rückgriff auf den Begriff des Leibes und dessen Funktion als Medium (3.5). Das Verständnis des Leibes als Medium erlaubt es darüber hinaus, im 4. Kapitel die andere Seite der Leitdifferenz, die Kultivierung, zu erhellen.
3.1 Die Tragödie des Subjekts Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, basiert die simmelsche Tragödiendiagnose auf der Beobachtung einer kulturellen Logik der Objekte, mit der sich die objektiv-gegenständlich gewordene Kultur verselbständige. Diese eigenen Logiken erklärt Simmel über seine metaphysische Interpretation des Kulturprozesses, um damit die Möglichkeit darzulegen, dass die Kräfte der Kultur in Konflikt mit den Subjekten treten, in denen jene Kräfte ihren Quellpunkt besitzen. Der Terminus »Tragödie der Kultur« verweist daher auf das metaphysisch angelegte, aber sich historisch aktualisierende Verhältnis, in dem sich die Subjekte zu der von ihnen geschaffenen Kultur bzw. den einzelnen Welten dieser Kultur wiederfinden. Insofern Simmels Sorge dabei vornehmlich dem Subjekt und sei-
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ner Kultivierung gilt, lässt sich davon sprechen, dass die Tragödie der Kultur gleichzeitig eine Tragödie des Subjekts beschreibt. Die Frage, die sich damit eröffnet, lautet: Wer oder was ist dieses Subjekt überhaupt? Denn die Auffassung von möglichen Gefahren für das Subjekt und seinen Status, also bspw. von Selbstentfremdung und Selbstverlust, sind abhängig vom zugrunde gelegten Subjektbegriff. An dieser Stelle, also dem Subjektbegriff, zeichnet sich eine der wesentlichen Konfliktlinien zwischen Simmel und Cassirer ab, wie ich im Folgenden ausführen möchte. Für Simmel ist es das Individuum, der konkrete, einzelne Mensch, der sich, während er versucht, sich über den Weg der objektiven Kultur selbst zu entfalten und zu kultivieren, auf den Spuren der Kulturobjekte selbst verliert, jener Kulturobjekte, die in ihrer Entwicklung einer »Eigenlogik« folgen«, die sich nicht (notwendig) mit der (Entwicklungs-)»Logik der Persönlichkeit«1 (Simmel BuTK: 404) decke. Die Entwicklung respektive Kultivierung des Individuums ist selbst also von einer normativen Dimension gezeichnet. Was die Persönlichkeit für Simmel auszeichnet, sind die in ihr »ruhende[n] Spannkräfte«: Ein Keim, der »einem inneren Formtrieb« gehorsam sei. Die Entwicklung dieses Keims strebe, so die berühmte Formulierung, von der »geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (ebd.: 387). Man könne dies »nur gleichnisweise und etwas verschwimmend ausdrücken […]: als den Weg der Seele zu sich selbst« (ebd.: 385). Nichtsdestoweniger handle es sich bei diesem Formtrieb um eine »metaphysische Voraussetzung unseres praktischen und gefühlsmäßigen Wesens« (ebd.: 386). Diese metaphysische Voraussetzung meint ein Spezifikum des Lebendigen, wie es auch von anderen Autoren der Lebens- und Existenzphilosophie proklamiert wurde – nämlich, dass es sich, anders als das Unbelebte, über seine gegenwärtige Existenz hinauserstrecke, Vergangenheit und vor allem Zukunft in seiner Gegenwart jeweils präsent sind. In jeder Persönlichkeit sei »ein wie mit unsichtbaren Linien vorgezeichnetes Bild« gelegen, »mit dessen Realisierung [des Bildes] sie sozusagen statt ihrer Möglichkeit erst ihre volle Wirklichkeit wäre« (ebd.: 386). Diese Vorzeichnung ist kein notwendiges Schicksal oder eine Prädetermination der Persönlichkeit, sondern »ein Höheres und Vollendeteres ihrer selbst« (ebd.: 385), also eine anzustrebende Entwicklung, in der das Individuum wirklich zu sich selbst gelangt. Es handle sich aber nicht, wie Simmel ausführt, um ein »an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixiertes Ideal; […] sondern das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte« (ebd.: 386). Um bereits hier eine Unterscheidung einzuführen, die uns in der Interpretation Simmels noch öfters begegnen wird: Das Freiwerden der ruhenden Spannkräfte bezeichnet einen terminus a quo, einen Startpunkt, der in eine bestimmte Richtung weist, ohne dass sie von einem festlegbaren Ziel her, vom terminus ad quem, zu bestimmen wäre. Gleichzeitig bedeuten die verschiedenen Spannkräfte nicht divergierende, unvereinbar auseinanderstrebende Richtungen, sondern sollen Ausdruck eines einheitlichen Zusammenhangs sein. Diese Form der Umschlossenheit ergibt sich für Simmel aus der Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins, das sich und das Bewusstsein seiner Inhalte als zentrierte Einheit anerkenne (vgl. ebd.: 403–404). 1
Es ist zu betonen, dass Simmel hier »Persönlichkeit« nicht wie Kant als intelligiblen Charakter fasst, sondern, kantisch gesprochen, die »Person« meint.
3. Das Subjekt der Tragödie
Die »kulturelle Logik der Objekte« (ebd.: 408) neige aber nun dazu, das diese Logik rezipierende Individuum »abzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen« (ebd.: 415), sodass es sich so »in einer Sackgasse oder in einer Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben« (ebd.: 411) verlaufe. Wie ist ein solches Scheitern des Kultivierungsprozesses nun zu verstehen? Erinnern wir uns zunächst an den in Kapitel 2.2 dargelegten dialektischen Widerspruch zwischen der Aktualisierung kultureller Formungen und dem Leben, das sich in seinem empfundenen Ungenügen an der geschaffenen/bestehenden Formung als unendlicher Formungsmöglichkeit erkennt. Folgt nun aber die Verwirklichung der bislang unverwirklichten Möglichkeiten der kulturellen Formung einer eigenen Logik, ist ohne weiteres denkbar, dass diese erneute Aktualisierung nicht notwendig eine Aktualisierung der angestrebten, aber unverwirklichten Möglichkeiten des Individuums bedeutet. Es besteht die Gefahr, dass sich das Individuum von seinen Möglichkeiten, von der Möglichkeit, seine Möglichkeiten zu entfalten, entfremdet.2 Der Kultivierungsprozess, mit dem das Individuum »seine eigene Positivität aufgebaut hat« (ebd.: 411), nun verstanden als die Verwirklichung seiner Möglichkeiten, kann sich in eine Richtung entfalten, die das Individuum zum »bloße[n] Träger des Zwangs« (Simmel BuTK: 411) objektiver kultureller Strukturen werden lässt. Für das Subjekt besteht also die Möglichkeit, sich in der Kultur selbst zu verlieren oder auch im Rahmen des Kultivierungsprozesses zur Verwirklichung seiner selbst zu kommen.
3.2 Anti-substanzialistische Subjektkritik Es ist es nicht allein die zitierte Ausdrucksweise, die Cassirer veranlasste gegenüber Simmel den Vorwurf der Mystik der erheben, sondern vor allem die darin zum Ausdruck kommende »Substantialität des Einzelich« (Cassirer LdK: 466).3 Die zuvor behandelte Kritik einer Metaphysik, die Leben und Form antithetisch gegenüberstellt, erneuert sich unter dem Vorzeichen des Subjekts. Cassirer prangert einen unhaltbaren Dualismus zwischen Ich und Welt an, der bei Simmel die Ausgangsbasis für die Tragödie liefere. Vom erkenntniskritischen Standpunkt zeige sich aber, dass Ich und Welt erst im geistigen Vermittlungsprozess auseinandertreten, ihre Gegenüberstellung sei somit der »Zielpunkt« (Cassirer LdK: 466) jener Entwicklung. D.h. auch, dass ein Ich ohne seine Vermittlung und Gegenüberstellung zur Welt überhaupt nicht bestimmbar sei – es gibt hier zuvor nichts, was irgendwie bereits gegeben wäre und das sich in der Welt verlieren könnte. Die Verfestigung in den kulturellen Formen bilden so erst die »Voraussetzung, dafür, daß es [das Ich] sich selbst in seiner eigenen Wesenheit findet und versteht. Hier zeigt sich ein höchst komplexer Zusammenhang, der sich durch kein noch so subtiles räumliches Bild zutreffend ausdrücken lässt. Wir dürfen nicht fragen, 2
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Im Unterschied zu anderen der Lebensphilosophie zugerechneten Autoren wie Oswald Spengler oder Ludwig Klages sieht Simmel also keine (Selbst-)Entfremdung des Volkes bzw. Volksgeistiges oder der Seele als abstrakter Bildung im Geist als Kern der Entfremdung. Simmels Sorge gilt klar dem Individuum und er versteht sich in diesem Sinne als Vertreter eines Individualismus (vgl. hierzu Simmel: IdmZ). In heutiger Terminologie würde man vielleicht eher von ›Essentialismus‹ sprechen.
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wie das Ich über seine eigene Sphäre ›hinausgelangen‹ und in eine andere, ihm fremde Sphäre übergreifen kann.« (Ebd. [Herv. i.O.]) Wenn aber nun die Fassung des Subjekts in Gestalt eines solchen »verräumlichenden Denken[s]« (Cassirer MsF: 14 [Herv. i.O.]), wie es Cassirer Simmel vorwirft, fehlschlägt bzw. sich in Widersprüche zum praktischen Erleben verstrickt, wie lässt sich dann stattdessen ein Begriff vom Subjekt gewinnen? Der symbolische Idealismus Cassirers versucht hier die verschiedenen und zahlreichen Richtungen der Sinnstiftung in den Formungen in einem übergreifenden Ganzen (genus proximum) zu fassen, nämlich in der »Schicht des Erlebens, die sich von abstrakten Trennungen der Reflexion, wie sie die fortschreitende Differenzierung der Kulturgebiete erfordert und mit sich bringt, noch relativ frei hält«, kurz gefasst: in der »Einheit des ›natürlichen Weltbildes‹« (ebd.: 5). Der objektive Sinn und Gehalt der Kultur mag sich also immer weiter differenzieren und in einzelne Gebiete entwickeln, doch kann diese Auseinanderstrebung so keine Entfremdung im negativen Sinne bedeuten, da ihr immer »nach der ›subjektiven‹ Seite hin« (ebd.: 7) eine Grenze gesetzt ist. Die Einheit der divergierenden Formen muss damit in der Rückwendung auf den »Brennpunkt der [schöpferischen] Subjektivität« (ebd.) gefunden werden: Von hier aus, wo sich alle Formen zu entfalten beginnen, soll ihre Einheit in der Art ihres Hervorgehens deutlich werden, d.h. in der Form des Subjektiven überhaupt. Sinnbildlich bezeichnet Cassirer diese Form der Einheit unter Verweis auf Heraklit als eine »gegenstrebige Vereinigung wie beim Bogen und der Leier« (ebd.; siehe auch VüM: 337). Markiert ist damit der Übergang zu einer anthropologischen Fragestellung,4 die Cassirer, Kant folgend, transzendental verstanden wissen möchte: Nachdem in einer ›Kritik der Kultur‹, also in der Philosophie der symbolischen Formen, die objektive Deduktion der kulturellen Formen des Weltverstehens geleistet wurde, folgt nun die subjektive Deduktion (vgl. Cassirer MsF: 53), der Versuch »den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntniskräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Beziehung zu betrachten« (Kant KrV: A XVI–XVII). Diese subjektive Deduktion kann weder nach Manier mancher Lebensphilosophen in einem ›intuitiven Sprung‹ ins reine Leben oder Ich noch als kausale Erklärung der Form aus biologischen Prozessen heraus – da eine solche Erklärung unweigerlich in einen Zirkel führt – geschehen. Als einzig gangbarer Weg erscheint Cassirer deshalb die Methode der »systematischen Rekonstruktion«, um die »Eigenart des Subjektiven« (Cassirer MsF: 51) zu begreifen. Gemeint ist Folgendes: Wenn das subjektive Leben nur als Bestandteil einer funktionalen Relation besteht, also nur da, wo es sich auf objektive Gebilde bezieht, indem es selbst die Leistung der Objektivation vollbringt, kann es nur von dieser Relation ausgehend erkannt werden. Während sich Cassirers symbolischer Idealismus der ersten drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen auf die Bedingungen der Objektivierung in den jeweiligen Formen bezog, soll nun der Blick sozusagen umgekehrt werden, hin auf das Vermögen des Subjektiven. Das symbolische Bewusstsein kann dabei die grundlegenden Kategorien, durch die es
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In Versuch über den Menschen spricht Cassirer von einer Wendung in der Deutung der delphischen Aufforderung des »Erkenne dich selbst!«, weg von einem individuellen Verständnis, wie es noch bei Sokrates vorgeherrscht habe, hin zu einem des Mensch-Seins überhaupt, wie es durch Platon repräsentiert wird (vgl. Cassirer VüM: 103).
3. Das Subjekt der Tragödie
für den Menschen allein einen Kosmos (Ordnung) gibt, nicht abstreifen und ›hinter sie schauen‹, sondern sich nur auf die Ursprünge, Gründe und Bedeutung der Kategorien besinnen, um sich dadurch selbst durchsichtig zu werden. Ein solcher »Abbau« (ebd.: 52) der eigenen kulturellen Lebensform ist dann aber stets als methodisch-kritischer, nicht ontologischer Prozess zu verstehen.5 Er führt also nicht realiter zurück in andere »Seinsform« (ebd.: 51 [Herv. i.O.]). Auch wenn die systematische Rekonstruktion nur von der Vermittlung ausgehen kann, also von dort, wo das Subjekt sich eine Welt gegenübergestellt hat, kann dieses dynamische Verhältnis nicht in ein räumliches Bild umgedeutet werden, da es unter dieser Vorstellung zu einer statischen Beziehung zweier gegebener Pole gerinnen würde (vgl. ebd.: 59). Das Ich baut sich so – und zwar in jeweiliger Abhängigkeit von – mit der jeweiligen Gegenwelt auf, nur über diese bleibt es als etwas »in all seinen zuccessiven Zuständen mit sich selbst identisches« (ebd.: 62). Werden so die symbolischen Formen als einzelne Phasen der menschlichen Lebensform analysiert, entsteht das Bild einer »Anthropogonie« (ebd.: 65).6 In der Entwicklung der symbolischen Formen vom Mythos über Sprache, Kunst und Geschichte bis hin zur Erkenntnis zeigt sich, dass je die Begriffe von Raum und Zeit ihren Sinn wandeln, jeweils der Form ihre spezifische Gestalt verleihen. Es vollzieht sich hier die Veränderung vom mythischen Raum, der noch keine scharfen Abgrenzungen objektiver Gebilde kennt, über den stabilisierten objektiven Anschauungsraum hin zum reinen »SystemRaum« (ebd.: 91), der seinen Ausdruck in der einsteinschen Relativitätstheorie findet (siehe hierzu bspw. Einstein 2006). Hier ist der Raum nur noch reines Ordnungssymbol von Relationen; in ihm finden sich keine anschaulichen Dinge mehr. Er ist als solcher nicht mehr bildhaft vorstellbar. Die Kategorie des Dinges selbst ist hier überwunden. Die »äußere Welt« gewinnt somit je einen anderen Charakter, ist je eine andere Welt. Was im »Äußeren« die Kategorie des Dinges ist, ist im »Inneren« die »Kategorie der Persönlichkeit« (ebd.: 96 [Herv. i.O.]). Und auch diese wird letztendlich überwunden, wenn sich zeigt, »daß das Gesetz des Werdens und Vergehens, unter dem alles Leben steht, nicht mehr schlechthin dem Kreise des Lebens und dem Kreise des Einzel-Seins zugehörig gedacht werden kann« (ebd.: 98), da seine Unzeitlichkeit einer Grundlegung im räumlich und zeitlich begrenzten Individuum widerspricht. Ideen, Formen und Prinzipien des objektiven Geistes lassen sich weder aus individuellen noch abstrakt-überindividuellen Subjekten, wie Völkern oder historischen Kulturen, gewinnen, ohne dabei in einen Zirkel zu geraten. »Man muss die ganze Fülle des ›objektiven‹ Geistes und die verschiedenen Grundrichtungen des objektiven Sinnes schon in den Begriff dieser Subjekte aufgenommen haben, um sie aus ihnen, als ihr scheinbares reales Werk und Erzeugnis, wieder entstehen und hervorgehen zu lassen.« (Ebd.: 108 [Herv. i.O.])
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Die Gefahr in einen Psychologismus abzurutschen, besteht laut Cassirer dabei nur wenn subjektive und objektive Deduktion nicht klar geschieden werden. Genau deswegen besteht aber die Notwendigkeit, »einen sicheren Ort« (Cassirer MsF: 53) für die subjektive Deduktion zu finden. Cassirer betont hier jedoch, dass es ich nicht um eine genealogische Betrachtung handele!
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So erhebt sich die methodische Forderung nach einer »andere[n] Art von geistigen Subjekten« (ebd.: 101). Cassirer meint hier den Übergang zu einem transzendentalen Ich, begriffen als reine Funktion. Ein solches ist dabei aber nicht erst im abstrakten Denken der Wissenschaft und Philosophie anzutreffen, sondern »jede symbolische Form arbeitet in ihrer eigenen Weise und Richtung auf einen solchen reinen Ich-Sinn hin, der sich von jedem blossen Ich-Sinn spezifisch unterscheidet« (ebd.: 97). Interessant ist, dass Cassirer hier – vermutlich mit einer Stoßrichtung entgegen der Lebensphilosophie – in Bezug auf solch ein reines Ich von »blutlose[n] Bildungen« (ebd.) spricht. In der systematischen Rekonstruktion des schöpferischen Weltverhältnisses, das seine höchste Stufe in der Erkenntnis findet, offenbart sich also, dass dieses Weltverhältnis nur mit einem unzeitlichen und unräumlichen, also in diesem Sinne nicht-anschaulich gegebenen, sondern funktionalen Subjekt gedacht werden kann. Und erst im Vollzug dieser Transzendierung »des ›personalen‹ Seins« hin zum reinen »intelligible[n] Kosmos« erschließt sich dem Menschen vollends der Bereich des Geistigen, vollzieht sich der Übergang von der Natur hin zur »Gebiet der [menschlichen] Freiheit« (ebd.: 109), die sich in diesem Weltverhältnis offenbart. Der Tragödiendiagnose ist aus Cassirers Perspektive folglich deshalb zu widersprechen, weil eine Entfremdung des Subjektes in und von seiner Kultur aus begrifflichen Gründen nicht möglich ist. Wenn sich die Kategorie des Subjekts – ob dieses nun personal oder im reinen Sinne verstanden wird – erst im Auseinandertreten mit dem Objekt in der jeweiligen Form ergibt, dann besteht von je her eine Entsprechung zwischen beiden. Das individuelle Subjekt, das sich selbst rückwendend in der Form erkennt, ist mit dieser bereits grundlegend vermittelt. Wie das? Wenn das individuelle Subjekt sich als Person einer Kulturwelt gegenübergestellt auffindet, dann ist dies nur aufgrund der Bedingung des allgemein-menschlichen Weltverhältnisses möglich, das sich durch die beschriebene Objektivierungsleistung auszeichnet. Reflektiert das Subjekt auf dieses Weltverhältnis – und setzt sich damit zu diesem wiederum in ein Verhältnis –, so erkennt es sich in diesem Akt in seiner allgemeinen, funktionellen Subjektstellung als freies und vermitteltes. Der Gedanke »kann dem Aufstieg vom Besonderen ins Allgemeine, dem Fortgang von der Wahrnehmung und von der sinnlichen Anschauung, in die Sphäre der reinen ›Bedeutung‹ nicht wehren; aber er scheint ebensowenig darauf Verzicht leisten zu können, das Allgemeine im Bilde des Besonderen anzuschauen. So muss er hier eine mittlere Richtung versuchen, in der er hoffen darf, zum mindesten die Beziehung auf beide Gegenpole festhalten zu können, wenngleich er sich nicht schlechthin zu einer Einheit verschmelzen kann.« (Ebd.: 100) So ermöglicht jener Aufstieg auch letztlich erst, dass der Mensch zu seiner sinnlichen Umwelt in ein bewusstes Verhältnis tritt. Er geht hier den vermittelnden Umweg über ein Symbolnetz, das die beim Tier unmittelbare Verbindung vom Merk- und Wirknetz unterbricht. Dies ermöglicht es dem Menschen, auf seine Umwelt nicht nur zu »reagieren«, sondern zu »antworten« (ebd.: 40–43; Cassirer VüM: 48–50). Dieses Symbolnetz kann seinerseits aber nicht mehr bildlich-anschaulich gefasst werden: »Es wäre in sich selbst widersprechend, es wäre ein Rückfall in die eben überwundenen Denk- und Anschau-
3. Das Subjekt der Tragödie
ungsgewohnheiten, wenn er daran gehen wollte, diesen Kosmos selbst wieder in Bildern festhalten und in ihnen beschreiben zu wollen« (Cassirer MsF: 109). Und in diesem Sinne kann auch die Subjektstelle in diesem Verhältnis nicht mit der individuellen Person besetzt werden, sondern nur mit jenem beschriebenen funktionalen Korrelat, dem reinen Ich-Sinn. Die symbolische Formung und die aus ihnen gewonnenen Maßstäbe sind, wie ausgeführt, eben selbst nicht im individuellen Subjekt begründet. »Aber all diese Ordnungen, so sehr wir sie als ein Absolutes, als ein An-sich-Bestehendes denken mögen, sind freilich ›für‹ den Menschen nur, sofern er an ihrem Vollzug mitarbeitet. Sein Leben in ihnen kann nicht in einer tatenlosen Anschauung bestehen, sondern es ist daran gebunden, daß er sie heraufführt und daß er sie kraft dieser Heraufführung in sein Bewusstsein, sein Wissen hinaufhebt« (ebd.). Was Cassirer hier betont, ist dass dieses Verhältnis nur als ein aktives zu begreifen ist, d.h. ein bewusst und praktisch vollzogenes. Es genügt nicht, dass der Mensch einfach nur in diesem Verhältnis steht, sondern er muss dieses aktiv reflektieren. Der Aufstieg zur Idee, zum intelligiblen Kosmos, aus der Höhle der sinnlichen Welt der Einzelerscheinungen heraus, muss nach Cassirer immer wieder neu vollzogen werden – und in diesem Sinne auch die Überwindung der Kategorie der Persönlichkeit, da sich der Mensch von dieser in seinem individuellen Leben eben nicht vollständig lösen kann. Der material gehaltvolle Weltbezug bleibt an die »Form der Ichheit« (Ullrich 2012: 82) des Erlebnisses als ein ursprünglicher Modus der Vermittlung von Wirklichkeitserkenntnis geknüpft, wie Cassirer in seiner nachgelassenen Schrift Über Basisphänomene darlegt (vgl. Cassirer ÜB: 132; siehe auch Honer 2018b).7 Die Reflexion auf das Weltverhältnis offenbart jedoch die ursprüngliche »exzentrische Positionalität« (Plessner 1975) des Menschen. Ohne diesen zentralen plessnerschen Begriff explizit zu nennen bezieht sich Cassirer an drei Stellen in Zur Metaphysik der symbolischen Formen (Cassirer MsF: 35–36, 43 und 60) auf Helmut Plessner und weiß sich dabei in weitgehender Übereinstimmung mit dessen philosophischer Anthropologie (vgl. hierzu Orth 1991: 263). Der Gedanke der exzentrischen Positionalität ermöglicht Cassirer, die Kreuzung von geistigem Tun und leiblichem Dasein zu formulieren, ohne dabei in einen Naturalismus oder eine lebensphilosophische Metaphysik zu geraten (vgl. ebd.: 260–261). Die exzentrische Positionalität verweist zwar je auf die leibliche Organisation und zentrische Positionalität, die es ermöglich, dass die eigene leibliche Zentrierung thematisch werden kann – aber diese Ermöglichung ist, wie Ernst Wolfgang Orth (1991: 265) betont, eine mediale oder »zulassende« Basis. Der Selbstbezug lässt sich eben nicht aus der leiblichen Organisation als hinreichender Bedingung kausal erklären respektive ableiten. Plessner wie auch Cassirer sprechen sich gegen ein ontologisches Aufbauverhältnis zwischen organischer-leiblicher Organisation und Kultur aus, das Vorgehen ist bei beiden regressiv. Wir haben es hier mit einem »präparierte[n] Anfang« (ebd.: 266) zu tun, der letztlich das, was er verständlich machen will, voraussetzt: Was es heißt exzentrisch positioniert zu sein, ist bei der Erklärung der Positionalität und Umweltbezogenheit des Organismus bereits bekannt.
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Und dies auch in der weiteren Entwicklung und Ausgestaltung der Vermittlungsmodi in den symbolischen Formen.
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Nur wenn man erkennt, dass Cassirers Subjektbegriff eine transzendentale Funktion darstellt, also ein reines Ich meint, lässt sich verstehen, warum er gegenüber Simmel die Rezeption – die in dem Sinne dann natürlich nie ›bloße Rezeption‹ ist – klassischer Formen durch ganze Epochen als Beispiel produktiver, nicht-entfremdender Aneignung ins Feld führt, die jene Freiheit des Kulturprozesses »als Triumphe der Spontaneität« (Cassirer LdK: 470) bestätigen sollen.8 Und ebenso gilt dies für die Beispiele der »›grosse[n]‹ Individuen« (Cassirer ZOdA: 191), die die Formen der Kultur erneuern und durchbrechen:9 »Die deutsche Sprache ist bei Goethes Tod nicht mehr das, was sie bei seiner Geburt gewesen war.« (Cassirer LdK: 474) So lässt sich die Kritik Geßners an Cassirer relativieren, der diesem vorwirft eben mit dieser Argumentation die individuelle Dimension des simmelschen Problems zu ignorieren (vgl. Geßner 1996b: 62): Cassirer destruiert schlicht zuvor jene individuelle Dimension und versucht sie als essentialistisches Missverständnis Simmels aufzuweisen. Die in diesen ›großen Individuen‹ zum Ausdruck kommende allgemeine Spontaneität der Subjektivität gilt als Beweis für die allgemeine Freiheit des Individuums im Kulturprozess.10
3.3 Theoretische und praktische Freiheit Indem Cassirer aber so argumentiert, dass eine negativ verstandene Entfremdung in der Kultur nicht denkbar ist, da die unterschiedliche Auseinanderstrebung von Ich und Welt stets die Bestätigung der (freien) Spontaneität des Geistes ist, die Selbstdistanzierung sein tiefstes Wesen darstellt (vgl. Orth 1991: 271–272), handelt er sich das Problem ein, dass schöpferische poesis und ethische praxis miteinander verschwimmen (vgl. Recki 2004: 165–166). Der Kulturbegriff besitzt somit zwar stets eine moralische Dimension – jedoch kann Cassirer nicht mehr spezifizieren, worin diese besteht (vgl. ebd.: 164–166). So bemerkt Cassirer selbst mit Blick auf Kant: »[D]as Aprioritätsproblem und das Freiheitsproblem [sind] nur verschiedene Ausdrücke ein und derselben grundlegenden Forderung […]. Die Autonomie des Willens und die Autonomie des Gedankens bedingen einander und weisen wechselseitig aufeinander hin.« (Cassirer FuF: 166) Und weiter: »Denken und Tun hängen in der reinen Spontaneität zusammen und weisen auf sie als ihre tiefste Wurzel zurück.« (Ebd.: 176) Handeln und Denken sind somit Ausdruck derselben Freiheit, zwischen deren beider Namen »Autonomie« und »Spontaneität« sich nicht mehr unterscheiden lässt. Es ist diese »sachhaltige Unschärfe«, so merkt Recki (2004: 169) kritisch an, »die Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen fortführt«. Cassirer sei in diesem Punkt Kantianer geblieben (vgl. ebd.). Eine Konsequenz dessen ist, dass die Kultur nur pauschal als Befreiung gewertet werden kann, jedoch kein Maß für 8 9 10
»Das Wesen dieses Prozesses tritt vielleicht am deutlichsten dort hervor, wo die beiden Subjekte, die an ihm teilhaben, nicht Individuen, sondern ganze Epochen sind.« (Cassirer LdK: 470) Möckel (2012) erwähnt dies im Kontext der Unterscheidung von biologischen Strukturen (›Baupläne‹) zu symbolischen Strukturen (›Stile‹), die in den Kulturwissenschaften untersucht werden. Es gilt hierbei anzumerken, dass Simmel gerade jene herausgehobenen Individuen, die »Genies« davon freispricht, die Leidtragenden des tragischen Konflikts zu sein, weil sie sich in ihrer individuellen Entwicklung zusagen im Einklang mit den Formen der Kultur wissen, die durch sie selbst vorangetrieben werden (vgl. Simmel BuTK: 397).
3. Das Subjekt der Tragödie
Grade der Befreiung durch die jeweiligen Formen der Kultur anzugeben ist (vgl. ebd.: 167) – außer in der Distanzierung von dem und der Verfügbarkeit über das Weltverhältnis. Es lässt sich zunächst nicht bestimmen, »wie […] Freiheit reflexiv zum Problem und normativ wird« (ebd.: 165 [Herv. i.O.]), d.h. in welchem Sinne, die Moral hier ihre kulturkritische Aufgabe als Maßstab erfüllen kann. Dass Cassirer als politisch aktiver und wachsamer Geist über solche Kriterien verfügt und diese auch auf kulturell-historische Entwicklungen anwendet, lässt sich nicht nur an seinem persönlichen Wirken an der Universität (vgl. ebd.: 104), sondern auch seinen späteren Schriften ablesen. Die zeithistorischen Ereignisse führten ihm unmittelbar vor, »daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankerte Ding ist, für die [sic!] wir sie einst hielten« (Cassirer MdS: 389). So macht sich Recki auf die Suche nach einer »ungeschriebenen Ethik« (Recki 2004: 171 [Herv. i.O.]) in Cassirers Werk. Sie findet diese »indirekte und ganz allgemeine Antwort auf die Frage nach der Ethik« (ebd.: 187) im sogenannten »Ethos der Freiheit« (ebd.: 172). Im Wesentlichen besteht jenes Ethos in der Anerkennung der Konflikthaftigkeit der Kulturentwicklung, also in der Anerkennung dessen, dass sich im Kulturprozess jeweils Kräfte aneinander abarbeiten und der hierin liegenden »normativen Implikation« (ebd.: 178), jene Krisen stets aufs Neue zu bewältigen. Ausgesprochen ist damit eine Art »positive[...] Arbeitshypothese« (ebd.: 177), mit der sich gegenüber jenen destruktiven Kräften und pessimistischen Denkansätzen gewappnet werden soll. Der Anerkennung der Krise entspricht deshalb auf der Gegenseite die Anerkennung der unabsehbaren Spontaneität und Offenheit des menschlichen Handelns, oder anders ausgedrückt, dass die eigene Wirklichkeit je in Differenz zur eigenen Möglichkeit vorliegt (vgl. ebd.: 181). Cassirer appelliert also an die individuelle Verantwortung für die Kultur und das Moralbewusstsein des Einzelnen (vgl. ebd.: 187). Wenn Cassirer in Form und Technik die negativen Seiten der technischen Entwicklung beleuchtet, stellt sich für ihn die entscheidende Frage, ob jene Entwicklungen aus dem Wesen bzw. aus dem Formungsprinzip der Technik selbst angeleitet werden. Die kritischen Betrachtungen Walther Rathenaus (1917) aufgreifend gesteht Cassirer zu, dass die Technik zur »Entseelung und Mechanisierung« einer zunehmend härter werdenden Arbeit geführt habe, dass vermittelt durch die Technik »unbeschränkter Macht- und Herrschaftswille, zügelloser Ehrgeiz und sinnloser Warenhunger« (Cassirer FuT: 181) die Wirtschaft präge. In diesen Verhältnissen agieren die Menschen getrieben von einem in letzter Konsequenz leeren Hedonismus, dessen Hunger nur immer wieder aufs Neue entfacht wird. Die Kritik des massenhaften Verbrauchs von Arbeitskraft und Ressourcen für kurzfristige Gewinne weniger und zum Schaden vieler findet ihre Berechtigung heute, zu Beginn der 2020er Jahre, noch handfester als in ihrem Entstehungskontext des Kaiserreichs. Im Angesicht solcher Zustände sei es die Aufgabe der Philosophie als rationaler Kraft, je auf die kulturellen Formungsprinzipien zu reflektieren und sich so in ein Verhältnis diesen Prinzipien zu setzen. Die gewonnene Erkenntnis und Freiheit durch das Distanzierungsverhältnis kann nun durch den »Einsatz neuer Willenskräfte wahrhaft Wandel schaffen« (Cassirer FuT: 182 [Herv. i.O].) und damit die »chaotischen Kräfte im Menschen« (ebd.: 183) bezwingen und den Arbeitswillen erziehen. Letztendlich dem gleichen Argumentationsmodell bedient sich Cassirer in Vom Mythus des Staates. Unter dem Titel des politischen Mythos analysiert Cassirer hier die Herrschaft der Nationalsozialisten als eine Wiedererstarkung alter Elemente des mythischen
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Weltverstehens, die nun aber gezielt und mit technischen Mitteln inszeniert werden. In der Philosophie der symbolischen Formen beschreibt Cassirer den Mythos als erstes freies kulturelles Weltverhältnis, das aber die von ihm erzeugten und geformten Bilder als unmittelbare Realität nimmt und sich deshalb noch nicht als in diesem formenden Verhältnis stehend erkannt hat (vgl. Cassirer PsF II: 47, 52, 85 und 279). Das mythische Gegenstandsverhältnis ist noch gänzlich ein »Akt des Affekts und des Willens« (ebd.: 85) respektive der »Ausdruck des Gefühls« (Cassirer MdS: 60 [Herv. i.O.]). Es ist aber insofern bereits eine Leistung des symbolischen Bewusstseins, als hier das Gefühl nicht innerlich verbleibt, sondern gebündelt als Ausdruck »eine bestimmte Gestalt« (ebd.) annimmt und damit ins Licht der Gegenständlichkeit tritt. Dem mythischen Bewusstsein erscheint sein Gegenstand als ein »Absolutes«, »er bezeugt und bewährt sich durch die einfache Intensität seines Daseins; durch seinen unwiderstehlichen Zwang, mit dem er sich dem Bewußtsein aufdrängt« (Cassirer PsF II: 87–88). Im Mythos zeigt sich der Mensch je von seinen gegenständlich geformten Eindrücken »überwältigt« (ebd.: 80) und es fehlt ihm auf dieser Stufe der kulturellen Entwicklung die kritische Distanznahme gegenüber seinen eigenen Schöpfungen (vgl. auch Cassirer MdS: 66).11 Wird die Realität im Mythos zwar aktiv gestaltet, so wird sie gleichzeitig »auf passive Art angenommen« (ebd.). Diese Realität trägt dabei einen grundlegend sozialen Charakter. Sie ist nicht wie im wissenschaftlichen Denken durch gesetzmäßige Kausalität zusammengehalten, sondern durch ein »Band der ›Sympathie‹« (ebd.: 54), das alle Teile mit dem Ganzen, den Menschen mit seiner Gemeinschaft und der Natur nicht nur verbindet, sondern gar identifiziert (vgl. ebd.: 53–55). Die Schuld für Taten des Einzelnen überträgt sie sich so auf die gesamte Gemeinschaft, weswegen der Mythos keine individuelle Verantwortung kennt. Innerhalb dieses Prinzips der Identifikation werden ferner mythische Vorstellungen der Magie verständlich. Wegen der je bestehenden Verbindung kann bspw. durch den Besitz eines persönlichen Gegenstandes, von Haaren eines Menschen oder der Kenntnis seines Namens auf diesen eingewirkt werden (vgl. Cassirer PsF II: 63–69; vgl. auch MdS: 371). Der politische Mythos als moderne Technik zielt nun durch pseudowissenschaftliche Fundierungen, eine Flut von Riten und affektbeeinflussende Sprache darauf (vgl. ebd.: 360ff.), dieses distanz- und kritiklose Weltverhältnis wiedereinzusetzen, um die Menschen beherrschbar zu machen (vgl. ebd.: 374). Die propagandistisch durchdrungene Sprache der Nazis beschreibt Cassirer als eine Ausdrucksform, die nicht eigentlich begrifflich verstanden werden kann, sondern eine »emotionale Atmosphäre« erzeuget, die »gefühlt werden« (ebd.: 370) müsse.12 Zu fühlen bedeutet aber in diesem Fall, sich einfangen zu lassen, vollständig in der rassisch verstandenen Gemeinschaft aufzugehen, deren Personifikation der Führer als »mystische Macht und Autorität« (ebd.: 365) ist. All dies dient dazu, »all unsere aktiven Kräfte in den Schlaf zu lullen, unsere Urteilskraft und Fähigkeit
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Diese Distanznahme zu den Symbolen, um sie zu wissen und sie kritisch zu beleuchten, ist nach Cassirer auch in jeder späteren symbolischen Form aufs Neue zu erarbeiten (vgl. Cassirer PsF II: 33). In dieser Analyse, dass die nazistische Ideologie in ihrer Propaganda und der Wirkung dieser Propaganda letztendlich sich erschöpft, weist Cassirer eine interessante Übereinstimmung mit den Ausführungen in Adornos (2019) Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus auf.
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kritischer Unterscheidung, unser Gefühl für Persönlichkeit und individuelle Verantwortung hinwegzunehmen« (ebd.: 371). Wie zuvor kann die Philosophie als rationale Kraft helfen, die Funktionsweise des Mythos zu durchschauen. Cassirer betont, dass aber die Philosophie hier nur dies, die rationale Einsicht, bieten könne. Die Überwindung des Mythos lässt sich nur – und an dieser Stelle präsentiert Cassirer durchaus ein Spezifikum ethischer Freiheit – durch das »eigene[...] Urteil«, »was moralische Pflicht ist« (Cassirer MdS: 375) erreichen, oder wie es an anderer Stelle heißt: über die die »moralische Herrschaft über sich selbst« (Cassirer LdK: 463). Ethische Freiheit meint damit keine Willkür oder nicht-Determiniertheit, sondern sei eine »besondere Art von Determination« (Cassirer MdS: 375). Die Tatsache, dass sich Cassirer im Rahmen seines Freiheitsbegriffs als Kantianer erweist, ist für das Verhältnis zu Simmel nicht ohne Relevanz. So ist es nämlich möglich, die Kritik, die Simmel an eben jenem kantischen Freiheitsbegriff und der kantischen Ethik äußert – zumindest teilweise –, auf Cassirer zu beziehen und so Simmel die Möglichkeit einer Gegenrede einzuräumen. Das maßgebliche Problem besteht für Simmel darin, dass Kant die Enthobenheit des Menschen von der kausalen Determination darüber rechtfertigt, dass diese Determination nur für die Erscheinung gelte, jedoch nicht für das der Erscheinung Zugrundeliegende. Auch wenn das Ding-an-sich für den Menschen unerkennbar bleibt und die Freiheit in diesem Sinne metaphysische Idee (die als solche natürlich auch nicht widerlegt werden kann), leistet eine solche spekulative Freiheit nicht, was Kant von ihr verlangt: Denn »die Freiheit in dem durch die Erkenntnistheorie beschaffbaren Sinne ist etwas in der moralischen oder Werthinsicht völlig Gleichgültiges« (Simmel KVL: 184). Zum Problem wird dies, wenn Kant jene Freiheit mit einem bestimmten Inhalt ausstattet und damit die »selbstgesetzten Grenzen« (ebd.: 182) überschreitet und unser »an sich seiende[s], nicht erscheinende[s] Wesen[...], in dem die Freiheit ruht, mit der Vernunft und die […] Vernunft mit der Sittlichkeit« (ebd.: 191) identifiziert. »Durch die unglückliche Idee, daß die Verstandesbegriffe auf das Ding-an-sich angewendet werden dürften, wenn man es nur durch dieselben nicht erkennen wollte […] hat er im Ding-an-sich gleichsam einen locus minores resistentiae für jede willkürlich mißbrauchte Denkmöglichkeit geschaffen.« (Ebd.: 183) Kant setzt hier also, laut Simmel, jene negativ bestimmte Freiheit mit einem positiven Vermögen gleich.13 Die Folge hiervon ist unter anderem, dass die Sittlichkeit einer Tat nie zu erkennen ist, da an diesem Punkt unsere Erkenntniskräfte notwendig versagen müssen. So fehlt nicht nur jede Möglichkeit einer moralischen Beurteilung, sondern es ist auch unklar, wie eine solche aussehen könnte: Denn entweder ist eine Tat durch unser Vermögen zur Freiheit bestimmt und entspricht dem allgemeinen Gesetz (dem kategorischen Imperativ), ist also sittlich, oder sie unterliegt der naturhaften Kausalität und entspricht nicht oder nur zufällig (pflichtgemäß) dem allgemeine Gesetz – beides mal ist sie
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Die Kritik, die Simmel hier gegenüber Kant bzw. der von ihm präsentierten Lesart Kants erhebt, weist damit auch eine Parallele zu Reckis Kritik an Cassirer auf: Die fehlende Spezifikation der ethischen Freiheit.
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dann aber nicht Äußerung der Freiheit und es ist unklar, wie eine unfreie Tat moralisch zu verurteilen ist, wenn sie nicht hätte anders geschehen können (vgl. ebd.: 190–191). Auch wenn wir bedenken, dass die Kausalität der Natur und die Kausalität der Vernunft nur zwei verschiedene Hinsichtnahmen auf den Menschen darstellen, die Unterscheidung ihn »in zweierlei Bedeutung betrachtet« (Kant MdS: AA VI 418), werden wir genötigt, Freiheit entweder zuzusprechen oder abzusprechen, da die aufgezeigte Möglichkeit der Kausalität aus Vernunft die Freiheit substanzialisiert. »Es ist danach weder zu begreifen, wie der intelligible Charakter eines Menschen etwas zu wünschen übrig lassen kann, noch wie sein empirischer Charakter irgendeinen Wert besitzen kann.« (Simmel KVL: 191) Die so verstandene Freiheit zerteilt die menschliche Existenz in zwei Welten. Es ist nicht klar, ob Simmel dieser durchaus problematischen Kantlesart wirklich zustimmt – attestiert er ihr doch im Widerspruch zu Kants eigentlicher Intention, die Freiheit als rein regulative Idee zu fassen,14 zu stehen. Simmel moniert also eher eine Inkonsequenz, Kant habe – so ließe sich sagen – hier selbst nicht kantisch gedacht: »Indem Kant die Freiheit als ein positives, produktives Vermögen anspricht, das in unsrer übersinnlichen Realität ruhe, dementiert er seine eigne Behauptung, daß wir die Freiheit ›nur in praktischer Hinsicht‹ brauchen, d.h. daß sie der abstrakte Ausdruck für unsere Art ist, das Leben zu führen und zu beurteilen. Die substanzialistische Ansicht, daß die Freiheit gleichsam etwas für sich wäre, daß die übersinnliche Enthobenheit vom Kausalgesetz eine Existenz unser bezeichnete, von der die sinnliche eine Erscheinung wäre, – ist ein Rückfall in den typischen Denkfehler, der z. B. aus den Zweckmäßigkeitsbeziehungen innerhalb der Natur einen zwecksetzenden Gott außerhalb ihrer schafft.« (Ebd.: 193) Simmel fordert demgemäß die Freiheit weiter als ein rein regulatives Prinzip anzusehen, das nicht innerhalb in unserer »Wesensbestandteile lokalisiert zu werden« (ebd.) braucht, d.h. auch nicht in einem intelligiblen Kosmos des reinen Ichs. Inwiefern trifft diese Kritik nun aber Cassirer, in dessen Kantianismus wir sicherlich eine elaborierte Lesart vermuten können? Doch auch hier entsteht eben jenes Problem, sobald Cassirer die Freiheit aus der Formung bzw. dem reinen Ich (den »Möglichkeiten und Erkenntniskräften«), das er in der subjektiven Deduktion erschließt und sich der kausalen Naturdetermination entzieht, ableitet. Denn diese Freiheit ist zunächst, wie bereits herausgearbeitet, eine theoretische Freiheit als Spontaneität. Auch wenn es Cassirer gerade darum geht, dass die Formen nur am Individuellen und Einzelnen wirksam sein können und keine abgelöste Existenz jenseits dieses besitzen, da sie nur Richtlinie, aber niemals selbst als solche ›tätig‹ sind, bestimmt er sie doch als etwas jenseitiges, das er vom konkreten und empirischen Ich scharf unterscheidet und verlegt sie damit in ein eigenes Gebiet. Er lokalisiert sie, wie Simmel sagen würde, in unserem subjektiven, von allem empirischen Sinn gereinigten Vermögen. Das Problem liegt in Cassirers Argument, dass sich Formen wegen ihrer Unzeitlichkeit nicht im zeitlich-endlichen Leben
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Sich im praktischen Sinne selbst je als frei annehmen zu müssen, schließt ja die Möglichkeit ein, seine Maximen vereinbar mit dem kategorischen Imperativ zu bilden oder dies nicht zu tun.
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fundieren ließen: Hierbei wird die kategorial anschauliche Form, in der wir das endliche Individuum gegeben haben, der scheinbaren Unzeitlichkeit der symbolischen Formen selbst gegenübergestellt. Jene Unzeitlichkeit können wir jedoch nicht im strengen Sinne als eine Eigenschaft begreifen, da sie sich nur daraus ergibt, dass die kategoriale Formung nicht auf sich selbst anwendbar ist, d.h., nicht als anschaulicher Gegenstand gegeben ist. Cassirer scheint diesen Unterschied nun aber als einen substanziell-wesenhaften Gegensatz zu deuten und deshalb die symbolischen Formen in einem intelligiblen Kosmos scharf von der empirisch sinnlichen Welt zu trennen. Der metaphysische Fehlschluss besteht darin, aus dieser Nicht-Anwendbarkeit eine Form der Unzeitlichkeit abzuleiten, die jener der Zeitlichkeit gegenübergestellt werden kann und gegen ein Fundierungsverhältnis spricht.15 Dies wird deutlich, wenn Cassirer versucht, die ethische Freiheit gerade in Gegenüberstellung zur Bestimmtheit durch empirisch seelische Kräfte, wie Triebe, Instinkte und emotionale Überwältigung, als eine Herrschaft über jene chaotischen Kräfte des Menschen in Ansatz zu bringen, also als eine besondere Determination der Motive, nämlich die durch das eigene Urteil. Man könnte die Kritik so zusammenfassen, dass die subjektive Deduktion über ihr Ziel hinausschießt, wenn sie die kausale Nichtherleitbarkeit der subjektiven Formen in ein positives Vermögen umdeutet und dem sinnlich bestimmten Menschen gegenüberstellt, damit aber gerade die ›Einheit der natürlichen Weltsicht‹, von der die Methode ihren Ausgang nahm, erneut zum Problem wird. Die abstrakte Freiheit in der Reflexion auf das jeweilige Weltverhältnis wird als Beweis der Möglichkeit der individuellen Freiheit genommen, ohne diese Möglichkeit positiv zu bestimmen, d.h., im individuellen Leben zu charakterisieren (vgl. hierzu auch Jaeggi 2005: 178–181). Der Erweis dieser Freiheitsmöglichkeit mag zwar in sich argumentativ schlüssig sein, zeigt aber sein Problem eben darin, dass Cassirer hierzu eben auf Beispiele wie Epochen oder die ›großen Individuen‹ zurückgreifen muss. Zumindest in seiner Kritik an Simmel und der Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie lässt Cassirer keinen Maßstab für das konkrete Individuum erkennen.16 Was denn das eigene am ›eigenen Urteil‹ ist, bleibt deshalb unklar. Der Gedanke führt bei Cassirer nur in eine Richtung, hin zur reinen Funktion und damit weg vom Individuum: Will sein Ansatz zwar »zum mindesten die Beziehung auf beide Gegenpole festhalten« (Cassirer MsF: 100), bleibt letztendlich der individuelle Pol in Cassirers Beweis seiner Unaufhebbarkeit der Beziehung doch abstrakt.
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Simmel sieht in jener Aufspaltung zwischen dem empirisch-sinnlichen und dem intelligiblen Kosmos letztlich auch das Problem, dass beide in einem zufälligen Verhältnis zueinander stehen: So ist es z.B. für die Moralität völlig belanglos und letztlich zufällig, ob das Handeln bzw. die Maxime einer Handlung mit dem kategorischen Imperativ vereinbar ist oder nicht, wenn sie nicht das Resultat einer spontanen-freien Setzung ist (vgl. Simmel LA: 294–295). Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass Cassirer an anderer Stelle durchaus Überlegungen zu einem solchen Maßstab angestellt hat. In dem Kapitel versuche ich, im Rückgriff auf Cassirers Diskussion der goetheschen Idee der Bildung und Erziehung (Cassirer GIBE) eine stärkere Lesart des cassirerschen Arguments zu entwickeln.
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3.4 Entfremdung als Form des Freiheitsverlusts Es ist aber genau dieser Pol, an dem sich das Problem der Entfremdung »als eine[r] besondere[n] Form des Freiheitverlustes« stellt, »als Behinderung dessen nämlich, was man [...] ›positive Freiheit‹ nennen kann« (Jaeggi 2005: 53). In Anknüpfung an marxistische und heideggerianische Theoriestränge entwickelt Jaeggi (2005) einen Entfremdungsbegriff, der sich – ohne dabei in ein willkürliches Verständnis einer Selbsterfindung abzurutschen – nicht auf ein essentialistisches Selbstkonzept beruft und dadurch von Cassirers Kritik nicht getroffen wird. Dieser Entfremdungsbegriff ermöglicht es, gegenüber einem kantischen Autonomieverständnis, dem »die Welt im positiven wie im negativen Sinn ›nichts anhaben‹ kann« (ebd.: 14), die individuelle und materiell-weltliche Dimension des Freiheitsproblems zu erhellen. Vor allem aber bietet er eine Interpretationsfolie, auf der die von Simmel beschriebenen, aber wenig ausgearbeiteten und oft im Dunklen verbleibenden Erscheinungsformen der Tragödie gelesen werden können. Zuletzt eröffnen sich damit bereits wesentliche Hinweise darauf, wie ein Subjektbegriff beschaffen sein muss, der die Möglichkeit von Entfremdung – das Prekär-Werden des Subjektstatus – beinhaltet. Prägnant zusammengefasst bedeutet Entfremdung Jaeggi zufolge »die Stillstellung von Erfahrungsprozessen. Und: Entfremdet ist, wer sich zu seinen Voraussetzungen nicht verhalten, wer sich seine Voraussetzungen nicht aneignen kann.« (Ebd.: 185 [Herv. i.O.]) Demgegenüber wäre ein nicht-entfremdeter Zustand gegeben, »[w]enn man sich sein Leben (als eigenes) aneignen kann und sich in dem, was man tut, selbst zugänglich ist« (ebd.: 187). Entfremdung meint folglich einen defizitären Handlungsmodus oder ein defizitäres Verhältnis zu sich selbst und zur Welt, in dem man sich die gemachten Erfahrungen – mit anderen Worten: das eigene Leben – nicht mehr aneignen kann (vgl. ebd.: 55). Für Aneignung ist es notwendig, diesen Erfahrungen, Handlungen, sozialen Rollen und Projekten, die wir im Leben verfolgen, eine eigene, individuelle Prägung zu geben und sich auf diese Weise mit diesen zu identifizieren. Jaeggi geht jedoch nicht davon aus, dass vor oder jenseits einer solchen Identifikation ein bestimmbares Selbst existiert. Das individuelle Selbst bildet sich erst in solchen Aneignungsprozessen heraus (vgl. ebd.: 184). »Die Perspektive der Selbstentfremdung führt damit über einen formalen Begriff der Selbstbestimmung zu einer materialen Konzeption, die in Richtung dessen weist, was man als Selbstverwirklichung bezeichnen kann.« (Ebd.: 237) Selbstverwirklichung ist deshalb etwas, das nur in der Welt stattfinden kann. Das Selbst wird erst in der Welt wirklich – so wie für Simmel Kultivierung nur in Auseinandersetzung mit den objektiv gewordenen Gebilden der Kultur geschehen kann. Daraus folgt aber auch: Wer also von sich selbst entfremdet ist, ist ebenso von der Welt entfremdet und umgekehrt (vgl. ebd.: 184 und 190–193). Der individuelle Aneignungsprozess rückt die materiellen Bedingungen und Situationen, zu denen auch die eigene Vergangenheit und der eigene Selbstentwurf gehört, in den Blick. Mit jenen findet sich das Individuum im Leben konfrontiert und denen gegenüber kann es in graduell-entfremdeten Verhältnissen stehen. Auch diese Bedingungen und Voraussetzungen sind – wie das Selbst – in gewisser Weise Produkt dieser gelingenden oder misslingenden Aneignungsprozesse. Sie sind nicht ein einfach »wesenhaft Gegebene[s]«, »weder ›erfunden‹ noch ›gemacht‹« (ebd.: 56), sondern eröffnen sich, im »Spannungsverhältnis zwischen Vorgegebenem und Gestaltbarem« (ebd.: 58)
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stehend, erst über die individuellen Auseinandersetzungsprozesse mit der Welt. Was heißt es aber, (sich selbst und der Welt) entfremdet zu sein? Jaeggi formuliert hierzu vier Fallbeispiele, anhand derer sie verschiedene Formen von (Selbst)Entfremdung entwickelt. Ich werde im Folgenden diese Fallbeispiele skizzieren und die dabei wesentlichen Merkmale von Entfremdung herausstellen, um dann jeweils zu prüfen, inwiefern die Tragödienerscheinungen bei Simmel als Entfremdung in diesem Sinne verstanden werden können.
3.4.1 »So haben wir es gar nicht mehr in der Hand«: Eigendynamik und Erstarrung In ihrem ersten Fallbeispiel behandelt Jaeggi unter dem Robert Musil entlehnten Titel »Seinesgleichen geschieht« (ebd.: 71 [Herv. i.O.]) das Phänomen, so zu empfinden, als verlaufe das Leben wie ein eigenständiges Geschehen, das sich dem eigenen Einfluss entzieht. Als sei es »von einer ›fremden Macht‹ bestimmt« (ebd.). Der nächste Karriereschritt, Wohnortwahl, Haushalt und tägliche Erledigungen bis hin zu Freizeitgewohnheiten folgen mehr und mehr den sich ergebenden Notwendigkeiten, erscheinen entschieden, »ohne dass man sie selbst entscheidet. Man gerät sozusagen in das Leben, das man führt, unwillkürlich hinein.« (Ebd.: 75) Es handelt sich dabei aber nicht um das Vorliegen »von äußerem Zwang oder Heteronomie« (ebd.: 73 [Herv. i.O.]) oder dem augenblicklichen Bereuen einer im Nachhinein als falsch erkannten Entscheidung. Und trotzdem, so das prägnante Gefühl, ist man selbst nicht recht derjenige, der das eigene Leben führt; ohne dass es jemand anderen gäbe, der dies tut. Dieses Leben »scheint gar niemandem zu ›gehören‹« (ebd.: 74). Nun ist es aber doch so, dass im oben kurz skizzierten Verlauf sämtliche Stationen letztendlich steuerbar sind, das Geschehen also, selbst wenn es einige »unverfügbare Bedingungen gibt«, unserer »Handlungsmacht« (ebd.: 76 [Herv. i.O.]) unterliegt. Wir können steuernd eingreifen. Für Jaeggi sind gerade die Fälle bemerkenswert, in denen eine solche Steuerung aber nicht stattfindet. Wie lässt sich dieses Phänomen verstehen? Was die Perspektive jener Personen, die sich in solchen eigendynamischen Prozessen verlieren, kennzeichnet, ist, dass die je eigene Lage »überhaupt nicht als Handlungssituation« (ebd.: 77) mit jeweiligem Handlungsspielraum erscheint. Die Personen agieren zwar, treffen dabei aber eigentlich keine Entscheidung, weil ihnen die anstehenden praktischen Fragen gar nicht gegenwärtig sind. »Praktische Fragen« sind hierbei solche danach, »was zu tun ist, was man tun, wie man handeln soll« (ebd.: 78). Sie treten auf unterschiedlichen Ebenen auf, können rein instrumenteller aber auch grundsätzlicher Art sein, bspw. die allgemeine Lebensorientierung betreffen, also ›wo ich im Leben hinmöchte‹. Sie bedürfen aber immer der »Existenz eines Handlungs- und Möglichkeitsraums«, innerhalb dessen verschiedene Antworten auf solche Fragen möglich sind. Angesichts dieser Möglichkeiten bin »ich aufgefordert [...], Stellung zu beziehen« (ebd.), besser noch: Ich bin gefordert. Agiere ich, wie im beschriebenen Fall, letztendlich ohne in dieser Form zu Möglichkeiten Stellung zu nehmen, komme ich selbst eigentlich gar nicht ins Spiel. Man ist schlussendlich, so folgert Jaeggi, »nicht Subjekt dessen, was« (ebd.) man tut, sondern von Ereignissen »getrieben« (ebd.: 79), die nicht gestaltbar erscheinen und so auch nicht gestaltet werden. Ohne diese Handlungs- und Möglichkeitsräu-
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me wird aber auch das eigene Leben zu etwas, das nicht (zumindest unter meiner Mitwirkung) gemacht, sondern einfach gegeben ist (vgl. ebd.: 78). Es erscheint mir fremd und unverfügbar. Zentrales Merkmal dieser Art von (Selbst-)Entfremdung ist für Jaeggi deshalb die »Verdeckung praktischer Fragen« (ebd. [Herv. i.O.]). »Verdeckung« hebt dabei nicht allein auf »Phänomene subjektiver Verkennung« ab, sondern berücksichtigt auch spezifisch ausgestaltete Situationen und Strukturen, »die zu einer solchen Verdeckung führ[en]« (ebd.: 78–79 [Herv. i.O.]). Neben den beschriebenen Eigendynamiken, in denen man als getrieben erscheint, sind es auch Zustände der »Erstarrung« (ebd.: 80), die praktische Fragen verdecken können – solche Zustände, in denen die eigene Lebensweise in den durch sie herbeigeführten Umständen so weit verfestigt ist, dass sie als nicht mehr veränderbar erscheint. Das eigene Haus bindet an einen Finanzierungsplan; der Beruf, der notwendig ist, um diesen Finanzierungsplan zu erfüllen, gibt nicht nur Arbeits- und Freizeit vor, sondern limitiert unsere Ressourcen für die Beschäftigungen in der Freizeit – Ressourcen, die durch weitere Umstände, wie das eigene Kind, zu erledigender Papierkram, die Pflege eigener materiellen Güter, schnell und ohne dass man hier offenbar eine Wahl hätte, gebunden erscheinen. Die Umstände und nicht man selbst »scheinen zu bestimmen« (ebd.), was man tut und wie man lebt. Der Lebensweise mag eine ursprünglich bewusste und aktive Entscheidung zugrunde gelegen haben, doch haben die Resultate dieser Entscheidung begonnen, sich »gegenüber ihrem Urheber [zu] verselbständigen« (ebd.). Verselbständigung soll hierbei ausdrücken, dass die Verhältnisse »immun sind (oder sich immun machen) gegen weitere Infragestellung« (ebd.: 81). Dies ist aber, wie Jaeggi betont, nicht allein eine Frage von (gesamtgesellschaftlichen) sozialen Konventionen, denn erstarren »können auch unkonventionelle Lebensformen« (ebd.). Man denke an die Strukturen im Plenum eines alternativen Wohnprojekts oder die entwickelten Routinen und Vereinbarungen in einer ethischen non-monogamen Beziehungskonstellation. In beiden Fällen, Eigendynamik und Erstarrung, geben die Verhältnisse »die Antworten auf solche [praktischen] Fragen vor« (ebd.: 81), entweder weil sie entschieden sind, bevor sie überhaupt bewusst gestellt werden (Eigendynamik) oder sie »nicht mehr so aussehen, als seien sie (noch) entscheidbar« (ebd.) (Erstarrung). Beide Varianten können durchaus zusammen auftreten und ihre Übergänge fließend sein. Wird auf solche Weise das »Vermögen«, praktische Fragen »zu stellen und zu beantworten«, untergraben, sind wesentliche »Voraussetzungen von Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung« (ebd.: 79) nicht mehr erfüllt. Ferner werden damit auch »die Handlungs- und Entscheidungskomponenten, die das Leben zum ›eigenen‹ machen, unkenntlich« (ebd.: 74). Ohne (im engeren Sinne) äußeren Zwängen oder Fremdbestimmung zu unterliegen, lebt man ein Leben, in dem man selbst »nicht wirklich ›präsent‹ ist« (ebd.: 77). Das Gefühl, im eigenen Leben präsent zu sein, ermöglicht es nach Jaeggi auch, entfremdende von nicht-entfremdenden Eigendynamiken abzugrenzen. Mit unvorhersehbaren (Neben-)Folgen des eigenen Handelns konfrontiert zu sein, ist wohl ein beständiges Erlebnis. Auch von Ereignissen, gerade emotionaler Natur, überwältigt und (unkontrolliert) mitgerissen zu werden, ist uns in unserer Lebenspraxis bekannt. Beides muss jedoch nicht als Entfremdung oder überhaupt als negativ erfahren werden. Der Unterschied liegt für Jaeggi eben darin, wie wir uns in den Ereignissen präsent und beteiligt fühlen, wie wir mit ihnen umgehen können (vgl. ebd.: 83–85). »Offenbar
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identifizieren wir uns in diesen Fällen mit Ereignissen, selbst wenn wir diese nicht initiiert haben oder sie nicht kontrollieren können.« (Ebd.: 85) Wir eignen sie uns dann nachträglich noch an, setzten uns in einer bestimmten Weise in Beziehung mit ihnen. Wir finden einen Umgang mit ihnen, in dem wir sie bejahen können oder zumindest nicht (mehr) als fremd empfinden. Aneignungsprozesse – in diesem Sinne – sind jedoch keine rein kognitiven Angelegenheiten und »nicht allein dem Willen unterworfen« (ebd.: 87). Entsprechend können wir uns nicht alles im Leben aneignen, was wir uns vielleicht aneignen möchten. Aneignungsprozesse können ins Stocken geraten und scheitern. Und genau dort beginnen nach Jaeggi Entfremdungsphänomene. Ebenso ist aber auch nicht jede Art von Erstarrung entfremdend. Jaeggi (ebd.) verweist auf Erstarrungen, die über ihre entlastende Funktion sogar konstitutiv für unser Handeln sind, indem sie uns eine selbstverständliche Basis bieten, von der aus wir dann agieren können. Wir müssen nicht alles als praktische Frage auffassen, zu der wir uns verhalten müssen – dies wäre kein sinnvolles Ziel und in der Realität eine völlige Überforderung. Eine solche Basis kann für uns auch das Vertraute, eben nicht das Fremde, sein. Hinsichtlich der Frage, ob Erstarrungen entfremdend sind, geht es nicht »um vollkommene Transparenz [...], sondern um das grundsätzliche Bewusstsein von Wahlmöglichkeiten« (ebd.). Das Gemachtsein der Verhältnisse und Ereignisse offenzulegen, (wieder)eröffnet so Gestaltungsspielräume der Aneignung (vgl. ebd.: 87 und 82). Lässt sich nun aber das, was Simmel in Der Begriff und die Tragödie der Kultur beschreibt, vor diesem Hintergrund als Entfremdung verstehen? Denn dies ist ja, neben der Möglichkeit von Entfremdung als Freiheitsverlust einsichtig zu machen, das Ziel dieser Ausführungen. Unter der Tragödie führt Simmel einige, durchaus divergente Phänomene zusammen. In Jaeggis erstem Beispiel klingt besonders eines davon an: das Steuerungsproblem und das in einem eigendynamischen Prozess MitgerissenWerden. Seien »gewisse erste Motive« kultureller Welten erst einmal »geschaffen«, so konnten wir bei Simmel lesen, »so haben wir es gar nicht mehr in der Hand, zu welchen einzelnen Gebilden sie sich entfalten; diese erzeugend oder rezipierend gehen wir vielmehr am Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit entlang, die völlig sachlich und um die Forderungen unserer Individualität [...] unbekümmert ist« (Simmel BuTK: 402). Simmel thematisiert an dieser Stelle den kulturellen Schaffens- und Rezeptionsprozess, der sich eigendynamisch generiere. Dass diese Dynamik respektive die ›ideelle Notwendigkeit‹, der diese folgt, um die Forderungen unserer Individualität – wobei hier noch offengelassen werden kann, was diese sein mögen – unbekümmert seien und auf diese offenbar keine Rücksicht nehmen, deutet auf ein Fremdheitserleben hin. Wir selbst sind es, die diesem ›Leitfaden‹ folgen, und doch bringen wir unsere Individualität, also uns selbst, nicht recht ein. Obwohl, wie Simmel angibt, der Ausgangspunkt, das erste Motiv, möglicherweise Ausdruck »unserer eigensten und innerlichsten Spontaneität« ist, also uns selbst bzw. einer eigenen Entscheidung zugerechnet werden kann, sind wir nun auf einem Weg, der durch eine »immanente Logik« (ebd.: 402–403) bestimmt wird, und wir haben es nicht mehr in der Hand, wohin die Reise geht. Mit welcher Art Logik wir es dabei zu tun haben, soll hier noch ausgespart bleiben. Die eingehende Behandlung dieser Frage erfolgt in Kapitel 5. Was an dieser Stelle zuerst interessiert, ist, ob und inwiefern die geschilderten Phänomene Entfremdung bedeuten könnten. Und dies scheint der Fall zu sein: Denn, wenn wir offenbar unsere Möglichkeiten, den Weg selbst
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zu gestalten oder seine Richtung zu bestimmen, als eingeschränkt erleben, kann dies auch als eine Verdeckung praktischer Fragen verstanden werden. Die Logik des Weges vermittelt uns den Eindruck, als müsse dies alles so laufen, als wäre dies schon alles richtig so. Sie gibt uns, vielleicht bevor wir die Frage tatsächlich gestellt haben, eine Antwort vor, die eben völlig folgerichtig und nicht hinterfragbar erscheint. In diese Richtung deutet auch eine weitere Formulierung im Tragödienaufsatz. Das Entstehen neuer (und immer neuer) Kulturprodukte vollziehe sich, »fast beziehungslos zu dem Willen und der Persönlichkeit der Produzenten« (ebd.: 408). Die eingeschränkte, oder besser: defizitäre Beziehung zwischen Werk und Produzent:in entspräche dem, was Jaeggi das Fehlen der eigenen Präsenz im Leben nennt. Hier ließe sich einhaken, ob es nicht gerade eine äußerst erstrebenswerte und angenehme Art zu arbeiten sei, sich im Schaffensprozess beinahe selbst zu vergessen und frei fließend das Werk wie von selbst entstehen zu lassen. Jedenfalls doch deutlich besser, als sich beim Schreiben mit jedem einzelnen Satz bewusst herumzuquälen. Diese Möglichkeit, »daß die Sprache für uns dichtet und denkt, d.h. daß sie die fragmentarischen und gebundenen Impulse unseres eigenen Wesens aufnimmt und zu einer Vollkommenheit führt« (ebd.: 403), schließt auch Simmel nicht aus. Für Jaeggi wäre dies die Form, sich im Geschehen überwältigen und frei treiben zu lassen, während man aber doch noch irgendwie präsent bleibt, sich mit dem Prozess und Ergebnis identifiziert. Doch auch der davon abweichende Fall verlangt nicht viel Vorstellungskraft: sich in einem Schaffensoder Rezeptionsprozess zu verrennen, während einem der Weg, dem man folgt, völlig eindeutig und logisch, ja notwendig erscheint, sodass man nicht mehr nach links und rechts, eben auf andere Möglichkeiten schaut. Egal, ob diese Möglichkeiten in unserem Arbeitsprozess selbst liegen oder außerhalb, im ›restlichen‹ Leben, das man zu vernachlässigen beginnt. Viele praktische Fragen, das dürfte unmittelbar einleuchten, sind in dieser Weise zu leben verdeckt. Aber besteht ein solcher Arbeitsprozess nicht seinerseits auch darin, sich mit einer ganzen Menge von (anderen) praktischen Fragen auseinanderzusetzen? Die Frage verweist auf ein interessantes Phänomen: Praktische Fragen können durch andere praktische Fragen verdeckt werden. Bin ich völlig darin befangen, eine bestimmte Lösung für ein Problem zu entwickeln, kann mir das Bewusstsein dafür, dass es andere Lösungswege und Ansätze gibt, entgleiten. Grüble ich über grundlegende Lebensentscheidungen, entgeht mir vielleicht die Frage, ob das, was mir als unvereinbar erscheint, weswegen ich mich überhaupt entscheiden muss, sich entweder organisatorisch oder durch eine andere Interpretation der Entscheidungsoptionen doch vereinen lässt. Das Phänomen des Steuerungsproblems und des Mitgerissen-Werdens als Verdeckung praktischer Fragen zu lesen, erlaubt es darüber hinaus eine vermeintliche Widersprüchlichkeit in Simmels Beschreibungen der Tragödie aufzuklären. Einerseits hebt Simmel die Dynamiken der objektiven Kultur hervor, die die Individuen erfasst, das Leben in sie »hineinreißt« (ebd.), während andererseits die objektive Kultur gleichzeitig dazu tendiere, die subjektiv-seelische »Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen« (ebd.: 391). Kommen Eigendynamik und Erstarrung, wie Jaeggi gezeigt hat, aber darin überein, praktische Fragen verdecken zu können, löst sich der vermeintliche Widerspruch auf. Was erstarrt und sich einschränkt, sind die Bahnen, in denen das Leben verläuft, die Möglichkeiten, die dem Leben offenstehen. Innerhalb dieser Bahnen
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kann das Leben dynamisch sein, aber in einer Form des Getrieben-Werdens, sodass es nicht von einem selbst geführt wird. Unser Beispiel wirft aber noch weitere Fragen auf. Wer sagt denn, dass dieses vermeintliche Verrennen in etwas nicht das ist, worin ich meine Erfüllung finde? Und ist es nicht oft so, dass wir uns in einer solchen Lage ganz besonders mit dem identifizieren, was wir tun? Hierzu seien zwei vorläufige Anmerkungen gemacht. Erstens: Was das Phänomen für Simmel problematisch werden lässt, ist, dass ein solcher Weg uns »oft genug nicht zu der Vollendung« der »Totalität« führt, auf die unsere »eigenen Möglichkeiten« (ebd.: 403) je weisen. Simmels Redeweise deutet hier auf eindeutig bestimmte Ziele unserer Lebenswege hin. Folgen wir dem falschen Weg, gelangen wir nicht an unser Ziel, an das Ziel, das in diesem Fall wir selbst sind. In eigentliche Rede übersetzt bedeutet dies, dass eine essentialistische Vorstellung des Selbst besteht, die wir eben erreichen oder verfehlen können. Ist ein solches problematisches Verständnis von Entfremdung damit bei Simmel impliziert? Die räumliche Metapher von Weg und Wegziel stößt hier offensichtlich an ihre Grenzen. Wie Richtungen und Wege falsch und entfremdend sein können, ohne dabei ein essentialistisches Selbstkonzept vorauszusetzen, wird die Klärung der weiteren Entfremdungsphänomene aufzeigen. Zweitens: Was es heißt, sich (gelingend) mit etwas zu identifizieren? – Das ist eine der zentralen Fragen in Jaeggis Diskussion des Entfremdungsbegriffs und wird uns noch eingehender beschäftigen. An dieser Stelle gilt es jedoch bereits festzuhalten: Nicht jedes Aufgehen-in-der-Sache bedeutet eine Identifikation, in der ich mich selbst ›finde‹. Die Weise, sich selbst »in den schematisierten Zweck-Mittel-Verhältnissen [zu] ›verlieren‹«, belegt Andreas Luckner (2005: 20) mit dem heideggerschen Begriff der »Uneigentlichkeit«. Analog zu Jaeggis Beschreibung meint Uneigentlichkeit eine Weise, sein Leben zu führen, zu agieren und zu denken, »aber eben uneigentlich, d.h. nicht so, dass man hierbei sich selbst ins Spiel bringt« (ebd.). Das Leben ist auch hier eines, das im strengen Sinne kein eigenes ist. Während aber Jaeggis Beschreibung des Entfremdungsphänomens den Ausgang davon nimmt, dass man das eigene Leben als fremd empfindet, also bemerkt, dass hier irgendetwas nicht stimmt, kann Uneigentlichkeit völlig stillschweigend verlaufen (vgl. ebd.: 21). Muss ich mich, und dies konkretisiert die oben gestellte Frage zu unserem Beispiel, entfremdet fühlen, um entfremdet zu sein? Oder kann Entfremdung von mir unbemerkt eintreten? Während die Phänomenbeschreibungen in Der Begriff und die Tragödie der Kultur häufig eine Art von Leiden umfassen – bspw. die Rede davon, »Träger des Zwanges« (Simmel BuTK: 411) eigenlogischer Prozesse zu werden – und damit auf ein Erleben von Fremdheit hindeuten, verweisen die Lebensanschauungen darauf, dass Entfremdung jenseits eines subjektiven Bewusstseins dafür möglich ist (vgl. Simmel LA: 408). Insofern praktische Fragen verdeckt sein können, ohne dass dies vom jeweiligen Subjekt bemerkt wird – aber dies durchaus von anderen Personen gesehen werden kann, wie ich noch zeigen möchte (siehe Kapitel 3.5.3 und 3.5.4) – und hiermit Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit und damit der Subjektstatus untergraben sein können, erscheint es mir als sinnvoll, auch ohne ein subjektives Bewusstsein dafür von Entfremdung als Form von Freiheitsverlust zu sprechen. Aus einem solchen Zustand der fehlenden Präsenz im eigenen Leben ›aufzuwachen‹ und sich selbst als uneigentlich wahrzunehmen, kann, wie Luckner (2005: 21) herausstellt, nochmal eine andere, eigene Form von Entfremdung hervorrufen, die auch
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in Jaeggis viertem, noch folgenden Beispiel (3.4.4) diskutiert wird. Zuvor jedoch gilt es, sich anderen Entfremdungsphänomenen zuzuwenden.
3.4.2 »Eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet«: Aneignung von Eigenschaften und Rollen Jaeggis zweite Behandlung von (Selbst)Entfremdung widmet sich dem Rollenverhalten. Inwiefern kann man von sich entfremdet sein, wenn man eine bestimmte soziale Rolle einnimmt? Uns mögen unmittelbar Erlebnisse in den Sinn kommen, in denen uns unser eigenes oder das Rollenverhalten anderer Menschen wie schlecht geschauspielert erschien. Wir mögen unser eigenes Verhalten oder das der anderen als künstlich und unecht empfunden haben. Und es sind genau solche Beispiele, an denen Jaeggi (2005: 92) ihre Untersuchung beginnt. Insofern der zu entwickelnde Entfremdungsbegriff ohne Bezug auf ein essentialistisches Selbstkonzept auskommen soll, verwirft Jaeggi einleitend populäre Deutungen, wonach ein ›wahres Selbst‹ hinter sozial eingenommenen Rollen existiere. Entfremdung bestünde diesen Deutungen zufolge darin, dass dieses ›wahre Selbst‹ durch eine Rolle wie durch eine angelegte Maske verdeckt werde. Ließen wir die Maske fallen, treten also aus der Rolle heraus, kämen wir wirklich und wahrhaft zum Vorschein. Von dem enthaltenen Essentialismus einmal abgesehen, offenbaren solche Vorstellungen ein viel zu vereinfachtes und enges Bild sozialer Rollen. Denn wo stehen wir wirklich jenseits einer sozialen Rolle? Schließlich ist nicht nur das berufliche oder öffentliche Feld durch Rollen bestimmt, sondern auch der private Bereich, bspw. freundschaftliche und familiäre Interaktionen. Und selbst wenn wir uns isoliert von allen anderen im privaten Raum vorstellen, warum sollte gerade dort, wo wir nicht mehr mit anderen interagieren können, das wahre Selbst hervortreten? (Vgl. ebd.: 96–100) Statt einer solchen falschen »Dichotomie zwischen Selbst und Rolle« (ebd.: 100) folgt Jaeggis Untersuchung – übrigens unter Bezugnahme auf Simmel! – einem Ansatz, der soziale Rollen als konstitutiv für die Herausbildung eines Ich bzw. Selbst begreift. Die eingenommenen sozialen Rollen sind in diesem Verständnis die Form der Vermittlung, in der wir anderen, aber auch uns selbst, erst zugänglich werden (vgl. ebd. 101–105). In diesem Bildungsprozess ist Rollen jedoch eine »konstitutive Zwiespältigkeit« (ebd.: 105) eigen, nämlich dergestalt, dass sie den Prozess ermöglichen, aber auch behindern und einschränken (können). Entscheidend ist deshalb für Jaeggi nicht das Ob, sondern die Art und Weise des Rollenverhaltens, sprich: die Aneignung der Rolle. Entfremdend ist Rollenverhalten dann, wenn es sich in einer Weise vollzieht, die diese Ausbildung eines Selbst stört – während sich »in nichtentfremdetem oder authentischem Verhalten zu und in den Rollen« das Selbst überhaupt erst »bilden und zeigen kann« (ebd.). Basierend auf der Art ihrer sozialen Konstruiertheit sind Rollen dem Individuum jeher vorgängig. Sie präsentieren sich als vorgefertigtes Skript, verbunden mit Erwartungshaltungen an Verhalten und Kompetenzen der sie ausfüllenden Person. Die Rolle bietet eine »feste Form, mit deren Hilfe wir ›uns‹ allererst ausdrücken« (ebd.: 110) und verstanden werden können, beinhaltet aber, hinsichtlich dessen, was als rolleninadäquat gilt, auch Einschränkungen unserer Verhaltensmöglichkeiten. Trotz dieser Festlegungen bleiben Rollenskripte in dem Sinne unvollständig, dass sie keine durchgehende Bestimmung des Rollenverhaltens bieten. Gemäß der Einsicht, dass eine Regel nicht ihre eigene Anwendung de-
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terminiert bzw. der Dialektik von Schema und Vollzug, ist jede Übernahme einer Rolle eine Interpretation und »Modifikation« (ebd.: 112 [Herv. i.O.]) derselben.17 Um diese Spielräume, die eine Rolle jeweils bietet, nutzen zu können, sie sich produktiv zu eigen machen zu können, bedarf es einer Distanz zur eingenommenen Rolle (vgl. ebd.: 111–113). Diese Distanz ermöglicht es, sich als jemanden zu verstehen, der diese Rolle auf eine spezifische Art ausübt und eigenständig ausgestaltet. Entfremdung im Rollenverhalten zeichnet sich für Jaeggi im Verlust dieser Form von Rollendistanz aus. Sie äußert sich in einem »überkonventionell[en] oder ritualisiert[en]« Agieren in der Rolle, einer »Überanpassung« (ebd.: 113), die nach außen hin seltsam »maskenhaft« oder »künstlich« (ebd.: 92) erscheint. Gerade der Eindruck der Künstlichkeit entstehe durch die Vorstellung einer Person mit der eingenommenen Rolle – gewissermaßen distanzlos – »identisch zu sein«, womit gerade der »Spielcharakter« verloren geht, der sich eben daraus ergibt, dass Rollen keine »essentiellen Eigenschaften« (ebd.: 118) einer Person sind, man nicht auf sie festgelegt ist. Die Metapher des Spiels ist für die Charakterisierung der Rollendistanz aufschlussreich: Als erstes Kriterium für die erfolgreiche Aneignung nennt Jaeggi das Interesse an der eingenommenen Rolle, also einen gewissen Grad, mit dem sich die Person »in die Anforderungen einer Rolle verwickelt« (ebd.: 119 [Herv. i.O]). Wie in einem Spiel kann die erfolgreiche Aneignung bedeuten, sich zumindest zeitweise »in einer konzentrierten Tätigkeit gleichsam selbst [zu] vergessen«, ohne jedoch, dass hierdurch »Rollenverhältnisse als solche zum Verschwinden gebracht würden« (ebd.). Als zweits Kriterium führt Jaeggi den Grad der Identifikation mit der Rolle ein, inwiefern das »Individuum ›sich‹ in seiner Rolle ›findet‹ bzw. die Rollenerfüllung als Teil seiner Persönlichkeit auffasst« (ebd.). Der Gegensatz zur Identifikation wäre ein rein instrumentelles Rollenverhältnis, das sich einerseits in einer übergroßen Distanz und Gleichgültigkeit gegenüber der Rolle (die mit ihren Anforderungen dennoch ausgefüllt wird!) ausdrücken kann, aber andererseits auch in einer Art von »Überengagement oder Überidentifikation«, einer »Starrheit« (ebd.: 120) im Handeln und Verhalten, das nur darauf zielt, die Rolle zu erfüllen, um gewissermaßen zu sein, was man darstellt. Das Verhältnis von Identifikation mit und Distanz zur Rolle erscheint als je beständig auszutarieren. »Authentizität« in den von uns eingenommenen Rollen zu entwickeln, ist darum »ein immer wieder neu sich stellendes Problem« (ebd.: 111). Zu starre und verkrustete Rollenmuster, stark verengte Spielräume und klischeehafte Züge, können erhebliche Hürden bei der Verwirklichung einer authentischen Rollenübernahme markieren (vgl. ebd.). Darüber hinaus sind es aber auch spezifische, mit dem Rollenverhalten einhergehende Interaktionsverhältnisse, die für ein Individuum Spielräume verschließen können. Zwar kann die Festlegung, die wir durch andere in unseren Rollen erfahren, d.h. von intersubjektiven Beziehungen, die spannungs- und konfliktreich sein können, durchbrochen werden, doch sind nach Jaeggi auch Fälle der »Fixierung zu purer und einseitiger Unterwerfung« (ebd.: 109) möglich. Bevor wir auch diese phänomenologische Untersuchung zu Entfremdung auf Simmels Tragödiendiskurs beziehen, sei noch ein weiterer, von Jaeggi behandelter Aspekt 17
Außerdem gibt es selbstverständlich, wie auch Jaeggi anführt, die Möglichkeit der Kritik und bewusster Abweichung von Erwartungen, die jeweils Rollenskripte verändern, erweitern oder aufbrechen können.
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der Entfremdung in Rollenverhalten erwähnt, der sich m.E. ein Stück weit von den anderen Aspekten abhebt, im vorliegenden Zusammenhang aber gleichwohl von Interesse ist. Rollenverhalten betreffe nämlich »immer nur einen bestimmten Ausschnitt aus den Eigenschaften und Potentialen, über die jemand verfügt« (ebd.: 114) und sei in dieser Form auch als Beschränkung der Ausbildung des Selbst mit jeweiligen »Eigenschaften und Kompetenzen« zu bedenken. Anstatt diese Form der Einseitigkeit vor dem Ideal einer vermeintlichen »Ganzheit« respektive einer »allseitig entwickelte Persönlichkeit« zu kritisieren – eine gewisse Einseitigkeit stellt sich für endliche Individuen schließlich als Notwendigkeit dar –, möchte Jaeggi Kriterien wie »Erfahrungsoffenheit«, »Anschlussfähigkeit« und »Beweglichkeit« (ebd.: 115) anlegen. So lasse sich, auch jenseits überzogener Ansprüche, problematisieren, ob den Menschen gegebenenfalls »das, was er tut, in eine Sackgasse führt« (ebd.). Mit John Dewey (1997) unterscheidet Jaeggi jene Erfahrungen, »die einen Zuwachs an weiteren Erfahrungen« (Jaeggi 2005: 116) ermöglichen, von solchen, die künftige Erfahrungsprozesse hemmen oder verhindern. Letzteres wäre bspw. der Fall, wenn Erfahrungen im Zuge einer Rollenausübung unsere Sensitivität verringern oder Gefühllosigkeit hervorrufen. In ihrer Folge wäre also das Feld künftig möglicher Erfahrungen verkleinert. »Problematisch in diesem Sinne sind diejenigen Spezialisierungen und Vereinseitigungen, die es strukturell unmöglich machen, Interessen zu erweitern, zu verändern oder zu verschieben. Prekär sind Rollen, die jemanden so festlegen, dass es für ihn keinen Bewegungsspielraum zwischen verschiedenen Rollen mehr gibt.« (Ebd.) Jaeggi gesteht zu, dass es schwierig sei, jenseits essentialistischer Vorstellungen eines Kerns der Persönlichkeit jeweilige Einschränkungen des Feldes möglicher Erfahrungen, die sich ja schließlich mit jeder Entscheidung und Handlung ergeben, eindeutig als Entfremdung zu bestimmen. Allerdings ließen sich »qualitativ verschiedene Weisen unterscheiden, in denen jemand« (noch) in der Lage ist, »Interessen [zu] verfolgen und Erfahrungen [zu] machen« (ebd.). Schauen wir nach dieser weiteren Analyse von Entfremdung auf Simmels eigene Beschreibung der Tragödienerscheinungen, eröffnen sich neue Einsichten. Zwar thematisiert Simmel soziale Rollen nicht eigens in seinen Schriften zur Tragödie, doch lassen sich einige Ausführungen zu ausgeformten Eigenschaften an Individuen als Produkte von Rollenverhalten lesen. So bspw., wenn Simmel (BuTK: 388) von all den »möglichen Kenntnisse[n], Virtuositäten, Verfeinerungen« spricht, die sich an einem Menschen ausbilden, jedoch trotzdem nur »Hinzufügungen« und seiner »Persönlichkeit« äußerlich bleiben. Weiter heißt es, dass die Auseinandersetzung mit vielerlei objektiv-geistigen Gebilden »uns klüger oder besser, glücklicher oder geschickter« machen können, »damit aber nicht eigentlich uns [entwickeln], sondern sozusagen eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet« (ebd.: 400). Ob diese Entwicklung uns als Person selbst betreffe, also Kultivierung sei, oder die (tendenziell und graduell) entfremdende Ausformungen an uns darstellen, seien »gleitende und unendlich zarte, äußerlich gar nicht faßbare Unterschiede, die sich an das geheimnisvolle Verhältnis zwischen unserer einheitlichen Ganzheit und unseren einzelnen Energien und Perfektionen knüpfen« (ebd.: 400–401). Nun mag die Rede von einem ›geheimnisvollen Verhältnis‹ zwi-
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schen unserer ›Ganzheit‹ und ›einzelnen Energien und Perfektionen‹ schön klingen – und einem lebensphilosophischen Ductus des frühen 20. Jahrhunderts entsprechen –, doch zeigt Jaeggi, dass sich diese Verhältnisse durchaus verständlich ausbuchstabieren lassen. Auch die im Rollenverhalten erworbenen Kompetenzen als ein »habitualisiertes Können« (Hubig 2007b: 155), ein Können also, das uns in ein routiniertes (Rollen-)Verhalten übergegangen ist und Teil einer Rolle ist, bedürfen der Aneignung in dem Sinne, dass wir ein austariertes Verhältnis von Distanz und Identifikation zu ihnen gewinnen. Äußerlich kann sich eine solche misslungene oder defizitäre Aneignung bspw. dadurch bemerkbar machen, dass es affektiert oder hölzern anmutet, als sei es für die ausführende Person eben irgendwie fremd. Tatsächlich deutet Simmel hier sogar eine defizitäre Beziehung an, wenn er davon spricht, dass »jene Diskrepanz« auftrete, sobald die »nach außen gerichtete, von Äußerem genährte Funktion«, also unser habitualisiertes Können, über das wir in und mit der Welt (inter)agieren und das sachlichen, vorgegebenen Standards folgt, sich von ihrer auf uns selbst gehenden Richtung, ihrer Bedeutung für uns »abschnürt« (Simmel BuTK: 401). In all den einzelnen ausgebildeten Merkmalen und Eigenheiten, die uns als Person ausmachen und (für uns und andere) kenntlich werden lassen, gehen wir nach Simmel doch nicht gänzlich auf. An ihrer »Binnenseite« (ebd.), an ihren Beziehungen untereinander, bilden wir uns selbst als Einheit heraus und stehen in einem Verhältnis gewissermaßen über ihnen.18 Das habitualisierte Können gewinnt nur dann »den Charakter unserer Subjektivität« (ebd.), insofern es von uns je geprägt wird, wir mit seinen Spielräumen frei umgehen und wir uns in jeweilige Rollen verwickeln und sie nicht (nur) Mittel zum Zweck sind. Die Unterschiede mögen tatsächlich ›gleitend‹ und ›zart‹ sein, aber eben für eine einfühlsame Beobachterin wahrnehmbar. Mit Jaeggi gesprochen, ist hier die Ausbildung des Selbst in der Rollenausübung gestört. Wir werden uns selbst, aber auch anderen nicht recht zugänglich. Unberührt davon ist die Frage, ob eine solche Kompetenzausübung sachlich-qualitativen Standards genügt und in technischer Hinsicht erfolgreich ist.19 Simmel spricht in diesem Kontext auch von der »Einseitigkeit der Förderung« (ebd.: 400), die wir erfahren. Diese Einseitigkeit bezieht er zwar auf das ›Objektiv-Bleiben‹ der Kompetenzen an uns, doch lässt sie sich, vor allem im Panorama der Tragödie, im Sinne Jaeggis Behandlung von Entfremdung als Verschmälerung des Felds möglicher Erfahrung lesen. Wie auch Jaeggi gebraucht Simmel die Metapher der »Sackgasse«, in der sich Individuen der kulturellen Logik der Objekte folgend verlaufen können, einer »Entleertheit von innerstem und eigenstem Leben« (ebd.: 411). Die Metapher zielt ab auf die Einschränkung von Möglichkeiten, bis hin zur Verunmöglichung eines Fortschreitens in der eingeschlagenen Richtung. Entleert sich nach Simmel unter fortlaufenden Verbrauch der eigenen Kräfte das Leben des Individuums – und erinnern wir uns der Bestimmung von Leben als Mehr-Leben, also dem jeweiligen Überschreiten der
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Dieser Punkt wird sich in der Diskussion des nachfolgenden Beispiels und vor allem in 3.5.3 und 3.5.4 weiter erhellen. Wobei natürlich im Falle von Rollen, deren erfolgreiche Ausübung in einer bestimmten sozialen Interaktionen liegt – man denke an Lehrer:innen, Therapeut:innen und Verkäufer:innen –, hiermit Beeinträchtigungen gegeben sein können.
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Aktualität, seiner Charakteristik als reine Potentialität –, ist dies auch auf die Möglichkeit von (neuen) Erfahrungen zu beziehen. Eine mögliche Variante hiervon formulierte Simmel mit der Gefangenschaft im »Fachfanatismus« (ebd.: 399). Diese »Stillstellung von Erfahrungsprozessen« (Jaeggi 2005: 185) bedeutet dann auch die Verhinderung oder zumindest die Hemmung von Kultivierung.
3.4.3 »Im Schnittpunkt je zweier Kreise«: Innere Entzweiung und Unsicherheit Jaeggis dritter Fall diskutiert das Phänomen der »inneren Entzweiung« (ebd.: 125), sich im eigenen Leben mit Wünschen, Impulsen und Gefühlen konfrontiert zu sehen, die wie »Fremdkörper« (ebd.: 128) in uns erscheinen, die wir zwar unleugbar empfinden, aber als doch nicht recht zu uns gehörig wahrnehmen und von uns weisen. Ihrem Einfluss ausgesetzt zu sein, spaltet uns innerlich, vermittelt uns den Eindruck, »wie von einer ›fremden Macht‹ beherrscht« (ebd.: 125) zu werden. Wir sind »entzweit« und diese Teile stehen »zueinander in keinem sinnvollen oder kohärenten Verhältnis« (ebd.: 126 [Herv. i.O.]). Um hier von einem Fall von Entfremdung sprechen zu können, müssen für Jaeggi bestimmte Merkmale gegeben sein. Zunächst muss es sich um wirklich bedeutungsvolle Empfindungen handeln, solche die auf tief verankerte Vorstellungen und Selbstbilder bezogen sind, sozusagen ins »Zentrum der Persönlichkeit« (ebd.: 127) reichen und dort einen Konflikt verursachen. Weiter darf es sich bei dem Konflikt nicht nur um einen Zeitkonflikt handeln, also, dass man jene Wünsche nicht nur »lediglich nicht gleichzeitig verwirklichen kann« (ebd.: 128). Sie müssen in einem starken, qualitativen Sinne im Widerspruch stehen, »sich gegenseitig ausschließen oder zumindest stark behindern« (ebd.). Ferner – und das ist auch relevant für die hinsichtlich der Tragödie zu diskutierenden Phänomene – geht es für Jaeggi nur um solche Wünsche, gegenüber denen wir uns ablehnend und zurückweisend positionierend, »die wir eigentlich gar nicht wirklich haben« (ebd. [Herv. i.O.]) und nicht als authentisch auffassen. Das grenzt die Selbstentfremdung als innere Entzweiung von der »inneren Ambivalenz« (ebd.) ab. Bei einer solchen inneren Ambivalenz können ebenfalls Wünsche unvereinbar einander gegenüberstehen, doch fühlen wir uns mit beiden verbunden, erkennen sie als unsere eigenen an. Es ist deshalb ein »tragischer Konflikt« (ebd.: 129 [Herv. i.O.]), der sich nach Jaeggi aber durch eine Entscheidung lösen lässt. Bei der inneren Entzweiung jedoch müsse man herausfinden, welcher Wunsch einem wirklich entspricht, was man eigentlich will. Der Konflikt führt also – ein weiteres Merkmal – in das eigene »Selbstverständnis« hinein, stellt es »zur Debatte« (ebd.: 130). Es geht darum, wer man ist und als was man sich versteht – und was eine Entscheidung jeweils aus einem macht. Für das Verständnis des Konflikts als Entfremdung sind diese »reflexiven Bezugnahmen« (ebd.) konstitutiv. Sind hier nämlich Wünsche, Impulse, tiefgreifende Vorstellungen am Werk, die einen beherrschen und »zu einer Person« werden lassen, »die man nicht wirklich ist« (ebd.), handelt es sich um eine Form von Unfreiheit, insofern wir die Authentizität unserer Handlungsmotivationen als notwendige Voraussetzung für einen anspruchsvollen Freiheitsbegriff anerkennen. Um das beschriebene Phänomen von Entfremdung jedoch theoretisch-begrifflich abzusichern, müssen zwei Probleme gelöst werden: Erstens ist zu klären, wie denn Wünsche, Impulse und Vorstellungen, die man ja doch selber hat, fremd sein können. Zweitens braucht es Kriterien, wie ich bestimmen kann, welche Wünsche denn wirklich meine
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eigenen sind, auf welcher Seite des Konflikts ich mich selbst positionieren muss, um mir wirklich selbst zu entsprechen (vgl. ebd.). Die Lösung des ersten Problems ist verhältnismäßig einfach zu haben, wenn man wie Jaeggi auf die von Harry Frankfurt (1988) eingeführte Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung verweist. Ein Wunsch erster Ordnung bezieht sich auf ein Handeln oder einen Zustand in der Welt. Wünsche zweiter Ordnung sind solche, die Bezug auf Wünsche erster Ordnung nehmen, sie sind Stellungnahmen zu unseren empfundenen Wünschen. Ich kann mich in der Weise auf den empfundenen Wunsch erster Ordnung beziehen, jetzt Schokolade zu essen, dass ich ihn ablehne, ihm nicht nachgeben will. In diesem Fall will ich mir einen Wunsch erster Ordnung nicht zu eigen machen und kann mich im Extremfall zu diesen fremd empfinden, mich von ihm entfremdet fühlen (vgl. ebd.: 131–133). Das Vermögen, »Wünsche zweiter Ordnung auszubilden« (ebd.: 133), wird dabei als konstitutiv für das Person-Sein verstanden. Es beinhaltet eine Weise der Selbstdistanzierung, die es ermöglicht, das ›Rohmaterial‹ der spontan, ja unkontrolliert auftretenden Wünsche und Impulse zu formen und sich gerade dadurch mit ihnen in-eins-zusetzen, d.h., zu identifizieren. Das Selbst der Person bildet sich, der Einnahme von Rollen vergleichbar, in Bezug auf etwas anderes heraus – etwas, das wir ›äußerlich vorfinden‹ oder, wie den Impuls, zunächst von uns distanzieren. Gewissermaßen verdoppeln wir uns zunächst, indem wir eine Rolle annehmen oder einen Impuls, der ja doch zu uns gehört, aus uns herausstellen, um uns dann erst wieder zu vereinigen und so zu identifizieren. Die Lösung des zweiten Problems gestaltet sich nun deutlich anspruchsvoller. Denn wie kann ich sicher gehen, dass der Wunsch zweiter Ordnung derjenige ist, der mir »tatsächlich entspricht?« (Ebd.: 135) Kann es nicht auch die erste Ebene, der Bereich des Impulsiven und Triebhaften, sein, auf der sich etwas Wahres meiner Persönlichkeit äußert, und die reflexive Stellungnahme sowie mein entwickeltes Selbstbild auch (Selbst-)Täuschungen und Verfälschungen unterliegen? Die Frage, an deren Beantwortung immerhin die Legitimität hängt, hier von Entfremdung und Freiheitsverlust zu sprechen, scheint in ein Dilemma zu führen. Denn entweder muss man sich auf einen wahren, gegebenen Kern der Persönlichkeit berufen oder auf eine Form der letztgültigen, frei getroffenen Entscheidung. Während die erste Variante offensichtlich in einen problematischen Essentialismus führt, bedeutet die zweite einen Dezisionismus, der aber eigentlich keine Entfremdung, sondern nur Unentschlossenheit (und Selbstverlust als resultierende Möglichkeit aus dieser Unentschlossenheit) kennt (vgl. ebd.: 139–144). Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlicher auf die von Jaeggi ausgewiesene Lösung des Problems jenseits dieser beiden kritisierten Optionen eingehen. In diesem Teilkapitel soll es lediglich darum gehen, Entfremdung als mögliche Freiheitsverlust des Individuums einsichtig zu machen. Die Auseinandersetzung um einen Individuumsund Subjektbegriff, der diese Möglichkeit von Entfremdung aus sich heraus verständlich macht, folgt im anschließenden Kapitel (3.5). So viel sei jedoch angedeutet: Die Identität eines Individuums bildet nach Jaeggi »kein objektives Faktum jenseits der Interpretation«, aber weil Selbstverständnisse damit immer Interpretationen sind, besitzen sie »Grundlagen, denen sie mehr oder weniger gerecht werden können« (ebd.: 154–155). Die Angemessenheit eines Selbstverständnisses bestimmt sich (und stellt sich her!) in einem kritisch-emanzipativen Bezug auf das eigene Leben, auf die eigene
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Geschichte, auf Handlungs- und Verhaltensweisen, Eigenschaften, Prägungen, Projekte und Orientierungen. Das Selbstverständnis, in dem wir deuten, wie wir selbst sind, uns aber gleichzeitig entwerfen, also eine Vorstellung davon entwickeln, wie wir sein wollen, ist ein »inneres Organisationsprinzip«, folgt also einer gewissen Logik darin, unserem Leben »einen Zusammenhang und Sinn« zu verleihen, und ist zumindest »auf Kohärenz ausgerichtet« (ebd.: 153). In diesem Sinne markiert es den Ort, von dem heraus beurteilt wird, ob ein Wunsch, ein Impuls oder Vorstellungen wirklich, also in einem anspruchsvollen Sinne eigene sind. Insofern aber ein Selbstverständnis auch inadäquat sein kann, also bestimmte Kriterien und damit sich selbst verfehlen kann, ist in diesem Urteil auch ein Irren möglich. Jaeggi begreift deshalb »Selbstsein als Selbstzugänglichkeit« (ebd.: 151) und uns selbst entfremdet sind wir umgekehrt dort, wo wir uns selbst unzugänglich sind. Entwickeln wir nun wieder auf Basis von Jaeggis Ausführungen eine Interpretation weiterer im Tragödienaufsatz geschilderten Entfremdungsphänomene, verläuft diese nicht völlig geradlinig. Simmel beschreibt die Konflikte, die sich im Leben des Individuums abspielen, die »harte Reibung« zwischen »den inneren Trieben und Normen der Persönlichkeit« und den sachlichen Lebensinhalten, die anderen »Welten« angehören, einem »räumlichen, zeitlichen, ideellen Außerhalb« (Simmel BuTK: 403–404). Wie ist es um solcherlei Konflikte bestellt und wie entstehen sie? Simmel knüpfte die Kultivierung als Entfaltung der Persönlichkeit an die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Kultur, den objektiven kulturellen Gebilden. Der Kultivierungsprozess drängt den Menschen und kulturelle Inhalte in einer eigenen Form zusammen, nämlich in der Persönlichkeit, in der Form des Ich. Dem Menschen stellt sich mit dieser Form die Aufgabe, diese Inhalte »zu einer eigenen einheitlichen Welt« (ebd.: 403) zu organisieren. Die Ich-Form, in der er »sich zum Objekt, über und gegenüber sich selbst, geworden ist«, sei begleitet von der Vorstellung, dass all die Inhalte des Lebens »in einem Zentrum zusammengehören« und in diesem Zentrum eine »Einheit« (ebd.) bilden. Die sich in der Kultivierung eröffnende Form der Persönlichkeit kennzeichnet sich demnach durch einen Selbstbezug: Der Mensch wird sich selbst Gegenstand, verhält sich, indem er sich als ein Zentrum begreift, zu sich selbst. Und dieser Selbstbezug konstituiert sich in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Welt, die ihrerseits, da wo ihre Inhalte im Kultivierungsprozess angeeignet werden, in einem spezifischen Bezug zur Person vorgestellt wird. Die Weise, diese Bezüge einheitlich und um ein Zentrum herum zu organisieren, die Inhalte zu ordnen, beschreibt Simmel als »Logik der Persönlichkeit« (ebd.: 404). Ohne hier bereits tiefer in die Interpretation einzusteigen, haben wir mit Jaeggis Konzeption des Selbstverständnisses als innerem Organisationsprinzip eine Vorstellung davon, was hier, spezifisch bezogen auf die kulturelle Welt, gemeint ist – und mit diesen Redeweisen ist keineswegs ein essentialistisches Selbstkonzept impliziert. Wie kommt es weiter nun zu einem potentiell entfremdenden Konflikt? Die Inhalte, die sich das Ich aneignet und mit denen es sich – auch das gehört nach Simmel zur Logik der Persönlichkeit! – »solidarisch« fühlt, seien nach wie vor auch »Welten« angehörig und besäßen in diesen »Formen und Zusammenhänge unter sich« (ebd.). »An diesen Inhalten, die das Ich in besonderer Weise gestaltet, ergreifen die äußeren Welten das Ich, um es in sich einzuziehen; indem sie die Inhalte nach ihren Ansprüchen formen, lassen sie jene nicht zur Zentrierung um das Ich kommen.« (Ebd. [Herv. i.O.])
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Wie es zu diesen Ansprüchen kommt und welcher Logik sie folgen, wird Thema des 5. und 6. Kapitels sein. Worum es hier geht, ist, was es bedeutet, gegebenenfalls unter solchen Ansprüchen zu stehen (vgl. hierzu auch Amat 2015: 266–269). Durch die Inhalte seines Lebens stehe der Mensch »unzählige Male im Schnittpunkt je zweier Kreise von objektiven Mächten und Werten, deren jeder ihn mit sich reißen möchte« (Simmel BuTK: 404). Simmel hat diese Konstellation, mit verschiedenen, voneinander unabhängigen Anforderungen konfrontiert zu sein, in seinem Essay über den Henkel ausgedeutet: Im Henkel einer Vase berühren sich zwei Welten. Zum einen die Welt des autonomen Kunstwerks und zum anderen die praktische Welt, in der die Vase als Gebrauchsgegenstand fungiert. Gegenüber der Vase ist der Henkel in die Kunstform einbezogen und soll mit ihr »eine ästhetische Anschauung bilden« (Simmel DH: 279 [Herv. i.O.]). Gleichzeitig erhebt der praktische Umgang mit der Vase Anforderungen an seine Gestaltung: Er soll gut und sicher zu greifen sein, damit sich die Vase bspw. befüllen lässt. Von beiden Seiten werden Ansprüche an die Gestaltung des Henkels gestellt, die gegeneinander völlig gleichgültig sind. »Denn es handelt sich gerade darum, dass die Nützlichkeit und die Schönheit als zwei einander fremde Forderungen an den Henkel herantreten.« (Ebd.: 284 [Herv. i.O.]) Nur allzu oft finde sich der Mensch in der gleichen Lage wie der Henkel wieder. Die Individuen ragen mit ihren Tätigkeiten, sozialen Rollen und ihrem ganzen praktischen Leben in viele solcher Welten hinein und unterstehen in diesen unterschiedlichen, sachlichen Anforderungen. Der Mensch hat, so könnte man sagen, zahlreiche Henkel, an denen er ergriffen und gezerrt werden kann. Es sei Gegenstand der »Lebenskunst« (ebd.: 285), nicht nur solcherlei Forderungen gerecht zu werden, sondern sie aufeinander abzustimmen, zu gestalten, um die eigene Einheit als Person zu wahren (vgl. Simmel DH: 285–286). Wir müssen also erstens, voneinander unabhängige und möglicherweise konfligierende sachliche Forderungen irgendwie in Einklang miteinander bringen, und dabei zweitens der Logik unserer eigenen Persönlichkeit gerecht werden, ein angemessenes Selbstverständnis wahren. Ob dies gelingt oder ob die verschiedenen Anforderungen jene aus uns heraus geforderte Zentrierung brechen, bleibt eine je offene Frage. Eine weitere Frage ist jedoch, ob sich das mögliche Scheitern als Fall von Entfremdung verstehen lässt. Offenbar fallen auch ganz andere Konflikte als jene, auf die Jaeggi abhebt, unter das von Simmel beschriebene Phänomen. Vielerlei unterschiedliche Ansprüche, mit denen wir uns tagtäglich konfrontiert sehen, stellen sich uns ja ›lediglich‹ als Organisationsproblem dar oder bringen uns Zeitkonflikte. Sich diesen zu stellen, mag zur Lebenskunst gehören, aber sind wir von uns selbst entfremdet, wenn wir daran scheitern? Auch verweist Simmels Formulierung, wir fühlten uns mit den Inhalten und so auch mit den Anforderungen ›solidarisch‹, eher auf das, was Jaeggi innere Ambivalenz nennt. Es sind also Konflikte von Wünschen, die einander klar entgegenstehen, aber die wir doch als eigene und nicht als fremd betrachten. Das wäre auch insofern passend, als dass es sich bei diesen Jaeggi zufolge ja um tragische Konflikte handelt. Können tragische Konflikte aber selbstentfremdend sein? Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren. Hierfür greife ich auf Luckners (2005) Ausführungen zum Orientierungsbegriff und seinen Unterscheidungen verschiedener Formen der Desorientierung zurück. Sich zu orientieren definiert Luckner als den Vorgang, »[s]ich (seinem Handeln, seinem Leben) eine Richtung [zu] geben« (Luckner 2005: 9). Zur Selbstorientierung gehört dabei erstens »das (reflexive) Orientierungssubjekt«, zweitens das, woran sich dieses Sub-
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jekt orientiert, eine »Orientierungsinstanz« (bspw. »Werte, Ideale, Vorbilder usw.«) sowie drittens ein bestimmter »Orientierungsbereich«, »sei es nun im engeren Sinne die räumliche Orientierung oder im weiteren, metaphorischen Sinne etwa die Orientierung im Schachspiel, der französischen Literaturgeschichte, dem Aufbau einer Maschine oder eines Kräutergartens oder im Leben überhaupt« (ebd. [Herv. i.O.]).20 Verschiedene Typen von Desorientierung lassen sich nun danach bestimmen, an welcher Stelle dieses Orientierungsbegriffs – Subjekt, Instanz oder Bereich – Irritationen auftreten. Mir geht es hier um die »Desorientierung aufgrund von Unsicherheit« (ebd.: 13), bei der Orientierungsinstanzen und daraus folgend Handlungsziele infrage stehen. Eine solche Form von Desorientierung kann bei einer erforderlichen Entscheidung »dann und nur dann entstehen, wenn zwei verschiedene Orientierungsinstanzen für einen Großteil der Handlungsorientierung zuständig sind und [...] nicht (etwa durch Abwägung) so in ein Verhältnis zueinander gebracht werden können, dass ihr jeweiliger (zumeist zeitlicher) Geltungsbereich gegen den der widerstreitenden Instanz abgegrenzt werden kann« (ebd. 14). Wie bei der inneren Entzweiung liegt auch bei einer Desorientierung aufgrund von Unsicherheit nicht einfach nur ein Organisationsproblem vor. Es fehlt nicht an Wissen, wie man bspw. durch effektiveres Zeitmanagement gegebenenfalls zwei einander entgegenstehende Optionen doch gleichzeitig realisieren könnte. Die Orientierungsinstanzen, die das Subjekt für sich als gültig anerkennt und bejaht, sind in einem qualitativen Sinne miteinander in Konflikt. Es ist dem betreffenden Subjekt in dieser Situation nicht möglich, eine Entscheidung zu treffen, weil dasjenige, »woran wir uns orientieren und was uns in anderen Fällen als Entscheidungskriterium bei einer Abwägung dienlich ist«, infrage steht und damit »seinen Instanzcharakter« (ebd.) verloren hat. Der Entscheidung fehlt ihre Grundlage und das Subjekt wird unfähig, eine »Abwägung durchzuführen, weil ein subjektives Kriterium der Abwägung fehlt« (ebd.). Es weiß schlichtweg nicht, was es tun soll, obwohl ihm die relevanten, äußeren Fakten bekannt sein mögen. Luckner spricht in diesem Fall von einer »Orientierungskrise« (ebd.: 15). »Zögerlichkeit bzw. Unentschlossenheit im Leben und Handeln« sei in einer Orientierungskrise »nicht das Symptom des Problems [...], sondern sie ist das Problem« (ebd.). Dem ist insofern zuzustimmen, als unser Tun, wenn wir ständig unsicher und zögerlich sind, was wir denn wirklich wollen, nur noch einen beschränkten »Handlungscharakter« (ebd.: 14) aufweist. Der Grund, warum der Handlungscharakter unseres Tuns in diesem Fall eingeschränkt ist – nämlich, weil wir Schwierigkeiten haben, eine Entscheidung und Orientierung zu authentifizieren –, weist die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit aber auch als Symptom aus: Nämlich als Symptom dafür, dass wir uns auch in diesem Fall selbst nicht (hinreichend) zugänglich sind. Deutlich wird dies auch in der Lösung, die Luckner für solche Situationen der Desorientierung aufgrund von Unsicherheit sieht. Angezeigt sei eine »Reflexion auf die Wünschbarkeit der Ziele« (ebd.: 15) als
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Die weiteren Elemente des Orientierungsprozesses, die Orientierungsmittel und die Orientierungsfähigkeiten, können an dieser Stelle vernachlässigt werden.
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»einer Klärung des Willens« (ebd.: 16). Bei einer solchen Reflexion, die auch unter Mithilfe anderer, mit denen man sich beratschlagt, vonstattengehen kann, geht es darum, neue Orientierungsinstanzen zu finden oder den Instanzcharakter der bisherigen ›Orientierungspfeiler‹ wiederherzustellen, »wobei die Kriterien hierfür in dem liegen, was der Ratsuchende als konstitutive ›Spielregeln‹ immer schon anerkannt hat« (ebd.). Das bedeutet nun aber nichts anderes, als dass eine Entscheidung durch eine Vertiefung und gegebenenfalls Anpassung des eigenen Selbstverständnisses erreicht wird. Wo dies nicht gelingen will, wo wir uns selbst unzugänglich bleiben, lässt sich sinnvoll von Entfremdung als Form des Freiheitsverlustes sprechen – auch ohne, dass uns ein empfundener Wunsch als Fremdkörper in uns erscheint. Die Vorstellung der Möglichkeit, eine falsche Entscheidung zu treffen, mit der wir uns selbst verfehlen könnten, bietet hier ein ähnlich entfremdendes Potential.21 Was bedeutet dies aber nun für die von Simmel geschilderten Konflikte des Individuums, das sich im Schnittpunkt verschiedener, konfligierender Ansprüche wiederfindet? Selbstentfremdend wird sich eine Lage dann gestalten, wenn sie dazu geneigt ist, das Individuum »abzulenken, zu belasten, ratlos und zwiespältig zu machen« (Simmel BuTK: 415). Die Unsicherheit, die sich in dieser Beschreibung ausdrückt, ist vielleicht weniger jene zugespitzte, die wir am Scheideweg empfinden können,22 sondern eine fortwährende, eine mit der Zögerlichkeit als ständigem Begleiter. Auch sie stellt eine Beeinträchtigung unseres Handlungsvermögens dar, insofern wir uns die eigenen Handlungsmotivationen nicht in ausreichendem Maße aneignen. Und sie markiert eine Selbstblockade, wenn das »fortwährende ›Angeregtsein‹« nicht zu »eigenem Schöpfertum« (ebd.) führt, d.h., nicht in ein Handeln übergeht. Zuletzt ist auch sie ein Symptom der eigenen Unzugänglichkeit. Denn es gelingt uns nicht mehr, unsere Wünsche und die aus ihnen folgenden Entscheidungen aus einem adäquaten Selbstverständnis heraus zu legitimieren und damit affektiv zu bejahen. Der Übergang zum Phänomen der inneren Entzweiung nach Jaeggi ist dabei fließend. Wecken die Ansprüche »Velleitäten« (ebd.: 412) in uns, von denen wir uns nur unzureichend distanzieren können, mögen diese Wünsche tatsächlich unecht, unauthentisch und fremd erscheinen. Simmels Tragödienbeschreibung umfasst an diesem Punkt also eine gewisse Bandbreite an Entfremdungsphänomenen, die darin übereinkommen, dass der Konflikt hier (wenn auch in verschiedenen Abstufungen) fühlbar ist. Wir fühlen, wie hier gegenüber den verschiedenen Anforderungen und Lebensinhalten das Selbstverständnis (als Deutung und Entwurf) bzw. die Logik der
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Wenn gesagt wird, dass sich die Desorientierung aufgrund von Unsicherheit nur mit einer Entscheidung überwinden lasse und »jede Entscheidung besser« sei »als gar keine Entscheidung« (Luckner 2005: 15), ist dies natürlich nur begrenzt richtig. Für das Orientierungssubjekt geht es ja nicht um irgendeine Entscheidung, sondern um die richtige. Auch wenn man sich Fälle vorstellen kann, in denen die Entscheidungs- und Handlungsblockade selbst einen genügend großen Leidensdruck erzeugt, dass gewissermaßen die Entscheidung nicht mehr eine für oder wider eine Orientierungsinstanz ist, sondern die zwischen Handeln und Nicht-Handeln. Freilich ist es auch dann möglich, sich eine Entscheidung nachträglich anzueignen. Wir kennen sicherlich Fälle, in denen wir im Nachhinein froh sind, dies und jenes getan zu haben, vielleicht weil wir auf jemand anderen gehört haben, ohne im Moment von dem Rat und der aus ihm folgenden Entscheidung überzeugt gewesen zu sein. Auch wenn sich diese Form bei Simmel keineswegs ausschließt!
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Persönlichkeit auf dem Spiel steht, die sich aber nur im Umgang und in Bezug auf diese Inhalte und Anforderungen ausbilden können. Das Selbstverständnis und die Logik der Persönlichkeit, dem das Selbstverständnis folgt, sind nichts essentiell Gegebenes und nichts, was jenseits der Bezüge auf die Inhalte besteht. Es ist auch kein falsches Ideal der vollkommenen Harmonie, das Simmel hier an die Bezüge des Lebens zu seinen Inhalten anlegt. Ihre Konflikthaftigkeit ist die Voraussetzung der Form der Persönlichkeit, der »Konflikt« sei, wie Simmel formuliert, »die Schule, in der das Ich sich bildet« (Simmel EPmK-KG: 843). Im Konflikt, der selbst »eine Form der Einheit« (ebd.: 837) darstellt, wird die Einheit der Persönlichkeit und des Ichs fühlbar und gelangt zum Bewusstsein (vgl. ebd.: 843; sieh auch Kapitel 2.2). In Simmels Ausführungen schwingt offensichtlich auch die spezifische Situation des modernen Menschen mit, angesichts unüberblickbarer Möglichkeiten, die ihn in allerlei verschiedene Richtungen drängen, überfordert zu sein. Nun muss diese Situation freilich nicht mit Unsicherheit und Zögerlichkeit einhergehen – jeweilige Personen können auch völlig darin aufgehen, den Ansprüchen zu genügen. Eine Variante, die wie wir oben ausgeführt haben, in eine Form der Entfremdung als Uneigentlichkeit führen kann, innerhalb derer praktische Fragen verdeckt werden. Was es heißt, aus dieser Uneigentlichkeit zu ›erwachen‹ und sich infolgedessen entfremdet zu fühlen, soll nun im nächsten Unterkapitel diskutiert werden.
3.4.4 »Aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll«: Indifferenz und Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit Ich folge in der Darlegung und Interpretation des Phänomens im Wesentlichen wieder Jaeggi und werde sie nur an einigen Stellen um Luckners Ausführungen ergänzen. Jaeggi (2005: 161) diskutiert diese vierte und letzte Form von Entfremdung unter dem Titel »Indifferenz«. Dabei fasst Indifferenz das Phänomen, »die ganze Welt« als »fremd und gleichgültig« (ebd.) zu empfinden. Es ist, als habe man »den Bezug zur Welt« (ebd.) verloren. Man sieht sie nur noch »wie durch eine Wand von Glas«. Die äußere Welt ist weiterhin klar wahrnehmbar, doch fühlt man sich von ihr getrennt, als berührte sie einen nicht mehr. Als wäre alles, was jenseits der Scheibe vor sich geht, schlicht egal. Ihr Beispiel für diese Form von Entfremdung entlehnt Jaeggi, wie auch die zuletzt zitierte Formulierung, dem Roman Perlmanns Schweigen von Pascal Mercier.23 Der Linguistikprofessor Perlmann, Protagonist des Romans, erlebt, wie ihm augenscheinlich anlasslos der Bezug zu seinem Leben als Wissenschaftler, ja zum Leben überhaupt, abhandenkommt. Dinge, die ihm vormals wichtig waren und ihm am Herzen lagen – seine wissenschaftliche Arbeit und eigene Thesen gegenüber anderen zu vertreten und zu verteidigen – erscheinen nun gleichgültig und ihn nicht mehr zu berühren. Nicht, dass sich sein Interessensfokus verschoben hätte und ihn nun andere Dinge begeisterten, nein, die »Welt insgesamt
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Bei Luckner (2005: 18) ist es Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und dessen Protagonist, der Mathematiker Ulrich, der das Muster für die »Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit« abgibt. Diese Art von Desorientierung teilt wesentliche Merkmale mit Jaeggis Beschreibung von Indifferenz. Das eigene Leben ist nur noch »durch Gleichgültigkeit gekennzeichnet, es ist in einer denkbar wenig dramatischen Weise ›alles egal‹« (ebd.: 19).
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ist [...] ins Licht der Indifferenz getaucht und damit unwirklich geworden« (ebd.: 162). Doch »auch er selbst wird sich in diesem Zustand fremd«, der »interessierte[..] Teilnehmer« (ebd.) seines eigenen Lebens, der er vormals war, ist fort. Jaeggi entnimmt diesem literarischen Beispiel drei Merkmale, die es zu einem Fall von Selbstentfremdung machen. Erstens handelt es sich nicht lediglich um einen »Prozess der Selbstveränderung« (ebd. [Herv. i.O.]). Im Verlaufe unseres Lebens verlieren wir häufig das Interesse an Dingen, die uns früher begeisterten. Nur tritt für gewöhnlich an ihre Stelle etwas anderes, ein neues Gebiet, Thema oder eine Person(engruppe). Hier indes gibt es nichts, außer einer »radikale[n] Unverbundenheit« (ebd. [Herv. i.O.]), die sich breitmacht. Zweitens gab es einmal etwas, mit dem sich die Person verbunden gefühlt, mit dem sie sich identifiziert und das sie als Teil ihrer selbst aufgefasst hat.24 Aber dieses Etwas erscheint »auf einmal ›äußerlich‹ und entfernt« (ebd.: 163), die Person hat sich davon ent-fremdet. Drittens – und hierin liegt letztendlich Jaeggis Pointe – bedeutet Indifferenz eine »Selbst-Entfremdung« (ebd. [Herv. i.O.]), weil das Selbst erst durch seine identifizierenden Bezüge auf etwas in der Welt wirklich wird, sich erst als und zu etwas bestimmt. Kann es »Selbstverwirklichung« nur in Bezug auf die Welt geben, in der Verwicklung mit ihr, wird man »sich selbst fremd« genau in dem Maße, in dem einem auch »die äußere Welt fremd wird« (ebd.: 163–164 [Herv. i.O.]). Was heißt es aber, dass einem die ganze Welt fremd geworden ist, als wäre man nicht mehr, wie früher, in sie involviert? Jaeggi bestimmt diese »radikale entfremdende Unverbundenheit« (ebd.: 164) mit der Welt als »eine Beziehung der Beziehungslosigkeit« (ebd.: 166), bei der es sich tatsächlich um eine lediglich defizitäre Beziehung handelt. Sie begründet dies konkret anhand des literarischen Beispiels. Perlmanns Loslösung von der Welt äußert sich in seiner Unfähigkeit, Meinungen und Positionen zu haben, also wertend Stellung zu etwas zu beziehen. Die Fragen, die er sich, mit diesem Phänomen konfrontiert, selbst stellt, enthüllen etwas Wesentliches: »Wie war das damals, als er noch Meinungen hatte? Woher waren sie jeweils gekommen, und warum war die Quelle versiegt? Kann man sich dazu entschließen, etwas zu glauben? Oder sind Meinungen etwas, das einem einfach zustößt?« (Mercier 1997: 85; zitiert nach Jaeggi 2005: 164) Denn tatsächlich sind Meinungen etwas, das man »eben einfach hat« (Jaeggi 2005: 165). Zwar entwickeln, schärfen und verändern wir unsere Meinungen, aber es gibt in dem Sinne – und darauf deutet die irritierende Frage nach dem woher hin – keinen Bereich »ohne Meinungen, von dem man ›eintreten‹ könnte in den Bereich, in dem es diese gibt. [...] Was Mercier hier nämlich ›Meinungen‹ nennt, sind die grundlegenden Orientierungen und Positionierungen, mit denen man sich in der Welt zurechtfindet und anhand derer diese sich einem ordnet. Diese Orientierung gewinnt man aber nur im Vollzug dieses ›sich Zurechtfindens‹ selbst, in gewisser Weise also, indem man es schon tut.« (Ebd.)
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Hierin könnte ein Unterschied in der Beschreibung des Phänomens bei Jaeggi und bei Luckner liegen. Während Luckner Ulrich als jemanden versteht, dessen Leben bis zu seinem ›Erwachen‹ uneigentlich, also ohne gelingende Aneignung verlief, erscheint Perlmann bei Jaeggi als ein Mensch, der in seiner Arbeit präsent war, sie sich wirklich zu eigen machte. Mir erscheinen beide Varianten als mögliche Fälle.
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Es ist damit auch unmittelbar einleuchtend, warum Luckner (2005: 18) diese Form der Entfremdung als eine Art von Desorientierung, nämlich »Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit«, beschreibt: Sie beraubt uns der grundlegenden Möglichkeit, uns überhaupt zu orientieren. Wir sind nicht mehr in der Lage, unserem Leben und Handeln eine Ausrichtung zu geben. Wie kann es aber dazu kommen? Können wir also, um in der letztendlich falschen, aber doch erhellenden räumlichen Metapher zu bleiben, nicht von außen in den Bereich eintreten, in dem es Meinungen gibt, ist es uns doch umgekehrt möglich, aus ihm herauszutreten. Wir können je von unseren eigenen Meinungen, Stellungnahmen und Wertungen absehen und uns selbst und die Welt wie ein unbeteiligter Beobachter damit ›von außen‹ betrachten. Unbeteiligter Beobachter zu werden, bedeutet die Dinge »nicht mehr wichtig nehmen« (Jaeggi 2005: 165), sich also wertend zu positionieren, und dies, solange man reiner Beobachter bleibt, auch nicht mehr zu können. Aus dieser Beobachterperspektive lässt sich keine Meinung, keine Position zu irgendetwas ableiten, weil man von der Bedingung hierfür, nämlich als Teilnehmer in der Welt positioniert zu sein, absieht. Entfremdung im Sinne der Indifferenz würde bedeuten, dieses Absehen damit zu verwechseln, tatsächlich im Sinne der räumlichen Metapher aus der Welt herauszutreten, nun von wo anders – d.h. letztendlich von nirgendwo – auf sie zu blicken und den Weg zurück nicht mehr zu finden. Zur Erfahrung der Indifferenz gehört aber immer das Bewusstsein, dass es doch einmal möglich war, Meinungen und Positionen zu haben, und hierin liegt wahrscheinlich das spezifische Leiden an dieser Form der Entfremdung. Das still verzweifelte ›es war doch einmal möglich‹ verweist dabei auf einen weiteren wesentlichen Punkt: »[D]as praktische Involviertsein, das Umgehen mit Dingen in der Welt, [ist] die primäre (vorgängige) Weise unseres Selbst- und Weltbezugs (der die Möglichkeit einer Distanzierung und Herauslösung erst folgt), [und deshalb] lässt sich der geschilderte Bezugsverlust und die radikale Ablösung der Welt als eine Art von Verkennung verstehen.« (Ebd.: 166 [Herv. i.O.]) Indem wir das Absehen von unserer Verwicklung mit der Welt absolut setzen, verkennen wir unsere ursprüngliche Verwicklung mit der Welt, weil die Möglichkeit dieses Absehens aus unserer Verwicklung folgt. Die theoretische Einsicht, in einer »Beziehung der Beziehungslosigkeit« zu etwas zu stehen, »auf das wir gleichzeitig immer schon bezogen sind« (ebd.), mag demjenigen, der sich entfremdet fühlt, erst einmal wenig helfen. Die Erfahrung wird zunächst weiterhin bestehen, dass die Welt für uns keinen Halt bietet. Beim Versuch, uns mit ihr zu verbinden, scheinen wir immer wieder abzurutschen. Es will nicht mehr gelingen, uns mit der Welt zu verwickeln und ein wirkliches Interesse an ihr zu entwickeln. Jaeggi (ebd.: 167) beschreibt diesen Aspekt der Indifferenz, keine Haltepunkte mehr in der Welt zu haben, als Identifikationsverlust. Dieser Identifikationsverlust, sich mit nichts mehr in der Welt zu identifizieren, ist es auch, der die Indifferenz nicht nur zu einer Entfremdung von der Welt, sondern zur Selbst-Entfremdung macht. Sich mit etwas zu identifizieren ist etwas anderes, als »etwas als etwas (oder jemanden) [zu] identifizieren« (ebd. [Herv. i.O]). Während man im letzteren Fall eine »Art von Vergleich« anstellt und mittels diesem eine »Übereinstimmung« (ebd.: 168) erkennt (das, was ich gerade an
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einer Sache wahrnehme, stimmt mit einer früheren Wahrnehmung an einer bestimmten Sache überein, also handelt es sich wohl um dasselbe oder das gleiche), kann beim Sich-mit-etwas-identifizieren keine solche Übereinstimmung vorliegen. Im übertragenen Sinne könnte man davon sprechen, dass die Übereinstimmung in diesem Fall erst hergestellt wird, indem ich »mich hier mit dem Wohl oder dem Geschick von etwas oder jemanden« (ebd.) verbinde. Mein eigenes Wohlergehen und Geschick hängen nun an der Sache oder der Person, mit der ich mich identifiziere. Wenn es einer Person, mit der ich mich identifiziere, schlecht ergeht, wird es mir auch schlecht gehen, wenn eine Sache Schaden nimmt, mit der ich identifiziere, werde ich das spüren. Jaeggi will darunter aber weder eine Verstrickung in ein Mittel-Zweck-Verhältnis in dem Sinne, dass das Wohlergehen der Person oder Sache mittelhaft zu meinem eigenen führt, noch ein bloßes sympathisierendes Wohlwollen verstanden wissen. Der Identifikationsgegenstand ist vielmehr Teil meiner »Identität oder Selbstverständnisses« (ebd.) geworden. Zu verstehen oder zu beschreiben, wer und wie ich bin, setzt dann notwendig den Bezug auf diese Sache oder Person voraus. Wenn Jaeggi davon spricht, dass dasjenige, mit dem ich mich identifiziere, »konstitutiv für meine Identität« (ebd.: 169) sei, meint sie das in einem vollumfänglichen Sinne. Wir sind unser jeweiliges Selbstverständnis und zu diesem gehören notwendig identifikatorische Bezugnahmen auf andere Personen, Tiere, Gegenstände, Vorstellungen, Projekte und den eigenen Körper. Diese Bezugnahmen mögen graduell und schwankend sein, sich durchaus im Verlauf unseres Lebens verschieben können, aber es gilt: »Ich bin nicht vor oder jenseits, sondern in diesen Identifikationen ›ich selbst‹.« (Ebd.: 171) Daraus folgt ferner: »Das ›Eigene‹ also, das zu ›mir (selbst)‹ gehört, ist nicht irgendwo ›innen‹« (ebd.), so wie das Selbst überhaupt kein ›Inneres‹ ist. Das vielleicht perfide an dieser Art der Entfremdung mag sein, dass wir instinktiv geneigt sind, da wo uns jegliche Orientierung in der Welt verloren geht, tatsächlich zu versuchen, ›in uns‹ zu gehen, um dort etwas zu finden, was uns wahrhaft ausmacht, was uns Sinn und Orientierung (zurück)geben könnte. Doch »›Im Innern‹ lässt sich [...], so die Erfahrung in dieser Form von Desorientiertheit, eigentlich gar nichts finden, eine Erfahrung, die andere als die Erfahrung des Ekels (Sartre) oder des Absurden (Camus) beschrieben haben« (Luckner 2005: 19). Das Selbst, unser Eigentliches, ist »keine fixe Größe mit einer klaren Trennungslinie zwischen Innen und Außen« (Jaeggi 2005: 170). So wie es mit den identifikatorischen Bezugnahmen auf die Welt wächst und sich erweitert, vermag es umgekehrt durch den Verlust dieser zu schrumpfen (vgl. ebd.: 171). Indifferenz gegenüber der Welt ist damit – das ist die ganz klare Folgerung, die sich hieraus ergibt – eine existenzielle Bedrohung für unser Selbst. Hören wir auf, uns mit Projekten, die wir verfolgen, zu identifizieren, beraubt uns dies dem Gefühl, das mit deren Erfolg oder Misserfolg für gewöhnlich einhergeht. Eine solche emotionale Rückmeldung stellt unseren Sinn dafür dar, überhaupt an etwas beteiligt zu sein. Wir rechnen Erfolge und Misserfolge, ja Erlebnisse insgesamt, nicht mehr uns selbst zu, es fühlt sich nicht mehr im vollen Sinne so an, als wären wir es, die sie erleben (vgl. ebd.). Auch unsere Handlungsmöglichkeiten erscheinen uns unwirklich. Selbst wenn ich kognitiv-rational wüsste, welche Möglichkeit zu ergreifen die richtige wäre, fehlt es an ihrem Bezug zu uns selbst. Die Möglichkeiten stehen gewissermaßen nur »›an sich‹ offen; ich begreife mich nicht als denjenigen, für den sie offen sind«, ihre »Ergreifbarkeit« (Luckner 2005: 22) durch mich scheint abhandengekommen zu sein. Die
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Bedrohung durch Indifferenz reicht nach Jaeggi, die sich hier auf ein Argument Frankfurts (1999) beruft, noch über diese Einschränkung des Handlungsvermögens hinaus. Erscheint uns die Welt und alles in ihr gleichgültig, hat dies Einfluss auf »die Entwicklung von Wahrnehmungs- und Unterscheidungsfähigkeiten« (Jaeggi 2005: 175). Ist nichts in der Welt für uns durch Bedeutung oder Relevanz herausgehoben, verflacht sich auch unsere Wahrnehmung der Welt. Unsere Aufmerksamkeit wird nicht mehr auf Differenzen, Eigenheiten und Nuancen, die in der Welt verborgen liegen, gelenkt und selbst »unsere Wahrnehmungsorgane« (ebd.) stumpfen diesen gegenüber ab. Bemerkenswert ist, dass Jaeggi vom Abzug des Interesses an der Welt als »einer Art von Entlebendigung« (ebd.: 174) spricht. Jaeggi resümiert: »Wenn uns an der Welt nichts interessiert, verkümmern wir. Wenn nichts mehr ›einen Unterschied macht‹, verlieren wir unser Unterscheidungsvermögen. Das Selbst als Bestimmtes und in sich Differenziertes, entwickelt sich also in seinen Wahrnehmungsund Unterscheidungsfähigkeiten nur über den Kontakt mit einer differenzierten Welt, in der Dinge bedeutend sind.« (Ebd.: 175) Selbstverwirklichung verliert vor diesem Hintergrund den Charakter eines bloß Optionalen, eines verzichtbaren oder gar überzogenen Luxus. Sich selbst wirklich werden zu lassen, wird, weil man es eben nicht schon immer ist, zur Frage der Selbst-Erhaltung, »in the sense of sustaining not the life ft he organism but the persistence ft he self « (Frankfurt 1999: 89 [Herv. i.O.]). Ein Selbst, eine Person zu sein, beinhaltet dann notwendig, »dass man in seinem Leben Projekte verfolgt oder jedenfalls Ansprüche an sein Leben hat, dass einem also nicht alles gleichgültig ist« (Jaeggi 2005: 172). Auf den ersten Blick scheint Simmel in Der Begriff und die Tragödie der Kultur Indifferenz nicht eigens als Entfremdungsphänomen zu beschreiben. Im Gegenteil erschien uns das Subjekt in der Tragödie von einer Art ›Überengagement‹ in die kulturelle Welt und ihre Ansprüche bedroht. Doch liegen diese beiden Phänomene tatsächlich so weit auseinander? Der Mensch sei konfrontiert mit »einer Unzahl von Kulturelementen [...], die für ihn nicht bedeutungslos sind, aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll; die als Masse etwas Erdrückendes haben« und Gefühle »eigener Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit« (Simmel BuTK: 412) auslösen. Spricht aus dieser Schilderung auch das ›Getriebensein‹, wie wir es in Jaeggis erstem Fallbeispiel kennengelernt haben, erscheint mir hier noch eine weitere Dimension gegeben. Der Weltbezug ist offenbar von einer Ambivalenz gekennzeichnet: Die Dinge sind ›nicht bedeutungslos‹, aber auch ›nicht bedeutungsvoll‹. Das Individuum kann sich von den empfundenen Ansprüchen nicht distanzieren, was ihm, in einem daraus resultierenden Zustand der Überforderung, die wahre Bedeutung der Dinge unmittelbar wieder entgleiten lässt. Alles, so der Eindruck, verschwimmt hier. Es mangelt ihm der Fokus, die Bündelung seines Interesses auf einzelne Dinge, Projekte und (Teil)Bereiche der kulturellen Welt. Für wen alles bedeutungsvoll ist, so ließe sich folgern, für den ist nichts bedeutungsvoll. Der identifikatorische Bezug auf die Welt ist gestört, ohne offenbar gänzlich gebrochen zu sein. Könnten wir es hier mit einer Art Vorstufe zur Indifferenz zu tun haben? In Jaeggis (2005: 162) Beschreibung des Phänomens fiel jedoch die äußere Anlasslosigkeit auf, mit der die Indifferenz ein-
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tritt, also das Fehlen einer Vorstufe.25 Nun handelt es sich bei Jaeggi um ein literarisches Beispiel, dessen Narrativ stets durch die jeweilige Einsicht des oder der Erzähler:in begrenzt ist. Wie aber wird man dann indifferent? Es dürfte kein Zufall sein, dass die Beschreibung des Zustands der Indifferenz, bei der sich Jaeggi auch auf psychoanalytische Literatur beruft, wesentliche Merkmale einer depressiven Symptomatik erfüllt.26 Wichtig hierfür zu verstehen ist, dass Depressionen nicht einfach Gefühle der Niedergeschlagenheit und Traurigkeit bedeuten, sondern vielmehr »the loss of feelings, a big heavy blanket that insulates you from the world yet hurts at the same time« (O’Connor 2010: 27). Depressiv zu sein heißt, die eigenen Gefühle nicht mehr (richtig) wahrzunehmen, frei und unmittelbar zu empfinden zu können (vgl. ebd.: 89). Sich von der Welt isoliert zu erleben, ist eine direkte Folge hiervon: Die depressive Störung des Gefühlshaushalts »drives a wedge between the experience and the feeling. We are aware of what’s happening around us, but we don’t expierience the emotion that we would expect to accompany the event« (ebd.: 32). Wie durch eine Wand von Glas. Dieser Keil, der zwischen Erfahrung und Gefühl getrieben ist, stellt eben jene im obigen Bespiel beschriebene Beeinträchtigung unseres Sinnes dafür dar, überhaupt an etwas beteiligt zu sein. Emotionale Relationen sind essentieller Bestandteil unseres primären Selbstund Weltbezuges, unseres praktischen Involviertseins in die Welt. Ohne einen Zugang zu unseren Gefühlen, werden wir uns schwertun, wertend zur Welt Stellung zu nehmen und so Meinungen und Orientierungen zu entwickeln. »Emotions give us vital information about life. They are signals to us about our values – what feels right and wrong, good and bad.« (Ebd.: 88) Sie sind ein zentrales Hilfsmittel, uns in der Welt zurechtzufinden, und tatsächlich kann ihre Quelle versiegen. Unter der Perspektive der Entfremdungskritik ist also nur folgerichtig, Depressionen als eine Beeinträchtigung unseres Vermögens zu betrachten, uns unser eigenes Leben anzueignen. Umgekehrt kann uns eine psychologische Erklärung von Depressionen27 dabei helfen, die Entstehung bestimmter Formen der (Selbst)Entfremdung zu verstehen – und dadurch den Bezug zu Simmels Tragödienphänomen herzustellen. Richard O’Connor (2010: 32) begreift Depressionen als 25
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In Luckners (2005: 18) Beispiel für die Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit, Musils Mann ohne Eigenschaften, erscheint der Ausdruck »geniales Rennpferd«, den der Protagonist Ulrich in der Zeitung liest, als eine Art Weckrufs, der ihn gewissermaßen aus seiner identifikatorischen Beziehung zur eigenen Arbeit herauskatapultiert. Dieser Weckruf läutet also einen Perspektivwechsel auf das eigene Leben und die Welt ein. Hinreichend erklären, wie dieser Perspektivwechsel aber in einer Verkennung der praktischen Involviertheit in die Welt und das Scheitern neuerlicher identifikatorischer Bezugnahmen endet, kann der Weckruf nicht. Aufschlussreicher ist da sicherlich der Hinweis, es handle sich bei »Sinnfragen« um »schleichende Gifte« (ebd.), die unsere Orientierungen und identifikatorischen Bezüge auflösen. Er zeigt, wie sich unsere Fähigkeit zur Distanznahme gegenüber dem eigenen Leben und der Teilnehmerperspektive verselbstständigen kann. Ich greife an dieser Stelle lediglich einige Aspekte heraus, die für unsere vorliegende Diskussion relevant sind. Entsprechend erhebe ich natürlich keinen Anspruch, ein vollständiges Bild der verschiedenen Erscheinungsformen und Varianten von Depressionen zu bieten. Selbstverständlich existieren in der Psychologie zahlreiche Erklärungsansätze zur Entstehung von Depressionen und nicht zuletzt eine rege Forschungsdiskussion um diese. Es ist mir nicht möglich, an dieser Stelle diese Diskussion auch nur annährend abzubilden. Für meine Zwecke, eine Interpretation der Erscheinungen der Tragödie der Kultur als (Selbst)Entfremdung zu entwickeln, ist dies aber auch nicht notwendig.
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ein Set lebensgeschichtlich entwickelter Fähigkeiten (»skills«), die eine zweckdienliche Adaption in besonderen Stresssituationen darstellen können, anschließend aber nicht mehr ohne weiteres verlernt werden können und deswegen Krankheitswert besitzen: »[T]hey’ve become stuck in our brains.« (Ebd.) Der Verlust des Zugangs zu den eigenen Gefühlen markiert dann den unbewussten-routinemäßigen »effort to avoid feeling« (ebd.: 313). Die Vermeidung eigener Gefühle, also sie zu wahrzunehmen und auszudrücken, kann dort nützlich und sogar erforderlich sein, wo es gilt, angesichts aufwühlender und turbulenter Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und rational zu handeln. Sie kann aber auch eine Selbstschutzstrategie gegenüber einem feindlichen Umfeld sein, das die eigenen Emotionen ausnutzt, um einen anzugreifen oder zu manipulieren (vgl. ebd.: 32). Angesichts unüberwindlicher Hindernisse oder eines unverhältnismäßigen Aufwands kann Frustration und ein folgender emotionaler Rückzug funktional sein, weil sie helfen, »to disengage the commitment and end the cycle« (Nesse 2000:16). Ein solchen befreienden und schützenden Charakter der Indifferenz diskutiert Jaeggi (2005: 173) auch ihrerseits: »Mit dem Rückzug aus der Welt, dem Abziehen von Identifikationen, wird ja sozusagen die ›Angriffsfläche‹ kleiner, auf der das Individuum verletzbar ist.« Jeweils wird jedoch der hieraus resultierende (mögliche) Schaden deutlich gemacht. O’Connors Rede, jene ›Fähigkeiten‹ setzten sich in unseren Gehirnen fest, ist wörtlich zu verstehen: Sie verändern und schädigen unsere Hirnstruktur und -aktivität. Sie verringern damit unsere Sensitivität für positive Erlebnisse und unsere Umwelt, Konzentrations- und Erinnerungsfähigkeit und machen uns anfälliger, erneut mit depressiven Mustern auf Stresssituationen zu reagieren (vgl. O’Connor 2010: 60–61). »We numb ourselves.« (Ebd.: 313) In phänomenologischer Sprache ausgedrückt verkennen wir hiermit unser Involviertsein in der Welt, berauben uns der Fähigkeit, uns zu orientieren und zu handeln, bringen uns selbst – unser Selbst – in existenzielle Gefahr.28 Zurück zu Simmel. Kann uns der Exkurs zum Zusammenhang von Indifferenz und Depressionen respektive (eines) ihrer Entstehungsmuster nun dabei helfen, das angeführte Tragödienphänomen als (Selbst)Entfremdung zu deuten? Wir hatten die Lage des Individuums als eine der Überforderung interpretiert. Es sieht sich einer erdrückenden, nicht zu bewältigenden Masse gegenüber, fühlt sich unzulänglich und hilflos. Desengagement bis hin zur Indifferenz erscheint nun, vor dem Hintergrund unseres Exkurses, als eine verständliche und nichtsdestotrotz gefährliche, weil (selbst)entfremdende Verhaltensweise. Aber gibt es noch weitere Textstellen, die eine solche Lesart stützen? Bereits früh im Tragödienaufsatz schildert Simmel (BuTK: 396) »eine merkwürdige Gleichgültigkeit, ja, Ablehnung« mancher Menschen »einzelnen Sachgehalte[n] der Kultur« gegenüber. In Kapitel 1.1.3 wurde dies als qualitative Überforderung dergestalt beschrieben, dass es Individuen »nicht gelingt«, einen persönlichen Bezug zu jenen Gehalten, »die zu viel und
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Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass alle Menschen, die unter Depressionen leiden, grundsätzlich nicht mehr in der Lage seien, sich zu orientieren und zu handeln, oder gar ihren Subjektstatus verloren hätten. Worum es geht, sind schließlich graduelle Phänomene. Und die Hürden und Schwierigkeiten, die einem Depressionen in der Lebensführung auferlegen können, werden wohl von vielen Betroffenen als gradueller Freiheitsverlust erlebt werden.
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zu ablenkend« seien, herzustellen, sie auf eine Weise in das eigene Leben zu integrieren, die eine »Förderung der Gesamtpersönlichkeit« (ebd.) bedeuten. Die Gehalte sind ›im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll‹. Gleichgültigkeit und Ablehnung sind dann als Aufgeben angesichts einer nicht bewältigbar erscheinenden Herausforderung zu verstehen. Das zweite Phänomen, um das es Simmel an jener Stelle geht, die Verflachung des individuellen Lebens, beinhaltet eine Ambivalenz, die sich vermutlich nicht auflösen lässt. Das Verhältnis von Individuum und objektiver Kultur stellt sich hier als ein nur noch schematisches dar, dem die »innere Verwebung mit dem Sachelement« (ebd. [Herv. i.O.]) ermangle. Während Simmel dieses Phänomen in Der Begriff und die Tragödie der Kultur offenbar »überreife[n] und müde gewordene[n] Epochen« (ebd.) zuordnet, die objektive-kulturelle Formen und Gebilde hervorbringen, denen ein Sachwert fehle, begegnet es uns in der Philosophie des Geldes als Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur (vgl. Simmel PhG: 620–621). In letzterer Beschreibung mangelt es nicht am sachlichen Gehalt der kulturellen Erzeugnisse, sondern an dessen Aneignung durch die Individuen. Tatsächlich ist diese Ambivalenz auch im Tragödienaufsatz selbst auszumachen. Denn es gäbe, heißt es dort, »eine solche Schwäche und Leere der Kultur, daß sie [die Kultur] gar nicht imstande ist, die objektiven Faktoren ihrem Sachgehalt nach in sich einzuziehen« (Simmel BuTK: 396). Bestand doch die Kultivierung darin bestand, sich einen objektiven Sachgehalt anzueignen, in sich einzubeziehen, wäre im vorliegenden Zitat von der subjektiven Kultur die Rede, von dem Zustand und der Verfassung der Individuen. Ihre Schwäche und Leere behindere den Aneignungsprozess. Wollte man »Kultur« davon abweichend hier im Sinne der ›überreifen und müden Epochen‹ lesen hätten wir es mit einem weiteren Kulturbegriff zu tun, der konkrete, historisch entwickelte Kulturen bezeichnet. Ich führe diese Lesart deshalb an, weil sie auf die Möglichkeit von sozio-kulturellen Gegebenheiten verweist, die identifikatorische und sinnstiftende Bezüge zur Welt, wenn vielleicht auch nicht völlig unmöglich machen, doch zumindest erschweren.29 Wesentlich ist für den vorliegenden Kontext die von Simmel beschriebene Folge, die sich sowohl aus der einen wie aus der anderen Lesart ableiten lässt: »[W]o das Leben in sich hohl und sinnlos geworden ist, [...] da ist alle willens- und werdensmögliche Entwicklung [...] nicht mehr imstande, aus dem Sachgehalt von Dingen und Ideen Nahrung und Förderung zu ziehen – wie der erkrankte Körper sich nicht mehr aus den Nahrungsmitteln die Stoffe assimilieren kann, aus denen der gesunde Wachstum und Kräfte gewinnt.« (Ebd.) Ein hohles und sinnloses Leben können wir nun als ein solches auffassen, dem die affektiv-identifikatorischen Bezugnahmen zur Welt abhandengekommen sind, das sich von seinem praktischen Involviertsein in die Welt entfremdet hat. In einem solchen Zustand ist ihm eine Entwicklung als Selbst-Verwirklichung nicht mehr möglich. Denn alle ›Nahrung und Förderung‹, die für eine solche Verwirklichung notwendig sind, können nur aus einer Welt stammen, in die man verwickelt ist und die als in sich differenziert
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Jaeggi (2005: 173) verweist auf Theodor W. Adornos Bemerkungen in der Negativen Dialektik, wonach die Indifferenz im falschen Leben, also in »einer Welt, die im Ganzen als ›falscher Zustand‹ aufgefasst wird«, eine notgedrungene, ambivalente Selbstschutzreaktion sei.
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und bedeutsam erscheint. Der Vergleich zum kranken Körper, der das aus der Welt nicht mehr aufnehmen kann, was er zur Selbsterhaltung braucht, gewinnt mit der Verletzlichkeit der organischen Komponente von Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit und ihrer Bedeutung für die Selbst-Erhaltung ein fundamentum in re. Simmels Tragödie der Kultur beinhaltet also mit der drohenden Bedeutungslosigkeit der Kulturelemente, den Gefühlen von Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit, einhergehenden Haltungen der Gleichgültigkeit und Ablehnung bis hin zur Inhalts- und Sinnlosigkeit des Lebens Phänomene, die als Dynamiken hin zur Entfremdung als Indifferenz gelesen werden können.
3.4.5 Das Eigene im ›eigenen Leben‹ Die umfangreiche Würdigung, die wir hier dem Entfremdungsbegriff haben zukommen lassen, hat sich als fruchtbar erwiesen. Wir konnten einsichtig machen, dass es ohne Bezug auf ein essentialistisches Selbstkonzept möglich ist, (Selbst)Entfremdung als Freiheitsverlust und als Prekär-Werden der Subjektposition zu denken, und hierüber Interpretationen für eine ganze Reihe an Stellen im simmelschen Tragödienaufsatz entwickeln. Die Tragödie umfasst demnach verschiedene Formen der (Selbst)Entfremdung in der Kultur. Sie kann erstens darin bestehen, dass wir bestimmten ideellen Leitfäden folgen, die für uns als notwendig und logisch erscheinen, aber gleichzeitig praktische Fragen unserer Lebensführung verdecken. Wir führen unser Leben nicht eigentlich selbst und haben es in diesem Sinne nicht in der Hand, wohin sich unser Leben und wir uns entwickeln. Es fühlt sich nicht so an, als wäre es wirklich unser eigenes Leben. Auf welche Weisen und auf welchen Anspruch hin diese Leitfäden uns in jeweilige Bahnen ›hineinreißen‹ und lenken, aber auch was es hieße, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen, wird in den späteren Kapiteln diskutiert. Zweitens mögen wir uns selbst zwar nur in der Kultur ›finden‹ respektive als Selbst herausbilden können, doch kann dieser Bildungsprozess der Auseinandersetzung mit sozialen Rollen sowie kulturellen Strukturen und Gebilden gestört werden, sodass wir uns selbst und anderen fremd bleiben. Wenn es uns nicht gelingt, im Handeln ein austariertes Verhältnis von Distanz und Identifikation zu herausgebildeten Merkmalen, Rollen, Haltungen und Kompetenzen zu gewinnen, scheitern wir auch dabei, ihnen »den Charakter unserer Subjektivität« (ebd.: 401 [Herv. O.H.]) zu verleihen. Kann Entfremdung also darin bestehen, kein hinreichendes Selbst auszubilden, kann sie drittens auch dadurch auftreten, dass wir uns selbst angesichts konfligierender Ansprüche unzugänglich sind und uns selbst nicht gerecht werden. Konflikte waren für Simmel »die Schule, in der das Ich sich bildet« (Simmel EpmK-KG: 843), in der es lernt, sich als Bezugszentrum zu begreifen und Lebensinhalte zu organisieren. In diesen (und nur in diesen) Bezügen zur Welt entwickelt das Ich ein Selbstverständnis, wer es ist und wer es sein will, und folgt darin einer eigenen Logik, einer Logik der Persönlichkeit. Sich selbst entfremdet erscheint das Ich dann, wenn es ihm nicht mehr gelingen will, mit jenen Ansprüchen auf Basis eines adäquaten und auf Kohärenz ausgerichteten Selbstverständnisses umzugehen respektive aus einem solchen Selbstverständnis heraus Entscheidungen und Handlungsmotivationen zu authentifizieren. Zuletzt und viertens sind wir uns entfremdet, wenn wir uns selbst und der Welt gegenüber indifferent werden. Es gelingt uns nicht mehr, sei es aus Überforderung oder anderen Gründen her-
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aus, die Dinge in unserem Leben wichtig zu nehmen. In der tragischen Kulturkonstellation waren es die einzelnen Kulturinhalte, die zwar weder völlig bedeutungslos, »aber im tiefsten Grunde auch nicht bedeutungsvoll« (Simmel BuTK: 412) erscheinen. Ohne affektiv-identifikatorische Beziehungen zu jenen Inhalten, kann das Selbst sich in der Welt nicht verwirklichen, ja überhaupt wirklich werden. Es findet keine Nahrung, um zu wachsen und sich zu erhalten, insofern unser Selbst und Selbstverständnis sich in jenen affektiv-identifikatorischen Beziehungen konstituiert. Das jeweilige Welt- und Selbstverhältnis ist in einem solchen Fall defizitär, nämlich rein distanziert ausgestaltet. So können wir uns nichts mehr in der Welt zu eigen, und d.h., in einem qualitativen Sinne zu einem Teil unseres Selbst und unseres Lebens machen. Dies ist aber die Voraussetzung dafür, ein Selbstverständnis zu entwickeln, aus dem heraus man sich orientieren und Stellung zur Welt nehmen kann. Die Entfremdungskritik formuliert also, so ließe sich die Perspektive zusammenfassen, Anforderungen an das Eigene im ›eigenen Leben‹. Sich das eigene Leben und Handeln anzueignen, bedeutet gerade »nicht grenzenlose [individuelle; O.H.] Verfügungsmacht« (Jaeggi 2005: 196) über die eigenen Voraussetzungen, die gegeben wäre, wenn es sich um ein bloßes ›Sich-Ins-Verhältnis-Setzen‹ handeln würde, dessen Möglichkeit aus einem reinen Ich-Begriff abgeleitet wird. Auch handelt es sich nicht um eine ›Herrschaft‹ über sich selbst. Vielmehr geht es um »das Umgehen mit einer Situation[,] [...] der wir darin mehr oder weniger gerecht werden« (ebd.). Ein Begriff von Freiheit, der sich aus einer solchen Entfremdungskritik ableitet, »setzt die qualifizierte Möglichkeit voraus, sich zu etwas bestimmen, sich affektiv-identifizierend auf etwas beziehen und sich dieses aneignen zu können« (ebd.: 237). Dafür reicht es nicht, lediglich »Fremdeinwirkung« und »Manipulation« auszuschließen, weil in dem Fall immer noch nicht die »positive Dimension« (ebd.: 241) des ›Eigenen‹ bestimmt ist. Entsprechend ist das ›eigene Urteil‹, von dem Cassirer spricht, noch nicht als solches qualifiziert, nur weil ein Mensch die entsprechende Subjektstelle im Satz ›X fällt ein Urteil bezüglich Y‹ besetzt. Die Entfremdungskritik verweist uns darauf, dass diese Subjektposition aufgrund zahlreicher Hürden prekär werden kann. Nicht-entfremdetes und freies Handeln in einem bloß reflexiven und spontanen Verhältnis gegenüber dem eigenen Weltverhältnis zu fassen, vereinfacht damit die Problemlage zu stark, da hier sozial-materielle, individuelle und affektive Bedingungen, die solche Verhältnisse ermöglichen oder verhindern, genauso aus dem Blick geraten wie graduelle Abstufungen und die Unabschließbarkeit solcher Aneignungsprozesse. Zwar ist die negative Freiheit einer reflexiven Distanzierung Voraussetzung der qualifizierten Möglichkeit, sich selbst zu etwas zu bestimmen, und zwar durchaus auch in dem Sinne, von dem, wozu man sich bestimmt, auch absehen und Abstand nehmen zu können (vgl. ebd.: 181). Aber die Freiheit reflexiver Distanznahme verbleibt solange abstrakt und bloße Möglichkeit, wie sie sich nicht durch Aneignung der Welt verwirklicht. Zur positiven Freiheit kann sie nur da werden, wo »man in der Welt etwas will« (ebd.: 180), das einem als wertvoll erscheint, und sich selbst und das eigene Wollen aus der Welt heraus versteht. Freiheit im vollen Sinne sowie die Möglichkeit des Freiheitsverlusts sind deshalb nur in einem solchen Bezug von negativer und positiver Freiheit zu denken. Fassen wir noch einmal zusammen: Wir sind nun also bei der Bestimmung des cassirerschen Subjektbegriffs und der mit ihm verbundenen Konzeption von Freiheit auf
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eine Lücke gestoßen. Nach Cassirer versichert sich der der Mensch seiner Freiheit durch die Reflexion auf die je eigenen symbolisch-kulturellen Weltverhältnisse. Diese allein im transzendentalen, reinen Subjekt liegende Möglichkeit, die eine (Selbst)Entfremdung in der Kultur unmöglich erscheinen lässt, bleibt in ihrer Konkretion, ihrer Wirklichwerdung im Individuum als positive Freiheit unterbestimmt. Mit Simmels Kantkritik und Jaeggis Entfremdungsbegriff konnte gezeigt werden, dass das Entfremdungsproblem gerade am individuellen Pol auftritt und dort eine Form des Freiheitsverlusts bedeutet. Wir konnten hier verschiedene Formen von Entfremdung verständlich machen und ihren Bezug zur Tragödie der Kultur herausstellen. Obwohl wir aber nun bereits einige Hinweise darauf erarbeiten konnten, wie ein Subjektbegriff beschaffen sein müsste, der diese Möglichkeit von Entfremdung, des Prekär-Werdens des eigenen Subjektstatus, verständlich macht, steht seine Entwicklung noch aus. Mit der Entwicklung eines solchen Subjektbegriffs, der uns als kritische Instanz für die Beurteilung von kulturellen (Eigen-)Dynamiken und Entwicklungsprozessen dienen kann, möchte ich im nächsten Kapitel anschließen.
3.5 Subjekt mit Leib und Leben In Simmels Untersuchung der tragischen Dynamik der Kultur – und ob man in ihr eine Aktualität für die Technikphilosophie finden kann – kommt es, so meine These, entscheidend darauf an, mit was für einem Subjektbegriff gearbeitet wird. Soll die Rede von der Entfremdung in der Kultur irgendeinen Sinn haben, muss der Subjektbegriff, wie wir im zurückliegenden Unterkapitel gesehen haben, die Möglichkeit von defizitären Selbstund Weltbezügen beinhalten. Mit einem reinen Ich lässt sich diese Möglichkeit nicht hinreichend entwickeln. Der »Maßstab« dafür, ob unsere Selbst- und Weltverhältnisse defizitär respektive als Entfremdung zu begreifen sind, liegt nach Jaeggi »im Gelingen [bzw. Misslingen; O.H.] des Aneignungsprozesses« (ebd.: 184). Aneignungsprozesse bestehen, wie wir herausgearbeitet haben, darin, dem Angeeigneten eine je eigene Formung, Gestaltung und Prägung zukommen zu lassen und sich mit ihm zu identifizieren, es zum Teil des je eigenen Selbstverständnisses zu machen. Wesentlich für Jaeggis Argumentation ist, dass Aneignungsprozesse im doppelten Sinne als konstitutiv aufzufassen sind: Nicht nur das »Angeeignete konstituiert sich im Aneignungsprozess« (ebd.: 57), sondern auch das Selbst bildet sich bildet sich erst in diesem heraus. Insofern der Aneignungsprozess also ein Weltverhältnis darstellt, in dem sich Subjekt und Objekt konstituieren, können wir ihn in Beziehung zu Cassirers systematischer Rekonstruktion des Subjektbegriffs aus dem vielfältig symbolisch-kulturell vermittelten Weltverhältnis setzen (siehe Kapitel 3.2). Ausgehend vom objektivierend-distanzierenden Auseinandersetzen von Subjekt und Welt wurde bei Cassirer die Form des Subjektiven kenntlich durch die Rückwendung auf den »Brennpunkt der Subjektivität« (Cassirer MsF: 7). Neben diese distanzierende Auseinander-Setzung tritt mit der Aneignung eine durchdringend-identifizierende Auseinandersetzung von personalem Selbst und angeeigneter Welt.30 Dieses praktisch-in30
Ihr Verhältnis zueinander ist damit jedoch noch nicht bestimmt, die Rede vom Nebeneinandertreten deswegen provisorisch. Angedeutet war allerdings bereits, dass wir es bei unserem praktisch-
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volvierende Weltverhältnis, das gleichwohl eine Form der Objektivierung darstellt, führt uns zu einem anders ausgestalteten Subjektbegriff.
3.5.1 »Die zweifache Bedeutung der vom Leben gezeugten Inhalte« Bislang habe ich Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich Jaeggis Begriff der Entfremdung und auch das dahinterstehende Subjektverständnis auf Simmels Ausführungen beziehen lässt. Die Frage ist nun aber, ob sich in Simmels Werk ein Subjektbegriff der Form einer durchdringend-identifizierenden Auseinander-Setzung von personalem Selbst und angeeigneter Welt findet. Eine Spur hierfür zeigt sich, wenn Simmel zwei voneinander zu unterscheidende Formen oder Richtungen der Objektivierung beschreibt, von denen die eine sachlich-distanzierend, die andere individuell-aneignend ausgerichtet ist. Die Anregung zu diesen zu unterscheidenden Formen erfährt Simmel durch seine, das eigene Werk durchziehende Auseinandersetzung mit Goethe, die in einer Monographie kulminiert.31 In dieser Monographie diskutiert Simmel u.a. Goethes Form des Individualismus, die er als eine Synthese eines qualitativen und eines formalen Individualismus anpreist (vgl. Simmel Goethe: 151ff.). Die Unterscheidung zwischen diesen zwei Formen des Individualismus diskutiert Simmel bereits 1910 in seinem erst posthum als Text veröffentlichten Vortrag Der Individualismus der modernen Zeit (Simmel IdmZ). Die ältere Form, der formale oder auch numerische Individualismus, habe sich historisch im 18. Jahrhundert herausgebildet, der jüngere, qualitative Individualismus sei hingegen ein Produkt des 19. Jahrhunderts (vgl. Simmel IdmZ: 250–256). Während dem qualitativen Individualismus das »Individuum ein letzter Quellpunkt des Weltgeschehens« und »seinem Wesen als Individuum nach schöpferisch« sei, betrachtet der formale Individualismus das Individuum als »Durchgangspunkt für Mächte und Strömungen überindividueller Provenienz« (Simmel Goethe: 154), namentlich der universell-menschlichen »Spontaneität« (ebd.: 158). Prägnant drückt Simmel letztere Auffassung in Der Individualismus der modernen Zeit aus: »in jeder individuellen Person lebt als ihr Wesentliches« der »allgemeine Mensch« (Simmel IdmZ: 251). Der allgemeine Mensch meint hier nichts anderes als das reine Ich. Wir sehen hier bereits, dass es unter dem Topos Individualismus für Simmel um mehr geht als Fragen des Stils oder ethischer Wertvorstellungen. Die Synthese dieser beiden Auffassungen gelinge Goethe nun »durch die zweifache Bedeutung der vom Leben gezeugten Inhalte« (Simmel Goethe: 154). Die Inhalte lassen sich unter verschiedenen »Kategorien« (ebd.) betrachten, die sie »individuell nach innen, allgemein nach außen« zur Darstellung brächten (ebd.: 159).32 Was ist hiermit gemeint? Unter ›Inhalte‹ sind die menschlich-kulturellen Werke, das ganze Geschaffene der menschlichen Kultur, aber auch alles andere aus dem Leben Hervorgehende, wie Handlungen, Verhalten, Wünsche, Emotionen und Affekte, zusammengefasst. Zeigten diese Inhalte ›nach innen‹, hin zur
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involvierenden Weltverhältnis mit unserem primären und unhintergehbaren Weltbezug zu tun haben. Ich beschränke mich hier auf diese Goethe-Monographie, die erstmals 1912 (datiert allerdings auf 1913) (vgl. GSG 15: 517) und als 3. überarbeitete Fassung 1918 erschien. Simmel beruft sich hier auf den goetheschen Ausspruch wonach die »Phänomene [des geistigen Wesens] ›irrtümlich nach außen, wahrhaft nach innen‹ seien« (Simmel Goethe: 158).
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jeweiligen Person und deren je eigenem Leben, eine Bedeutung, die »schlechthin individuell« (ebd.: 158)33 sei und sich aus diesem individuellen Bezug generiere, fügten sie sich in ihrer »Bedeutung ›nach außen‹ [...] einer sachlichen Ordnung und Deutbarkeit, einem menschheitlichen Gesamtleben ein; und hier nun, ganz andren Wert- und Ordnungskriterien unterstellt, können sie eine prinzipielle Verwandtschaft oder Gleichheit zeigen, die für sie, insoweit sie dem individuellen schöpferischen Leben anliegen, gar nicht in Frage kommen« (ebd.: 159). Die Bedeutung der Inhalte kann nach Simmel also vom individuellen Leben gelöst bzw. abstrahiert in ihrer sachlich-universalen Dimension oder gerade auf das individuelle Leben bezogen verständlich und greifbar, d.h., zum Gegenstand gemacht werden.34 Bevor wir tiefer in die Interpretation dieser Bezogenheitsformen und ihrer medialen Voraussetzung einstiegen, möchte ich klarer herausstellen, dass es sich bei ihnen tatsächlich um verschiedene Formen von Objektivierung handelt. In den Lebensanschauungen begegnet uns die zweifache Bedeutung der Lebensinhalte als »Unterschied zwischen der begrifflich-allgemeinen und der vital-individuellen Anschauungsweise« (Simmel LA: 401). Das ganze vierte Kapitel der Lebensanschauungen, »Das individuelle Gesetz«, lässt sich als eine Kritik – durchaus im kantischen Sinne – der begrifflich-allgemeinen Anschauungsweise als einer bestimmten Form von Objektivierung, nämlich einer »isolierende[n]«, d.h., vom individuellen Leben absehenden, »Objektivierung von Lebensinhalten« (ebd.: 413), lesen. Bei der Bestimmung der Grenzen dieser Objektivierungsform gilt es zu beachten, dass Simmel sie als »mechanistische Denkweise« (ebd.: 373) begreift und damit offensichtlich eine bestimmte Art von Begriffen und daraus folgende Form der Gegenständlichkeit im Sinn hat. Ihre grundsätzliche Berechtigung steht für Simmel außer Frage. Diese Form der Gegenständlichkeit verschaffe den Inhalten »eine für sich sinnvolle, selbstgenugsame Sachlichkeit« und »ermöglicht eine auf anderem Weg vielleicht nicht erreichbare Erkenntnis und spezialistische Bearbeitung wichtiger Gebiete« (ebd.: 413). Es handle sich um »ein garnicht zu überspringendes Stadium der Kulturentwicklung« (ebd.), aber eben um ein Stadium, das andere neben und nach sich anerkennen muss. Denn die Grenze dieser Form der Objektivierung offenbart sich nach Simmel vor allem dort, wo sie versucht, ein ›Sollen‹ zu bestimmen, also Inhalte vorgibt, die getan werden sollen, also dem Leben eine inhaltlich bestimmte Ausrichtung verleiht. Simmel geht es dabei nicht allein um ein ethisch-moralisch verstandenes ›Sollen‹, sondern vielmehr um die Form, in der Inhalte als Ansprüche und als normativ – oder eben als ›Gesolltes‹ – erlebt werden. Neben der Moral bieten sich »Hoffnungen, Triebe, eudämonistische und ästhetische Forderungen, religiöse Ideale« in dieser Form dar, aber auch die »Logik als der Norm, nach der wir denken ›sollen‹« (ebd.: 347). Indem die ›begrifflich-allgemeine Anschauungsweise‹ Inhalten eine für sich stehende Gegenständlichkeit verleiht, um sie
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Individuell meint hier die Eigenheit als die Bezogenheit auf das individuelle Leben, nicht unbedingt eine Einzigartigkeit. Und ich bin der Überzeugung, dass dies Simmels Basis für die Unterscheidung zwischen Sach- und Kulturwert bildet.
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in dieser Gestalt untersuchen und allgemeine Gesetze über sie erkennen und aufstellen zu können, hat sie die Inhalte in diesem Vollzug »aus dem individuellen Lebenszusammenhang herausgeschnitten« (ebd.: 382). Diese Loslösung vom individuellen Leben und seinen Zusammenhängen ist für die Aufstellung allgemeiner Gesetze konstitutiv. Anders jedoch als bei naturwissenschaftlichen Gesetzen, die Zusammenhänge und Ereignisverläufe nicht vorschreiben, sondern beschreiben, eröffnet sich bei Gesetzen, die das Leben normieren sollen – und das ist der für Simmel entscheidende Punkt – das Problem, wie diese allgemeinen Gesetze wieder auf das jeweilige, individuelle Leben zurückbezogen werden können. Die Hürde, die Simmel dabei identifiziert, ist folgende: Ein allgemeines Gesetz »bestimmt« stets je »den ganzen Menschen von der transvitalen, transindividuellen Bedeutung« (ebd.: 402 [Herv. i.O.]) eines isolierten Lebensinhalts her, normiert ihn sozusagen aus einer ganz spezifischen Perspektive – während es doch immer der ganze Mensch ist, der handelt, der Normierung entspricht oder nicht entspricht, und auf den das Handeln (bspw. in Gestalt von Strafe, Schuld und sonstiger Folgen) zurückwirkt (vgl. ebd.: 396–399). Mit dieser Diskrepanz zwischen spezifischer, isolierter Perspektive und der Ganzheit des Lebens erhebe sich die Frage des Passens: Inwiefern passt die Normierung auf mich, auf meinen Fall, »ist es denn meine Pflicht, gehört es der objektiv-idealen Gestaltung meines Lebens zu?« (ebd.: 407). Denn wo ein allgemeines Gesetz das individuelle Leben bestimmen soll, habe »zuletzt oder zuerst [...] ich es zu tun, es gehört zu meinem Pflichtenkreis, mein Daseinsbild ist durch sein Vollbringen oder Unterlassen ein wertvolleres oder wertloseres« (ebd.: 405). Worum es Simmel geht, ist die Bezogenheitsform der Normierung als sowohl das Verbindende als auch Bindende zum individuellen Leben. Die ›vital-individuelle Anschauungsweise‹ ist nun jene, die eine andere Objektivierung der Lebensinhalte ermögliche, diese Inhalte nämlich »als Szene oder Pulsschlag des Gesamtlebens« (ebd.: 382), sprich: in ihrer Verbundenheit mit und »Zugehörigkeit« (ebd.: 403) zum jeweiligen individuellen Leben, zum Gegenstand macht. Das individuelle Leben meint dabei ein je eigenes, personal geführtes Leben. An anderer Stelle der Lebensanschauungen spricht Simmel von der »Form der Seinheit« des Lebens und zu dieser Seinheit, »zu dem Possessivum gehört ein Besitzer, eine Person« (ebd.: 328), die mit der »Gestaltungskraft ihres Seins und Tuns« (ebd.: 327) in diesem Leben wirke. Nicht zufällig erinnert »Form der Seinheit« an Ullrichs (2012: 82) Formulierung von der »Form der Ichheit« (siehe Kapitel 3.2). Mit der »Form der Ichheit« charakterisiert Ullrich die Bezogenheitsform des weltvermitteltenden Erlebnisses bei Cassirer (UB: 132), die trotz der Überwindung der »Kategorie der Persönlichkeit« (Cassirer MsF: 96 [Herv. i.O.]) mitbedacht werden müsse. Während die Bezogenheit bei Cassirer aber gerade nicht mehr als jene zum personalen Leben gedacht wird, geht es Simmel gerade hierum, und im Gegensatz zu Cassirer fließt nach Simmel die Form der Bezogenheit auf das personale Leben bedeutungskonstitutiv in die Gegenstandsform ein. Führte aber der Ausgang der systematischen Rekonstruktion von den symbolischen Formen als Modi der Weltvermittlung zum reinen Ich, bedarf es offensichtlich für Simmel einer anderen (oder weiteren) Vermittlungsform, um einen anderen (nicht-substanzialistischen) Subjektbegriff zu gewinnen. Diese Vermittlungsform respektive das Medium des Weltverhältnisses muss seinerseits individuell verfasst sein, um den individuellen Bezug zu und die individuelle
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Bedeutung von Inhalten verständlich werden zu lassen. Es ist angezeigt, dem Leib diese Funktion zuzuweisen.
3.5.2 Die Leibvermittlung unseres Weltverhältnisses Unter dem Leib verstehen wir »die lebendige Einheit, die sich als Subjektivität erlebt und von anderen als Subjektivität erlebt wird« (Reichold 2004: 195). »Leib« meint begrifflich damit etwas anderes als »Körper«. Kann der menschliche »Körper als Gegenstand mit den Kategorien der Physik vollständig erfasst werden«, gehört die »lebendige Einheit eines Subjekts« (ebd.) einer gänzlich anderen Ebene an. Während der Körper also aus einer Beobachterperspektive drittpersonal analysiert wird, bedeutet leiblich zu existieren ein erstpersonales Teilnahmeverhältnis, eine je schon immer bestehende Identifikation und Position. Der Leib ist deshalb unser »Zentrierungs- und Orientierungsorgan schlechthin« (Wiegerling 2008: 86), lokalisiert uns erstpersonal in der Welt und stellt uns ihr gegenüber. Seiner einzigartigen Beschaffenheit und »einzigartigen Stellung im raumzeitlichen Kontinuum« (Marcuse 1976: 316) entspringt die Individualität des Menschen überhaupt. Aber nicht nur die Individualität des Menschen entspringt der leiblichen Verfassung, sondern auch seine Verletzlichkeit. Anne Reichold (2004) sieht deshalb bereits in der adäquaten begrifflichen Fassung des Leibes die Forderung nach einer Ethik zu seinem Schutz gelegen. Der Leib »ist intrinsischer Träger von Werten, die nicht in einer jenseits der Materialität liegenden Vernunft begründet sind, sondern in der Subjektivität der Leiblichkeit« (Reichold 2004: 194). Eine solche Subjektivität der Leiblichkeit ermöglicht es damit, den individuellen Pol gegenüber einem reinen Ich-Sinn gehaltvoll zu bestimmen. Der Ausgang von der je leiblichen Vermittlung unseres Weltbezuges, vom Leib als »Ursprung von Medialität« (Wiegerling 2008: 77) überhaupt, eröffnet die Möglichkeit, die Relation von Subjekt und Kultur nicht nur vom Allgemeinen, sondern auch vom Besonderen her zu denken und zu beleuchten. Doch müssen wir hier erneut die Frage stellen: Lässt sich bei Simmel, der nach meinem Kenntnistand den Begriff »Leib« nie terminologisch verwendet oder einführt, eine solche leibliche Vermittlung ausmachen? Ein genauer Blick auf Simmels Werk zeigt nicht nur einige Referenzen auf die Leibproblematik, sondern auch, dass es gerade der Weg der leiblichen Vermittlung ist, den Simmel in den Lebensanschauungen als Ausgangspunkt für die Entwicklung der ›vital-individuellen Anschauungsweise‹ nutzt, wenn er hier einen Bereich markiert, der dem idealistischen Grundmotiv eine Grenze stellt (vgl. Simmel LA: 364). Nach diesem Grundmotiv wird gegenständliche Erfahrung durch die kategoriale Formung und begriffliche Bestimmung ermöglicht. Erst der Begriff gibt die Struktur vor, in der ein Ding überhaupt erst ein Ding wird. »Kants Bestimmung: wir erkennten den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung Einheit bewirkt hätten« (ebd.: 363), ist die spezifische gegenstandbezugskonstituierende Leistung des Begriffs. Der Begriff scheint als eine primäre geistige Funktion, die mittels Unterscheidens und Verbindens Elementkomplexe in der Anschauung aussondert, ordnet, sortiert und somit zu einem einheitlichen Ding formt. »Nun besteht allerdings ein Bezirk von Objekten, für den diese Notwendigkeit nicht oder wenigstens nur in abgeschwächter, mit anderen Formungsprinzipien gemischter Art
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gilt. Die organischen Wesen stellen wir uns nicht als solche vor, die ihre Einheit erst durch Aussonderung aus der Kontinuität des Seienden, wie sie nur unter Führung eines Begriffs geschehen kann, finden. Sie haben vielmehr eine objektive, ihnen selbst immanente Einheit, durch ihre eigene Entelechie finden sie ihre formende Begrenzung; sie haben ein Zentrum in sich selbst, das sie der sozusagen gleichgültigen, alles in ein Kontinuum zusammenfassenden Strömung des Gesamtseins enthebt.« (Ebd.: 364 [Herv. O.H]) Simmel grenzt an dieser Stelle die Leistung des Begriffs für die Konstitution der Organismen als einheitlichen Gegenstand der Wahrnehmung ein und stellt ihr ›andere Formungsprinzipien‹ gegenüber respektive bei. Die Formung und Begriffsbildung besitzt beim Organismus zunächst nicht jene »relative Freiheit« darin, »welcher Elementenkomplex uns als ein Objekt gelten soll«, denn hier entstehe »aus seiner [des Organismus] Wirklichkeit sein Begriff«, während beim Unorganischen »umgekehrt durch den Begriff die Einheit sich bildet« (ebd. [Herv. i.O.]). Ohne durch »den Begriff erst seine Bestimmung als dieses bestimmte, d.h. als ein Ding überhaupt« zu erhalten, gebe der »Organismus sich von vornherein als Einheit [...], am ersten und entschiedensten wohl im Bewußtsein der eigenen Persönlichkeit« (ebd.). Umfasst nach dem letzten Zitat die Einheit des Organismus auch die eigene Persönlichkeit und ihr Bewusstsein, geht es Simmel hier offenbar nicht nur um den organischen-körperlichen Aufbau eines Lebewesens, sprich: den Organismus als biologischen Gegenstand. Das Thema scheint vielmehr die organisch-körperlich verfasste Existenz- oder Lebensweise zu sein. Wenn Simmel schreibt, der Organismus sei in seinem »Wesen durch seinen Begriff nicht zu erschöpfen« (ebd.: 364), und wenn der Begriff an dieser Stelle für die begrifflich-allgemeine Anschauungsweise als mechanistischer Denkart steht, verweist uns dies auf die Grenzen der Objektivierung des organischen Wesens in kausalen Kategorien. Darauf deutet auch eine weitere Textstelle in den Lebensanschauungen hin. Im zweiten Kapitel heißt es über den »körperliche[n] Organismus«, dass genau so wenig wie durch die »Zweckmäßigkeit« mit dem »Mechanismus« »sein letztes, eigentlich formendes Wesen« (ebd.: 247) getroffen sei. Beide können nach Simmel offenbar nicht fassen, was es heißt, eine »immanente Einheit« und »ein Zentrum in sich selbst« (ebd.: 364) zu haben. Das organische Wesen wird ursprünglich als Einheit erlebt. Deutlich macht Simmel dies in seiner Abhandlung Vom Wesen des historischen Verstehens. Simmel kritisiert dort die »mechanistische[...] Grundanschauung« (Simmel VWhV: 178) und ihre »unglückselige[...] Zerreißung des Menschen in Körper und Seele, die den Körper für sich einer angeblich nur physisch-äußerlichen konkreten Wahrnehmung ausliefert« (ebd.: 157). Denn auf Basis der physisch-äußerlichen Wahrnehmung allein sei nicht erklärlich, wie man einen anderen Menschen (oder ggf. ein Tier) als mit einem Bewusstsein und einem ›Innenleben‹ ausgestattet begreifen könne. Die Wahrnehmungskonzeption der mechanistischen Grundanschauung zerschneide aber »das Phänomen des anderen Menschen in Körper und Seele« und müsse »dann wieder eine Brücke zwischen sie [Körper und Seele] bauen, um die Einheit, die wir von vornherein haben, jetzt noch nachträglich zusammenzuflicken« (ebd.: 161). All jene Ansätze, die bspw. eine »assoziativ vermittelte[...] Hineinverlegung der subjektiven Innenerfahrung in den anderen« (ebd.) bemühen, scheitern aber daran, uns die Form des Erlebens des anderen leben-
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digen Wesens begreifbar zu machen. Simmel ist deshalb »überzeugt, daß wir den ganzen Menschen wahrnehmen und erst in einer nachträglichen Abstraktion aus ihr [der Wahrnehmung] die isolierte Körperlichkeit« (ebd.: 157 [Herv. i.O.]). Anhand des Problems des Fremdpsychischen verdeutlicht Simmel also einerseits die ursprünglich wahrgenommene Einheit von Seele und Körper, sprich: des Leibes, und andererseits die Art, wie uns organische Wesen als einheitliche Gegenstände des Erlebens gegeben sind. Erlebe ich einen anderen Menschen, »den unmittelbar als beseelt verstandenen Anderen«, müsse ich »ihm ein Für-sich-Sein zusprechen, wie ich es im Unterschiede zu allen eigentlichen Objekten, nur an meinem eigenen Ich empfinde« (ebd.: 161). Aufschlussreich hierfür ist ferner Simmels Essay Der Bilderrahmen. Die ästhetische Untersuchung hebt die Funktion des Rahmens hervor, die »innere[...] Einheit des Bildes« (Simmel DB: 102) zu versinnlichen, die Einzelheiten des Bildes zu einer Einheit zusammenzuführen und als »Ganzes für sich« (ebd.: 101) gegen anderes (relativ) abzugrenzen und zu distanzieren. Das Werk wird, »jeden seiner Fäden wieder in seinen Mittelpunkt zurückspinnend« (ebd.), in seinen inneren Beziehungen ein »Zentrum« (ebd.: 102). Die Brücke zu unserer vorliegenden Frage schlägt Simmel, wenn er anführt, dass in gleicher Weise der »Körper« als »Rahmen einer Seele« (ebd.: 105) diene. Hat wie der Rahmen beim Kunstwerk für die Seele der Körper eine »zusammenführende Wirkung« (ebd.: 102), die »eine Einheit aus Einzelheiten« (ebd.: 101 [Herv. i.O.]) bildet, verleiht der Körper dem Leben ein Bedeutungs- und Bezugszentrum und somit die Möglichkeit, Lebensinhalte perspektivisch auf sich zu bündeln.35 Die ›eigene Entelechie‹ der organischen Wesen als formende Kraft, wie sie im Zitat aus den Lebensanschauungen oben erwähnt wird, ist demnach nicht biologisch oder im weiteren Sinne als naturwissenschaftliche Begrifflichkeit zu verstehen. Sie ist eine Formung, die nicht die Stufe des Begriffs erreicht und auch nicht vollständig in Begriffe zu überführen ist. Dies ist zu beachten, wenn Simmel zur Entelechie so etwas wie Instinkte und Triebe – mit Kant spricht er hier von »subjektive[n] Triebfeder[n]« (Simmel LA: 294) – zählt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Simmel aber auch der spezifischen Endlichkeit, die dem Organismus durch den Tod und die Grenzen des eigenen Körpers und Wachstums eigen ist, die ihm »von innen her« (ebd.: 297) zeitlich und räumlich eine Grenze geben und wesenhaft zum Leben gehören (vgl. ebd.: 297–300). Die »formgebende Bedeutung des Todes« (ebd.: 299) für unser Lebens- und Weltverhältnis arbeitet Simmel in verschiedener Hinsicht aus. Der Tod sei nicht nur einfach ein Endpunkt, sondern »ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt« und auf jeden seiner »Augenblicke 35
Die Perspektivität der Welt aus Sicht des »lebendige[n] Subjekt[s]« kontrastiert zur physikalischen Anschauungsweise, in der die »Dinge in absoluter Koordination durch den unendlichen Raum hin ausgebreitet [sind], ohne daß ein Punkt besonders betont wäre und ihnen dadurch eine Abgestuftheit der räumlichen Ordnung aufdrängte« (Simmel LA: 266). Die ideellen Kulturwelten, die jeweilige Geistesfunktionen schaffen, haben kein Zentrum, das ihre Perspektive festlegt (vgl. Amat 2015: 262). Mit dem lebendigen Subjekt als organischem Wesen sei dagegen »zunächst ein Zentrum oder Ausgangspunkt gegeben, der das gleichmäßige Nebeneinander der räumlichen Dinge in eine abgestufte oder perspektivische Ordnung um den Kopf des Anschauenden herum überführt. Jetzt gibt es eine als solche akzentuierte Nähe und Ferne, Deutlichkeit und Undeutlichkeit, Verschiebungen und Sprünge, Überschneidungen und Leerheiten, wozu in dem subjektfreien Dasein der Dinge gar keine Analogie besteht.« (Simmel LA: 266)
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vor[wirkt]« (ebd.: 299). Präziser wäre demnach der Begriff Sterblichkeit, soll doch zum Ausdruck kommen, dass das leibliche Leben als »Gesamtzusammenhang [...] auf den Tod angelegt ist« (ebd.: 298). Die Formung des Lebens durch die Sterblichkeit gilt nicht nur in der basalen Weise, dass wir uns durch Anpassung und Handeln selbst »am Leben erhalten« (ebd.: 306), in diesem Sinne je vor dem Tod flüchten und uns das Leben erobern (vgl. ebd.: 307). Die Gewissheit des eigenen Todes bietet uns trotz der Ungewissheit über den jeweiligen Zeitpunkt des Todes einen Rahmen, innerhalb dessen wir handeln und uns orientieren. »Wir halten unsere Pläne und Aktionen, Verpflichtungen und interindividuellen Beziehungen von vornherein – zwar nicht durch bewußte Überlegung, aber instinktiv und traditionell selbstverständlich – in denjenigen Ausmaßen, die innerhalb eines todbegrenzten Lebens proportioniert sind.« (Ebd.: 301) So bilden Tod und Sterblichkeit ein Moment, das den Prozess des Lebens und unsere Aktivität vereint bzw. als Einheit konstituiert (vgl. ebd.: 307 und 311). In unserer Weise zu agieren und interagieren, Aktion und Interaktion zu gestalten, sind wir je (implizit) auf die Endlichkeit unserer Existenz bezogen, auch oder gerade dort, wo wir diese bspw. durch ein Vermächtnis zu überwinden suchen (vgl. ebd.). Und an dieser Stelle tritt für Simmel die wesentliche Bedeutung der eigenen Endlichkeit für die Objektivierung im leiblich vermittelten Weltverhältnis hervor. Denn der Tod, der dem Leben als Prozess, in dem wir je auf etwas bezogen sind, ein Ende bereitet, scheidet dieses etwas, auf das wir bezogen sind, von uns, stellt es uns als Objekt gegenüber. Durch unsere Sterblichkeit erfahren wir »das Leben als etwas Zufälliges, Vergängliches, als etwas, was sozusagen auch anders sein kann. Dadurch erst wird der Gedanke entstanden sein, daß die Inhalte des Lebens ja das Schicksal seines Prozesses nicht zu teilen brauchen; erst so wird man auf die von allem Verfließen und Enden unabhängige, jenseits von Leben und Tod gültige Bedeutung gewisser Inhalte aufmerksam geworden sein. Erst die Erfahrung vom Tode wird jene Verschmelzung, jene Solidarität der Lebensinhalte mit dem Leben gelöst haben. [...] Es muß diese Inhalte erst ideell von sich sondern können, um sich bewußt zu ihnen zu erheben, und es vollbringt dies Sonderung im Hinblick auf den Tod, der zwar den Prozeß des Lebens beenden, aber die Bedeutung seiner Inhalte nicht annullieren kann.« (Ebd.: 309) Die Objektivität des Inhalts und seiner Bedeutung vermittelt sich im Auseinandersetzungsprozess nach Simmel durch die je eigene endliche Existenzform. Die Auseinandersetzung entlässt die im Lebensprozess noch voneinander und von uns ungeschiedenen Inhalte als unabhängige und eigenständige aus sich, so wie das Ich sich ihnen gegenüberstehend herausbildet (vgl. ebd.: 312). Das Ich erfährt sich gegenüber den Inhalten als vergänglich, aber auch als etwas, das in der ursprünglichen Auseinandersetzung mit der Welt ›übrigbleibt‹. Unsere endliche Verfasstheit und unser endliches Vermögen lassen je einen Spalt »zwischen unseren Trieben [...] und den realen Erfüllungen, inneren und äußeren« (ebd.: 309). Bei vollständiger Erfüllung erstürbe der noch triebhafte »Willensakt« und würde lediglich durch einen neuen Impuls abgelöst, jedoch damit nicht zur Herauslösung des Ich »aus dieser Verflechtung mit der Wirklichkeit« (ebd.) beitragen. Erst wo die Wirklichkeit den Willen nicht stillt, wird bewusst, dass das »wollende Ich noch da ist«
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(ebd.: 310) – und es handelt sich, wie Simmel herausstellt, um das »das wollend-persönliche Ich« (Ebd.: 311 [Herv. O.H]). »Das Nein und das Zuwenig der Außenwelt gegenüber unserem Willen läßt ihn über die Berührung mit ihr so hinauswirken, daß das Ich sich daran seiner Unabhängigkeit, vor allem aber der nur aus seinen eigenen Impulsen quellenden Kontinuität bewußt wird.« (Ebd.: 310 [Herv. i.O.]) Werden das organische Wesen und das persönliche Ich ursprünglich als Einheit und inneres Zentrum erlebt, heißt dies nicht – und das haben die letzten Ausführungen gezeigt – dass dieses Erleben als unvermittelt gedacht ist. Es ist Ergebnis des auch leiblich vermittelten Auseinandersetzungsprozesses mit der Welt. Wenngleich es bereits deutlich geworden sein dürfte, dass Simmel tatsächlich implizit ein Konzept der Leiblichkeit und des leiblich vermittelten Weltverhältnisses entwickelt, möchte ich dennoch zwei weitere relevante Punkte anführen. Die beschriebene leiblich-pragmatische Basis unseres Weltverhältnisses findet erstens in Simmels Goethebuch eine wichtige Ergänzung. Dort zitiert Simmel aus einem Brief des Dichters, wonach es, »wenn man von Schriften, wie von Handlungen« spricht, »einer liebevollen Teilnahme« oder »einem gewissen parteiischen Enthusiasmus« bedürfe, denn ohne diese »bleibt so wenig daran, daß es der Rede gar nicht wert ist. Lust, Freude, Theilnahme an den Dingen ist das einzig Reelle, und was wieder Realität hervorbringt, alles andre ist eitel und vereitelt nur.« (Goethe 1887: 96; siehe Simmel Goethe: 233) Aufschlussreich ist die Interpretation, die für diese Äußerung Goethes angeboten wird – Simmel gibt ihr nämlich eine transzendentalphilosophische Wendung: »[W]ie in jenem Kantisch-Schopenhauerischen Satz die Welt gerade dadurch das Objekt für uns ist, daß unser Vorstellen sie erzeugt« (Simmel Goethe: 234), ist es nun die liebevolle Teilnahme, die welt- und objektkonstitutiv erscheint. Sie sei die »Kraft im Subjekt [...], vermöge deren für eben dieses das Dasein überhaupt da ist« und zum »Objekt« (ebd.) werde. Aus diesen Zeilen spricht, in Jaeggis Terminologie übersetzt, die Bedeutung eines affektiven Weltbezugs und die Forderung nach einer teilnehmenden Verwicklung in die Geschicke der Welt. Sei ohne die liebevolle Teilnahme »alles eitel« (ebd.), verweist dies nicht nur auf eine Welt, in der alles nichtig erscheint und nichts gewagt wird, sondern vor allem auf einen defizitären Selbst- und Weltbezug. Zweitens knüpft Simmel ferner das Konzept der Sterblichkeit notwendig an die Frage der Individualität. »Nur das Individuum«, heißt es in den Lebensanschauungen, »stirbt vollständig« (Simmel LA: 328). Sei Materie »als der Zeit nach unvergänglich [...] und schlechthin einzig« vorzustellen, ist die Form als ideelle und geistige »der Zeitdauer überhaupt entrückt« (ebd.) und könne »sich an unendlich vielen Materiestücken realisieren« (ebd.: 329). Sowohl Materie als auch Form seien für sich auf ihre je eigene Art »unzerstörbar« (ebd.). »Zerstörung« könne demnach darin bestehen, »eine Verbundenheit von Stoff und Form« aufzulösen, und »[j]e fester und solidarischer nun diese Verbundenheit war, [...] desto mehr Zerstörung« (ebd.) liege in ihrer Auflösung. Von der völligen Zerstörung und Auslöschung ist deshalb nach Simmel nur das Individuum und das Individuelle bedroht. Denn »[i]ndividuell [...] nennen wir eine Gestaltung, wenn sie sich – metaphorisch ausgedrückt – ein einziges Stück Materie auserwählt hat, um mit ihm eine Wirklichkeit zu bilden, nach deren Zerstörung sie sich in keiner Realisierung mehr herbeiläßt« (ebd.). Individualität wäre in diesem Sinne eine solche Verschmelzung von Form und Materie, dass diese Verschmelzung für die Form die »einzige Möglichkeit
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[bietet], sich zu realisieren« (ebd.: 330), die mit einer Auflösung der Verschmelzung für immer verloren ist. Die hier naheliegende Übertragung auf das menschliche Leben, wonach sich die jeweilige »Persönlichkeitsform« (ebd.) nur an einem bestimmten Körper, d.h., als Leib verwirklichen könne und mit Eintritt des Todes unwiderruflich fort ist, führt Simmel nicht explizit aus, ohne sie aber zu verwerfen. Stattdessen hebt Simmel auf »typische[...] Vorgänge oder Inhalte des Psychischen« (ebd.) ab, durch die die Persönlichkeit »zu sehr mannigfaltigen Gestaltungen gebracht [wird], und zwar in mehr oder weniger enger Verbundenheit zwischen Inhalt und Form« (ebd.). Dieser »Stoff des Lebens«, »von Erkenntnis und Schicksal, von Gefühl und Wille, von Phantasie und Erlebnis« (ebd.), an dem die Persönlichkeitsform hafte und sich verwirkliche, wird in verschiedenen Graden angeeignet und so zu etwas Unvergleichbarem, nur in dieser Verbindung Bestehendem. Simmel knüpft hier offenbar an seine Ausführungen im Essay Der Individualismus der modernen Zeit an. Dort spricht Simmel, die bereits oben diskutierte eingeführte Metapher für den Leib aufgreifend, von der »Aufgabe«, einen je nur dem Einzelnen »vorbehaltenen Rahmen[...]« (Simmel IdmZ: 256) auszufüllen. In diesem Rahmen werde ein »Material« (ebd.), das zwar allen gemeinsam sei, zu etwas geformt, das schlechthin unvergleichlich und mit dem individuellen Leben verbunden sei. Steht der Rahmen, wie dargelegt, für das Bezugs- und Bedeutungszentrum, in dem ein kontingentes historisches Material erscheint, das aneignend zu einer Gestalt geformt und in Bezüge zu einander und zum Rahmen gesetzt wird – sozusagen in den Rahmen gespannt wird – verweist dieser Rahmen ferner auf die raum-zeitliche Stellung des jeweiligen Individuums. Tatsächlich finden wir damit in Simmels Ausführungen die spezifischen, eingangs herausgestellten Aspekte des Leibes: Die organisch-körperliche Existenzweise ist für Simmel nicht in naturwissenschaftlichen Kategorien zu objektivieren. Sie wird vielmehr als unmittelbare lebendige Einheit von Körperlichem und Seelischem an sich und anderen wahrgenommen und erlebt, als jeweilige, eigenständige Subjektivität. Sie erscheint als Bedeutungs- und Bezugszentrum, in dem wir in einem erstpersonalen und affektiven Teilnahmeverhältnis einer Welt gegenübergestellt sind, die als eigenständig und überdauernd erfahren wird. Wir sind in der organisch-körperlichen Existenzweise positioniert und je schon (präreflexiv) auf die Welt ausgerichtet und bezogen. Endlichkeit und Sterblichkeit, die je mit dieser Existenzweise notwendig verknüpft sind, bieten uns im Denken und Handeln einen Orientierungsrahmen. Zuletzt bietet Simmel zumindest implizite Hinweise, dass die Leiblichkeit und die mit ihr gegebene raum-zeitliche Verortung des Individuums Quelle der Individualität selbst ist. Wir können Simmel einen angemessenen, wenn auch nicht terminologisch eingeführten Leibbegriff zusprechen. De facto ergänzt Simmel über diesen eine kantisch transzendentalphilosophisch-idealistische Konzeption unseres Weltverhältnisses um Modi, die sich aus unserer leiblichen Existenz speisen. Es geht um die Berücksichtigung der grundlegenden leiblichenindividuellen Vermittlung von Weltverhältnissen überhaupt. Das leibliche »Leben« sei je schon ein »seelisches Weltverhältnis«, das »sein Apriori [hat] wie das Erkennen, auch wenn es nicht mit derselben begrifflichen Schärfe zu formulieren wäre« (Simmel LA: 322). Und die Sterblichkeit, auf die wir uns hier konzentriert haben, ist nur eine dieser »apriorischen Bestimmungen« (ebd.: 300). Der Geist steht nicht in einem leeren intelligiblen Kosmos, sein Wesen ist vielmehr die produktive Reflexion, die aber auf ir-
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gendein Material angewiesen ist. Cassirer formuliert es als die Funktion des Mythos als grundlegender und erster symbolsicher Form, dem Gefühl aktiv Ausdruck zu verleihen und dem, »was bisher dunkel und undeutlich gefühlt wurde, […] nun eine bestimmte Gestalt an[nehmen zu lassen]« (Cassirer MdS: 60). Aber das Material, jenes ›Dunkle‹, dem der Mythos im Ausdruck eine gegenständlich-bildhafte Gestalt verleiht, wäre unter der Annahme eines »Lebens-Apriori des Subjekts« (Simmel LA: 323) ursprünglich nicht (völlig) gestalt- und strukturlos. Im Übrigen führt auch Jaeggi (2005: 104) an, dass die These der sozialen Konstruktion und Herausbildung des Selbst keineswegs mit der »Möglichkeit einer leiblich oder auch leiblich-triebhaften Grundlage« unvereinbar sei. Jedoch, so ihre Einschränkung, könne sich diese Grundlage nicht »ohne Bezug auf Sozialität (etwa in Form der ›Rolle‹) schon zu einer bestimmten Gestalt« formen, »die es erlauben würde, von einer greifbaren Identität oder Individualität zu sprechen« (ebd.). Ohne den gestaltend-aneignenden Zugriff gibt es hier nichts Erkennbares oder Zugängliches. Hierin liegt nun freilich bereits der provozierte Gegeneinwand, nämlich, dass jene leiblichen Formungskräfte nur im – wie rudimentär auch immer ausgebildeten – Geist zum Bewusstsein gelangen können und hier der entsprechenden Gestaltung und Interpretation durch die symbolischen Formen unterliegen. Wir sind damit erneut, wenn auch auf einer anderen Stufe, beim Verhältnis von Leben und Geist bzw. Natur und Kultur angekommen. Welcher Gehalt und welcher Sinn lässt sich den von Simmel beschriebenen leiblichen Formungskräften hinsichtlich unseres Weltverhältnisses tatsächlich zusprechen, wenn sie doch nur in den geistig-symbolischen Formen zu Bewusstsein kommen und in diesen (weiter) geformt werden? Klaus Wiegerling (2008: 85) spricht in diesem Kontext vom Leib als einer »Limesgestalt«, in der sich »Kultur und Natur artikulieren«, ihrerseits aber »weder ganz erreicht, noch eliminiert werden können«. Der Leib ist jeweils beides. »Im Leib lassen sich kulturelle und naturale Bedingtheit nicht voneinander trennen. Er ist die Einheit, die die Scheidung von Natur und Kultur nicht zulässt. Er ist eine grundlegende anthropologische Kategorie, die den Menschen als mediales Wesen in seiner doppelten Ausbildung als animal medialis und animal mediatum, als vermittelndes und vermitteltes Wesen fasst.« (Ebd.) Auch wenn unsere Weltverhältnisse je immer leiblich vermittelt sind, bedeutet die logische Vorrangigkeit des Leibes als Medium nicht, dass der Leib nicht seinerseits kulturell geprägt ist (vgl. ebd.: 82). »So erfährt der Leib von früh an kulturell bedingte Rhythmisierungen; Zeiten der Nahrungsaufnahme, Ruhezeiten, Bewegungsabläufe, körperliche Haltungen und Sprechrhythmen prägen unsere leibliche Disposition; ebenso kulturell bedingte Präferenzen der Sinnesvermögen.« (Ebd.: 84) Wie wir unseren Leib erfahren und erleben ist folglich »eine kulturell und individualgeschichtlich bedingte Interpretation«, der Leib in diesem Sinne ebenso »kultureller Ausdruck« (ebd.) wie ein Ausdruck der Natur. Am Beispiel der nach Simmel das leiblich vermittelte Weltverhältnis prägenden Sterblichkeit: Der Umgang mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit findet vielerlei kulturelle und individuelle Ausprägungen mit praktischen Auswirkungen – von denen Simmel selbst einige Formen diskutiert (Simmel LA: 313ff.). Gleiches gilt für die mit dem Leib gegebene Verletzlichkeit und das Empfinden von Schmerzen, wie Wiegerling (2008:
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83–84) anführt. Diese Limesstellung des Leibes und der Leiberfahrung setzt seiner naturwissenschaftlichen Erfassung grenzen. Zum einen haben wir bereits angeführt, dass eine rein physikalische Beschreibung den Leib zum Körper reduziert, also gerade das Phänomen, als lebendige Einheit der Subjektivität erlebt zu werden, das Leib-Sein, ausschaltet (vgl. auch ebd.: 77 und 81; siehe auch Cassirer PsF III: 120). Aber auch das Faktum, dass der Leib je kulturell und individuell historisch geprägt ist, entzieht ihn einem »naturalistischen, nur naturwissenschaftlich-quantifizierenden Zugriff« (Wiegerling 2008: 85). Der Leib müsse deshalb nach Wiegerling »mit hermeneutischen Methoden immer wieder aufs Neue erschlossen werden« (ebd.). Der Methode entsprechend, können wir uns dem Leib immer nur annähern, aber ihn nie abschließend erreichen (vgl. ebd.: 77). Simmels Zugriff auf die organischen Wesen, auf den Leib und das Leben als seelisches Weltverhältnis grenzte sich klar von einer naturalistischen Begrifflichkeit ab. Seinen eigenen Weg im Umgang mit dem Problem bezeichnet Simmel als »einen metaphysischen« (Simmel LA: 295). Wie aber gestaltet sich dieser metaphysische Weg? Welches Verständnis von Metaphysik liegt ihm zugrunde? Im zweiten Kapitel der Lebensanschauungen, dem das Zitat entstammt, diskutiert Simmel das Verhältnis des Lebens zu den kulturellen Welten, jenen umfassenden, von den »großen Funktionsarten des Geistes« (ebd.: 238) entwickelten Sinnzusammenhängen. Ohne bereits auf das 5. Kapitel, in dem wir die Logik dieser kulturellen Welten behandeln, vorweggreifen zu wollen, sei folgende Erläuterung gegeben: Die kulturellen Welten (wie Recht, Religion, Kunst, Wissenschaft) folgen je eigenen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, stellen uns die Welt je in anderer objektiver Gestalt gegenüber. Aber auch was in diesem Fall ›uns‹ bedeutet, ist jeweils verschieden, ›wir‹ sind in je verschiedenem Sinne Subjekt. Gemein ist der Entwicklung der kulturellen Welten jedoch die Funktionalisierung der Subjektposition, die tendenzielle Wendung zum Unpersönlichen. So wie in der Rechtsform »Personen Träger von Rechten und Pflichten sind, übrigens aber gänzlicher außer Betracht bleiben« (ebd.: 291), also reine Rechtssubjekte sind, so ist das Erkenntnissubjekt der physikalischen Betrachtung etwas anderes als das leiblich-lebendige Subjekt (vgl. ebd.: 266–267).36 Gleichwohl besteht je ein Bezug des Lebens und seiner Inhalte zu diesen Welten. Die Bestimmung des Lebens durch die kulturellen Welten ist also das offensichtliche Faktum, von dem die Verhältnisbestimmung ausgeht. Simmels leitende Frage hinsichtlich der kulturellen Welten ist die »nach ihrer psychologisch-historischen oder sinnhaftweltanschaulichen Genesis«, nach »der Einheit [...], in der sie [...] vielleicht doch mit dem Leben verwurzelt sind« (ebd.: 244). Das Problem, das in dieser Frage liegt, haben wir nun bereits herausgestellt: Ein ›bloßes Leben‹, im Sinne von un- oder vorgeistigem Leben, als ontologische Basis der Kultur ist nicht erkenntlich und nicht sinnvoll denkbar. Präsentiert sich für Simmel das Leben zwar nicht als ›bloßes Leben‹ (siehe auch Kapitel 2.2), so doch als Limesgestalt im oben erläuterten Verständnis, als eine untrennbare Vermischung von Natur und Kultur. Tatsächlich lassen sich die gesamten Lebensanschauungen als ein Ringen mit dieser Limesgestalt lesen, eben damit, dass das geistige Leben immer noch geistiges Leben ist. Eine »Sinnlosigkeit unserer Verfassung« (ebd.: 294) als leibliche und lebendige Wesen gegenüber den geistig-kulturellen Welten will Simmel nicht 36
Wie sich das leibliche Subjekt zum reinen Erkenntnissubjekt verhält, wird im 9. Kapitel noch genauer untersucht.
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zugestehen. Unsere Verfassung sei mehr als ›bloßes Material‹, sondern zeige sich auf die kulturellen Formen hin angelegt und in einem formenden Eigenbestand. Für Simmel ist es ein nicht-naturalistischer, metaphysischer Lebensbegriff, der an dieser Stelle »das vermittelnde Moment« (ebd.) zu den kulturellen Welten stellt. Dabei ist Simmels Zugang zum Leben jedoch fraglos ein kultureller und zwar in dem Sinne, dass sein Blick auf das Leben durch die kulturellen Welten vermittelt ist. Er blickt von den kulturellen Welten in ihrer »überpsychologischer Ideellität« auf das Leben hin, und was ihm »von jenen aus gesehen« im Leben erscheint, sind »Vorformen« (ebd.: 256 [Herv. O.H.]) dieser Welten und Reiche. Für Simmel bleibt es »immerhin unverkennbar, daß jene Reiche als ganze aus dem gelebten Menschheitsleben kommen, in dessen Unmittelbarkeit sie freilich in einer ganz anderen, sozusagen embryonalen Form auftreten, unter anderen begrifflichen Namen, mit zufälligen und empirischen Veranlassungen entstehend und vergehend. Oder besser ausgedrückt: es vollzieht sich hier dasselbe in der Form des Lebens, was dort in der Form eigenweltlicher Ideellität besteht. Es sind zunächst Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend. Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen.« (Ebd.: 244) Das Leben erscheint hier als Ursprung der sich aus ihm entfaltenden und Eigenbestand gewinnenden kulturellen Welten. In Abgrenzung zu letzteren versteht Simmel die Welt des Lebens als »Ort unserer praktischen Interessiertheit« (ebd.: 240). Mit einem anderen von Simmel geprägten und von Edmund Husserl ausgearbeiteten Begriff könnte man hier auch von der »Lebenswelt« (Simmel Rel: 46) sprechen. Bei der Beschreibung der Gestalt und Struktur dieser Lebenswelt, in der sich unsere kontinuierlich strömende »Lebenspraxis« (Simmel LA: 242) vollzieht, meint Simmel »nicht gut umhin [zu kommen], von vitalen Zweckmäßigkeiten zu sprechen« (ebd.: 245). Gleichzeitig wird Simmel nicht müde zu betonen, dass »der teleologische Gesichtspunkt [...] bloß heuristisch oder symbolisch« (ebd.: 247) sei, nur einen »unzulänglichen« (ebd.: 264) und »vorläufigen [...] Ausdruck für das eigentliche Gesetz des Lebens bietet« (ebd.: 260).37 Der teleologische Gesichtspunkt rechtfertigt sich für Simmel jedoch darin, die Wendung zur Idee gewissermaßen als Kontrastmittel sichtbar zu machen, weil die kulturellen Welten mit dieser Wendung gerade über die teleologische Kategorie hinaustreten. Simmels Verständnis von Teleologie verdient hier dennoch genauere Beachtung. Was hier nämlich gemeint ist, sind feste Koppellungen von Funktionen in organischen Zwecksystemen (»Zweckverwebungen«, ebd.: 245). Die Festigkeit dieser Koppelungen hängt einerseits von der Struktur des Organismus selbst ab – in welchem Maße seine Überlebensfähigkeit von den Koppelungen abhängt – andererseits davon, in welchem Maße das Verhalten des Organismus in die äußere Welt ausgreift und dort mit Unwägbarkeiten konfrontiert ist (vgl. ebd. 247–248). Bewusst Zwecke zu setzen, stellt für Simmel hier zunächst nur eine weitere teleologische Entwicklungsstufe dar, die sich in einer weiteren Lockerung der 37
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle der Lebensanschauungen Simmel die vital-individuelle Anschauungsweise, die Endlichkeit als formendes Prinzip des Lebens und vor allem die These, dass wir organische Lebewesen ursprünglich als Einheit in sich erleben, noch nicht entwickelt hat.
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Funktionskoppelungen ausdrückt (vgl. ebd.: 247 und 249–250). Der Mensch sei deshalb, »relativ aus der Zweckmäßigkeit entlassen, die in der wesentlichen Unwillkürlichkeit und also Zweckmäßigkeit der niedrigen Organismen herrscht«, insofern »seine Zwecksetzung sich am weitesten und unabhängigsten von dem vitalen Automatismus seines Leibes stellt« (ebd.: 248) und gestaltend in die eigene Umwelt eingreift. Erst die Wendung zur Idee ermöglicht es, über die Teleologie hinauszugreifen, über dem Zweck zu stehen – und hierin liegt für Simmel auch die spezifische Freiheit des Menschen (vgl. ebd.: 248–251). Unser leiblich-organisches Sein verankert uns jedoch zumindest im Handeln je in teleologischen Strukturen, aus denen wir, insofern wir nicht reiner Geist sind, nicht gänzlich entkommen (vgl. ebd.: 247–249). In diesem Sinne verweist uns gerade die teleologische Struktur unseres Verhaltens und unserer Praxis auf unsere eigene organische Materialität. Entsprechend folgen die Vorformen der kulturellen Welten nach Simmel in der »Ökonomie des Lebens« (ebd.: 245) einem »materiale[n] Interessenszusammenhang« als »vitale[r] Determination« (ebd.: 256). Ein ›lebenspraktisches Wissen‹ unterliegt bspw. anderen Kriterien und Anforderungen als wissenschaftliches Wissen. Und dennoch sei von der Wissenschaft »aus gesehen« dieses lebenspraktische Wissen »eine Vorform ihrer« (ebd.: 264 [Herv. O.H.]). Nun ist dabei freilich zu beachten, dass der materiale Interessenszusammenhang des Lebens und die von ihm bestimmte Lebenspraxis völlig unterschiedlich ausgestaltet sein können und folglich die Kriterien und Anforderungen an ein lebenspraktisches Wissen je andere sind. Für verschiedene historisch und räumlich verortete Menschen bedeutet ›Leben‹ in diesem Sinne jeweils etwas anderes (vgl. ebd.: 257). Aber dies ist gerade der Punkt, wenn die Entstehung jener Vorformen nach Simmel »zufälligen und empirischen Veranlassungen« (ebd.: 244) unterliegen und das Leben über sie seinen »Charakter« mit seiner »biologischen und religiösen, seelischen und metaphysischen Bedeutung« in die kulturellen Welten »überträgt« (ebd.: 285). Die aus dem Leben entstandenen vor-wissenschaftlichen, vor-künstlerischen, vor-rechtlichen und andere Praktiken und Formen bilden jeweils eine »Achse«, um die herum sich das Leben dreht, und mit dieser Drehung bestimmen die nunmehr eigengesetzlichen Formen »das Leben und seinen Wert von sich aus« (ebd.: 294). Ähnlich wie für Marcuse (1979; siehe Kapitel 1.1.2) sind es nach Simmel lebensweltliche Praktiken, die sich idealisieren und so zu bestimmenden Ideen werden. Legt sich damit eine empirisch fließende Verbindung zwischen Leben und kulturellen Welten offen, warnt Simmel davor, hier lediglich eine »graduelle Steigerung des Vitalvorgangs« (ebd.: 270) zu sehen. Der Umschlag zur Idee sei eine »μετάβασις εἰς ἄλλο γένος« (ebd.: 245), ein Wechsel in ein anderes Gebiet oder eine andere Kategorie. Dieses Andere soll jedoch erst ab dem 5. Kapitel eingehender charakterisiert werden. An dieser Stelle interessiert uns in erster Linie das Leben selbst. Aber was ist für die Bestimmung des Lebens mit all dem gewonnen? Das Leben und die Lebenswelt erscheinen als der Ort, in dem sich verschiedene historische Faktoren, kulturell-gesellschaftliche, individuelle wie auch natürliche, zu einer konfliktträchtigen und spannungsvollen, ja überdeterminierten Einheit vermischen und sich zu Praxisformen bilden. Kenntlich werden jene Formen des Lebens im Spiegel jeweiliger kulturellen Welten, weshalb Simmel seine Rede von den Vorformen als »Vordatierung« (Simmel LA: 275) kennzeichnet. Der Lebensprozess hat etwas hervorgebracht, das retrospektiv als Ursprung eigener kultureller Welten beschreibbar ist und begriff-
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lich expliziert werden kann. Ist der Zugang zum Leben – als etwas, das seinerseits nicht rein kulturell-geistig ist – kulturell vermittelt, ist er doch für Simmel mehr als nur heuristisch. Zu einem metaphysischen Zugang wird er für Simmel nämlich dadurch, dass er eine Interpretation dessen bietet, wie die eigengesetzlichen Formen der kulturellen Welten auf die leiblich-lebensweltliche Existenzweise wirken und sie wandeln. Zum »Gestalter des Lebensmaterials« werden die kulturellen Formen, »so weit dieses zu ihnen Affinität besitzt« (ebd.: 289). Diese Affinität, diese Wesensverwandtschaft und die an sie gebundene Möglichkeit der Rückwirkung der kulturellen Formen auf das Leben will der simmelsche Lebensbegriff verständlich machen – und das, wie angeführt, ausgehend von dem Faktum dieser »Rückwirkung« (ebd.: 296). Das Leben erzeuge »auf Stufe des Geistes, etwas, das Mehr-als-Leben ist: das Objektive, das Gebilde, das in sich Bedeutsame und Gültige« (ebd.: 295), anders ausgedrückt: die eigenständigen, kulturellen Formen. Ihre Rückführung auf das Leben bedeutet für Simmel aber gerade keinen Psychologismus. Mit der Metapher der »Achse« soll sich die Vorstellung eröffnen, dass das Verhältnis von Leben und Kultur eben kein zufälliges, sondern ein funktionales ist, ohne darin die Geltung des Geistigen zu beschneiden. Das Leben erweist seine funktionale Einheit, wenn es auf diese Weise »sein Anderes vor sich hinstellt«, um dessen »Bedeutung, Folgen, Normierungen wieder in sich einbezieht und sich nach dem gestaltet, was von sich selbst gestaltet worden ist« (ebd.: 296). Am Beispiel der Kunst heißt dies für Simmel, »daß die Natur für jede Zeitepoche so aussieht, wie die jeweilige Kunst ihrer Künstler es ihr vorschreibt [...] Die Möglichkeit davon aber, daß die Kunst unsere Art des Sehens bestimmt hat, liegt darin, daß das Sehen die Kunst bestimmt hat. [...] die Genesis der Kunst aus ihrer vitalen Vorform hat die Brücke geschlagen, auf der sich die Kunst wieder dem Leben zurückverbindet.« (Ebd.: 274–275) Hierin offenbart Simmel ein Verständnis des Lebens und unserer leiblichen Existenz als Ursprung von Medialität und damit kultureller Vermittlung überhaupt sowie als Medium der Kultur. Der Leib, in dem überlebenswichtige Funktionen als festes Zwecksystem gekoppelt sind, bildet das ursprüngliche »Austauschorgan« (Wiegerling 2008: 90) mit der Welt. Er ermöglicht einen Weltzugang, »transzendiert seine Immanenz und tauscht sich mit der Welt aus« (ebd.). Er ist in einer Art »Präintentionalität« (ebd.: 85) je schon auf die Welt gerichtet und greift in dieser bereits vorbewusst auf die Welt aus. Die Welt erfährt damit durch den Leib bereits eine erste Gestaltung als bedeutungsvoller Möglichkeitsraum, ohne dass wir als kulturell-geistige Wesen unmittelbaren Zugriff auf diese hätten, insofern Medialität nur im reflexiven Verhalten und damit jenseits des rein leiblich vermittelten Weltverhältnisses in den Blick kommen kann. Ferner sind alle Informationen, die durch das Empfinden eigenen Agierens und von Einwirkungen seitens der Welt erlangt werden, im Leib aufgenommen, zusammengeführt und ggf. in ein Verhalten übersetzt (vgl. ebd.: 90). Schreiten wir nun fort zur Lockerung der leiblichen Funktionszusammenhänge – durch evolutionäre und geistige Entwicklung oder sonstige Einwirkung –, eröffnet sich die Möglichkeit, neue Koppelungen herzustellen und neue Funktionen auszubilden. Die Medialität des Leibes gewinnt hierdurch eine neue Qualität der Offenheit und Gestaltbarkeit. Sie wird empfänglich für neue Formen der Prä-
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gung, nämlich kultureller Prägung. Zu beachten ist, dass wir auch hier von einer medialen, zulassenden Basis und nicht von einer kausalen Erklärung der Kultur sprechen (siehe hierzu Kapitel 3.2). Ein Medium kann als (materielles oder energetisches) »Trägersystem« (ebd.: 88) verstanden werden, in das Informationen (neu) eingeprägt, miteinander in Verbindung gesetzt und gebündelt werden können. Medien verfügen so über eine Gedächtnisleistung, die es ermöglicht, an Vergangenes anzuknüpfen (vgl. ebd.), entweder indem darauf Bezug genommen wird oder es sich ›von sich‹ aus meldet. Dieses Gedächtnis manifestiert sich nicht notwendig in Gestalt eines Bewusstseins, es kann beim Leib auch die Form von Habitualisierungen, Rhythmisierungen und körperlichen Modifikationen (bspw. als Veränderungen neuronaler Verknüpfungen oder des Hormonhaushalts, als Trainingseffekte oder Verletzungen) annehmen. Der Leib wird auf diese Weise individualgeschichtlich, kulturell-gesellschaftlich und durch natürliche Umweltbedingungen geprägt (vgl. ebd.: 90). Eben in der Weise, wie Simmel bspw. davon spricht, dass die Kunst unsere Art zu sehen bestimmt. Die kulturelle Prägung des Leibes und des Lebens bedeutet eine symbolische Ausgestaltung der Welt. Die Rede vom Medium der Kultur verweist nun einerseits eben darauf, dass der Leib als Medium die kulturellen Prägungen aufnimmt und dass so das individuelle Leben und das (praktische und theoretische) Weltverhältnis kulturell geformt werden. Sie macht aber andererseits – und das ist hier das Entscheidende – darauf aufmerksam, wie die kulturellen Welten im individuellen Leben zusammengeführt, miteinander in Bezug gesetzt und vermittelt werden – und sich gleichzeitig in diesem Prozess durch das individuelle Leben vermitteln. D.h., sie vermitteln sich ihrerseits mit der individualgeschichtlichen Prägung des Leibes und seiner (nie abschließend zu bestimmenden) Eigenschaften als Medium. Sie werden ihrerseits in diesem Vermittlungsprozess transformiert. Das Leben war für Simmel ja der Ort, an dem Materialität und Entwicklung ins Spiel kommen und so die kulturellen Formen beständig überschritten werden. Über den Leib zentriert das Leben ferner »die Welt auf mich, positioniert mich in ihr, filtert für mich die Welt und hält Ereignisse fest« (ebd.). Im individuellen Leben führen wir unsere »physiologischen, kulturellen und individualgeschichtlichen Kriterien« (ebd.) zusammen, nach denen wir unsere Erfahrung formen und bewerten. Geistig-kulturelle, individualgeschichtliche und naturhafte Formen arbeiten hier in der Konstitution der Welt (spannungsvoll) zusammen. In diesem Sinne ist es völlig konsequent und Ausdruck der Limesgestalt, wenn Simmel davon spricht, dass das Leben als seelisches Weltverhältnis seinerseits ein »Apriori« besitze, das aber »nicht mit derselben begrifflichen Schärfe zu formulieren« (Simmel LA: 322) sei wie bspw. für wissenschaftliche Erkenntnisbeziehungen. Zuletzt haben wir es hier ja mit einem Erleben zu tun, dessen Medialität im Vollzug dieser Vermittlung aus dem Blick gerät, sprich für uns je den Eindruck von Unmittelbarkeit generiert. Es ist dieser Vermittlungsschritt durch das individuell-leibliche Leben, der, so meine These, Thema der von Simmel beschriebenen vital-individuellen Anschauung ist. Ich möchte hier jedoch nicht unerwähnt lassen, dass auch Cassirer den Leib explizit thematisiert und somit eine Anknüpfungsmöglichkeit bietet. So hat der eigene Leib zentrale Bedeutung bei dem Aufbau der symbolischen Form der Sprache und dient als Orientierung bei der Gliederung der Welt (vgl. Cassirer PsF I: 157f.). Weiter bezeichnet Cassirer das »Verhältnis von Leib und Seele« als »das erste Vorbild und Muster für ei-
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ne rein symbolische Relation […], die sich weder in eine Dingbeziehung noch eine Kausalbeziehung umdenken läßt« (Cassirer PsF III: 113).38 Wiegerling (2008: 92) stellt deshalb die Frage, ob der Leib selbst als symbolische Form oder gar das »Fundament« der symbolischen Formen begriffen werden kann. Und obwohl der Leib die Charakteristika einer symbolischen Form zeige, wie Verweisungs- und Transzendierungsphänomene und dass er handlungsanleitend ist (vgl. ebd.: 82–86), zieht Cassirer anscheinend nicht diese Konsequenz und betrachtet den Mythos als Mutterboden aller Kultur (vgl. hierzu auch Recki 2004: 84ff.). Der Leib taucht stattdessen in systematischer Stelle in den Basisphänomen auf.39 Unter dem Oberbegriff der Basisphänomene beschreibt Cassirer die Struktur geistigen Lebens in der »Art, wie es uns selbst und anderen erkennbar ist« (Cassirer ÜB: 123), in welchen Formen wir von ihm wissen. Die verschiedenen Dimensionen der triadischen Struktur belegt Cassirer je nach eingenommener Perspektive mit unterschiedlichen Begriffen: So können wir jene Trias als »Ich«, »Du« und »Es« ebenso wie als »Fühlen«, »Wollen« und »Denken« oder »Monas«, »Wirken und Tun« und »Werke« auffassen. Cassirer entwickelt die Basisphänomene quer zu den symbolischen Formen als »ursprüngliche Bezogenheitsformen« (Ullrich 2012: 78) oder in Cassirers eigenen Worten: als »Modi der Vermittlung« (Cassirer ÜB: 132 [Herv. i.O.]) von Wirklichkeit. Ullrich (2012: 77) interpretiert die Basisphänomene als Konstanten des menschlich-kulturellen Wirklichkeitserleben. Dieses vollzieht sich stets in einer Gemeinschaft handelnder und miteinander agierender Subjekte (»Du«, »Wollen«, »Wirken und Tun«), die vermittels objektivierter Formen (»Es«, »Denken«, »Werk«) einander kenntlich werden und über die sie sich verständigen. Selbiges gilt auch von der Leiblichkeit des Menschen, die wir im Phänomen des »Ich«, des »Fühlens« und »monadischen Seins« erkennen können (vgl. ebd.). Zwar mag der Leib kulturell durch Training, Haltungen, Eingriffe und weitere Prägungen unterschiedlich ausgestaltet sein, sein »Dass« (ebd.) bleibt bestehen, die grundsätzliche Form der leiblichen Existenz unangetastet. Die »strömende Bewegtheit« (Cassirer ÜB: 133), die das wesentliche Merkmal der Form der Monas bildet, entzieht sich einer Fixierung im Einzelzustand. Das monadische Sein erlebt sich als gegenwärtig, als gewesen und sein-werdend, erschließt sich so seine zeitliche Form in der »Totalität seiner Lebensmomente« (ebd.: 134; siehe auch SF IV: 227ff.). Ullrich zieht aus dieser Bestimmung die Schlussfolgerung, dass wir es bei der Monas (aber auch den Basisphänomenen insgesamt!) nicht mit einem objektstufigen, sondern mit einem Reflexionsbegriff zu tun haben (vgl. Ullrich 2012: 82–83). Bestätigt wird diese Auffassung m. E. durch Cassirers (nicht expliziertem) Verweis auf Jonas Cohn (siehe Cassirer ÜB: 121). Was Cohn nämlich an der entsprechenden Stelle, auf die Cassirer verweist, darlegt, ist die Unmöglichkeit, das Leibphänomen (konsequent) zu objektivieren. Die Form der Objektivierung würde die Einheit von Leib und Seele auseinanderreißen – den Leib also zum Körper machen – und damit sein wesentliches Merkmal, dass er als der »meinige« erlebt wird, zerstören. Diese »Meinheit« (Cohn 1936: 66), das »Mein«-Erlebnis, drückt dabei nicht einen prädikativen Inhalt, sondern eine spezifische, reflexive Verhältnisbestimmung des Lebens-
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Wie wir gesehen haben, befinden sich Simmel und Cassirer hier auf einer Linie. Bei den folgenden Ausführungen greife ich im Wesentlichen auf meinen Aufsatz Basisphänomen und Leibapriori zurück (Honer 2018b).
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vollzuges aus. In diesem Sinne ist Ullrichs Charakterisierung des Basisphänomens der Monas als »Erscheinung des Lebens in der Form der Ichheit« (Ullrich 2012: 82) treffend. Während Cassirer das Basisphänomen der Monas, der ›Form der Ichheit‹, unter der ihr eigenen Zeitlichkeit verhandelt, vernachlässigt er ihre spezifische perspektivische Räumlichkeit und Materialität (sieh hierzu später Kapitel 9.3). Damit bleibt aber die Medialität der Monas, die Medialität des Leibes bei Cassirer eigenartig abstrakt. Wiegerling (2008: 82–83 und 87) sieht hierin vor allem eine »Unschärfe« der »natürlichen Weltsicht«, die für Cassirer jene subjektive Einheit der symbolischen Formen bildet. Der Leib als Ausdrucksphänomen, in dem die Einheit von Physischem und Psychischem erlebt wird, ist mit dem Problem behaftet, dass seine Explikation das zum Verschwinden bringen würde, was ihn auszeichnet: »Eine Ontologisierung würde den Leib als symbolische Grundrelation ja wieder aus dem Blick rücken.« (Wiegerling 2008: 86) Gerade jedoch die natürliche Weltsicht, die nicht analytisch in die symbolischen Funktionen von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung geschieden ist, sondern die »ursprüngliche Ganzheit bzw. Geschlossenheit einer lebensweltlichen Erfahrung« (ebd.: 87) markiere, erlaubt es Wiegerling zufolge, den Leib als Limesgestalt medial zu rekonstruieren. Doch schlägt Cassirer in der Metaphysik der symbolischen Formen den entgegengesetzten Weg ein und führt die systematische Rekonstruktion weg vom leiblichen hin zum reinen Ich als symbolisches Vermögen. Um die Gründe und weiteren Folgen Cassirers Entscheidung soll es an späterer Stelle gehen (siehe Kapitel 8. und 9.). Es ist hingegen Simmel, der offenbar den von Wiegerling geforderten Weg auf der Basis der Lebenswelt beschreitet, und von hier aus die vital-individuelle Anschauung sowie einen Subjektbegriff entwickelt, der die Möglichkeit von Entfremdung verständlich macht.
3.5.3 Die Vital-individuelle Anschauung Die Ausarbeitung des Leibes als Medium, das ein individuelles theoretisches sowie praktisches Weltverhältnis eröffnet, diente dazu, den individuell-personalen Bezug der Welt und ihrer Inhalte herauszustellen. Der Leib vermittelt die symbolische, aber eben auch ›sachlich-unpersönliche‹ Gestaltung der Welt durch das individuelle Leben. Die sich hiermit ergebende Bezogenheitsform der Inhalte, Gegenstände und Bedeutungen auf das jeweilige Leben stellt jedoch – und hierauf kommt es an – kein bloßes ›Hinzufügsel‹ zu ihnen dar. Das Medium ist nicht glatt, es hinterlässt Spuren, verändert die Welt, die durch es erscheint. Die Welt des Individuums ist auf eine eigene Art geformt und gestaltet. Und diese Formung und Gestaltung zu berücksichtigen und zu verstehen bedeutet nach Simmel die ›sachlich-unpersönlichen‹ Objektivierungen »in die fließenden Relationen, die funktionellen Gesamtverbindungen in der Lebenseinheit, der sie zugehören« (Simmel LA: 413) wieder aufzulösen. Für das Verständnis von Lebensverläufen sei eine ›sachliche‹ Objektivierung von Lebensinhalten gerade nicht hinreichend, also bspw. dergestalt, Handlungen allgemeinen Begriffen unterzuordnen, so zum Gegenstand zu machen und zu beurteilen. Die Handlungen werden auf diese Weise gerade aus ihrem Zusammenhang im jeweiligen Leben herausgelöst, während nach Simmel die Frage doch lauten müsste, was »die benannten Handlungen in der Reihe eines individuellen Lebens bedeuten, genauer: was sie als dieses Leben bedeuten« (ebd.: 402 [Herv. i.O.]). Denn erst über die Zusammenhänge im
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jeweiligen Leben gewinnen unsere Taten »ihr ganzes Gewicht« (ebd.: 421),40 erst wenn wir sie vor dem Hintergrund unserer individuellen Lebensgeschichte, unserer jeweiligen kulturellen Prägung, unseren sozialen Verstrickungen und (identifikatorischen) Beziehungen, aber auch unserer Zukunft zum Gegenstand machen, können wir sie, so Simmels »Grundaxiom« (ebd.: 382), angemessen erkennen und beurteilen (vgl. außerdem ebd.: 389 und 402). Die Handlungen, Verhaltensweisen und sonstigen Akte sollen »als Szene oder Pulsschlag des Gesamtlebens« (ebd.: 382)41 betrachtet werden. Anstatt also die Lebensinhalte durch die Unterordnung unter einen allgemeinen Begriff zu bestimmen, um dann gegebenenfalls Spezifika geltend zu machen,42 wird eine andere »Individualisierung der Tat« (ebd.) gefordert. Simmel bezeichnet diese als die »Szenenform des Lebens« (ebd.: 365): Dass sich das Leben seinerseits »zu einem gewissen Intensitätsmaß von Willen und Kraftbewährung hebt« (ebd.), konstituiere etwas als eine Handlung. »Diese Konzentriertheit und Heraushebung von dem Rhythmus des wollenden Lebens selbst her« unterbreche im Gegensatz zur Objektivierung vermittels allgemeiner Begriffe »die Kontinuität mit dessen Totalverlauf nicht« (ebd.). Es gelte folglich, die bewussten und unbewussten Energien und Zusammenhänge zu verstehen, die sich durch jene erwähnten ›anderen Formungsprinzipien gemischter Art‹ (neben den naturwissenschaftlich-begrifflichen) zu einer jeweiligen Handlung und die sie begleitenden »inneren Vorgänge« als »vor sich gehende Szene des ganzen einheitlichen Lebensdramas« (ebd.: 373) ballen. Auf diese Weise wird die Handlung als Teil der »narrative[n] Kontinuität des Lebens« (Geßner 2003: 227) begriffen, als eine dem individuellen Leben je eigene und in ihm verwurzelte. Das Leben und Lebensinhalte zu erfassen, ist ein hermeneutischer Prozess. Das Leben wird als in sich sinnhafte, ja Bedeutung erzeugende, Erzählung vorgestellt. Simmel streitet nicht ab, dass hierfür auch eine begrifflich-allgemeine Betrachtung »nötig und nützlich« (Simmel LA: 401) ist, ja uns vielerlei Beziehungen und Relevanzen durch diese erst aufgeschlossen werden.43 Eine tapfere Tat bspw. erscheint aus einer tugendethischen Perspektive als bedeutsam und eine tugendethische Analyse der Tapferkeit mag uns ein Verständnis ihrer Qualität bieten. Simmel wendet sich aber gegen eine Perspektive, die das Wesen der jeweiligen Tat als »eine exemplifizierende Verwirklichung des Begriffes« (ebd.) bestimmen will. Denn »von dem Quellpunkt her gesehen, an dem die Tat sich wirklich bildet, ist sie nicht eine ›Tat der Tapferkeit‹« (ebd.), sondern eine Tat, die aus einem jeweiligen, individuellen Leben hervorgegangen
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Bspw. in dem Sinne, »daß unser ganzes Dasein dazu gedrängt hat, und daß sie unser Dasein vielleicht für alle Zukunft bestimmen werden« (Simmel LA: 421). Simmel schwankt hier in seiner Metaphorik zwischen erzählerisch-dramaturgischen und biologischen Begrifflichkeiten, und dies unter Berücksichtigung der Limesgestalt von Leib und Leben sicherlich nicht unabsichtlich. Insofern es sich hier überhaupt um Metaphern handelt, haben wir es wohl mit absoluten Metaphern zu tun. Diese Form der Individualisierung von Handlungen und Bewusstseinsinhalten verbindet Simmel mit der »Vorstellungspsychologie«, die ein mechanistisches Modell der im »Bewußtseinsstrom« (Simmel LA: 372) isolierten Momente und ihrer jeweiligen Beziehung und Ablösung anbietet. In Vom Wesen des historischen Verstehens stellt Simmel gar die wechselseitige Abhängigkeit und notwendige Bezogenheit dieser Formen des Verstehens, die dort als sachliches und historisches Verstehen aufgeschlüsselt werden, heraus (vgl. Simmel VWhV: 177). Jedoch zielt Simmel hier darauf, dem sachlichen Verstehen eine nicht-mechanistische Gestalt zu verleihen.
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ist. Für Simmel ist es »das Individuum als Ganzes«, das »als Wurzel unterhalb« (ebd.: 386) der Tat steht, aus dem die Tat ›erwächst‹ (wenn auch nicht, wie die Metapher vielleicht nahelegt, als rein kausaler Effekt). Sehen wir die jeweilige Tat als Ereignis im Leben des Individuums an, hat es nicht »eine für sich abgeschlossene Bedeutung« (ebd.). Wir müssen dieses Leben selbst verstehen, um die Bedeutung der Tat zu verstehen.44 Und es folgt nach Simmel: »[W]er nicht das Individuum als Ganzes erfassen kann, ist demnach unfähig, überhaupt irgendetwas von ihm absolut zu erfassen.« (Ebd.) Das Postulat, die Lebensinhalte durch eine andere Anschauungsweise zu objektivieren, um sie erkennen, verstehen und beurteilen zu können, begründet sich durch eine Modellierung für die Art des Hervorgehens dieser Lebensinhalte aus dem Leben. Wenn Simmel vom ›Individuum als Ganzem‹ spricht, meint er kein »Abstraktum«, das »aus seinen einzelnen und Qualitäten und Handlungen« (ebd.) zusammengesetzt wird. Kann dies nicht der Weg sein, wie lässt sich dann das Individuum als Ganzes erfassen, wenn wir doch nur Teile seiner, einzelne Äußerungen und Verhaltensweisen, wahrnehmen? Die Anschauung, um die es Simmel geht, soll das Individuum in einer Weise begreifen, in der seine einzelnen Akte mit seinem Leben als Ganzem »von einer funktionellen Beziehung und inneren Notwendigkeit vereinheitlicht sind« (ebd.: 391).45 Abgeleitet wird diese Anschauungsweise aus dem »Grundmotiv [...], daß in jeglichem menschlichen Verhalten der ganze Mensch produktiv ist« (ebd.). Simmel richtet sich mit diesem Grundmotiv gegen rationalistische Ethiken, die seiner Auffassung zufolge Handlungen in der moralischen Beurteilung entweder »dem reinen, sinnfreien Ich« oder »dem sinnlichen Ich« (ebd.), sprich: je einem bestimmten »›Seelenvermögen‹« (ebd.: 402), zuordnen – in diesem Zuge aber den Menschen als Ganzen ausschließen (vgl. ebd.: 392). Die Tat (oder die ihr zugrundeliegende Maxime) werde an sich beurteilt und nur abgeleitet hierüber der jeweils sie vollbringende Mensch. Weder ihr Zustandekommen noch ihre Bedeutung und ihr Zusammenhang im jeweiligen Leben findet im ethischen Urteil, ob die Tat bzw. die ihr zugrundeliegende Maxime gut oder schlecht sei, Beachtung. Rationalistische Ethiken, so kritisiert Simmel, beurteilten Taten »nicht gemäß ihrem organischkontinuierlichen Verwachsensein in das Leben« (ebd.: 397). Hierin mag eine oftmals bemängelte Lebens- oder Weltfremdheit des moralischen Standpunkts liegen, der Fragen der Lebensorientierung und damit viele konkrete praktische Fragen ausklammert (vgl. hierzu auch Kapitel 6.). In einer typischen, den Verhalt eher verdunkelnden Formulierung, meint Simmel, es sei ein »metaphysisches Grundgefühl«, »daß jede existenziale Besonderheit das Ganze des individuellen Daseins, aus dem sie kommt, in ihrer besonderen Sprache restlos ausdrückt« (ebd.).46 Wir wollen versuchen, diese Rede aufzuklären. Das Verbindende und 44
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Es ist ja sicherlich kein Zufall, dass die in der Ethik diskutieren Beispiele häufig in der Form kurzer narrativer Sequenzen gegeben sind und die narrative Ausgestaltung für die jeweilige Einschätzung relevant ist. Und dies betrifft keineswegs nur engere Fragen der moralischen Beurteilung. Auch Luckner und Jaeggi entwickeln ihre Konzeptionen ausgehend von narrativen und in einigen Fällen literarischen Beispielen. »Diese Einheit kommt nicht aus den zusammengefaßten Teilen, sondern die Teile aus der Einheit.« (Simmel LA: 387) Simmel bemüht sich an zahlreichen Stellen des vierten Kapitels der Lebensanschauungen diesen Verhalt deutlich zu machen. Um nur einige weitere Beispiele anzuführen: Das Leben habe »in sei-
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Vereinheitlichende von Leben und seiner einzelnen Akte erscheint hier als Ausdrucksverhältnis. Als je Ganzes »hebt sich« das Leben, so beschreibt es Simmel weiter, »zu der jeweiligen Tat. In dem Augenblick ihres Geschehens, wie in jedem anderen, hat dieses individuelle Leben alle Folgen seiner Vergangenheit, alle Spannkräfte seiner Zukunft in sich« (ebd.). Auf Grundlage unserer vorangegangenen Ausführungen, können wir dies so verstehen, dass sich das ganze Leben mit all seinen Prägungen, individueller Geschichte und Beziehungen und Zukunftsbezügen im jeweiligen Augenblick leiblich vermittelt und hierin als momentane Gestalt ausdrückt. »[D]er ganze Mensch [...] denkt, fühlt, begehrt« und »jeder einzelne Sinn [ist] nur eine Kanalisierung der Lebensganzheit [...], durch die diese mit der Außenwelt verkehrt« (ebd.: 395). Leib und Leben tragen als Medium je ihr Ganzes47 in sich und bringen die Einzelinhalte aus sich hervor. Umgekehrt »symbolisieren« die Inhalte das »Leben als Prozess« (ebd.: 393). Es bedürfe aber »ganz anders orientierte[r] Begriffssysteme[...]« (ebd.) als jener, die in kausalen oder auch teleologischen Kategorien operieren, um diese symbolische Verweisung zu erfassen. Bereits vorab bemerkt Simmel, dass die Wirklichkeit des Lebendigen »nur einer biegsameren Begriffsbildung« zugänglich sei als jener der »intellektuellen Formung«, womit an dieser Stelle die »mechanistische Denkweise« (ebd.: 373) gemeint ist. Simmel deutet seinerseits hierfür ein modales Begriffssystem an, wenn er gegen eine »logisierte und mechanisierte Vorstellung vom Seelischen [...] jedes Einzelverhalten als eine neue bereichernde Möglichkeit, mit der die Daseinstotalität sich darstellen kann« (ebd.: 392), verstanden wissen will. Ein solches modales Begriffssystem würde sich nicht nur nach der hier entwickelten Deutung unter dem Aspekt der Medialität anbieten, sondern auch den Anschluss an die Hermeneutik schleiermacherscher und diltheyscher Prägung (vgl. Hubig 2006: 33–34) verdeutlichen. Für die »sich anbietende Scheidung« des Lebens »in unsere Aktualität und unsere Potentialität« (Simmel LA: 398) grenzt Simmel jedoch ein, dass der jeweilige Lebensmoment als Aktualität eben nur in der Beziehung zum Potentiellen konstituiert und so nur in der Verwobenheit mit der Potentialität verständlich
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nem kontinuierlichen Verlauf momentan gerade diese Form [der Handlung] angenommen« (Simmel LA: 387) und diese Form ist »nicht daher bestimmt, daß es eine Lüge oder daß es eine Wohltat ist, sondern sie ist die jetzige Realität dieses Lebensverlaufes« (ebd.). »[J]eder Lebensaugenblick, jedes Sich-Verhalten und Handeln [ist] das ganze Leben« und »dieser seelische Augenblick [ist] wirklich das ganze Leben« (ebd.: 392). »[D]as individuelle Leben [hebt] sich immer nur als Ganzes zu den Entfaltungen, die wir einzelne Taten oder Erlebnisse nennen« (ebd.: 396). Man könne die »Kontinuität [des Lebens] nur dadurch zum Ausdruck bringen, daß jeder etwa besonders betrachtete Moment das ganze Leben ist – weil die Form dieses Ganzen, seine Einheit, ist, sich in etwas, was man unter dem äußerlich zeitlichen Aspekt Vielheit nennen muß, auszuleben« (ebd.: 400). Das zugrundeliegende Motiv findet Simmel offenbar bei Goethe und übernimmt es von dort (vgl. Simmel Goethe: 266–267). Es gibt außerhalb des Augenblicks kein Leben, denn, so fragt Simmel (LA: 392), »wo sollte es eigentlich sein?« Natürlich umgreift das Leben je seine Vergangenheit und Zukunft, bezieht sich auf sie, positiv oder negativ, hervorhebend oder unterdrückend, doch sind diese Bezüge versammelt nur im jeweiligen Moment des Lebens. Das Leben dagegen als »Summe« der Momente »inhaltlich bestimmter Erlebnisse« (ebd.: 393) zu betrachten, sieht bereits vom Prozesscharakter des Lebens, um den es Simmel geht, ab. Dieser kann gerade nicht als Summe begriffen oder aus einer solchen Rekonstruiert werden.
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ist. Unsere aktuelle Lebenslage bestimmt sich durch die Möglichkeiten, die in ihr bestehen, seien dies Handlungsmöglichkeiten, Möglichkeiten eines Selbstverständnisses und -verhältnisses oder Verhältnisses zu anderen. Nichtsdestoweniger eröffnet sich für Simmel über diesen modalen Zugang ein »organisch einheitliches« Verhältnis zwischen dem Ich und den »singulären wechselnden Handlungen« (ebd.: 392). Diese singulären Akte schließen den ganzen Menschen nun ein und nicht mehr aus, wie bei der begrifflich isoliert betrachteten Handlung – die gewissermaßen ›jeder vollbracht haben könnte‹ (vgl. ebd.). Wie sich der ganze Mensch, seine Daseinstotalität im singulären Akt ausdrückt und eine neue Darstellungsmöglichkeit findet, verändert der singuläre Akt seinerseits die Daseinstotalität. Offenkundig ist dies, wo die Folgen über äußere Instanzen vermittelt auf das Subjekt zurückwirken, wie im Falle einer Strafe. Zwar mag hier nur die Tat selbst verurteilt werden, doch trifft der einhergehende »Schmerz« oder »die soziale Deklassierung« (ebd.: 397) den ganzen Menschen und verändert sein Leben.48 Am Beispiel der empfundenen Schuld und des Umgangs mit dieser – ein von der Ethik zumeist nur randständig behandeltes Phänomen – verdeutlicht Simmel jedoch, dass Veränderung nicht allein über äußere Handlungsfolgen zu begreifen ist: »Wir würden uns von der Schuld einer Handlung, die wir vielleicht wirklich als eine relativ isolierte, aus einem seelischen Nebenfluß auftauchende empfinden, leichter lossprechen, würde sie nicht doch von dem dumpfen Gefühl umschwebt: du bist also fähig, und für alle Zukunft, etwas derartiges zu tun! Das eigentlich Bedrückende ist die Beschaffenheit an uns – mag diese auch gleichsam eine provinzielle sein –, ihre jetzt nicht mehr fortzuleugnende dauernde Möglichkeit, also doch etwas über die Tat als einzelne hinaus auf den ganzen Lebensverlauf sich Erstreckendes. Darum ist psychologisch auch zu beobachten, daß, wenn eine radikale innere Wendung es uns ganz undenkbar macht, eine bereute Tat zu wiederholen, das Leiden der Reue erheblich gelindert wird.« (Ebd.: 398) Die Veränderung besteht in diesem Fall darin, dass die vollzogene Tat eine Disposition an uns – in unserem Gefüge von Aktualität und Potentialität – für uns aufdeckt, zu der wir uns nun verhalten müssen. Auch der letzte Satz des Zitats ist für Simmels Konzeption aufschlussreich. Was hier als »radikale innere Wendung« beschrieben wird – man könnte hierunter bspw. eine Aufarbeitung der Tat verstehen –, deutet auf eine Veränderung unserer Disposition hin, die verhindert (oder zumindest sehr viel unwahrscheinlicher macht), erneut dergleichen zu tun. Wenngleich uns eine solche Wendung nicht davon befreit, dieses und jenes getan zu haben, deutet sie auf den Umgang mit der je eigenen Vergangenheit hin. In seiner Goethe-Monographie verweist Simmel auf das Zitat Goethes »von der ›Erinnerung‹, die er [Goethe] ›nicht statuiert‹, weil das Leben dauernde Entwicklung und Höherbildung wäre und sich nicht an ein Starres, als vergangen Gegebenes binden könnte, sondern dies nur als dynamische Wirkung in die dadurch erhöhte Gegenwart aufnehmen dürfe« (Simmel Goethe: 267). Das Vergangene ist kein steinernes,
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Die Tat sei, wie es Simmel ausdrückt, in ihrer Rückwirkung nicht auf ein einzelnes subjektives Vermögen »lokalisiert« (Simmel LA: 398).
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unbewegliches Monument, sondern ein bildsamer Stoff. Die Erinnerung ist die Gestaltung des Vergangenen, die Form, die wir diesem geben, und in der sie unsere Gegenwart (mit)bestimmt. Diese Gestaltung ist natürlich alles andere als Willkür. Wir können unsere vergangenen Erlebnisse nicht – oder nur unter dem Preis der Selbsttäuschung – zu allem machen, was uns beliebt. Das Material ist eigensinnig und widerständig, bedarf aber dennoch der Bearbeitung (vgl. hierzu auch Simmel VWhV: 165). Die Herausforderung, das Individuum als Ganzes, auf diese Art verstehen zu wollen ist keine kleine. Simmel ist sich dessen völlig im Klaren, wenn er schreibt, dass »der Gesamtstatus des Augenblicks«, der ja das Leben als Ganzes einbegreift, »von seiner inhaltlichen Begrifflichkeit her unendlich kompliziert und nur höchst unvollkommen analysierbar« (Simmel LA: 393) ist. Die vital-individuelle Anschauungsweise verwebe »eigentlich unübersehliche Faktoren in sich« und es sei deshalb je die Aufgabe gestellt, »an dieser viel mehr fluktuierenden, problemreicheren [...] Anschauungsweise die reine und feste Objektivität zu erkennen oder herauszuarbeiten« (ebd.: 413). Die beschriebene Aufgabe führt auf die Frage, was die Hermeneutik bei der Erkenntnis des Individuums, eines individuellen Lebens leisten könne, und welche Gewissheit sie in ihrer Erkenntnis erreichen kann. Betrachten wir ein jeweiliges Individuum und einzelne Elemente seines Lebens, haben wir es immer mit einem begrenzten Material und einer begrenzten Einsicht darin zu tun. Das Leben selbst, das jeweilige Handeln, Denken, Fühlen und Schöpfen, ist »etwas so unendliches Zersplittertes« (Simmel Goethe: 260), so dass es überhaupt nur symbolisch als Einheit begriffen werden könne. Die begrifflich-hermeneutische Methode, so gibt Simmel zu verstehen, sei in der Lage, einzelne Momente, Situationen und Aspekte eines Lebens herauszuarbeiten, die je in Bezug zum ganzen Leben und Individuum stehen, aber dieses letztere sei »nicht in Begriffen zu fixieren« (ebd.: 262; siehe auch LA: 423–424). Wie lässt sich dann der Bezug des Einzelnen auf das Ganze, das Allgemeine des Individuums verstehen? Denn, so wollte es Simmel ja, wer das Individuum nicht als Ganzes erfassen kann, könne überhaupt nichts von ihm absolut erfassen. Hieß es, das Ganze des Individuums drücke sich je in einer existenzialen Besonderheit aus, was ist dann dieses Individuum? Das »Letzte der Persönlichkeit«, so heißt in der Goethe-Monographie, sei »nur in einer inneren, gefühlsmäßigen Anschauung zu vergegenwärtigen« (Simmel Goethe: 262). Offenbart Simmel hiermit etwa doch einen Intuitionismus oder gar den von Cassirer kritisierten Essentialismus? Die Fragen lauten also weiterhin, was dieses »Allgemeine der Persönlichkeit« (Simmel Goethe: 263) ist und wie wir es erfassen können. Für diese Fragen erscheint es mir an dieser Stelle unumgänglich, tiefer in Simmels Konzept des Verstehens einzusteigen. Dem Verstehen widmet sich Simmel in erster Linie im Rahmen seiner Wissenschaftstheorie der Geschichte. Seine Position wandelt sich dabei im Laufe seines Werks beträchtlich. Ich beziehe mich hier auf die späte Fassung von Simmels Wissenschaftstheorie der Geschichte, namentlich auf die beiden späten Aufsätze Vom Wesen des historischen Verstehens und Die historische Formung (beide 1918 veröffentlicht). Simmel konzeptualisiert das Verstehen hier als »Urphänomen des menschlichen Geistes« (Simmel VWhV: 162). Mit dem von Goethe übernommenen Begriff des »Urphänomens« will Simmel einen grundlegenden Zug unseres Verhältnisses zur Welt (und uns selbst) herausheben: Wir verhalten uns verstehend zur Welt (vgl. ebd.: 177). Die
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Welt und die Dinge in ihr erscheinen uns unmittelbar als sinnhaft und verständlich.49 Anders ausgedrückt: Die Phänomene werden eben nicht lediglich als physische Sinnesreize erfasst, die dann in einem gesonderten Schritt mit Bedeutung aufgeladen werden. Eine solche »Aufspaltung des Gesamtphänomens in die psychische und die physische Komponente gilt« dem späten Simmel »nicht länger als das Resultat überlegener Analyse, sondern als ein künstlich erzeugter Schein« (Geßner 2003: 217). Das Wahrnehmen der Sinneinheit in den Phänomenen – und das bedeutet verstehen – ist unhintergehbar und »auf keine tiefer liegende Funktion« (ebd.: 215) zurückzuführen, sondern (wie auch Räumlichkeit im kantischen Verständnis) »eine ursprüngliche Art oder Form des Anschauens« (Simmel VWhV: 160). In diesem Sinne, dass sich dem Geist etwas vor jeglicher Reflexion verständlich präsentiert, hält Simmel den »an sich nicht ansprechende[n] Begriff der Intuition« für »dennoch angemessen« (ebd.: 163). Entgegen eines bergsonschen Intuitionsbegriffs heißt dies jedoch nicht, dass im Verstehen nicht seinerseits bestimmte Funktionen enthalten sind,50 Verstehen also selbst eine »Art der Formung« ist, »die einem ›Apriori‹ gehorcht – einem Apriori freilich, das kein rein theoretisches ist, sondern im Zusammenhang einer Verstehenspraxis, einer Lebenseinheit steht« (Geßner 2003: 235).51 Als Urphänomen des Geistes ist Verstehen unmittelbar in der alltäglichen Lebenspraxis verankert und das wissenschaftlich-methodische Verstehen, wie wir es bspw. aus der Literaturwissenschaft oder der von Simmels eigens behandelten Geschichtswissenschaft kennen, baut auf diesem alltäglichen Verstehen auf. Nach Simmel ist das wissenschaftliche Verstehen eine für bestimmte Anwendungsgebiete technischmethodisch verfeinerte, selbstreflektierte und eigenständig gewordene Form des alltäglichen oder lebensweltlichen Verstehens – beide beruhen aber auf derselben erkenntnistheoretischen Grundvoraussetzung, dass uns die Phänomene unmittelbar sinnhaft erscheinen (vgl. Simmel VWhV: 153 und 158; Geßner 2003: 215 und 218). Der enge Zusammenhang, der zwischen dem wissenschaftlichen Verstehen und dem lebensweltlichen Verstehen, mithin dem verstehenden Zugriff auf eine Person, besteht, ermöglicht es, die aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Für unseren vorliegenden Kontext sind zwei der für die historische Erkenntnis bestimmenden Funktionen aufschlussreich. Damit die Geschichtswissenschaft historische Entwicklungen beschreiben und so ihren Gegenstand überhaupt als historischen konstituieren könne, müsse sie je einzel-
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Geßner (2003: 216) spricht hier treffend und offenbar in Anlehnung an Cassirer vom »Phänomen des Ausdrucks«. Urphänomen ist sozusagen das Dass des wahrgenommenen Sinns. Dieses Dass ist aber immer auch ein Produkt des Geistes, also nicht einfach nur passiv aufgenommen, sondern geformt. Ungeformten Sinn gibt es nicht, aber die völlige Abwesenheit von (immer auch schon geformtem) Sinn eben genau so wenig. Möglich ist es lediglich, in einer Abstraktion davon abzusehen, was uns die Dinge bedeuten. »Denn Erkennen ist schließlich immer an Begriffe gebunden, es bleibt dem Sein immer gegenüber, ein Subjekt dem Objekt, und mit seiner Vollendung, die den Abstand überwände, die es wieder in das Sein zurückschmölze, wäre es als Erkennen aufgehoben. Der Instinkt ist etwas Dunkles und Dumpfes, er kann nicht zum Bewußtsein heben, was er als Realität besitzt.« (Simmel Bergson: 67) So könne Henri Bergson »es nicht überwinden, daß Erkennen immer ein Erfassen ist und eine Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem setzt, von der aus die Identität des Seins wohl erstrebt aber nicht erreicht werden kann« (ebd.: 67–68).
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ne vergangene Ereignisse und Geschehnisse in eine bestimmte Form bringen (vgl. Simmel HF: 322–323). Alleine die Aufreihung von Geschehnissen, sie nacheinander zustellen und zu analysieren, lasse noch nicht Geschichte als den Gegenstand der historischen Erkenntnis entstehen. »Es fehlt ihr die reale Bewegtheit, die, über jeden Sachgehalt und seine noch so bündige ideelle Verknüpftheit mit anderen kommend, eben diese Verknüpftheit erst wie von innen durchströmt, mit kontinuierlicher Dynamik wirklich eines aus dem anderen entwickelt.« (Ebd.: 322) Diese Bewegtheit, die einzelne Gehalte verbindet und zu einer Entwicklungseinheit gestaltet, ist für Simmel die Form des Lebens. »Dies Leben kann ein individuell konkretes sein, aber auch in erweitertem Sinne das einer gesellschaftlichen Gruppe, oder kann auch, als symbolischer Hilfsbegriff, die Entwicklungsstadien einer Wissenschaft, einer Kunst, einer Technik an sich aufreihen lassen.« (Ebd.: 323) Das Leben als »formgebendes Apriori« (Simmel VWhV: 177) der historischen Erkenntnis, das wird in letzterem Zitat deutlich, ist ein »rein funktional verstandene[s] Konzept« (Geßner 2003: 223) geworden. Es entstammt dem Vorstellen und dem Gefühl des Individuums, ist in seiner Anwendung aber nicht mehr auf dieses beschränkt (vgl. ebd. und Simmel VWhV: 166 und 175–177). Auch dort, wo wir es in der geschichtlichen Forschung nicht mit einem konkreten Individuum zu tun haben, unterlegen wir den Geschehnissen »ein ideelles, sozusagen fingiertes Subjekt [...], dessen lebendig geistige Kontinuität diese Stadien durchmacht und sie dadurch verbindet, sie aus der Zugeschlossenheit des jeweils nur auf sich selbst beschränkten Sinnes erlöst und sie erst dadurch zu Gliedern einer Entwicklung werden läßt« (Simmel VWhV: 173–174). Sprechen wir davon, »daß die Kunst, das Recht, die Chemie sich entwickelt«, haben wir es bei diesen Feldern nicht mit an sich bestehenden »Realitäten« (ebd.: 174) zu tun. Zwischen ihren Erscheinungen, bspw. den Kunstwerken oder bestimmten chemischen Experimenten und Erkenntnissen, mögen »mannigfache Beziehungen« (ebd.) bestehen, doch werden sie erst unter »abstrakten Begriffen« (ebd.: 175)52 zusammengefasst und von dort zum Subjekt einer sinnhaften Erzählung (vgl. auch Simmel HF: 331). Worum es Simmel bei dieser Formung des historischen Verstehens geht, ist, wie Geßner (2003: 206) treffend bemerkt, die »Kontinuität eines narrativen Subjektes«. Die Grundform der Geschichte, welche die oder der Historiker:in herausarbeitet, ist das Narrativ. Die Geschehnisse, jene im individuellen Leben oder aber auch die ganzer kultureller Felder oder von Institutionen, haben in ihrer Zeitfolge ein kontinuierliches, ununterbrochenes Nacheinander, das jedoch aus einer sachlichen Perspektive diskontinuierlich und ungeordnet erscheinen kann. Verfassen wir eine historische Arbeit über die außenpolitischen Aktivitäten einer Politikerin, so werden sich diese außenpolitischen Aktivitäten im Lebensverlauf der Politikerin immer wieder durch andere Aktivitäten und Momente, die für außenpolitische Fragen und deshalb für die die Arbeit irrelevant sind, unterbrochen zeigen. Das geschichtliche Narrativ der Arbeit wird deshalb jene für die Außenpolitik wichtigen Geschehnisse herausheben und in eine sinnvolle Ordnung und Reihe bringen, die aber nicht identisch mit dem sozusagen ›vollständigen‹ Verlauf der Lebensereignisse der Politikerin ist. Bereits in der lebensweltlichen Praxis ordnen wir, als »Vorform« (Simmel HF: 326) des historischen Verstehens und meist ohne ein gesondertes Bewusstsein dafür, Geschehnisse und Einzelinhalte orientiert an einer »Einheit eines Sinnes« (ebd.: 52
Siehe hierzu auch Kapitel 5.
3. Das Subjekt der Tragödie
330) und bilden damit kontinuierliche Reihen, die sich nicht in gleicher Weise in der zeitlichen Kontinuität finden. Ein Beispiel hierfür mag das immer wieder unterbrochene Lesen eines Romans sein, bei dem wir trotz dieser Unterbrechungen immer wieder in seiner Geschichte ansetzen, als wäre keine Zeit vergangen (vgl. ebd.: 326). Aber auch, wenn wir bspw. unsere Schullaufbahn in der Erinnerung rekonstruieren, verfahren wir auf diese Weise, dass wir bestimmte, zeitlich diskontinuierliche Geschehnisse herausheben und zu einer Erzählung verknüpfen. Dieses Verfahren sei nicht bloß psychologischassoziativ zu erklären, insofern es eine »Entwicklung [...] in einem sachlich gelenkten Lebensstrom« konstituiert, dem eine »determinierende Reihenfolge« und »dynamische Gerichtetheit« (ebd.: 328) zu eigen ist. Mittels einer solchen »sinngemäßen Knüpfung seelischer Entwicklungsreihen korrigieren wir gewissermaßen die Zufälligkeit, mit der das flackernde, inkohärente (gerade wegen seiner zeitlichen Kohärenz inkohärente) Leben sich aus den logischen oder sonstwie objektiven Reihen der Inhalte bald dieses, bald jenes Stück für seinen Aufbau herausreißt« (ebd.: 330). Diese ›Korrektur‹ – die Erzeugung einer sachlich kohärenten Erzählung – leistet das geschichtliche Verstehen durch einen sogenannten »Vereinheitlichungsbegriff« (ebd.: 325), der im simmelschen Ansatz offenbar gleichzeitig das ›fingierte‹ oder besser: »das methodische Subjekt« (Simmel VWhV: 174) konstituiert. Das geschichtliche Verstehen stiftet mit diesem Begriff einen neuen Zusammenhang in den Geschehnissen. Simmel betont, dass die Erkenntnisabsicht der Geschichte deshalb nicht auf eine vermeintliche Gesamtheit der Geschehnisse, sondern allein »auf die durch« ebendiese »Begriffseinheit charakterisierten Teile des Geschehens gestellt« (Simmel HF: 325) ist. D.h., um die sachlichen Zusammenhänge der Geschehnisse zu erkennen, um die historische Entwicklung in ihnen herauszuarbeiten, muss das geschichtliche Verstehen diese Entwicklung durch a priori an die Geschehnisse angelegte Funktionen (Vereinheitlichungsbegriff bzw. methodisches Subjekt) konstruieren.53 Folglich ist auch die untersuchte historische Persönlichkeit nie das ganze Individuum respektive dessen ganzes Leben im Sinne einer ununterbrochenen Kontinuität der Lebensereignisse – denn dieses sei »keiner Wissenschaft erfaßbar« (ebd.: 326) –, sondern auch seinerseits ein methodisches Subjekt. Das methodische Subjekt als »apriorische Notwendigkeit« (Simmel VWhV: 179) historischer Erkenntnis ist nach Simmel die Bedingung der Möglichkeit, historische Entwicklung »nach sachlichen Kriterien [...] aufzubauen« (ebd.: 174). Einerseits, wie dargestellt, durch die jeweilige, Einheit erzeugende Perspektive auf die Geschehnisse, die mit ihm gegeben ist, andererseits, indem es ermöglicht, sich die Geschehnisse als Entwicklung vorzustellen. Die Vorstellung von Entwicklung setzt eine Richtung der Geschehnisse voraus, die nicht notwendig durch ein Ziel oder Zielpunkt bestimmt zu sein braucht.
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Dies ist auch der Grund, warum es für Simmel keine »Universal- oder Weltgeschichte« (Simmel HF: 324) im eigentlichen Sinne geben kann. Denn eine solche müsste »jenes allerzeugende Leben der Gattung und der Individuen zum Bilde gestalten« (ebd.) oder anders ausgedrückt: ein Universalsubjekt bilden, dem es dann jedoch an einer konstitutiven Perspektive und Relevanzkriterien mangele.
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Hierfür müsse in den einzelnen Geschehnissen »der ganze Mensch« oder das ganze methodische Subjekt »fühlbar« werden, erst dann zeige »das Frühere die Stromrichtung auf« (ebd.: 166) das Spätere, das auf diese Weise verständlich werde (vgl. auch Geßner 2003: 223). Die Empfindung von Entwicklung (oder vielleicht der Sinn für diese) sei etwas nur dem Leben eigenes, ein Verstehen des eigenen wie auch des fremden Lebens (vgl. Simmel VWhV: 175–176). »Diese Empfindung findet eine Teilerscheinung oder eine Konzentration, wenn sich uns seelische Inhalte in eine Reihe ordnen, deren jeweils späteres Glied uns dem früheren gegenüber als Bereicherung, eingelöstes Versprechen, Steigerung und Extensivwerden unserer Zuständlichkeit bewußt wird.« (Ebd.: 176) Im geistigen Rekonstruieren der Reihenfolge von Ereignissen oder Inhalten fühlt sich der lebendige Geist »nicht bloß bewegt, sondern mit dem spezifischen Wert – Entwicklung ausgestattet« (ebd.). Dieser entstammt »der gefühlten Selbstentfaltung des Geistes, die er an ihrer Folge, sobald sie seine Inhalte geworden sind, erlebt« (ebd.). Ist es das Prinzip des geschichtlichen Verstehens, den »Zusammenhang der Ereignisse« (Simmel HF: 347 [Herv. i.O.]) und die Entwicklung in ihnen zu erkennen, dann benötigt die Geschichtswissenschaft, um diesem Prinzip gerecht zu werden, eine Vorstellung von Ganzheit ihres Gegenstandes (vgl. ebd.: 332f.). Eine Entwicklungsrichtung, so hatte Simmel angeführt, werde dadurch sichtbar, dass das Ganze in einzelnen Momenten jener Entwicklung aufscheint. Andernfalls hätten wir es mit bloßen Anekdoten zu tun (vgl. ebd.: 346f.). So fordert auch ein anschauliches und verständliches Bild historischer Zusammenhänge eine gewisse Vollständigkeit.54 Ersichtlich hängt aber eine solche Vorstellung von Ganzheit und Vollständigkeit von einer Idee ab, die an das Material herangetragen wird – also nicht zuletzt vom Vereinheitlichungsbegriff oder dem, was Simmel auch den »Gesichtspunkt« (ebd.: 344) einer historischen Untersuchung nennt. Eine solche Idee besitzt in der Geschichtswissenschaft aber selten eine scharfe Bestimmung einer solchen Ganzheit. Wann uns das Bild einer Epoche als vollständig erscheint, unterliegt im Gegensatz dazu, wann bspw. ein Schachspiel vollständig ist, einer gewissen Vagheit, die jedoch nicht gleichbedeutend mit Willkür ist (vgl. ebd.: 339–340). Die Geschichtswissenschaft bedürfe hier »eine[r] Art geistigen Augenmaßes« (ebd.: 343), das nur Fallbezogen entscheiden kann. Ich möchte mich hier jedoch auf die für uns relevante Frage der Ganzheit der Person konzentrieren. Im Urphänomen des Verstehens liegt, dass wir je immer »den ganzen Menschen wahrnehmen« (Simmel VWhV: 157). Dies beinhaltet nicht nur, wie bereits ausgeführt, ihn »unmittelbar als beseelt« (ebd.: 161) wahrzunehmen, sondern ihn je als ganze Person vorzustel54
Dass eine Vollständigkeit oder Ganzheit ein relevantes Kriterium historischer Darstellung ist, lässt sich vielleicht folgendermaßen veranschaulichen: Es ist möglich, ein historisches Werk zu verfassen, in dem sich keine einzige unwahre Behauptung findet, das aber in seiner Gänze, in seiner Auswahl der Fakten und beschriebenen Zusammenhänge, ein völlig verzerrendes Bild bieten würde, bis hin zur Geschichtsfälschung. Einfach vorzustellen ist dies an einem Werk zum Dritten Reich. Würden verbrecherische und unmenschliche Züge und Taten des Naziregimes, die als wesentlich gelten müssen, völlig ausgespart und unerwähnt, lässt sich davon sprechen, dass ein solches Werk einem historischen Wahrheitskriterium der Ganzheit nicht gerecht wird. Simmel behandelt diese Frage des Weglassens von Geschehnissen, um eine Ganzheit zu erzeugen, auch explizit am Problem des Umfangs einer historischen Darstellung im Verhältnis zu dem Umfang des historischen Gegenstands (vgl. Simmel HF: 346).
3. Das Subjekt der Tragödie
len. Es gehöre »zu den apriorischen Funktionen, durch die der Mensch zur Vorstellung des anderen Menschen wird, daß er ihn als Lebensganzheit vorstellt, gleichviel welchen Umfang das dazu verfügbare Material hat« (Simmel HF: 335). Gleichwohl diese apriorische Funktion für das Verstehen grundsätzlich gelte, unterscheidet sich der Bezug des historischen Verstehens auf die Person (die Art sie als Ganzheit vorzustellen), von dem des lebensweltlichen oder alltäglichen Verstehens einer je gegenwärtigen Person. Simmel spricht hier von »verschiedenen Griffrichtungen« (ebd.: 335) des historischen und lebensweltlichen Verstehens, die jedoch eher idealtypisch unterschieden sind, sich also nicht exklusiv dem einen oder anderen zuordnen lassen. Das historische Verstehen nimmt seinen Ausgang von überlieferten Einzelheiten eines uns nicht mehr gegenwärtigen Menschen und konstruiert von dort (ergänzend) das Bild einer Persönlichkeit. Die historische Persönlichkeit ist uns je nur über überlieferte Quellen zugängig, die einzelnes Verhalten, Denken, Merkmale oder soziale Stellung beschreiben respektive Rückschlüsse hierauf zulassen. Jeweilige Urteile, die sich von hier aus über Verhalten, Denken, Merkmale und Stellung treffen lassen, ergänzen wir zu »einer einheitlichen Färbung des ganzen Menschen« (ebd.: 334). Unser Bild dieses Menschen entwickelt sich ausgehend von dem, was wir wissen (können), und überzeichnet dabei (notwendig) bestimmte Merkmale. Die verschiedenen »Ergänzungen der Teilaspekte einer Existenz« (ebd.) ermöglichen hierin ein ausgleichendes Korrektiv des Gesamtbildes. Neben der zeitlichen Distanz, die durch die Quellen überbrückt wird, gibt Simmel ein weiteres Spezifikum des historischen Verstehens an: Der historische Mensch sei für uns »viel unlösbarer in die Zusammenhänge seiner Gegenwart verflochten« (ebd.: 336 [Herv. i.O.]), denn »damit er überhaupt für uns ein Etwas sei, wissen wir besser oder schlechter, aber jedenfalls irgendwie, was er gewesen sei« (ebd.: 337 [Herv. i.O.]). Er ist von vornherein durch allgemeine gesellschaftliche Bestimmungen gegeben, bspw. durch Beruf und soziale Stellung, man könnte sagen: nur in konkreten sozialen Rollen, aus denen seine gesellschaftlich-historische Bedeutsamkeit erwächst (vgl. ebd.). In ihrem »Umriß« (ebd.) erscheint die historische Persönlichkeit deshalb knapper und strenger als der uns gegenwärtige Mensch, kann jedoch zugleich in dem Sinne verschwommen bleiben, als die allgemeinen gesellschaftlichen Bestimmungen das Bild der historischen Persönlichkeit »über dasjenige Maß hinaus [prägen], in dem der Beruf und was zu ihm gehört, zu inneren Momenten der Persönlichkeit selbst geworden sind« (ebd.: 336). Anders ausgedrückt: Die geschichtliche Formung (re)konstruiert die Persönlichkeit nicht aus ihren Aneignungsprozessen heraus. Jedoch wird »durch dies Verfahren« der Ganzheitsbildung »die historische Persönlichkeit als solche erst möglich« (ebd.: 338), konstituiert sich also als Gegenstand der historischen Erkenntnis. Während das lebensweltliche Verstehen des uns gegenwärtigen Anderen auch je diese Verfahren der Ergänzung nutzt, hat es jedoch einen anderen Zugriff: Es erlebt den anderen. Im Erleben gestalten wir das Bild des anderen nach »einer eigentümlichen Intuition, die uns, oft auf den ersten Blick, seine Totaleinheit zugängig macht – zutreffend oder verfehlend, scharf umrissen oder verschwimmend, klar bewußt oder dumpf instinktmäßig« (ebd.: 335). Simmel nutzt hier erneut den Begriff der Intuition, um die Form der Gegebenheit dieser Totaleinheit eines anderen, erlebten Menschen zu bezeichnen. Intuition, so viel wird unmissverständlich deutlich, steht hier jedoch nicht für ein überlegenes, absolutes Wissen vom anderen. Sie ist fehlbar und qualitativ abgestuft, bie-
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tet uns aber je ein Bild der Ganzheit, von dem aus die »Deutung [...] einzelne[r] Wesensäußerungen [...] geformt« (ebd.) wird – und das ist der Unterschied in der Griffrichtung zum historischen Verstehen. Der jeweilige Ausgangspunkt des hermeneutischen Prozesses ist ein anderer.55 Im lebensweltlichen Verstehen des gegenwärtigen Anderen ist es die »Wahrnehmung der Totalexistenz« (Simmel VWhV: 157), von der wir ausgehen, aber eben nicht stehen bleiben. Sie »mag dunkel und fragmentarisch, durch Nachdenken und persönliche Erfahrung verbesserungsfähig und durch Einzelheiten angeregt, durchaus nach Begabtheitsgraden abgestuft [...] sein« (ebd.: 157–158). Aber »sie ist die grundlegende einheitliche Art, wie der Mensch auf den Menschen wirkt, ist der intellektuell nicht recht analysierbare Gesamteindruck, die erste und meistens entscheidende, wenn auch noch vieler Vervollkommnung fähige Erkenntnis des anderen« (ebd.: 158). Intuition besteht darin, dass uns der andere in seinem Handeln und seinen Äußerungen »pars pro toto« (ebd. [Herv. i.O.]) erscheint. In Die historische Formung charakterisiert Simmel diesen Gesamteindruck einer Person als durch »eine gewisse Sphäre« (Simmel HF: 341) bestimmt, die diese Person umgebe, und für uns fühlbar sei.56 Sie helfe »den Eindruck des Individuums über seine Einzelheiten, Widersprüche, primären Zusammenhangslosigkeiten hinweg zu einer Ganzheit abzurunden« (ebd.: 343). Gerade die große Porträtkunst zeichne es aus, diese Sphäre oder Ausstrahlung einer Person sichtbar festzuhalten. In den Bildern Rembrandts seien wir »in einen förmlich somatisch fühlbaren Existenzkreis der [dargestellten] Person gebannt« (ebd.). Auch in den Lebensanschauungen tritt die Kunst als eine Form auf, ein Verständnis für eine Person zu eröffnen. Simmel bestimmt es hier als »die tiefste Aufgabe der individualisierenden Porträtkunst«, das »morphologische[...] Zusammengehören des menschlichen Äußeren und Inneren« anschaulich »fühlen zu machen« (Simmel LA: 414). Es fügt sich hieran der Hinweis Friedrich Schleiermachers, wonach »eine große Menge hermeneutischer Fehler« auf ein mangelndes Talent an »künstlerische[r] Menschendarstellung« zurückzuführen seien, auch wenn »Menschenkenntnis« (Schleiermacher 1977: 81) und künstlerische Menschendarstellung unterschieden werden müssten. Doch drückt sich in der (geglückten) Darstellung eine Kenntnis des spezifischen Zusammengehörens von Innerem und Äußerem aus, der Einheit von seelischem Sinn und leiblichem Ausdruck. Eine solche Kenntnis könne nicht
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Nach Simmel ist auch für die Geschichtswissenschaft »jenes intuitive, jenseits aller faktischen Einzelheiten gestaltete Wissen um die lebendige individuelle Ganzheit wirksam und unentbehrlich« (Simmel HF: 335). Und ebenso gilt auch für das alltägliche Verstehen eines anderen Menschen, dass unser jeweiliges »Bild des anderen durch dessen soziale Stellung mitbestimmt ist« (ebd.: 336). Zweifellos ist der Beruf etwas, das die Persönlichkeit eines Menschen auszeichnen kann, je nachdem inwieweit er sich diesen Beruf angeeignet hat, er sich mit diesem identifiziert, der Beruf also zum Teil seines Selbst geworden ist. Dies verhindert freilich nicht, dass unser Bild der Person in sehr viel stärkerem Maße von diesen allgemeinen gesellschaftlichen Bestimmungen geprägt sein kann. »Wir sehen diese Person gar nicht in ihrem rein individuellen Umriß, sondern wie durch einen Schleier, gewebt aus den Allgemeinheiten seiner Situation, der jenen Umriß einigermaßen auflöst, ja, ihn im Maße der Unbekanntheit mit der wirklichen Persönlichkeit oft verschwimmen läßt.« (Ebd.) Simmel vermerkt in einer Fußnote, es sei »damit durchaus nichts Mystisches gemeint, sondern etwas prinzipiell innerhalb möglicher Erfahrung und unserer auch sonst gültigen Erkenntnismethodik Liegendes, das nur einer Verfeinerung dieser Methodik bedarf« (Simmel HF: 342).
3. Das Subjekt der Tragödie
in einem allgemeinen Gesetz bestehen oder je in einem solchen gegeben werden, wenngleich der Zusammenhang von Innerem und Äußerem, »daß beides nicht gegeneinander zufällig« (Simmel LA: 414) ist, für Simmel außer Frage steht. Was wir hier kennen, ist etwas individuell auf die jeweilige Person Bezogenes, »ein individuelles Gesetz« (ebd.) des Ausdrucks, ohne dass dieses begrifflich gänzlich zu explizieren wäre. Und eine solche Kenntnis ist es auch, auf die die vital-individuelle Anschauung letztlich zielt. Fußt das historische Verstehen als verselbständigte Erkenntnisform auf dem lebensweltlichen Verstehen, erscheint es so, als gelte für die vital-individuelle Anschauung dasselbe Verhältnis zum lebensweltlichen Verstehen. Im Gegensatz zum historischen Verstehen, das die Ereignisse unter einem bestimmten sachlichen Begriff und Gesichtspunkt zur Entwicklung vereint – und sich damit auch in der historischen Persönlichkeit letztlich auf ein methodisches Subjekt richtet –, vollzieht sich die Einheitsbildung in der vital-individuellen Anschauung in anderer Form. Im Goethebuch heißt es, »das Allgemeine der Persönlichkeit« sei eine »Einheit, die nur einem unmittelbaren seelischen Kennen zugängig ist« (Simmel Goethe: 263). Diese Einheit, das Allgemeine der Persönlichkeit, sei gestiftet durch eine »vitale Logik« (Simmel HF: 329) oder, wie es in Der Begriff und die Tragödie der Kultur hieß, eine »Logik der Persönlichkeit« (Simmel BuTK: 404). Simmel grenzt diese explizit von einer sachlichen Logik der Dinge, Begriffe und Ideen ab (vgl. Simmel HF: 328). Denn unter dieser Logik der Persönlichkeit erscheine ein Leben trotz sachlicher Widersprüche seiner Inhalte oder Wendungen als Einheit. Das prägnanteste Beispiel einer solchen Einheit, die ein Leben trotz größter inhaltlicher Widersprüche in seiner Entwicklung bilde, ist für Simmel die Person Goethe (vgl. ebd.: 329). Es verwundert daher nicht, dass Simmels Goethebuch der Versuch einer solchen vital-individuellen Anschauung ist, das Allgemeine eines Charakters anschaulich zu machen. Die Absicht des Buches sei, wie Simmel schreibt, »weder eine biographische, noch geht sie auf die Deutung und Würdigung der goetheschen Dichtung. Sondern ich frage: Was ist der geistige Sinn der Goethischen Existenz überhaupt?« (Simmel Goethe: 9 [Herv. i.O.]). Simmel grenzt seine Untersuchung explizit von einer historischen (biographischen)57 und von einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung ab. Offensichtlich wird damit im Übrigen, dass Simmel die vital-individuelle Anschauung nicht auf real erlebte, gegenwärtige Personen beschränkt. Was heißt es, dieses Allgemeine der Persönlichkeit, den geistigen Sinn einer personalen Existenz zu kennen? Jemanden zu (wirklich) kennen, bedeutet nicht, immer alles über diese Person zu wissen oder dieses Wissen explizieren zu können. Jemanden zu kennen, ist vielmehr eine Art implizites Wissen. Statt also je nur angeben zu können, was jemand ist, gehört dazu ein Gefühl dafür, wie jemand ist. Dies kann freilich so weit gehen, dass ich in gewissem Maße das Verhalten und die Entscheidungen der Person vorhersagen kann oder weiß, welche Entscheidung in einer bestimmten Situation die richtige für diese Person wäre. Auch könnte ich in einem Verhalten oder in Werken deutlich die ›Handschrift‹ der Person wiedererkennen (vgl. Simmel LA: 424). In diesen Einzelheiten mag das ›Kennen‹ durchaus zu explizieren sein, gleichwohl erschöpft es sich darin 57
Eine historisch-biographische Untersuchung müsste das jeweilige Leben ja schließlich wieder unter einem (oder auch mehreren) Begriffen betrachten und auf dieser Basis narrative Synthesen bilden: Goethe als Dichter, Goethe als Naturforscher, Goethe als Politiker usw.
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nicht. Das ›Kennen‹ besteht »jenseits solcher, noch so umfassender Angebbarkeiten [...], in einer besonderen, nicht verstandesmäßigen, nur erlebbaren Kategorie« (Simmel Goethe: 263). Unser Kennen bezieht sich hier auf etwas anderes, aus dem heraus sich unser Verständnis jener Einzelheiten ergibt, ganz nach der schleichermacherschen Definition des hermeneutischen Verfahrens als der »Konstruktion eines endlichen Bestimmten aus dem unendlichen Unbestimmten« (Schleiermacher 1977: 80). Vielleicht mag eine Analogie helfen, das, was Simmel meint, zu verdeutlichen. Die andere Person erscheint uns als ein Bild, das wir jeweils nur Ausschnittsweise betrachten oder scharf stellen können, jedoch nie zur Gänze (scharf) in den Blick bekommen. Gleichwohl betrachten wir den Ausschnitt immer im Kontext des gesamten Bildes, für das wir doch ein Gefühl haben, insofern wir es je immer schon geistig ergänzen, um den jeweiligen Ausschnitt zu verstehen. Jeweilige Lebensäußerungen, Verhalten, Schöpfungen einer Person können wir wie einen Bildausschnitt bis ins Detail (und auch hier je unabschließbar) analysieren. Für die je ganze Person haben wir dennoch ein Gefühl, ein instinktives Verständnis, das keineswegs willkürlich oder überhaupt immer zutreffend ist, sich aber nicht vollständig begrifflich explizieren lässt; so wie in der Analogie die nur in Unschärfe gegebene Gesamtschau des Bildes. Auch Simmel wählt für das Allgemeine der Persönlichkeit unter anderem die Metapher »Gesamtbild« (Simmel HF: 329). Daneben tauchen in seinen späten Schriften noch weitere auf: »Rhythmus« (ebd.), »formale Rhythmik und Dynamik« (Simmel Goethe: 263), »Stil und Rhythmus« (Simmel LA: 424), »eine Grundfärbung, ein Grundrhythmus, ein Grundverhältnis« (ebd.: 342–343). Sämtliche Metaphern heben auf etwas ab, das eine Einheitlichkeit herstellt, die sich an etwas zeigt und ihrerseits ge- und erspürt werden kann, ohne sie aber deshalb in Begriffe übersetzen (können) zu müssen. Das Allgemeine der Persönlichkeit ist entsprechend »nicht an die einzelnen, qualitativ bestimmbaren ›Charakterzüge‹ gebunden« (ebd.: 340). Es geht Simmel gerade nicht um einen inhaltlichen Kern der Persönlichkeit. Zur Vorstellung eines ›angeborenen Charakters‹ oder eines ›wahren Wesens‹ (wozu ihm auch der transzendentale Charakter Kants zählt) äußert er sich kritisch.58 58
»Darum ist es auch falsch zu sagen, daß, wenn ich in einer Stunde meines Lebens Gutes will und vollbringe, in einer anderen Schlechtes, dieses oder jenes meine echte Natur, das andere eine vorübergehende, sozusagen zufällige Abbiegung sei. Wer will sicher erkennen, wo das Echte meiner Natur liegt? Vielleicht tritt es nur in einer einzigen Stunde meiner ganzen Existenz in die Erscheinung. Diese ganze Scheidung ist höchst problematisch. Der Mensch ist einmal so und ist ein andermal anders, und aus dem bloß häufigeren Auftreten einer bestimmten Qualität zu schließen, die eine läge in einer charakterologisch oder metaphysisch prinzipiell anderen Schicht als die andere, bewegt uns nur ein Optimismus oder Pessimismus über unseren Eigenwert. Daß diese Möglichkeit des Lebens besteht, wirklich ganz gut und wirklich ganz schlecht zu sein, daß wir nicht innerlich in Schichten von verschiedener ethisch-metaphysischer Wesenstiefe eingeteilt sind, so daß die eine Handlung unabänderlich in die fundamentale, die andere in die oberflächlichere fiele – das ist die menschliche Freiheit; der transzendentale ›Charakter‹ setzt an ihre Stelle ein Fatum, das durch die Lehre von der metaphysischen Charakterwahl nur phantastisch verschleiert wird.« (Simmel LA: 394) Und selbst ein »angeborener Charakter« müsste keineswegs »Gleichmäßigkeit des Verhaltens« (ebd.) bedeuten. So wäre es problemlos vorstellbar, dass »einem Individuum ›angeboren‹ sein könnte, in einer Epoche seines Lebens eine bestimmte innere Haltung, in einer anderen aber eine ganz abweichende – und so in unbegrenzten Schwankungsmöglichkei-
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Anstelle eines solchen beharrenden Kerns oder Inhalts stellt er das Allgemeine der Persönlichkeit als »ein Funktionelles oder ein Gesetz [vor], das nur von und in Veränderungen existiert« (Simmel Goethe: 266 [Herv. i.O.]). Der »Charakter des Menschen [lebe] nur an seinen Handlungen« und könne nur in diesen gesehen und gedacht werden, sodass »die Einheit und Permanenz in den Entwicklungswandlungen des Lebens [...] nichts irgendwie außerhalb dieser Wandlungen Stehendes ist« (ebd.: 266 [Herv. i.O.]). Nicht jenseits der Welt und der Kultur zeigt (und entwickelt) sich das Gesetz des Individuums, sondern nur darin. Dagegen sei gerade das reine Ich der kantischen Transzendentalphilosophie und des Kategorischen Imperativs »das Korrelat« eines Lebens, das als »bloße[s] Nacheinander einzelner, je eine selbstverantwortliche Totalität bildender Handlungen« (Simmel LA: 423) vorgestellt wird. Für Simmel besteht die Form der Einheit des Ich (wie auch des Du) nicht in einem »leeren«, von seinen Inhalten letztlich unberührten »Prozeß«, sondern darin, »daß es sich in wechselnden Inhalten äußere, oder richtiger: in ihrem Erlebt- und Getanwerden bestehe« (ebd.: 423). Ein solches Ich ist dann auch nicht rein, dass seine Sinnlichkeit und Leiblichkeit etwas von ihm zu Unterscheidendes wäre (vgl. ebd.: 355). Die Welt ist praktisch und theoretisch vermittelt durch das Individuum, das hiermit selbst »letzter Quellpunkt des Weltgeschehens« und in sich »schöpferisch« (Simmel Goethe: 154) ist. Weit entfernt von etwas Mystischem oder Transzendentem blickt Simmel in der vital-individuellen Anschauung in letzter Konsequenz auf die transzendentale Bedeutung des Individuums, auf »ein gleichsam apriorisches Formgesetz seines Tuns und Leidens« (Simmel LA: 343), ein »persönliche[s] Apriori« und die »Gestaltungskraft« des individuellen »Seins und Tuns« (ebd.: 327; vgl. auch ebd.: 367), die »wir nie rein, sondern immer nur an einem material-einzelnen Verhalten als dessen Formungskraft ergreifen können« (ebd.: 424). Auf der Ebene der zuvor aufgemachten Analogie könnten wir davon sprechen, dass das Gesamtbild je im Entstehen begriffen ist und wir dennoch in diesem den Stil, die Gesetzlichkeit, nach der dieses Bild fortwährend gemalt und gestaltet wird, erkennen – ferner hiervon ausgehend bestimmen können, was ein Element in Beziehung zu anderen dieses Bildes bedeutet, oder auch, was im Malen noch korrekterweise folgen und ergänzt werden müsste. Sowenig wie das Leben ein statisches ist, ist es das Bild, das wir von jemandem haben und doch »entstehen [...] gewisse Vorstellungen in uns, die von vornherein ein Du ausmachen und als dessen seelische Inhalte apperzipiert werden« (Simmel VWhV: 160–161); dies eben, weil der andere, so wie wir selbst, nicht nur eine Summe von Vorstellungen ist, sondern eine Funktion. Zum Bild, das wir von einem anderen und uns selbst haben, gehört je das Gesetz, eine besondere Form oder eben Stil und Rhythmus, wie sich Simmel ausdrückt, das die Einzelelemente des Bildes zusammenfügt, sie überhaupt erst zu einem Bild macht und ihnen Bestimmung (oder Bestimmbarkeit) verleiht. »Das Du und das Verstehen ist eben dasselbe, gleichsam einmal als Substanz und einmal als Funktion ausgedrückt« (ebd.: 162). Folglich ist die Realität des »Du« keine »dem Verstehensakt« vorausliegende »ontologische Gewißheit [...], sondern ist als dieser Akt gegeben« (Geßner 2003: 217), oder, wie wir
ten – einzunehmen [...] In der Sache selbst aber, gleichgültig gegen mögliche oder unmögliche Konstatierbarkeit, liegt nicht der geringste Grund vor, ein im Zeitverlauf wechselndes charakterologisches Benehmen für weniger prädeterminiert zu halten, in der einen Phase ein geringeres Hinabreichen in die angeborene Wesenswurzel zu sehen, als in der anderen.« (Ebd.: 395)
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es mit Jaeggi formuliert hatten, die Identität eines Individuums ist »kein objektives Faktum jenseits der Interpretation« (Jaeggi 2005: 154). Du, Ich und Verstehen werden gleichermaßen als Urphänomen begriffen, sie sind unhintergehbarer Ausgangspunkt und gleichzeitig Zielpunkt unserer geistigen Operationen, über die uns eine Person zugänglich wird (vgl. Simmel VWhV: 160–161). So ist es absolut folgerichtig, wenn Simmel sagt, in seinem Goethebuch gehe es ihm um das »›Urphänomen‹ Goethe« (Simmel Goethe: 9), um ein ganz bestimmtes »Du«, das verstanden werden soll. Ich möchte zur Veranschaulichung ein Beispiel Simmels für eine der »sozusagen dynamischen Kategorien« anführen, nach denen sich das »praktisch-reale Leben« (Simmel LA: 322), sprich: unsere Lebenswelt und das Bild der jeweiligen Person, individuell gestaltet: das Schicksal. Die Vorstellung des Schicksals begreift Simmel als spezifische kulturelle Form des Umgangs mit der »Zufälligkeit« der eigenen Existenz in einer »historischen, vorgefundenen Umwelt« (ebd.: 316 [Herv. i.O.]), in einem »historisch gegebenen Milieu, in das dieses [unser] Sein wahllos hineingesetzt wird« (ebd.: 317). Mit einem heideggerschen Begriff könnte man hier von der »Geworfenheit« sprechen, der je gegebenen Faktizität unseres Daseins, zu der wir uns im Entwurf (als einem verstehen unserer selbst in und aus unseren je eigenen Möglichkeiten heraus) verhalten (vgl. Heidegger 1986: § 39). In der Vorstellung des Schicksals blendet Simmel allerdings spezifischer auf die Kontingenz, die unserer jeweiligen Person durch die historischen Bedingungen eigen ist. Wer wir jeweils sind und werden, welche unserer »unbegrenzten Möglichkeiten« »zu einer singulär bestimmten Wirklichkeit« gedeihen, ist abhängig von der Welt, mit der wir in unserem Leben an einem regionalen Ort und geschichtlichen Zeitpunkt konfrontiert sind und uns »Entwicklungsreize« (Simmel LA: 316) setzt. Zwischen diesen »beiden Faktoren: unserer individuell unverwechselbaren, aber doch schrankenlose Möglichkeiten enthaltenden Angelegenheit – und der Welt, in der und durch die geleitet dieses potentielle Ich ein reales wird – besteht anscheinend keinerlei inhaltliche, von der Einheit des Sinnes getragene Beziehung, außer der ganz generellen Angepaßtheit, die überhaupt die seelische Existenz in einer Welt möglich macht« (ebd.: 317). Dass unserem Sein und Leben als Personen damit eine Zufälligkeit eignen, wir der (inneren und äußeren) Welt ja praktisch ausgeliefert sind, habe etwas Unbefriedigendes für uns. Die »ganze Grauenhaftigkeit« dieses Verhalts äußere sich im »Gefühl ungelöster Kräfte, unerfüllter Forderungen [...] verkümmerter Talente, deplacierter Energien« (ebd.), die wir trotz aller unserer erreichten Verwirklichung unserer selbst empfinden: ein Leiden an den in unserer Zufälligkeit unerfüllt gebliebenen und bleibenden eigenen Möglichkeiten. In der Vorstellung des Schicksals drücke sich die aus diesem Leiden gespeiste »tiefe Sehnsucht« aus, »das Zufällige zu überwinden« (ebd.). Der Schicksalsbegriff setze im Subjekt »einen Sinn, eine innere Tendenz, eine Forderung« oder eine »Eigenrichtung« (ebd.: 318). Zu dieser Eigenrichtung »verhalten« sich die Einflüsse und Ereignisse der Welt, die letztendlich in keiner »genetische[n] Verbindung« mit dieser Eigenrichtung stehen, »dennoch fördernd oder hemmend« (ebd.). Sie werden aus Perspektive dieser Eigenrichtung auf das jeweilige Subjekt und sein Leben bezogen, erhalten in diesem Leben einen spezifischen Sinn, ganz gleich, ob positiv oder negativ. Es ist also
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unerheblich, ob dieser Ereignisse »empörend, zerstörerisch, unfaßlich« (ebd.) oder förderlich und freudig sind. Worauf es ankommt, ist ihre »Bezüglichkeit auf das Subjekt«, ihr Bezug auf den »Lebenssinn« (ebd.: 319) des Subjekts, aus dem heraus sie dann erst verstanden und gewertet werden können. Simmel macht deutlich, dass es sich bei seiner Interpretation des Schicksals um eine ›als ob‹-Figur handelt. Wir betrachten die »eine rein kausal abrollende Reihe des objektiven Geschehens [...] als wäre« sie »doch irgendwie auf die Beziehung zu unserem Leben angelegt« (ebd. [Herv. O.H.]). Es geht folglich nicht um ein metaphysisch oder transzendent festgeschriebenes ›reales Schicksal‹,59 sondern um die Integration von Ereignissen in eine verständliche, sinnhafte Erzählung des Subjekts und seiner Entwicklung, die es erlaubt, »unsere individuelle Existenz aus einem eigenen Zentrum heraus, als Selbstverantwortlichkeit und irgendwie in sich geschlossene Form« (ebd.) zu begreifen. Ersichtlich ist für eine solche Erzählung nicht alles, was im jeweiligen Leben tagtäglich geschieht, relevant. Viele Vorkommnisse sind eher beiläufig und für das weitere Leben des Subjekts von geringer oder gar keiner Bedeutung. Sie berühren uns nicht wirklich oder nur oberflächlich. Dass mich heute Morgen in der U-Bahn zur Bibliothek eine Wespe gestochen hat, war zwar ärgerlich, dürfte in meinem Leben aber eine eher beiläufige Episode sein (selbst, wenn ich ihr durch die Verwendung als Beispiel eine gewisse Bedeutung verleihe). Wäre ich allerdings bspw. allergisch gegen Wespengift, könnte die Sache schon ganz anders aussehen. In diesem Fall hätten sich vielleicht eine ganze Reihe von weiteren Ereignissen angeschlossen, die eine größere Bedeutung für mein Leben und seinen Sinn gehabt hätten. Es gebe hier, so meint Simmel, eine Art »Schwelle des Schicksals« (ebd. [Herv. i.O.]), eine gewisse Bewandtnis, die ein Ereignis hinsichtlich unseres Lebenssinnes, unserer Entwicklung im Leben haben müsse. Hieraus ergebe sich jedoch weiter, dass die »Gerichtetheit der inneren Lebensströmung entscheidet [...], was uns Schicksal sein soll, was nicht« (ebd.: 320). Anders ausgedrückt treffe unser jeweiliger Lebenssinn, die Grundorientierung, der wir im Leben folgen, eine »Selektion unter den uns anrührenden Ereignissen« (ebd.). Zwar mögen bestimmte Ereignisse wohl für jeden Menschen in diesem Sinne bedeutsam sein, doch ist das entscheidende hieran doch, dass diese Bedeutsamkeit auf ein individuelles Leben bezogen ist. Analog zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis, der nur zur Erfahrung werden kann, was den Bedingungen der Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Gegenständlichkeit entspricht, »kann uns nur zum Schicksal werden, was von unserer eigensten Lebensbestimmung aufgenommen und zum Schicksal verarbeitet werden kann« (ebd.: 321). Das Schicksal markiert für Simmel folglich eine Interpretationsform, die Ereignisse zu unserer Geschichte ins Verhältnis zu setzen, und hierin dem eigenen Leben und der jeweils eigenen Lebenswelt eine verständliche Gestalt und Einheit zu geben (vgl. ebd.: 322).
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So wie im übrigens die ganzen Untersuchungen zum Untersterblichkeits- und Seelenwanderungsgedanken im dritten Kapitel der Lebensanschauungen nicht auf eine »Realitätsbedeutung« (Simmel LA: 324) derselben zielen. Simmel möchte eben nicht die Unsterblichkeit der Seele als reale Gegebenheit erweisen. Ihre Behandlung verfolgt »vielmehr nur den heuristischen Sinn, die Struktur der in ihr ideell zusammengefaßten Wesens- und Wertelemente durchsichtig zu machen« (ebd.). Es sind die realen »Motive« und der jeweilige »Unterbau« (ebd.) jener Vorstellungen, die es Simmel erlauben, Schlüsse über die formenden Prinzipien des kulturellen Lebens zu ziehen.
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Es handelt sich um einen spontanen Umgang mit der uns konfrontierenden Welt, die uns als sinnhaft und auf uns bezogen erscheint. Es liegt im Wesen dieses Umgangs, dass das für uns entstehende Bild in sich und vor allem in seiner Zulänglichkeit schwanken kann. So deutlich betont werden muss, dass es sich nicht um ein Abbild eines an sich Bestehenden handelt, sondern um die spontane Erzeugung einer sinnhaften Welt, ist der »Inhalt« eines solchen Bildes »nicht aus dem Geist allein konstruierbar« (ebd.: 323). Es verbleibe deshalb »irgend etwas Dunkles, Unauflösbares in der Welt bestehen«, das in dieses Bild nicht stimmig aufgenommen ist, »ein heterogener Kern oder Rest, [...] nicht nur von unserem Verstande unbegriffen, sondern auch von unserer Lebensintention zwar aufgenommenen, aber doch nicht bis Letzte assimiliert« (ebd.). Das je entwickelte Bild beinhaltet Spannungen und kann durch neue Ereignisse, durch etwas im jeweiligen Bild Unbegreifliches, unangemessen werden und Bearbeitung erfordern oder gar gänzlich umgestoßen und zerstört werden.
3.5.4 »Sollen«, »Sich-selbst-Fremdsein« und »Reduziertheit« als Modi des Lebens Das Bild oder Verständnis, das wir in diesem Sinne von uns und anderen haben, ist jedoch, wie schon mehrfach angedeutet, nicht etwas, das nur das faktische Sein oder die ›Wirklichkeit‹ eines Lebens betrifft, sondern auch dessen ›Sollen‹, dessen normative Dimension. Wie auch die Wirklichkeit ist das »Sollen« ein »kategoriale[s] Urphänomen« (ebd.: 350) des Lebens. Es ist nicht aus etwas anderem heraus ableitbar oder begründbar. Das sollen ist vielmehr eine »Kategorie [...], unter der es [das Leben] sich seiner selbst bewußt wird« (ebd.: 358). Unberührt hiervon ist jedoch die Frage, »was wir denn inhaltlich sollen«, denn die Inhalte eines Sollens lassen sich nicht allein »aus der Tatsache des Sollens« ableiten, genauso wenig, wie aus dem Urphänomen der Wirklichkeit heraus bestimmt werden könnte, »was denn eigentlich wirklich ist« (ebd.: 349 [Herv. i.O.]). Weil aber das Leben nicht nur als wirkliches, sondern gleichermaßen als gesolltes verläuft, ist für Simmel das individuelle Leben »der metaphysische Ort, an dem man die Quellschicht für diese Entscheidung [bezüglich dessen, was inhaltlich gesollt wird,] letzter Instanz zu suchen hat« (ebd.: 351). »[D]ie Inhalte des Sollens [entwickeln] sich aus der Lebenstotalität des Individuums, so daß die Handlung gar nicht als einzelne, an beliebig vielen Individuen objektiv gleiche nach einem allgemeinen Gesetz gefordert und beurteilt wird, sondern gemäß dem Zusammenhang der idealen Lebensgestaltung, die gerade diesem Individuum wie mit ideellen Linien eingewebt ist.« (Ebd.) Dies ist die bereits erwähnte »Zugehörigkeit« eines gesollten Inhaltes »zu einem ganzen, ideell vorgezeichneten Leben« (ebd.: 403), um derentwillen er überhaupt als gesollt gelten kann, dass eine Pflicht überhaupt erst zu meiner Pflicht wird. Wenn hier von ›ideeller Vorzeichnung‹ die Rede ist, meint dies gerade nicht eine transzendent festgelegte Pflicht, die es zu erfüllen gelte, sondern dass das Leben des Menschen immer Wirklichkeit und Sollen zugleich ist und aus dieser »als einheitliche Kontinuität gedachten Ganzheit seines Lebens« (ebd.: 402) heraus sich ein konkretes Sollen ergibt, das es zu verwirk-
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lichen gelte. Die »Norm«, wie es Simmel auch ausdrückt, sei »von da her« zu bestimmen, »von wo das Handeln kommt, vom Leben«, anstelle von einem »von einem ideellen Außerhalb des Lebens, vom [isoliert sachlich-objektivieren] Inhalt« (ebd.: 416). Es liegt in der Eigenheit dieser Vorstellung eines Sollens, das sich aus dem jeweiligen ganzen individuellen Leben bestimmt, aus einem »Gesetz des Individuums« (ebd.: 384), dass sich dieses Sollen auch auf das ganze Leben und nicht lediglich auf den vernunftbestimmten Willen bezieht. Es betrifft unsere »ganze Existenz«, die »in bestimmter Art sein« (ebd.: 383 [Herv. i.O.]) soll, unsere Art zu leben und unser Leben zu führen, und damit auch all jene nicht von einer Vernunftmoral reglementierten Bereiche. Ein solches individuelles Gesetz bestimmt uns weniger als Vernunftwesen, sondern als ganze, personal existierende Lebewesen in der vollen Breite unserer seelischen und körperlichen Vermögen. Simmel richtet sich hiermit gegen eine begrenzte Perspektive der Ethik, die sich rein auf moralische Ge- und Verbote richtet (vgl. ebd.: 383–384; siehe hierzu auch Kapitel 6.2). Das inhaltlich Gesollte lasse sich nun also nur aus dem individuellen Leben heraus bestimmen. D.h. aber gerade, den Blick auf die Inhalte dieses Lebens zu richten, aber eben darauf, wie sie in diesem Leben zusammenhängen und hierin ihre Bedeutung konstituieren. »Denn die Individualität, die in der Form des Sollens lebt, ist doch keine unhistorische, materialfreie, nur etwa aus dem sogenannten ›Charakter‹ bestehende. [...] Alles, was ihn [den Menschen] umgibt und was er von je erlebt hat, die stärksten Triebe seines Naturells wie die flüchtigsten Eindrücke – alles dies formt an jenem flutenden Leben der Persönlichkeit, und aus alledem wächst, wie eine Wirklichkeit, so ein Sollen. ›Nicht nur das Angeborene, auch das Erworbene ist der Mensch‹ (Goethe).« (Ebd.: 409) »[A]lle sozialen und schicksalsmäßigen, alle vernunfthaften und religiösen, alle aus den tausend Bedingungen der Umwelt stammenden Bindungen, Aufforderungen, Impulse wirken ja auf dies Leben selbst ein; gemäß der Füllung und Formung, die das Leben von ihnen erfährt, bestimmt sich jeweils seine Pflicht.« (Ebd.: 404–405) Das Leben und das Individuum sind, dies wird hier nochmals deutlich, nur historisch und in der Kultur zu begreifen. Unzählige Einflüsse und Prägungen schreiben je unser eigenes Leben mit, machen uns zu der Person, die wir je sind, konstituieren unser Selbst (mit). Gleichwohl ist das Individuum nach unseren vorangegangenen Ausführungen nicht als passiv zu begreifen, insofern es sich zur eigenen Vergangenheit, erfahrenen Prägungen und ihm gegenübertretenden Ansprüchen verhält, sich – mit Jaeggi (2005) gesprochen – das erlebte je (neu) aneignet und identifikatorische Beziehungen aufbaut, eine auf sich bezogene Bedeutung der Welt konstituiert. Aber eben aus dieser Art, wie die Inhalte des Lebens in der Persönlichkeit zur spannungsvollen Einheit werden, bestimmt sich das je konkrete Sollen für das Individuum. Es sei »das bedingende Enthaltensein der ganzen Vergangenheit in dem aktuellen Sollen« (ebd.: 423), durch das das Leben auch in normativer Hinsicht in jedem Augenblick sein Ganzes sei. Nicht nur das einzelne faktische Handeln folge dem Sein als Ganzem, sondern auch das jeweils Gesollte dem Sollen als Ganzem. Umgekehrt gelte aber auch, dass das Sein aus dem Handeln folge (vgl. ebd.). »Jede Handlung wirkt auf den – nicht mehr definierbaren – Grund zurück, aus dem unser Handeln überhaupt aufstiegt. Darum liegt schon in dem Gesolltwerden jedes
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einzelnen Tuns die Verantwortung für unsere ganze Geschichte.« (Ebd. [Herv. i.O.]) Wie unsere erfahrenen Prägungen und unser eigenes Handeln, all die Verstrickungen und Involvierungen, die wir im Leben durchlaufen, unser Selbst und unser Selbstbild konstituieren und modifizieren, so konstituieren und modifizieren sie auch ein jeweiliges, situatives Sollen (vgl. ebd.: 421). Die Dynamik und Beweglichkeit dieses Sollens versucht Simmel in einer Analogie zur Entwicklung »der theoretischen Werte« zu veranschaulichen: »Daß uns irgend etwas als Wahrheit gilt, hängt von dem ganzen Komplex der in diesem Augenblick von uns anerkannten Prinzipien, Methoden und Erfahrungsinhalte ab, deren Zusammenhang mit der neuen Erkenntnis diese legitimiert. Ist dies aber geschehen, so verändert das hinzugekommene Element jenen Bestand in irgendeiner Weise, die selten rein quantitativ bleiben wird; es wird vielmehr leicht irgendwelche Bestimmungen neben denjenigen, die zu seiner Akzeptierung durch jene Kriterien führten, enthalten, und auch diese werden, da es eben als ganzes akzeptiert ist, als Wahrheit gelten und damit die Totalität der Wahrheiten irgendwie weiterentwickeln oder modifizieren. Es findet also der nächste, seine Legitimation nachsuchende Satz ein abgeändertes Kriterienfeld vor. Das heißt also, in prinzipieller Formulierung: jede anerkannte Wahrheit verändert die Bedingungen, auf die hin sie selbst als Wahrheit anerkannt wurde. Dies gilt ebenso für die Sollensentwicklung unseres Lebens.« (Ebd.) Unterliegt das Sollen hiermit durch die Entwicklung des Lebens selbst der ständigen Entwicklung, kann es für Simmel kein Absolutes in dem geben, was je von uns gefordert ist. Was sich in unserem Leben als Forderung an uns erhebt, ist abhängig von den historischen Inhalten und Kontexten des Lebens, und die Forderung wird so selbst »ein Historisches«, »dies Historische aber ein Absolutes« (ebd.: 422). Mit dieser Historisierung nimmt Simmel aber keineswegs Abstand von der Vorstellung der Objektivität des Sollens, die Historisierung sei vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, die sich an das jeweilige Leben erhebenden Forderungen eindeutig und objektiv zu erfassen (vgl. ebd.: 417). Gleichwohl ein solches »individual-allgemeines Gesetz«, wie hier schon mehrfach angeführt, in seiner Gänze »nicht begrifflich zu fixieren« ist, sondern »nur jene singuläreren Vorschriften, die sich bei einem Zusammenschlage mit einzelnen Gegebenheiten und Situationen erheben« (ebd.: 423–424), beeinträchtige dies nicht die Gültigkeit jener singulären Vorschriften. Und auch, wenn sich damit die Möglichkeit von einander sachlich widersprüchlicher oder gar entgegengesetzter Forderungen im Verlaufe eines Lebens ergibt, folgt dies durchaus der erwähnten ›vitalen Logik‹, die in Richtung dessen weist, was Jaeggi in Anlehnung an Peter Bieri als »eine kohärente ›Aneignungsgeschichte‹« (Jaeggi 2005: 203) bezeichnet. Aus der Perspektive einer solchen Aneignungsgeschichte können »die lebensgeschichtlichen Brüche (bis hin zu radikalen Umwertungen der eigenen Werte) wie auch Ambivalenzen« (ebd.) sinnvoll intergiert werden. Während hierzu natürlich auch die (geforderten) Änderungen unseres Lebens gehören, die wir nach falschen Entscheidungen und eignen Verfehlungen vollziehen, ist es doch genauso vorstellbar, dass die Entscheidungen der Vergangenheit richtig (gefordert) waren, es heute, unter anderen Bedingungen, aber nicht mehr sind. Was sich hier als Identität und Einheit durchhält, das Urphänomen des Ich und Du, ist ein narratives Konstrukt, das all diese sachlichen Spannungen, Widersprüche und Wendungen enthalten kann. Nur
3. Das Subjekt der Tragödie
ist die Art dieser Einheit dennoch nicht immer dieselbe. Die »Einheit der Seele«, so formuliert es Simmel in Der Begriff und die Tragödie der Kultur, sei »nicht einfach [als] ein formales Band« vorzustellen, »das die Entfaltungen ihrer Einzelkräfte in immer gleicher Weise umschließt«, sondern sie werde ihrerseits »durch diese Einzelkräfte [...] getragen« (Simmel BuTK: 387 [Herv. O.H.]) und entwickelt. Diese Einheit und Entwicklung zu ihr sind nicht einfach gegeben, sondern ihrerseits als Anspruch, die eigene Freiheit positiv zu bestimmen, zu begreifen, der sich aus dem individuellen Leben selbst erhebt. Sowohl das faktische als auch das gesollte Handeln sind nach Simmel Ausdruck einer jeweiligen Ganzheit des Lebens, einer aktuellen Lebenslage, in der sich das Ganze der eigenen Vergangenheit und Zukunftsbezüge versammelt. Die Vorstellung, dass sich aus dem Leben heraus Forderungen an das eigene Leben ergeben, impliziert für Simmel aber je die Möglichkeit, ihnen »mit unserer Wirklichkeit [zu] entsprechen oder nicht [zu] entsprechen« (Simmel LA: 403). Die Möglichkeit, einer Forderung im faktischen Handeln nicht zu entsprechen, die Handlung also hätte anders sein sollen, lässt sich nach Simmel nur vor dem Hintergrund einer narrativ verfassten Identität denken. Denn von einer isoliert betrachteten Handlung könne man nicht sinnvoll fordern, dass sie anders hätte geschehen sollen, »als sie geschehen ist« (ebd.). Sie wäre dann eben eine andere und nicht dieselbe Handlung. Dieses Problem löst sich erst dann, wenn sie als jeweiliger aktueller Ausdruck eines ganzen Lebens verstanden und von dort her bestimmt wird. Denn ein ganzes Leben könne man »sich anders denken, als das wirkliche« (ebd.), ohne dass damit seine Identität infrage gestellt sei. Der oder die Adressat:in des Sollens könne eben nur der jeweilig ganze Mensch sein, dessen Identität an seinem Verständnis, an seinem funktionalen Gesetz, das nur an jeweiligen materialen Lebensäußerungen greifbar ist, sich aber als Wirklichkeit und Sollen zugleich ausspricht. So lasse sich eben sagen, ein Individuum hätte sich anders verhalten, anders handeln und sein müssen, um seiner individuellen Norm zu entsprechen. Die sich damit eröffnenden Möglichkeiten, dass das wirkliche Leben in einer Spannung oder Widerspruch zum gesollten Leben steht, dass das wirkliche Leben sein Sollen nicht erkennt oder fühlt, stellen einen »Modus des Lebens selbst« (ebd.: 399) dar. Weil »das Außerhalb [...] eine Form seines Innerhalb« ist, gehören diese Weisen »Sich-selbst-Fremdseins« und der »Reduziertheit« (ebd.; vgl. auch ebd.: 344 und 394) zum Leben selbst. Sich selbst als eigen- und widerständiges Objekt gegenüber zu stehen, »ist das allgemeine Schema des bewußten Geistes« (ebd.: 348), das sowohl für unser faktisches Sein als auch unser je eigenes Sollen gelte. So wie wir uns am Verständnis unserer selbst abarbeiten, uns wie ein »gewußte[s] und analysierte[s], gebilligte[s] und bekämpfte[s], verstandene[s] und unbegriffene[s]« »Du« gegenüberstehen, so auch an dem »Inhalt des [uns je eigenen] Sollens«, den wir als »objektiven Imperativ« uns gegenüber »erfahren« (ebd.). Gerade im ethischen Bereich könne der Imperativ »die räumliche Metapher des Gegenüber, des Uns-Entgegentretens« (ebd.: 357) nicht entbehren, um die Objektivität und Unabhängigkeit der Forderung an uns zum Ausdruck zu bringen. Bereits mehrmals wurde das nach Simmel wesentliche Charakteristikum des Lebens herausgestellt, »Mehr-alsLeben« zu sein, d.h. »auf der Stufe des Geistes« (ebd.: 232) sein eigenes Gegenüber, die als selbständig begriffenen Inhalte zu erzeugen und in diese immer wieder hinüberzugreifen. Dies ist die berühmte Formel, wonach dem Leben »die Transzendenz immanent
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ist« (ebd.: 223). Das bedeutet aber, dass Simmel tatsächlich die geistigen Inhalte als etwas ansieht, das dem Leben in gewisser Hinsicht entrückt ist. »Man kann es geradezu als die Definition des geistigen Lebens aussprechen, daß es etwas erzeugt, was eigenbedeutsam und eigengesetzlich ist. Als ein Widerspruch und ein Nichtzuvollziehendes kann diese Selbstentfremdung des Lebens, dieses: daß es in Selbständigkeitsform sich selbst gegenübersteht – nur erscheinen, wenn man eine starre Schranke zwischen sein Innerhalb und sein Außerhalb legt, als wären es zwei in sich selbst zentrierte Substanzen – statt es als eine kontinuierliche Bewegung zu erfassen, deren an jedem Punkt vorhandene Einheit nur von der Raumsymbolik unseres Ausdrucks in jene Gegenrichtungen auseinandergelegt wird.« (Ebd.: 232–233 [Herv. O.H.]) Auch wenn hier tatsächlich von einer räumlichen Auseinanderlegung die Rede ist, bringt Simmel einen anderen Raumbegriff in Anschlag als Cassirer ihm vorwirft (vgl. Kapitel 3.2). Gleichzeitig kritisiert Simmel, dass jenes »idealistische Grundmotiv« (ebd.: 233), das die Objektivierungsleistung als Akt der freien Spontaneität des Geistes durchschaut und auch von Cassirer als Lösung angeboten wird, den empfundenen Gegensatz des Lebens zu seinen kulturell geschaffenen Inhalten, wenn er sich historisch gebildet hat, zu sehr abschwächt: »Diese [Gegenrichtungen; O.H.] aber einmal vorausgesetzt, können wir das Leben nur als das stetige Hinübergreifen des Subjekts in das ihm Fremde oder als das Erzeugen des ihm Fremden ansehen. Dieses aber ist damit keineswegs subjektiviert, sondern es beharrt in seiner Selbständigkeit, in seinem Mehr-als-Leben-Sein.« (Ebd.) Der Raum wird lediglich zum Ausdruck für jene Fremdheit und Unabhängigkeit des Inhalts vom Individuum, die auch für Simmel ja nicht nur etwas Beklagenswertes sind, sondern dem Individuum erst die Chance zur Distanzierung eröffnen, um sich am Fremden abzuarbeiten, es zu untersuchen und an ihm zu wachsen, anders ausgedrückt: sich an ihm zu kultivieren (vgl. hierzu auch Landmann 1975). Zu dieser Chance gehört aber ebenso, dass die kulturellen Erzeugnisse zum Widerständigen werden und Forderungen an das Individuum erheben, die dem Individuum fremd bleiben können. Jedoch wäre es eben – und hier ist sich Simmel mit Cassirer einig – unverständlich, wenn die Forderung tatsächlich jenes absolute Außerhalb einer fremden Substanz wäre, weil eine solche Distanz niemals zu vermitteln wäre und so auch die gefühlte Spannung sich nicht beruhigen oder graduell abschwächen könnte, während genau dies im alltäglichen Leben meist der Fall ist (vgl. Simmel LA: 357). Denn auch wenn Imperativ und Gesetz die Metapher des Gegenübers benötigen, sei das Sollen doch nicht durchgängig in einer solchen Gestalt gegeben. Viel öfter sei »das deutlichere oder dunklere Bewußtsein von dem, was wir sein und tun sollen« (ebd.) ein Mitlaufendes, das sich nicht zu explizierter Vorstellung heraushebe. Das »Gesollte« habe in einem solchen Fall schlicht »›Bekanntheitsqualität‹« (ebd.). Wir wissen, was wir tun sollen und was richtig für uns ist, ohne groß darüber nachdenken, es explizieren oder zum Gegenstand machen zu müssen. Nun konnten wir unter 3.4.1 jedoch sehen, wie ein solches sich in als selbstverständlich erachteten Orientierungen Treibenlassen zu einer mangelnden Präsenz im eigenen
3. Das Subjekt der Tragödie
Leben und den tatsächlich sich stellenden praktischen Fragen führen kann – ein Modus, der in Simmels Rede von der »Reduziertheit« des Lebens anklingt. Was wir wirklich sollen, was wirklich das Richtige für uns ist, bleibt uns in einem solchen Fall verschlossen, weil es von eigendynamischen oder erstarrten Verhältnissen verdeckt wird. Es gelingt uns nicht, unsere jeweilige Lage durch die Perspektive unseres eigenen Leibes und Lebens derart zu vermitteln und Entscheidungsspielräume in dem Sinne anzueignen, dass wir das für uns individuell Richtige und Gesollte zu erkennen. Wir sind uns selbst nicht zugänglich, aber nicht im Sinne eines inneren, wahren Wesens, sondern eines Lebens, das erst durch Inhalte und ihre spezifischen, die jeweilige Bedeutung der Inhalte erst konstituierenden Zusammenhänge eine erkennbare und je eigene Gestalt erhält. Für eine außen-, aber doch nahestehende Person kann hingegen offensichtlich sein, dass wir nicht die richtigen Entscheidungen im Leben treffen (bzw. überhaupt keine Entscheidungen treffen und ›die Dinge einfach laufen lassen‹),60 offenbar nicht ganz bei uns selbst sind, insofern das, was wir tun, nicht recht ›ins Bild passt‹, sich nicht als kohärente Aneignungsgeschichte verstehen lässt. Die Folge kann sein, dass wir uns in einem Leben wiederfinden, das wir als fremd, als uns unverfügbar gegenüberstehend empfinden. Auch der unter 3.4.2 geschilderte Fall, uns soziale Rollen und Kompetenzen nicht richtig zu eigen machen zu können, ist im entwickelten simmelschen Verständnis des Subjekts als Individuum abgedeckt. Aufschlussreich sind hierfür Simmels Bemerkungen in dem Fragment gebliebenen Text Zur Philosophie des Schauspielers. Die Übernahme und Aneignung einer sozialen Rolle gilt Simmel dort als »die Vorform der Schauspielkunst« (Simmel PhS: 204). Hinsichtlich der Frage, wann die Aneignung einer Rolle als gelungen gelten kann, argumentiert Simmel, dass der Maßstab hier nicht allein aus den sozialen Konventionen oder der literarisch-textlichen Vorlage einer Rolle zu gewinnen sei. So könnten drei verschiedene Schauspieler dieselbe »Rolle in drei völlig verschiedenen Auffassungen spielen [...], jede der anderen gleichwertig und keine ›richtiger‹ als die andere« (Simmel PhS: 202; siehe auch ebd.: 207), ohne dass deshalb Beliebigkeit in der Darbietung herrsche. Denn das Spielen der Rolle unterliege durchaus einer »idealen Forderung« (ebd.: 209), einem objektiven Anspruch. Diese ideale Forderung sei analog zur Wahrheit als »das angemessene Verhältnis zwischen Subjekt« respektive einer Überzeugung oder Vorstellung dieses Subjekts und dessen »Gegenstand« (ebd. [Herv. i.O.]) zu begreifen. Wahrheit hat hier nach Simmel eine pragmatische Basis, insofern sie sich danach bestimmt, was für das jeweilige Subjekt zweckmäßig ist, sich dieses Subjekt also mit seinen Vorstellungen sicher in der Welt orientieren kann. Hiervon unberührt ist für Simmel freilich die Eigenständigkeit eines wissenschaftlichen Wahrheitsbegriffs, der allerdings sich aus einer pragmatisch-lebensweltlichen Basis herausbildet (siehe hierzu näher Kapitel 5). Worauf es ankommt, ist, dass das Subjekt bzw. »das Individuum [...] selbst ein objektiver [und produktiver] Faktor« (ebd.: 209) dieses angemessenen Verhältnisses ist. Für die gelungene Darbietung eines Schauspielers gelte deshalb, dass ihr Maßstab »weder aus der [literarischen Vorlage der] Rolle selbst zu entnehmen [...] noch aus dem Naturell des Schauspielers für sich allein«, sondern nur aus der »ideelle[n] Relation« 60
Gemäß der simmelschen Konzeption des Sollens kann sich die Richtigkeit oder Falschheit einer Entscheidung auf mindestens drei verschiedene Ebenen beziehen: Sie kann bspw. moralisch, pragmatisch oder auch einfach technisch falsch sein.
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(ebd.) dieser beiden. Die Aneignung einer sozialen wie einer schauspielerischen Rolle sei »eine schöpferisch gestaltende Reaktion« (ebd.: 203) auf die jeweils vorgefundene Vorlage. Aneignung orientiert sich hier durchaus an einer Norm, nur eben nicht an »einer höchsten, übersingulären Norm« (ebd.: 202 [Herv. i.O]), sondern einer, die sich aus dem Leben des Individuums ergibt. In der Übernahme der Rolle geht das »Individuum [...] wirklich in die vorgezeichnete Rolle hinein, es ist jetzt seine Wirklichkeit, nicht nur der und der, sondern das und das zu sein« (ebd.: 203). Die Rolle und ihre Ausübung werden zum Teil und Inhalt des jeweiligen Lebens, d.h. der jeweiligen individuellen Geschichte und des Selbstverständnisses. Und doch wisse sich das Individuum in seiner »sonstigen personalen Wirklichkeit« als etwas jenseits der Rolle,61 »in einer Spannung« zu dieser, die aber nicht notwendig eine »gegensätzliche[...], gegen die Rolle« (ebd.: 205) sein müsse. Es leuchtet hier das oben erwähnte beständig auszutarierende Verhältnis zwischen Identifikation mit der Rolle (bzw. der Verwicklung in sie) und Distanz zur Rolle auf. Diese Spannung oder dieses Verhältnis kann aber vor dem Hintergrund des simmelschen Verständnis des Individuums in eine Selbstentfremdung übergehen. Denn wenn die Rolle in der Aneignung Teil der eigenen Wirklichkeit, des eigenen Selbst wird und umgekehrt sich das Selbst in der Rolle je verwirklicht (also wirklich wird), stellt sich die Herausforderung der Integration der Rolle und des Rollenverhaltens in das eigene Selbstverständnis sowie der Ausgestaltung der Rolle und ihrer Spielräume nach dem individuellen Gesetz als dem individuell angemessenen Verhältnis. Letzteres bedeutet nicht nur, der Rolle unseren je eigenen Stil zu verleihen (und ihn in dieser überhaupt zu entwickeln!), der uns in ihr auch kenntlich werden lässt, sondern sie auch so auszuüben, dass wir verschiedenen eigenen normativen Ansprüchen gerecht werden, wir also hinter dem, was wir in der Rolle tun, stehen können. Das individuelle Sollen beinhaltet wie ausgeführt nicht nur die Moral im engeren Sinne, aber eben auch diese. Ein rein instrumentelles Rollenverhältnis, in dem einen die Rolle gefühlt nichts angeht, kann darauf hindeuten, dass unser Rollenhandeln nicht unserem eigenen Selbstverständnis, unseren eigenen Wünschen und unseren Wertvorstellungen entspricht62 und sich wegen verschiedener Hindernisse (bspw. zu enge Rollenvorgaben, fehlende eigene Ressourcen) nicht eigens prägen lässt. Die Rolle steht uns dann als etwas Fremdes (und doch in defizitärer Weise zum eigenen Leben gehörend) gegenüber. Die 61
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Für die Schauspieler verhalte es sich hier anders: Dieser »behält nun während dieser [schauspielerischen] Leistung gar keine davon abweichende Persönlichkeit zurück, sein autochthones Dasein geht ohne Rest in die vorgefundene Gestaltung auf« (Simmel PhS: 205). Der Schauspieler reagiere »auf eine dichterische Figur mit der ganzen eignen Persönlichkeit« (ebd.: 217), indem er aus den in der literarischen Vorlage gegebenen »Worten und Taten« die »Persönlichkeit« (ebd.: 216), den »charakterologischen Einheitspunkt« (ebd.: 217) dieser Figur konstruiert und sich zu eigen macht. Auf diese Weise schlüpfe er in die Figur, »als wäre es ein glücklicher Zufall oder eine prästabilisierte Harmonie, daß die Entwickelung [der Figur] gerade in den Worten und Aktionen erfolgt, wie der Dichter sie vorgeschrieben hat« (ebd.). Ein solch rein instrumentelles Verhältnis, in dem man sich von der Rolle (graduell) distanziert, ist in einem solchen Fall Ausdruck und Folge des Konflikts von Selbstverständnis, Wünschen und Wertvorstellungen mit dem Rollenverhalten. Das rein instrumentelle Rollenverhältnis erscheint als eine mögliche (und verständliche) Form des Umgangs mit einem solchen Konflikt, bedeutet aber dennoch ein (graduell) entfremdetes Verhältnis, insofern die Person, bspw. weil sie sich aus wirtschaftlichem Druck genötigt sieht, die Rolle weiterhin ausübt.
3. Das Subjekt der Tragödie
andere Variante wäre die fehlende Rollendistanz, eine Überidentifikation mit der Rolle, in der es uns ebenfalls nicht gelingt, Spielräume einer Rolle (die an sich offen stünden) zu nutzen, wodurch wir anderen und uns selbst in der Rolle kenntlich werden könnten. Das eigene Leben erscheint auf die Rolle reduziert, wenn wir kein Selbstverständnis ausbilden, das sich im Rollenverhalten ausdrückt, und innerhalb dessen die Rolle (nur) ein Teil ist. Folglich bezieht sich die Frage, ob eine Person sich selbst und der Welt entfremdet ist, je auf ein individuell angemessenes Verhältnis, auf eine individuelle Normierung, die sich mit und aus dem je eigenen Leben ergibt. In diesem Sinne lässt sich auch die Möglichkeit der dritten diskutierten Form der Selbstentfremdung als innere Entzweiung und Unsicherheit verstehen. Unter 3.4.3 klang bereits die von Jaeggi und Simmel aufgewiesene Lösung an, die jeweiligen Phänomene vor dem Hintergrund eines Konzepts des angemessenen Selbstverständnisses, das einer Logik der Persönlichkeit folgt, als Selbstentfremdung zu bewerten und verständlich zu machen. Diese Möglichkeit der Selbstentfremdung sollte nach den vorangegangenen Ausführungen klare Konturen bekommen haben. Die in dieser Form der Entfremdung thematisierten Konflikte führen ins jeweilige Selbstverständnis hinein und können ein Hinweis darauf sein, dass wir uns selbst nicht recht zugänglich sind. Es gelingt uns in diesem Fall nicht, empfundene Ansprüche, Entscheidungen und Handlungsmotivationen durch und in einem angemessenen Selbstverständnis zu authentifizieren. Solche Konflikte können aber auch genau deshalb Anlass sein, das eigene Selbstverständnis zu prüfen und zu vertiefen. Simmel prägte hierfür die Rede vom ›Konflikt als der Schule des Ich‹. Gerade Jaeggi betont diese prozesshafte Dimension des kritisch-emanzipatorischen Bezugs auf das eigene Leben, in dem sich die Angemessenheit des Selbstverständnisses bemisst und herstellt. Die Perspektiven Jaeggis und Simmels ergänzen sich hier. Denn Simmel hebt hier auf die transzendentalen Bedingungen des jeweiligen Selbstverständnisses ab, wie wir die Bedeutung von Inhalten, Ereignissen oder Haltungen objektivieren, auf die Vermittlung des Gegenstandsbezugs durch den eigenen Leib und das eigene Leben respektive durch die vital-individuelle Anschauung. Dies war das Motiv, wonach die Bedeutungen der Lebensinhalte sich erst aus dem jeweiligen Leben ergeben bzw. erst im Kontext und in den Zusammenhängen dieses Lebens bestimmbar sind. Wenn auch in einem solchen Zusammenhang sachlich Widersprüchliches durchaus in einem angemessenen Selbstverständnis vereinbar ist,63 deutet dies keineswegs auf eine unbegrenzte Formbarkeit oder Willkür hinsichtlich des Selbstverständnisses hin. Simmel geht es vielmehr gerade um die Absicherung der (besonderen Form der) Objektivität eines jeweiligen Selbstverständnisses und des Verständnisses des eigenen Sollens, um ihren Bezug auf eine jeweilige Grundlage, eben das individuelle Leben, der dieses Selbstverständnis mehr oder weniger gerecht werden kann (vgl. Simmel LA: 410 und 417). So eröffnet sich eben die Möglichkeit, dass wir uns selbst, dem eigenen Agieren, der je eigenen Pflicht
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Bspw. in zeitlicher Dimension durch eine kohärente Aneignungsgeschichte, aber auch dadurch, dass (wohl unvermeidbare) Ambiguitäten oder Ambivalenzen im eigenen Leben bis zu einem gewissen Grad ausgehalten werden können. Ambiguitäts- und Ambivalenztoleranz zählt deshalb zweifelsohne zu den für die Entwicklung der Persönlichkeit wichtigen Selbst- und Sozialkompetenzen.
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verständnislos, unversöhnlich oder verkennend gegenüberstehen.64 »[D]as betreffende Individuum selbst [besitzt] keineswegs eine privilegierte Einsicht in sein ›individuelles Gesetz‹« und könne sich über »das ihm gemäße ›Sollen‹« irren, »während andere es zu erfassen vermögen« (Geßner 2003: 230). Prägnant ist hier auch Simmels Beispiel, wonach »wir tatsächlich uns für manche Handlungen nicht voll verantwortlich fühlen, daß sie plötzlich wie Fremdlinge, man weiß nicht woher gekommen, in unserer Innenlandschaft dastehen« (Simmel LA: 398). Jedoch hält Simmel es für »irrig« solche Handlungen tatsächlich als »etwas Peripherisches, unserem Lebenszentrum nicht Verbundenes« (ebd.) zu deuten (und uns von Verantwortung freizusprechen), weil auch sie Ausdruck des je ganzen Lebens sind, das sich selbst aber eben einem Modus des Sich-selbst-Fremdseins befindet. Auch die letzte, unter 3.4.4 behandelte Form von Selbstentfremdung als Indifferenz und Desorientierung aufgrund von Uneigentlichkeit fügt sich in das entwickelte Verständnis des Individuums. Die völlige Indifferenz gegenüber der Welt, der Verlust unserer affektiv-identifikatorischen Beziehungen zur Welt, erschien als Selbstentfremdung, weil unser Selbst und d.h. unser Selbstverständnis sich je aus diesen affektiv-identifikatorischen Beziehungen aufbaut und in diesen besteht. Das Selbst, das was unser Eigentliches ausmacht, so war die Folgerung, sei also nichts im Innern oder etwas Getrenntes, jenseits von der Welt stehendes. Nichts mehr wirklich wichtig nehmen (zu können), bedeutet nicht nur, dass unser Selbst schrumpft, sondern auch eine sinnlich reduzierte Wahrnehmung der Welt und sich in der Welt nicht mehr orientieren zu können. Unser Selbst verwirklicht sich erst in der Welt. In Simmels Tragödie zeigte sich die gestörte affektive-identifikatorische Beziehung zur Welt darin, dass die Kulturelemente als Folge einer Überforderung und Erdrückung ob ihrer Massenhaftigkeit für das Individuum ›im tiefsten Grund auch nicht bedeutungsvoll‹ seien. Das Individuum könne aus den Kulturinhalten keine ›Nahrung und Förderung‹ für seine Entwicklung, für die Verwirklichung seines Selbst ziehen. Das vorangegangene Unterkapitel legte das simmelsche Konzept des Selbst (respektive des Ich) als etwas offen, das eben nur im Erleben und Tun von Inhalten sichtbar und wirklich werde, dessen formende Kräfte nur an seinen materialen Äußerungen erkannt werden könne. Wo das leiblich-lebendige Individuum seine identifikatorischen Bezüge zur Welt einbüßt, befindet sich sein Leben in einem »Stadium der
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Simmels eigenes Beispiel in den Lebensanschauungen für ein solches Verkennen der eigenen Pflicht erscheint in seiner Deutung problematisch und vor allem in seiner Ausgestaltung unzureichend (Simmel LA: 408–409). Anhand des überzeugten Antimilitaristen, der sich dem Kriegsdienst gegenüber seinem Staat verweigert, möchte Simmel, der hier immerhin im zeitlichen Kontext des Ersten Weltkriegs schreibt, zeigen, dass sich auch entgegen der persönlichen Überzeugung sich für den Antimilitaristen die Pflicht zum Kriegsdienst ergebe, insofern es ein »garnicht zu eliminierendes Moment« sei, »daß dieser Mensch etwa Bürger eines bestimmten Staates ist« (ebd.: 409). Die individuelle Pflicht zum Kriegsdienst »gleichviel ob er [der Mensch] ihr zustimmt oder nicht, stammt aus der ganz unübersehlichen, garnicht lösbaren Eingewebtheit der staatlich-nationalen Kräfte und Werte in seine individuelle Existenz, und darum kann sich aus dieser die Pflicht eines Waffendienstes erheben« (ebd.). Während dieser Fall in seiner Darlegung sehr wohl andere Interpretationen und Schlussfolgerungen zulässt, geht es zunächst darum, dass bestimmte lebensgeschichtliche Faktoren in einem Selbstverständnis, wenn es denn angemessen sein soll, Berücksichtigung finden müssen.
3. Das Subjekt der Tragödie
Reduziertheit« (ebd.: 399). Sein Bezug zur Welt beschränkt sich auf eine objektivierende Distanzierung (Mehr-als-Leben), ohne sich das aus sich Herausgestellte affektiv-identifizierend anzueignen und daran zu wachsen (Mehr-Leben). Das Selbst des Individuums besteht immer noch als Ganzes im Erleben und Handeln, doch ist dieses Erleben und Handeln gestört, insofern es verkennt, was dies mit ihm persönlich zu tun hat, welche Bedeutung dies für das Selbst hat. Die Inhalte wollen sich nicht zu einem Bild fügen, in dem sich das Selbst erkennen kann. Das zurückliegende dritte Kapitel konnte für die Kontroverse wesentliche Punkte herausarbeiten und vor allem Simmels Position unter Zuhilfenahme von Jaeggis Entfremdungskonzept erhellen. Das Subjekt der Tragödie ist für Simmel nicht das reine Ich, sondern ein Individuum mit Leib und Leben. Das Selbst dieses Individuums ist aber entgegen Cassirers Kritik kein essentialistisch gedachter Kern, nichts an sich Gegebenes, in das es sich mystisch-harmonisch zu versenken gelte, sondern verwirklicht sich in Bezügen auf sich selbst und die (kulturelle) Welt. Seine personale Einheit entwickelt und stellt sich her gerade durch die Spannungen und Konflikte in diesen Bezügen. Durch ein solches in der Leiblichkeit und im Lebensbegriff fundiertes »qualitative[s] Verständnis von personaler Einheit« (Geßner 2003: 230) als Grundlage einer positiven Bestimmung von Freiheit in der Kultur, eröffnet sich erst die Möglichkeit, Entfremdung als Form des Freiheitsverlusts in der Kultur zu denken. Ein Subjektbegriff, der als kritisches Instrument zur Beurteilung des Verhältnisses von Individuen zu ihrer Kultur und kultureller Eigenlogiken dienen soll, muss Aspekte der Leiblichkeit65 mitberücksichtigen und den Subjektbegriff des reinen Ich zu einem normativ gehaltvollen Begriff des lebendigen Individuums erweitern.
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Auch Wiegerling begreift den Leib als »kritische Kategorie«, »mit deren Hilfe man die Leistungen und Funktionen moderner Informations- und Kommunikationsmedien bewerten kann« (Wiegerling 2008: 92).
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4. Freiheit in der Kultur: Kultivierung
Bis hierhin habe ich die Konfliktlinie um den Subjektbegriff, die in der Aufarbeitung der Tragödienkontroverse zwischen Simmel und Cassirer sichtbar wurde, unter der Leitdifferenz Entfremdung/Kultivierung modelliert. Bei der Untersuchung der Möglichkeit von (Selbst-)Entfremdung wurde Entfremdung als eine Form des Freiheitsverlustes konzipiert, in der die Möglichkeit, die je eigene Freiheit positiv zu bestimmen und zu verwirklichen, gestört ist. Der anderen Seite der Leitdifferenz, Kultivierung, muss deshalb notwendig ein Bezug zum positiven Freiheitsbegriff innewohnen. Diese andere Seite der Leitdifferenz soll nun im folgenden Kapitel analysiert werden. Zuerst werde ich Simmels Idee der Kultivierung auf Grundlage der im vorangegangenen Kapitel entwickelten Vorstellung des vom Leib gerahmten Individuums weiter erhellen und dabei eine Lesart von Leib als Medium auf Basis der hubigschen Reflexion von Medialität vorschlagen (4.1). Darauffolgend (4.2) werde ich aufzeigen, wie sich mit Cassirer das kulturelle Schauspiel als Erziehungsdrama deuten lässt und so eine stärkere und erweiterte Lesart der cassirerschen Position entwickeln, die die Rolle des Individuums und seine Möglichkeit zur Freiheit in der Kultur in einer sozialethischen Dimension fasst. Zuletzt (4.3) wird sich dabei eine Parallele im Goethe-Bezug beider Autoren auftun, die zwar nicht dazu führt, beide Positionen zu vereinigen, aber eine Basis für die weitere Aktualisierung der Kontroverse liefert.
4.1 Kultivierung der positiven Möglichkeit Zu Beginn des vorangegangenen Kapitels wurde bereits eine Interpretation des simmelschen Konzepts des Kultivierungsprozesses angerissen, von jenem »Weg [des Individuums] von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (Simmel BuTK: 387). Dieses Kultivierungskonzept gilt es im Folgenden weiter zu bestimmen. Der Kultivierungsbegriff lässt sich bereits in der Philosophie des Geldes und den um sie herum veröffentlichten Aufsätzen finden. Eine dezidierte Ausarbeitung des Begriffs legt Simmel 1908 in seinem Essay Vom Wesen der Kultur vor. Dort macht Simmel ein Verständnis stark, wonach Kultur und Natur sich als verschiedene Entwicklungsmodi eines Subjekts voneinander abgrenzen lassen. Bezieht sich »Natur« als Kategorie der wissen-
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schaftlichen Betrachtung auf den »allumfassende[n] Komplex der im kausalen Nacheinander verbundenen Erscheinungen« (Simmel VWdK: 365), gewinnt sie in Gegenüberstellung zum Begriff der Kultur eine anders gefasste Bedeutung. Hier hebe »Natur« nämlich ab auf eine bestimmte »Entwicklungsperiode eines Subjekts« (ebd.). Diese Entwicklungsperiode sei gewissermaßen ein »wildes Wachstum« (ebd.: 364), das sich vollständig durch kausal ablaufende Prozesse beschreiben ließe, also durch die kausalen Mechanismen und Interaktionen des Subjekts mit seiner Außenwelt bestimmt ist. Zur Kultivierung gehe die Entwicklung erst über, wo ein »über Mittel verfügender Wille« (ebd.: 365 [Herv. i.O.]) lenkend eingreife, und sie auf Zustände führe, die ohne diese Eingriffe nicht erreichbar gewesen wären. Ob diese teleologischen Eingriffe von außen, bspw. durch eine Art Erzieher:in, erfolgen müssen, eine Eigentätigkeit des jeweiligen Subjekts sein können oder sich auf die Interaktion mit objektiven, bewusst geschaffenen Gebilden beziehen, bleibt an dieser Stelle offen. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage wird deutlich, dass in Vom Wesen der Kultur noch die von einem Willen gestaltete Teleologie der Entwicklung für Simmel das wesentliche Merkmal darstellt, weshalb der »Kulturbegriff« selbst noch »mit dem der menschlichen Zwecktätigkeit zusammenzufallen scheint« (ebd.). Als ergänzende Bedingungen hält Simmel aber bereits hier fest, dass es der »Einbeziehung eines objektiven Gebildes in den Entwicklungsprozeß der subjektiven Seele« (ebd.: 368) bedürfe, um von Kultivierung zu sprechen. Möglich ist der Weg zur entfalteten Einheit nur, »indem zwei Elemente zusammenkommen […]: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis« (ebd.: 389). Durch die Auseinandersetzung mit den kulturellen Objekten wird eine Entwicklung in der subjektiven Seele angestoßen, »das Freiwerden der in ihr selbst ruhenden Spannkräfte« (ebd.: 386).1 In Der Begriff und die Tragödie der Kultur sowie besonders in den Lebensanschauungen relativiert sich nun allerdings die zuvor hervorgehobene Bedeutung der Teleologie. So taucht bereits im Aufsatz von 1911 das Kriterium des teleologischen Eingriffs nicht mehr explizit auf, wenngleich sich Simmel desselben Beispiels wie in Vom Wesen der Kultur bedient, um den Unterschied von natürlicher Entwicklung zu Kultivierung zu veranschaulichen: dem des Gartenobstbaums, der erst durch die züchterische Einwirkung des Gärtners genießbare Früchte ausbildet. Anders als zuvor hebt Simmel in Der Begriff und die Tragödie der Kultur mit diesem Beispiel nun darauf ab, dass im Kultivierungsprozess etwas zur Wirklichkeit gelangt, das in »den eigenen Triebkräften« gelegen ist bzw. eine »Präformation« in den »eigenen Wesenstendenzen« (Simmel BuTK: 388) besitzt. Die Metaphorik von den Trieb- oder auch Spannkräften ist für das Verständnis jener Relativierung der Teleologie bedeutsam. Denn ihr Freiwerden bezeichnet einen Bewegungsimpuls, der von einem jeweiligen Startpunkt ausgeht und über eine Ausrichtung verfügt, 1
Es dürfte im Übrigen wenig verwundern, dass Simmels Bildungsbegriff, den er in einer posthum veröffentlichten Vorlesung zur Schulpädagogik entwickelt, auf seinem Kultivierungskonzept beruht. Erfolgreiche Bildungsprozesse liegen demnach vor, wenn »objektives Wissen eingegangen ist in die Lebendigkeit […] [einer] subjektiven Entwicklung und Existenz, und [deren] geistige Energie […] mit einem möglichst weiten und immer wachsenden Umfang von an sich wertvollen Inhalten erfüllt ist« (Simmel SP: 355). Bildung sei also »weder das bloße Haben von Wissensinhalten, noch das bloße Sein als eine inhaltslose Verfassung der Seele« (ebd. [Herv. i.O.]). Deutlich zu erkennen ist das Merkmal zweier Faktoren, ein subjektiver und ein objektiver, die im Prozess zusammenkommen und sich in einer Weise durchdringen, durch die der subjektive sich entwickle.
4. Freiheit in der Kultur: Kultivierung
aber nicht durch einen klar definierten Zielpunkt oder gesetzten Zweck bestimmt ist. Der kultivierte Zustand sei »nicht ein benennbares, an irgendeiner Stelle der geistigen Welt fixierbares Ideal« (ebd.: 386). Auch die Rede von der »entfalteten Einheit« darf entsprechend nicht dahingehend gelesen werden, als habe Simmel dabei ein bestimmbares Ziel vor Augen. Wo der teleologische Eingriff für Simmel noch eine Rolle spielt, zeigt sich diese im Anstoß des Kultivierungsprozesses, der die Entwicklung über das im ›wilden Wachstum‹ Mögliche hinausführt, und nicht mehr in der Bestimmung eines Zwecks als zu erreichendem Zustand. Was den erreichten Zustand und die Entwicklung dorthin als Kultivierung qualifiziert, ist gewissermaßen die »Wurzel« (ebd.), aus der sich der Prozess speist. Mit anderen Worten: Kultivierung bestimmt sich über einen terminus a quo und nicht über einen terminus ad quem (vgl. Simmel LA: 420). Nicht ein Ziel, sondern eine spezifische von einem Startpunkt ausgehende Richtung verleiht dem Prozess die »immanente Qualität«, die ihn erst eigentlich zur »Entwicklung« (ebd.: 361), zu einer Ent-faltung, macht. Mit dieser Feststellung eröffnet sich auch der Bezug, den die Kultivierung zur Freiheit besitzt. Freiheit bestehe nämlich, so Simmel, in der Möglichkeit, über die Zweckmäßigkeit hinauszuschreiten (vgl. ebd.: 248). Einerseits ist damit die zweckmäßige Verfassung des Organismus in Interaktion mit seiner Umwelt gemeint,2 andererseits aber auch »die bewußt vernünftige Form« (ebd.: 249) des Zwecksetzens in Gestalt des menschlichen Handelns, das die Verfassung des Organismus durchbrechen kann. Die bewusste Zwecksetzung strukturiert zwar unsere Handlungen intern teleologisch, also in Zweck-Mittel-Verknüpfungen, ist ihrerseits aber »nicht wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie eingestellt« (ebd.: 248). Das menschliche Leben im Ganzen gewinnt seine Freiheit dort, wo es sich nicht von Zwecken her bestimmen lässt, »in dem idealen Reiche, vor dem die Teleologie endet« (ebd.: 250). Sie besteht dort, wo das Leben sich eine Ausrichtung verleiht. Was für den Kultivierungsprozess gilt, gilt auch für die Freiheit allgemein: Sie bestimmt sich terminus a quo und nicht terminus ad quem. Diese Freiheit im simmelschen Verständnis, die sich aus der organisch-körperlichen verankerten Zweckmäßigkeit herauslöst und zumindest partiell über diese erhebt, ist jedoch so beschaffen, dass sie sich der Welt gegenüber verwundbar zeigt. Negativ ist diese Freiheit nur im Sinne der Lockerung fester Koppelung teleologischer Strukturen, aber diese Lockerung oder Distanzierung bedeutet gerade »nicht die Abwesenheit von Zwang« (ebd.: 251), sondern vielmehr die Ermöglichung von Zwang: »Nur das irgendwie freie Wesen kann gezwungen werden.« (Ebd.: 250) Erst wo sich das Leben in Bereichen über teleologische Strukturen erhebt, diese Strukturen also zunehmend gelockert werden, können sie, da sie sich in der leiblichen Existenzform nie vollständig auflösen, als Zwang empfunden werden. Ein solcher Zwang, deutet Simmel an, ist gedacht als Nötigungsverhältnis, resultierend
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Wie bereits angemerkt ist nach Simmel mit der »Zweckmäßigkeit« des körperlichen Organismus nicht sein »letztes, eigentlich formendes Wesen« erkannt. Der »teleologische Gesichtspunkt« ist hier »bloß heuristisch oder symbolisch«, ermöglicht aber ein Verständnis der »Organismen als physische« (Simmel LA: 247 [Herv. O.H.]), d.h. als Gegenstände der Biologie. Diese kritische Beschränkung der teleologischen Kategorie eröffnete den Raum für die vorangegangen Überlegungen zum Leib (siehe Kapitel 3.5).
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aus einer Überdetermination des Lebens, die die »Möglichkeit menschlichen Widerstrebens« (ebd.: 251) respektive »innerer Gegenstrebung« (ebd.: 250) offenlässt. Im Anschluss an unsere Überlegungen zur Entfremdung können wir formulieren, dass Kultivierung im partiellen Überschreiten fester teleologischer Koppelungen den Umgang mit je auch als Zwang empfundenen Lebenslagen bedeutet. Ist nun einerseits eine solche Lesart, die unter der Kultivierung die Erreichung eines konkreten und definierten Entwicklungsziels verstehen möchte, ausgeräumt, und andererseits die Verknüpfung von Freiheit und Kultivierung offengelegt, stellt sich die Herausforderung, die angesprochene immanente Qualität, die den Prozess zur Entwicklung macht, genauer zu bestimmen. Die uns bereits begegneten Formulierung von der »Vollendung« der »Totalität«, auf die das Individuum durch seine »eigenen Möglichkeiten« (Simmel BuTK: 403) gewiesen wird, wirft die Frage auf, wie angesichts der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die ein Individuum im Laufe seines Lebens und seines persönlichen Weges in Abhängigkeit von den jeweils vorgefundenen historischen und örtlichen Bedingungen und Einflüssen verwirklichen kann, noch so etwas wie eine Richtung bestimmt werden könnte, in der das Individuum seine Vollendung anstreben soll. Den orientierenden Rahmen in diesen Möglichkeiten, den Simmel implizit mitdenkt, haben wir bereits als den Leib identifiziert. In der individuellen und individualisierenden Materialität und Medialität des Leibes besitzt das Seelisch-Geistige eine Einheit als Bezugsund Bedeutungszentrum. Der Leib als Medium verweist einerseits auf die erstpersonale Positionierung des Individuums in der Welt und andererseits auf die Herausforderung, das eigene Leben aus einer je eigenen Möglichkeitsstruktur heraus zu führen und zu gestalten. Die Möglichkeitsstruktur des Leibes verleiht dem Individuum aber nicht dieselbe Formbarkeit wie die »eines Stückes Ton, das zu unendlich vielen Formen geknetet werden kann«, sondern ist durch sogenannte »positive Möglichkeiten« (Simmel LA: 316) gekennzeichnet. Die Rede von ›positiven Möglichkeiten‹ hebt ab auf etwas, das Simmel auch als »latente Gerichtetheiten« der eigenen »Energie« bezeichnet, auf »organische, nur eines Entwicklungsreizes bedürftige Anlagen« (ebd.) in den »natürlichen Strukturverhältnissen oder Triebkräften« (Simmel VWdK: 365 [Herv. i.O.]) des Individuums. Es handle sich um »weder bloß begriffliche ›Möglichkeiten‹, noch morphologisch gleiche Abdrücke einer gebotenen Form, sondern [um] irgendwie schon Produktivitäten der Seele selbst, Antworten auf die Welt, die nur sie geben kann, kein Echo, das mechanisch und ganz und gar erst dann auftritt, wenn eine äußere Bewegung entstanden ist« (Simmel LA: 316). Diese Möglichkeiten sind demnach also keine lediglich abstrakt und logisch vorstellbaren, sondern real angelegt. Angelegt sind sie ferner nicht als eine ruhende »Zuständlichkeit«, vielmehr sind sie, darauf deutet auch die Formulierung ›Produktivitäten‹ hin, »etwas Drängendes«, das »vornherein die Forderung einer Vollendung« (Simmel VWdK: 366) erhebt. Es sind nämlich diese Möglichkeiten, in denen »ein Höheres und Vollendeteres« unserer selbst »präformiert« ist, in denen der Mensch je »ein Mehr« (Simmel BuTK: 385–386) als seine augenblickliche Tatsächlichkeit ist. Simmels Ausführungen zu den Möglichkeiten, aus denen das Individuum heraus lebt und deren Verwirklichung Kultivierung bedeutet, lässt sich mit einer weiteren Refle-
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xion auf Medialität rekonstruieren und so die Konzeptualisierung des Leibes als Medium schärfen. Als eigentliche, absolute Metapher drückt die Rede vom Medium »Teilaspekte der Widerfahrnis von Vermitteltheit« (Hubig 2006: 147; siehe auch die Ausführungen oben in Kapitel 1.1.2) aus. Medialität kann so als »strukturierter Raum« vorgestellt werden, »in dem in Abhängigkeit von Ausgangsbedingungen etwas ermöglicht [oder verunmöglicht; O.H.] wird« (ebd.: 148). Insofern jedoch das Medium als Ermöglichendes ausgehend von »dem medial vermittelten Ergebnis« charakterisiert wird, eröffnet sich eine Beobachterperspektivenabhängigkeit bei der Bestimmung dessen, was als Medium begriffen wird, und der Rekonstruktion desselben. Vor das Ergebnis einer Aktualisierung gestellt, ist das jeweilige Subjekt in der Lage, (abduktive) Rückschlüsse auf die Verfasstheit des Mediums zu ziehen (vgl. ebd.: 149). Die Verfasstheit von Medien lässt sich in vier Ebenen unterteilen (siehe zum Folgenden ebd.: 150–151). Die erste Ebene ist jene der ›Spur für…‹ bzw. einer ›potentiellen Ermöglichung‹, die »formal durch ›möglich‹ als Operator ausgedrückt« (ebd.: 150) werden kann (›Es ist möglich, dass …‹). Die zweite Ebene beschreibt »Verkörperungen, Instantiierungen, ›Performanz‹ des Medialen« als »reale Ermöglichung« (ebd.), also die Art und Weise, wie dasjenige, was potentiell ermöglicht ist, im »So-und-So-Vorhandensein des Mediums« (ebd.) über das Hinzukommen eines Impulses aktualisiert wird und Effekte zeitigt. Die Effekte als Resultate, in denen sich Nebenbedingungen ebenso wie die Beschaffenheit des Mediums selbst (als ›Spur von…‹) auswirken können, markieren die dritte Ebene. Zu diesen (erwünschten, erwarteten, unerwarteten oder unerwünschten) Resultaten können sich »die erkennenden und handelnden Subjekte« ins Verhältnis setzten und mittels ihrem Wesen nach unsicheren abduktiven Schlüssen auf der vierten Ebene »ein unvollkommenes Bild der Medialität […] erstellen« (ebd.: 151), das für die Planung künftiger Handlungen und Handlungsmittel genutzt werden kann. Die vierte Ebene blendet darauf, dass Möglichkeitsräume nicht in vollständiger Weise vorzustellen sind; sie eröffnen, verändern und bauen sich erst über konkret vollzogene Aktualisierungen auf: »[D]ie innere, konzeptualisierte Medialität, die eine wesentliche Voraussetzung unserer Handlungsplanung ausmacht, wächst umgekehrt proportional zu den Einschränkungserlebnissen, über die wir etwas über ihre Möglichkeit erfahren.« (Ebd.: 158) Spezifisch für den Leib hatten wir diese Erkenntnis bereits im Kapitel 3.5.2 gewonnen: Den Leib hermeneutisch zu erschließen, ist ein Unternehmen, das nie zu einem Abschluss zu bringen ist. Allein deshalb sind die die Möglichkeiten des eigenen Leibes nicht einfach gegeben oder auf den Begriff zu bringen. Folgerichtig knüpft Simmel die Entwicklung des Selbstbewusstseins des Subjekts als der Vorstellung seiner eigenen überdauernden Identität an die Erfahrung von Hemmungen und Widerständigkeit, in der ein Trieb oder Wille nicht oder nur teilbefriedigt wird und sich dabei in einem andauernden Verhältnis zu dem Objekt der Begierde von diesem unterscheiden kann (siehe Kapitel 3.5.2; später auch Kapitel 6.3). In Erinnerung zu rufen ist ferner, dass die Medialität des Leibes untrennbar mit der individualgeschichtlichen, kulturell-gesellschaftlichen und umweltlichen Prägung verbunden ist – oder wie Simmel mit Goethe formulierte: ›Nicht nur das Angeborene, auch das Erworbene ist der Mensch‹. Dies ist zu beachten, wenn vermieden werden soll, mit der Rede von ›eigenen Wesenstendenzen‹ essentialistische Vorstellungen aufzurufen. Wie können wir vor diesem Hintergrund nun den modalen Charakter der ›positiven Möglichkeiten‹ und ihre Bedeutung für die Ausrichtung des Kultivierungsprozes-
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ses genauer bestimmen? Sie seien, so hieß es, keine ›bloß begrifflichen Möglichkeiten‹ oder möglichen Effekte eines umfassenden kausalen Prozessierens. Die ›positiven Möglichkeiten‹ werden damit von der Ebene der potentiellen Ermöglichung im skizzierten Modalgefälle der Medialität abgegrenzt. Diese Ebene ist ein Reservoir des Möglichen und umfasst alles, was in diesem Medium grundsätzlich möglich ist. Konkret ausgedrückt stellt sich im leiblichen Leben des Individuums trotz der Begrenzungen durch biologische Beschaffenheit des Leibes und durch individualgeschichtliche, kulturell-gesellschaftliche sowie umweltliche Prägungen eine Unzahl an Möglichkeiten, deren Verwirklichung (bzw. die Herbeiführung der Bedingungen zu ihrer Verwirklichung) zumindest nicht verunmöglicht wird. Geht es aber bei den ›positiven Möglichkeiten‹ um vorhandene Anlagen und Strukturverhältnisse, die lediglich eines ›Entwicklungsreizes‹ bedürften, befinden wir uns offenbar auf der Ebene der realen Ermöglichung, auf der Ebene solcher Möglichkeiten, die in der Struktur des Mediums eine Verkörperung oder Instantiierung gefunden haben. Offenbar denkt Simmel diese Art realer Ermöglichung aber nicht als instinkt- und triebbestimmte Koppelung im Merk- und Wirknetz des Organismus – im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas –, in dem ein gegebener Impuls zur mechanischen Umsetzung eines Effekts (Verwirklichung) führt. Die eintretende Verwirklichung sei schließlich ›Antwort‹, nicht ›bloße Reaktion‹, also eine produktiv-spontane, im hier entwickelten Begriffssinne leibliche Verarbeitung des Reizes. Die Koppelung besteht demnach in Sinnstrukturen und in diesen gründet sich auch die Forderung nach Verwirklichung. In Kapitel 3.5.3 wurde dargelegt, wie das Leben sich in jedem Augenblick als Ganzes ausdrückt, in der Weise, dass es je »alle Folgen seiner Vergangenheit, alle Spannkräfte seiner Zukunft in sich« (Simmel: LA 397) versammelt. Dieser Lebensbegriff findet sich bereits in Der Begriff und die Tragödie der Kultur bei der Beschreibung der Art der Präformation der vollen Wirklichkeit der Persönlichkeit. Seine Vergangenheit trage das Leben »nicht nur als mechanische Ursache späterer Umsetzungen« in sich und ebenso sei seine zukünftige, »spätere Form« nicht in der Gestalt präformiert, »mit der die gespannte Feder ihre Gelöstheit enthält« (Simmel BuTK: 386). Vergangenes und Zukünftiges sammeln sich im Leben in inhaltlich-sinnhaften Dimensionen: »All die seelischen Bewegtheiten vom Typus des Wollens, der Pflicht, des Berufenseins, des Hoffens – sind die geistigen Fortsetzungen der fundamentalen Bestimmung des Lebens: in seiner Gegenwart seine Zukunft, in einer besonderen, eben nur am Lebensprozeß bestehenden Form zu enthalten.« (Ebd.) Es ist das Leben unter der Kategorie des Sollens, in der sich seine normativen Bezüge auf die eigene Zukunft entfalten und die sich je aus der eigenen Vergangenheit, aus der eigenen Geschichte speisen (siehe Kapitel 3.5.1 und vor allem 3.5.4). Inhaltlich zu bestimmen sind diese Bezüge in der vital-individuellen Anschauung, die die Vermittlung unserer Weltverhältnisse durch den Leib und so die Bedeutung der Inhalte im jeweiligen Leben rekonstruiert (siehe Kapitel 3.5.3). Unter dem Begriff der ›positiven Möglichkeiten‹ hebt sie hierin auf ermöglichende Formationen ab, die sich im jeweiligen Leben herausbilden und auf eine Verwirklichung drängen. Wie sich in einzelnen normativen Bezügen »Entwicklungen und Vollendungen« abzeichnen, so auch für die »Persönlichkeit als ganze« (ebd.), in der all jene Entwicklungslinien, vermittelt durch das Medium des Leibes als Bedeutungs- und Bezugsrahmen, zusammenlaufen und gemäß der »Logik der Persönlichkeit« (ebd.: 404) respektive nach einem ›Individuellen Ge-
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setz‹3 zu einer spannungsvollen, aber auf Einheit ausgerichteten Form organisiert werden – denn: »[E]rst mit ihrer Bedeutung für oder als die Entwicklung der undefinierbaren personalen Einheit kultiviert sich der Mensch.« (Ebd.: 387) Wenngleich also die ›positiven Möglichkeiten‹ selbst noch eine schwer überschaubare Anzahl darstellen mögen, sind sie im Medium des Leibes unter das übergeordnete Prinzip der Persönlichkeit bzw. des angemessenen Selbstverständnisses gestellt, aus dem heraus sich eine Orientierung des Kultivierungsprozesses gewinnen lässt. Diese Orientierung ist freilich keine, wie bereits betont, die sich an einem Zielpunkt festmachen lässt. Sie bestimmt sich als Richtung oder Perspektive von einem jeweiligen Ausgangspunkt, innerhalb derer Ziele gesetzt, authentifiziert und angeeignet werden können, um so positive Freiheit zu verwirklichen. Aus diesem Grund stellt es auch keinen Einwand dar, dass auch die Ebene der realen Ermöglichung im leiblichen Medium Entwicklung unterliegt. Die ›positiven Möglichkeiten‹ des Leibes sind durch Training, Abnutzung, Bildung, prägende Erlebnisse, soziale Integration und Desintegration, Unfälle, Krankheit, Umwelteinflüsse und sogar technische Eingriffe veränderbar. Ferner verweist uns die Veränderlichkeit des Mediums auf historisch-örtlich kontingente Kontextbedingungen, die Einfluss darauf haben, was im leiblichen Medium real ermöglicht wird und wie weit es gelingt, die Ermöglichungsstruktur abzubilden. Den Umgang mit der hierin gelegenen Kontingenz hinsichtlich dessen, was wir sind und werden können, beschrieb Simmel im Schicksalsbegriff, der einen sinnstiftenden Bezug der äußeren kontingenten Bedingungen auf die (auf verschiedenen Reflexionsstufen) wahrgenommene Richtung des eigenen Lebens herstellt (siehe Kapitel 3.5.3). Die planvolle Veränderung auf der Ebene der realen Ermöglichung vollzieht sich auf Grundlage der Verhältniseinnahmen zu vorangegangenen Handlungsresultaten und der darüber erschlossenen Struktur des Mediums. Die Planungsperspektive knüpft sich aber, wo sie realistische Planung und nicht nur bloßer Wunsch4 sein will, je an die (erkannten) Gegebenheiten des Mediums. Im vorliegenden Fall bedeutet dies, dass die Perspektive auf das eigene Leben und die Entfaltung und Verwirklichung jeweiliger Möglichkeiten an die leibliche Vermittlung, an das Medium des Leibes selbst gebunden ist. Die gegenwärtige Leiblichkeit ist stets der notwendige Ausgangspunkt, von dem aus sich die normativen Bezüge auf die eigene Zukunft ergeben, und so auch für Orientierung und Planung des eigenen Lebens. Den »Rhythmus«, in dem sich das Leben in normativ-orientierender Dimension kontinuierlich entwickelt, bezeichnet Simmel Goethe zitierend als »die Forderung des Tages«: 3
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Es ist anzumerken, dass die Präzisierungen und Ergänzungen, die Simmel in den Lebensanschauungen und mit der Einführung des ›Individuellen Gesetzes‹ als der normativen Dimension des individuellen Lebens als Ganzem vornimmt, die Frage nach dem Verhältnis von Kultivierung, Logik der Persönlichkeit und ›Individuellem Gesetz‹ aufwerfen: Gehen diese ineinander auf oder beschreibt die Kultivierung nur einen übergreifenden Aspekt des dynamischen Sollens des Lebens? Eine zureichende Antwort erscheint mir an dieser Stelle und auch im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. Die kulturphilosophische Forschung steht m.E. erst am Anfang, Simmels letztes großes Werk, die vier Kapitel der Lebensanschauungen, angemessen zu erschließen. Nicht gemeint sind damit kontrafaktische, utopische Überlegungen und Gedankenspiele, die ihrerseits ja darauf zielen, das Denkmögliche zu erweitern respektive Beschränkungen in der Konzeptualisierung jeweiliger Medialität zu überwinden.
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»nicht die, die der Tag, im Sinne des äußeren Milieus, an uns heranbringt, sondern die aus dem eigen-innersten Leben hervorgehende, aber Stunde für Stunde, das Vorzeichen des nächsten Schrittes; der übernächste liegt im Dunkel und wird erst klar, wenn der nächste getan ist« (Simmel LA: 360). So wie Kultivierung »eine im Unendlichen liegende Aufgabe« (Simmel BuTK: 401) darstellt, so ist sie auch immer wieder aufs Neue, ausgehend von der eigenen Geschichte, konkret zu bestimmen. Wenn also von Kultivierung als der Entwicklung »von der geschlossenen Einheit durch die entfaltete Vielheit zur entfalteten Einheit« (ebd.: 387) die Rede ist, bedeutet dies die Aktualisierung jener Möglichkeiten, die im leiblich vermittelten Lebensprozess als sinnhafte und normative Strukturen angelegt sind, aber auch ihrerseits im Zusammenspiel von individualgeschichtlicher, kulturell-gesellschaftlicher und natürlich-umweltlicher Prägung Entwicklung unterliegen, unter dem orientierenden Horizont einer auf Einheit ausgerichteten Persönlichkeit respektive eines angemessenen Selbstverständnisses, in dem diese Möglichkeiten und Aktualisierungen angeeignet werden, als einer positiven Bestimmung von Freiheit. Cassirer hat durchaus gesehen, dass es Simmel in der Tragödie um die Verwirklichung der Freiheit des Individuums (und damit die Verwirklichung des Individuums selbst!) geht. Und so findet sich in Cassirers Antwort auf Simmel auch eine zweite Argumentationslinie, die weniger darauf zielt, die Tragödie als Scheinproblem oder die Entfremdungsthese als in einem problematischen Essentialismus mündend zu erweisen, sondern vielmehr Individuum und reines Ich in einer sozial-ethischen Dimension vermitteln will.
4.2 Kultur als Erziehungsdrama: »Bruder, nimm die Brüder mit« In seiner Replik von 1942 stellt Cassirer Simmel in eine kulturkritische Reihe mit JeanJacques Rousseau, der Mitte des 18. Jahrhunderts in Abrede stellte, dass der Mensch durch die Kultur frei, sittlich und vor allem glücklich werde.5 Rousseaus Kulturkritik war, wie gemeinhin bekannt, der Anstoß für Kant, sich den Fragen der praktischen Philosophie und Ethik zuzuwenden. Kant vermochte seinerseits nicht zu bestreiten, dass es trotz allen kulturellen Fortschritts um die Verwirklichung des Glücks schlecht bestellt sei, allerdings, dass der Eudämonismus hier überhaupt der rechtmäßige Maßstab bilde. Bekanntermaßen verschiebt sich für Kant die Frage von der Glückseligkeit (für die die Vernunft – und damit in Cassirers Fortführung Kants: Kultur – uns ein untaugliches Mittel sei) zu der der Glückswürdigkeit, der Verwirklichung der Freiheit, verstanden als Autonomie: In der Kultur finde der Mensch seine Bestimmung in der – so das bereits eingeführte Motiv bei Cassirer – »moralische[n] Herrschaft über sich selbst« (Cassirer LdK: 463). So wie Cassirer am kantischen Freiheitsbegriff festhält, gilt dasselbe für den von Kant formulierten Maßstab der Kultur. Mit dieser Verschiebung
5
An einigen Stellen der folgenden Überlegungen greife ich auf Ausführungen aus dem ersten Teil meines Aufsatzes Basisphänomen und Leibapriori (Honer 2018b) zurück.
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des Problemhorizonts lasse sich die eigentliche Verhandlung über den Fall der Kultur eröffnen: »Ist es sicher, daß der Mensch in der Kultur und durch sie die Erfüllung seines eigentlichen ›intelligiblen‹ Wesens finden kann, daß er hier zwar nicht zur Befriedigung all seiner Wünsche, wohl aber zur Entwicklung all seiner geistigen Kräfte und Anlagen gelangen wird? Dies wäre nur dann der Fall, wenn er die Schranke der Individualität überspringen, wenn er sein eigenes Ich zum Ganzen der Menschheit erweitern könnte.« (Ebd.: 463) Genau hier habe Simmel angesetzt, als dieser die Frage stellte, ob mit der ansteigenden Masse an Gütern, die Erzeugnisse der Kultur nicht »zu einem bloß Objektiven« (ebd.: 464) würden, das das Einzelindividuum nicht mehr beflügelt, sondern erdrücke, seine Spontaneität und Selbsttätigkeit abzuschneiden droht. Nun war ein Aspekt, der Cassirers Skepsis an einer solchen Tragödie hervorruft, gewissermaßen die Dramaturgie der auftretenden Figuren (vgl. Becker 2008: 168). Denn solange »wir diesen Prozeß ausschließlich oder vornehmlich vom Standpunkt des Individuums aus sehen, so behält er stets einen eigentümlich zwiespältigen Charakter« (Cassirer LdK: 469). Dies heißt nun nicht, dass Cassirer vom Schicksal des Individuums schlicht absehen möchte. Bereits zuvor habe ich Cassirers Kritik an der Entfremdungsthese behandelt, die gegen ein substantiell-essentialistisches Verständnis des Subjekts zielt. Das Subjekt könne erst innerhalb und auf Basis der Formen der Kultur bestimmt werden. Die Auseinandersetzung, die sich im Prozess der symbolischen Formen vollzieht, lässt aber nicht nur das »Ich« aus sich hervorgehen, sondern auch die »Welt« und das »Du«. Mittels der Beleuchtung der Rollen, die diese Figuren im Schauspiel der Kultur einnehmen, möchte ich im Folgenden das Kultivierungsverständnis Cassirers erhellen und so auch eine stärkere Lesart seiner Position entwickeln. Neben seiner Replik auf Simmel steht dabei der meines Wissens einzige Aufsatz Cassirers im Zentrum, der sich explizit mit den Themen Bildung und Erziehung beschäftigt. Zurück geht dieser Aufsatz auf einen Vortrag am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht anlässlich der Goethe-Zelter-Feier im Jahre 1932. Cassirer setzt sich dort dem Anlass entsprechend mit Goethes Idee der Bildung und Erziehung auseinander (vgl. Cassirer GIBE: 127). Nun zum erweiterten Schauspiel der Kultur: Vorhang. Auftritt Welt. Die Welt erscheint in Gestalt der Werke. Der oder die Zuschauer:in darf mit dem Blick nicht an einem Ort verweilen, weil er oder sie glaube, das Werk sei eine in sich ruhende, unbewegliche Substanz. In diesem Fall bliebe nämlich unverständlich, »wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, als solche gewußt werden könnte« (Cassirer LdK: 467 [Herv. i.O.]).6 Der Vermittlungsprozess der repräsentativen Bedeutung des Werks wäre für den Zuschauer verhüllt. Bei einem Werk, das sich als ein feststehender Inhalt im Bewusstsein manifestiere, ließe sich nicht erklären, wie ein Subjekt mit Hilfe dieses Werks
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Auch Simmel gilt diese Vorstellung im Übrigen »als ein naiv mechanistisches Dogma: als seien die verstehende Vorstellung und ihr Gegenstand zwei zur Deckung zu bringende Größen« (Simmel VWhV: 159).
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von einem anderen wissen, es das Werk »als vom anderen ›herrührend‹ deuten könnte« (ebd.: 467 [Herv. i.O.]). Der über den Vermittlungsprozess der repräsentativen Bedeutung entwickelte Werkbegriff mündet in Cassirers Hauptkritik an sensualistischen Positionen, dass vom passiven Eindruck her das Phänomen des Ausdrucks unverständlich bleibt (vgl. ebd.: 384ff.; siehe auch PsF III: 73 und MsF: 78ff.). Damit wird auch der oder die Zuschauer:in in Gestalt des »Du« zur aktiven Figur im Schauspiel, deren eigene Tätigkeit sich am Werk als potentieller Energie entzündet. Der Akt des Sinnverstehens im Ausdruck, den das rezipierende Subjekt vollzieht, schließt notwendig die subjektive Spontaneität als aktive Bezugnahme ein. Hierin offenbart sich die eigentümliche Brückenfunktion des Werks. Es ist ein Weg und keine Grenze, an der sich die Spontaneität stößt. Eine Festigkeit und Begrenztheit, als Negation der Möglichkeiten, die die eigene Intuition für das Werk in sich barg, kann nur dem oder der Schöpfer:in der Werke selbst erscheinen; doch wäre es, und hierin liegt die Pointe, verfehlt, das Schauspiel mit dem oder der Schöpfer:in des Werks enden zu lassen (vgl. Cassirer LdK: 469). Auch Cassirer liegt es wie erwähnt fern, bei der Entfaltung der »potentielle[n] Energien« (ebd.: 471) im Rezeptions- und Kulturprozess die Spannungen, den konfliktträchtigen Verlauf dieses Schauspiels, nicht anerkennen zu wollen. Cassirer liest diese Spannungen als Konflikt zwischen Beharrung und Veränderung in und zwischen den Formen der Kultur (vgl. ebd.: 471–476). Jeder neue Schöpfungsakt ist darauf angewiesen, die in der Tradition übermittelten und bereitgestellten Stilformen, Materialien und besonders die Techniken7 als Bahnen zu nutzen, in denen er wirken kann. Ihr Recht und ihre Notwendigkeit als Anknüpfungspunkt behaupten diese Bahnen, weil sie die »Kontinuität des Schaffens« sichern, »auf der alle Verständlichkeit« und damit die Brückenfunktion des Werks, »auch innerhalb der bildnerischen Sprache, beruht« (ebd.: 475). Eine aneignende Nutzung der so verstandenen kulturellen Tradition mit ihrer »inneren Festigkeit und Konsistenz« (ebd.: 477) haucht dem Überlieferten aber stets neues Leben ein. Jeglicher Gebrauch, jede Anwendung der tradierten Formen vollzieht sich unter (mehr oder weniger) anderen Kontextbedingungen, als zum Zeitpunkt der Entstehung jener Formen herrschten (vgl. ebd.: 473), andere Individuen sind nun am Werk und verleihen den Werken je eine neue Prägung (vgl. ebd.: 477). Diese Wandelungsfähigkeit der kulturellen Formen beschreibt Cassirer mit einem Begriff aus Goethes Naturforschung: dem Begriff der Metamorphose. Metamorphose meint bei Goethe »ein[en] höhere[n] Begriff, der über dem Regelmäßigen und Unregelmäßigen waltet« (Goethe 1891: 276f.; zitiert nach Cassirer GIBE: 133). Metamorphose ist die individuelle Abweichung – und zwar nicht als bloße Miss- und Fehlbildung – von der allgemeinen Gesetzlichkeit. Die Beweglichkeit einer Ordnung, die im Begriff der Metamorphose zum Ausdruck kommt, verbindet die Form mit der Idee der Bildung. Bildung stellt für Goethe kein auf den Menschen oder gar
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»Sie [die Technik] unterliegt ebenso festen Regeln wie jeder andere Werkzeuggebrauch, denn sie ist von der Beschaffenheit des Materials, in dem der Künstler arbeitet, abhängig. […] Kein Künstler kann seine Sprache wirklich sprechen, wenn er sie nicht zuvor in dem steten Verkehr mit seinem Material erlernt hat. Und dies bezieht sich keineswegs allein auf die stofflich technische Seite des Problems. Auch im Bereich der Form[sprache; O.H.] selbst hat es seine genaue Parallele.« (Cassirer LdK: 475)
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auf den Geist beschränktes Phänomen dar, Goethe erkennt in ihr ein schlechthin universelles Phänomen alles Lebendigen (vgl. Cassirer GIBE: 129–130). So ist auch die Produktivität des Werkverstehens – eines Verstehens also, das selbst schöpferisch ist und nicht einem strikten gegebenen Skript folgt – ein Bildungsphänomen. Es sind jedoch die großen Künstler:innen, die Genies, die diese Spielräume, diese oft nur »unbewußten Abweichung[en]«, sich zu Nutze machen, sie gestalten und erweitern und damit zum »eigentlichen Schöpfertum« (Cassirer LdK: 473) führen. Aus dieser Warte heraus begreift Cassirer die Kulturentwicklung in Form von Pendelschlägen, abwechselnd in Richtung der Beharrung und der Veränderung. Aber dieses Hin und Her, dieses »Drama der Kultur« (ebd.: 482) entspinnt sich nicht zu einem endgültigen Sieg oder einer endgültigen Niederlage der einen oder anderen Seite. Diese Spannung der kulturellen Formen zwischen Beharrung und Veränderung überschreitet für den Bereich der Kultur jenes Verhältnis von Individuum und Gattung, wie es in der biologischen Naturentwicklung vorzufinden ist: Während die Veränderung (Beweglichkeit) in der evolutionären Entwicklung nur die Gattung betrifft, weil die somatische Veränderung des Einzelexemplars ihrerseits nicht auf die Gattung zurückwirkt (Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaften), überwindet die Kultur diese Schranke des Soma: »Der ›Geist‹ hat geleistet, was dem ›Leben‹ versagt blieb.« (Ebd.: 485) Die Kultur erzeugt »einen neuen Körper« (ebd.: 486), der allen Individuen zu eigen ist, insofern sie ihr »Werden und Wirken« (ebd.: 485), das sich in der Verbindung von Stofflichem und Geistigem zum Werk formt, mit dem Ganzen verbindet. Das Werk vermag so selbst seine materielle Zerstörung zu überdauern (Dauerhaftigkeit), indem es sich in diesen Körper als kollektivem Formgedächtnis ein- und fortschreibt (vgl. ebd.). Soweit das bekannte, durch Cassirer von der Tragödie zum Drama umgeschriebene Schauspiel. In diesem Schauspiel zeichnet sich jedoch mit Cassirers Auseinandersetzung mit der goetheschen Idee der Bildung und Erziehung ein weiterer Akt ab. Dieser Akt behandelt genau den Kampf der Individuen, »die […] in sich zwiespältig und haltlos sind und die zu versinken drohen« (Cassirer GIBE: 143), denen ihr »sämtlich Gelerntes zu eigener, innerer, sittlicher Beruhigung nicht gedeihen« (Goethe 1898: 212; zitiert nach Cassirer GIBE: 143) will. Als Ziel jeder Bildung fasste der jüngere Goethe im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre die »Ganzheit«, in der »jede Einzelkraft des Menschen entwickelt und frei entfaltet wird und […] alle diese Kräfte sich zuletzt miteinander durchdringen und einen« (ebd.: 137). Dieser unbedingte »Wille zur Totalität« (ebd.), in dem Cassirer das »ästhetische Ideal der Humanität« (ebd.: 138 [Herv. i.O.]) erblickt, wird im goetheschen Spätwerk einer Revision unterzogen. Das Streben zur Selbstvervollkommnung erfährt dort eine Begrenzung und zwar »indem es sich selbst begreift« (ebd.: 140) und hierin eigens diese Begrenzung setzt. Das Motiv in der Romanfortsetzung Wilhelm Meisters Wanderjahre ist die Entsagung: »Die Ganzheit, nach der jede Bildung streben muß, findet ihre eigentliche Wirklichkeit nicht mehr im Individuum, sondern in der Gesamtheit.« (Ebd.: 138) Wendet sich das Ziel der Bildung damit der »Mitte des Daseins« (ebd.: 140 [Herv. i.O.]) zu, so spricht sich darin das »soziale Ideal der Humanität« (ebd.: 138 [Herv. i.O.]) aus. In der Mitte des Daseins, der »ewig lebendigen Ordnung«, könne man sich nur wissen, wenn sich »ein beharrlich Bewegtes« im eigenen Innern, »um einen reinen Mittelpunct kreisend, hervorthut« (Goethe 1894: 181; zitiert nach Cassirer GIBE: 141). Die Mitte des Daseins enthüllt sich nur im Verhältnis zu den Mitmenschen und zur ganzen
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Menschheit, ihre »Vielseitigkeit bereitet eigentlich nur das Element vor, worin der Einseitige wirken kann« (Goethe 1894: 50f.; zitiert nach Cassirer GIBE: 146; vgl. hierzu auch Simmel Goethe: 228ff.). Diese Angewiesenheit auf die anderen macht die Wendung zur Mitte zu einer »ethische[n] Wendung« (Cassirer GIBE: 142 [Herv. i.O.]) und Goethe selbst zum Erzieher im Drama der Kultur. Er hört nun die Klagen und Rufe seiner Mitmenschen, deren Kräfte wie kleine Flüsse »in öder Wüste« (Goethe 1888: 53–54; zitiert nach Cassirer GIBE: 145) zu versickern drohen: »Und die Flüsse von der Ebne Und die Bäche von den Bergen Jauchzen ihm und rufen: Bruder! Bruder, nimm die Brüder mit, Mit zu deinem alten Vater, Zu dem ew’gen Ocean« (Goethe 1888: 53–54; zitiert nach Cassirer GIBE: 144). Gegenüber den anderen Menschen sieht sich Goethe als Dichter und Erzieher in der Gestalt des »mächtigen Stromes« (Cassirer GIBE: 144), der die Lebenskraft besitzt, die kleinen Bäche in sich aufzunehmen, mitzuführen und im Körper der Kultur, dem ›ew’gen Ocean‹, zu bewahren. Die Rettung für die Individuen naht in der Gestalt des oder der Erzieher:in als Verkörperung der Spontaneität und Schöpfungskraft in der Kultur. »Alle Erziehung will und muß den einzelnen in feste und sichere, in objektiv bestimmte und geregelte Lebensordnungen hineinstellen. Aber diese Ordnungen sollen nicht schlechthin von außen her gegeben, sondern sie sollen von innen gefordert sein. Die Form, in die das Einzelwesen eintritt, soll es nicht gleich einem starren Gefäß umschließen; sie soll eine in sich bildsame Form sein, und sie soll die Kräfte des Individuums eben zu dieser eigenen Bildsamkeit benutzen und aufrufen.« (Cassirer GIBE: 132) Für diese Herausforderung, die sich der Erziehung stellt, bietet der Begriff der Metamorphose die Lösung, indem er es erlaubt, die Abweichung als notwendige Erscheinung zu tolerieren und anzuerkennen: Dies gelingt eben nur, wenn nicht die »eigene Singularität [des oder der Erzieher:in] oder eine einzelne objektive [äußere] Norm« (ebd.: 133–134) als Maßstab dient. Das Gesetz ist eben nur in dem Sinne ein bildendes und Freiheit gewährendes, wenn es vom Individuum selbst von innen ergriffen und mitgestaltet wird. So kann Goethe sagen: »[D]ie auf ihrem eigenen Wege irre gehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln.« (Goethe 1901: 167; zitiert nach Cassirer GIBE: 135)8 In der Gestaltung und Umgestaltung offenbart sich die eigene individuelle schöpferische Kraft, für die »alles außer uns« und »auch alles an uns« »nur Element« (Goethe 1899: 332f.; zitiert nach Cassirer GIBE: 136) ist. Wo der Mensch sich in diesem Sinne bedeutend verhält – wie dies bereits im Ausdrucksverstehen der Fall ist –, verhält er sich gesetzgebend. Es ist jener »Wille[...] zur Gesetzgebung« (Cassirer GIBE: 136), auf den sich Bildung und hieran anschließend Erziehung gründen. Die Erziehung soll nämlich 8
Cassirer universalisiert die Aussage sogar, sofern er das »manche« im Originalzitat durch »Menschen« ersetzt (vgl. Cassirer GIBE: 135).
4. Freiheit in der Kultur: Kultivierung
ferner das Individuum in der Ganzheit der menschlichen Kultur verorten. »Was von ihr [der Erziehung] erwartet und gefordert wird, ist nichts anderes und nichts Geringeres, als daß sie die verschiedenen Formen menschlicher Gesetzgebung in sich aufnimmt, daß sie sie umfaßt und auf ein einheitliches Ziel hinlenkt.« (Ebd.) Und zwar soll der Einzelne durch die Erziehung auf sein »inneres Maß« (ebd.: 141) geführt und gehalten werden; er soll in sich zentrierter produktiver und tätiger Mittelpunkt werden, der sich erhält, während »alle geistigen Kräfte […] nach vielen Seiten hingezogen werden« (Goethe 1894: 181; zitiert nach Cassirer GIBE: 141). Die Erziehung gibt dem Einzelnen »das Gefühl der ›wohlgegründeten Erde‹, auf der er steht«, sodass er sich nicht in einer »unbestimmten und unproduktiven Sehnsucht« (Cassirer GIBE: 146) verliere. In den Worten Goethes lautet der Rat des Erziehers an den Zögling deshalb: »Mach‘ ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.« (Goethe 1894: 50f.; zitiert nach Cassirer GIBE: 146–147) Auf diese Weise komplettiere sich der einzelne Mensch tätig innerhalb der Grenzen seiner eigenen Fähigkeiten (vgl. ebd.: 141). Nehmen wir diese Ausführungen Cassirers zum Bildungs- und Erziehungsbegriff auf und rechnen sie ihm auch als eigene Position zu, können wir seine vorangegangene Argumentation zum Verhältnis von Individuum und Kultur besser verstehen: Das reine und transzendentale Ich, das allgemein menschliche Weltverhältnis, müssen wir als die schöpferische und eigentliche Kraft auffassen, die im Einzelnen je wirksam ist – während alles andere, auch seine individuelle Beschaffenheit, als kontingentes Material gilt. An diesem muss sich jene Kraft mal gehemmt, mal befördert abarbeiten und sich bildend und bildsam betätigen. Die unterschiedlichen Richtungen der Sinngebung finden in ihr ihre funktionale Einheit. Diese Einheit ist als anthropologischer Fluchtpunkt zu begreifen, als das Projekt, mit der Kultur einen Körper zu schaffen, »der allen gemeinsam zugehört« (Cassirer LdK: 486). Das Individuum hat in seiner eigenen gesetzgebenden Tätigkeit stets ein Teil an dieser Kraft und diesem Körper, gleichwohl seine eigene Tätigkeit je mit Metamorphose, mit der individuellen Abweichung vom Bestehenden und Beharrenden einhergeht. So lässt sich begreifen, inwiefern ihm der Geist und die Werke anderer immer wieder selbst zur neuen Kraftquelle werden. Es erhellt sich damit weiter die Bedeutung, die Cassirer den ›großen Individuen‹ zuspricht. Die Metapher des mächtigen Stromes, den das Genie für das Individuum darstellt, verweist also einerseits auf das Mitgerissenwerden in der schöpferischen Tätigkeit des Anderen und genauso auf das Entzünden der eigenen Tätigkeit hieran, wenn es sie »in sein eigenes Leben« einbezieht und »damit wieder in das Medium zurückverwandel[t], dem sie ursprünglich entstammt[en]« (Cassirer ebd.: 468). Es ist die Anregung durch das Werk, die uns jeweils zurück zum Ganzen der Schöpfungskraft führt, in der »wir uns von dem Fluch der Vereinzelung und Zersplitterung befreit« (Cassirer GIBE: 127) fühlen, wenn wir selbst tätig werden und in dieser Tätigkeit durch den oder die Erzieher:in auf unser inneres Maß geführt werden.
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4.3 Die Orientierung an der »Forderung des Tages« Nehmen wir den Begriff der Metamorphose und fassen darunter, wie das Individuum das bildsame Gesetz im Akt des objektivierenden Sinnverstehens von innen her ergreift und mitgestaltet, schließt sich der Kreis zu den vorangegangenen Ausführungen zur Entfremdung (Kapitel 3.3 und 3.4). Mit Andreas Nießeler können wir diesen »Prozess der Individuation des Objektiven« als »Weltaneignung« (Nießeler 2003: 20) beschreiben. Dieser individuelle Prozess der Sinnschöpfung, in dem Eindrücke zu Ausdrücken umgebildet werden, schafft einen »Bedeutungsraum« (ebd.: 194), der es dem Individuum ermöglicht, sich in der Welt zu orientieren. Die Kultur als Möglichkeit der Orientierung ist jedoch noch nicht gleichbedeutend mit der Aktualisierung von Orientierung.9 Diese Aktualisierung bedarf »der Selbstbesinnung, der φρόνησις, unter die auch Goethe seine Pädagogik stellt« (Cassirer GIBE: 137). Der Mensch müsse sich kontrollieren und dürfe sich nicht in Passivität verharrend treiben lassen. In der Regel wird φρόνησις mit dem Begriff »Klugheit« übersetzt und als pragmatisch-kognitive Kompetenz verstanden, sich im Handeln und Leben eine Richtung zu geben, eine Richtungsentscheidung zu treffen, zu der sich in ein affektiv-identifizierendes Verhältnis gesetzt wird (vgl. Luckner 2005: 9 und 30). In der Selbstbesinnung soll, unterstützt von der oder dem Erzieher:in, das je eigene innere Maß erkannt werden, also das Verhältnis der eigenen deutenden und bedeutenden Tätigkeit zur Gesamtheit der kulturellen Sinngebung. So verortet sich das Individuum selbst und sein Tun im Ganzen der menschlichen Kultur und gewinnt hierin eine orientierende Instanz. Wenn nun Cassirer das »innere Maß« mit den Worten Goethes als die »Forderung des Tages« (Goethe 1907: 93; zitiert nach Cassirer GIBE: 146) umschreibt, so ergibt sich eine interessante Parallele: Denn Simmel verwies hinsichtlich des Rhythmus, mit dem die normativen Bezüge aus dem Leben hervorgehen, auf dieselbe Zeile Goethes (vgl. Simmel LA: 360). Cassirer versteht unter dieser »Forderung des Tages« die fundierende Begrenztheit der jeweiligen Tätigkeit, in der sich das innere Maß der Einseitigkeit des Individuums zur Vielseitigkeit der Kultur im Gesamten bestimmt, während sie für Simmel darauf verweist, wie Lebensinhalte aus dem geschichtlich-narrativen Zusammenhang des Lebens sich als geforderte Bedeutungseinheiten konstituieren und auf die Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit verweisen – wohlgemerkt, ohne dass sich für Simmel hieraus eine egoistisch ausgerichtete Auffassung dieses Sollens ergibt (vgl. ebd.: 420). Es dürfte offensichtlich sein, dass Simmels Konzeption stärker an dem ›ästhetischen Ideal der Humanität‹ der goetheschen Lehrjahre orientiert ist (vgl. Simmel IdmZ: 255). Und tatsächlich finden sich in Simmels Goethebuch Textstellen, die als vorsichtige Kritik an Gothes Alterswerk und vor allem an den Wanderjahren gelesen werden können (siehe bspw. Simmel Goethe: 164, 226–230, 239 und 250). Zwar betrachtet Simmel es als eine Goethes Person entsprechende und alterstypische Entwicklung, wenn in den Wanderjahren »aller Ton auf dem objektiven Wirken, den sozialen Institutionen, der überindividuellen Vernunft« (ebd.: 229) liegt, doch spricht aus den nachfolgenden Zeilen ein wenig verhülltes Bedauern, wenn es heißt, dass die »Menschen« zu »anonymen Träger[n] bestimmter, durch ihren Inhalt festgelegter Funktionen« werden und »an die Stelle der auf 9
Nießeler (2003) scheint jedoch beide Vorgänge uno acto zu begreifen.
4. Freiheit in der Kultur: Kultivierung
sie selbst bezüglichen, für sie selbst wertvollen Ausbildung [...] die Ausübung von Tätigkeiten, die sich in ein objektives Ganzes einordnen« (ebd.: 229), tritt. Die fundierende Begrenzung des eigenen Strebens und Tuns, wie sie Cassirer als Bildungsideal in Goethes Spätwerk liest, erscheint Simmel als »große Wendung vom Wert des personalen Lebens zu dem der objektiven Inhalte des Lebens« (ebd.: 230). Dabei geht es Simmel auch seinerseits um eine Orientierung oder besser gesagt Erdung des Strebens nach Vervollkommnen durch die entwickelte Individualismuskonzeption, ja, nach Simmel ist die gesamte neuzeitliche »Suche[...] des Individuums nach sich selbst«, die »nach einem Punkt der Festigkeit und Unzweideutigkeit, dessen es bei der unerhörten Erweiterung des theoretischen und praktischen Gesichtskreises und der Komplizierung des Lebens immer dringlicher bedarf und der eben deshalb in keiner der Seele äußeren Instanz mehr gefunden werden kann« (Simmel IdmZ: 255). Cassirer relativiert den Standpunkt des Individuums für die Betrachtung der Kulturentwicklung. Denn die zentrische Positionalität des Individuums sei nur aus der exzentrischen Position des allgemein-menschlichen Weltverhältnisses zu verstehen und nur über diese eine Orientierung auf die Verwirklichung von Freiheit zu gewinnen. Die zentrische Positionalität erhält ihr Recht und ihre Anerkennung als mediale, zulassende Basis des menschlichen Weltverhältnisses im Begriff der Metamorphose, in dem sich die Bildsamkeit der Form und des Individuums beweist. Ohne seinerseits die Relevanz einer exzentrisch gedachten sachlich-kulturellen Ordnung für die Orientierung der individuellen Entwicklung abzustreiten, geht es Simmel darum, diese Orientierung aus der Vermittlung jener kulturellen Ordnung durch das zentrisch-leibliche Leben zu gewinnen. Sowohl Simmel als auch Cassirer verweisen damit auf eine lebensweltliche Zentrierung des Individuums, die notwendig für die selbstbestimmte Orientierung des Individuums in der Kultur, aber nicht ›automatisch gegeben‹ ist – nehmen dabei jedoch unterschiedliche Perspektiven ein. Beide Philosophen reihen sich mit ihrem Bildungs- und Kulturideal in die Geschichte der Goetherezeption.10 Dass wir es aber mit einer spezifischen Tradition zu tun haben, verweist uns auf die Frage Geßners (1996b: 68), ob die Tragödie der Kultur damit nicht lediglich ein bestimmtes historisches Bildungs- und Kulturideal betreffe. Kamen wir bereits zu dem Schluss, dass die Tragödie der Kultur eine Tragödie des Subjekts ist, und haben wir nun auch Klarheit über die jeweiligen mit Kultur- und Bildungsidealen verknüpften Subjektbegriffe erlangt, müssen wir die Frage klar bejahen. Es ist hierfür bezeichnend, wenn Simmel selbst die verschiedenen Formen des Individualismus historisch und gesellschaftlich einordnet und im selben Atemzug zugesteht, dass auch »die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit [= formaler Individualismus; O.H.] und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit [= qualitativer Individualismus; O.H.] noch
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Diese philosophische Goetherezeption ist durchaus zeit- und generationentypisch (vgl. Naumann 1998: 79), bildet in ihrer Tiefe aber ein ganz eigenes Forschungsthema, das im Rahmen dieser Arbeit nur randständig angeschnitten werden kann. Für Cassirers Goetherezeption verweise ich deshalb neben der Habilitationsarbeit Barbara Naumanns (1998) auf den Sammelband von Naumann und Recki (2002). Für die Fortführung der Simmel-Cassirer-Kontroverse wäre es aussichtsreich, vertiefend Cassirers Goetherezeption jene Simmels vergleichend gegenüberzustellen.
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nicht die letzten Worte des Individualismus« zu sein bräuchten, »daß vielmehr die unabsehliche Arbeit der Menschheit immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird« (Simmel IdmZ: 258). Die historische Relativierung der Kultur- und Bildungsideale und der mit ihr verbundenen Vorstellungen von Individualität, personaler Identität und Subjektivität bedeutet jedoch keine Beliebigkeit bezüglicher dieser. Sie entwickeln sich als Kulturformen in Abhängigkeit von »den materiellen und geistigen Produktivkräften« (ebd.: 250) der geschichtlichen Lage, können deshalb in Konflikt zu gegebenen Verhältnissen stehen und zeigen sich nicht zuletzt, wie auch Jaeggi (2005) zeigt, aufs Engste mit unseren Vorstellungen von (der Verwirklichung von) Freiheit respektive dem möglichen Prekärwerden der Subjektposition verknüpft. Entsprechend sind gegenwärtige Konzepte von personaler (und politischer) Identität in westlichen Staaten je auch Ausdruck der postfordistischen Dienstleistungsgesellschaft, die ihre Arbeitskräfte stärker als individuelle Subjekte mit persönlicher Geschichte und Erfahrungsschatz fordert (vgl. Roldán Mendivíl/Sarbo 2022: 114–115). Simmels Individualismus, der die je eigenen und unvergleichlichen Potentiale des Einzelnen hervorhebt und deren Verwirklichung fordert, verweist hier deutliche Bezüge zu gegenwärtigen Verhältnissen auf. Wir haben damit einen Punkt in der Aktualisierung der Kontroverse erreicht, an dem jeweils die Möglichkeiten von Kultivierung und Entfremdung in der Kultur herausgestellt wurden – wenngleich hier noch beide Autoren mit unterschiedlichen Auffassungen und Maßstäben dieser Möglichkeiten einander gegenüberstehen. Um diese beiden Positionen sich weiter aneinander abarbeiten zu lassen (oder sie auch zu vereinen), ist es nun notwendig, sich den tatsächlich in der Kultur waltenden Energien und Dynamiken zuzuwenden, zu fragen, wie diese begrifflich modelliert werden, welcherart bestimmende Kraft sie entwickeln können und wie wir uns als Subjekte zu ihnen in ein Verhältnis setzen können.
5. Logik der Objektivierung und Objektivierung der Logik
In Kapitel 2. wurde die Simmel-Cassirer-Kontroverse im Kontext des Forschungsstandes erörtert, Missverständnisse aufgewiesen und fehlgeleitete Interpretationen widerlegt. Ziel war es, den tatsächlichen Problemkern der Kontroverse in der kulturellen Logik der Objekte und ihres Potentials, entfremdend zu wirken, offenzulegen, um in die inhaltliche Diskussion einsteigen zu können. Dabei wurden zunächst verschiedene Problemdimensionen markiert und umrissen. Nach einer Klärung des Lebensbegriffs wurde die Kontroverse entlang der Konfliktlinie des Subjektbegriffs unter der Leitdifferenz Entfremdung/Kultivierung abgehandelt (siehe Kapitel 3. und 4.). In der Diskussion wurden Auffassungen von Entfremdung und Kultivierung entwickelt, die essentialistische Fallstricke vermeiden und stattdessen auf die Behinderung bzw. Verwirklichung positiver (persönlicher) Freiheit abheben. Als relevante Topoi konnten dabei die Leiblichkeit des Individuums, das kulturell vermittelte Weltverhältnis des Menschen, die erfahrene Hilfe (in Gestalt des oder der Erzieher:in), die lebensweltliche Orientierung (›Forderung des Tages‹) und die Ausrichtung des Kultivierungsprozesses als Entfaltung der eigenen Möglichkeiten im Rahmen eines qualitativen Verständnisses von Persönlichkeit bzw. im Rahmen der eigenen Verortung im Ganzen der Kultur herausgearbeitet werden. Mit diesen geleisteten Bestimmungen verlassen wir nun zunächst die ›subjektive Seite‹ der Kontroverse und greifen den für Simmels Tragödie zentralen Begriff auf, jenen einer »kulturellen Logik der Objekte« (Simmel BuTK: 408). In der in Kapitel 2. unternommenen Einkreisung dieses Problemkerns der Kontroverse habe ich einige Aspekte der kulturellen Logik der Objekte nach Simmel herausgestellt: Zunächst fiel Charakter als ideeller Leitfaden auf, über den sie einen Lenkungsanspruch gegenüber den Individuen erhebt und Konflikte zwischen verschiedenen, kulturell-objektiven und individuellen Ansprüchen ermöglicht (verschiedene ›Forderungskreise‹). Weiter schrieb Simmel ihr zu, die Werke und kulturellen Gebilde gewissermaßen eigenständig ›fortzuschreiben‹, indem diese mehr Bedeutung enthalten, als im Schaffensprozess intendiert in sie gelegt wurde. Zuletzt ging es um die Inkommensurabilität, die natürlich kein Merkmal der kulturellen Logik der Objekte an sich darstellt, sondern durch die Form der Endlichkeit des Individuums und der Unendlichkeit der objektiven Form bedingt ist. Diese Inkommensurabilität werde aber dadurch praktisch wirksam, dass jene Ansprüche, die über die kulturelle Logik der Objekte auf ein Recht gebracht werden, ›Velleitäten‹ in den
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Subjekten wachrufen. Das Subjekt sehe sich damit einer nicht zu bewältigenden Masse an Kulturerzeugnissen und mit ihnen verbundenen Forderungen an sich gegenüber, die sich auch über Selektionsprozesse nicht beherrschen lässt. Im Folgenden möchte ich das von Simmel geschilderte Phänomen unter Berücksichtigung seines Gesamtwerks auf eine begriffliche Ebene heben.1 Der Begriff wird dabei aufgeschlüsselt als Wirksamkeit der symbolischen Einschreibung von Formen und Formungsprinzipien in kulturellen Objekten. Hierfür werde ich zunächst den Symbolbegriff und den daraus resultierenden methodologischen Symbolismus bei Simmel charakterisieren (5.1), um von dort den technischen Charakter des Phänomens zu bestimmen. Mit Hilfe der Begriffe vom »logischen«, »teleologischen« und »kulturellen Raum« gilt es, die Ordnung der durch Techniken eröffneten Möglichkeitsräume zu bestimmen (5.2). Innerhalb dieser Konzeption werde ich (5.3) den Begriff der kulturellen Logik der Objekte im Verhältnis zur Subversion entwickeln.
5.1 Kulturelle Objekte als Symbole und methodologischer Symbolismus Die Beschreibung des Phänomens einer kulturellen Logik der Objekte und die daraus folgende Figur des historisch-tragischen Kulturkonflikts gründen sich – neben der entsprechenden Subjektkonzeption – auf Simmels Symbolverständnis. Im Symbolbegriff vereint sich Gegenstand und Methode der simmelschen Kulturphilosophie (vgl. Schlitte 2012: 19). Paradigmatisch entwickelt die Philosophie des Geldes diese Einheit im Vollzug der dort angestellten Untersuchung. Es ist der große Verdienst von Annika Schlitte (2012), erstmals nicht nur die Traditionsfäden, die in Simmels Werk zusammenlaufen, herausgearbeitet, sondern vor allem das Gewebe, das sie dort bilden, systematisch analysiert zu haben. Schlitte (2012: II., 2. Kapitel) identifiziert im Verständnis des Geldes als Symbol drei verschiedene Ebenen, von der wiederum eine Ebene zwei verschiedene Blickwinkel beinhaltet. Geld markiert zunächst ein zeichenhaftes Repräsentationsverhältnis, das Geld als Zeichen des wirtschaftlichen Werts (1). Auf der zweiten Ebene wird das Geld einerseits, in sozialanthropologischer Dimension, als Symbol für gesellschaftliche Wechselwirkungen überhaupt betrachtet (2a) und andererseits als Symbol für eine spezifische historische Gesellschaftsform, nämlich der Moderne (2b). Die Untersuchung kulminiert im Symbol als Form einer Denkweise – eines erkenntnistheoretischen und metaphysischen Prinzips –, die das Philosophieren selbst symbolisch werden lässt (3). Die folgenden Erläuterungen bieten anhand des Geldes einen Schnelldurchlauf durch diese verschiedenen Symbolebenen. Die herausgestellten Eigenheiten des Symbols in Simmels Kulturphilosophie erlauben es im Anschluss, eine Modellierung dafür zu entwickeln, wie Symbole auf die Lebenspraxis, aus der sie hervorgingen, zurückwirken: Symbole strukturieren und orientieren als kulturelle Logik der Objekte Möglichkeitsräume und machen diese zu kulturellen Räumen.
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Die entsprechenden Ausführungen basieren auf meinem 2018 erschienen Aufsatz Die Technisierung des Leibes (Honer 2018a). Dort habe ich den Begriff der kulturellen Logik der Objekte zum ersten Mal ausgeführt und auf die Debatte um sogenannte Enhancement-Praktiken innerhalb der Medizinphilosophie angewandt.
5. Logik der Objektivierung und Objektivierung der Logik
Zunächst zum Geld als Zeichen des (wirtschaftlichen) Werts: Die philosophische Untersuchung des Geldes bettet Simmel ein in die gesellschaftlich-anthropologische Betrachtung des Tausches und der wirtschaftlichen Wandlung der Tauschform vom Naturalientausch zur Geldwirtschaft. Der offensichtliche Vorteil, den der Tausch vermittels des Geldes bietet, ist, dass die beteiligten Partner:innen nicht darauf angewiesen sind, unmittelbar begehrenswerte Güter für den oder die jeweils andere:n besitzen müssen, um tauschen zu können, und nicht über den Wertvergleich unterschiedlicher Gegenstände verhandeln müssen. Simmel (PdG: Analytischer Teil, 2. Kapitel) diskutiert dabei die verschiedenen Positionen hinsichtlich der Frage, ob die materielle Substanz des Geldes selbst einen Wert (=Substanzwert) besitzen müsse, um seine Funktion, Mittler in den Tauschbeziehungen zu sein, erfüllen zu können. Bejaht man diese Frage, erscheint das Geld selbst als eine spezifische Ware (vgl. Schlitte 2012: 236), deren Wert sich aus der Gebrauchsmöglichkeit jenseits des Tausches speist. Im Falle der Edelmetalle wären dies bspw. die Verarbeitungsmöglichkeiten zu Schmuck, bei Tierfellen die Möglichkeit, sie als Kleidung oder Decken zu nutzen (vgl. Simmel PdG: 156–157 und 169). Eine solche Auffassung ist nicht gänzlich zurückzuweisen, sie beschreibt Simmel zufolge den notwendigen Ausgangspunkt, an dem die (historische) Entwicklung des Geldes als Tauschmittel ansetzt. Die Ware, die die Geldfunktion ausübt, steht zu Beginn in einer Reihe mit den anderen Waren, die sie, im Prozess der Abwägung und durch ihre spezifischen materiellen Eigenschaften, auf einen gemeinsamen Nenner bringt (vgl. ebd.: 181). Der Gebrauchsoder Eigenwert, den die als Geld genutzte Substanz aufweist, tritt mit der Zeit aber immer mehr zurück, insofern die Nutzung und Zirkulation der Substanz als Geld verhindert, dass sie weiterhin zu den Zwecken gebraucht wird, die sie ›ursprünglich‹ begehrenswert machte. Die qualitative Beschaffenheit der Substanz unter dem Kriterium ihres Gebrauchs verliert mehr und mehr an Bedeutung (vgl. hierzu auch Geßner 2003: 83). Am Beispiel der als Geld verwendeten Tierfelle »hätte die Größe und die Schönheit der einzelnen Felle allen Einfluss auf ihre Tauschkraft verloren, jedes hätte schlechtweg nur für eines und jedem anderen gleiches gegolten« (Simmel PdG: 169). Das Fellstück wird in seiner Geldfunktion zu einer puren »Rechenmarke« (ebd.). Mithilfe des Geldzeichens vollzieht der Geist in dieser Entwicklung die »Heraussonderung des Quantitativen aus den Dingen«, die Abstraktion von qualitativen Wertbestimmungen, um »das reine Quantum« des Werts »in numerischer Form« (ebd.) objektiv darzustellen. Das Geld schafft die Möglichkeit, Dinge, die »keine Gleichheit oder Ähnlichkeit besitzen«, »gleich[zu]setzen« und »das Wertverhältnis eben dieser anderen Objekte zu einander auszudrücken« (ebd.: 164). »Die Umwandlung der relativen Werte in Quantitäten, welche die begehrten Objekte bzw. deren Wert symbolisch vertreten, ist seine große Leistung als Wertmaßstab.« (Schlitte 2012: 249) Hierin, in der Funktion als quantifizierender Wertmaßstab, offenbart sich für Simmel die eigentliche Funktion und das Wesen des Geldes (vgl. Simmel PdG: 164). So wie das Geld diese eigentliche Funktion in zunehmendem Maße verwirklicht, »wird es immer mehr aus einem Gliede von Wertgleichungen zu dem Ausdruck derselben« (ebd.: 181) und löst sich von seinem materiellen Substrat und dessen Gebrauchswert. Welcher Gegenstand, welche Substanz als Geldzeichen verwendet wird, unterliegt damit (perspektivisch) der Willkür gesellschaftlicher Konvention (vgl. Schlitte 2012: 250). Die Materialität des Zeichenträgers rückt im Entwicklungsprozess immer weiter in den Hintergrund, wird jedoch nie völlig überwunden. Das Aufgehen des Geldes in der reinen
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Funktion bleibt ein »Ideal, dem die Entwicklung des Geldes zustrebt, ohne es je völlig zu erreichen« (Simmel PdG: 182). Simmel begründet dies mit »Unvollkommenheiten der ökonomischen Technik« (ebd.). Zum einen bedarf es immer eines materiellen Trägers, um überhaupt mit ihm rechnen zu können,2 und zum anderen sind für das Vertrauen in die gesellschaftliche Konvention des Geldes technisch-materielle Absicherungen nötig (im Falle von Geldscheinen bspw. Wasserzeichen, Sicherheitsfaden, Präge- und Drucktechnik, etc.). Die völlige Entmaterialisierung des Geldes könnte durch die Gefahr der Geldfälschung seine Funktion unterminieren (ebd.: 185f.). Auch im Falle des sogenannten Buchgeldes oder den heutigen digitalisierten Formen bleiben auf materieller Seite bestimmte Mechanismen der Absicherung – das neuste Beispiel hierfür wäre die Blockchain-Technologie – des Zeichens erhalten. Das völlige Aufgehen des Geldes in der reinen Funktion wäre also »technisch untunlich« (ebd.: 193; siehe auch ebd.: 253). Das Verständnis des Geldes als »reine[r] Repräsentation« des Werts stellt deshalb dessen »Grenzbegriff« (Schlitte 2012: 259) dar. Schlitte resümiert: »Geld muss als eigener Wert [= Substanzwert; O.H.] angesehen werden, damit es als Wertmesser eingeführt werden kann, aber wenn es als Wertmesser funktioniert, verliert es tendenziell jeden eigenen Wert [= Substanzwert; O.H].« (Ebd.) Seinem reinen Begriff nach ist das Geld der reine Maßstab für die Relativität der Warenwerte, während es doch gleichzeitig als konkretes Tauschmittel im Wirtschaftskreislauf einen relativen Wert zu den Waren und damit einen Nutzen zum Tausch hat. Diese »Doppelrolle des Geldes« (Simmel PdG: 126) beschreibt Schlitte treffend darin, dass das Geld in der einen Perspektive »Relativität ist« und in der anderen »Relativität hat« (Schlitte 2012: 252 [Herv. i.O.]). Der relative Wert des Geldes gründet sich auf dem Vertrauen, das dem Geld als Zahlungsmittel (respektive seiner rechtlichen-technischen Absicherung) entgegengebracht wird, also dem Vertrauen darauf, dass man später für das Geld wieder alle Waren erhält, die man möchte (vgl. Simmel PdG: 131; vgl. Schlitte 2012: 252). Ist dieses Vertrauen, diese Verlässlichkeit aber gegeben, dann ist es tendenziell von Vorteil, Geld anstelle von Waren zu besitzen, denn das Geld ist in seinen Möglichkeiten weitgehend ungebunden. Der Mittelcharakter des Geldes ist so allgemein und damit abstrakt, dass es an keinen spezifischen Zweck innerhalb der Wirtschaftswelt gebunden ist (vgl. Simmel PdG: 267 und 270). Es ist aber gerade diese Eigenschaftslosigkeit als Mittel – Simmel spricht auch von der »Charakterlosigkeit« (ebd.: 273) des Geldes, von seiner qualitativen Gehaltlosigkeit, sich praktisch jedem Zweck innerhalb des wirtschaftlichen Agierens zu fügen –, die zur »positiven Eigenschaft« (ebd.) des Geldes umschlägt.3 Was eine jeweilige Geldsumme im Gegensatz zu den Waren, die mit ihr erworben werden können, zusätzlich bietet, ist eine doppelte Wahlfreiheit: Einerseits die Freiheit zwischen den verschiedenen Waren entscheiden zu können sowie andererseits über Zeitpunkt der Auswahl frei bestimmen zu können. So kommt dem Geld gegenüber den Wa-
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Selbst wenn ich lediglich sage, ›Ich schulde dir 10 €‹, schließt diese mündliche Verbalisierung eine Materialität in Gestalt von durch die Luft getragenen Schallwellen ein, die von anderen registriert, (auf Basis eines sprachlichen Zeichensystems) verarbeitet und erinnert wird. Einige dieser positiven Bestimmungen der Eigenschaftslosigkeit des Geldes treten natürlich erst bei steigender verfügbarer Geldmenge hervor, eben dann, wenn die finanziellen Mittel nicht bereits durch die Grundversorgung gebunden sind (vgl. Simmel PdG: 277).
5. Logik der Objektivierung und Objektivierung der Logik
ren ein »Plus« (ebd.: 268) an Wert zu, das es gar ermöglicht, das Geld in der Form von Zins selbst (erneut) als Ware zu handeln (vgl. ebd.: 270). Diese positiven Bestimmungen geben dem Geld als Zeichen jedoch eine charakteristische Wendung: Das Geld ist offensichtlich »nicht ein bloßes Zeichen, welches ein Wertverhältnis nur ausdrückt, was ohne es schon genau so besteht« (Schlitte 2012: 257), es wirkt in vielerlei Form auf die Verhältnisse, die es ausdrückbar macht, zurück. Was dies bedeutet, zeigt sich vor allem auf der zweiten Symbolebene, die Schlitte als sozialanthropologisch bzw. soziologisch-kulturgeschichtlich bezeichnet. Auf dieser Ebene wird auf die Leistung des Symbols abgehoben, eine abstrakte Beziehung an einem »materiellen Träger« (ebd.: 269) objektiv zugänglich und anschaulich zu machen. Nochmal am Beispiel des Geldes: Der »abstrakte[...] Vermögenswert[...]« wird aus dem Tauschgeschehen »herausdifferenziert« und gewinnt »eine begriffliche [d.h. als Preis/Summe; O.H.] – und […] an ein sichtbares Symbol [d.h. Münzen, Geldscheine oder auch die digital visualisierte Zahl im Webbrowser beim Onlinebanking; O.H.] geknüpfte Existenz« (Simmel PdG: 122). Geld ist »der zur Selbständigkeit gelangte Ausdruck« (ebd.) des Tauschbarkeitsverhältnisses. Dass es sich hierbei nicht um einen Akt individueller Sinngebung handelt, ist evident, da der Wert des Geldes, wie oben betont, abhängig vom allgemeinen Vertrauen ist, das in das Zahlungsmittel gesetzt wird. Diese Bedingung vorausgesetzt, drückt das Symbol aber das Verhältnis nicht nur aus, sondern stellt es überhaupt erst her. Die Form des Geldes eröffnet erst die Möglichkeit zur umfassenden Tauschbarkeit. Es sichert über diese abstrakte Funktion die Tauschbeziehungen ab, indem es sich selbst als Mittel in die Tauschbeziehungen einschiebt (vgl. ebd.: 262–263). Die Waren treten über das Geld in ein wirtschaftliches Verhältnis, werden über diese Vermittlung als Waren, als tauschbare Objekte mit quantifizierbarem Wert identifiziert. Das Symbol selbst ist wirksam, es stellt seinerseits Verhältnisse her (vgl. Schlitte 2012: 271 und 280). »Geld kann nicht nur als Symbol des je einzelnen relativen Wertes verstanden werden, sondern als gesellschaftliches Medium zur Regelung des wirtschaftlichen Austauschs.« (Ebd.: 271) Für das Verständnis von Symbolen im Allgemeinen hat dies weitreichende Konsequenzen: Symbole konstituieren auf spezifische Weise Räume, die durch Bahnen für mögliche Handlungen als mögliche Verhältnisse strukturiert werden, die wiederum in den Symbolen eingeschrieben sind. Im Falle des Geldes sehen wir, dass in einem solchen Möglichkeitsraum nicht nur mögliche Gegenstände, Mittel und Zwecke erscheinen, sondern im Geld auch bereits ein Maßstab für diese vorliegt. Das Symbol wird damit zum Schlüssel für »Deutung und Aneignung der praktischen Lebenswelt« (Schlitte 2012: 269). Die Nähe, in die Simmels Untersuchung damit zu Cassirers Begriff der symbolischen Formen rückt, wurde bereits von einigen Autor:innen festgestellt (am ausführlichsten Klattenhoff 2018; siehe auch Klattenhoff 2015; Schlitte 2012: 314; Geßner 1996a; Möckel 1996). Der Zugang zu einer kulturellen Logik der Objekte dürfte sich für uns damit am ehesten durch eine genaue Prüfung eröffnen, wie Symbole uns zu bestimmten Gegenständen in ein Verhältnis setzen und auf welche Art und Weise Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten hierdurch organisiert werden. Der herausgestellte Prozess, Verhältnisse zwischen Elementen in einem weiteren Element als Symbol zu verkörpern, gilt Simmel als Grundfunktion des Geistes, mit der sich die kulturelle Welt des Menschen aufbaut. »Die geistige, kulturelle Welt ist ein Zusammenhang von aufeinander verweisenden Symbolen, so könnte man im
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Anschluss an Simmels Kulturkonzept auch formulieren.« (Schlitte 2012: 318) In den Lebensanschauungen ist die Rede von einem »Netz« (Simmel LA: 236), in das der Geist die Welt einfängt. Mit dieser Feststellung eröffnet sich die dritte Symbolebene. Denn das Verständnis der Symbole als Grundsubstanz der Kultur und des Geistes lässt für Simmel das Philosophieren selbst symbolisch werden: Auf Basis der Metapher der Kultur als Symbolnetz wird es nicht nur möglich, Kultur dadurch zu analysieren, dass einzelne Fäden dieses Netzes aufgegriffen werden, also bestimmte in Symbolen verkörperte Verhältnisse (vgl. Schlitte 2012: 319), sondern anhand dieser Symbole/Fäden auch philosophische Probleme selbst zu behandeln (vgl. ebd.: 335). In der Kultur finden sich die verschiedenen Gegenstandskonstitutionen verwirklicht, das allgemein-menschliche Weltverhältnis theoretisch und praktisch auf plurale Weise konkretisiert sowie Umgänge mit Herausforderungen und Widersprüchen der menschlichen Lebensform. Kulturelle Bedeutungsstrukturen auf diese Weise zu entschlüsseln und zu durchdringen, verleiht Simmels Denken und seinen Texten jenen oft hervorgehobenen ästhetizistischen und essayistischen Stil (vgl. Geßner 2003: 267–270). Dieser Stil, so zeigt sich nun, deutet aber nicht auf ein »Ästhetisieren« (Adorno 1974: 559) von Problemen oder Gegenständen hin, sondern auf eine Methode, die »in dem Einzelnen […] [den] Typus, in dem Zufälligen das Gesetz« (Simmel SÄ: 198) zum Vorschein bringt. Klaus Lichtblau (1997: 57) spricht hier von einem »methodologischen Symbolismus«, Schlitte, die sich hier auch auf Lichtblau beruft, von einer undogmatisch verstandenen »symbolische[n] Metaphysik« (Schlitte 2012: 333). Auf die Einschätzung dieser Methode wird im 7. Kapitel zurückzukommen sein. Die Untersuchung, die Simmel in der Philosophie des Geldes vorgelegt hat, befasst sich demnach mit viel mehr als ›nur dem Geld‹: Simmel analysiert ausgehend vom materiellen Geldstück die wertphilosophischen Voraussetzungen des Zahlungsmittels im Tausch und von dort weiter die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Beziehungen, die vom Geld verkörpert und hergestellt werden, um im Geld als Ausdruck der Möglichkeit eines symbolisch vermittelten Weltverhältnisses überhaupt zu kulminieren.
5.2 Technik in logischen, teleologischen und kulturellen Räumen Auf Basis der oben gemachten Erörterungen zum Symbolismus können wir Simmels Methode wie folgt zusammenfassen: Die symbolische Deutung analysiert kulturelle Gebilde hinsichtlich der in ihnen eingeschriebenen Möglichkeiten bestimmter praktischer und theoretischer (Welt)Verhältnisse, die jeweils im Gebrauch der bzw. in Bezug auf diese Gebilde aktualisiert werden und so helfen, die eigene Lebenswelt aufzubauen, zu erschließen und weiterzuentwickeln. Kulturelle Strukturen und Gegenstände, verstanden als Symbole im zuvor entwickelten Sinne, ermöglichen und sichern die »Erwartbarkeit des Prozessierens in allen Feldern« (Graduiertenkolleg Topologie der Technik 2018: [29]), und sind damit auf eine Weise inhärent technisch, d.h., Technik ist selbst je ein Aspekt unserer symbolisch vermittelten Weltverhältnisse. Schauen wir auf die zahlreichen, von Simmel vorlegten, symbolischen Untersuchungen kultureller Phänomene, entspringen die meisten der behandelten Erscheinungen dem, was ge-
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meinhin als ›Sozialtechniken‹ bezeichnet wird.4 Während ›Realtechniken‹ zwar immer wieder erwähnt werden, aber nie alleinigen Gegenstand einer symbolischen Analyse bilden (vgl. Garcia 2005: 131), nimmt indes gerade Simmels Untersuchung des Geldes als Mittel ihren Ausgang vom Werkzeugbegriff. Die Ausführungen zum Werkzeugbegriff sollen mir als Anknüpfungspunkt dafür dienen, das technische Wesen der Symbole herauszustellen und so eine simmelsche Technikphilosophie zu umreißen. Simmel bestimmt das Werkzeug als »das potenzierte Mittel, denn seine Form und sein Dasein ist schon durch den Zweck bestimmt« (Simmel PdG: 261). Was das Handeln unter der Nutzung von Werkzeugen auszeichnet, ist, dass nicht auf, sondern mit einem Objekt gewirkt wird. Im Werkzeug wird eine Zweck-Mittel-Reihe bearbeitet und gestaltet: »[D]er Punkt, von dem an die natürlichen Prozesse sich selbst überlassen sind, [wird] weiter hinausgeschoben, das subjektiv [technisch; O.H.] bestimmte Moment ist dem [naturhaft; O.H.] objektiven gegenüber verlängert.« (Ebd.: 261) Der simmelsche Werkzeugbegriff geht damit bereits über ein instrumentalistisches Verständnis von Technik hinaus, indem herausgestellt wird, dass die (Über-)Formung der Zweck-Mittel-Reihen, die im Werkzeug geleistet ist, »[Handlungs-]Resultate sichert« (ebd.: 262; Ergänzung O.H.). Weiter betont Simmel den ermöglichenden Charakter des Werkzeugs, nicht nur Zwecke zu erreichen, sondern durch das Wissen und die Verfügung über Mittel, Zwecke zu setzen (ebd.: 259–260). Die Bestimmung des Werkzeugs bei Simmel erweist sich als anknüpfungsfähig an die dialektische Technikphilosophie. »Mittel und Zwecke sind nicht unabhängig voneinander denkbar: Im Unterschied zu bloßen Wünschen (oder ›Visionen‹) werden Zwecke als erstrebenswerte Sachverhalte nach Maßgabe ihrer Herbeiführbarkeit durch Mittel gesetzt.« (Hubig, 2015: 50) Die Mittel ihrerseits sind als solche nur auf Grundlage ihrer Dienlichkeit zu jeweiligen Zwecken zu bestimmen. Im Rahmen der Möglichkeiten, die bestimmte Techniken eröffnen, lassen sich also mögliche Zwecke identifizieren und setzen. Nehmen wir nun gemäß Simmels Ansatz das Werkzeug bzw. die Technik als Symbol, so ermöglicht dies einen Blick darauf, welchen Bezug dieses Symbol zu solcherlei Möglichkeiten eröffnet. Die herausgestellte Nähe zu den symbolischen Formen Cassirers als unterschiedlichen Weisen der Objektivierung erlaubt es, diesen Bezug als Objektivierung von Möglichkeiten zu denken. Schiebt sich das Werkzeug erst einmal als »›terminus medius‹« (Cassirer FuT: 158) zwischen einen Willen und sein Ziel, wendet sich der Wille selbstbändigend zunächst von seinem Ziel ab und rückt es in die Ferne, um im Werkzeug die gegebenen, in diesem Sinne naturhaften, Bedingungen der Zielerreichung zu erkennen, anzuerkennen und zu gestalten. Das praktische Weltverhältnis wird durch das Werkzeug unter die Regeln des Mitteleinsatzes gebracht, in denen sich gleichzeitig die Objektivität und Nutzbarkeit einer Ordnung ausdrückt (vgl. ebd.: 157–159).
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Ein weiteres Beispiel neben dem Geld hierfür mag die Mode sein, der sich Simmel in mehreren Essays widmet. Auch hier dient ihm wieder eine materielle Erscheinung in der Kultur als Basis, um allgemeinere Verhältnisse aufzuzeigen. So bestimmt Simmel die Funktion der Mode darin, einen Möglichkeitsraum für die Gestaltung des Verhältnisses von »sozialer Anlehnung« und »Unterschiedsbedürfnis« (Simmel DM: 188) zu bieten.
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»Mitten im Gebiet des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie [die Technik] einen Umkreis freier Möglichkeiten. Diesen haftet keinerlei Unbestimmtheit, keine bloß subjektive Unsicherheit an, sondern sie treten dem Denken als etwas durchaus Objektives entgegen.« (Ebd.: 176) Vermittels des Werkzeugs und seiner technischen Gestaltung konstituiert der Geist eine eigenständige Ordnung des Möglichen mit festen und allgemeinen Gesetzen. Das Verhältnis dieser Möglichkeiten untereinander, ihre »Ordnung im möglichen Beisammensein« (Cassirer MätR: 419), beschreibt die Modalität und Struktur eines Möglichkeitsraums. Die Rede vom Raum bei Cassirer – wie auch bei Simmel5 – ist transzendental, sie verweist auf eine Form des Gegenstandbezugs und auf die Form von Verhältnissen, in der die Gegenstände (hier mögliche Zustände und ihre Erreichbarkeit) in ihrem Verhältnis zueinander gedacht werden. Um den damit in Aussicht gestellten Modus der Räumlichkeit technischer Möglichkeitsbeziehung zu erhellen, werde ich auf Ludwig Wittgensteins (1963: 3.4ff.) Begriff des logischen Raums zurückgreifen und für die Modellierung von Möglichkeitsräumen modifizieren. Wittgenstein formuliert den logischen Raum in einer Analogie zum geometrischen Raum der Physik. Im geometrisch-physikalischen Raum werden Punkte als Orte verstanden, an denen sich materielle Teilchen, also Dinge, befinden können. Diese Punkte werden im logischen Raum zu Orten möglicher Tatsachen, die durch Elementarsätze ausgedrückt werden können (vgl. ebd.: 1.13 und 2.0131). Der Elementarsatz markiert für Wittgenstein die logisch einfachste Form eines Satzes, »das Bestehen eines Sachverhaltes« (ebd.: 4.21) zu behaupten, und kann in dieser Behauptung als wahr oder falsch bestimmt werden. Mit einer (potentiell unendlichen) Menge solcher Elementarsätze lassen sich dann die bestehenden Sachverhalte in der Welt ausdrücken und als eine Verteilung dieser Sachverhalte auf den Punkten des logischen Raums verstehen. Nun ist diese Verteilung der Sachverhalte im logischen Raum in eine Menge an möglichen Welten eingebettet, die andere Verteilungen von Tatsachen auf den Punkten darstellen. Formuliert man nun einen Satz [p], lässt sich die Menge der möglichen Welten in zwei Teilmengen untergliedern: (1) in die Teilmenge in der [p] wahr ist und (2) in die Teilmenge in der [p] falsch ist. Die Teilmenge (1) stellt nun gleichzeitig den »Spielraum« dar, »der den Tatsachen durch den Satz [p] gelassen wird. (Der Satz, das Bild, das Modell sind im negativen Sinne wie ein fester Körper, der die Bewegungsfreiheit der anderen beschränkt; im positiven Sinne, wie der von fester Substanz begrenzte Raum, worin ein Körper Platz hat).« (Ebd.: 4.463) Es ist dabei keine neue Erkenntnis, dass nicht nur die Möglichkeiten der Formulierung von Elementarsätzen, wenn wir den Begriff der Elementarsätze zunächst einfach annehmen, sondern auch die Überprüfung ihrer Wahrheit und Vereinbarkeit mit anderen Sätzen eine praktische Angelegenheit ist. Nehmen wir den logischen Raum folglich als praktisch vermittelt und enthüllt, lässt sich die Vorstellung des logischen Raums auf Handlungsfelder übertragen. Er beschreibt aus praktischer Sicht dann eine Menge denkbarer und potentiell erreichbarer Zustände. Die Funktion dieses logischen Raums 5
Simmel versteht unter »Raum«, in Anlehnung an Kant, die formale Bedingung der »Möglichkeit des Beisammenseins« (Simmel Soz: 689–690).
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besteht dann darin, mögliche Zustände nach ihrer Herbeiführbarkeit zu ordnen. Er setzt also eine Menge an Zuständen Mg in ein Verhältnis zueinander und bestimmt damit den Spielraum Mzg , der sich von einem jeweiligen Zustand z Mg aus eröffnet bzw. den Möglichkeitsraum Mzg‘ , der sich gleichzeitig verschließt. Diese Verhältnisse im logischen Raum sind abhängig von den zur Verfügung stehenden Techniken und den Praktiken ihrer Verwendung. Ob ein Zustand herbeiführbar ist, ob und inwiefern er einen andern ausschließt, lässt sich nur über den Stand der Methoden bestimmen. In der Form, wie technische Artefakte ein Verhältnis zu bestimmten Möglichkeiten (als Zustände) ermöglichen, sind in ihnen Wissen, Know-how und Kreativität materialisiert, allerdings auch Werte und Intentionen (vgl. Poser 2016: 63–64). Das Verhältnis zu den enthüllten und objektiv gesicherten Möglichkeiten, in das uns die Symbole versetzen, ist aufgrund dieser Charakteristik ursprünglich nie eine gewissermaßen ›wertneutrale‹ theoretische Erkenntnisbeziehung (siehe hierzu auch die Ausführungen zu Marcuse in Kapitel 1.1.2). »Technik ist«, wie es Hans Poser prägnant formuliert »also gar nicht denkbar ohne eine Intention.« (Ebd.: 63 [Herv. i.O.]) Zweck-Mittel-Verhältnisse als mögliche Handlungsschemata – natürlich im Plural! – sind in technischen Artefakten je immer schon symbolisch eingeschrieben. Wir sind im Bezug und Gebrauch solcher Objekte zu einem solchen Zweck in ein Verhältnis gesetzt, indem »die Reize einer nur subjektiv antizipierbaren Zukunft in der Form einer objektiv vorhandenen Gegenwart [ver]sammelt [sind]« (Simmel PdG: 313–314). Wo wir Technik erblicken, wissen wir, wozu sie als Mittel eingesetzt wird und eingesetzt werden kann – oder wir haben zumindest die Vorstellung, dass es einen solchen Zweck geben muss, auch wenn er uns noch nicht klar bekannt ist. Der Gebrauch von technischen Artefakten und auch der Bezug auf sie stellen uns in ein Verhältnis zu einem Zweck oder verschiedenen Zwecken. Ein intuitives Beispiel hierfür kann das mulmige Gefühl sein, das manche Menschen ergreift, wenn sie ein Skalpell in den Händen halten: Die Präsenz des Skalpells ruft die Vorstellung seiner Funktion, dem Durchtrennen von organischem Gewebe, mit einer entsprechenden psychischen Reaktion ins Bewusstsein. Ist unser Verhältnis auf die Zustände im logischen Raum durch Technik symbolisch vermittelt, sind diese verschiedenen Zustände phänomenologisch vorgängig keine gleichwertigen oder neutralen Punkte. Sämtliche Punkte lassen sich durch ihre Verbindungen und Konstellationen zueinander als Zwischenstufen oder Mittel hin zu einem Ziel begreifen. Ein bestimmter Zustand ist damit als Mittel auf seine Effektivität und Effizienz, ein jeweiliges Ziel zu erreichen, (unter verschiedenen Kriterien) bewertbar. Ein logischer Raum wird so von teleologischen Reihen durchzogen, wertmäßig akzentuiert und strukturiert: Er wird zu einem teleologischen Raum. Wir sind an dieser Stelle erneut bei Simmels eigentümlichen Wertobjektivismus angelangt. Denn wenn solche Wertstrukturen, auch wenn diese bisher nur als Wertungen aus einer Zweckperspektive erscheinen, in die Symbole und über sie in den Möglichkeitsraum eingeschrieben sind, können sie nicht ausschließlich Produkt individual-psychologischer Akte sein, da sie sonst, in letzter Konsequenz, zufällig blieben. Stets sei eine »Anerkennung dessen […], daß diese Gebilde überhaupt da sind« (Simmel BuTK: 393) im Spiel, dass in ihnen die Anstrengungen und Leistungen von Individuen in »einer ideellen Welt oberhalb des individuellen Bewußtseins […] gesammelt sind« (ebd.: 392) – also zunächst die basale Anerkennung ihrer als Kulturprodukte überhaupt. Doch meint Simmel noch mehr als das. In Kapitel 2.3 wurde auf Simmels Rede vom objektiven Wert ver-
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wiesen, der sich durch die Stellung eines Objekts in einem geistigen Kosmos bestimmt. Die Objekte verkörpern auf diese Weise umfassendere Ordnungen und sind ihrem »Sinn und Wert« (Simmel LA: 238) nach Teil dieser (siehe hierzu auch Amat 2015: 260f.). Jene Ordnungen entsprechen den »großen Funktionsarten des Geistes«, die durch »ihre Formungskräfte die prinzipielle Unendlichkeit möglicher Inhalte zu je einer, durch bewußt besonderen Charakter vereinheitlichten ›Welt‹« (Simmel LA: 238) zusammenwachsen lassen. Wie bei Cassirer werden Kunst, Erkenntnis und Religion als Beispiele für solche Welten genannt – doch deutet sich an, dass Simmel nicht nur die ›großen‹ kulturellen Formen im Sinn hat. Denn der »formale Charakter des Begriffs [der Welt] rechtfertig es sehr wohl, ihm auch relative Totalitäten, Bezirke geringeren Umfangs zu unterstellen« (ebd.: 288). So dient an anderer Stelle auch das Gesellschaftsspiel als Beispiel, an dem sich die Charakteristika des Gemeinten verdeutlichen (vgl. Simmel SG: 179). Es geht um Funktionen der Formungsprozesse, die unter einer notwendigen Einseitigkeit von Bestimmungskategorien eine relative Geschlossenheit eines Feldes gewähren (vgl. Simmel LA: 237). Ausgehend von der hier unternommenen Untersuchung symbolisch konstituierter Möglichkeitsräume, möchte ich diese relativ geschlossenen Felder als kulturelle Räume bezeichnen: Modal betrachtet steht der kulturelle Raum damit über dem teleologischen Raum, verleiht letzterem eine bestimmte Ausrichtung. Ausgerichtet wird der teleologische Raum damit aber nicht auf einen Zielpunkt (terminus ad quem), verstanden als höchster Zweck. Die Funktion der Formung, das Formungsprinzip, das den kulturellen Raum definiert, ist ein terminus a quo.6 So erklärt sich auch, warum Simmel die Rede vom Auswachsen der Mittel zu Endzwecken strikt ablehnt. Nicht nur würde sie eine psychologische Reduktion bedeuten, sondern vor allem verfehlen, dass der kulturelle Raum als Ganzer jenseits der Teleologie steht (vgl. ebd.: 245) – wenngleich der modal unter ihm stehende teleologische Raum natürlich durch Zweck-MittelReihen strukturiert ist. Symbole verkörpern auf dieser Stufe nicht nur eine bestimmte Form, ein Zweck-Mittel-Verhältnis, sondern gleichzeitig auch einen Typ von Verhältnissen und hierüber ein Formungsprinzip, das Regeln für die Bildung von entsprechenden Zweck-Mittel-Verhältnissen entspricht. Wir haben es mit »vorgängige[n] Konzepte[n] einer Orientierung« als den »Bedingungen der Möglichkeit der Erstellung von Handlungsschemata« zu tun, etwas, das Hubig angelehnt an Wilhelm Dilthey und Marx »materiale Kategorien« (Hubig 2011b: 11) nennt. Innerhalb dieser kulturellen Räume diagnostiziert nun Simmel, seine Untersuchung aus Der Begriff und die Tragödie der Kultur fortsetzend, »eine innere, sachliche Logik, die zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeit und Gegensätze gibt, aber doch auch den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet« (Simmel LA: 238). Deshalb liegt die Homogenität des kulturellen Raums in ihrer Modalitätsstruktur, nicht in der Kohärenz der durch sie ermöglichten teleologischen Verknüpfungen und in ihnen vollzogenen Aktualisierungen und Einzelinhalte.
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Da sich kulturelle Formungsprinzipien nur in bestimmten geschichtlichen Realisierungen fragmentarisch zeigen, ist Simmel skeptisch, ob sich diese abschließend definieren lassen: »Mit der absoluten Allgemeinheit dieser Begriffe verbindet sich keine bestimmte Vorstellung mehr, sie liegen sozusagen im Unendlichen.« (Simmel LA: 240) Nach Mattieu Amat stehen die kulturellen Welten »wie regulative Ideen im Unendlichen« (Amat 2015: 260).
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Zu seiner vollen Bedeutung gelangt der kulturelle Raum mit der sogenannten »Achsendrehung« des Lebens respektive der »Wendung zur Idee« (ebd.: 236ff.) dann, wenn die lebensweltlichen, noch von kontingenten Bedingungen und Antrieben bestimmten Praktiken reflexiv unter einem Formungsprinzip erkannt werden. Die Praxis steht nicht mehr unter dem, was zufällig als nützlich empfunden wird, sondern besitzt eine eigene Gesetzlichkeit, sie wird damit erst reflexiv verständlich und im eigentlichen Sinne produktiv (vgl. Amat 2015: 261–262). Die Wendung zur Idee markiert das Dominantwerden der Formungsprinzipien (vgl. Simmel LA: 245): Zwecke sind dann nicht wertvoll, weil sie von einem Individuum in einem psychischen Akt gesetzt wurden, sondern weil sie unter einem bestimmten Formungsprinzip zustande kamen. Wir können uns dies als einen Perspektivenwechsel vorstellen, hin zu einer Wertung vom (exzentrischen) Standpunkt einer autonomen Kulturwelt, die als solche dann erst eigentlich erkannt, erkennend und produktiv wird. Für kulturelle Objekte bedeutet dies, dass sie als Werte mit einer Gültigkeit bestimmbar sind, gleichgültig gegenüber der Frage, ob sie als solche von Individuen rezipiert werden. »Als Werke oder Heiligkeiten, als Systeme oder Imperative haben sie einen selbstgenügsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand« (ebd.: 238), der sich vom Individualbewusstsein gelöst hat (vgl. Amat 2015: 263). Mit dem Umschlag zur Idee formen sich kulturelle Räume zu einer jeweiligen »Geschlossenheit vermöge eines einheitlich durchgehenden Sinnes«, zu einem Bereich mit »Autonomie und innere[r] Selbstverantwortlichkeit« (Simmel LA: 288). Der an Kant erinnernde Begriff der »Autonomie« wird hier keineswegs willkürlich gewählt: »Es fällt nämlich der kantische Unterschied zwischen dem hypothetischen und dem kategorischen Imperativ eigentlich genau mit dem hier gemeinten [der Wendung zur Idee] zusammen.« (Ebd.: 294) Der »subjektive[n], innerlich noch sittlichkeitsfremde[n] Triebfeder« (ebd.), die bei Kant Bedingung für die hypothetischen Imperative ist, entspricht dem Moment der lebensweltlichen, materialen Interessenszusammenhängen verhafteten Teleologie, die Praxisformen aus sich hervorbringt. Die Wendung zur Idee bedeutet, dass das der jeweiligen Praxisform zugrundeliegende Prinzip, unabhängig von lebenspraktischer Nützlichkeit, eine eigene »objektive Gültigkeit« (Amat 2015: 259) für die Gestaltung der Praxis beansprucht und als »ideelle Objektivität« (ebd.: 260) anerkannt wird. Geht unter der Vorstellung der kulturellen Logik der Objekte um den »sachlichen Zusammenhänge der Dinge« (Simmel BuTK: 411), bezieht sich dies auf die in den Dingen gelegenen ideellen Geltungsformen. Den Hinweisen, die hiermit auf den Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte und ihre Art der Nötigung gegeben sind, soll erst im 6. Kapitel systematisch nachgegangen werden. Bereits in Kapitel 2.3 begegnete uns das Beispiel der Autonomie der Wissenschaft: Von ihr aus betrachtet, ist es völlig gleichgültig, ob und in welcher Hinsicht ihre Ergebnisse (also Inhalte) von Nutzen sein oder von einzelnen Individuen als wichtig/unwichtig erachtet werden, sie ist rein als eigene Welt frei von solcherlei Zwecken. Entscheidend ist, dass Inhalte unter bestimmten Formungsprinzipien entstanden sind und diese erfüllen: »[D]as Ergebnis der Forschung als solches soll wahr sein und absolut weiter nichts« (Simmel BuTK: 398). Sie bildet so einen »freischwebende[n] Komplex« (Simmel LA: 263), eine »logisch verbundene Totalität«, die »ideell vor uns« (ebd.: 265) steht und aus sich heraus eine jenseitige Begründung ihrer Form ablehnt. Selbiges im kleineren Maßstab lässt sich wieder im Gesellschaftsspiel beobachten: Das Spiel abstrahiert bestimmte
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im Leben entstandene Formen und konstituiert aus ihnen eine eigene Welt, die von materialen Inhalten und Zwecken entleert ist. Zu sagen, dass es sich bspw. beim Schachspiel darum dreht, zu gewinnen, verkennt das Wesentliche. Das Spiel besteht in der Entwicklung von und dem Umgang mit Formen von Strategien und Taktiken. Es geht ihm um keinen Zweck außerhalb seiner selbst und auch der Sieg ist nicht sein Zweck, sondern eine Funktion des Spielprinzips (vgl. Simmel SG: 179).
5.3 Sinnüberschuss, Subversion und kulturelle Logik der Objekte Ich will nun anhand der vorangegangenen Ausführungen eine inhaltliche Bestimmung dessen geben, was wir bei Simmel unter der kulturellen Logik der Objekte verstehen können. Mittels der drei Raumbegriffe werden verschiedene Ebenen des Möglichkeitsraums unterschieden. Über die Ebene des kulturellen Raums erhält der Möglichkeitsraum eine jeweilige Ausrichtung, eine Perspektive, unter der Zweck-Mittel-Verhältnisse gesucht und gebildet werden. Als einheitlicher Typus und einer ideellen Ordnung zugehörend werden diese gebildeten Verhältnisse reflexiv unter einem Formungsprinzip erkannt. Als einer teleologischen Struktur mit Wertakzenten stehen wir diesen ZweckMittel-Verhältnissen auf Ebene des teleologischen Raums gegenüber. Der logische Raum hingegen beschreibt mögliche, durch verfügbare oder zumindest angenommene Mittel herbeiführbare Zustände, die je auch Kandidaten möglicher Zwecksetzung sind. Die verschiedenen Raumebenen stehen folglich in einer spezifischen modalen Abhängigkeitsbeziehung. Die Unterscheidung dieser Ebenen und ihre konzeptionelle Beziehung aufeinander eröffnet den Blick für die Dynamik und Produktivität eines solchen Möglichkeitsraumes: Er generiert je einen »Sinnüberschuss« (Schlitte 2012: 449). Der entstehende Sinnüberschuss ist auf verschiedene Effekte, jedoch nicht auf Intentionen zurückzuführen (vgl. Simmel BuTK: 406–407). Simmel spricht davon, dass an allen kulturellen Gebilden »zunächst einmal das rein Naturhafte [...], dann aber auch der geistige Gehalt« ihrer »Elemente und ihr von selbst sich ergebender Zusammenhang« (ebd.: 407) einen die jeweils intendierte(n) Bedeutung(en) erweiternden Anteil hat oder zumindest haben kann. Der Sinnüberschuss entsteht also sowohl durch naturhafte, kausal beschreibbare als auch durch geistige, sinnhafte Zusammenhänge. Schauen wir zunächst auf die ›naturhaften‹ Zusammenhänge. Es lässt sich unmittelbar einsehen, dass im logischen Raum mehr Möglichkeiten (verborgen oder offensichtlich) bereitstehen, als Zweck-Mittel-Verhältnisse im teleologischen Raum gesetzt sind bzw. vorgefunden werden. Dies ist notwendig der Fall, da unsere Handlungsmittel stets mehr Nutzungsmöglichkeiten eröffnen als die in ihnen eingeschriebene(n) und technisch gesicherten Zweck-Mittel-Relation(en) und außerdem die Herbeiführbarkeit eines Zustands nur notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für einen Zweck ist (vgl. Simmel VWhV: 168). Geschaffene Werkzeuge und technische Systeme lassen sich auf vielerlei Arten nutzen, die ursprünglich nicht intendiert waren. Die Sinnhaftigkeit, Effektivität, Effizienz und das Ausmaß dieser Nutzungsweisen variieren selbstverständlich stark, dennoch erweitern sie unsere Möglichkeiten auf unvorhergesehene Weise. Der durch Technik eröffnete logische Raum ist in diesem Sinne immer ›größer‹ als der teleologische Raum. Ferner hinterlässt, gemäß den beschriebenen Konzeptionen der Me-
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dialität (vgl. Hubig 2006: 143ff.), das beim Herstellen eines Werks bzw. dem Vollzug einer Handlung genutzte technische Mittel (bzw. Medium) Spuren im Resultat. Die Materialität und Eigenschaften des technischen Mediums schreiben sich als Eigenschaften im entstandenen Resultat ein und können die »Bedeutungsmöglichkeiten« (Simmel BuTK: 407) dieses Resultats erweitern. Auch die Nebenbedingungen, unter denen ein Werk entsteht bzw. eine Handlung vollzogen wird, können analog zum technischen Medium kausal Spuren hinterlassen, die für die Bedeutung des Resultats relevant sind. Diese Effekte gehören auch zur Dialektik von Regel und Anwendung, nach der das Resultat der Regelanwendung stets mehr Eigenschaften aufweist, als vom Subjekt intendiert bzw. als von der Regel erfasst wird, insofern der Vollzug durch die abstrakte Regel unterdeterminiert bleibt (vgl. bspw. Hubig 2015: 46f.). Kausale Prozesse im Vollzug einer Handlung und der Schöpfung eines Werks können auf diese Weise Bedeutungsmöglichkeiten im Resultat anlegen, die offen zu Tage liegen, nach und nach entdeckt oder vielleicht auch völlig verborgen bleiben. Im vollen Sinne als Bedeutungsmöglichkeiten können sie selbstverständlich aber erst erkannt werden, wenn wir neben den kausalen Prozessen auch auf das geistig Sinnhafte blenden. Der geistig-sinnhafte Gehalt eines Werks oder einer Handlung bietet je Interpretationsmöglichkeiten, kann verschieden aufgefasst, betont und in je unterschiedliche Zusammenhänge und Kontexte gestellt werden. Im jeweiligen Möglichkeitsraum einer kulturellen Welt, die hier selbst Medium des Verständnisses ist, weist ein Werk nie vollständig zu erfassende und selbst in Entwicklung befindliche Verbindungen und Verhältnisse auf. Interpretations- und Bedeutungsmöglichkeiten unterliegen damit jedoch alles andere als subjektiver Willkür. Die »Möglichkeit, einen subjektiv geistigen Inhalt« aus einem kulturellen Gebilde »herauszugewinnen«, ist, wie Simmel betont, als »objektive Formung« und »objektiv für jedes Bewußtsein reproduzierbar« in dem kulturellen Gebilde »investiert« (Simmel BuTK: 407). »In extremem Beispiel: ein Dichter habe ein Rätsel auf eine bestimmte Lösung hin verfaßt; wird ein anderes Lösungswort dafür gefunden, das genau so passend, so sinnvoll, so überraschend ist, wie jenes, so ist es eben auch genau so ›richtig‹ und obgleich es seinem Schöpfungsprozeß absolut fernlag, liegt es in dem geschaffenen genau so als ideelle Objektivität, wie jenes erste Wort, auf das hin das Rätsel geschaffen wurde. Sobald unser Werk dasteht, hat es nicht nur eine objektive Existenz und ein Eigenleben, die sich von uns gelöst haben, sondern es enthält in diesem Selbst-Sein – wie von Gnaden des objektiven Geistes – Stärken und Schwächen, Bestandteile und Bedeutsamkeiten, an denen wir ganz unschuldig sind und von denen wir selbst oft überrascht werden.« (Ebd.) Ein anderes Beispiel wäre das zuvor erwähnte Schachspiel. Die extrem große, aber keinesfalls unendliche Anzahl möglicher Spielzustände, die Schach bietet, sind bei seiner Erfindung als einem Set von konstitutiven Regeln (Anzahl der Spieler, Zugreihenfolge, Spielfiguren mit entsprechenden Zugmöglichkeiten, Spielbrett, Siegbedingungen) bereits angelegt, ohne von seiner oder seinem Erfinder:in bewusst geschaffen zu sein. Die möglichen Spielzustände eröffnen allerdings in Kombination mit dem für das Spiel konstitutiven Regelset mögliche Strategien (strategische Regeln). Diese nach und nach entdeckten und entwickelten Strategien treten in ein Verhältnis zueinander, lösen einan-
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der ab oder erscheinen als Reaktionen aufeinander. Das Spiel schreibt sich in diesem Prozess fort, verändert mit den Spielpraktiken seine objektive Gestalt und erhebt in der Weise, wie wir es geistig und praktisch durchdringen, Ansprüche an die Spieler:innen. Während wir es bei Schach mit einem Spiel zu tun haben, das sich durch eine hohe Festigkeit bzw. Beharrlichkeit der konstitutiven Regeln auszeichnet, kann in anderen Fällen die Entdeckung und Entwicklung von Strategien und Spielzügen konstitutive Regeln ad absurdum führen und zu Anpassungen nötigen (sofern das Spiel als Spiel weiterhin Sinn ergeben soll). In anderen Handlungsfeldern, die nicht einem formalisierbaren Spiel entspringen, herrscht demgegenüber eine anders geartete Offenheit, insofern konstitutive Regeln, die einen Möglichkeitsraum aufspannen, oft nicht eindeutig definiert sind oder konstanter Veränderung unterliegen. Oftmals sind die konstitutiven Regeln mit den technischen Prinzipien zur Verfügung stehender Technologien selbst gegeben, gleichwohl durch rechtliche, wirtschaftliche und andere Rahmenbedingungen Einschränkungen gegeben sein können. Ein solcher Sinnüberschuss, der Werken und Handlungsvollzügen eignet, ermöglicht, mit Michel Foucault (1978: 121) gesprochen, Subversion als eine strategische Wiederauffüllung der Regeln bzw. tradierten Formen. In den subversiven Prozessen ›nagt‹ das Leben, um Simmels Formulierung erneut aufzugreifen, an den »entstandenen Kulturgebilden« und formt unter ihnen, sowie diese zu ihrer »vollen Ausbildung« (Simmel Konflikt: 184) gelangt sind, die nächsten Formen (vgl. auch Simmel HP: 21–22). Wandeln sich auf diese Weise durch lebensweltliche Praktiken die kulturellen Formen, lässt sich über eine erneut vollzogene Wendung zur Idee erklären, wie es zur Veränderung von Formungsprinzipien respektive zu neuen kulturellen Räumen kommt. Es lässt sich jedoch eine Unterscheidung dahingehend treffen, in welcher Art dieser Sinnüberschuss, das ›Mehr‹ an Bedeutung (die ›Bedeutungsmöglichkeiten‹), identifiziert wird. Entweder unter der Perspektive auf die Einseitigkeit der Bestimmung durch das Formungsprinzip, um so im Sinnüberschuss die Möglichkeit neuer Formen (unter einem anderen oder modifizierten Formungsprinzip) zu erkennen. Oder unter der Perspektive des bestehenden Formungsprinzips, das den vollzogenen Regeln/Formen zugrunde liegt. Dieser letztere Fall würde bedeuten, dass die Bestimmungsmöglichkeiten des Formungsprinzips weiter ›ausgereizt‹ werden, also neue und neuentdeckte Möglichkeiten unter diesem Formungsprinzip (trotz fortbestehender Einseitigkeit) angeeignet werden. Das Formungsprinzip erweist sich dann gleichzeitig sowohl als widerständig und beharrend als auch als produktiv. Es orientiert die Verwirklichung der bislang unverwirklichten Möglichkeiten in Richtung einer eigenen Vollkommenheit. Meiner Lesart zufolge wird dieser zweite Fall unter dem Terminus »kulturelle Logik der Objekte« reflektiert. Simmel formuliert demnach die Einsicht, dass der herausgestellte Sinnüberschuss in Form von materiellen Eigenschaften und Bedeutungsmöglichkeiten nicht ausschließlich subversiv wirkt. Entsprechend erblickt Simmel in diesem ›Mehr‹ an Bedeutung das »metaphysische Fundament für die verhängnisvolle Selbständigkeit, mit der das Reich der Kulturprodukte wächst und wächst« (Simmel BuTK: 408). Die kulturelle Logik der Objekte ist, so wäre dann zu definieren, die Wirksamkeit der in den Objekten verkörperten Formen und Formungsprinzipien. Diese Wirksamkeit drückt sich darin aus, dass unter ihnen als »Leitfaden einer ideellen Notwendigkeit« (ebd.: 402) Möglichkeiten im logischen Raum identifiziert und in ein Verhältnis zum teleologischen Raum gesetzt werden. In dieser Be-
5. Logik der Objektivierung und Objektivierung der Logik
stimmung besitzen diese Möglichkeiten einen normativen Geltungsanspruch als zu verwirklichend, zu vermeidend, wichtig, unwichtig, revolutionär usw. Diese begriffliche Bestimmung lässt erkennen, dass unter der kulturellen Logik der Objekte kein strenges Determinationsverhältnis zu verstehen ist. Handlungen, Ereignisse oder soziale Strukturen werden nicht als nach kulturellen Gesetzmäßigkeiten eindeutig erklärbare oder gar prognostizierbare Effekte vorgestellt. Die kulturelle Logik der Objekte gibt – oder besser gesagt: erhebt Anspruch auf – Orientierung im Denken und Handeln, indem sie Möglichkeiten in jeweiligen Richtungen sucht, identifiziert und bewertet. Sie kann auf diese Weise Antworten auf praktische Fragen vorgeben oder vorstrukturieren: Die praktische Frage erscheint entschieden, bevor sie überhaupt gestellt wurde, oder von vornherein auf eine bestimmte Kontur und einen bestimmten Spielraum festgelegt, sodass andere, ebenfalls mögliche praktische Fragen erst gar nicht mehr gestellt werden (siehe hierzu Kapitel 3.4.1) oder bestehende Handlungsspielräume nicht angeeignet werden (siehe hierzu auch Kapitel 3.4.2). Auch dort, wo ein Subjekt sich die Handlungs- und Entscheidungssituation vergegenwärtigt, ›zwingt‹ die kulturelle Logik der Objekte dazu, sich reflexiv zu bestimmten, als Ansprüche erfahrenen Möglichkeiten in ein Verhältnis zu setzen, also einen Umgang mit einer Lage zu finden, die durch eine solche Ausgestaltung des Möglichkeitsraumes geprägt ist. Unabhängig davon jedoch, wie sich unser individuelles Verhältnis zu solchen Möglichkeiten ausgestaltet, ob wir der kulturellen Logik der Objekte folgen oder nicht, können wir die Bedeutsamkeit der identifizierten Möglichkeiten nicht leugnen, weil auch in ihrer Zurückweisung als Akt der transzendentalen Freiheit eine Form der Anerkennung als Ansprüche liegt. Denn die Forderung nach Anerkennung wird nach Simmel aus Perspektive der handelnden Person objektiv empfunden (vgl. Simmel PdG: 37; siehe auch das folgende, 6. Kapitel). Dass bereits hierin ein Problem für das Individuum liegen kann, führt Simmel in einer Vorlesung des Sommersemesters 1913 am Beispiel konfligierender idealer Ansprüche aus. Im »Gegensatz zur physikalischen Kollision zweier Kräfte« (Simmel EPmK-KG: 842) heben sich die ›geistigen Kräfte‹ der jeweiligen Ansprüche nicht auf, sodass auch ein zurückgewiesener Anspruch in Form der Anerkennung als Anspruch fortbesteht. Nach wie vor können sie »Velleitäten« (Simmel BuTK: 412) in uns wecken. Hieraus entstehende innere Konflikte können bis in unser Selbstverständnis führen und uns darin behindern, Entscheidungen und Handlungsmotivationen zu authentifizieren (siehe Kapitel 3.4.3). Sie haben in diesem Sinne das Potential, die Voraussetzungen der Verwirklichung von Freiheit zu untergraben. Aber auch dort, wo Ansprüche scheinbar nichts mehr mit uns zu tun haben, wo wir ihnen gegenüber bspw. aus Überforderung indifferent werden, droht eine Gefährdung unseres Status als Subjekte, insofern wir unser Selbst in Bezug auf als wertvoll Wahrgenommenes in der Welt nicht mehr (oder nur noch eingeschränkt) verwirklichen können (siehe Kapitel 3.4.4). Verweisen diese Punkte darauf, wie die kulturelle Logik der Objekte Selbstentfremdung bedingen kann, machen sie doch deutlich, dass auch Kultivierung nur im gelingenden, d.h. aneignenden Umgang mit der eigendynamischen Produktivität der Kultur erreicht werden kann. In diesem Kapitel ging es darum, den entscheidenden Charakter des Symbols für die kulturelle Logik der Objekte herauszustellen, nämlich, dass ein (Welt-)Verhältnis und gleichzeitig das Prinzip, unter dem dieses gebildet wurde, im kulturellen Objekt als Symbol ›präsent‹ oder eben objektiviert sind. So ist das Geld als Symbol bspw. gleichzeitig
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Prinzip der wirtschaftlichen Relativität schlechthin, das Medium, das Tauschakte ermöglicht und regelt sowie konkretes Mittel im einzelnen Tauschakt. In der Nutzung und in Bezug auf Symbole, d.h. in unserer lebensweltlichen Praxis, stehen wir so jeweils Möglichkeitsräumen gegenüber, innerhalb derer wir uns orientieren und handeln. Unser Bezug auf Symbole ist damit nicht nur weltkonstitutiv und welterschließend, sondern orientiert unsere theoretischen und praktischen Weltverhältnisse. Insofern Symbole hierbei aber selbst produktiv und wirksam sind, Möglichkeitsräume nicht nur konstituieren, sondern ihnen auch eine dynamische Struktur und Ausrichtung verleihen, stellt uns dies vor die Herausforderung, unseren vollen Status als Subjekte in ihnen zu verwirklichen und aufrechtzuerhalten. Dass die Wendung zur Idee, die sich in diesen Möglichkeitsräumen vollzieht, mit der kantischen Unterscheidung zwischen dem hypothetischen und kategorischen Imperativ zusammenfalle und die kulturelle Logik Anspruch auf die Orientierung unseres Denkens und Handelns erhebe, sind die Hinweise, von denen wir ausgehen können, um im Folgenden den Imperativcharakter und das Nötigungsverhältnis der kulturellen Logik der Objekte zu bestimmen.
6. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte
Vorläufig habe ich den Begriff der kulturellen Logik der Objekte als die Wirksamkeit der in Objekten materialisierten Formen und Formungsprinzipien bestimmt. Wirksamkeit meinte hier, dass Möglichkeiten im logischen Raum identifiziert und im teleologischen Raum als Mittel-Zweck-Verbindungen unter einer bestimmten Perspektive nahegelegt werden. In diesem Sinne weist die kulturelle Logik der Objekte uns in jeweilige Richtungen, sie orientiert, ohne im strengen Sinne zu determinieren. Allerdings blieb an diesem Punkt nicht nur der Orientierungsbegriff unterbestimmt, sondern auch, in welchem Sinne hier von einer Nötigung gesprochen werden kann. Es war Hubig (2015: 28), der es als eine grundlegende Schwäche der bisherigen Modellierungen eines ›Sachzwanges‹ ansprach, dass nicht dargelegt wird, ob dieser Zwang hypothetischer, assertorischer oder kategorischer Art sei (siehe Kapitel 1.1.2). Formuliert ist diese Kritik offensichtlich auf Basis der kantischen Klassifizierung von Imperativen nach technischen, pragmatischen und moralischen. Wollen wir den Begriff der kulturellen Logik der Objekte dahingehend präzisieren, in welcher Art hier ›Sachzwänge‹ vorliegen können, müssen wir untersuchen, in welches Verhältnis sich der simmelsche Ansatz zur kantischen Bestimmung der Imperative und der jeweiligen Nötigungsverhältnisse bringen lässt. Hierzu wird zunächst die kantische Architektonik der Imperative kurz eingeführt (6.1), um im zweiten Schritt (6.2) die bei Kant unzureichend gefasste Dimension der Orientierung durch pragmatische Imperative auszuarbeiten. Indem hierbei erst die phänomenologische Perspektive der handelnden Person als Orientierung auf Werte greifbar wird, kann über die Erörterung der simmelschen Wertphilosophie (6.3) und durch die in ihr gelegene Annahme einer technischen Vermittlungsform der Wertprädikation (6.4) der sich in zweifacher Weise artikulierende Nötigungscharakter der kulturellen Logik der Objekte bestimmt werden (6.5).
6.1 Die kantische Architektonik der Imperative Was unter der Wendung zur Idee zu verstehen ist und welche Geltung der kulturellen Logik der Objekte zukommt, versuchte Simmel selbst mit dem Verweis auf die kantischen
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Imperativarten verständlich zu machen. Es gilt deshalb zunächst, uns die kantische Architektonik der Imperative zu vergegenwärtigen.1 Ausgehend von dieser Klärung lässt sich dann bestimmen, wie sich die kulturelle Logik der Objekte zu den Imperativformen verhält und auch welche Modifikationen wir an der kantischen Konzeption aus der Perspektive der simmelschen Kulturphilosophie vornehmen müssen. Wir haben es nach Kant mit einem Imperativ zu tun, wenn ein objektives Prinzip für einen Willen nötigend ist. Doch was ist ein objektives Prinzip und auf welche Weise kann es überhaupt für einen Willen nötigend werden? Es ist für ein vernünftiges Wesen kennzeichnend, dass es dazu in der Lage ist, sein Handeln an der Vorstellung von Gesetzen zu orientieren (vgl. Kant GMS: AA IV 412). ›Gesetz‹ ist hier noch in einem sehr weiten Sinne zu verstehen. Gemeint ist erst einmal jegliche Regel, deren Vorstellung das Handeln anleiten kann, sei dies ein Schritt in einer Bauanleitung, eine Versuchsanordnung, ein selbstentwickeltes Vorgehen bei der Ausarbeitung eines Referats oder das moralische Gebot, nicht zu lügen. In solchen Gesetzen kommt die objektiv-praktische Notwendigkeit einer Handlung zum Ausdruck, insofern sie von der Vernunft als ›gut‹ qualifiziert wird (vgl. ebd.: AA IV 412). Das Prädikat ›gut‹ wird hier jedoch noch in einem undifferenzierten Sinne gebraucht. Ist der Wille notwendig auf ein Ziel bezogen, meinen die als »gut« erkannten Handlungen jene, »die mit Blick auf das jeweilige Ziel getan werden müssen« (Richter 2013: 71 [Herv. i.O.]). Wir können uns demnach Imperative als praktische Erkenntnisse denken, die je ein »normatives Urteil« (Eisler 1964: 267) aussprechen, in dem eine Handlung als ›gut‹ qualifiziert wird. Eine Nötigung durch das objektive Prinzip liegt dann vor, wenn der subjektive Wille neben dem objektiven Prinzip auch noch anderen Bestimmungen (bspw. sinnlichen Trieben) unterliegt und damit nicht subjektiv notwendig dem objektiven Prinzip gemäß ist (vgl. Kant GMS: AA IV 413). Der Wille kann sich auch entgegen dem objektiven Prinzip ausrichten und abweichenden sinnlichen Trieben folgen. Damit jedoch eine Nötigung des Willens zustande kommt, ist Kant zufolge noch etwas Weiteres gefordert: Es muss eine »Abhängigkeit des Begehrungsvermögens« von Vernunftprinzipien vorliegen, oder anders ausgedrückt: ein »Interesse« (ebd.). Das Begehrungsvermögen verweist uns zunächst auf den praktischen Syllogismus (vgl. Richter 2013: 71):
Prämisse 1:
Person A beabsichtigt Handlung P, um damit Q zu erreichen.
Prämisse 2:
M wird als Mittel für P identifiziert
Konklusion:
A vollzieht mittels M Handlung P
Ein Interesse nötigt uns nun dazu, die 1. Prämisse des praktischen Syllogismus (also die Maxime als subjektives Prinzip des Handelns) gemäß dem objektiven Gesetz zu gestalten. Kant unterscheidet hier zwei Formen des Interesses, das pathologische und
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Ich folge in dieser Darstellung im Wesentlichen Philipp Richter (2013).
6. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte
das praktische Interesse (vgl. Kant GMS: AA IV 413). Ersteres meint ein Interesse am Gegenstand Q der Handlung, »sofern er mir angenehm ist« (ebd.: AA IV 413–414). Q ist dabei aber nur durch Befolgung jenes objektiven Gesetzes erreichbar, sodass dieses hier als Mittel »zum Behuf der Neigung« (ebd.: AA IV 413) erscheint. Das praktische Interesse hingegen zeigt ein Interesse an der Handlung P selbst (unabhängig davon, was mit ihr erreicht wird, d.h. unabhängig von Q) an, weswegen hier nur die Regel der Vernunft »Grund für das Bestehen des Interesses ist« (Richter 2013: 72). Stellt nun ein Imperativ eine Handlung als praktisch notwendig vor, so kann dies wiederum auf verschiedene Weisen geschehen. Die Vorstellung der praktischen Notwendigkeit einer Handlung als Mittel zu einem möglicherweise oder wirklich Gewolltem ist ein hypothetisches Gebot. Der entsprechende Imperativ drückt aus, dass es ›gut‹ wäre, eine entsprechende Handlung auszuführen, wenn eine bestimmte Absicht vorliegt: Willst du Q erreichen, so sollst du P tun. Ein kategorisches Gebot hingegen schreibt eine Handlung an sich als praktisch notwendig vor, sie sei ›gut‹, ohne dass damit irgendein Zweck verwirklicht wird: Du sollst P unbedingt tun. Mit dieser Unterscheidung dessen, was ›praktisch Notwendig‹ heißt, ist auch eine Differenzierung der verschiedenen Bedeutungen von ›gut‹ gegeben. Das Prädikat ›gut‹ erscheint als Merkmal einer Handlung, die (1) nützlich für die Erfüllung einer möglicherweise bestehenden Absicht ist oder (2) gut für mich ist, also einen Beitrag zu meiner eigenen Glückseligkeit leistet; zuletzt charakterisiert es aber auch eine solche Handlung, die (3) an sich gut oder moralisch ist (vgl. Richter 2013: 73). Folglich kann die Bestimmung »eines in irgendeiner Art guten Willens« (Kant GMS: AA IV 414 [Herv. i.O.]) auch nach »dreierlei Prinzipien« (ebd.: AA IV 416) geschehen, die Kant als problematisch-praktisch, assertorisch-praktisch und apodiktischpraktisch beschreibt. Erstere sind die »Imperative der Geschicklichkeit« (ebd.: AA IV 415 [Herv. i.O.]). Ihrem Inhalt nach geben sie an, wie ein jeweiliger beliebiger Zweck erreicht werden kann, dessen Verwirklichung die Orientierung an Vernunftprinzipien voraussetzt. Da diese Zwecke darüber hinaus nicht weiter qualifiziert werden, sind hier praktisch unendlich viele Imperative der Geschicklichkeit denkbar, die selbst nur daran zu bemessen sind, ob sie dazu dienen, »ihre Absicht vollkommen zu bewirken« (ebd.). Hiervon unterschieden werden können die »Vorschrift[en] der Klugheit« (ebd.: AA IV 416) als assertorische Prinzipien. Klugheit meint nach Kant »die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein« (ebd.). Als sinnlichem Wesen, und d.h. als solche, auf die Imperative überhaupt bezogen sein können, sei beim Menschen die Absicht auf das eigene Wohlergehen (a priori) vorauszusetzen. Stellt ein Imperativ nun »die praktische Notwendigkeit einer Handlung, als Mittel zur Beförderung der Glückseligkeit« (ebd.: AA IV 415) vor, besitzt er eine andere Einschlägigkeit als die Imperative der Geschicklichkeit, insofern der Zweck hier bereits auf eine bestimmte Weise qualifiziert ist. Sowohl die Vorschriften der Klugheit als auch die Imperative der Geschicklichkeit gebieten jedoch jeweils eine Handlung als Mittel und sind damit hypothetisch. Ein kategorischer Imperativ gebietet dagegen eine Handlung »unmittelbar« (ebd.: AA IV 416), d.h., ohne dabei mit einem zu verwirklichenden Zweck eine Bedingung vorauszusetzen. »Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt.« (Ebd.) Jegliche inhaltliche Bestimmung der gebotenen Handlung würde sich aus dem zu erreichenden Zweck ableiten (vgl. auch ebd.: AA IV
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420), für den sie ›gut‹ wäre, weshalb ein kategorischer Imperativ nicht auf dieser Ebene ansetzen kann. Da eine solche Handlung als an sich bzw. moralisch gut gedacht wird, haben wir es hier mit einem »Imperativ [...] der Sittlichkeit« (ebd.: AA IV 416 [Herv. i.O.]) zu tun. Nachdem nun die Imperative hinsichtlich der Art des Gebietens und der Vorstellung von praktischer Notwendigkeit (des ›Guten‹) unterschieden sind, schließt Kant eine weitere Unterscheidung an, nämlich jene hinsichtlich der Nötigung des Willens (vgl. ebd.: AA IV 416–421). Kant stellt hierzu die Frage nach der jeweiligen Denkmöglichkeit von Nötigung – was, wenn wir uns an die Definition von Nötigung als der Bestimmung eines subjektiv unvollkommenen Willens durch ein objektives Gesetz, dem dieser Wille aber nicht notwendig folgsam ist, erinnern, gleichbedeutend ist mit der Möglichkeit von Imperativen überhaupt, die ein solches Verhältnis in einer Formel aussprechen. Die Möglichkeit der Nötigung, die uns in den Imperativen der Geschicklichkeit begegnet, ist nach Kant leicht einzusehen, da wir es hier mit einem analytischen Zusammenhang zu tun haben. »Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist.« (Ebd.: AA IV 417) Damit das Wollen der Mittel aus dem Wollen des Zwecks (analytisch) abgeleitet werden kann, bedarf es freilich Kants Abgrenzung des Begriffs des Willens von dem des bloßen Wunsches. Erst mit der »Aufbietung aller Mittel, sofern sie in unserer Gewalt sind« (ebd.: AA IV 394), legt sich der Wille auf einen angestrebten Sachverhalt fest, setzt dessen Realisierbarkeit aus Perspektive der handelnden Person (vgl. Richter 2013: 75). Analytisch ist dieser Zusammenhang (in dem sich die Nötigung zeigt) nur hinsichtlich des Willens (vgl. Kant GMS: AA IV 417), setzt also den Standpunkt der handelnden Person voraus (vgl. Hubig 2007a: 90). Eine weitere Voraussetzung, die Kant in dem im Zitat eingeklammerten Satz einführt, hebt Konstantin Pollok (2007) hervor: Damit der analytische Zusammenhang von intendiertem Zweck und dem zur Erreichung notwendigen Mittel tatsächlich zu einem entsprechenden Verhalten nötigen kann, muss »die Vernunft auf [...] [die] Handlungen entscheidenden Einfluß« (Pollok 2007: 63; zitiert nach Richter 2013: 75) haben. Diese Bedingung betrifft also die Möglichkeit von regelgeleitetem (im Gegensatz zu instinktivem) Verhalten überhaupt (vgl. auch Richter 2013: 74–75). Gehen wir nun von der nötigenden Form des Imperativs zu seinem Inhalt über, so sehen wir, dass dieser Inhalt auf synthetischen Sätzen beruht. Die Mittel, die die Herbeiführbarkeit eines gesetzten Zwecks sichern, können wir nur über die Erfahrung kennen lernen (vgl. Kant GMS: AA IV 417). Die Urteile, die uns zu geeigneten Mitteln für entsprechende Wirkungen führen, sind also theoretischer Natur und basieren, indem sie die Natur als Ursache-Wirkungs-Zusammenhang vorstellen, auf synthetischen Sätzen a priori (vgl. Hubig 2007a: 90). Da uns Imperative der Geschicklichkeit – Hubig (ebd.: 87) spricht auch von »technische[n] Imperativen« – also nur nötigen können, insofern die Bedingung, dass wir einen bestimmten Zweck auch wirklich wollen, erfüllt ist, bezeichnet Kant sie auch als »Regeln der Geschicklichkeit« (Kant GMS: AA IV 415 [Herv. i.O.]). Im Fall der Vorschriften der Klugheit, der pragmatischen Imperative, können wir die Voraussetzung, dass ein entsprechender Zweck gewollt wird, als erfüllt ansehen: Denn das Streben nach der eigenen Glückseligkeit ist für Kant aus einer »Naturnotwendigkeit« (ebd.) des Menschen heraus gesetzt. So gesehen könnten die pragmatischen Imperative auf die gleiche Weise nötigen wie die technischen, sprich: aus dem analytischen Zu-
6. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte
sammenhang zwischen gewolltem Zweck und notwendigem Mittel. Glückseligkeit heißt bei Kant jedoch »ein Maximum des Wohlbefindens« (ebd.: AA IV 418) und ist als Zweck notwendig vage (vgl. Richter 2012: 124–125), weil die Momente, die diesen Zweck ausmachen, nur durch die Erfahrung geben werden können. Hierin bleibt die Bestimmung des Zwecks aber stets unvollständig: Wir können uns also keine sichere Vorstellung davon machen, was uns wahrhaft und endgültig Glückseligkeit verschafft. Folglich kann es auch kein Prinzip geben, das uns objektiv die praktische Notwendigkeit einer Handlung zum Zwecke der Glückseligkeit angibt. Ein pragmatischer Imperativ kann aus diesem Grund im strengen Sinne kein Gebot aussprechen, sondern lediglich einen Ratschlag. Vorschriften der Klugheit sind genau genommen also »Ratschläge der Klugheit« (Kant GMS: AA IV 416 [Herv. i.O.]). Nun ist im Fall der Regeln der Geschicklichkeit ungewiss ist, ob ein entsprechender Zweck, aus dem die Nötigung folgt, angestrebt wird. Bei den Ratschlägen der Klugheit kann zwar davon ausgegangen werden, dass der Zweck der Glückseligkeit im Interesse der handelnden Person liegt, jedoch korrespondiert der Unbestimmtheit dieses Zwecks eine Unsicherheit hinsichtlich der Mittel, sodass letztere nicht in einem Prinzip als praktisch notwendig vorgestellt werden können. Dagegen soll der sittliche Imperativ als kategorischer Imperativ die objektive Notwendigkeit einer Handlung ohne die Voraussetzung irgendeines Zwecks angeben, also unbedingt gelten. Die Nötigung erfolgt beim Imperativ der Sittlichkeit aus dem »positive[n] Begriff der Freiheit« (ebd.: AA IV 447 [Herv. i.O.]) synthetisch a priori. Wie das? Die praktische Vernunft muss sich in der Urteilsbildung, die das Handeln ausrichtet, »als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden« (ebd.: AA IV 448). Sie bedarf dazu aber bereits der »Idee der negativen Freiheit […], damit zwischen Intuition, Gefühl etc. und davon distanzierten Vernunftgründen unterschieden werden kann« (Richter 2013: 110). Die Idee der negativen Freiheit fungiert als Unterscheidungskriterium für die Reflexion der praktischen Urteilsbildung. Um sich selbst als verursachendes Prinzip der eigenen Handlungen zu setzen, als praktisch wirksam, benötigt die Vernunft eine positive Idee der Freiheit. Denn »der Begriff einer Kausalität« führt »den von Gesetzen bei sich« (Kant GMS: AA IV 446) – und so muss die Vernunft sich ein Gesetz bestimmen, das das Prinzip ihrer Verursachung angibt. Dieses Prinzip könne nun Kant zufolge, insofern andere Triebfedern ausgeschlossen sind, kein anderes als das Prinzip der Autonomie sein, sich selbst Gesetz zu sein.2 Wer also überhaupt handelt respektive praktisch urteilt, muss die Idee der Freiheit voraussetzen und damit notwendig ein Interesse am kategorischen Imperativ nehmen, der sich als Möglichkeit des Handlungsvermögens offenbart. Da der menschliche Wille aber offensichtlich nicht allein von der praktischen Vernunft bestimmt ist, könne das Prinzip der Autonomie nicht aus dem Begriff des Willens abgeleitet werden, sondern bedürfe der
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»Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetz gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetztes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt.« (Kant GMS: AA IV 420–421)
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Verknüpfung mit der Idee der positiven Freiheit, die sich im transzendental-praktischen Verstande als Bedingung der Möglichkeit des Handlungsvermögens erweist (vgl. hierzu Richter 2013: 110–111). Soweit zur Architektonik der Imperative, wie wir sie bei Kant finden. Im Folgenden wird es darum gehen, mit Luckner (2005) den Status, den Kant den pragmatischen Imperativen zuweist, zu problematisieren. Daran anknüpfend werde ich über Simmels Kritik am kantischen Glücksbegriff und dem daraus folgenden Glücksstreben die handlungsorientierende Rolle von Werten herausstellen. Indem in einem dritten Schritt Simmels Wertbegriff und dessen Verbindung mit der kulturellen Logik der Objekte entwickelt wird, ist die Basis geschaffen, den gesuchten Nötigungscharakter auszuformulieren.
6.2 Die pragmatische Lücke Für Kant konstituieren sich technische und pragmatische Imperative über das gleiche Prinzip der Nötigung. Beide Male liegt Kant zufolge ein »pathologisches Interesse« vor, das sich auf den Gegenstand bzw. den Zweck der Handlung richtet, »so fern er mir angenehm ist« (Kant GMS: AA IV 413–414). Das pathologische Interesse thematisiert aber einen solchen Zweck, der nur mithilfe von Vernunftprinzipien erreicht werden kann, sodass hier die Vernunft notwendig Einfluss auf das Wollen hat und das Vorgehen regelgeleitet ist. Unterschieden werden können beide Imperativarten dabei hinsichtlich der Bestimmbarkeit des Ziels. Während der Zweck, der in einem technischen Imperativ erstrebt wird, inhaltlich klar zu artikulieren ist, solange wir uns ein entsprechendes Mittel denken können, sind beim pragmatischen Imperativ die Merkmale des Glücks (als einem Ideal der Einbildungskraft) nur empirisch, aber dabei nie abschließend feststellbar. Es ist also nicht eindeutig anzugeben, worin das angestrebte Glück nun tatsächlich besteht. Wäre dies nicht der Fall, könnten wir uns also eine präzise Vorstellung vom Glück machen, so würden die pragmatischen Imperative in den technischen Imperativen aufgehen (vgl. ebd.: AA IV 419). Die beliebigen Ziele der technischen Imperative werden hier ebenso wie das Glück als intendierte Sachverhalte gedacht, die als Ereignisse realisiert werden sollen. In ihrer begrifflichen Bestimmung als Ziele weisen sie dieselbe Form auf. Damit ein Interesse zustande kommt, das wiederum ein nötigendes Verhältnis begründet, muss uns dieser Gegenstand der Handlung als ›angenehm‹ erscheinen, wobei im Falle der pragmatischen Imperative stets unsicher ist, ob das verfolgte Ziel tatsächlich das einlösen kann, was wir uns unter der Idee der Glückseligkeit ›vage‹ vorstellen. Die Frage, ob ein Zweck oder ein Gegenstand ›angenehme Empfindungen‹ bei mir auslöst, ist jedoch im Rahmen einer theoretischen Naturbetrachtung zu beantworten – ebenso die Frage, was das beste Mittel ist, um eine solche Empfindung auszulösen. Mit dieser Feststellung gliedert Kant die technischen und pragmatischen Imperative in den Bereich der theoretischen Philosophie aus (vgl. Kant KU: B XIII–XVII/A XIII–XVII; siehe auch Luckner 2005: 48 und Hubig 2007a: 90). Bereits in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erscheint so die Klugheit als ein rein instrumentelles Vermögen, als »Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein« (Kant GMS: AA IV 416). Die Klugheit richtet sich bei Kant in letzter Konsequenz auf den egoistischen Lustgewinn und wird damit zu einer Art
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»Glückstechnik« (Luckner 2005: 46). Dass durch diese Bestimmung wesentliche Merkmale der Klugheit verkürzt gedacht werden oder ganz unter den Tisch fallen, hat Luckner (2005) ausführlich dargelegt. Im Gegensatz zur Moral ist Klugheit gradierbar, reflexiv und besitzt »nur eine schwache Normativität« (ebd.: 3). Während man die Gradierbarkeit auch noch in der kantischen Konzeption unterbringen kann (je nachdem, ob die Klugheit ihre Ziele mehr oder weniger effizient/effektiv erreicht), führt dies bei der Reflexivität zu Problemen. Sagen wir bspw., dass es in bestimmten Situationen klug sein kann, den egoistischen Eigennutz hintenan zu stellen, weil ›Wichtigeres‹ auf dem Spiel steht, ist dies unter dem kantischen Glücksbegriff nur schwer zu fassen: Wir müssten hier die Frage stellen, was uns jeweils persönlich zu einem größeren Wohlbefinden (also letztlich wieder egoistischer Eigennutz) verhilft. Die Perspektive desjenigen bzw. derjenigen, die hier eine Entscheidung zu treffen hat, wird damit sicherlich nicht getroffen. Unter Perspektive eines solchen Glücksbegriffs kommt es auch erst zu dem oft betonten Oppositionsverhältnis von Klugheit und Moral, wenn nämlich unterstellt wird, Erstere richte sich auf den persönlichen Lustgewinn, während Letztere altruistische Handlungsweisen fordert (vgl. Luckner 2005: 5–7 und 31f.). Kant hatte angemerkt, dass die pragmatischen Imperative im strengen Sinne keine Imperative seien, da sie nicht geböten, d.h., eine Handlung als objektiv-praktisch notwendig vorstellen, und demnach eher als »Anratungen« (Kant GMS: AA IV 418) zu gelten haben. Hier deutet sich an, was Luckner schwache Normativität nennt. In der kantischen Fassung ist diese schwache Normativität allein das negative Resultat eines objektiv-inhaltlich nicht bestimmbaren Zustands der Glückseligkeit. ›Schwach‹ ist die Normativität von Ratschlägen, weil ihr materialer Gehalt unsicher ist. Luckner wendet dies in eine positive Bestimmung um: Der materiale Gehalt von Ratschlägen wird als »Orientierungswissen« gefasst und von einem »(technische[n]) Verfügungswissen« (Luckner 2005: 23) unterschieden. Orientierungswissen meint hier jenes Wissen »um die möglichen Mittel und Wege« (ebd.), das uns bei unseren praktischen Lebensentscheidungen leitet, mit dem wir uns im Handeln und Denken ausrichten. So ließe sich über unser Orientierungswissen auch das rekonstruieren, was man als Strang der Erzählung unseres Lebens bezeichnen könnte. In ihm erschließt sich die Perspektive, die wir in unserem Leben jeweils einnehmen, die Richtungen, in die wir gehen, ja auch ob und welchen Sinn unser Leben hat. Das Orientierungswissen weist damit eine gewisse Verwandtschaft mit Simmels Begriff des Schicksals auf (siehe hierzu Kapitel 3.5.3). Orientierungswissen formiert und re-formiert sich in Abhängigkeit von den individuellen Erfahrungen. Der »Standpunkt und Eigenhorizont der handelnden Person« (ebd.: 25) bilden hier die wesentlichen Merkmale, wenn es darum geht, was wir ›hier und jetzt‹ zu tun haben. Aufgrund dieser Situationsbezogenheit kann Orientierungswissen stets nur provisorisch sein, wie Luckner (ebd.: 28) betont. Dieser provisorische Charakter ist allerdings nicht einem Mangel an Wissen geschuldet, sondern ist das spezifische Erfordernis in der Orientierung. Ein Zweck mag als Sachverhalt unabhängig von einem erstpersonalen Standpunkt zu bestimmen sein und in einer technischen Anleitung lässt sich ggf. nachlesen, wie er zu erreichen ist. Die Schritte in dieser Anleitung muss ich aber immer zuerst auf meine aktuelle Lage beziehen. Und ob der Zweck überhaupt erstrebenswert erscheint, kann letztendlich nur von der handelnden Person und ihrer derzeitigen Lage aus beantwortet werden. Orientierungswissen lässt sich deswegen auch
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nicht ohne weiteres vermitteln, es gibt hier keine »Experten« (ebd.: 24), die man einfach mal eben fragen könnte. Zwar ist es möglich, sich mit anderen zu beratschlagen oder auch Rat einzuholen, doch bedarf es für das Orientierungswissen eines erstpersonalen Verhältnisses in Gestalt eines affektiv-identifizierenden Bezugs. Ein Wissen kann erst zu einem Orientierungswissen werden, wenn ich es von meinem Standpunkt aus »authentifiziere[...]« (ebd.: 26), wenn ich es in dieser Form anerkenne. Es beinhaltet die Form der Gewissheit über die Richtigkeit meines Weges. Die Orientierungsaufgabe, um die es hier geht, ist eben genau so wenig vom jeweiligen Subjekt ablösbar, wie sie auf andere Situationen nach »festen Projektionsregeln« (ebd.: 25) übertragen werden könnte. Dies heißt jedoch nicht, dass objektives Wissen über Sachverhalte für die Frage der Orientierung belanglos wäre. Sachliche Informationen bspw. über Gegebenheiten in einem Gelände, über die Abläufe in einem bestimmten Betrieb, der Wissenschaft, den Universitäten, den Fachgebieten usw. sind sicherlich nützlich, wenn man sich versucht zu orientieren, doch ist es dann notwendig, diese Informationen auf die eigene konkrete Situation mit ihren spezifischen Herausforderungen und Erfordernissen zu beziehen. Das »drittpersonale Regelwissen« muss gewissermaßen »in erstpersonalen Identifizierungen« (ebd.: 27) vorliegen. Orientierungswissen lässt sich dann besser als die »›Kenntnis‹ eines Bereichs möglicher Erfahrung« (ebd.) beschreiben. In diese Kenntnis, die an die Perspektive der handelnden Person geknüpft ist, muss das objektive Wissen zuerst übersetzt werden, damit es die Praxis anleiten kann. Luckners Kritik mündet in dem Vorwurf, dass Kant die Orientierungsfunktion der Ratschläge der Klugheit begrifflich in Abhängigkeit zu einem Verfügungswissen über die Maximierung des Wohlbefindens gesetzt hat und nicht zum menschlichen Orientierungsbedürfnis (vgl. ebd.: 47). Aber Glück falle in den Bereich eines Orientierungswissens und nicht den Bereich eines Verfügungswissens (ebd.: 64). Das Feld der Pragmatik, auf dem die Klugheit als Orientierungskompetenz ihre Wirkung entfaltet, wird bei Kant so zwischen theoretischer Naturforschung und der Moralphilosophie im engeren Sinne zerrieben (vgl. ebd.: 46–47). Ob dies lediglich den jeweiligen Fragestellungen in Kants Werken geschuldet ist (vgl. Hubig 2007a: 91) oder tatsächlich eine Schwäche im kantischen Denken darstellt, braucht hier nicht entschieden zu werden. Für mich ist an dieser Stelle völlig hinreichend, festzustellen, dass die kantische Architektur in dieser Weise wirkmächtig wurde und Probleme bereitet, die Eigenheiten der verschiedenen Imperative angemessen zu formulieren und die Frage nach weiteren Formen von Nötigung zu stellen. Folglich bildet das Ziel der Diskussion des folgenden Kapitels, diese pragmatische Lücke zu füllen, um die Formulierung des Imperativcharakters einer kulturellen Logik der Objekte vorzubereiten. Zwar taucht die Klugheit als philosophisches Thema bei Simmel nicht auf. Hingegen erfährt der Glücksbegriff eine ausführliche kritische Würdigung. Der hier aufgeworfene Zusammenhang zwischen der Konzeption des Glücksbegriffs und der Klugheit erlaubt es uns, mit Simmels Überlegungen hier anzuknüpfen.
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6.3 Glück, Wertorientierung und die Objektivität der Werte Die Frage nach dem Glücksbegriff steht in Verbindung mit der Hypothetizität der Imperative, also den Bedingungen, unter denen Imperative jeweils nötigen können. Einfacher ausgedrückt: Ob der Gegenstand der Handlung, die in den Imperativen jeweils material formuliert wird, überhaupt angestrebt wird. Die technischen Imperative markieren hier ein problematisch-praktisches Prinzip. Dies will so viel sagen, dass es unsicher ist, ob die Bedingung, unter der sie gelten, erfüllt ist – ob der Zweck also tatsächlich angestrebt wird, auch wenn es stets möglich ist. Wenn aber vorausgesetzt werden kann, dass der formulierte Zweck tatsächlich angestrebt wird, haben wir es mit einem assertorischpraktischen Prinzip zu tun, mit einem pragmatischen Imperativ. Sehen wir uns Kants Argumentation dafür an, dass wir die Absicht auf Glückseligkeit als wirklich gegeben annehmen können. Es sind hier m.E. zwei Voraussetzungen, aus denen Kant a priori folgert, dieser Zweck liege bei jedem Menschen notwendig vor. Beim Menschen handelt es sich (1) um ein vernunftbegabtes Wesen und (2) um ein solches, auf das Imperative greifen. Die zweite Voraussetzung beinhaltet, dass es sich um ein Wesen handelt, dessen Wille nicht vollkommen von der Vernunft bestimmt wird, sondern auch von Triebfedern, d.h., der Wille bestimmten sinnlichen Bedürfnissen unterliegt. Wäre dies nicht der Fall, wäre der Wille notwendig der Vernunft gemäß und ein Imperativ könnte demnach nicht nötigen, den Willen ihm anzugleichen. Der Wille kann also in beide Richtungen hin abhängig sein, einerseits von Prinzipien der Vernunft (Interesse) und andererseits von sich aufdrängenden Empfindungen (Neigung). Insofern entspräche es für ein solches Wesen einer »Naturnotwendigkeit« (Kant GMS: AA IV 415) danach zu streben, die Bedürfnisse, die sich in der Neigung zeigen, zu befriedigen, sein Wohlbefinden so weit als möglich zu steigern und sich dabei der Hilfe der Vernunftprinzipien zu bedienen. »Diese Behauptung gilt«, wie Richter klarstellt, »a priori, da sie analytisch aus dem Begriff des Menschen als einem endlichen und bedürftigen Wesen folgt und der Handelnde als Mensch daher auch die Glückseligkeit als Erfüllung jeglichen Wollens notwendig mit will.« (Richter 2013: 73) Es fällt an dieser Stelle auf, dass Richter (abweichend von Kant) die Formulierung von der »Erfüllung jeglichen Wollens« wählt. Nun ist es sicherlich richtig, dass die Erfüllung jeglichen Wollens je mitgewollt wird. Dies liegt bereits in der formalen Struktur des Willens: Wenn ich etwas will, will ich in jedem einzelnen Fall auch, dass ich dieses etwas realisiere. »Naturnotwendig« ist dies aber im Sinne einer begrifflichen Wesensbestimmung und nicht gemäß einer Naturkausalität. Letztere kommt dann ins Spiel, wenn wir davon sprechen, dass sich aufdrängende Empfindungen in Zwecke umsetzen. Unproblematisch ist damit zwar die Annahme, dass ein abhängiges Wesen überhaupt solche Ziele verfolgt, also Bedürfnisbefriedigung anstrebt; doch ist noch nicht unmittelbar einsichtig, wie sich jene Ziele als »eigene[s] größte[s] Wohlsein« (Kant GMS: AA IV 416) zusammenfassen. Man könnte die Erfüllung jeglichen Wollens zu einem formal »vagen Zweck« (Richter 2012) erklären, der erst dann nötigend wirksam wird, wenn er inhaltlich-material bestimmt wird, was durch einen entsprechenden Ratschlag geschehen kann. Glückseligkeit müsse man dann, so erklärt Richter, als »Metaprädikat [...] eines Zustandes« (ebd.: 124–125) verstehen. Wenn man etwas ›wirklich‹ will, ist dies eben Teil meiner persönlichen Vorstellung von Glückseligkeit. Das, was hier aber inhaltlich gewollt wird, lässt
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sich, da es sich um ein pathologisches Interesse handelt, auf »ein Streben nach Befriedigung eines Bedürfnisses zurückführen« (Richter 2013: 72). Klugheit wäre dann als ein reflexives Verhältnis zum eigenen Wollen begriffen (das drückt das zuvor in Anführungszeichen gesetzte ›wirklich‹ aus), das unter dem »Prinzip der Selbstliebe« (Kant GMS: AA IV 422) die Maximen auf eine Maximierung der Bedürfnisbefriedigung ausrichtet, auf eine größtmögliche Steigerung des eigenen Wohlbefindens. Das Streben nach Glück als dem eigenen größten Wohlsein, als dem, was letztendlich gewollt wird, soll sich damit formal-analytisch aus der vernünftigen Struktur des Willens und material-synthetisch aus den Bedürfnissen des jeweiligen Menschen ergeben. Ob sich das ›kluge‹ Operieren mit einem solchen Metaprädikat noch analytisch aus dem obigen Begriff des Menschen als vernunftbegabtes Wesen, auf das Imperative passen, ableiten lässt, ist jedoch mit gutem Recht zu bezweifeln. Vielmehr erscheint es so, als wäre eine jeweils inhaltlich bestimmte pragmatische Vernunft (= Klugheit) in diesen Begriff des Menschen hineinlegt, um später die entworfene Form der Ratschläge aus diesem hervorzuzaubern. Entsprechend muss auch die Vereinheitlichung des menschlichen Strebens und der menschlichen Willensregungen unter diesem Glücksbegriff bei genauerer Betrachtung scheitern, wie Simmel in seinem Werk Hauptprobleme der Philosophie darlegt. Denn zunächst besagt das Streben nach Glück hier nicht mehr, als dass eben das erstrebt wird, was auch gewollt wird: Glück wird hier »zum bloßen Namen für alle Motivierungen überhaupt« (Simmel HP: 121). So lässt sich zwar eine Nötigung in rein formaler Hinsicht verständlich machen, um den Preis jedoch, dass uns Glück in diesem Sinne nichts darüber verrät, warum denn etwas gewollt wird. »Ohne eine radikale Gleichgültigkeit gegen die Individualität der seelischen Tatsächlichkeiten aber ist deren Reduktion auf den an sich unterschiedslosen Glück- und Lusttrieb nicht durchführbar, mit ihr indes ist diese Reduktion wiederum ganz inhaltslos.« (Ebd.: 119 [Herv. i.O.]) Als Auskunft auf die Frage, was man denn erstrebe, erscheint die Aussage, »[die] Erfüllung dessen, was ich mir wünsche – egal was« (Luckner 2005: 70) eben nicht als sinnvolle Antwort, weil es für einen persönlich gerade nicht egal ist, was es ist, das man erstrebt. Die Frage ist ja die, »worin« jemand »das Glück findet, nach dem er strebt« (Simmel HP: 127 [Herv. i.O.]), also was jemandem als wertvoll erscheint. Soll nun jedes inhaltliche Glücksstreben auf die Befriedigung von Bedürfnissen zurückgeführt werden, müssten sämtliche »nicht-quantitativen Unterschiede der Glücksgefühle« (ebd.: 126) auf einen »Generalnenner« (ebd.: 122) heruntergebrochen werden und »beträfen nur ihre Form, Erscheinung, Kombination, aber nicht ihren Wert« (ebd.: 126). »Glück sei eben Glück und die Unterschiede der Veranlassungen, auf die hin die Individuen es empfinden, seien für seinen Wert so irrelevant, wie es für den Wert des Goldes sei, ob es aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sande gewaschen ist.« (Ebd.: 126) Dass dies mit der Perspektive der handelnden Person, die sich von einem Imperativ genötigt sieht, nur schwer vereinbar ist, ist evident. Diese Perspektive der handelnden Person überschreitend, müssten wir verborgene Bedürfnisse hinter den Zielen, die sich der oder die Handelnde setzt, vermuten, um so die »Endpunkte« der Willensreihen »hypothetisch zu verlängern, bis sie wieder in irgendeinen Zustand des Subjekts münden« (ebd.: 121), der schließlich Bedürfnisbefriedigung heißen könnte. »In Wirklichkeit indes«, so hält Simmel dagegen, »ist dieser Gedankengang brüchig, da sein psychologisches Zwischenglied: der Lusterfolg einer Handlung sei ihr stärkstes und eigentlich definitives Motiv – ein Irrtum und weiter nichts ist.« (Ebd.: 120) Man muss
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nicht bestreiten, dass in vielen Fällen die Bedürfnisbefriedigung in irgendeiner Form als nötigendes Motiv in unser Handeln tritt, um daneben andere Fälle anzuerkennen, in denen die Frage nach einem zu befriedigenden Bedürfnis die Nötigung, die die handelnde Person empfindet, gerade verfehlt. Wir richten uns hier mit »einem völlig objektiven Willen« (ebd.: 122) auf Ziele, die uns als in sich wertvoll und bedeutsam erscheinen, bei deren Erreichung sich die Fragen nach Lust und Leid unmittelbar überhaupt nicht stellen (vgl. ebd.: 121–122). Es sei die »Rohheit der Psychologie, die bisher, mit ganz wenigen Ausnahmen, gerade auf dem Gebiet ethischer Probleme dominiert hat« (ebd.: 122), die, wie Simmel meint, den Blick hierfür verstellt und versucht, alles Wollen unter ein Streben nach Glück, das im Wesentlichen als Chiffre für egoistischen Lustgewinn verstanden wird, zu subsumieren (vgl. ebd.: 126–127). Demgegenüber sucht Simmel in einer eigenen begrifflichen Fassung Lust explizit von Glück abzugrenzen (vgl. Simmel LA: 252–253). Im Gegensatz zur Lust stelle Glück keinen isolierbaren Zustand dar, kein Sachverhalt, der sich mit tauglichen Mitteln realisieren ließe. Unter Glück verstehen wir vielmehr eine ganze, »gar nicht zu lokalisierende Färbung« (ebd.: 252) des Lebens. Unser Leben erscheint uns in einer Form der Erfülltheit, für die Lustgefühle sicherlich nicht irrelevant sind, in denen sie sich aber keinesfalls erschöpft. Weil Glück dabei nicht als ein Sachverhalt gilt, der angestrebt und realisiert werden kann, kann es auch kein sinnvolles Handlungsziel markieren. Das Glück ist gegenüber dem Handeln und Streben mehr eine »Begleiterscheinung« (Luckner 2005: 55). Oft genug lässt sich das Glück in dem finden, was wir ursprünglich gar nicht gewollt haben oder bereits im Wollen und Streben selbst, ohne dass ein konkreter Sachverhalt überhaupt realisiert wird. Glück nur als »Befriedigung von Wollungen« (Simmel HP: 156) zu begreifen, wie dies Kant und Richter tun, verfehlt diese Aspekte völlig. Simmel vertritt mit Blick auf das Glück eine »doctrine of an inclusive end«, wie man mit William Francis Ross Hardie (1968: 215) sagen könnte. Anstatt Glück als das letztgültige Ziel allen Handelns zu fassen, zu dem alle anderen Ziele nur Zwischenschritte sind – dies wäre die »doctrine of the paramount end« (ebd.: 329) –, bildet Glück als inclusive end gar keine eigens zu verfolgende Absicht (vgl. Luckner 2005: 54–55).3 Es stellt sich vielmehr im und durch das Handeln selbst ein, insofern dieses den Standards seines Gelingens genügt (vgl. ebd.: 55). Luckner beschreibt dieses Verhältnis, das mit geläufigen Handlungskonzepten nicht zu fassen ist, mittels des scholastischen Begriffs der intentio obliqua: »Oblique Intentionen sind [...] solche Handlungsabsichten, die nur dann und dadurch in die Tat umgesetzt werden, wenn andere, direkte Absichten in die Tat umgesetzt werden. Es sind also auch nicht einfach nur höherstufige direkte Intentionen« (ebd.: 57). Die ausgeführte Handlung oder Praxis ist nicht ihrerseits Mittel, um dann über diesen Umweg das Ziel »Glück« zu erreichen. Hier geht es gerade darum, ein solches instrumentelles Handlungsverständnis zu überwinden. Das Tun als Ganzes muss gewissermaßen zweck- und mittellos sein. Nun ist dies jedoch nicht mit einer völligen Beliebigkeit oder Sinnlosigkeit des Handelns selbst zu verwechseln. Das, was hier als intentio obliqua bezeichnet wird, erfordert eine spezifisch praktische Einstellung des bzw. der Handelnden. In ihr orientiert sich der oder die Handelnde an den inhärenten Erfordernissen der Praxis selbst, 3
Luckner (2005: 54) spricht hier von der »inclusive-end-theory« und »dominant-end-theory« des Glücks.
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wobei die Klugheit als Orientierungskompetenz ein »klug-situationsadäquates (›findiges‹) Vorgehen« (ebd.: 47) ermöglicht, indem sie die je eigenen Möglichkeiten zu handeln sichtet. Gleichzeitig beinhaltet diese Orientierung einen affektiv-identifizierenden Bezug, in dem man sich die Entscheidung, die hinter der Orientierung steht, selbst zuschreibt, als selbstverantwortet begreift. Orientierung verbindet sich dadurch mit der Frage der gelingenden Aneignung des eigenen Lebens – oder auch mit der Entfremdung von diesem. Es geht hier im Verhältnis auf die eigenen Handlungen und das Glück weniger um ein Verfügungswissen, sondern in erster Linie um ein Orientierungswissen und damit um Merkmale, die nur aus der erstpersonalen Teilnehmerperspektive verständlich werden. Sinn und vor allem die Sinnhaftigkeit unseres Handelns erscheinen uns nur aus der Innenperspektive des Lebens. Hier sind wir überzeugt, bestimmte Dinge tun zu müssen, weil uns die Handlung selbst oder der mit ihr verfolgte Zweck als wertvoll gilt – und nicht, weil es ein uns möglicherweise selbst verborgenes Bedürfnis befriedigt. Zu sagen, »[e]twas stellt einen Wert für uns dar, weil es gewollt wird«, führt phänomenologisch in die Irre, sodass die Devise umgekehrt lauten muss: »Etwas wird gewollt, weil es ein Wert ist.« (Ebd.: 70) Der Unterschied, der hiermit ausgedrückt werden soll, liegt darin, dass in der zweiten Formulierung der Wert als etwas Objektives erscheint (vgl. ebd.: 71) – dies zwar nur vom Standpunkt des oder der Handelnden aus, aber genau auf diesen kommt es an, wenn es um die Handlungsausrichtung und um die Frage der Nötigung durch Imperative geht. Dieselbe Position nimmt auch Simmel ein, wenn er in der Philosophie des Geldes festhält: »Von der natürlichen Sachlichkeit [= theoretische Naturbetrachtung; O.H.] aus gesehen, mag solcher Anspruch [der von Werten ausgeht; O.H.] als subjektiv erscheinen, von dem Subjekte aus als etwas Objektives.« (Simmel PdG: 37) Dieser Bezug auf Werte aus der Teilnehmerperspektive ist jedoch nicht unhintergehbar. Dem Menschen ist es möglich, sich reflektierend aus dem bloßen Tätig-Sein herauszulösen und in die Beobachterperspektive zum eigenen Handeln zu wechseln. Die Intentionen, in denen sich die Wertbezüge manifestieren, sind also beim Menschen nicht in einem solchen Sinne fixiert, dass er gänzlich in seiner Tätigkeit aufgehen würde (vgl. Luckner 2005: 67). Tatsächlich erscheint das menschliche Glück Luckner zufolge an einen solchen »irreduziblen kognitiven Rest« (ebd.: 69) gebunden. Das Glück verlangt ein Wissen um das Aufgehen in der Tätigkeit, oder anders ausgedrückt, ein Bejahen der Sinnhaftigkeit des Bezuges aus der reflexiven Position heraus, aus der er auch als sinnlos erscheinen kann (vgl. ebd.: 73).4 Das menschliche Streben, das können wir als Fazit an dieser Stelle festhalten, ist also, anders als bei Kant und Richter, nicht an einem Zustand namens ›Glückseligkeit‹ orientiert, den es irgendwie zu erreichen gelte. In der Orientierung besteht eine (vektorielle) Ausrichtung des Handelns, ein Bezug auf Werte, in deren Lichte
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An dieser Stelle eröffnet sich eine weitere bemerkenswerte Parallele zwischen Luckner und Jaeggi. Die gelingende Rollenaneignung liegt für Jaeggi (2005: 111–119) im Austarieren des Verhältnisses zwischen Verwicklung in bzw. Identifikation mit einer Rolle und der notwendigen Rollendistanz. Wir müssen in die Rolle eingehen, dürfen uns aber nicht in ihr verlieren (siehe 3.4.2). Voraussetzung für das Gelingen der Rollenaneignung ist, wie beim glücklichen Aufgehen in einer Tätigkeit, die irreduzible Einnahme eines Verhältnisses, eine Form des Wissens um das Aufgehen bzw. das Einnehmen einer Rolle.
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wiederum einzelne Ziele oder Zwecke als sinnhaft und erstrebenswert erscheinen. Glück ist dann wiederum nur die notwendigerweise vermittelte Folge eines solchen Strebens. Nun bleibt der Begriff des Werts an dieser Stelle freilich noch unterbestimmt. Fassen wir Werte zunächst als »Instanzen«, »die unsere theoretischen und praktischen Weltverhältnisse orientieren« (Hubig 2016: 333), sind verschiedene Varianten solcher Orientierungsverhältnisse denkbar: Die Wertphänomenologie (bspw. Scheler 2014; Hartmann 1949) proklamiert eine Eigenständigkeit der Werte jenseits des subjektiven Urteilens und Vorstellens. Werte werden erschaut oder auch erfühlt. In dieser Werteschau bleibe das Subjekt aber rein rezeptiv, wie Nikolai Hartmann (1949: 150) betont. Das Subjekt finde die Werte auf bzw. vor, einen konstitutiven Beitrag zum Wert selbst leiste es nicht. Dem Reich der Werte komme eine Form der Gegenständlichkeit zu, die jener der Gebiete der Logik und Mathematik entspricht. Wir haben es jeweils nicht mit realem, sondern idealem Sein zu tun (vgl. ebd.: 150–151). Der Unterschied zwischen den Werten und mathematischen Gegenständen bestehe lediglich im Modus ihres Erfasstwerdens. Die Werteschau sei ein gefühlsmäßiger Akt, der rational nicht gänzlich auszuschöpfen ist. Ebenso wie der Verstand bei der Erfassung der mathematischen Gegenstände könne das Gefühl bei der Erfassung der Werte fehlgehen, doch sieht Hartmann in dieser Möglichkeit gerade einen Beleg dafür, dass die Werte objektiv richtig erschaut werden können und der Wert als idealer Gegenstand unabhängig von dem Urteil des Subjekts ist (vgl. ebd.: 157). Diese »Unabhängigkeit vom Dafürhalten des Subjekts« markiert für Hartmann das »Ansichsein« (ebd.: 149) der Werte. Das Orientierungsverhältnis wird in diesem Fall transitiv gedacht, Werte geben Orientierung (vgl. Hubig 2016: 333). Hiervon lässt sich eine neukantianische Richtung abgrenzen, für die an dieser Stelle exemplarisch Heinrich Rickert stehen mag. Die objektive Geltung von Werten – der Fluchtpunkt auch der neukantianischen Argumentation – wird durch die potentiell unendliche Mannigfaltigkeit von Kulturgütern herausgefordert, an denen uns Werte in der historischen Lebenswirklichkeit zugänglich werden. In ihrer Funktion als Weltanschauung sei es die Aufgabe der Philosophie, nicht nur eine klassifikatorische Übersicht der Werte zu bieten, sondern sie auch hinsichtlich ihrer Geltung in Beziehung zueinander zu setzen (vgl. Rickert 1913: 298ff.). Insofern beides erfordert, die Mannigfaltigkeit auf eine Einheit zurückzuführen, verweist die Aufgabensetzung auf ein System der Werte. Dadurch sieht sich Rickert allerdings mit dem Widerspruch zwischen dem historischen, stets in Entwicklung begriffenen Material und der Geschlossenheit des geforderten Systems konfrontiert. Der Widerspruch lasse sich auflösen, wenn auf die formalen Voraussetzungen der historischen Entwicklung der Wertphilosophie reflektiert wird, die Rickert zufolge jenseits der historischen Entwicklung stehen (vgl. ebd.: 299). So gewinnt Rickert eine Reihe formaler, inhaltlich unbestimmter Begriffe, die die Bedingung der Möglichkeit übersubjektiver Werturteile darstellen (vgl. ebd.: 299–300; 1924: 118). Diese Bedingungen, in ihrer übergeschichtlichen Geltung auch als formale Werte zu betrachten, ermöglichten es, aus den empirisch-historischen Gütern ein offenes und inhaltlich bestimmtes Wertsystem zu entwickeln. Die Güter seien dabei aber nicht die Werte selbst, sondern lediglich die Träger der Werte (vgl. Rickert 1921: 118ff.). Die Werte selbst existieren nicht in dem Sinn, dass es materielle oder ideelle Gegenstände sind, sondern bilden ein irreales »Reich der Wertgeltungen« (ebd.: 142). Subjekte orientieren sich folglich unter Anerkennung der formalen Bedingungen durch Werturteile. Das Orientierungsver-
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hältnis ist in diesem Fall reflexiv, wir orientieren uns in unserem Bezug auf Werte (vgl. Hubig 2016: 333). Eine weitere Variante, die hier ebenfalls angerissen werden soll, bildet der WertEmpirismus. Der Wert-Empirismus, beispielhaft hier Viktor Kraft (1951), formuliert, überspitzt gesagt, einen empirisch-psychologisch gesättigten Kantianismus, der aber um Kants Herzstück, das unbedingte Gebieten respektive den kategorischen Imperativ, gekürzt ist. Alles Wertmäßige besteht für den Wert-Empirismus nur in Beziehung zum Subjekt (vgl. ebd.: 8–9), nämlich in einer Stellungnahme des Subjekts durch die »etwas in spezifischer Charakterisierung als ausgezeichnet bewußt ist« (ebd.: 66). Auf Basis empirischer Untersuchung identifiziert Kraft (ebd.: 76ff.) verschiedene Quellen der Auszeichnung, die sich entgegen einem Hedonismus nicht allein auf die Empfindungen von Lust oder Unlust zurückführen lassen. So bilden nach Kraft neben der Lust/Unlust unbewusstes (triebhaftes) und bewusstes Begehren, Gewohnheit, (logisch oder sachlich) abgeleitete oder sozial übernommene Auszeichnungen jeweils eigene Quellen. Jegliche Werturteile, die auf Grundlage von Auszeichnung und Stellungnahme getroffen werden, sind in ihrer Geltung nach Kraft hypothetisch (vgl. ebd.: 243–245). Einem hiermit drohenden »schrankenlosen Subjektivismus« (ebd.: IV) zu entgehen, glaubt Kraft dadurch, dass er »eine überindividuelle Instanz« (ebd.: 206) aufsucht, die die allgemeine Anerkennung von Werturteilen einzufordern vermag. Diese überindividuelle Instanz bestehe letztendlich in der Kultur als dem gemeinsam geschaffenen Mittel, um »gemeinsame Bedürfnisse und Wunschziele« (ebd.: 247 [Herv. i.O.]) zu erfüllen. Kultur wird demnach ausschließlich als Mittel verstanden, die Welt nach eigenen Wünschen umzugestalten, und nicht als Medium, innerhalb dessen sich Welt und eigene Wünsche erst aufbauen und verständlich werden. »Weil der Mensch seinem Wesen nach Kulturmensch ist, darum muß er nun alles, was für die Kultur unumgänglich notwendig ist, als wertvoll anerkennen und alles, was sie hindert oder schädigt, als unwert.« (Ebd.) Alles, was für Kultur Voraussetzung sei, müsse als Wertgrundsatz anerkannt werden, der es ermöglicht, weitere Werturteile abzuleiten. Diese »Anerkennungsnotwendigkeit« sei dann keine unbedingte, sondern abhängig vom »Willen zum kulturellen, individuellen und sozialen Leben« (ebd.). Zwar könne dieser Wille theoretisch fehlen, praktisch sei er jedoch eine Notwendigkeit und als Bedingung für die objektive Begründung von obersten Werturteilen hinreichend. Werthafte Grundsätze für die kulturelle Gestaltung des sozialen Lebens überhaupt seien damit notwendig anzuerkennen, spezifische kulturelle Ausgestaltungen in ihrer Geltung jedoch je nur relativ. Als inhärente Voraussetzung eines solchen Wertverständnisses muss demnach ein Prinzip der Nützlichkeit angenommen werden. Das Orientierungsverhältnis, das der Wert-Empirismus damit impliziert, ist zwar in dem Sinne reflexiv, dass sich das Subjekt unter einem Prinzip der Nützlichkeit orientiert, ohne dabei substantielle Werte anzunehmen, bleibt aber hinter der praktischen Reflexivität der neukantianischen Auffassung zurück, insofern dieses Prinzip der Nützlichkeit und die in ihm gelegenen Kriterien weitgehend der Reflexion entzogen bleiben. Die umrissenen Positionen lassen sich auf die Problemkonstellation abbilden, die Simmel zum Ausgangspunkt seiner Wertphilosophie nimmt: Was Simmel während der Arbeit an der Philosophie des Geldes umtreibt, ist einerseits, dass Werte als objektive Gegebenheiten erscheinen, an denen wir »unmittelbar so wenig ändern« können »wie an den
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Wirklichkeiten« (Simmel PdG: 29), andererseits im Gegensatz zu den ›Wirklichkeiten‹ aber doch nichts sind, was sich dinglich-intrinsisch an einem Objekt feststellen ließe. Der Wert einer Sache ist nicht ein unmittelbar zu beobachtendes Merkmal, »sondern ein im Subjekt verbleibendes Urteil« (ebd.). Doch auch eine Objektivität des Werturteils droht sich in Simmels früheren Werken »in die Kontingenz der Genese« (Geßner 2003: 71) zu verflüchtigen, wenn sich die Geltung von Werten immer wieder relativ aufeinander gründet. Die Auflösung der Widersprüche zwischen einer solchen Subjektivität und Objektivität des Werts markiert nicht nur den Grundstein der Philosophie des Geldes, sondern das Fundament Simmels gesamter Kulturphilosophie (vgl. ebd.: 70–71; vgl. auch Schlitte 2012: 223ff.). Wenn es den Anschein hat, als wären Dinge an sich wertvoll oder die Verkörperung von Werten, so ist dies »zwar Anschein, aber nicht ›bloßer Schein‹«, bilanziert Geßner (2003: 76) die simmelsche Position. Es sei »der phänomenologische Ausdruck der Objektivität, die der Wert gewonnen hat« (ebd.). Zwei Argumentationslinien führt Simmel hierfür in der Philosophie des Geldes an. Zunächst geht es darum, die Begriffe der Subjektivität und Objektivität hinsichtlich ihrer Ansprüche durch ihre logische und psychologische Genese kritisch zu begrenzen. »Subjekt und Objekt«, so erklärt Simmel, werden »in demselben Akte geboren« (Simmel PdG: 6) und zwar aus dem »Indifferenzzustand des praktischen Verhaltens« (Geßner 2003: 73 [Herv. i.O.]; siehe hierzu auch Schlitte 2012: 227). Am Ende des Differenzierungsprozesses steht einerseits logisch der »ideelle Sachgehalt einmal als Inhalt des Vorstellens, ein anderes mal als Inhalt der objektiven Wirklichkeit«, während andererseits psychologisch »das noch ichlose, Person und Sache im Indifferenzzustand enthaltende Vorstellen in sich auseinandertritt« (Simmel PdG: 32). Mit dieser Formel ist nicht nur das entwickelte praktische Wertebewusstsein, sondern auch ein theoretisches Gegenstandsbewusstsein bezeichnet.5 Diese Parallele von Wert und Sein, die damit aufgemacht wird, ist maßgeblich für das Verständnis von Simmels Wertphilosophie. »Sein« kann, wie es Kant formuliert hatte, kein reales Prädikat sein, das der Vorstellung eines Dinges zugeordnet wird (vgl. Kant KrV: B 626/A 597). Diesen Gedanken überträgt Simmel in der Philosophie des Geldes auf den Wert. Wie das Sein ist der Wert eine Art der Ordnung der Welt (vgl. Simmel PdG: 28). »Die Wirklichkeit und der Wert sind gleichsam zwei verschiedene Sprachen, in denen die logisch zusammenhängenden, in ideelle Einheiten gültigen Inhalte der Welt, das, was man ihr ›Was‹ genannt hat, sich der einheitlichen Seele verständlich machen – oder auch die Sprachen, in denen die Seele das reine, an sich noch jenseits dieses Gegensatzes stehende Bild dieser Inhalte ausdrücken kann.« (Ebd.) Die klare Differenzierung der Welt in Wirklichkeit und Wert ist demnach ein Ergebnis der geistigen Entwicklung. Kants Absage an eine ontologische Verwendung des Sein-
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Nach Schlitte (2012: 227) gilt dieser Differenzierungsprozess für »die Ebene des Individuums wie [auch die] der Menschheitsgeschichte«. »Simmel verwendet hier eine idealistische Terminologie, die beispielsweise an Schellings System des transzendentalen Idealismus erinnert, wendet sie aber eher psychologisch als transzendentalphilosophisch.« (Ebd. [Herv. i.O.])
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Begriffs folgt aus der Herausarbeitung der Möglichkeit der Erfahrung als der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, die wiederum in der Analytik des reinen Verstandes aufgefunden wird.6 Analog betrachtet Simmel »die Möglichkeit des Begehrens [als] die Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens« (Simmel PdG: 34). Abweichend von Kant findet sich diese aber nicht mehr allein in den formalen Prinzipien des Bewusstseins a priori. Zwar schreibt Simmel im Folgenden, dass »unser Bewußtsein die Sinnesempfindungen zu Gegenständen bildet« (ebd. [Herv. i.O.]), doch muss man hierbei die Verwendung des Bildungsbegriffs ernst nehmen. Denn angestoßen wird diese Differenzierung von Subjekt und Objekt durch die Erfahrung von Widerstand. Erst das Hemmnis bricht die ursprüngliche Einheit des Genießens, das noch vor der Subjekt-Objekt-Teilung steht, und setzt das Begehren als ein ›Nicht-Haben‹. Indem das Begehrte sich zunächst vom Begehrenden abrückt, kann es als etwas Bestimmtes erscheinen. Simmel weist die Vorstellung zurück, dass sich hierbei die ›Realität‹ durch jene uns begegnenden Widerstände ›zu Wort melde‹. Vielmehr sei es bei genauerer und konsequenter Betrachtung umgekehrt so, dass sich der Begriff der ›Realität‹ vermittelt durch die erfahrenen Widerstände entwickelt (vgl. ebd. 34–35; siehe hierzu auch Kapitel 3.5.2). Dieser Bildungsprozess ist damit nur retrospektiv fassbar, da die Kategorien, unter denen dieser Prozess beschreibbar ist, sich erst im Zuge des Prozesses selbst entwickeln. Mit diesem ersten Auseinandertreten von Subjekt und Objekt im Begehren stehen wir jedoch erst am Beginn. Die Stufe, die sich hier zunächst entfaltet, lässt sich als das praktische Bewusstsein als subjektives bezeichnen (vgl. ebd.: 39). Das Bewusstsein ist hier noch ausschließlich vom Zustand des Begehrens erfüllt. Der Gegenstand wiederum, auf den sich das Begehren richtet, weil es sich von ihm Befriedigung verspricht, bleibt jenseits dieser Befriedigung gewissermaßen gleichgültig. Er findet seine Bestimmung ausschließlich vom Trieb des Subjekts her. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt ist in diesem Stadium noch durch einen terminus a quo charakterisiert (im Sinne eines Kausalverhältnisses). Die Wendung dieses Verhältnisses terminus ad quem vollzieht sich Simmel zufolge »auf zwei [letztendlich zusammenhängenden] Wegen« (ebd.): Einerseits, indem sich der Trieb im Subjekt ausdifferenziert, und dies so, dass, obwohl er auch anderweitig befriedigt werden könnte, er sich nur noch auf ganz bestimmte Gegenstände richtet. Der Trieb wirft nun ein besseres Licht auf die jeweiligen Gegenstände, das diese in ihren Eigenheiten heraushebt. Gleichzeitig mit der »Verfeinerung« (ebd.: 40) des Triebes gewinnen die Gegenstände also eine klarere und eindeutige Gestalt. So wie der begehrte Gegenstand in dieser Bestimmung mit »selbständiger Bedeutsamkeit« (ebd.) erscheint, bestimmt er wiederum den Trieb. Wie es zu diesem Verfeinerungsprozess kommt, lässt Simmel dabei jedoch offen. Andererseits vollzieht sich die Wendung des Verhältnisses zum terminus ad quem, indem das begehrte Objekt in zunehmende Distanz von uns rückt. Dies geschieht, wie bereits oben erwähnt, durch den Widerstand, den ein Objekt seinem Genuss entgegensetzt. »Die Möglichkeit des Genusses« knüpft
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»[D]er stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität), muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen.« (Kant KrV: B 303/A 246)
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sich so an bestimmte Bedingungen, die es wiederum erlauben, ein »Zukunftsbild« (ebd.: 42) dieser Möglichkeit zu entwerfen. »Erst die Repulsionen, die wir von dem Objekt erfahren, die Schwierigkeiten seiner Erlangung, die Warte- und Arbeitszeit, die sich zwischen Wunsch und Erfüllung schieben, treiben das Ich und das Objekt auseinander, die in dem unmittelbaren Beieinander von Bedürfnis und Befriedigung unentwickelt und ohne gesonderte Betonung ruhen. […] So kann man sagen, dass der Wert eines Objekts zwar auf seinem Begehrtwerden beruht, aber auf einer Begehrung, die ihre absolute Triebhaftigkeit verloren hat.« (Ebd.: 43) Beim Wert eines Objekts handelt es sich also, Simmel zufolge, letztendlich um eine Projektion ausgehend vom Begehren. In dem Maße, in dem dieses Begehren jedoch seine Triebhaftigkeit verliert, entwickelt sich diese Projektion zu einer vollkommenen Projektion: Die entsprechenden emotionalen Wertungen gehen vollständig auf den Gegenstand über, während dieser Gegenstand seine feste Gestalt vermittelt über die Widerstände und Hemmnisse im praktischen Umgang mit ihm gewinnt (vgl. ebd.: 45). »Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt, wie zu überwinden sucht – heißt uns ein Wert.« (Ebd.: 34) »Die Wertung« ist zwar immer »ein wirklicher psychologischer Vorgang« und damit »ein Stück der natürlichen Welt«, doch weist ein solcher Vorgang immer über sich hinaus, denn was wir mit der Wertung »meinen, ihr begrifflicher Sinn« (ebd.: 24–25 [Herv. i.O]) ist etwas jenseits der natürlich, kausal beschreibbaren Welt.
6.4 Die technische Vermittlungsform der Wertprädikation Diese Form der Objektivierung, die Simmel hier beschreibt, bildet jedoch nur die erste und einfachste Stufe des gesamten Prozesses. Die folgenden Stufen sind durch die Ablösung von jenem »subjektiv-personalen Unterbau« gekennzeichnet, indem die »technische Form« der jeweiligen Kulturwelten, in der Philosophie des Geldes die des wirtschaftlichen Verkehrs, praktisch eigenständig »ein Reich von Werten« (ebd.: 55) erschafft. Zunächst eine Klärung: Dieser ›subjektiv-personale Unterbau‹, von dem Simmel an dieser Stelle spricht, verweist gerade nicht auf einen Psychologismus, wie oftmals unterstellt wurde (vgl. Geßner 2003: 76–77). Hätten wir es mit einem Psychologismus zu tun, vollzöge sich die Rückführung des Werts auf die psychischen Prozesse im Modus eines »›Nichts-weiter-als‹«, wie Geßner (2003: 77) gegen diesen Vorwurf einwendet. Simmel geht es darum, in den psychischen Akten des Begehrens eine Quelle des Werts auszumachen, aus der allein er als etwas Objektives jedoch »nicht hervorgehen« (Simmel PdG: 56) kann. Jeder Versuch, die Erscheinung des Werts überhaupt kausal abzuleiten oder logisch zu beweisen, könne nur scheitern. Es gehe lediglich darum, »die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich [der Wert], schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne doch aus ihnen hergestellt zu werden« (ebd.: 27). Was Simmel demnach beschreibt ist, um eine frühere Formulierung Orths (1991: 265) wieder aufzugreifen, die mediale oder zulassende Basis des Werts. Das Begehren, vermittelt über die Erfahrung von Wider-
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stand, schafft ein erstes Bewusstsein für den begehrten Gegenstand als etwas Entgegenstehendes und Herausgehobenes. Gleichzeitig wirft es ein Licht auf das Verhältnis zu diesem Gegenstand sowie auf das Verhältnis der Gegenstände untereinander, nämlich inwieweit diese Mittel und Maß füreinander bilden (vgl. Simmel PdG: 52f.). Die im schlechten Sinne subjektive Wertschätzung, die sich im bloßen Begehren ausdrückte, gewinnt in den Beziehungen der Objekte untereinander eine Festigkeit, so wie die Objekte selbst ihre Form auch vermittels dieser Mittelbeziehungen erlangen. »Der Wert«, so folgert Geßner, »ist für Simmel weder etwas Physisches noch etwas Psychisches, sondern etwas objektiv Ideelles, ein Verhältnis.« (Geßner 2003: 77) Die Frage, wie diese Verhältnisse ihre Bestimmtheit und Festigkeit erlangen, führt uns zu der beschriebenen Ablösung durch die technische Form: Die in der Philosophie des Geldes paradigmatisch untersuchten Tauschakte, denen zwar subjektive Wertungsprozesse zugrunde liegen, die im Tauschverhältnis eine objektiv-bestimmbare Form erhalten, finden über die monetär-wirtschaftliche Infrastruktur eine Verkörperung, in der sie auf ein allgemeines Maß gebracht werden (vgl. Simmel PdG: 181). Die einzelnen (zumindest der Möglichkeit nach isolierten) Akte treten miteinander in Wechselwirkung. Mit dieser Institutionalisierung des Tausches tritt der Effekt ein, dass der wirtschaftliche Wert eines Objekts sich von einer »immer aufs neue erfolgende[n] individuelle[n] Zuschreibungsleistung« (Geßner 2003: 78) enthebt. Dies jedenfalls in dem Sinne, dass sich der aktuelle Tauschakt, neben sämtlichen formellen und informellen Regelungen und Vorgaben, materieller Gegebenheiten der Warenzirkulation und -produktion, an einem System unzähliger vorangegangener Tauschakte orientiert, das sich wiederum in all den Regelungen, Vorgaben und materiellen Gegebenheiten niederschlägt (vgl. ebd.: 78–79). Die technische Form, von der Simmel spricht, hebt nicht nur auf ein instrumentelles Handeln ab, sondern auf seine Vermittlung durch Mittel, seine Medialität. Die maßgebliche Bestimmung nicht nur des Tauschaktes, sondern auch des zugrundeliegenden Wertungsprozesses durch das wirtschaftliche System, das seinerseits in den Tauschakten aufgeht, offenbart dieses als geistige und materielle vermittelnde Voraussetzung (vgl. ebd.). Der Tausch wird in dieser Form zum »überpersonelle[n] Medium der gegenseitigen Wertbestimmung« (Schlitte 2012: 230). Simmel wählt sogar eine noch allgemeinere Formulierung, in der die Universalität des Gedankens zum Ausdruck kommt. Es ist je »eine dritte Instanz: die soziale Gesamtheit« (Simmel PdG: 213), die in vermittelnder Funktion zwischen den Tauschparteien steht (vgl. auch Geßner 2003: 78–79). Will man jedoch genauer verstehen, wie das wirtschaftliche Gefüge hiermit das praktische Leben formt, müssen wir erneut das Geld ins Auge fassen. Das Geld ist selbst das wesentliche Medium für den wirtschaftlichen Prozess. Seinen medialen Charakter bestimmt Geßner (2003) in erster Linie über die Symbolfunktion: Wir hatten es als das Kennzeichen des Symbols definiert, ein Verhältnis sichtbar zu machen, ihm einen Körper zu verleihen (siehe hierzu Kapitel 5.1). Das Verhältnis, das sich im Geld verkörpert, ist jenes zwischen subjektiv gewerteten Gegenständen, ihr zueinander relativ bestimmter wirtschaftlicher (Tausch-)Wert. Diese Bedeutung als Symbol, ein Verhältnis anschaulich zu verkörpern, erhält das Geld jedoch nur als Element eines Symbolismus. Verständlicherweise ist es nicht das einzelne Geldzeichen, das eigenmächtig seine Bedeutung hervorbringt, sondern seine Verortung in einem monetären System (vgl. Geßner 2003: 79–80). Die Bestimmung des Geldes respektive des monetären Sys-
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tems als Medium, das die soziale Gesamtheit in seine Bahnen lenkt und damit Wertungsund Tauschprozesse institutionalisiert, bleibt jedoch solange abstrakt, bis herausgestellt wird, dass das Geld nicht nur Medium ist. Ergänzend müssen wir das Geld als eine Sozialtechnik begreifen, die das Geld als Medium auf eine bestimmte Weise strukturiert. Eine solche Strukturierung lässt sich als »lose Koppelung« (Hubig 2006: 155) bezeichnen: Das monetäre System schafft die Realisierungsbedingungen für eine Mannigfaltigkeit von Tauschakten und zwar in dem Sinne, dass diese Verhältnisse (die Tauschakte) als Möglichketen gesichert sind. Der »Bestand möglicher Gestaltungen« (Hubig 2006: 155) ist auf Beständigkeit gestellt. Indem das Geld als universelles Tauschmittel dem direkten Warentausch zwischengeschoben wird, entledigt es von der Notwendigkeit, für den jeweils anderen Tauschpartner unmittelbar begehrenswerte Güter zu besitzen (siehe Kapitel 5.1). Dies ist die bereits dargestellte Wirksamkeit des Symbols, Verhältnisse nicht nur zu verkörpern, sondern auch eigenständig zu ermöglichen. Das Geld als Tauschmittel stellt die Möglichkeitsverhältnisse und damit unser Weltverhältnis unter die Regeln des Mitteleinsatzes. In Kapitel 5.2. wurde die Bedeutung herausgestellt, die Werkzeugen als potenzierten Mitteln respektive der Technik als Form der Objektivierung zukommt. Vermittels ihrer erhalten die auftretenden Widerstände eine gesetzmäßige Bestimmung, sodass das gewertete Objekt »in eine gesetzliche Ordnung« gehoben wird, »in der es durchaus notwendige Schicksale und Bedingtheiten erfährt« (Simmel PdG: 50–51) und dem Subjekt selbstständig gegenübertritt. Die Handlungsvollzüge werden durch Technik nicht nur optimiert, sondern die Bedingungen des methodischen Handelns selbst abgesichert. Durch die Befreiung dieser Bedingungen von Kontingenz, konstituieren sie sich im strengen Sinne erst als Bedingungen (vgl. Hubig 2006: 158). Die Aussage, dass die »technische Form des wirtschaftlichen Verkehrs« ein »Reich von Werten« (Simmel PdG: 55) schaffe, können wir folglich so verstehen, dass die Verhältnisse zu und zwischen den Gegenständen sich in der technischen Form, d.h. in diesem Medium, konstituieren und erschließen. Der Prozess der Konstitution und Enthüllung der Gegenstände erfolgt im technisch strukturierten Möglichkeitsraum. Ihre Bestimmtheit erfahren die Verhältnisse und damit der Wert vermittels der technischen Form und nicht mehr allein durch ein subjektives Begehren. Wir können deshalb davon sprechen, dass die ›Spuren für …‹ (vgl. Hubig 2006: 151) des technischen Systems, die Ermöglichungsstruktur, auch die Wertprädikation betreffen. Die Möglichkeiten, Werte zuzusprechen und etwas als wertvoll zu betrachten, sind im Medium eingeschränkt und auf bestimmte Perspektiven hin ausgerichtet, bis hin zu einer fixierten Wertzuschreibung zu jeweiligen Gegenständen oder Zielen. Waren sind bspw. immer schon vor dem Hintergrund der monetär-wirtschaftlichen Infrastruktur gesehen und hierdurch in ihren Dispositionen als Waren bestimmt. So mögen die Wertungsakte, die in ein technisches System einfließen und dessen sie sich bei ihrer Aktualisierung im Handeln bedienen, in dem obigen Sinne subjektiven Ursprungs sein (Begehren), doch in jenem System treten sie miteinander in Wechselwirkungen, gemäß eines »objektiv bestimmten Mechanismus« (Simmel PdG: 54), der Institutionalisierung und Verfestigung ermöglicht. Wertungsverhältnisse können auf diese Weise (verdinglicht) als Werteigenschaften erschei-
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nen. Denn ob und wie sehr ich individuell eine Ware begehre oder schätze, ist für den zu bezahlenden Preis nicht von Belang.7 Geßner (2003: 80) hält den von Simmel für diese Form der Selbstorganisation gebrauchten »Hilfsausdruck« der »unbewußte[n] Zweckmäßigkeit des menschlichen Gattungslebens« (Simmel PhG: 184) für verzichtbar, biete doch das Konzept der Kristallisation die Lösung für jene begriffliche Verlegenheit: Anstatt »die Wertbildungen, ihre Fixierungen und Fluktuierungen als unbewußte Vorgänge nach den Normen und Formen der bewußten Vernunft zu deuten« (ebd.), erlaubt die Kristallisation Geßner zufolge, der hier die Parallele zu Cassirer eröffnet, die Bezugnahme auf ein »Reich des ›überindividuelle[n] Geistige[n]‹« (Geßner 2003: 80 [Geßner zitiert hier aus Cassirer MsF: 101]). Das Erklärungsmodell, das Simmel an dieser Stelle zwar als »logisch unberechtigt« (Simmel PdG: 184) bezeichnet, aber dennoch – weil beim »jetzigen Stande des Wissens« (ebd.: 184) unvermeidlich – anwendet, ist folgendes: Zunächst erwächst aus dem triebhaft-kausalen Begehren (terminus a quo), vermittelt durch die Erfahrung von Widerstand, das Bewusstsein des (in einer durch das Begehren bestimmten Hinsicht) wertvollen Gegenstands, der unter Zuhilfenahme von Mitteln (mittelbewusstes Begehren) zu erlangen versucht wird (terminus ad quem). Den Übergang zu einer Vermittlung durch ein symbolisch-technisches System, das Verbindungen herstellt (ermöglicht), Relationen und damit Wertungsverhältnisse (die Wertbildung, Fixierungen und Fluktierungen) prägt, deutet Simmel schließlich über einen vom Begehren getragenen, aber unbewussten Wertungsakt und damit immer noch im Modus des terminus ad quem, im Rahmen eines teleologischen Konzepts. Erst mit der Figur der Wendung zur Idee aus dem Spätwerk, in dem die Bedeutung des Prinzips als terminus a quo ausgearbeitet wird, erhebt sich Simmel konsequent und explizit über eine teleologische Denkweise. Das hierin gelegene »neue[...] Verständnis des Überindividuellen« in Simmels Denken deutet Geßner (2003: 80) vor dem Hintergrund Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Für Cassirers Begriff der »symbolischen Prägnanz« (Cassirer PSF III: 231), also jenes Geschehen, wie sich ein geistiger Sinn an ein materielles Zeichen bindet, zieht Geßner (2003: 80) eine Parallele in Simmels Aufsatz Der Begriff und die Tragödie der Kultur, wenn es dort nämlich heißt, »daß an ein materielles Gebilde ein geistiger Sinn, objektiv und für jedes Bewußtsein reproduzierbar, gebunden sein kann« (Simmel BuTK: 407). Die Reproduzierbarkeit von Sinn verlangt allerdings, aller notwendigerweise auftretenden Verschiebungen von Sinn im Rezeptionsprozess zum Trotz, ein gewisses Maß von Absicherung der involvierten Praktiken der Sinnproduktion. Gerade an der angeführten Stelle will Simmel darauf hinaus, dass Sinn nicht intentional in ein Werk hineingelegt worden sein muss, um reproduzierbar zu sein, ohne dass diese Re(!)produktion deshalb ein Akt völliger Willkür wäre. An dieser Stelle kommt erneut die Bedeutung der Technik zum Vorschein. Das Topologische Manifest konstatiert: »Technik sichert die Erwartbarkeit des Prozessierens in allen Feldern.« (Graduiertenkolleg Topologie der Technik 2018: [29]) So verweist uns die Erwartbarkeit des Prozessierens in der Sinn- und Wertzuschreibung auf die Form technischer Sicherung entsprechender Praktiken, seien 7
Ausnahmen können sich hier durch Transaktionen ergeben, die sich vom wirtschaftlichen Gesamtgefüge zumindest ein Stück weit entfernen, wie bspw. private Wiederverkäufe: Der Preis einer Ware ist hier, jedenfalls deutlich mehr als in anderen wirtschaftlichen Bereichen, Verhandlungssache.
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diese nun real-, sozial-, intellektualtechnisch oder, wie wohl in den meisten Fällen, eine heterogene Kombination hieraus.8 Heißt es im Topologischen Manifest weiter, eine Topologie der Technik »interessiert« sich für »ihr Unerwartetes« (ebd.; wobei offengelassen wird, ob sich dieses »ihr« auf die Technik oder die Erwartbarkeit des Prozessierens in allen Feldern bezogen ist), lässt sich die Reflexion der kulturellen Logik der Objekte in dieser Linie verorten, wenn sie die Erwartbarkeit des (zunächst) Unerwarteten in der Strukturierung und Dynamik von Möglichkeitsräumen und damit unserer Orientierung in diesen zu fassen sucht. Die Lebensanschauungen thematisieren die sogenannte »Achsendrehung« des Lebens um die Formen herum, die das Leben selbst hervorgebracht hat. Wie zuvor bereits dargelegt, ist damit ein Dominantwerden der Kategorien gemeint, nach denen Zweck-MittelVerhältnisse zustande kamen. Ausgehend von solchen Kategorien bzw. Formungsprinzipien werden weitere (Möglichkeits-)Verhältnisse gesetzt, die nun die Bahnen für das sich vollziehende Leben bilden. Das Prinzip wird auf diese Art richtungsweisend, lenkt das Leben in jene Bahnen. Die »theoretische Eigenbedeutung der Kategorien« ist deshalb »als Kristallisation praktischer Verhaltensweisen« (Geßner 2003: 73) zu verstehen. Jene Prinzipien, die den Zweck-Mittel-Verbindungen, von denen die Betrachtung ihren Ausgang nahm, zugrunde liegen, haben wir bereits zuvor (Kapitel 5.2) mit Hubig (2011b) als materiale Kategorien beschrieben, als »vorgängige Konzepte einer Orientierung«, die die »Bedingung der Möglichkeit der Erstellung von Handlungsschemata« beinhalten. Wir haben es hier zum einen mit der Konstituierung von Widerständen als regelhaften Bedingungen zu tun, womit die (praktischen) Relationen zwischen uns und den Gegenständen sowie den Gegenständen untereinander bestimmt werden, zum anderen jedoch auch mit der ›Wert- und Sinnhaftigkeit‹ eines möglichen Handlungsschemas – Letzteres insofern als mit der ursprünglich triebhaft, schließlich teleologisch geprägten Lebenspraxis bereits eine Wert- oder Sinndimension einhergeht, die auf die Ebene des Prinzips a quo gehoben wird. Die (praktische) Relation bestimmt sich abstrakt durch das Prinzip und die Regeln des Mitteleinsatzes, konkret durch das jeweilig eingesetzte Mittel bzw. die eingesetzten Mittel. Seine objektiv-wertmäßig bestimmte Gestalt erhält ein Element dieser Relation aber erst in Verknüpfung zu anderen Elementen und anderen Relationen. Diese Abhängigkeit der Bedeutung und Funktion eines Elements von der Gesamtheit an Elementen bezeichnet Geßner, angelehnt an Cassirer, als »Symbolismus« (Geßner 2003: 80 und 82). Die »Grammatik« (Cassirer PSF I: 17) wiederum, nach der sich die Elemente zu einer Gesamtheit verknüpfen, ist die symbolische Form. Für die Form der Selbstorganisation hinsichtlich der Wertbildung, Fixierungen und Fluktierungen folgt, dass jeder Wertungsakt, jedes (Wert-)Prädikat »bereits durch ein System von Relationen vermittelt« (Geßner 2003: 89) ist. Die Spuren, die hier für die Wertprädikation gelegt sind und unseren Blick auf die Welt konstituieren, lassen verschiedene Sachverhalte oder Gegenstände mehr als ›bloße Kandidaten‹ eines Wertungsaktes erscheinen – die kulturellen Objekte treten uns in Form von Ansprüchen gegenüber. Ob wir einen Sachverhalt als wertvoll, überhaupt einen Wert als solchen anerkennen oder ihm die Anerkennung verweigern, erscheint uns 8
Im Übrigen betont auch Cassirer dieses technische Element in der Sicherung des Verstehens (vgl. Cassirer LdK: 474–477).
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deswegen nicht als eine Frage der Willkür oder überspitzt: dem Gutdünken eines von der Welt unbeeindruckten Subjekts überlassen. Die Einschränkungen, um die es Simmel geht, sind gerade nicht (allein) jene aus den gesellschaftlichen Zwängen, dem Wort von Autoritäten oder schlichter Gewöhnung, die uns jeweils zu einer faktischen Orientierung an bestimmten Werten treiben können.9 Mit der durch Zwang oder Gewöhnung erzielten faktischen Orientierung erschöpft sich nicht, was es heißt, einen Wert tatsächlich anzuerkennen. Begleitet wird eine solche Anerkennung von einem Gefühl, dass mit ihr einer sachlich angemessenen Forderung genügt wird, »einem Eigenrecht ihres Inhalts« (Simmel HP: 104), das als solches jenseits davon besteht, ob es gestützt von Sanktionsmöglichkeiten artikuliert wird oder nicht. Es handelt sich hiermit um die konsequente Fortführung der Position, den Wert aus der Teilnehmerperspektive als etwas Objektives zu konzipieren. In dem, was sich als Wert darbietet, äußert sich eine »eigentümliche[...] innere[...] Notwendigkeit, deren Gefühl den Inhalt des Tuns sozusagen durchdringt und ihn unter die Kategorie, dass er gesollt wird, treten lässt« (ebd.: 105). Entsprechend lässt sich diese Notwendigkeit unter Berücksichtigung der Teilnehmerperspektive als einer »übersubjektiven Logik« (ebd.: 104) unterstehend begreifen. Wir sind in der Lage, die Geltung beanspruchenden Wertorientierungen zu begreifen und nachzuvollziehen, selbst wenn wir sie nicht in dem Sinne anerkennen, dass wir uns selbst ebenso orientieren, oder sie gar strikt ablehnen. Nicht zuletzt setzt die Möglichkeit zur Kritik bestimmter Wertorientierungen bereits voraus, sie zunächst als Wertorientierungen mit Anspruch auf Anerkennung zu begreifen. Simmel führt aus, dass sich die Kategorie des Sollens, die Kategorie des Werts im grundlegend menschlichen Verhältnis zur Welt eröffnet. Als Kategorie ist der Wert ein »Urphänomen« (Simmel PdG: 27), er ist »eine besondere Beziehungsform zum Subjekt« (ebd.: 36–37; vgl. auch LA: 346–351 und die Ausführungen in Kapitel 3.5.4) und muss deshalb in transzendentalphilosophischer Terminologie als Form des Gegenstandsbezuges bzw. eines Weltverhältnisses verstanden werden: »Diese Form ist als Forderung oder Anspruch zu bezeichnen. Der Wert, der an irgendeinem Dinge, einer Person, einem Verhältnis, einem Geschehnis haftet, verlangt es, anerkannt zu werden. Dieses Verlangen ist natürlich als Ereignis nur in uns, den Subjekten, anzutreffen; allein, indem wir ihm nachkommen, empfinden wir, daß wir damit nicht einfach einer von uns selbst an uns selbst gestellten Forderung genügen – ebenso wenig freilich eine Bestimmtheit des Objekts nachzeichnen.« (Simmel PdG.: 37 [Herv. i.O.]) Rekapitulieren wir: Wenn Werte ›ideelle Ansprüche‹ ausdrücken, die einer eigenen Logik folgen, aber dennoch kein ›Sein‹ sind, reichen die oben andiskutierten Konzeptionen von Phänomenologie, Neukantianismus und Wert-Empirismus nicht aus, um die Komplexität des Orientierungsverhältnisses, wie es sich bei Simmel andeutet, zu begreifen: Das Orientierungsverhältnis, so hatten wir zuerst festgestellt und damit die kantische Konzeption der Pragmatik überwunden, findet seinen Bezug nicht zu einem Zustand
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Damit soll selbstverständlich nicht bestritten werden, dass gesellschaftliche Zwänge, das Wort von Autoritäten und Gewöhnung hier eine Rolle spielen.
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namens ›Glück‹, sondern zu Werten als Orientierungsinstanzen. Werte erscheinen der handelnden Person erstpersonal als Forderung oder Anspruch und sind als solche objektiv gegeben. Diese Objektivität ist, wie wir an Geßner angelehnt formulierten, »zwar Anschein«, insofern ein Wert nichts ist, was an einem Objekt als natürliche Eigenschaft aufzuweisen wäre, sondern letztendlich im Begehren seine subjektiv zulassende bzw. mediale Basis findet. Aber sie ist eben »nicht ›bloßer Schein‹«, weil das Begehren durch den praktischen Umgang mit dem begehrten Gegenstand, durch das Erfassen von Widerständen und Hemmnissen, seine Triebhaftigkeit verloren hat. In der praktischen Auseinandersetzung gewinnt der vom Licht des Begehrens erhellte Gegenstand eine objektive Gestalt. Löst sich das Verhältnis nun aber von dem »subjektiv-personalen Unterbau« und wird durch die »technische Form« vermittelt, vermittelt sich damit auch die Wertzuschreibung bzw. das Werturteil durch die technische Form. Logisch folgt hieraus, dass auch Imperative je durch die technische Form vermittelt sind. Mit dieser Erkenntnis ist nun die Grundlage geschaffen, auf der der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte bestimmt werden kann.
6.5 Der doppelte Imperativcharakter Imperative sind, so hatten wir zu Beginn des Kapitels definiert, praktische Erkenntnisse oder normative Urteile, in denen jeweils eine Handlung als ›gut‹ qualifiziert, d.h., gewertet wird. Abhängig davon, in welcher Hinsicht eine Handlung als ›gut‹ gewertet wird, ergeben sich unterschiedliche Vorstellungen der praktischen Notwendigkeit der Handlung. ›Gut‹ kann erstens bedeuten, dass eine solche Handlung nützlich für ein möglicherweise angestrebtes Ziel ist (Imperativ der Geschicklichkeit oder technischer Imperativ). Eine Handlung sei ›gut‹, kann zweitens meinen, dass sie mit Blick auf ein Ziel getan werden soll, das ebenfalls als ›gut‹ qualifiziert wird, weswegen die Absicht auf es vorausgesetzt werden kann bzw. in dieser Qualifizierung konkretisiert und angeraten wird (pragmatischer Imperativ oder Ratschlag der Klugheit). An dieser Stelle sind wir mit Simmel und Luckner über Kant hinausgegangen. Das in dieser Art als gut qualifizierte Ziel ist nämlich nicht lediglich das ›eigene größte Wohlsein‹, sondern etwas, das als sinn- und wertvoll behauptet wird: Es ist sinn- und wertvoll, Handlung P mit Blick auf ihr Ziel Q zu tun, also solltest du dies tun. Richtet sich der Wille der handelnden Person auf Ziele in der entsprechenden Richtung, wäre die Art der Nötigung analytisch. Doch damit wäre der Imperativcharakter noch nicht hinreichend bestimmt. Der pragmatische Imperativ setzt die Handlungsrichtung mit assertorisch-normativen Anspruch, weist also mehr als einen bloß möglichen Weg, sondern identifiziert diesen als wert- und sinnvoll. Zu diesem Anspruch kann bzw. muss sich die handelnde Person verhalten. Sie kann ihn ablehnen oder ihn sich mit ihm identifizierend anerkennen – wobei diese Art der Identifikation und Anerkennung qualitativ unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Eine solche praktische Erkenntnis kann für eine Person Orientierung stiften. Sie markiert ein Stück Orientierungswissen, das nur situativ gültig ist (vgl. Luckner 2005: 45). Es wurde dargelegt, dass sich phänomenologisch die Perspektive der handelnden Person dadurch kennzeichnet, dass sie sich im Handeln daran orientiert, was als sinn- und wertvoll erscheint. Das Sinn- und Wertvolle besitzt für eine Person in der Teilnehmerperspektive
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eine Objektivität, der sie nie ganz entkommen kann, solange sie handlungsfähig bleiben will, aber auch nicht völlig erliegt, insofern sie sich reflexiv über die eigene Handlungsposition hinaus erheben kann (siehe hierzu auch Kapitel 3.4.4). Pragmatische Imperative ›gebieten‹ hypothetisch unter Voraussetzung der Anerkennung der Wertorientierung, die sie aber gleichzeitig einfordern. Luckner (2005: 2–3) vergleicht die Handlungsorientierung von Ratschlägen mit strategischen Regeln innerhalb eines Spiels. Die »konstitutiven ›Spielregeln‹« (ebd.: 3) sind jene Regeln, die vorgeben, welche Spielzüge möglich und welche verboten sind. Hat man sie verinnerlicht, weiß man, wie ein Spiel funktioniert, wie gespielt werden kann. Dieses Wissen um die konstitutiven Regeln bedeutet aber noch nicht, dass man weiß, wie man spielen soll, wie man gut spielt. Hierfür benötigt man Wissen über die strategischen Regeln, die situationsadäquat Hinweise für ein kluges Spielen geben (vgl. ebd.). Irgendeine praktische Erkenntnis dieser Art brauche ich aber auf jeden Fall, wenn ich einen Zug im Spiel machen will (und wenn diese Erkenntnis auch nur darin besteht, jetzt einfach irgendeinen Zug zu machen, um zu testen, welche Züge sich als gut erweisen werden). Einem bestimmten pragmatischen Imperativ kann ich prinzipiell immer die Anerkennung verweigern und ihn für mich nicht als einschlägig betrachten. Pragmatischen Imperativen überhaupt die Anerkennung zu verweigern, ist hingegen nicht sinnvoll möglich, insofern das hieße, auf praktische Erkenntnisse, die das Handeln orientieren können, zu verzichten. Und das würde bedeuten, in einem pragmatischen Sinne die Handlungsfähigkeit einzubüßen. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte scheint mir zunächst von der Art der Ratschläge der Klugheit zu sein, d.h. hypothetisch-assertorisch und bezogen auf die Struktur des Willens analytisch. Die kulturelle Logik der Objekte haben wir als die Wirksamkeit der in Objekten verkörperten Formen und Formungsprinzipien bestimmt (siehe Kapitel 5.3). Wirksam ist sie in der Art, dass sie einen Leitfaden bietet, Möglichkeiten im logischen Raum zu identifizieren, ins Verhältnis zum teleologischen Raum zu setzen und darin zu werten. Nichts anderes meint es, dass die normativen Urteile durch eine technische Form vermittelt werden. Solche Urteile betreffen zwar auch die Frage der Nützlichkeit, also ›gut‹ im Sinne von ›gut, um etwas anderes zu erreichen‹, aber lassen sich nicht darauf reduzieren. Denn Simmels eigentümliche Form des Wertobjektivismus umfasst ja gerade die Gültigkeitsformen aller Welten (Kunst, Ökonomie, Wissenschaft, Recht, etc.) und damit Instanzen wie den ästhetischen Wert, den ökonomischen Wert, den Wahrheitswert oder den Wert der Gerechtigkeit. In diesen Welten, in den gewissermaßen freischwebenden Beziehungen der jeweiligen Objekte zueinander, bestimmt sich Sinn und Wert jeweiliger Objekte (vgl. Simmel BuTK: 398; siehe hierzu auch Amat 2015: 261–263). Auch hier ist ein jeweiliger Wertungsakt vermittelt durch ein System von Relationen, die in verschiedenen Techniken gesichert sind. Die kulturelle Logik der Objekte ›spricht‹, sobald sich eine handelnde Person in Bezug zu Symbolen befindet und ihr Weltverhältnis durch diese Symbole vermittelt ist, beständig hypothetisch-assertorische Imperative aus, die als solche nötigen können. Je mehr eine Person den jeweiligen Möglichkeitsraum durchdringt, desto deutlicher werden diese praktischen Erkenntnisse. Je mehr sie sich in das jeweilige Handlungsfeld vertieft und damit einen affektiv-identifizierenden Bezug zur jeweiligen Gültigkeitsform verinnerlicht, desto einschlägiger erscheint ihr die Nötigung durch jene Imperative. Diese Imperative können dabei durchaus in pluraler Gestalt auftreten und verschiedene Optionen oder Richtungen (gleich-
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zeitig) als (mehr oder weniger) sinnvoll nahelegen. Die in ihnen ausgedrückte praktische Notwendigkeit einer Handlung besitzt, mit Luckner gesprochen, eine schwache Normativität. Anders jedoch als Luckner die pragmatischen Imperative begreift, nämlich als Ratschläge der Klugheit, verstanden als individuelle Orientierungskompetenz, die sich damit in letzter Konsequenz auf eine kluge (glückliche) Lebensführung im Ganzen richten, hat die Imperativform der kulturellen Logik der Objekte ihren Bezug ausschließlich auf einen spezifischen Orientierungsbereich oder ein jeweiliges Handlungsfeld – ohne dabei nach der Lebensführung und dem personalen Subjektstatus überhaupt zu fragen. Die Imperative der kulturellen Logik der Objekte lassen etwas als ›gut‹ im Sinne des Werts einer Kulturwelt erscheinen, was aber nicht unbedingt dasselbe ist, wie ›gut‹ im Sinne unserer je eigenen Kultivierung (vgl. Simmel BuTK: 400). Eben genau das ist gemeint, wenn Simmel davon spricht, der sachliche Wert, der sich nach einer Kulturwelt bemisst, sei noch nicht notwendig ein »Kulturwert« (ebd.: 395; vgl. auch ebd.: 398–401). Imperative der kulturellen Logik der Objekte können zwar Teil der Forderung des Tages sein (siehe Kapitel 4.3), sind aber nicht ohne weiteres mit ihr identisch. So wenig Konflikte und Spannungen hier zu jeder Zeit auftreten müssen, so wenig lassen sie sich ausschließen. Die praktischen Erkenntnisse bezüglich dessen, was ich mit Blick auf meine wissenschaftliche Arbeit zu tun habe, können mich nötigen, sofern ich den Wert des wissenschaftlichen Arbeitens anerkenne – und diese Anerkennung zu verweigern, dürfte vor dem Hintergrund meiner eigenen Involvierung in den Arbeitsprozess äußerst schwierig sein. Um in einem Nötigungsverhältnis zu meinem Willen zu stehen, müssen diese praktischen Erkenntnisse aber in keiner Beziehung (bspw. in Gestalt einer Abwägung) zu anderen Handlungsfeldern, in denen ich mich ebenfalls bewege, stehen. Sie müssen nicht einmal nach meinen zur Verfügung stehenden Ressourcen fragen. Die Erkenntnis, dass dies und jenes mit Blick auf die Arbeit sinnvoll wäre zu tun, bleibt bestehen und kann eine ›Velleität wecken‹, wie Simmel sagen würde (vgl. ebd.: 412). Auch müssen diese praktischen Erkenntnisse nicht in explizierter Form bewusst gegeben sein, denn oft genug hat das, was ich tun soll, die von Simmel herausgehobene »›Bekanntheitsqualität‹« (Simmel LA: 357; siehe hierzu Kapitel 3.5.4). Es sollte hinreichend deutlich sein, wie sich auf Basis dieses Imperativcharakters die verschiedenen Varianten der Entfremdung durchexerzieren lassen (siehe Kapitel 3.4 und 3.5.4). Allerdings deutet die bisherige begriffliche Fassung der kulturellen Logik der Objekte noch eine weitere Ebene des Imperativcharakters an. Die Autonomie der Kulturwelten, die sich mit der Wendung zur Idee ergibt, versuchte Simmel gerade über den Unterschied zwischen dem hypothetischen und kategorischen Imperativ zu verdeutlichen. Bislang hatten wir die pragmatischen Imperative der kulturellen Logik der Objekte in ihrer hypothetisch-assertorischen Geltung untersucht. Es sei aber die kategorische Geltung der inneren Logik einer kulturellen Welt, an der sich die Wendung zur Idee zeige. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich diese kategorische Geltung und ihr Nötigungscharakter mit Hilfe von Ausführungen aus Cassirers nachgelassenem Werk ausformulieren lassen. Gegen Ende des Konvoluts Über Basisphänomene stößt man in Cassirers Notizen zu dem Verhältnis der Basisphänomene zur Erkenntnistheorie auf die Formulierung vom »Imperativ des Werkes« (Cassirer ÜB: 190 [Herv. i.O.]). Cassirer (ebd.: 165ff.) zeichnet dort die verschiedenen Positionen und Strömungen der Erkenntnistheorie unter der Perspektive, von welchem der Basisphänomene (»Monas«,
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»Wirken und Tun« und »Werke«) ausgehend jeweils das Problem der Erkenntnis behandelt wird. Um jedoch Verkürzungen zu vermeiden, müsse die Erkenntnistheorie die jeweilige »Bedingtheit« (ebd.) der Interpretation von ihrem Ausgangspunkt reflektieren und die Basisphänomene so vereinen. Der einseitige Beginn erscheint dabei jedoch als Notwendigkeit. So positioniert Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen im Ausgang des Basisphänomens des Werks (vgl. ebd.: 194). Der Ausgang vom Werk vereine »den Gegensatz von Wissen und Tun« und hebe ihn zu einer »neuen Synthese auf« (ebd.: 188). Im Werk offenbare sich nämlich etwas, das über ›Wirken und Tun‹ hinausgehe, ein interessenloser Eigengehalt des Werks (vgl. ebd.: 187), der sich nicht im Bewirken erschöpft, sondern dieses überdauere. Der Gedanke verweist also auf eine Ebene jenseits eines teleologisch-instrumentellen Handlungsverständnisses. Der Eigengehalt zeige in der »›Schau‹ des Wirkens« (ebd.: 190), so in der (vermeintlich) simplen »Frage: was denn das ›ist‹, was er [der Dichter, der Politiker, der Handwerker; O.H.] schafft und welchen Regeln und Normen es untersteht« (ebd.: 189 [Herv. i.O.]). Die Reflexion auf das Werk steht dabei je unter einer klaren Aufforderung: »stelle Dich unter den Imperativ des Werkes« (ebd.: 190 [Herv. i.O.]). Der Imperativ des Werkes ist jener der Normen und Regeln des Gestaltens, die es ermöglichen, um das eigene Tun zu wissen. Sie ermöglichen es, das Tun aus dem »blossen Instinkt, der Tradition, Konvention, der Routine, der ἐμπερία und τρίβή […] zum ›selbstbewussten‹ Tun« (ebd. [Herv. i.O.]) zu bilden. ›Selbstbewusstes Tun‹ bedeutet in diesem Fall regelbewusstes Tun. Der Imperativ des Werkes formuliert dabei aber mehr als bloß strategische Regeln des Gestaltens. Auf dieser Ebene der Form haben wir es mit konstitutiven Regeln zu tun, deren Anerkennung sich aus der Reflexion auf das Wirken selbst ergibt. Diese konstitutiven Regeln sind die Gültigkeitsformen oder Formungsprinzipien der Kulturwelten, vorgängige Konzepte einer Orientierung, auf deren Basis Handlungsschemata erstellt werden können. Sie stiften Orientierung in dem Sinne, in dem sie einen Bereich des Möglichen definieren, in dem logisch nachfolgend strategische Regeln aufgestellt werden können, um sich mit diesen eine konkrete Handlungsrichtung zu geben. Die konstitutiven Regeln stecken den möglichen Rahmen ab, innerhalb dessen überhaupt strategische Regeln formuliert werden können, und verkörpern damit eine höherstufige Orientierungsinstanz. Zugänglich sind diese Gültigkeitsformen, die Regeln und Normen des Tuns, nur über die konkrete kulturelle Praxis (vgl. Simmel HP: 20–21; LA: 240). Sie sind, wie wir es zuvor mit Geßner formuliert haben, die »Kristallisation praktischer Verhaltensweisen« (Geßner 2003: 73), die im transzendental-praktischen Sinne aber die Bedingung der Möglichkeit jener Verhaltensweisen ausdrücken, respektive die Bedingung der Möglichkeit die Verhaltensweisen in Handeln zu überführen. Kantisch gesprochen sind sie die Bedingung der Möglichkeit des Handlungsvermögens, jedenfalls, so muss hinzugefügt werden, in einem bestimmten Handlungsbereich. So wie sich bei Kant die Nötigung des kategorischen Imperativs über das notwendige praktische Interesse an der Handlungsfähigkeit überhaupt begründete, ist es hier das Interesse an der Handlungsfähigkeit in einem bestimmten Bereich, die das Nötigungsverhältnis begründet. Gebietet ein solcher Imperativ dann aber kategorisch? Zunächst: Die praktische Notwendigkeit, mit der die Regeln und Normen des Tuns vorgestellt werden, scheint eine starke Normativität zu besitzen, d.h., sie ist nicht auf die Perspektive des Handelnden relativiert (womit sie je nur provisorisch gültig und ihrem materialen Gehalt nach unsicher wären). Vergleich-
6. Der Imperativcharakter der kulturellen Logik der Objekte
bar mit konstitutiven Spielregeln sind sie für jeden nötigend, der überhaupt spielt. Liegt hierin nicht aber bereits die Bedingung verborgen, die das Gebot hypothetisch werden lässt? Bei einem Spiel habe ich ja die Wahl, ob ich mitspielen möchte oder nicht. Und zumindest habe ich die Möglichkeit, wenn ich keine Lust mehr habe mitzuspielen, wieder auszusteigen. Doch erscheint hiermit die Metapher des Spiels bereits überspannt. Mit Blick auf kulturelle Praktiken sind wir je schon immer ›im Spiel‹, nur dass es hier nicht ein Spiel ist, sondern eine Vielzahl verschiedener Spiele. Wenn es aber damit zumindest möglich ist, zwischen verschiedenen Spielen zu wechseln, ließe sich sagen, dass ich vielleicht nicht aus konstitutiven Regeln überhaupt, aber aus dem Geltungsbereich bestimmter konstitutiver Regeln herauskomme – womit diese auch nur noch eine hypothetische Geltung beanspruchen könnten. Hinzu kommt ferner, dass die konstitutiven Regeln kultureller Praktiken nicht die gleiche Beständigkeit wie jene zumindest mancher Spiele besitzen, sondern historischem Wandel unterliegen, wie bereits in Kapitel 5.3 herausgestellt wurde. Der Begriff der kategorischen Geltung kann im kulturphilosophischen Denken offenbar nicht in der kantischen Fassung aufrechterhalten werden. Insofern uns die Kulturphilosophie aber darauf verweist, dass wir immer schon in kulturellen Praktiken implizit auf Wertinstanzen orientiert sind, lässt sich von einer je gegebenen Nötigung durch pragmatische Imperative sprechen, die in der Reflexion auf ihre Bedingungen zu einer quasi-kategorischen wird. Festhalten können wir an dieser Stelle, dass der kulturellen Logik der Objekte ein doppelter Imperativ- und Nötigungscharakter zukommt und diese beiden Nötigungscharaktere außerdem in einer gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung stehen. Zum einen entwickelt die Nutzung von kulturellen Objekten als Symbole und der Bezug auf sie einen normativen Appellcharakter, der sich analog zu assertorischen Prinzipien formulieren lässt, zum anderen stellt uns die Reflexion auf die in den Objekten verkörperten Schemata in ein quasi-kategorisches Nötigungsverhältnis zu den Formungsprinzipien eines Möglichkeitsraumes. Eine Frage, die sich hieran anschließend jedoch stellt, ist, wie sich der von Kant eingeführte positive Begriff der Freiheit zu diesen Prinzipien verhält. Denn nach dem positiven Begriff der Freiheit muss sich doch die praktische Vernunft selbst als Urheberin ihrer Prinzipien respektive als verursachendes Prinzip ansehen. Inwiefern können wir es dann bei der kulturellen Logik der Objekte mit einem ›übergeordneten Geschehen‹ zu tun haben, auf das ja die Rede von der Eigendynamik verweist? Vorab ist hierzu als Erstes zu sagen, dass es sich bei diesem positiven Begriff der Freiheit um einen transzendentalen Freiheitsbegriff handelt, der sozusagen oberhalb der Problematik der Entfremdung als Form des Freiheitsverlusts steht (siehe hierzu Kapitel 3.3 und 3.4). Zweitens gilt es für Simmel nicht mehr uneingeschränkt, dass die gegenstandsund wertkonstitutive Syntheseleistung dem (transzendentalen) Subjekt respektive den formalen Prinzipien des Bewusstseins zuzuschreiben ist (vgl. Amat 2015: 262–263; Habermas 1985: 170; eine entsprechende Andeutung scheint auch Orth 1993: 98 zu machen). Was ein ›übergeordnetes Geschehen‹ unter dem Begriff der kulturellen Logik der Objekte heißen kann, aus welcher Perspektive es modelliert wird und wie wir uns in ihr zu diesem ›übergeordneten Geschehen‹ in ein Verhältnis setzen, soll Gegenstand des folgenden Kapitels sein.
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7. Übergeordnetes Geschehen: Kultur hinter unserem Rücken?
In Kapitel 1.1.2 wurde in die Debatte um die Macht der Technik und die Probleme technikdeterministischer Positionen eingeführt. Eine Kritik an entsprechenden Ansätzen lautete, dass Grundbegriffe wie »prägen«, »beeinflussen«, »dominieren« oder »bedingen« chronisch unterbestimmt blieben. Mit unserer Klärung des Imperativcharakters der kulturellen Logik der Objekte können wir beanspruchen, hinsichtlich dieses Problemkomplexes eine begriffliche Lösung für die individuelle Handlungsorientierung gefunden zu haben. Daneben wurde jedoch unter 1.1.2 eine weitere problematische Gemeinsamkeit der Ansätze zu einer Eigendynamik der Technik hervorgehoben: »[U]nter dem Eindruck defizitärer Steuerbarkeit der Technikentwicklung [wird] diese in ein übergeordnetes Geschehen integriert«, um sodann auf Grundlage eines intentionalistischen Verständnisses technischen Handelns die Geschichte des goetheschen Zauberlehrlings zu erzählen, »dass die sogenannten Sachzwänge der technischen Systeme diese für uns indisponibel machen. Die Eigendynamik der Systeme wird modelliert aus einer ex negativo Perspektive; sie schreibt sich irgendwie fort jenseits der einzelnen Aktionen oder Interventionsversuche.« (Hubig 2015: 36) Zunächst lässt sich feststellen, dass ein ›übergeordnetes Geschehen‹ noch vielerlei bedeuten kann: Meint es einen Prozess, der sozusagen hinter dem (intentionalen) Rücken der Akteur:innen verläuft? Einen ›Strom‹, der die Akteur:innen auch gegen ihren Willen mitreißt? Oder wird der Wille der Akteur:innen unbemerkt durch ein solches übergeordnetes Geschehen beeinflusst und gesteuert? Im Fundus der technikphilosophischen Ansätze gibt es unterschiedliche Versuche, eine solche Entwicklung theoretisch zu erfassen. Mit einer psychologischen Variante setzt sich beispielsweise Cassirer in Form und Technik auseinander. In kausalen – oder je nach Lesart möglicherweise auch teleologischen – Begrifflichkeiten wird hier ein »Triebwerk« beschrieben, in das der Mensch durch »die Ergebnisse und Erträgnisse der technischen Kultur hineingestellt wird und in dem er, in einem niemals endenden Taumel, von Begierde zu Genuß, von Genuß zu Begierde geworfen wird« (Cassirer FuT: 181). »Jedes gestillte Bedürfnis dient nur dazu, in gesteigertem Maße neue Bedürfnisse hervorzutreiben«, ohne dass dieses »Faß der Danaiden« (ebd.) je zu füllen wäre. Andere Versuche, kausale oder evolutionäre Modelle zu bemühen, wurden zuvor in Kapitel
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1.1.2 beschrieben. Nach Hubig (2015: 40) spricht die hier zum Vorschein kommende Meinungsvielfalt »für sich, und zwar spricht sie den Offenbarungseid. Zwar können Kenner der Evolutionstheorien [oder anderer Einzeldisziplinen; O.H.] hier einschlägige Theoriestücke wiederfinden; sie basieren jedoch auf Abstraktionen von Einzelbefunden. Welcher Erkenntnisgewinn, außer demjenigen, dass man in alle Richtungen abstrahieren kann, sollte hieraus resultieren?« Nachdem wir nun eine begriffliche Bestimmung der kulturellen Logik in den beiden vorangegangenen Kapiteln geleistet haben, müssen wir nun die Frage stellen: Reiht sich Simmels kulturelle Logik der Objekte in diesen Chor aus Meinungen ein? Anders ausgedrückt: Haben wir es auch bei Simmel letztendlich mit einer willkürlichen Abstraktion einzelwissenschaftlicher Befunde zu tun, aus denen ein übergeordnetes und eigendynamisches Geschehen konstruiert wird? Welches Bild und welcher Status eines solchen übergeordneten Geschehens ergibt sich unter dem Begriff einer kulturellen Logik der Objekte?
7.1 Die exzentrischen Welten im zentrischen Weltbild Die bis hierher unternommene Rekonstruktion der simmelschen Tragödie bestand darin, die Notwendigkeit der Möglichkeit eines Konflikts zwischen Subjekt und Kultur nicht aus einem jeweils essentiellen Wesen heraus, sondern über die jeweiligen Entwicklungslogiken zu begreifen: Die kulturelle Logik der Objekte wurde im Verhältnis zur (Entwicklungs-)»Logik der Persönlichkeit« (Simmel BuTK: 404) konzipiert. Simmel betont, dass zwar die objektive Kultur als Medium unserer Entwicklung dient, d.h., unsere »fragmentarische[n] oder gebundene[n] Impulse« aufnimmt, formt und bildet, aber ein »Parallelismus« (ebd.: 403) von Entwicklungsrichtung dieses Mediums und des Individuums keineswegs vorauszusetzen sei. Wie bereits zuvor herausgehoben, ist die Eigenlogik, um die es Simmel geht, nicht nur als Steuerungsproblem, sondern auch als Bedingung zu begreifen, die es dem Subjekt ermöglicht, über sich selbst hinauszugelangen, d.h., sich zu kultivieren. Die Intentionalität von Handlungen bzw. Handlungsfolgen übt, wie es in den Ausführungen zum Sinnüberschuss in Kapitel 5.3 erschien, für den Begriff der kulturellen Logik der Objekte die Funktion einer Leitdifferenz aus, womit es sich auch bei Simmel um eine Modellierung ex negativo handeln würde. Per se liegt hierin noch kein Problem, solange die entsprechende Modellierungsperspektive und ihre Grenzen für die Modellierung eines übergeordneten Geschehens berücksichtigt wird. Um zu prüfen, ob Simmel aber genau dies tut, soll im Folgenden die Modellierungsperspektive betrachtet werden, aus der heraus das Konzept einer Eigenlogik und ein aus ihm folgendes übergeordnetes Geschehen entwickelt wird. Wenn Simmel von der kulturellen Logik der Objekte spricht, will er sie von anderen Entwicklungslogiken unterschieden wissen. Es sei »keine begriffliche, keine naturhafte [sprich: kausale; O.H.], sondern nur [eine Logik] ihrer Entwicklung als kultureller Menschenwerke« (ebd.: 410). Ebenso wenig sei das psychologische Phänomen des Auswach-
7. Übergeordnetes Geschehen: Kultur hinter unserem Rücken?
sens von Mitteln zum Wert von Endzwecken gemeint, denn dies geschehe im Unterschied zur Eigenlogik »ohne jede feste Beziehung zu dem sachlichen Zusammenhang der Dinge« (ebd.: 411). Es scheint damit also zunächst keine den Einzelwissenschaften, also bspw. der Psychologie oder Physik, entnommene Perspektive bei der Vorstellung einer kulturellen Logik der Objekte zugrunde zu liegen. Mit Blick auf die Lebensanschauungen lassen sich diese Abgrenzungen erhellen und mit der bereits im Kapitel 3.5.2 beschriebenen »Wendung zur Idee« in Verbindung bringen. Die Wendung zur Idee bezeichnet den Umschlag der kulturellen Erzeugnisse »aus ihrer vitalen in ihre ideale Geltung unterhalb der gleitenden Übergänge des tatsächlichen Bewußtseins« (Simmel LA: 245). Es ist hier nochmals auf die Art zu verweisen, in der Simmel hier vom »Vitalen« spricht. »Vitale Geltung« meint die Dienlichkeit zu lebenspraktischen – keinesfalls nur biologisch verstanden – Zwecken und verweist auf die Verhaftung des Lebens in teleologischen Strukturen, aus denen es sich je nur partiell löst. Die Rede von der vitalen ›Geltung‹ gehört also zu der metaphysischen Hilfskonstruktion (vgl. ebd.: 295–296), mit der Simmel die Verbindung von Leben und Geist einsichtig machen will. Die Betrachtung des Lebens in vitaler Geltung geschieht ausgehend von der vollzogenen Wendung zur Idee, insofern der Geist in lebenspraktischen Zusammenhängen seine »Vorform« (ebd.: 264) der ausgebildeten kulturellen Form erblickt. Simmel verheimlicht nicht, dass dies eine »Vordatierung« (ebd.: 275) darstellt, die letztendlich aber die Möglichkeit der Kultivierung begreiflich machen soll. Er nimmt an, dass die kulturellen Formen in ihrer »embryonalen Form« (ebd.: 244) im Leben (das seinerseits gerade nicht als ›geistlos‹ gedacht zu werden braucht) lebenspraktischen Zwecken untergeordnet sind. »Die Wendung aber, mit der die idealen Gebilde sich [aus der embryonalen Form] erheben, tritt aus der ganzen Zweck-Mittel-Kategorie heraus.« (Ebd.: 247; siehe hierzu auch Amat 2015: 262) Auch wenn Handlungen mit ihnen und der Bezug auf sie intern teleologisch strukturiert bleiben, ist »das Ganze [...] nicht wieder in eine übergreifende Gesamtteleologie eingestellt« (Simmel LA: 248). Die Geltung dieser Kategorie wird in der Kultur, d.h. im Leben auf der Stufe des Geistes, relativiert. Simmels Perspektive grenzt sich damit von einer biologischen Modellierung ab, wenn betont wird, dass das Leben im Ganzen über der Teleologie steht, wenngleich es auch in seinen (zumindest auch) biologisch zu beschreibenden Zweck-Mittel-Koppelungen verankert bleibt. Der Umschlag, von dem Simmel spricht, braucht dazu in den Phänomenen selbst nicht auffällig zu sein. Es geht vielmehr um den Umschwung des Prinzips, der ihn zur »μετάβασις εἰς ἄλλο γένος« (ebd.: 245) macht (vgl. auch ebd.: 283). Nach Simmel markiert dies den Übergang zur eigentlichen Stufe der Kultur: Hier erlangt sie ihre eigene Bedeutsamkeit, die sich über so etwas wie ›Nützlichkeit‹ allein nicht mehr erklären lässt. Hiermit müssen auch naturalistische Erklärungsansätze versagen, wie sie beispielsweise im Konventionalismus und Kontraktualismus bemüht werden (vgl. hierzu auch Cassirer LdK: 407). Die Idee zieht »ihren Sinn und ihr Recht« daraus, das »Andere des Lebens« zu sein, dasjenige, das sich das Leben selbst gegenüberstellt und sich damit »aus seiner Praxis, seiner Zufälligkeit, seinem zeitlichen Verfließen, seiner endlosen Verkettung von Zwecken und Mitteln« (Simmel LA: 284) erlöst. Die Kulturgebiete und damit auch die kulturellen Objekte erlangen hier eine Freiheit im Sinne einer Freiheit vom Zweck als terminus ad quem, ohne damit auf das Prinzip der Naturkausalität als terminus a quo zurückzufallen. Simmel veranschlagt hier einen terminus a quo als »Tertium« (ebd.: 416), als eine ideale Richtungsbestimmung in der eigenen Gesetzlichkeit
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kultureller Welten. »[D]ie großen Funktionsarten des Geistes« und seine »Formungskräfte« entwickeln in je besonderem Charakter Inhalte zu einer »einem unverkenntlichen Gesamtprinzip untertanen Welt.« (Ebd.: 238) Dies sind die kulturellen Welten der Kunst, der Erkenntnis, Religion, Wirtschaft usw. Für sie gelten jeweils eigene ›Spielregeln‹, die sie als autonome Welt konstituieren und trotz der Spielräume, die sie gewähren, »den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet« (ebd.; siehe auch Kapitel 6.4 und 6.5). Ein ›übergeordnetes Geschehen‹ jenseits der intentionalen Akte der Individuen kann sich also nur auf die kulturellen Welten, auf die Entwicklung ihrer jeweiligen ideellen Geltungsformen sowie auf die historische Ausdifferenzierung und Verflechtung solcher Geltungsformen im kulturell vermittelten Weltverhältnis beziehen. Wie aber ist dieses eigendynamische Geschehen zu erfassen und in welchem Verhältnis stehen wir zu ihm, wenn wir es zu erfassen versuchen? In Kapitel 5.1 wurde Simmels Methode als symbolisches Philosophieren beschrieben, als das Vorgehen, die Formungskräfte des Geistes und das menschliche Weltverhältnis an konkreten kulturellen Objekten zu behandeln. Zur Beantwortung der in diesem Kapitel diskutierten Fragen gilt es, diese im Zuge der Philosophie des Geldes entwickelte Methode eingehender zu beleuchten. Simmel wendet sich mit dieser Methode gegen einen »abstrakte[n] philosophische[n] Systembau«, der zwar beansprucht, die Phänomene der kulturellen Welt des Menschen als Produkte des Geistes in ihrer Verbindung zueinander zu erkennen, »sich dabei [jedoch] in einer solchen Distanz von den Einzelerscheinungen, insbesondere des praktischen Daseins [hält], daß er ihre Erlösung aus der Isolierung und Ungeistigkeit, ja Widrigkeit des ersten Anblicks eigentlich nur postuliert« (Simmel PdG: 12 [Herv. i.O.]).1 Die philosophische Reflexion soll deshalb an den alltäglichen und außeralltäglichen kulturellen Phänomenen ansetzten und sich an diese binden. Die Untersuchung, die Simmel in der Philosophie des Geldes vorlegt, hat exemplarischen Charakter für die Methode. Am Geld will Simmel zeigen, wie »von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen [ist, wie] [...] diese Einzelheit [das Geld] sich nicht nur in den ganzen Umfang der geistigen Welt, tragend und getragen, verwebt, sondern sich als Symbol der wesentlichen Bewegungsformen derselben offenbart« (ebd.). In letzter Konsequenz wird das Geld als Verkörperung von symbolisch vermittelten (Welt-)Verhältnissen und deren Dynamik herausgearbeitet. Das Geld wird als »MetaSymbol« (Schlitte 2012: 336) untersucht, d.h. als Symbol für Symbole überhaupt. Dies entspricht der zuvor in Kapitel 5.1 beschriebenen dritten Symbolebene in Simmels Werk. Läuft ein solches Verfahren, bei dem die Dynamik der kulturellen Geltungsformen aus einem bestimmten Symbol heraus verstanden werden sollen, aber nicht ebenfalls auf jene eingangs des Kapitels problematisierte verallgemeinernde Abstraktion von Ein-
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Insofern hier von der kulturellen Welt im Singular gesprochen wird, sind hier nicht die späteren kulturellen Welten als autonome, eigengesetzliche Gebilde gemeint, sondern die Welt des Menschen als Lebenswelt.
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zelbefunden hinaus? Betrachten wir Simmels Vorgehen in der Philosophie des Geldes genauer. Das in der Philosophie des Geldes durchgeführte symbolische Deutungsverfahren teilt sich in zwei Bereiche, die beide jenseits der einzelwissenschaftlichen Perspektiven (Plural!) stehen. Der erste Bereich, den Simmel auch als den analytischen bezeichnet, steht logisch vor der einzelwissenschaftlichen Betrachtung. Dieser Bereich befasst sich mit den gegenstandskonstitutiven Voraussetzungen eines kulturellen Objekts – verstanden als Symbol – »in der seelischen Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeit und der Werte«, die diesem Objekt »seinen Sinn und seine praktische Stellung anweisen« (Simmel PdG: 10). Wenngleich die Geschichte damit zu einem Fundus für die philosophische Untersuchung wird, geht es Simmel nicht lediglich um die Beschreibung der historisch-zeitlichen Genese eines Symbols, sondern um seine sachlich-ideelle Konstitution. Es soll »sein ›Wesen‹ und seine ›Funktion‹ geklärt werden« (Schlitte 2012: 204). Ist hier zwar noch von der ›Bedingung der Möglichkeit‹ des Gegenstands einer Einzelwissenschaft die Rede, wird in Simmels Beschreibung deutlich, dass es nicht um eine Transzendentalphilosophie im engeren, kantischen Sinne geht. Denn es erfolgt keine klare Unterscheidung, ob hiermit erkenntnistheoretisch die gegenstandsbezugskonstitutiven Axiome einer Einzelwissenschaft (ihre Urteilsform) oder die Voraussetzungen der Existenz des Gegenstandes überhaupt angesprochen sind. Tatsächlich lässt sich bezweifeln, ob Simmel die Möglichkeit einer sauberen Unterscheidung zwischen beidem annimmt. Die Frage nach der ›Bedingung der Möglichkeit‹ wird derart verallgemeinert, sodass sie sich für jede beliebige »Manifestation des objektiven Geistes« (Köhnke 1996: 353; vgl. hierzu auch ebd.: 426 sowie Schlitte 2012: 143; Geßner 2003: 110) stellen lässt. Als Manifestationen des objektiven Geistes gelten Simmel sämtliche Produkte des kulturellen Schaffens des Menschen. Jene Manifestationen sind durchaus materiell-inhaltlich zu verstehen. Ihre ›Bedingung der Möglichkeit‹ bezieht sich entsprechend nicht nur auf eine wissenschaftliche Urteilsform über jene Manifestationen, sondern auf ihr Sein und ihre Bedeutung. Es ist den Gegenständen der Geistes- und Sozialwissenschaft eigen, »schon vor der wissenschaftlichen Betrachtung – also im sogenannten Leben – das zu tun, was die Wissenschaften im Nachhinein nur noch ausdrücken und unter Anwendung formaler Methoden vollziehen: nämlich sie sind selbstdeutend« (Orth 1993: 92). In »den Gegenständen der Geisteswissenschaft« begegnen wir »den Funktionen unserer eigenen, wirklichkeitserschließenden Subjektivität und damit einem fundamental philosophischen Problem« (ebd.). Die Logik der Objektivierung, der Konstitution sinngeladener Gegenstände und der Welten, denen sie angehören, ist in den Gegenständen objektiviert. »Eben weil das psychische Verhalten schon psycho-logisch, das soziale Interagieren schon sozio-logisch ist – nämlich selbst verhaltens- und handlungsdeutend –, verwechseln wir allfällig die Termini wie psychisch und psychologisch oder sozial und soziologisch.« (Ebd.: 109) Indem also in der Philosophie des Geldes das Geld auf seine Bedingungen und Voraussetzungen im universellen Sinne untersucht wird, findet gleichzeitig eine Reflexion über einzelwissenschaftliche Perspektiven auf das Geld statt. Im Falle der Nationalökonomie heißt dies, ihre Voraussetzungen »in nichtwirtschaftlichen Begriffen und Tatsachen« (Simmel PdG: 11) zu erhellen. Die Nationalökonomie, wie auch jede andere einzelwissenschaftliche Disziplin, vermag deshalb kein vollständiges oder erschöpfendes Bild des Geldes zu liefern, was einerseits für die Be-
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rechtigung spricht, das Phänomen Geld aus anderen Disziplinen heraus zu beleuchten, und andererseits darauf verweist, dass das Geld auch jenseits der einzelwissenschaftlichen Betrachtung ›etwas‹ ist, d.h. in unseren lebensweltlichen und lebenspraktischen Zusammenhängen (vgl. ebd.). Soll der analytische Teil der Untersuchung »das Wesen des Geldes aus den Bedingungen und Verhältnissen des allgemeinen Lebens« verständlich machen, geht es im anderen Teil »umgekehrt [darum,] Wesen und Gestaltung des letzteren [des Lebens] aus der Wirksamkeit des Geldes« (ebd.) zu begreifen. Dies ist der synthetische Bereich der Philosophie, der – um im Bild zu bleiben – logisch nach den einzelwissenschaftlichen Perspektiven folgt.2 Seine Leistung besteht darin, die stets »fragmentarischen Inhalte des positiven Wissens« aufzunehmen, in Verbindung zu bringen und durch weiterführende Begriffsbildung zu einem »Weltbild zu ergänzen«, d.h., die abstrahierenden Perspektiven der Einzelwissenschaften wieder auf die »Ganzheit des Lebens zu beziehen« (ebd.: 9). Die Philosophie erfüllt über ein solches Weltbild eine Deutungs- und Orientierungsfunktion, in der einzelwissenschaftliche Perspektiven und Wissen über die verschiedenen kulturellen Welten aufgehoben sind. Ein solches Verfahren sei als Deutung per se zu einem gewissen Grad historisch standorts- und personengebunden, kann sich also von einer individuellen Färbung und Betonung nicht befreien (vgl. ebd.: 13). Die »Personalität des philosophischen Denkens« (Simmel HP: 15) dieser Art stellt vielmehr eine Notwendigkeit dar. Denn die kulturellen Welten als autonome und ideelle Gebilde, in die sich der analytische Teil vertieft, besitzen »kein Zentrum«, sondern bilden »sich in einer kreisenden Art von irgendeinem ihre Teile heraus« (Amat 2015: 262). Der Geist überhaupt, die Kultur im Gesamten oder der objektivierte Geist, ist »nicht an die Gestaltung zur Einheit gebunden« (Simmel PuSK: 580). Matthieu Amat markiert es als den zentralen Unterschied zwischen Kant und Simmel, dass die Idee der Welt bei Kant unter der »Idee einer progressiven Synthese« stehe, die auf »der Aktivität des transzendentalen Subjekts« beruht, während bei Simmel »die kulturellen Welten nicht auf eine solche Aktivität reduziert werden können – was auch immer das Subjekt dieser Aktivität sein mag: eine Gemeinschaft, die Menschheit, ein geschichtliches Bewusstsein, usw.« (Amat 2015: 262–263). »Diese Welten sind gegenseitig keiner Mischung, keines Übergreifens, keiner Kreuzung fähig, da jede ja schon den ganzen Weltstoff in ihrer besonderen Sprache aussagt« (Simmel LA: 238), und dass es sich hier um ›denselben Weltstoff‹ handle, könnte nur »präsumtiver Weise« (ebd.) gelten. Ihren »Schnittpunkt« (Simmel BuTK: 404) finden diese Welten nur im Individuum (und nicht aus sich heraus) (vgl. auch Amat 2015: 266–268). Nur durch das leibliche Subjekt und die seelische Form ist »ein Zentrum [...] gegeben« (Simmel LA: 266), von dem aus eine perspektivische Einheit nicht nur geschaffen werden kann, sondern erforderlich ist (vgl. Simmel PuSK: 580). Es ist das »Formprinzip des philosophischen Weltbildes« eine solche »Einheit zu gewinnen«, »einen Einheitspunkt in all den Wirrnissen und Gegensätzlichkeiten der Erscheinungswelt zu bieten« (Sim-
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Auf Basis der Verortung der Philosophie vor und nach den Einzelwissenschaften tätigt Simmel in der Einleitung der Philosophie des Geldes die berühmte Aussage, dass »[k]eine Zeile dieser Untersuchung […] nationalökonomisch gemeint« (Simmel PdG: 11) sei. Für eine ausführlichere Diskussion über den Status dieser Aussage sei auf Schlitte (2012: 196ff.) verwiesen.
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mel HP: 34–35 [Herv. i.O.]).3 Das philosophische Denken ist im jeweiligen Individuum »das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins« (ebd.: 16). Anders ausgedrückt macht sich der Mensch im Philosophieren zum Medium für »die Gesamtheit der Dinge und des Lebens« und setzt diese Gesamtheit »in Begriffe und ihre Verknüpfungen« (ebd.) um. Gerade in der Vermittlung durch das leiblich-seelische Individuum ermöglicht sich die Syntheseleistung des Weltbildes, die exzentrischen Kulturwelten in einer zentrischen Perspektive zu vereinen. Dazu brauche nach Simmel aber weder immer von der Gesamtheit des Daseins gesprochen werden noch müsse diese Gesamtheit überhaupt gegeben sein. Es gehe vielmehr darum, am Einzelnen die »Beziehung zu der Totalität des Seins« (ebd.: 17) zu denken, wie auch die Geschichtswissenschaft an den überlieferten Fragmenten der Vergangenheit ein ganzes Bild dieser Vergangenheit konstruiere (vgl. ebd.; siehe auch ebd.: 25–26). Für Schlitte (2012: 466) reagiert die Philosophie damit »auf das Sinnbedürfnis des Individuums«. Treffender erscheint mir allerdings an dieser Stelle von einem Orientierungsbedürfnis zu sprechen, insofern der Orientierungsbegriff, wie zuvor dargelegt (siehe Kapitel 6.2), auf die Standortabhängigkeit und Perspektivität verweist. Als »symbolische Weltdeutung« zeigt die Philosophie uns, »wie Kultur funktioniert, und sie zeigt, wie wir als kulturelle Wesen die Welt verstehen können« (Schlitte: 2012 466). Sie macht an Bedeutung und Bedeutungsräumen explizit, was in der Kultur implizit je gegeben ist. Simmel selbst bezeichnet dies einmal als »Metaphysik des Diesseits«, als »bestimmtes Verhalten des Geistes zur Welt, als etwas Funktionelles, oder als der Ausdruck für eine gewisse Tiefendimension unterhalb der unmittelbaren Erscheinung, in der der Geist deren Sinn u. Verknüpftheit findet – aber nicht ein Substantielles, ein Einheitlich-Absolutes, nicht ein zu handhabender Schlüssel, der alle Türen öffnet« (Simmel Briefe: 872 [Herv. i.O.]). Der synthetische Teil der Philosophie richtet sich auf den Stoff der Kultur im Ganzen, aber nicht von einem absoluten, jenseitigen Standpunkt aus. Die Philosophie begreift sich selbst als kulturimmanent (vgl. Schlitte 2012: 173). Deshalb verwehrt sich Simmel des Versuchs eines Systembaus gegenüber der Kultur im Ganzen. Seine Metaphysik ist mehr ein »Spiel« (ebd.: 208) denn ein auf Systematik ausgerichteter Prozess. Sie begreift die Sinnstrukturen der Kultur nicht als etwas Transzendentes oder aus dem Transzendenten Gespeistes, sondern die Kultur selbst ist »eine Art Sinngeflecht, das ausgelegt werden kann« (ebd.: 449). Wie der analytische Teil dieses Geflecht auftrennt und untersucht, wie verschiedene Symbolebenen (siehe Kapitel 5.1) und Bedeutungsdimensionen sowie ihre logischen und materialen Konstitutionsbedingungen in ihm verwoben sind, wie sie sich »tragend und getragen« (Simmel PdG: 12) überschneiden, führt der synthetische Teil dieses Geflecht wieder zusammen, versucht es zu einem anschaulichen und vertieften Bild unserer Welt zu gestalten, der Welt, in der wir leben, handeln, denken, fühlen und uns
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Terminologisch hält Simmel die Unterscheidung zwischen der an die Form der perspektivischen Einheit gebundenen Seele und dem aperspektivisch-exzentrischen Geist nicht aufrecht, ihrem Sinn nach zieht sie sich diese Unterscheidung dennoch durch Simmels Werk hindurch.
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orientieren. »Weil laut Simmel nun aber die Kultur immer als ein solcher symbolischer Zusammenhang denkbar ist, auch wenn dies von niemandem bewusst intendiert wurde, kann er daraus die Berechtigung ableiten ein symbolisches Deutungsverfahren auf jeglichen Kulturgegenstand anzuwenden.« (Schlitte 2012: 449) In dem Sinngeflecht der Kultur wirken »viele bewusste und unbewusste Prozesse« (ebd.) zusammen, intentionale und nicht-intentionale Effekte, die unter jeweiligen Nebenbedingungen sowie tradierten und je veränderten Formen zustande gekommen sind, einer beinahe unbegrenzten Zahl von Akteur:innen vermischen sich. Die symbolische Deutung der Kulturobjekte zeigt, dass die geschaffenen Werke und Gebilde nicht gänzlich auf Intentionen der Subjekte zurückgeführt werden können und ihre »wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist« (Simmel BuTK: 406 [Herv. i.O.]). Stets findet sich eine »gewisse Quote« an Bedeutung, »die wir nicht geschaffen haben«, »Akzente, Relationen, Werte, rein ihrem Sachbestande nach« (ebd.: 406–407), unabhängig von subjektiven Intentionen. Als »materielles Gebilde« besitzt die kulturelle Schöpfung einen »geistige[n] Sinn«, der »objektiv« und für jeden »reproduzierbar [...] an der reinen eigensten Tatsächlichkeit dieser Form haftet« (ebd.: 407). Was wir die transzendentale Syntheseleistung nennen können, ist hier weder allein im Subjekt noch allein in einem anonymen objektiv-kulturellen Geschehen zu verorten. Zwar nicht im »absoluten Sinne, überall aber im relativen« gilt, so Simmel mit den Worten Heinrich Heines: »Was er webt, das weiß kein Weber.« (Ebd.: 407) Es geht Simmel, wie bereits unter Kapitel 5.3 herausgestellt, um die Form und Wirksamkeit eines »Sinnüberschuss[es]« (Schlitte 2012: 449), der im Schaffensprozess und der Interaktion von Menschen in Symbolsystemen notwendigerweise entsteht. »Die Beziehungen, die sich in Symbolen manifestieren, werden durch die Wirkmacht der Symbole gleichzeitig auch verändert. Symbole drücken nicht nur gesellschaftliche Beziehung aus, sie erzeugen sozialen Sinn. Sie sind nicht nur gesellschaftliche Ordnungs-, sondern auch Orientierungsinstrumente.« (Schlitte 2012: 446) Hinzuzufügen ist, dass es nicht allein um sozialen Sinn geht, der von Symbolen kreiert und geformt wird, sondern um jegliche Bedeutungsdimensionen der menschlichen Weltverhältnisse. Es ist also nicht erforderlich, auf die Intention von Akteur:innen zurückzugehen, um an Symbolen Weltverhältnisse und ihre Wirksamkeit bzw. Möglichkeit dieser Wirksamkeit auf diese Weltverhältnisse abzulesen. Aus dieser Perspektive kann Simmel das, was sich in der Deutung der Symbole als der Intentionalität Jenseitiges zeigt, aber auf die Bedingungen, unter denen die Individuen sich orientieren, ihren Willen und Handlungspläne ausbilden, zurückwirkt, unter dem Begriff der kulturellen Logik der Objekte modellieren. Theodor W. Adorno kommentierte Simmels Ansatz spöttisch als »Fähigkeit und Bereitschaft, über alles und jedes zu philosophieren« (Adorno 1974: 561). Doch wenn Adorno Simmel vorwirft, die Phänomene der Kultur zu ästhetisieren und der Spannung zu den bestehenden Verhältnissen zu entheben (vgl. ebd.: 559), verkennt er gerade die Pointe der symbolischen Untersuchung, die neben den lebensweltlichen, materiellen und geistigen Konstitutionsbedingungen der kulturellen Objekte im synthetischen Teil auch auf ihre (Rück)Wirkung »auf das Lebensgefühl der Individuen, auf die Verkettung
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ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur« (Simmel PdG: 10) abhebt. Im synthetischen Teil schreitet die philosophische Untersuchung das lebensweltliche Wissen und den einzelwissenschaftlichen Kenntnisstand aufgreifend im »allgemeinen Überschlag« (ebd.) künftigen einzelwissenschaftlichen Untersuchungen in dieser Richtung voran. Es sind weniger Hypothesen, die sich empirisch überprüfen lassen, die die Philosophie an dieser Stelle liefert. Sie eröffnet und konstituiert hier vielmehr Suchräume der einzelwissenschaftlichen Fragestellung. Zahlreiche Auswirkungen der Geldwirtschaft auf die Kultur und das Leben der Menschen können auf dieser Basis ökonomisch, psychologisch oder soziologisch erforscht werden. Hier könnte die Philosophie als »vorläufige Wissenschaft« (Simmel PrGP: 328) verstanden werden, die künftige Forschungsfragen ausmacht und vorläufige Antworten bietet, doch wehrt sich Simmel dagegen, die Philosophie zum reinen ›Platzhalter‹ zu reduzieren. Für den synthetischen Teil der philosophischen Untersuchung der kulturellen Symbole bestehe eine prinzipielle Uneinholbarkeit durch die positiven Wissenschaften. Zu den Rückwirkungen der Kulturphänomene auf das Leben zählt Simmel auch etwas, das er als »seelische Verursachungen« bezeichnet, die ausschließlich Gegenstand einer »hypothetischen Deutung« (Simmel PdG: 10) sein könne und nicht von den positiven Wissenschaften zu leisten sei. Es lässt sich deshalb ausschließen, dass Simmel hiermit psychologisch zu erklärende Effekte im Sinn hat, würden wir uns doch sonst wieder im Bereich der Einzelwissenschaft und kausaler Hypothesen bewegen. Zumal in der Regel nicht die Psyche als Gegenstand der Psychologie im engeren Sinne gemeint ist, wenn Simmel von »Seele« oder »seelisch« spricht.4 Wenn bezüglich dieser ›seelischen Verursachungen‹ bspw. von der »Verzweigung des Geldprinzips mit den Entwicklungen und Wertungen des Innenlebens« (ebd.: 11) gesprochen wird, muss folglich etwas anderes gemeint sein als psychologisch zu erklärende Phänomene. Für Schlitte beinhaltet Simmels symbolische Untersuchung des Geldes an dieser Stelle eine »gewisse Ungenauigkeit«, die dadurch entsteht, dass »Geld Symbol für das Weltverhältnis des Menschen überhaupt sein soll, aber auch für eine bestimmte historische Gesellschaftsformation« (Schlitte 2012: 333). Diese vermeintliche Ungenauigkeit erscheint mir vielmehr als eine dem Gegenstand geschuldete Notwendigkeit, weil das menschliche Weltverhältnis überhaupt je nur an einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation (bzw. an einem Symbol dieser) herauszulesen ist, so wie umgekehrt die »spezifisch moderne[...] Erfahrungsweise« (ebd.) nur vor dem Hintergrund des menschlichen Weltverhältnisses überhaupt zu begreifen ist (vgl. auch Orth 1993: 94). Auch deshalb ist die Formulierung zumindest irreführend, wenn Schlitte davon spricht, dass Simmel eine »psychologische Beschreibung« dieser »Erfahrungsweise« (Schlitte 2012: 333) biete. Im Vordergrund steht nämlich nicht das psychische Erleben, sondern das spezifische Weltverhältnis, das dieses
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In dem ungefähr zur selben Zeit wie die Philosophie des Geldes entstandenem Essay Persönliche und Sachliche Kultur heißt es, der »Geist ist der objektive Inhalt dessen, was innerhalb der Seele in lebendiger Funktion bewußt wird; Seele ist gleichsam die Form, in der der Geist d. h. der logischsachliche Inhalt des Denkens für uns lebt« (Simmel PuSK: 580).
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Erleben ermöglicht.5 Konkret nämlich, wie Symbole über die in ihnen verkörperten Formen und Formungsprinzipien sowie den Geltungsanspruch dieser Prinzipien als ideelle Objektivität auf die theoretische und praktische Lebensgestaltung der Individuen wirken, wie sie für die Individuen zu verinnerlichten weltkonstitutiven, welterschließenden und orientierenden Mitteln werden. Oder verkürzt ausgedrückt: Wie die kulturelle Logik der Objekte das Leben der Individuen prägt. Insofern sich aber beide Teile der Philosophie, der analytische und der synthetische, als symbolische Deutung der Kultur jenseits der Einzelwissenschaften halten, liefern sie »kein sicheres Wissen« (Schlitte 2012: 205) – zumindest nicht im Sinne eines Wissensbegriffs der positiven Wissenschaften (vgl. Simmel HP: 29). Wird auch hier wieder deutlich, wie sich Simmels Kulturphilosophie von einzelwissenschaftlichen Modellierungen eines übergeordneten Geschehens abgrenzen will, stellt sich dennoch die Frage, welcher Anspruch sich noch mit der philosophisch-symbolischen Deutung der Kultur und einem auf ihr aufbauenden Weltbild verknüpft, in dem je auch ein übergeordnetes kulturelles Geschehen beschrieben werden soll. In Hauptprobleme der Philosophie adressiert Simmel genau diese Frage des Wahrheitsanspruches der Philosophie, gelangt aber zu einer äußerst unbefriedigenden Lösung. Die philosophischen Weltbilder drücken weder etwas rein Individuelles (das ja sonst nicht allgemein verständlich wäre) noch etwas Objektives (das ja sonst von allen geteilt werden müsse) aus, sondern »ein Drittes«, »die Schicht der typischen Geistigkeit in uns« (ebd.: 28 [Herv. i.O.]). Das Weltbild wird zu einer reinen charakterlichen Typfrage reduziert. Philosophische Wahrheit sei mit der »künstlerische[n] ›Wahrheit‹« (ebd.) vergleichbar, insofern ›Wahrheit‹ hierfür überhaupt noch der angemessene Begriff sei, wie Simmel an dieser Stelle zugesteht (vgl. ebd.: 30). Schlitte (2012: 169–172) bewertet diese Vorstellung des philosophischen Anspruchs, die immerhin droht, Simmels gesamter Methode eine universelle Relevanz zu nehmen, als eine vorübergehende Bestimmung, die von jener in der zeitlich späteren Einleitung zu Philosophische Kultur abgelöst wird. Es scheint jedoch fraglich, ob dies zutrifft. Denn Simmel kommt in seinem letzten großen Werk, den Lebensanschauungen, auf den Gedanken zurück, dass die philosophischen Weltbilder lediglich vom »charakterologischen Typus« (Simmel LA: 237) einer Person abhängig sind. Unabhängig davon, ob und inwiefern Simmel sein Philosophieverständnis in diesem Punkt revidiert, lässt sich doch eine andere, stärkere Lesart entwickeln, nämlich insofern Simmel seinen eigenen philosophischen Entwurf von anderen Weltbildern auf inhaltlicher und methodischer Ebene unterscheidet.6 Denn: An der Behandlung der philosophischen Weltbilder in Hauptprobleme der Philosophie fällt die Art und Weise auf, in der Simmel hier die philosophische Abstraktionsebene beschreibt:
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Dieser Aspekt verweist auch auf Simmels Begriff des Lebensstils, den ich an dieser Stelle aber nicht mehr ausarbeiten kann. Für künftige Forschungen dürfte dies jedoch ein fruchtbarer Anknüpfungspunkt sein. In eine ähnliche Richtung argumentiert Geßner (2003: 281–282), wenn er darauf verweist, dass Simmel seinen eigenen Relativismus mit einer Relativierung zu anderen philosophischen Prinzipien »nicht zerstört« (Simmel PdG: 117), sondern vielmehr bestätigt sieht.
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»Wir haben in den philosophischen Ideen oft genug Allgemeinheiten, die aber nicht die Allgemeinheiten von Besonderem sind; sondern, aus ihrer Höhe zu diesen herabsteigend, verlieren sie die Giltigkeit, die wir ihnen zusprechen, solange sie in ihrer eigenen Sphäre verbleiben und an deren Kriterien, aber nicht an denen der singulären Erfahrbarkeit, gemessen werden.« (Simmel HP: 37) Zwar äußert Simmel dies vor dem Hintergrund, dass die philosophischen Weltbilder eben der »reflektierende[...] Ausdruck für die Art [sei], wie sich je einer der großen geistigen Typen dem Eindruck von Leben und Welt gegenüber verhält« und nicht die »Allgemeinheit der singulär betrachteten Dinge« (ebd.: 42). Doch widerspricht ein solches Denken, das im Allgemeinen verbleibt und gerade nicht stimmig zum Besonderen, zu den alltäglichen Phänomenen und Erfahrungen hinabsteigen kann, offensichtlich grundsätzlich seinem eigenen, bereits in der Philosophie des Geldes formulierten programmatischen Ansatz. Dieser richtet sich, wie zuvor ausgeführt, gerade gegen einen philosophischen Systembau, dem die Einzelerscheinungen der Kultur letztlich äußerlich bleiben. Wie Geßner hervorhebt, ist es gerade die »Absage an die Systemform«, die es der Philosophie erlaubt, sich »wieder den Phänomenen [zu] öffnen« (Geßner 2003: 264–265). Eine solche Philosophie findet ihr Wesentliches nicht an einem inhaltlichen Endpunkt, den sie erreichen oder verfehlen kann, sondern im »Prozeß«, in dem sich »eine bestimmte geistige Attitüde zur Welt und zum Leben« (Simmel EPK: 162) ausdrücke. Gleichwohl, ohne die Inhalte könne »freilich der philosophische Prozeß als solcher und abgelöster nicht verlaufen« (ebd.). Nur an diesen kann sich die »philosophische[...] Haltung« (ebd.: 166) abarbeiten. Einem solchen lebendigen Denken sind allerdings »seine Gegenstände von vornherein unbegrenzt« (ebd.: 163). Es geht Simmel hier um eine »Akzentverlegung«, weg »von dem terminus ad quem der philosophischen Bestrebung«, einem metaphysischen System oder argumentativ abgesicherten Gedankengebäude, »auf ihren terminus a quo« (ebd.: 165). Diese Akzentverlegung geht mit der Voraussetzung – oder der selbst auferlegten Beweislast – einher, dass es sich um »es sei ein Vorurteil [handelt], daß die Vertiefung von der Oberfläche des Lebens her, das Aufgraben der je nächsten Ideenschicht unter jeder seiner Erscheinungen, das, was man deren Sinngebung nennen könnte – notwendig auf einen letzten Punkt führen müsse und haltlos in der Luft schwebe, wenn es nicht von einem solchen her seine Richtung bekäme« (ebd.: 166 [Herv. i.O.]). Das Philosophieren finde seine Berechtigung in seiner vektoriellen Ausrichtung und weniger in einem sicheren, herausgearbeiteten Inhalt. »Die Ergebnisse der Bemühungen mögen fragmentarisch sein, die Bemühung ist es nicht.« (Ebd.) So stellt es für Simmel kein Problem dar, wenn das erarbeitete Weltbild wegen seiner Kulturimmanenz und seiner Konkurrenz zu anderen Bildern nie das Ganze der Kultur absolut in den Blick bekommen könne, also vom Anspruch auf ›das letzte Wort‹ absehen muss (vgl. hierzu auch Schlitte 2012: 466–467 und Geßner 2003: 281–282). Liegt aber nicht auch in dieser Art der Relativierung die Gefahr, der Willkür Tür und Tor zu öffnen? Verbirgt sich in der von Simmel geforderten ›philosophischen Haltung‹, dem Aufgraben von Schichten, ohne je an ein Ziel kommen zu müssen, nicht vor allem eine sehr bequeme Haltung? Frei nach
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Hegel ließe sich sagen, mein Weltbild sei eben meins, es »ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke« (Hegel 1979: 29). So wähle ich willkürlich einen Ausgangspunkt und erkläre mir hierüber die Kultur im Ganzen. Um Widersprüche zu anderen Weltbildern bräuchte ich mich nicht zu scheren. Wäre das nicht genau jene Art willkürlich vollzogener Abstraktion mit einer anschließenden Verallgemeinerung, die wir als Grundmuster der technikdeterministischen Problematik identifiziert haben? Was heißt es denn genau, philosophisch ›zu graben‹?
7.2 Philosophieren als Graben Genau ein solches Verfahren der willkürlichen Abstraktion macht Hans-Joachim Lieber (1974) Simmel vornehmlich mit Blick auf dessen formale Soziologie zum Vorwurf. Das Problem in Simmels Ansatz liegt für Lieber darin, dass eine methodische Polarität zwischen einer ahistorischen Wesensform und historisch-singulären Erscheinungen aufgezogen wird. Während Philosophie und (formale) Soziologie den historischen Inhalt aus ihrem Gebiet verbannen, um sich ausschließlich auf die der Geschichte enthobenen Formen zu konzentrieren, gerinnen diese zum metaphysischen Prinzip (vgl. Lieber 1974: 78–81). Jedoch führe nicht allein die daraus folgende Ohnmacht beider Disziplinen für den gesellschaftlichen Fortschritt zu Schwierigkeiten, denn in Liebers Augen weise das Konzept selbst Defizite und Widersprüche auf. Simmel versucht sich bei der Gegenstandsbestimmung der Soziologie an Kant zu orientieren. Wenn er aber fragt »Wie ist Gesellschaft möglich?« – so wie Kant diese Frage für den Gegenstand Naturwissenschaften stellte –, um so ein ›Apriori‹7 der Soziologie zu gewinnen, verfehle er laut Lieber jedoch Kants Ansatz bereits. Denn wenn diese Frage als die nach einer Möglichkeit der objektiven Form der subjektiven Seele ausgelegt wird, sei ihre Antwort nicht kantisch erkenntniskritisch, sondern ontologisch und psychologisch.8 Für Kant ergibt sich die erfahrungsgegenständliche Einheit der Natur aus der funktionalen Einheit des Bewusstseins im »ich denke«. Im Falle Simmels hingegen werde nicht nach der Gesellschaft als Gegenstand, sondern nach deren Sein gefragt, wenn diese als Bewusstseinsphänomen der vergesellschafteten Subjekte gefasst wird (vgl. ebd.: 83–84). Nach Lieber sei das, wonach Simmel frage, »das psychisch-intellektuelle Vermögen der Subjekte, als realer Elemente des Seins der Gesellschaft, von sich als vergesellschafteten Subjekten zu wissen« (ebd.: 84). Damit wäre zum einen die Gesellschaft intellektualisiert, indem sie auf das jeweilige Bewusstsein der Subjekte von ihr reduziert wird und zum anderen werde die kantische Frage in eine vorkritisch-ontologische umgewendet. So werde also versucht, zu fassen, was »jeder Mensch als elementares, reales Substrat je möglicher Gesellschaft mitbringen muß, damit sein Bewusstsein,
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Wie viele seiner Zeitgenossen verwendet Simmel den substantivierten Ausdruck ›Apriori‹ für die (formenden) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung respektive der Gegenstände der Erfahrung. Lieber berücksichtigt hier jedoch nicht Simmels Abrücken von solcherlei psychologistischen Positionen mit der zweiten Auflage der Probleme der Geschichtsphilosophie (vgl. hierzu auch Schlitte 2012: 141).
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vergesellschaftet zu sein, entstehen kann« (ebd.: 85). Diese apriorischen Kategorien als das Formale der Gesellschaft seien dann aber sowohl Bedingungen der Realisierung des Wissens um die Vergesellschaftung als auch deren sozial-ontische Ursache. Dem formalen Prinzip werde auf diese Weise unbemerkt Materiales beigemischt. Dadurch gehe einerseits die Differenz zwischen Form und Inhalt verloren, während vordergründig eine Einteilung zwischen der Substanz, also dem Formalen, und dem Akzidentiellen, dem Materialen, der Gesellschaft vorgenommen werde (vgl. ebd.: 85–86). Die Soziologie »gründet damit, so wie Simmel sie konzipiert, in der Annahme der historischen Invarianz und Allgemeinheit der Gesellschaftssubjekte, in der Annahme, daß das Subjekt als Gesellschaftselement zugleich Allgemeinsubjekt ist und nur als solches sowohl Bedingung der Möglichkeit und Einheit der Gesellschaft, als auch Untersuchungsobjekt wird« (ebd.: 87). Dies bedeutet nichts anderes, als dass hierbei ein anthropologisches Fundament für die Bestimmung des Gegenstandes der Soziologie in Anschlag gebracht werde. Zum größten Problem wird dabei aus Liebers Sicht, wie Simmel jene Kategorien oder Formen der Vergesellschaftung auffindet. Die kantische transzendentalphilosophische Methode scheint ausgeschlossen: »So bleibt dann nur der Weg, aus der singulär-konkreten Fülle gesellschaftlichen Seins und Bewußtseins der Individuen durch Abstraktion ein Generelles herauszuheben und dieses durch Abstraktion allererst methodisch gewonnene Generelle als sozialontische Apriorität anzusetzen.« (Ebd.: 88) Der Vorwurf lautet also, dass eine solche Vorgehensweise ausschließlich auf das empirisch vorliegende gesellschaftliche Material zurückgreifen kann und an diesem in naiver und willkürlicher Weise jeweilige Aspekte herausgreift, abstrahiert und verallgemeinert. So ist bereits aufgrund dieser Methode der Anspruch, »sozialontische Aprioritäten« zu beschreiben (deren Status selbst fraglich bleibt), niemals zu erreichen, weshalb Simmel hier in einen »unkritischen Dogmatismus« (ebd.: 88) abdrifte. Mit diesem Verständnis des Formbegriffs erscheint es Lieber so, als führe Simmel im weiteren Verlauf einen zweiten, nunmehr realen, materialen Formbegriff ein – ohne ihn vom ersten zu unterscheiden –, um so den bewusstseinsunabhängigen Aspekt der Gesellschaft erklären zu können. Auch hierbei kritisiert Lieber die vorgenommene Abstraktion der formalen Wechselwirkung aus der historisch-sozialen Wirklichkeit und deren Hypostasierung zur ontologischen Substanz der Gesellschaft. Durch diese Trennung des Inhalts von den Formen sei wiederum gleichzeitig deren Erfahrungsgrundlage entfallen. Weiter mache es diese metaphysische Trennung von Form und Inhalt letztlich unmöglich, nach deren historischen Zusammenhang zu suchen (vgl. ebd.: 90–91). Damit »ist ihr jedoch jedes utopische Element genommen, das noch so etwas, wie eine bessere oder vollkommenere Gesellschaft anzielt« (ebd.: 103). Simmel erscheint bei Lieber überraschenderweise also weniger als Relativist, denn als naiver Dogmatiker. Gleichwohl diese Kritik aus einigen Missverständnissen – allen voran der Pointe, dass das Symbol als materielle Verkörperung eines Verhältnisses begriffen wird – und
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der fehlenden Berücksichtigung der späteren Schriften Simmels herrührt, nötigt sie dazu, Simmels Methode zu präzisieren. Es droht andernfalls, dass die Philosophie als symbolische Deutung zu jenen kritisierten Typen eines Technikdeterminismus verkommt, die Geltungsbedingungen einer Abstraktion unreflektiert überziehen. Zunächst gilt es deshalb, Simmels Begriff des »Apriori« zu untersuchen. Dafür sei ein etwas längerer Abschnitt aus der Philosophie des Geldes angeführt und kommentiert: »Gewiss ist jeder wirtschaftliche Vorgang nur aus einer besonderen historisch-psychologischen Konstellation verständlich herzuleiten. Allein solche Herleitung geschieht immer unter der Voraussetzung bestimmter, gesetzmäßiger Zusammenhänge; wenn wir nicht oberhalb des einzelnen Falles allgemeine Verhältnisse, durchgängige Triebe, regelmäßige Wirkungsreihen zum Grunde legten so würde es gar keine historische Ableitung geben können, vielmehr das Ganze in ein Chaos atomisierter Vorkommnisse auseinanderfallen. Nun kann man aber weiterhin zugeben, dass jene allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die die Verbindung zwischen dem vorliegenden Zustand oder Ereignis und seinen Bedingungen zu knüpfen ermöglichen, auch ihrerseits von höheren Gesetzen abhängen, so dass sie selbst als nur historische Kombinationen gelten dürfen; zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse und Kräfte haben die Dinge um und in uns in Formen gebracht, die, jetzt als allgemein und überhistorisch gültig erscheinend, die zufälligen Elemente der späteren Zeit zu deren besonderen Erscheinungen gestalten.« (Simmel PdG: 112 [Herv. O.H.]) Die allgemeinen Verhältnisse bzw. allgemeinen Gesetzmäßigkeiten sollen es ermöglichen, die Verbindung eines Ereignisses mit seinen Bedingungen – hier zu lesen als Verwirklichungsbedingungen – herzustellen, also zu erkennen. Simmel beschreibt, in heutiger Terminologie ausgedrückt, das Verhältnis von Type und Token oder Schema und Aktualisierung. Angesetzt wird hierbei mit der Herleitung des Falles aus den allgemeinen Verhältnissen. Zu denken ist dies als Urteil der Form X ist Y, in dem ein Etwas als etwas identifiziert wird. Im vorliegenden Beispiel ist dies auf ermöglichender Grundlage der Verhältnisse der Geldwirtschaft ein konkreter Tauschakt als solcher, d.h. als Token eines bestimmten Types. Wenn nun weiter der Type es ermöglicht, die Verwirklichungsbedingungen des Tokens zu bestimmen, geschieht dies im »Wirklichkeitsraum der Realisierung möglicher Zwecke« (Hubig 2011c). Eine technische Infrastruktur (Waren, Geldwirtschaft, Märkte, …; äußere Medialität) bildet zusammen mit den ihr zugrundliegenden Funktionsideen (also Schemata/Types; innere Medialität) die ›Spuren für…‹, d.h. die Bahnen für eine Aktualisierung der Möglichkeit als instrumentelles Handeln, in dem Verwirklichungsbedingungen nun gekoppelt und genutzt werden, sodass am Ende der wirtschaftliche Vorgang steht. Der Token selbst zeigt nun je ein ›Mehr an Eigenschaften‹ als ›Spuren von…‹ des Mediums und damit je eine Differenz zur abstrakten Funktionsidee. Zu denken ist hier an unbeabsichtigte Nebeneffekte durch die verwendeten Mittel, Sanktionen für mögliche Übertretungen der kulturellen Gepflogenheiten bzw. rechtlicher Bestimmungen oder erfahrene Widerständigkeit durch leibliche und/oder natürliche Bedingungen. Über abduktive Schlüsse kann mittels dieser ›Spuren von…‹ die Verfasstheit des Mediums weiter bestimmt werden, was wiederum Anstoß für eine weitere technische Überformung des Mediums sein kann, um das Gelingen des Prozessierens zu
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sichern (vgl. ebd.). In diesem Schritt zeigen sich die Bedingungen einer Aktualisierung negativ als Widerständigkeiten. Ebenso können die zusätzlichen Effekte der Aktualisierung Veränderungen von Funktionszusammenhängen und Ideen bewirken. Dies beschreiben jene höheren Gesetzmäßigkeiten, die allgemeine Verhältnisse (Types) wiederum auf Ereignisse zurückführen.9 Das Verhältnis jener allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zu den einzelnen Ereignissen präsentiert sich als Modalgefälle von potenzieller Ermöglichung, realer Ermöglichung und Aktualisierung. »Während also diese beiden Methoden [Ableitung des Tokens aus dem Type und Ableitung des Types aus Einzelereignissen/Tokens; O.H.], dogmatisch festgelegt und jede für sich die objektive Wahrheit beanspruchend, in einen unversöhnlichen Konflikt und gegenseitige Negation geraten, wird ihnen in der Form der Alternierung ein organisches Ineinander ermöglicht: jede wird in ein heuristisches Prinzip verwandelt, d.h. von jeder verlangt, dass sie an jedem Punkte ihrer eigenen Anwendung ihre höherinstanzliche Begründung in der anderen suche.« (Simmel PdG: 112) In der Vorrede der Philosophie des Geldes ordnet Simmel die beiden Methoden den beiden Grundpositionen des Idealismus und des Materialismus zu (vgl. ebd.: 13). Weiter heißt es dort, Simmel beabsichtige, dem »historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen« (ebd.). Diese Losung besagt nicht, dass die materialistische Analyse verworfen werden soll, sondern eben nach einer Deutung ideeller Gebilde durch ökonomische eine weitere Deutung dieser durch tieferliegende ideelle Strukturen anzuschließen und in einem solchen Wechselspiel fortzufahren, ohne zuletzt auf einen absoluten, substantiellen Grund zurückzugehen (vgl. ebd.). Dieses Modell überträgt Simmel auf die Frage nach dem (Status des) Apriori: »Nicht anders steht es mit dem allerallgemeinsten Gegensatz innerhalb unseres Erkennens: dem zwischen Apriori und Erfahrung. Dass alle Erfahrung außer ihren sinnlich-rezeptiven Elementen gewisse Formen zeigen muss, die der Seele innewohnen und durch die sie jenes Gegebene überhaupt zu Erkenntnissen gestaltet – das wissen wir seit Kant. Dieses, gleichsam von uns mitgebrachte Apriori muss deshalb für alle möglichen Erkenntnisse absolut gelten und ist allem Wechsel und aller Korrigierbarkeit der Erfahrung, als sinnlich und zufällig entstandener, entzogen. Aber der Sicherheit, dass es derartige Normen geben muss, entspricht keine ebenso große, welche denn es sind. Vieles, was eine Zeit für apriori gehalten hat, ist von einer späteren als empirisches und historisches Gebilde erkannt worden. Wenn also einerseits jeder vorliegenden Erscheinung gegenüber die Aufgabe besteht, in ihr über ihren sinnlich gegebenen Inhalt hinweg die dauernden apriorischen Normen zu suchen, von denen sie geformt ist – so besteht daneben die Maxime, jedem einzelnen Apriori gegenüber (darum aber keineswegs dem Apriori überhaupt gegenüber!) die genetische Zurückführung auf die Erfahrung zu versuchen.« (Simmel PdG: 112–113)
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Wobei Simmel hier nicht präzise unterscheidet, ob mit jenen höheren Gesetzmäßigkeiten die Ereignisse selbst gemeint sind oder jene nach denen diese Ereignisse zu verstehen sind bzw. in welchem Verhältnis beides zueinandersteht.
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Simmel betrachtet den Übergang zwischen empirischer und apriorischer Bestimmung der konstitutiven Bedingungen der Erfahrung als fließend oder vielmehr wechselnd. D.h., ›Apriori‹ sind bei Simmel paradoxerweise durchaus auch durch Erfahrung zustande gekommen. Dennoch besitzen sie eine formende Funktion für unsere Erfahrung und zwar in wissenschaftlicher und alltäglicher bzw. lebensweltlicher Hinsicht. Wie auch Cassirer vollzieht Simmel damit die kulturphilosophische Universalisierung des Grundsatzes der Erkenntniskritik, d.h. die Ausdehnung auf die Geisteswissenschaften und untergeordnete Wissensgebiete sowie andere (nicht-wissenschaftliche) Bereiche des menschlichen Lebens und der Praxis (vgl. u.a. Geßner 1996a: 18; Schlitte 2012: 140–143). Was sich zuvor immer wieder andeutete und implizit vorausgesetzt wurde, dass die mediale Funktion der Formen eine (relative) apriorische Funktion bedeutet, wird hier explizit bestätigt und herausgestellt. Die Formung bestimmt also unsere Erfahrung und formen ihre Gegenstände durchaus vergleichbar mit deren Funktion bei Kant. Die »Herrschaft der Verbindungsformen über das Tatsachenmaterial« (Simmel PrGP: 238) geht für Simmel hier sogar noch weiter, wenn die Trennung von empirischen und apriorischen Formen in ihrer Bedeutung relativiert wird. Denn »für die speziellen Wissenszweige« wie eben jene der Geisteswissenschaften haben jene Formen auch dann »noch die volle Formungskraft […], wenn sie, von den höheren aus gesehen, die die kantische Untersuchung allein in Betracht zieht, schon empirisch sind« (ebd.). »[D]as Kantische Apriori, das ›Erfahrung überhaupt erst möglich macht‹, [ist] nur die äußerste Stufe einer Reihe [...], deren niedere tief in die Einzelgebiete der Erfahrung hinunterreichen. Sätze, die, gleichsam von oben gesehen empirisch sind, d.h. eine Anwendung der allgemeinsten Denkformen auf spezielles Material darstellen, können für ganze Provinzen des Erkennens als Apriori funktionieren.« (Ebd.: 237–238) Es ergibt sich also ein Abstufungsmodell apriorischer Funktionen, die ihre Bestimmung und Funktion je in Relation zu bestimmten Erfahrungs- und Praxisformen besitzen. Die »Trennung [von Apriori und Empirischem; O.H.] als Methode, Prinzip, Kategorie [bleibt] völlig aufrecht erhalten […] und die Diskussion [betrifft] nur die Inhalte […], die die als apriorisch bezeichneten Funktionen üben« (ebd.: 238). Sie wird auf diese Weise rein funktional oder heuristisch und damit abhängig von der jeweiligen Fragerichtung. Der Anspruch aber, Gültigkeitsbedingungen für die Erfahrung und Praxis darzustellen, bleibt trotz dieser Relativierung erhalten (vgl. Schlitte 2012: 139). In seinen Kant-Vorlesungen wendet sich Simmel dabei deutlich gegen eine Psychologisierung10 der apriorischen Formen bei Kant und betont ihren Charakter als »die innere Bedingung der einzelnen Erkenntnis« gegenüber »zeitlich vorangehende[n] Ursachen« (Simmel KVL: 36 [Herv. i.O.])
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Damit revidiert Simmel nicht nur damit frühere Fassungen seiner Geschichtsphilosophie. Interessanterweise lehnt Simmel in diesem Zuge auch eine Deutung biologischer Gegebenheiten, wie beispielsweise der Aufbau der Netzhaut, als transzendentale Bedingungen unserer Erkenntnis als unkantisch ab (vgl. Simmel KVL: 39) und wendet sich damit wohl indirekt gegen entsprechende Tendenzen in der Biologie, wie beispielsweise bei dem von Cassirer rezipierten Jakob Uexküll (1973). Allerdings zeigt Simmel an anderer Stelle, vor allem in den Lebensanschauungen, durchaus Nähe so solchen Ansätzen.
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wie bei der Vorstellung angeborener Ideen. Ansonsten würde die Frage nach der Bedingung der Erfahrung zu einem Problem der induktiven Psychologie, die prüfen müsste, ob eine solche Bedingung allgemein-menschlich gegeben wäre. Das kantische Apriori steht aber auf einer anderen Ebene: »Die ›Allgemeinheit und Notwendigkeit‹ des Apriori, die psychologisch gesehen etwas Quantitatives ist, zeigt sich erst so als der Ausdruck für eine bestimmte qualitative Wertigkeit von Erkenntniselementen, und die Feststellung, daß dies und jenes eben ein Apriori des Wissens wäre, kann damit eine klare, sachliche, logisch zugänglichere werden.« (Ebd.: 37)11 In diesem Sinne steht weniger das »Subjekt« im Fokus der Vernunftkritik, sondern »die vorliegende Wissenschaft« als »gewisse Synthesen und Einheitsprinzipien, Weiterführungen und Vergeistigungen« (ebd.: 39–40). Diese Synthesen und Prinzipien können »zwar nur durch einen lebendigen tätigen Geist verwirklicht werden und müssen also Funktionen sein, die dieser aus seinem eigenen Wesen heraus vollzieht; allein dies ist sozusagen eine technische, mit einer gewissen Zufälligkeit behaftete Angelegenheit« (ebd.: 40). Simmel stellt hier deutlich die funktionale Bedeutung des Apriori als Geltungsform heraus und unterscheidet sie von der psychisch-historischen Realisierung. Dennoch sieht Simmel damit grundlegend zwei Seiten des Apriori gegeben – eine im »idealen Raum der reinen Wissenschaft, ein geistiger Gehalt« (ebd.) auf der einen Seite, dem auf der anderen Seite sein lebendiger Vollzug gegenübersteht (vgl. hierzu auch Schlitte 2012: 137). Auf dieser Grundlage zieht Simmel nun aber den Schluss, dass eine historische Entwicklung der apriorischen Formen durchaus denkbar wäre: »Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherrschen, – warum sollten nicht auch sie, die doch, unsere Naturerkenntnis bildend, von der anderen Seite gesehen selbst natürliche Wirklichkeiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen lässt?« (Simmel KVL: 44) Explizit benennt Simmel es in Hauptprobleme der Philosophie, dass die Formen unserer Erkenntnis »eben historische Gebilde sind« (Simmel HP: 23) und als solche der historischen Entwicklung unterliegen, aber dennoch den Gegenständen ihre Gesetze vorschreiben (vgl. ebd.: 21–23). Wollte man aus dieser These einen psychologistischen Strick drehen, so verfehlt die Schlinge gerade Simmels tatsächliche Pointe. Denn das Apriori geht eben nie in seiner psychisch-historischen Realisierung auf, vielmehr sieht sich letztere immer auf ein ideales Apriori bezogen. Entgegen aller Psychologismusvorwürfe hält sich Simmel spätestens ab der Philosophie des Geldes immer »auf dem Standpunkte des Idealismus« (Simmel VWhV: 160) und zwar in dem Sinne, dass er in Kontrastellung zu einem erkenntnistheoretischen Realismus, der eine ›Wirklichkeit an sich‹ zu fassen beansprucht, darauf beharrt, dass 11
Am Beispiel des Begriffs der Kausalität: »Er ist auch nicht ohne weiteres mit der Gesetzlichkeit des Geschehens identisch, sondern ist sozusagen die logische Vermittlung zwischen der Gesetzlichkeit und dem singulären Geschehen.« (Simmel KVL: 52)
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die Erkenntnisform der Dinge, »ihr Inhalt in der Form des Vorstellens« (Simmel PdG: 623), immer noch etwas anderes sei als die Dinge selbst, insofern sie nämlich je mit der Vorstellung eines Gültigkeitsanspruches einhergehe (siehe außerdem Simmel VWhV: 159–160 und 178–179; PdG: 31–32; PrGP: 287; vgl. hierzu auch Orth 1993: 98 und Geßner 2003: 64–66).12 »Immer empfinden wir unser Denken, insoweit es für uns als wahr gilt, als die Erfüllung einer sachlichen Forderung, als das Nachzeichnen einer ideellen Vorzeichnung.« (Simmel PdG: 623) Das Denken müsse sich notwendig an einer idealen Form orientieren, an der die Vorstellung von Geltung überhaupt hänge, die aber nicht identisch mit den Dingen selbst sein könne, sondern eine bestimmte Formung ihrer bedeuten. Diese Voraussetzung, die Entdeckung der »Kategorie des Gültigen« (Simmel GP-AL: 913; siehe hierzu auch Amat 2015: 265), sieht Simmel in der »Platonischen Lehre« (Simmel PdG: 623) formuliert. Entgegen Platon, der »die Wahrheit in einer metaphysischen Welt der Ideen« »substantialisert[...]« (Simmel GP-AL: 913) habe, begreift Simmel Gültigkeit als rein funktionalen und notwendig orientierenden Bezug. Die Idee des Gültigen (wie die Idee anderer orientierender Wertinstanzen) könne nicht sinnvoll, oder nur um den Preis eines theoretischen und praktischen Nihilismus, aufgegeben werden.13 Wir haben hiermit die theoretische Formulierung der zuvor herausgearbeiteten Erkenntnis vorliegen, dass der Mensch in seinem Weltverhältnis notwendig auf Wertinstanzen ausgerichtet ist und dieser Wertbezug ein Urphänomen darstelle. Simmel gibt explizit zu verstehen, dass »dies schließlich die Formel unseres Lebens überhaupt [sei], von der banalen Praxis des Tages bis zu den höchsten Gipfeln der Geistigkeit« an einer »Norm« oder einem »Maßstab« (Simmel PdG: 624) orientiert zu sein, selbst wenn ihre Geltung auf bestimmte Bereiche relativiert ist (vgl. ebd.: 625–626). »[S]o liegt auch den subjektiven Erzeugnissen in den [...] Sphären menschlichen Handelns eine spezifische leitende Idee, ein ›relatives Apriori‹, zugrunde.« (Geßner 1996a: 21) In diesem »eigentümlichen Platonismus« sieht Simmel die »Lösung dieses Problems« (Orth 1993: 99), seine Auffassung von flexiblen und historischem Wandel unterliegenden apriorischen Funktionen mit dem Anspruch auf Gültigkeit zu verbinden. Amat bezeichnet dies konsequenterweise als »eine Art historisierte[n] Platonismus« (Amat 2015: 265). Die Bedeutung dieser Denkfigur stellt Simmel u.a. am Beispiel des Naturgesetzes dar, das einen notwendigen Zusammenhang der Erscheinungen beschreibt, in dieser Beschreibung aber gerade unabhängig vom tatsächlichen Eintreten jener Zusammenhänge ist (vgl. Simmel PdG: 712–714). Seine Formulierung ist jedoch abhängig von einer jeweiligen wissenschaftlichen Gesamtkonstellation und kann bei der Veränderung letzterer eine »abweichende Formulierung desselben Sachverhalts« (ebd.: 712) notwendig machen. Die beanspruchte Geltung der inhaltlichen Formulierung ist demnach eine
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Geßner (2003: 68) spricht von einer »›Verlebendigung des Apriori‹«, scheint dabei aber eben die konstitutive Zweiseitigkeit des Apriori bei Simmel zu übersehen. Hieraus erhellt sich auch jene zuvor zitierte Aussage Simmels, wonach die »Maxime« bestehe, »jedem einzelnen Apriori gegenüber (darum aber keineswegs dem Apriori überhaupt gegenüber!) die genetische Zurückführung auf die Erfahrung zu versuchen« (Simmel PdG: 113 [Herv. O.H.]). Denn der Idee des Apriori überhaupt können wir eben nicht entbehren bzw. sie auf Erfahrung zurückführen und hierin die Kategorie der Gültigkeit aufheben.
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je vorläufige, deren mögliche Veränderung aber »den Sinn und Begriff« der Naturgesetzlichkeit, die »Idee des Gesetzes« (ebd.: 713) unberührt lässt. »So ähnlich wie bei Kant Kategorien nicht einfach Begriffe, sondern Gesichtspunkte für die Begriffsbildung sind, so ist die Idee des Gesetzes der Anhaltspunkt für die Bestimmung von Gesetzen, die als solche diese Gesetzesidee möglicherweise noch gar nicht erfüllen. […] Der Vorzug dieser Argumentation ist, daß sie das Apriori aufrechterhält, ohne bestimmte Kategorialisierungen als letzte festzuschreiben; und doch werden damit gleichzeitig der konkreten Forschung die mannigfaltigsten Möglichkeiten der Strukturierung eröffnet. Es handelt sich hier um einen Relativismus, der alles andere als relativistisch ist.« (Orth 1993: 100) »Damit zusammenhängend wird die kantische, strenge Fixierung und Einteilung von Typen transzendentaler Funktionen in 1) Anschauungsformen, 2) Verstandesformen, 3) Vernunftideen eingeebnet und gleichzeitig eine größere Vielfalt und Geschmeidigkeit der apriorischen Funktionen gefordert« (ebd.: 99). Die Entwicklung geht damit hin zu einer »Modalisierung der Kategorien« (ebd.), wie sie später auch Cassirer (PsF I: 29) vornimmt (siehe hierzu Kapitel 8.4). In der Philosophie des Geldes heißt es dazu: »So sind die Normen – mag man sie mit Plato und Schopenhauer die Ideen, mit den Stoikern die Logoi, mit Kant das Apriori, mit Hegel die Stufen der Vernunftentwicklung nennen – nichts als die Arten und Formen der Relativitäten selbst, die sich zwischen den Einzelheiten der Wirklichkeit, sie gestaltend, entwickeln. Sie sind selbst nicht in demselben Sinn relativ, wie die ihnen untertanen Einzelheiten, da sie deren Relativität selbst sind.« (Simmel PdG: 124) Die Historisierung der apriorischen Formung geht mit einer gewissen skeptischen Pointe einher: Simmel betont bereits gegenüber Kant, dass auch, wenn es ein gesichertes Wissen darum geben kann, dass unsere Erfahrung und die Gegenstände durch apriorische Funktionen geformt sind, es demgegenüber keineswegs sicher ist, welche Funktionen dies jeweils sind und inwieweit sie Gültigkeit zu Recht beanspruchen können (vgl. Simmel KVL: 36 und 41; LA: 302). Die philosophische Untersuchung setze an den geschaffenen kulturellen Gebilden an, in die bereits eine Formung als »reale Funktion« »investiert« ist bzw. in denen sich die Formung »kristallisiert« (Simmel PrGP: 241) hat. Entsprechend habe auch Kant seine Vernunftkritik an »den objektiven Bau des autonomen Gebildes Wissenschaft« (Simmel KVL: 40) (in Gestalt der newtonschen Physik) gerichtet. Die objektiven Prinzipien der subjektiv geformten Erfahrung als »wirksame Wirklichkeit« des Geistes sind auf diese Weise »in bewußten Begriffen und Formeln erst nachträglich ausdrückbar« (ebd.: 35; vgl. auch Simmel PrGP: 241). Der Inhalt der apriorischen Formen bedarf also einer begrifflichen Rekonstruktion im Rahmen einer reflektierenden Deutung dieser. Eine solche Rekonstruktion kann aber wiederum nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen, wie die Erkenntnis, dass die Erfahrung ihre Bedingungen in einer apriorischen Formung besitzt (vgl. auch Schlitte 2012: 137). Das Argument erscheint mir analog zu dem, welches Jürgen Habermas dem von Karl-Otto Apel erhobenen Letztbegründungsanspruch für die Diskursethik entgegenstellt. Habermas betont, dass die pragmatischen Voraussetzungen des Diskurses zunächst impliziter Natur sind und vor
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einer möglichen Prüfung ihres Status als notwendige Regeln einer begrifflichen Rekonstruktion bedürfen, die ihrerseits fehleranfällig ist. Hierdurch möchte Habermas einen Rückfall in die Bewusstseinsphilosophie vermeiden (vgl. Habermas 1987: 105–108). Für Simmel könnten ›Apriori‹ deshalb lediglich den logischen Status einer Hypothese beanspruchen (vgl. Pohlmann 1987: 45). Die Untersuchung der apriorischen Formen folgt nun dem eingangs beschriebenen, zwischen idealistischer-transzendentaler und materialistischer-empirischer Analyse alternierenden Verfahren (vgl. Simmel PdG: 112–113). Als idealistisch-transzendentale Analyse soll sie an den Manifestationen der Kultur, die »Spuren der Synthesis« (Hubig 2006: 153) herauslesen, die diese Manifestationen (respektive die Handlungsschemata, unter denen sie geschaffen wurden) ihrem sinnhaften Gehalt nach ermöglichen, und hiervon ausgehend diese Syntheseregeln, sprich: die apriorische Formung, rekonstruieren. Nun betont Simmel ja aber, dass sich der reale kulturelle Prozess (die Schöpfung und Rezeption von kulturellen Objekten) nicht in »dem logischen Inhalt der Begriffe« erschöpft, in denen jene apriorischen Formungen als Regeln rekonstruiert werden und die dann Gültigkeit für die kulturelle Praxis beanspruchen, sondern nur in der »Wirksamkeit für das Zustandekommen« (Simmel PrGP: 241) kultureller Sinnstrukturen. Die kulturellen Manifestationen zeigen eben nicht nur die Spuren der Syntheseregeln, sondern auch jene von Realisierungs- und (kontingenten) Nebenbedingungen, insofern die Inhalte der kulturellen Welt des Menschen »nicht aus dem Geist allein konstruierbar« (Simmel LA: 323) sind. Umgekehrt sind damit aber in den Syntheseregeln, in den apriorischen Formen, die Spuren des historisch-materiellen Prozesses auffindbar. Und was hier als Realisierungsbedingung und was als ermöglichendes Medium mit einer konkreten Verfasstheit erscheint, »ist«, wie schon zuvor hervorgehoben, die »Frage der Wahl des Betrachtungsgesichtspunktes« (Hubig 2000: 43).14 Hier setzt die materialistisch-empirische Analyse an. Sie soll jene rekonstruierten apriorischen Formen – die das Verständnis der historischen Manifestationen erst ermöglichen bzw. es erlauben, diese Manifestationen mit ihren Realisierungsbedingungen zu verknüpfen und so historisch abzuleiten – ihrerseits auf vorangegangene Effekte, auf kulturelle Manifestationen und ihre Realisierungs- und Nebenbedingungen zurückführen. Sie versucht zu zeigen, wie »die Dinge um uns [=äußere Medialität; O.H.] und in uns [=innere Medialität; O.H.]«, die als Formen »allgemein und überhistorisch gültig« erscheinen, ihrerseits durch historische Prozesse »in Form gebracht« (Simmel PdG: 112) wurden. Auf diese Weise kann Simmel ferner die Materialität, ein »Dunkles«, einen »zwar aufgenommen[en]«, aber 14
Beispielsweise kann die Funktionsidee des geldvermittelten Warentausches als Medium (innere Medialität) betrachtet werden, innerhalb dessen die potentielle Möglichkeit des eines wirtschaftlichen Vorgangs (Schema) zu einer konkreten Transaktion gekoppelt wird, der dann als Ereignis realisiert wird, sofern als Realisierungsbedingung eine entsprechende wirtschaftliche Infrastruktur gegeben ist. Umgekehrt kann auch die wirtschaftlich-technische Infrastruktur als ermöglichendes Medium betrachtet werden (äußere Medialität), in dessen Instanziierung (eine jeweilige »historisch-psychologischen Konstellation«) bestimmte wirtschafte Transaktionen real ermöglicht werden, insofern eine entsprechende Realisierungsbedingung, die entsprechende Handlungsabsicht einer Person, hinzukommt. Realisierungsbedingungen werden dabei außerdem anhand erwünschter, unerwünschter und ambivalenter Nebeneffekte einer Aktualisierung erschlossen.
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»unbegriffen[en]« »heterogene[n] Kern oder Rest« (Simmel LA: 323) des kategorialen Entwicklungsprozesses berücksichtigen. Entsprechend sind die apriorischen Formungen nach Simmel »sowohl als Resultate wie als Bahnen der Kulturgeschichte« (Geßner 1996a: 18) zu betrachten. »Das Überindividuelle [also die Formungen der Welt; O.H.] [...] erweist sich bei Simmel als symbolisch fixierte Objektivität« (ebd.: 14), die sich in ihrer »Gültigkeit für Subjekte« (Simmel PdG: 59) zeigt. Das von Simmel aufgewiesene Verfahren zeigt m.E. eine gewisse Verwandtschaft zur Analyse von Dispositiven, wie sie von Hubig (2000) im Anschluss an Michel Foucault (2013; 1994; 1983; 1978) herausarbeitet wird. Hubig zielt darauf, den Charakter von Dispositiven als »real-historischer Kategorie« (Hubig 2000: 47) herauszustellen. Dispositive leisten die »Synthesis von Anschauungen zu praktischen Vollzügen« (ebd.), »von Heterogenem zu einer Vorstellung, die Wirkendes betrifft«, während sie »darüber hinaus selber wirken, und zwar im wesentlichen gerade dadurch, daß keine explizite Vorstellung von ihrem wahren Ordnungscharakter besteht« (Hubig 2000: 41). Wie es Habermas ausdrückt, ist die Macht des Dispositivs »gleichzeitig transzendentale Erzeugungs- und empirische Selbstbehauptungsmacht« (Habermas 1985: 300 [Herv. i.O.]). Die »synthetischen Leistungen a priori« sind damit »ins Reich historischer Ereignisse zurückgeholt« (ebd.: 301). Simmel versucht dieses von Habermas als »paradoxe[...] Operation« (ebd.) kritisierte ›Rückholen‹ eben dadurch zu lösen, dass er der apriorischen Formung zwei notwendig aufeinander bezogene Seiten zuschreibt: Die ideelle Seite der Gültigkeit, die sich aber nur in konkreter kultureller Praxis realisieren kann und hieraus zu rekonstruieren ist, und die historisch-materielle Seite, die als je auch psychische Realisation auf die ideale Vorstellung von Gültigkeit bezogen ist und hieraus ihre orientierende Wirksamkeit für Praxis und Denken bezieht. Dass damit eine jeweilige Beeinflussung und Wechselbeziehung zwischen (transzendentalen) Möglichkeitsstrukturen und ihren Realisierungsbedingungen besteht, ist nach Hubig aber nicht als Problem zu werten, sondern gerade das wesentliche Merkmal dispositionaler Strukturen im »menschlichen Bereich« (Hubig 2000: 42). Und die »Form der Alternierung« (Simmel PdG: 112; vgl. auch ebd.: 13) respektive das »Hin und Her zwischen [empirischer; O.H.] Archäologie von Machtmanifestationen einerseits und [transzendentaler; O.H.] Rekonstruktionen der verdeckten Wirkungsmechanismen (›verdeckt‹ im Sinne von ›epistemisch verdeckt‹) andererseits« sei eben der gebotene Weg, Dispositionen zu erschließen und der »der Wechselbeziehung zwischen Disposition und ihren Wirkungsbedingungen auf die Spur zu kommen« (Hubig 2000: 45). Das beschriebene Alternieren ist genau die Art und Weise, in der die Philosophie das symbolische Geflecht der Kultur umgräbt, ohne dabei ein Letztes ›auszugraben‹. Simmel verdeutlicht dieses Philosophieverständnis einer »philosophischen Kultur« (Simmel EPK: 166) mittels der Fabel vom Schatz im Acker.15 In dieser »Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern, in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben daraufhin den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden. Im nächsten
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Als Titel für seine Gesamtdarstellung des simmelschen Philosophierens wählt Geßner (2003) treffend den Titel dieser Fabel, in der Simmels Philosophieverständnis programmatisch zum Ausdruck kommt.
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Jahr aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht.« (Ebd.) So wird auch die Philosophie den Schatz einer endgültigen Wahrheit »nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen« (ebd.: 167). Das philosophische Denken durchdringt das Sinngeflecht unserer Kultur, vertieft unser Verständnis für dieses und die in ihm enthaltenen Dynamiken und Möglichkeiten, stellt uns hierdurch aber nicht auf einen absoluten oder von diesem Sinngeflecht unabhängigen Standpunkt. »Philosophie erweist sich somit nur als eine gesteigerte Form des Weltverhältnisses, das jeder hat, wobei aber jeder Philosoph einen anderen Ausgangspunkt wählt.« (Schlitte 2012: 337) Unterschiedliche Ausgangspunkte nicht nur zuzulassen, sondern zu fordern, rechtfertigt sich allein dadurch, dass sich Medialitätsverhältnisse aus jeweiligen Betrachtungsperspektiven unterschiedlich darstellen. Unter Endlichkeitsbedingungen könne gar nicht anders verfahren werden. Der Erfolg der Philosophie ist damit aber je ein indirekter. Indem sie die Ausrichtungen und Bedingungen unserer Weltverhältnisse untersucht, trägt sie zu den Bedingungen fruchtbarer Weltverhältnisse bei. Sie erarbeitet »Orientierung über Orientierung« (Orth 1993: 91), die sich im Weltbild ausdrückt. Das im Weltbild aufscheinende übergeordnete Geschehen der Entwicklung kultureller Weltverhältnisse und Orientierungen ist kein absoluter, an sich bestehender Verhalt, sofern die formenden Kräfte des Weltverhältnisses bzw. die weltkonstitutive Syntheseleistung weder Ausdruck der freien Spontaneität noch einer in irgendeiner Hinsicht transzendenten Macht sind. Folglich stehen wir ihm auch nicht hilflos, lediglich beobachtend oder nur beschreibend gegenüber, haben aber dennoch keine freie Verfügungsmacht über die Dynamik, sondern nur die begrenzte Möglichkeit eines Umgangs, indem wir uns unter diesen Bedingungen orientieren. Die »Kulturgeschichte« ist gerade »nicht als ein gerichteter Prozess« (Amat 2015: 263) zu verstehen, sondern von offenen und verborgenen Konflikten geprägt. Was Simmel anbietet, ist eine Idee, unter der Orientierung möglich erscheint, nämlich die Idee der Kultivierung, nach der die Syntheseleistung in der Entfaltung der je eigenen Möglichkeiten des Individuums münden soll und nicht in der Entfremdung von diesen (siehe Kapitel 3.4, 3.5 und 4.). Sie kann aber nicht mehr sein als »eine Idee (unter anderen)« (ebd.: 268). In ihren Dienst stellt Simmel seine Philosophie. Philosophische Kultur führt zurück auf Ciceros Begriff der »cultura animi« (Cicero 1992: II, 13). Die Philosophie gräbt. Sie versucht einen Blick darauf zu erhaschen, was hinter unserem Rücken passiert, oder, um in der Metapher zu bleiben, was unter unseren Füßen geschieht, wie der Boden, auf dem wir in jeweilige Richtungen gehen, beschaffen ist. Ein absoluter Grund ist unerreichbar. Deshalb kann das Kriterium der Philosophie und der Weltbilder, die notwendig durch eine singulär historische Perspektive vermittelt sind, nur ein pragmatisches sein und ihr Anspruch nur provisorisch. Wenn die Philosophie stattdessen ein System errichtet und »[i]n der architektonisch-ästhetischen Vollendung, in der gelungenen Abrundung und Lückenlosigkeit dieses Baues [...] den Beweis für seine sachliche Richtigkeit [sieht] und dafür, dass nun wirklich die Ganzheit des Daseins erfasst und begriffen« (Simmel Krisis: 199) ist, dann wird sie gerade in dem Sinne falsch, dass sie keine Orientierung bietet, insofern sie der schöpferischen Bewegung des Lebens nicht gerecht werden kann. Aus der Einsicht in ihre eigene Beschränktheit muss die Philosophie »sich labil erhalten« (Simmel EPK: 166) und deshalb, wie Geßner (2003: 278–280) herausarbeitet, ihre jeweilige Gegenposition fordern. Nehmen wir also Simmel ernst und stellen ihm, wie
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gefordert, mit Cassirers Philosophie der symbolischen Formen einen anderen philosophischen Entwurf gegenüber, der uns ein anderes Bild der Kultur bietet.
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Den Anspruch, »die verschiedenen Weisen der geistigen Formung« (Cassirer PsF I: 27), also eine Pluralität der kulturellen Vermittlungsformen und weltkonstitutiven Gestaltungen, anzuerkennen und zu reflektieren, teilt Cassirer bekanntermaßen mit Simmel. In der Philosophie der symbolischen Formen soll die »Kritik der Vernunft« zur »Kritik der Kultur« (ebd.: 9) und damit die erkenntniskritische Methode auf alle kulturellen Formen, Gegenständlichkeit zu konstituieren, angewendet werden. Für Cassirer stellt sich damit aber methodisch dasselbe Problem wie für Simmel: Sind es nicht willkürliche Abstraktionen, mittels derer aus einem historisch gegebenen kulturellen Material (vermeintlich apriorische) Formen herausgezogen werden, um diese dann als ›Bedingungen der Möglichkeit‹ dieses Materials und jeweiliger Weisen des Weltverstehens zu präsentieren? Und welcher Geltungsanspruch kann für solcherlei Formen erhoben werden, wenn sie wie bspw. beim mythischen Denken offensichtlich nach wissenschaftlichen Standards kein tatsächliches Wissen über die Welt gewähren? Zur Disposition steht hier die Methode einer transzendentalen Kulturphilosophie. Insofern Cassirers (von Simmel abweichende) Lösung dieses methodischen Problems zu einem anderen Bild der Kultur, der in ihr wirkenden geistigen Energien und Dynamiken sowie einem anderen Anspruch der philosophischen Reflexion führen, werde ich den cassirerschen Ansatz in diesem Kapitel ebenfalls entlang dieses Problems entwickeln. Wollen wir dem Vorwurf der willkürlichen Abstraktion zur Gewinnung pseudo-transzendentaler Formen begegnen, empfiehlt es sich, zunächst zur ursprünglichen Konstellation der Transzendentalphilosophie bei Kant zurückzukehren. Hierbei wird es mir zunächst (8.1) darum gehen, das Verhältnis von methodischer Abstraktion und transzendentaler Form aufzuzeigen, ferner, dass auch in kantischer Fassung die transzendentale Form ein Produkt einer Abstraktion ist. Insofern sich aber die Kriterien dieser Abstraktionsoperation für die Kulturphilosophie ausschließen, werden wir (8.2) der Spur Kants weiter folgen, der in der Kritik der Urteilskraft Modifikationen der Transzendentalphilosophie vornimmt, die eine Lösung des Problems in Aussicht stellen. Es sind diese Modifikationen, die, wie ich anschließend (8.3) zeigen möchte, Cassirer maßgeblich zur Philosophie der symbolischen Formen und zu einer Lösung des methodischen Problems der Kulturphilosophie inspirierten. Diese Lösung besteht darin, das System der symbolischen Formen über die latente Einheit des Problems als methodisches Postulat zu setzen. Diese
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Setzung ermöglicht es Cassirer nicht nur, (8.4) auf Basis transzendentaler Abduktionen sich am historischen Material der Kultur abzuarbeiten, sondern darüber hinaus (8.5), einen Begriff des Geistes zu formulieren, der sich als Voraussetzung und Zielpunkt des kulturellen Lebens erweist, und so die Kultur unter den Hoheitsanspruch des Geistes zu stellen.
8.1 Die Abstraktion in der Transzendentalphilosophie Um das Verhältnis von Abstraktion und Apriori in der Kulturphilosophie zu erhellen, erscheint es mir als der aussichtsreichste Weg, sich auf die transzendentalphilosophische Methodenlehre bei Kant zu besinnen. Wenn wir uns verdeutlichen, was Kant als methodische Richtschnur dient, können wir prüfen, inwiefern sich diese für die Kulturphilosophie, die unter veränderten Bedingungen arbeitet, als problematisch erweist und in welcher Richtung hier eine Lösung möglich ist. In der Kritik der reinen Vernunft sind hierfür die transzendentale Ästhetik und die transzendentale Logik heranzuziehen. Zunächst zur transzendentalen Ästhetik: Diese bildet Kant zufolge bekanntlich jene Disziplin, die die reinen Anschauungsformen ermittelt. »So wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit etc. imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc. absondere, so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder der Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« (Kant KrV: B 35/A 20–21 [Herv. O.H.]) Das Vorgehen beinhaltet hier zwei Schritte: Zunächst wird die Sinnlichkeit isoliert, indem von den Kategorien des Verstandes abgesehen wird, und weiter wird von der verbleibenden empirischen Anschauung wiederum alles abgetrennt, was zur Empfindung gehört. Es verbleibt, was Kant »reine Anschauung« nennt, die Form der Sinnlichkeit a priori (vgl. ebd.: B 35/A 21–22). Methodisch parallel charakterisiert Kant die Disziplin der transzendentalen Logik. Kant unterscheidet zunächst eine Logik des besonderen Verstandesgebrauchs, die sich auf spezifische Gegenstände und Gegenstandsbereiche bezieht, von einer allgemeinen Logik (vgl. ebd.: B 76–77/A 51–53). Diese letztere wird in eine angewandte Logik, die »die Regeln des Verstandesgebrauchs unter den subjektiven empirischen Bedingungen« (ebd.: B 77/A 53) untersucht, und eine reine Logik unterteilt. In einer reinen, allgemeinen Logik würde nun von allen empirischen Bedingungen abgesehen, um so die »Prinzipien a priori«, einen »Kanon des Verstandes und der Vernunft [zu entwickeln], aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle, (empirisch oder transzendental)« (ebd. [Herv. i.O.]). Damit wird deutlich, dass wir mit der reinen, allgemeinen Logik noch nicht am gewünschten Ziel angelangt sind:
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»Die [reine; O.H.] allgemeine Logik abstrahieret, wie wir gewiesen, von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt und betrachtet nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse auf einander, d. i. die Form des Denkens überhaupt. Weil es nun aber sowohl reine, als empirische Anschauungen gibt, (wie die transzendentale Ästhetik dartut), so könnte auch wohl ein Unterschied zwischen reinem und empirischen Denken der Gegenstände angetroffen werden.« (Ebd.: B 78–79/ A 55 [Herv. O.H.]) Für Kant schließt sich hieraus, dass in einer transzendentalen Logik eben »nicht von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert[...]« wird, sondern nur von den empirischen Inhalten, sodass »bloß die Regeln des reinen Denkens eines Gegenstandes« (ebd.: B 79–80/ A 55) übrigbleiben: die Kategorien als Regeln der Begriffsbildung und der Prädikation. Die Formulierungen zeigen es deutlich, in beiden philosophischen Subdisziplinen werden Abstraktionen vollzogen, um die jeweiligen apriorischen Formungen des Weltund Gegenstandsbezugs herauszuarbeiten. Was besagt aber eine solche Abstraktion? Kant ist hier präzise: Es wird nicht etwas abstrahiert, sondern von etwas – d.h., im Gebrauch eines Begriffs wird auf etwas, das mit ihm verbunden ist, nicht geachtet. Der Verstandesbegriff abstrahiert vom Sinnlichen und wird nicht von diesem abstrahiert. Die Abstraktion leistet die Aufhebung gewisser Elemente im Begriff, damit das Übrige klarer vorgestellt werden kann. »Man abstrahiert nicht einen Begriff als gemeinsames Merkmal, sondern man abstrahiert in dem Gebrauche eines Begriffes von der Verschiedenheit desjenigen, was unter ihm enthalten ist« (Kant ÜE: 26 [Herv. O.H.]). In der Abstraktion haben wir demnach einen Akt des Erkenntnisvermögens vor uns, und zwar jenen, eine Vorstellung von der Verbindung mit anderen in einem Bewusstsein abzuhalten (vgl. Eisler 1964: 2). Einem pauschalen Vorwurf, es werde in der Kulturphilosophie mit bloßen Abstraktionen gearbeitet, ist also zuallererst entgegenzuhalten: Auch Kant abstrahiert, um zu den apriorischen Formen des Gegenstandsbezuges zu gelangen. Die Transzendentalphilosophie bedient sich dabei jedoch klarer Kriterien respektive Leitdifferenzen dessen, wovon abgesehen werden soll und was der Begriff in Folge umfasst. Diese Leitdifferenzen liegen im Falle der Transzendentalen Ästhetik und Transzendentalen Logik als die Unterscheidungen – begriffen als vollständige Disjunktionen – von rein und empirisch sowie Anschauung und Denken vor. Weiter betreffen die Abstraktionen dabei nicht gegebene Gegenstände und Erscheinungen, aus denen heraus ein Begriff gewonnen werden soll. Stattdessen handelt es sich um ein Verfahren der Begriffsbildung oder vielmehr der Begriffsentwicklung. Betrachten wir einen der ersten methodischen Hinweise, die Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen gibt, so heißt es dort, es ginge darum, die »›innere Form‹« (Cassirer PsF I: 10) nicht nur der Sprache, sondern auch der Religion, des Mythos, der Kunst und der wissenschaftlichen Erkenntnis herauszustellen. »Und diese Form bedeutet nicht lediglich die Summe oder die nachträgliche Zusammenfassung der Einzelerscheinungen dieser Gebiete, sondern das bedingende Gesetz ihres Aufbaus. Freilich gibt es zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen ›abs-
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trahieren‹, aber ebendiese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwendiges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Einzelnen.« (Ebd.) Wir können bereits an der Formulierung erkennen, dass Cassirer einen anderen Abstraktionsbegriff nutzt als Kant: Die Philosophie der symbolischen Formen abstrahiert von den Phänomenen und nicht in der Begriffsbildung. Der Grund hierfür liegt bereits darin, dass rein/empirisch sowie Anschauungs- und Denkformen in der Kulturphilosophie keine vollständigen Disjunktionen mehr bilden (vgl. bspw. ebd.: 147), sodass sie sich nicht in entsprechender Schärfe trennen lassen und damit auch nicht in gleicher Weise orientierende Funktion für die Abstraktion übernehmen können. So gilt es zu klären, wovon in der Abstraktion abgesehen wird, in welche Richtung abstrahiert wird und nach welchem Kriterium sie vollzogen wird. Zuletzt: Was das Kriterium der ›Richtigkeit‹ dieser Abstraktion bildet, wie also aufgewiesen werden kann, dass das Ergebnis der Abstraktion ein tatsächliches Apriori (im modifizierten Sinne) darstellt, mithin, wie dies überprüft werden kann. Denn eine transzendentale Deduktion, die den Rechtsanspruch der reinen Verstandesbegriffe erweisen soll, schließt sich in dem Sinne aus, als dass die apriorischen Formen nicht als notwendige Bedingung für jegliche Form von Gegenständlichkeit erwiesen werden sollen, da wir es in der Kulturphilosophie mit besonderen Bedingungen, d.h. spezifischen Formen der Erfahrung und Gegenständlichkeit, zu tun haben.
8.2 Reflektierende Urteilskraft Einen weiteren Schritt in Richtung einer Lösung tun wir, indem wir weiter Kant folgen. Denn das Problem besonderer Bedingungen der Erfahrung, wie sie die Gegenstände bspw. der Biologie erfordern, rückt in Kants dritter Kritik in den Fokus. Bereits Orth (1996b) hatte deshalb auf die besondere Stellung hingewiesen, die die Kritik der Urteilskraft 1 für die Philosophie der symbolischen Formen einnimmt, aus der sich Cassirers eigene Problemstellung sowie daraus folgend sein Umgang mit zentralen Begriffen, wie dem des Symbols (vgl. hierzu auch Orth 1996a), besser begreifen lassen. Es blieb jedoch Arno Schubbach (2016) vorbehalten, diesen Einfluss auf Cassirers Hauptwerk systematisch und historisch herausgearbeitet zu haben. Schubbachs Studie, an der ich mich im Folgenden wesentlich orientiere, widmet sich dazu einer in Cassirers Nachlass überlieferten Disposition von 1917 zur Philosophie der symbolischen Formen, inklusive 240 Blättern und Notizen zu kulturwissenschaftlichen Studien, die das umfangreiche Material für den ersten Band der Philosophie der Symbolischen Formen zur Sprache bildeten. Es war sicherlich kein Zufall, wenn Cassirers ersten konzeptionellen Arbeiten zur Philosophie der symbolischen Formen eine intensive Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft voran ging (vgl. Schubbach 2016: 207). Der Übergang Cassirers von einer Theorie des wissenschaftlichen Begriffs hin zum Begriff des Symbols findet eine gewisse Parallele in dem Übergang Kants von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft.
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Die folgenden Ausführungen verstehen sich aus diesem Grund weniger als ein Beitrag zur KantInterpretation, sondern spiegeln in erster Linie Cassirers Lesart und sein fruchtbares Anknüpfen an die Kritik der Urteilskraft wider.
8. Die Selbstvergewisserung der Kultur
Die Veranlassung Kants, eine dritte Kritik zu schreiben, ist sicherlich nicht in einem so oft unterstellten zwanghaften Drang zur Systematisierung zu suchen (vgl. Cassirer KLL: 262–263), sondern findet sich in den Problemen, die sich im Anschluss an die Kritik der reinen Vernunft eröffnen. Wenn Kant dort vom sogenannten Faktum der Wissenschaft ausging, besteht dieses Faktum in der zeitgenössischen, exakten Naturwissenschaft. Es ist die Physik Newtons mit ihren spezifischen Bewegungsgesetzen, die die Untersuchung orientieren und über die die »maßgeblichen, transzendentalen und apriorischen Rahmen« (Schubbach 2016: 154) empirischer Gegenständlichkeit erschlossen werden sollen. D.h. jedoch, dass die transzendentale Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung in Abhängigkeit von diesem Wissenschaftsverständnis steht (vgl. ebd.: 148). Es gilt deshalb, die Art dieser Abhängigkeit zu bestimmen. Mit Schubbach können wir die Frage an die Kritik der reinen Vernunft richten, ob sie so eng mit der mathematischen Physik verbunden ist, »dass die schließlich herausgearbeiteten apriorischen Bedingungen deren Erkenntnis unmittelbar begründen, aber nicht die Erkenntnisse anderer Disziplinen? Oder sind diese Bedingungen so allgemein, dass sie die wissenschaftliche Erkenntnis zwar im Allgemeinen begründen, sie aber zugleich für die konkreten Formen der empirischen Erkenntnis zu spezifizieren sind, was in der Folge aber wohl auch insbesondere für die Physik gelten müsste?« (Ebd.: 148–149) Cassirer tendiert, wie Schubbach darlegt, zu Letzterem, sprich, dass die Kritik der reinen Vernunft die apriorischen Bedingungen der Erfahrung in ihrer allgemeinsten Form entwickelt, die damit alle Formen wissenschaftlicher Erkenntnis gleichermaßen umfassen, allerdings »keine einzige Form empirischer Erkenntnis mit ihren spezifischen transzendentalen, aber nicht apriorischen Bedingungen begründen« (ebd.: 192). Ein Hinweis hierauf ist nicht zuletzt, dass die Kategorie der Kausalität noch keinem Kausalgesetz der Physik entspricht und auch ein solches nicht ohne weiteres begründet (vgl. ebd.). An den von der Frage offen gelassenen Antwortoptionen lässt sich bereits das Ausgangsproblem ablesen, über das die kantische Transzendentalphilosophie in der Kritik der Urteilskraft eine Erneuerung erhält. Denn entweder wären die apriorischen Bedingungen zu spezifisch (auf die mathematische Physik gemünzt) oder zu allgemein (so dass sie alleine keine Begründung einzelner Disziplinen zu liefern imstande wären) (vgl. ebd.: 154). In beiden Varianten gerieten (mindestens) Disziplinen, die keine physikalische Bestimmung ihres Gegenstandes vornehmen, in Schwierigkeiten bezüglich ihres Wissenschaftsstatus. Denken wir bspw. an die Biologie, so stellen wir schnell fest, dass sich ihre spezifischen Annahmen wie die zweckmäßige Organisation des Organismus, dessen eigenständige Bewegungen sowie die taxonomische Ordnung der Natur, nicht aus den Bedingungen der Gegenständlichkeit der Physik ableiten lassen (vgl. ebd.: 155–156). Erkennt man aber dennoch die Biologie als eigene Form der Erkenntnis an, die sich nicht auf die Physik reduzieren lässt, so ist zu klären, welchen Status ihre speziellen, gegenstandskonstitutiven Annahmen besitzen. Mit der Kritik der Urteilskraft vollzieht Kant eben diesen Schritt und widmet sich den damit verbundenen Aufgaben. In der Vorrede stellt Kant fest, dass die allgemeinsten Bedingungen der Erkenntnis in den Fällen nicht zureichend sind, »wo die Erfahrung eine Gesetzmäßigkeit an Dingen aufstellt, welche zu
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verstehen oder zu erklären der allgemeine Verstandesbegriff vom Sinnlichen nicht mehr zulangt« (Kant KU: B VIII/A VIII). Anders ausgedrückt haben wir es also mit Gesetzen zu tun, deren Geltung für die Gegenstände sich nicht a priori als notwendig erweisen lässt. Deshalb gilt es aber zu untersuchen, in welchem Bezug die allgemeinen Bedingungen der Erfahrung zu »konkreten Formen der Erfahrung und die spezifischen Ordnungen ihrer Gegenstände« (Schubbach 2016: 142) stehen. Die im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft aufgestellten Bedingungen behalten für Kant zwar ihre Gültigkeit. »Zugleich führt er [Kant] nun aber Bedingungen der empirischen Erkenntnis ein, die notwendigerweise angenommen werden müssen und insofern transzendental, aber ebenso wenig apriorisch wie rein empirisch sind. Die Bedingungen der empirischen Erkenntnis sind damit von doppelter Natur: Sie mögen zuletzt in allgemeinsten apriorischen Bedingungen gründen, realisieren sich aber stets in ihren empirischen Spezifikationen in konkreten Formen der Erkenntnis und spezifischen Ordnungen ihrer Gegenstände.« (Ebd.: 142–143 [Herv. O.H.]) Diese Kluft zwischen allgemeinen und besonderen Bedingungen der wissenschaftlichen Erfahrung, auf die uns die transzendentale Fragestellung führt und die gleichzeitig ihren bisherigen Rahmen infrage stellt, wird zum Thema der Kritik der Urteilskraft. Und damit gelangt Kant selbst zu dem von uns für die Kulturphilosophie ausgemachten Problem, wenn er nach einer transzendentalen Voraussetzung fragt, die nicht mehr dieselbe Absicherung der Abstraktion wie noch in der Kritik der reinen Vernunft in Anspruch nehmen kann, d.h. die scharfe Trennung von rein und empirisch sowie dem Nachweis, dass ihre Produkte notwendige Bedingung für jegliche Form von Gegenständlichkeit sind. Wie es nun im Folgenden darzustellen gilt, bildet diese Kluft das Tätigkeitsfeld der reflektierenden Urteilskraft (vgl. ebd.: 159). Dabei wird uns zunächst die spezifische Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft interessieren, um dann weiter zu erörtern, welchen Status die allgemeinen und gleichzeitig besonderen Bedingungen besitzen, die der Quelle der reflektierenden Urteilskraft entspringen. Es stellt sich hier die Frage nach dem systematischen Zusammenhang dieser besonderen Bedingungen, nach der Einheit der Erfahrung. Wir werden feststellen, dass sich eine spezifische Veränderung der Transzendentalphilosophie ergibt, die man mit Schubbach entgegen einer idealistischen Lesart als »empirische Transformation des Transzendentalen« (ebd.: 141) bezeichnen kann. Bevor wir schließlich darauf zurückkommen, wie diese Gedanken in Cassirers eigene Philosophie einfließen, soll noch kurz auf Kants ästhetische Lösung des Problems, wie besondere, allgemeine und begriffliche Gesetze zum Besonderen der Anschauungen zu finden, eingegangen werden. Kant bestimmt die Urteilskraft zunächst schlicht als »das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken« (Kant KU: B XXV/A XXIII). Dies kann jedoch auf zweifache Weise geschehen: Im Falle der bestimmenden Urteilskraft ist das Allgemeine, unter dem das Besondere gefasst wird, durch den Verstand gegeben, d.h. in Form der apriorischen Kategorien der Gegenständlichkeit. Demgegenüber ist für die reflektierende Urteilskraft jenes Allgemeine nicht a priori gegeben, sie leistet die »Reflexion auf das Allgemeine anhand des Besonderen« (Schubbach 2016: 158), muss dieses Allgemeine also selbst auffinden.
8. Die Selbstvergewisserung der Kultur
»Die Kategorien legen nämlich nur fest, was die Gegenstände der Erfahrung überhaupt definiert, während sie insofern ›unbestimmt‹ bleiben, als die spezifischen Gesetze oder Begriffe, die sie beispielsweise als konkrete Gegenstände der Biologie auszeichnen, nicht von apriorischem Status im Sinne der Kritik der reinen Vernunft sind.« (Ebd.) Von der anderen Seite formuliert: Nicht alle Bestimmtheit der Gegenstände lässt sich auf die Verstandeskategorien zurückführen. Treffen wir bspw. auf Gegenstände in der Natur, die eine »Verbindung der wirkenden Ursachen« zeigen, »der wir den Begriff eines Zwecks zum Grunde legen müssen, wenn wir auch nur Erfahrung, d. i. Beobachtung nach einem ihrer inneren Möglichkeit angemessenen Prinzip, anstellen wollen« (Kant EE: 49–50), so wäre es nicht möglich, diese zureichend nach mechanischen Gesetzen zu bestimmen. Betrachten wir einen Gegenstand nach solchen Gesetzen, so haben wir in der Idee der Ursache den Grund der Möglichkeit ihrer Wirkung. Auf diese Weise gelingt es aber nicht, einen Erfahrungsbegriff der »spezifischen Form« des Naturdinges zu bilden, mittels dessen die »innere Anlage« dieser Form als Ursache der Wirkung gedacht werden kann, »weil die Teile dieser Maschinen, nicht so fern ein jeder für sich einen abgesonderten, sondern nur alle zusammen einen gemeinschaftlichen Grund ihrer Möglichkeit haben, Ursache von der an ihnen sichtbaren Wirkung zu sein« (Kant EE: 50 [Herv. O.H.]). Es bedarf hier einer Verbindung, eines gemeinschaftlichen Grundes, vermittels dessen die Teile zur Einheit geformt und damit als Ursache der Wirkung beurteilt werden können. Die mechanische Betrachtungsweise kann eine solche Verbindung, wie wir sie bspw. in der Organisation eines lebendigen Organismus denken, nicht verständlich machen. Die Verstandeskategorien können so nur den allgemeinen Rahmen bieten, innerhalb dessen die reflektierende Urteilskraft Annahmen über die gesetzmäßige Beschaffenheit der Gegenstände trifft, wie bspw. die harmonische Organisation der Organismen sowie ihre Untergliederung in Gattungen und Arten im Rahmen eines Klassifikationssystems (vgl. Kant KU: B XXXVII/A XXXV; Schubbach 2016: 172f.). In der Einleitung der Kritik der Urteilskraft formuliert Kant dies folgendermaßen: »Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar als empirische, nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur fordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen, als notwendig angesehen werden müssen.« (Kant KU: B XXVI/A XXIV [Herv. i.O.]) Die allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe bilden demnach die Grundlage verschiedener in den Einzeldisziplinen vorgenommener Modifikationen, um so spezielle Naturbegriffe zu bilden. Die Gesetze dieser speziellen Naturbegriffe sind damit jedoch anderer Art. Bevor wir diese Art bestimmen, ist aber zu klären, welches nun das im Zitat angesprochene Prinzip sei, das der reflektierenden Urteilskraft zugrunde liegt. Wenn die allgemeinen Naturgesetze auf den Verstand selbst zurück gehen und von hier der
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Natur »(obzwar nur nach dem allgemeinen Begriffe von ihr als Natur)« vorgeschrieben werden, so bleibt es als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, »die besonderen, empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene [allgemeinen Naturgesetze; O.H.] unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte.« (Ebd.: B XXVII/A XXV) Selbstverständlich geht es dabei nicht darum, einen solchen Verstand anzunehmen, denn die Urteilskraft gibt sich mit diesem Prinzip selbst und nicht der Natur ein Gesetz (vgl. ebd.: B XXVII–XXVIII/A XXV–XXVI). Unsere Erkenntnis kann erst durch die systematische Einheit als wissenschaftliche gelten. So nimmt die reflektierende Urteilskraft an, dass sich alle jene besonderen Gesetze in ein System fügen lassen und in diesem zusammenstimmen. Wenn nun Kant definiert, dass der Begriff eines Objekts, insofern dieser gleichzeitig den Grund der Wirklichkeit des Objekts enthält, dessen Zweck heißen kann und weiter »die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist, die Zweckmäßigkeit der Form« (ebd.: B XXVIII/A XXVI [Herv. i.O.]) bedeutet, so lässt sich das Prinzip weiter präzisieren als die »in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt, die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit. D. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.« (Ebd. [Herv. i.O.])2 Wie wir beim Zusammenspiel im Organismus die Idee der Wirkung als gemeinschaftlichen Grund der Möglichkeit ihrer Ursachen denken, d.h. als Zweck, so denken wir auch die systematische Einheit jener besonderen, empirischen Gesetze der Natur als Zweckmäßigkeit. Das Prinzip bildet damit die Grundlage der Suche nach besonderen, empirischen Gesetzen, es dient mithin dem Zweck der Möglichkeit von Erfahrung dieser Gestalt. »Auch dasjenige, was wir die ›Verwandtschaft‹ der Arten und der Naturformen nennen, finden wir in der Natur nur darum, weil wir es nach einem Prinzip unserer Urteilskraft in ihr suchen müssen.« (Cassirer KLL: 282) Demnach handelt es sich um ein transzendentales Prinzip, d.h. eines, vermittels dessen »die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unsrer Erkenntnis überhaupt werden können« (Kant KU: B XXIX/A XXVII). Im Unterschied dazu würde ein psychologisches Prinzip lediglich den faktischen Verlauf unserer Erkenntnisvorgänge charakterisieren, nicht aber die logische Notwendigkeit für die Möglichkeit der Erfahrung selbst (vgl. ebd.: B XXX–XXXI/A XXVII–XXVIII). Das Adjektiv »transzendental« drückt folglich den Bezug »auf den Gegenstandsbezug von Vorstellungen« (Nerurkar 2012: 1 [Herv. i.O.]) aus. Ein solcher Bezug kann seinerseits konstitutiv, regulativ, störend oder reflexiv sein. Die Geset2
»Ich verstehe daher unter einer absoluten Zweckmäßigkeit der Naturformen diejenige äußere Gestalt, oder auch den inneren Bau derselben, die so beschaffen sind, daß ihrer Möglichkeit eine Idee von denselben in unserer Urteilskraft zum Grunde gelegt werden muß.« (Kant EE: 30 [Herv. i.O.])
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ze der bestimmenden Urteilskraft sind objektiv, insofern sie bestimmen, was überhaupt objektive Erkenntnis sein kann, oder anders ausgedrückt: Sie sind konstitutiv für die Gegenstände der Erkenntnis. Damit ergibt sich der Rechtsanspruch jener Begriffe, die zu den Prinzipien der bestimmenden Urteilskraft gehören, d.h. der Kategorien, sich a priori auf Gegenstände zu beziehen, daraus, dass ohne sie »Natur überhaupt (als Gegenstand der Sinne) nicht gedacht werden kann« (Kant KU: B XXXII/A XXX). Dies ist das Modell der transzendentalen Deduktion,3 wie wir sie aus der Kritik der reinen Vernunft kennen. Zweck und Zweckmäßigkeit sind hingegen keine Kategorien des reinen Verstandes (vgl. Kant EE: 33). Ihre Gültigkeit gründet sich nicht auf die Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt, ist also a priori nicht einsehbar und in diesem Sinne nicht vom Objekt hergenommen. Die Gesetze der reflektierenden Urteilskraft bleiben aus der Perspektive der Verstandeskategorien also bloß zufällig. Wenn wir uns fragen, welchen Rechtsanspruch dieses Prinzip besitzt, sich a priori auf Gegenstände zu beziehen, kann dieser nicht auf dieselbe Weise wie bei der bestimmenden Urteilskraft erbracht werden. Zwar wissen wir a priori nicht, wie die Gegenstände der Natur jenseits der Verstandeskategorien bestimmt sind, aber doch, dass sie über diese hinaus bestimmbar sind. Hieraus ergeben sich »spezifisch-verschiedene Naturen«, die »auf unendlich mannigfache Weise Ursache sein können« (Kant KU: B XXXII/A XXX), also auf ihre je eigene Weise geordnet. Der Begriff der Ursache im Allgemeinen wiederum impliziert die Regel- bzw. Gesetzmäßigkeit der Verknüpfung, d.h. ihre spezifische Notwendigkeit, »ob wir gleich nach der Beschaffenheit und den Schranken unserer Erkenntnisvermögen diese Notwendigkeit gar nicht einsehen. Also müssen wir in der Natur, in Ansehung ihrer bloß empirischen Gesetze, eine Möglichkeit unendlich mannigfaltiger empirischer Gesetze denken, die für unsere Einsicht dennoch zufällig sind (a priori nicht erkannt werden können); und in deren Ansehung beurteilen wir die Natureinheit nach empirischen Gesetzen, und die Möglichkeit der Einheit der Erfahrung (als System nach empirischen Gesetzen), als zufällig.« (Ebd.: B XXXII–XXXIII/A XXX–XXXI) Können wir also die Notwendigkeit nicht vom Verstand her a priori erkennen, so bleibt für den Verstand auch die Möglichkeit mannigfaltiger empirischer Gesetze und die Möglichkeit der Einheit dieser empirischen Gesetze letztlich zufällig. Jedoch ist die Annahme der Einheit jener Gesetze selbst wiederum notwendig, »da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnis zu einem Ganzen der Erfahrung stattfinden würde« (ebd.: B XXXIII/A XXXI). Ein solcher Zusammenhang wäre zwar durch die allgemeinen Naturgesetze gegeben, aber dann eben nur in Hinsicht auf die Naturdinge überhaupt und nicht als spezifische und besondere Naturwesen; also infrage auf die besonderen empirischen Gesetze, um die es hier geht. Eine solche Einheit der besonderen Ge-
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»Die transzendentale Deduktion ist transzendentale Deduktion genau insofern sie eine ›Erklärung der Art ist, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können‹, und sie unterscheidet sich von einer empirischen Deduktion, welche nicht die Gegenstandsbezüglichkeit a priori jener Begriffe, mithin ihren Gebrauch a priori, sondern ihr ›Factum‹ und ihren ›Besitz‹, d.h. Gegebenheit, Ursprung und Erwerb betrifft.« (Nerurkar 2012: 7 [Herv. i.O.])
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setze ist zwar damit ohne weiteres denkbar, aber für den Verstand nicht zu ergründen.4 Wie wir herausgestellt hatten, ist die Form in der die Einheit der empirischen Gesetze gedacht die »Zweckmäßigkeit der Objekte (hier der Natur)« (ebd.: B XXXIII–XXXIV/A XXXI–XXXII). Die reflektierende Urteilskraft ist in diesem Sinne also genötigt mit Blick auf mögliche, empirische Gesetze, die Natur nach dem »Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen [zu] denken« (ebd.: B XXXIV/A XXXII [Herv. i.O.]). »Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängige zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft.« (Ebd.) Wir haben es mit einer anderen Art von transzendentalem Prinzip zu tun als bei der bestimmenden Urteilskraft, denn hier tritt »die Vernunft nicht gebietend, sondern fragend und forschend an das empirische Material heran – so verhält sie sich ihm gegenüber nicht konstitutiv, sondern regulativ; nicht ›bestimmend‹, sondern ›reflektierend‹« (Cassirer KLL: 282). Ein reflexives transzendentales Prinzip gibt uns also die notwendige Voraussetzung für die Reflexion über die Gegenstände an, um diese unter besondere, empirische Gesetze zu subsumieren. Es charakterisiert und leitet die Art der Reflexion, in der Gegenstände über ihre Bestimmung im Rahmen der allgemeinen Verstandeskategorien hinaus erkannt werden können. In der Ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft spricht Kant von dem Allgemeinen der reflektierenden Urteilskraft als »subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung« (Kant EE: 22 [Herv. i.O.]). Diese subjektive Notwendigkeit drückt dabei aus, dass »die Urteilskraft ihre reflektierende Tätigkeit nur aufnehmen kann, wenn sie zumindest präsumtiv über ein Allgemeines zu verfügen beansprucht, unter das sie das Besondere subsumieren kann, um es dem Verstand verständlich zu machen« (Schubbach 2016: 163) respektive dieses zu erkennen.5 Das Prinzip, dass nach den empirischen Gesetzen »eine erkennbare Ordnung der Natur möglich sei« (Kant KU: B XXXV/A XXXIII), bildet also die Grundlage, auf der jene empirischen Gesetze aufgesucht werden können. Es ist der 4
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»Denn es könnte die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetze so groß sein, daß es uns zwar teilweise möglich wäre, Wahrnehmungen nach gelegentlich entdeckten besondern Gesetzen zu einer Erfahrung zu verknüpfen, niemals aber, diese empirische Gesetze selbst zur Einheit der Verwandtschaft unter einem gemeinschaftlichen Prinzip zu bringen, wenn nämlich, wie es doch an sich möglich ist (wenigstens so viel der Verstand a priori ausmachen kann), die Mannigfaltigkeit und Unvergleichartigkeit dieser Gesetze, imgleichen der ihnen gemäßen Naturformen, unendlich groß, uns an diesen ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines Systems darlegte, ob wir gleich ein solches nach transzendentalen Gesetzen voraussetzen müssen.« (Kant EE: 21–22) Vergleiche hierzu auch Kants Ausführung zu Maximen der Vernunft in der Kritik der reinen Vernunft: »Ich nenne alle subjektiven Grundsätze, die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft, in Ansehung einer gewissen möglichen Vollkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts, hergenommen sind, Maximen der Vernunft. So gibt es Maximen der spekulativen Vernunft, die lediglich auf dem spekulativen Interesse derselben beruhen, ob es zwar scheinen mag, sie wären objektive Prinzipien.« (Kant KrV: B 694/A 666 [Herv. i.O.])
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»Leitfaden« (ebd.: B XXXVI/A XXXIV) für die Ordnung der Mannigfaltigkeit der Erfahrung und »Gesetz der Spezifikation der Natur« (ebd.: B XXXVII/A XXXV [Herv. i.O.]), d.h., »daß es in ihr [der Natur; O.H.] eine für uns faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum nach einem gemeinschaftlichen Prinzip nähern, damit ein Übergang von einer zu der anderen, und dadurch zu einer höheren Gattung möglich sei; daß, da für die spezifische Verschiedenheit der Naturwirkungen ebensoviel verschiedene Arten der Kausalität annehmen zu müssen, unserem Verstande anfänglich unvermeidlich scheint, sie dennoch unter einer geringen Zahl von Prinzipien stehen mögen, mit deren Aufsuchung wir uns zu beschäftigen haben, usw.« (ebd.: B XXXV–XXXVI/A XXXIII–XXXIV). Die Unterscheidung, ob Gegenstände nach mechanischen oder nach technisch-teleologischen Gesetzen beurteilt werden, findet dabei nur in der reflektierenden Urteilskraft statt, während wir in der bestimmenden Urteilskraft alles nach mechanischer Erklärungsart begreifen. Beide Erklärungsarten können jedoch nebeneinander bestehen, da wir die eine nach objektiven, die andere aber nach subjektiven Prinzipien vollziehen (vgl. Kant EE: 30–31). Wir haben nun das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft charakterisiert als reflexives transzendentales Prinzip, dem eine subjektive Notwendigkeit zukommt. Die angenommene systematische Einheit der empirischen Gesetze ermöglicht die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft, jene Gesetze aufzufinden. Während die systematische Einheit der Erfahrung im Falle der bestimmenden Urteilskraft bereits analytisch gegeben ist, bleibt die Möglichkeit eines Systems der besonderen, empirischen Gesetze eine bloße Annahme, die es über die Tätigkeit der reflektierenden Urteilskraft einzulösen gilt. Das System der besonderen Gesetze ist also im Prozess der Reflexion über diese Gesetze herzustellen. Damit kommen der reflektierenden Urteilskraft also zwei Aufgaben zu: (1) das Auffinden der besonderen Gesetze und (2) die Vereinigung dieser Gesetze zu einem allgemeinen System. In diesem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen muss aber, wie Schubbach betont, eine Fehlinterpretation zurückgewiesen werden, die sich aus der Vernachlässigung des Unterschiedes von reflektierender Urteilskraft und dem hypothetischen Gebrauch der Vernunft speist (vgl. Schubbach 2016: 174). Dabei weisen beide Vermögen zunächst tatsächlich Parallelen auf. Der immanente Vernunftgebrauch zeichnet sich dadurch aus, dass er sich nie unmittelbar auf Gegenstände bezieht, sondern durch die Vernunftideen auf den Verstand einwirkt und diesen auf das »Systematische der Erkenntnis« ausrichtet, auf den »Zusammenhang derselben aus einem Prinzip« (Kant KrV: B 673/A 645 [Herv. i.O.]). Der Gebrauch ist auf diese Weise regulativ. Hypothetisch ist dieser Gebrauch wiederum, wenn das Allgemeine, das Prinzip, aus dem das Besondere abgeleitet wird, nicht »an sich gewiß und gegeben ist« (ebd.: B 674/A 646 [Herv. i.O.]) – sonst wäre es ein apodiktischer Gebrauch – sondern nur angenommen wird. Die Unterscheidung erfolgt also analog zu jener zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft (vgl. Schubbach 2016: 175). Das angestrebte System stützt sich wieder auf das logische Prinzip der Klassifikation, durch das Gleichartigkeiten des Besonderen in Gattungen zusammengefasst werden und wiederum die Verschiedenheiten des Besonderen unter den
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Gattungen in Arten (vgl. ebd.: 176). Urteilskraft und Vernunft besitzen jedoch bereits in der Architektonik der Kritik der reinen Vernunft verschiedene Stellen. Betrachten wir Anschauung, Verstand und Vernunft als eine geordnete Reihe, so hat es die Vernunft nicht mit der Anschauung, sondern nur mit den Verstandeserkenntnissen zu tun. Sie ordnet diese und gibt ihrem Verlauf eine Richtung. Die Urteilskraft hingegen vermittelt zwischen der Anschauung einzelner Gegenstände und den Verstandesbegriffen, indem sie letztere schematisiert und so die Gegenstände unter diese Schemata subsumiert. Ihr obliegt also die Synthese von Anschauung und Begriff. Die Vernunft hat es demnach »in der begrifflichen Ordnung der Schlüsse und Ableitungen« (ebd.: 178) nur mit Gegenständen zu tun, die bereits unter Begriffe gefasst sind. Beide Vermögen haben es insofern auf unterschiedliche Art mit dem Besonderen zu tun. Zur Verdeutlichung unterscheidet Kant dabei Subsumtion und Bestimmung terminologisch. In Form der Bestimmung wird das Besondere aus höheren Gesetzen abgeleitet, indem dieses Allgemeine in Arten, Unterarten usw. spezifiziert wird. Das Besondere ist in dieser Richtung also je schon begrifflich, so dass man präziser sagen müsste, hier werde nicht das Besondere, sondern der allgemeine Begriff spezifiziert. Die Subsumtion geht im Gegensatz dazu vom Besonderen der Anschauung als Einzelnem aus, das erst unter einen Begriff zu bringen ist (vgl. ebd.: 179). Damit schließt sich aber auch für die reflektierende Urteilskraft die begriffliche Spezifikation nicht aus, wenn sie bspw. allgemeine Begriffe untergliedert. Jedoch ist diese logische Operation niemals mit der Subsumtion zu identifizieren, da sich ein begrifflich Spezifiziertes nie auf ein Einzelnes bezieht, da Kant die Möglichkeit eines vollkommen spezifizierten Begriffs ablehnt. Demgegenüber bildet der Gegenstand der Anschauung per se ein Einzelnes (vgl. ebd.: 180). Um den dabei fortbestehenden Unterschied zwischen hypothetischem Vernunftgebrauch und reflektierender Urteilskraft zu verdeutlichen, liefert Schubbach hier eine weitergehende Interpretation, zu der er selbst anmerkt, dass sie wohl nicht gänzlich die Intention Kants trifft, sehr wohl aber die Stoßrichtung seiner Argumentation. Mit Blick auf den regulativen Gebrauch der Ideen erklärt Kant, dass die transzendenten Gegenstände wie Ich, Welt und Gott, nicht als existierende Gegenstände gefasst werden. Wir haben keinen Begriff davon, was sie an sich sind, und betrachten sie deshalb als »Gegenstand in der Idee und nicht in der Realität« (Kant KrV: B 724–725/A 696–697). Sie beziehen sich demnach »auf keinen ihnen korrespondierenden Gegenstand und dessen Bestimmung« und doch führen »alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf [die] systematische Einheit« (ebd.: B 699/A 671 [Herv. i.O.]) der Erkenntnisse des Verstandes hin. Diese Rede vom Gegenstand in der Idee möchte Schubbach hier auf zweifache Weise verstehen: Zum einen als die Modifikation des transzendenten Gegenstandes zur bloßen Idee und zum anderen, dass auch die empirischen Gegenstände in dieser Vorstellung in die Idee versetzt werden, wenn »sie innerhalb der systematischen Einheit betrachtet werden, die zu liefern die jeweilige Idee der Vernunft verspricht« (Schubbach 2016: 181). In dieser Vorstellung ist bereits von vornherein »alles Besondere als begrifflich Spezifiziertes eingeschlossen« (ebd.). Die reflektierende Urteilskraft nimmt das Besondere umgekehrt nicht in der Idee des Allgemeinen gefasst, sondern sie muss dieses Allgemeine erst am Besondern aufsuchen. Die ihr eigene Form der Systematisierung der empirischen Gesetze muss damit stets auf diese Aufgabe am Besonderen der Wahrnehmung zurückbezogen werden (vgl. ebd.: 187). Schubbach resümiert:
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»Während sich die Vernunft aber auf die begriffliche Erkenntnis des Verstandes stützt und sie in den ›Vernunftzusammenhang der Erklärungen‹ einzuordnen sucht, um das Besondere als begrifflich Spezifiziertes aus dem Allgemeinen abzuleiten, geht die Urteilskraft vom Besonderen der Anschauung aus, um es auf die Ordnung des Begrifflichen zu beziehen und zu einer heuristischen Beurteilung zu gelangen. Die charakteristische Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, zur ›besonderen Erfahrung‹ überhaupt ein besonderes, als solches aber eben doch auch allgemeines Gesetz zu finden, ist somit nicht zu reduzieren auf die ihr ebenso obliegende Herstellung des systematischen Zusammenhangs der empirischen Gesetze.« (Ebd.: 188) Das System der Erfahrung, um das es der reflektierenden Urteilskraft geht, kann von den gegebenen Erfahrungen aus nur extrapoliert werden. Es ist zunächst nicht mehr als eine »projektierte Einheit« (Kant KrV: B 675/A 647 [Herv. i.O.]) und damit aufgegeben anstatt gegeben. Die reflektierende Urteilskraft setzt es so in ihrer Tätigkeit der Klassifikation – vom Besonderen zum Allgemeineren überzugehen, Begriffe zu finden und Klassen zu bilden – als logisches Prinzip voraus, dass sich die Natur selbst nach einem Prinzip spezifiziere, sich also nach allgemeinen Gattungen zu Untergattungen, Arten und Unterarten bestimmt (vgl. Kant EE: 27–28). In der Klassifikation strebt die reflektierende Urteilskraft einer obersten Gattung entgegen, »bis man zu dem Begriffe gelangt, der das Prinzip der ganzen Klassifikation in sich enthält (und die oberste Gattung ausmacht)« (ebd.: 27). Der reflektierenden Urteilskraft ist hiermit in ihrer Begriffsbildung (vgl. Cassirer KLL: 265) eine Orientierung, eine Richtung gegeben, wenn sich jene Begriffe zu einem logischen System fügen sollen. Dabei bilden die besonderen Erfahrungen den Ausgangspunkt, von dem die empirischen Gesetze zu bestimmen sind, während diese jedoch erst die Gegenstände der Erfahrung als solche qualifizieren, d.h., logisch vorausgesetzt werden. Die reflektierende Urteilskraft pendelt zwischen dem »angenommenen, aber zu bestimmenden Zusammenhang der besonderen Gesetze« und den »empirischen Gegenständen […] gleichsam hin und her«, »ohne dass sie an einer dieser beiden Seiten der empirischen Erkenntnis festen Halt gewinnen könnte« (Schubbach 2016: 189). Man kann dies als den »eigentümlichen ›Zirkel‹« der reflektierenden Urteilskraft bezeichnen: »Die empirischen Gesetze vermag sie allein an den Gegenständen der empirischen Erfahrung zu erkennen, diese Gegenstände kann sie aber nur unter Annahme jenes gesetzlichen Zusammenhangs überhaupt als konkrete Gegenstände der empirischen Erkenntnis qualifizieren.« (Ebd.) Jedoch handelt es sich hierbei nicht um einen Zirkel im Sinne eines logischen Fehlschlusses, sondern um die spezifische Form der Empirie in der Tätigkeit der Urteilskraft. Die Gegenstände der Erfahrung werden »unter der Annahme heuristischer Prinzipien und empirischer Gesetze« (ebd.: 190) beurteilt. Diese Annahmen müssen sich aber wieder an den Gegenständen empirisch bewähren oder andernfalls revidiert werden. Diese Form der Beurteilung beinhaltet also eine eigentümliche Beziehung der heuristischen Prinzipien und denen unter ihnen zu verstehenden Gegenständen der Erkenntnis, die uns dazu nötigt, nicht nur die Inhalte, sondern auch die Form der Erkenntnis, d.h. ihre transzendentalen Bedingungen, als empirisch zu begreifen (vgl. ebd.). »Eine ›subjektiv-notwendige transzendentale Voraussetzung‹ bezeichnet somit eine Bedingung, die das Erkennen auf seinen eigenen empirischen Fortgang hin öffnet und sich selbst ebenso wie die be-
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greifbare Bestimmtheit der Gegenstände in diesen Fortgang einschreibt.« (Ebd. [Herv. i.O.]) Die Annahmen der reflektierenden Urteilskraft geben damit den Blick frei für die empirischen Seiten der transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis. Zuletzt lockert sich damit auch die Verknüpfung des transzendentalen Verhältnisses zu seiner apriorischen Bestimmung (vgl. ebd.: 166–167). Inwiefern hat sich diese Verknüpfung gelockert? Kant führt aus, dass die reflektierende Urteilskraft ihre Klassifikationstätigkeit nur unter der Bedingung, »die Natur spezifiziere selbst ihre transzendentalen Gesetze nach irgend einem Prinzip« (Kant EE: 28), ausüben kann. Jenes Prinzip war die Angemessenheit für den reflektierenden Verstand, ihre Ausgestaltung in einem logischen System. In Kants Terminologie zeigt das Adjektiv »transzendental« die Beziehung auf den Gegenstandsbezug von Vorstellungen und Begriffen an (vgl. Nerurkar 2012: 6), verweist »auf die Art des Wissens von Gegenständen« und »nicht unmittelbar auf die Gegenstände selbst« (Cassirer KLL: 282). Ein solcher Gegenstandsbezug kann wiederum a priori oder a posteriori sein. Im letzteren Fall wäre ein solcher Bezug empirisch, d.h., durch Affektion vermittelt, im ersten Falle nicht – die beiden Begriffe markieren so den »Modus des Bezugs von Vorstellungen« (Nerurkar 2012: 6). Während Kant den Gegenstandsbezug von Vorstellungen a posteriori als unproblematisch einschätzt und in ihrem Fall nur nach einer empirischen Deduktion verlangt, »welche die Art anzeigt, wie ein Begriff durch Erfahrung und Reflexion über dieselbe erworben worden, und daher nicht die Rechtmäßigkeit, sondern das Faktum betrifft, wodurch der Besitz entsprungen« (Kant KrV: B 117/A 85), bedürfen Vorstellungen und Begriffe, die sich a priori auf Gegenstände beziehen, eines Nachweises ihres Geltungsanspruches, einer transzendentalen Deduktion. Wie wir wissen, ergibt sich dieser Nachweis daraus, dass jene Begriffe die Form der Gegenständlichkeit überhaupt und damit Erfahrung ermöglichen, woraus sich schließt, dass ihnen keine Erfahrung widersprechen kann, insofern diese überhaupt Erfahrung sein soll (vgl. ebd.: B87). Diese transzendentale Deduktion lässt sich damit für die Gesetze des Gegenstandsbezugs respektive für die Gesetze hinsichtlich der Art des Wissens von Gegenständen durchführen. Im Falle des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft ist dies anders gelagert: So kann dieses Prinzip nicht aus der Beobachtung gelernt werden – denn es ist stets bereits vorauszusetzen, ermöglicht jenen Bezug –, ebenso wenig wie der Natur damit absolut ein Gesetz vorgeschrieben wird, da es kein konstitutives Prinzip darstellt. Es gibt in diesem Sinne also keine Garantie, dass sich die Natur bzw. Erfahrung diesem Prinzip fügt und dies ist der Grund, warum es von der Erfahrung bestätigt werden kann (vgl. Kant KU: B XXXVIII–B XXXIX/A XXXVI–XXXVII). Als reflexives Prinzip leitet es die Reflexion über die Gegenstände der Erfahrung an, es markierte eine subjektiv notwendige Frage, die wir an die Erfahrung zu stellen haben – mit offener Antwort (vgl. Cassirer KLL: 290) –, und erfuhr auf diese Weise seine Geltungsberechtigung. In und mittels dieser Reflexion über die Erfahrung entwickelt die Urteilskraft die Annahmen, die den Gegenstandsbezug über die Form der Gegenständlichkeit überhaupt hinaus erweitern, jenseits des a priori Gewissens bestimmen, aber dennoch transzendental im oben definierten Sinne sind. Allerdings müssen sich diese Annahmen jenen allgemeinen transzendentalen Gesetzen einfügen, mithin sich zu seinem System qualifizieren. Nun sind diese Annahmen aber ihrerseits nicht gänzlich erfahrungsunabhängig, wenn sie in der Reflexion über Erfahrungen mithilfe eines apriorischen Prinzips ihren
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Ursprung haben, ohne wiederum reine Erfahrungsbegriffe zu sein, da sie die Gegenstände erst als spezifische qualifizieren. Damit stellt sich aber die Frage, welchen Geltungsanspruch diese Begriffe besitzen, d.h., wie sie zu den Gegenständen passen.6 Wir wissen bereits, dass die reflektierende Urteilskraft die eigenen Annahmen nicht selbst gewährleisten kann – so ergibt sich die Forderung nach einer Form der praktischen Bewährung. Für Kant selbst vollzieht sich diese Bewährung jedoch in exemplarischer und – dies dürfte das besondere Charakteristikum hier sein – ästhetischer Form (vgl. Schubbach 2016: 195–196). Eine gegenständliche Entsprechung des Prinzips der reflektierenden Urteilskraft findet sich in der Vorstellung der Natur als Kunst bzw. Technik. Dies meint die Vorstellung der Naturformen in solcher Form, dass sie unter der Voraussetzung bestimmter Zwecke geschaffen und somit begrifflich geordnet seien. Die innere Wahrnehmung einer solchen Zweckmäßigkeit der Naturformen meint nun aber Kant zufolge eben keine alleinige gegenständliche Bestimmung, da die zweckmäßige Ordnung selbst das Verhältnis zum subjektiven Erkenntnisvermögen meint. Und so hebt Kant heraus, dass dieses Verhältnis im Urteil selbst sich zeigen muss: Der Gegenstand ist Anlass zu einer bloßen Reflexion über die Wahrnehmung eines Gegenstands; sie wendet sich aber von der Wahrnehmung des Gegenstandes auf das Erkenntnisvermögen selbst zurück, anstatt besondere Gesetze zu jenem Gegenstand zu bestimmen, denn »in der bloßen Reflexion geht es nicht um einen bestimmten Begriff, sondern überhaupt nur um die Regel, über eine Wahrnehmung zum Behuf des Verstandes, als eines Vermögens der Begriffe, zu reflektieren« (Kant EE: 33). Im bloß reflektierenden Urteil wird sodann das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand, wie es sich faktisch bei einer jeweiligen Wahrnehmung zeigt, verglichen mit dem Verhältnis, in dem beide Vermögen für die Urteilskraft überhaupt stehen müssen. Gefordert ist hier ein reibungsloses Verhältnis, »damit die reflektierende Urteilskraft zum Besonderen in der Anschauung einen allgemeinen Begriff finden kann« (Schubbach 2016: 199). Ein empirischer Begriff verlangt nach Kant drei verschiedene Handlungen unseres spontanen Erkenntnisvermögens: a) Auffassung des Mannigfaltigen der Anschauung (Einbildungskraft) b) Zusammenfassung, also synthetische Einheit des Bewusstseins dieses Mannigfaltigen in dem Begriff eines Objektes (Verstand) c) Darstellung des diesem Begriff korrespondierenden Gegenstandes in der Anschauung
Im Ausgang von einem gegebenen Objekt der empirischen Anschauung muss in Reflexion über die Form desselben die »Auffassung des Mannigfaltigen [...] in der Einbil-
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Vor diesem Hintergrund ist Michael Nerurkar nur bedingt zuzustimmen, wenn dieser herausstellt, die transzendentale Deduktion sei »transzendentale Deduktion genau insofern sie eine ›Erklärung der Art ist, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können‹« (Nerurkar 2012: 7). Den wesentlichen Unterschied zwischen transzendentaler und empirischer Deduktion bildet die Frage nach Geltung oder Faktum, denn die Frage nach der Geltung stellt sich auch im Falle der Begriffe, die uns die reflektierende Urteilskraft liefert.
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dungskraft« mit der »Darstellung eines Begriffes des Verstandes (unbestimmt welches Begriffs)« (Kant: EE: 34 [Herv. i.O.]) übereinkommen, um zu einem Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft zu gelangen und einen Gegenstand subjektiv als zweckmäßig zu betrachten. Ein solches Urteil stellt jedoch kein Erkenntnisurteil, sondern »ein ästhetisches Reflexions-Urteil« (ebd.: 26 [Herv. i.O.]) dar. »Wir nehmen an einem Gegenstand Zweckmäßigkeit wahr, wenn seine Wahrnehmung Anlass für eine Reflexion ist, in der ein Urteil das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, wie es sich tatsächlich ergibt, mit demjenigen identifiziert, wie es die reflektierende Urteilskraft für jeden empirischen Gegenstand voraussetzen muss.« (Schubbach 2016: 200) Diese Lösung schließt sich jedoch für Cassirer aufgrund seiner abweichenden Konzeptualisierung der Ästhetik aus. Im Folgenden möchte ich darstellen, wie Cassirer Kants Überlegungen in der Philosophie der symbolischen Formen aufgreift, um seine »semiempirische[...] Methode« « (Recki 2004: 45) zu entwickeln. Ferner möchte ich darlegen, dass diese Methode weniger »intuitiv« (ebd.) angelegt ist, als lange angenommen.
8.3 Das Symbolische als »latente Einheit des Problems« Die vorangegangenen Ausführungen dienen dazu, Cassirers Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen und die darin enthaltene Auseinandersetzung mit den einzelnen Erscheinungen der Kultur verständlich zu machen. Die Kritik der Urteilskraft und vor allem die Erste Einleitung waren im Zuge des Projekts einer Neuedition der Werke Kants in Cassirers Fokus gerückt. Dass Cassirer im Rahmen dieser Auseinandersetzung die dritte Kritik Kants neu bewertete, zeigt sich vor allem in dem Aufsatz Die Grundprobleme der kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation von 1914 und der Schrift Kants Leben und Lehre, die gleichzeitig den Abschluss des Projekts bildete und deren Manuskript bereits 1916 vollendet worden war (vgl. Schubbach 2016: 15–16 und 207–208). Damit fällt die Relektüre der Kritik der Urteilskraft kurz vor die ersten konzeptionellen Arbeiten zur Philosophie der symbolischen Formen im Rahmen der angesprochenen 32-seitigen Disposition sowie den 240 Blättern mit Notizen zu kulturwissenschaftlichen Studien. In diesen Arbeiten können wir Cassirers Übergang von der Theorie des wissenschaftlichen Begriffs zum Begriff des Symbols und der Kultur nachvollziehen, der in der Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften mündete und damit zentral für die Entfaltung eines »welthaltig[en]« (ebd.: 15) Denkens ist (vgl. auch ebd.: 239ff.). Cassirers Lesart zufolge ergibt sich mit der Kritik der Urteilskraft »eine[...] Veränderung in der wechselseitigen systematischen Stellung aller bisher gewonnenen und festgesetzten kritischen Grundbegriffe« (Cassirer KLL: 276), wenn sie die Frage stellt, ob Natur nicht auch in einer Weise gedacht werden kann, »daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme« (Kant KU: B XX/A XIX–XX). Gemäß der kritischen Fragestellung lässt sich eine solche Vermittlung nicht dadurch bewerkstelligen, dass eine mittlere Sphäre zwischen Natur und Freiheit eingeführt wird, sondern indem eine neue Art der
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Betrachtung, eine neue Form des Urteils neben dem theoretischen und dem praktischen aufgewiesen wird. Die Begriffe von Urteil und Objekt sind nach kritischer Lehre korrelativ zu denken, sodass die Wahrheit des Objekts nur von der Wahrheit der Urteilsform her verstanden werden kann. Eine neue Form des Urteils meint eine eigentümliche Gesetzesform der Verknüpfung, die die Einheit des Urteils auszeichnet. Diese Gesetzesform muss sich nun also von den Gesetzen der Freiheit und des Kausalprinzips unterscheiden. Ein Reich der organischen Formen lässt sich also aufweisen, insofern die Natur mittels der Verknüpfung unter dem Zweckbegriff und nicht dem Kausalbegriff betrachtet wird (vgl. Cassirer KLL: 274–276). Wird die Natur nun aber einmal unter dem Kausalbegriff und das andere Mal unter dem Zweckbegriff vorgestellt, so erfordert die Kritik, das Verhältnis und die jeweiligen Geltungsansprüche beider Formen zueinander zu bestimmen. Die mögliche Antinomie einer Natur nach kausalen und nach teleologischen Prinzipien verschwindet, »sobald wir beide als zwei verschiedene Ordnungsweisen denken, durch die wir versuchen, Einheit in die Mannigfaltigkeit der Phänomene zu bringen. An die Stelle des Widerstreits zwischen zwei metaphysischen Grundfaktoren des Geschehens tritt dann der Einklang zwischen zwei einander ergänzenden ›Maximen‹ und Vernunftforderungen.« (Ebd.: 332) Wenn Cassirer damit betont, dass die Prinzipien des Mechanismus und der Teleologie heuristischen Charakter besitzen und sich als Maximen der reflektierenden Urteilskraft gegenseitig ergänzen, bedeutet das auch ein Infragestellen seiner eigenen Theorie des wissenschaftlichen Begriffs, die sich zunächst wie Kant eng an den exakten Wissenschaften orientierte. So hatte Cassirer zuvor dem Begriff die Leistung zugesprochen, dem Gegensatz von Allgemeinem und Besonderem die metaphysische Schärfe zu nehmen, indem er alles Besondere als Fall eines Gesetzes unter sich begreifen sollte. Der allgemeine Begriff ist so die notwendige Voraussetzung, unter der das Besondere gedacht werden kann (vgl. Schubbach 2016: 210–213). In dieser Fassung wäre das Problem des Besonderen auf die Lehre des Schematismus reduziert respektive auf die Subsumtion unter die Kategorien, also der mechanischen Gesetze. So »fällt die Allgemeinheit im Wesentlichen mit der Verstandesregel, die Besonderheit mit dem Datum der sinnlichen Anschauung zusammen« (Cassirer GKM: 212). Der Einwand, den Richard Hönigswald (1912) in seiner Rezension von Substanzbegriff und Funktionsbegriff formulierte, dass das Besondere, lies: begrifflich Spezifiziertes, eben noch nicht das Individuelle der Anschauung sei (vgl. Orth 1996b: 182), wird von Cassirer nun erst durch seine Relektüre der Kritik der Urteilskraft in sein eigenes Denken aufgenommen (vgl. Schubbach 2016: 214). Hönigswalds Kritik hatte sich auf Cassirers Identifikation der logischen Form des mathematischen Denkens mit der Form der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt gerichtet. Diese unrechtmäßige Verallgemeinerung verhindere eine Erkenntnistheorie, die »das Problem der Differenzierung der wissenschaftlichen Begriffsbildung« (Hönigswald 1912: 2894–2895 [Herv. i.O.]; zitiert nach Schubbach 2016: 84) angeht. In einer solchen Erkenntnistheorie gelte es nämlich, die Besonderung der Gesetze auf Fälle, d.h. die Spezifizierung des allgemeinen Begriffs von dem Besonderen der Gesetze selbst, zu trennen (vgl. Schubbach 2016: 213). Letzteres meint nun die
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Differenzierungen des Allgemeinen, die sich nicht aus höheren Gesetzen ableiten lassen und auf diese Weise die verschiedenen empirischen Einzelwissenschaften kennzeichnen. Zu der Überzeugung, dass es sich hierbei um ein eigenständiges Problem handelt (vgl. ebd.: 214), gelangt Cassirer, wenn er feststellt, dass die Kritik der Urteilskraft erstmals »nach dem Grund und dem transzendentalen Recht der Besonderung der Verstandesgesetze selbst fragt« (Cassirer GKM: 212 [Herv. i.O.]). Dieser Besonderung lag aber nun zunächst die »Erweiterung und Vertiefung des Aprioritätsbegriffs« zugrunde, ausgehend davon, dass »für die vollständige Form der Erfahrung die Bedingung der allgemeinen Verstandesgesetze zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist« (Cassirer KLL: 293). So nahm die transzendentale Untersuchung, wie von Hönigswald gefordert, das Individuelle in den Blick und suchte auch an diesem nach der spezifischen apriorischen Formung. Dabei hebt Cassirer aber nicht nur die jeweiligen Formen hervor, in der sich Erfahrung und Gegenstand aufeinander beziehen, sondern auch das wechselseitige Verhältnis respektive den systematischen Zusammenhang dieser Formen zueinander (vgl. Schubbach 2016: 214). Diese Erweiterung bedeutet für Cassirer, dass das Apriori »nicht auf eine einzige metaphysische Grundkraft des Bewußtseins zurückgeleitet« (Cassirer KLL: 311) werden kann. Es bildet nicht mehr den bloßen Ausdruck der Erkenntnis oder der Vernunft, sondern der Spontaneität des Bewusstseins überhaupt, die in ihren spezifischen Besonderungen und Anwendungen verbleibt, ohne sich in diesen je zu erschöpfen. Retrospektiv können wir in dieser Verschiebung vom Begriff der Vernunft hin zur Spontaneität bereits erstmals den Übergang von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur aufleuchten sehen. Der Begriff der symbolischen Form und der mit ihm begründeten Methode ist auf diese Weise aufs Engste mit der Auseinandersetzung mit der Kritik der Urteilskraft verknüpft. Cassirers Kant-Interpretation weiter folgend entwickelt sich so das Urteil zur allgemeinsten apriorischen Struktur und bestimmt in jeweiliger Ausformung die Erfahrung und das Verhältnis von Subjekt und Objekt (vgl. Schubbach 2016: 215) »Wie die Erweiterung des Urteils über den Bereich der Erkenntnis hinaus bei Kant schließlich in ein Apriori des Urteils im Allgemeinen und ein System seiner Besonderung mündete, ist ›das Symbolische‹ an die Stelle des funktional-relationalen Begriffs getreten, um einige seiner allgemeinsten Charakteristika in sich zu fassen und sie zugleich auf verschiedene Formen der kulturellen Symbolisierung zu beziehen.« (Ebd.: 216–217 [Herv. i.O.]) Der Beginn der Philosophie der symbolischen Formen als Kulturphilosophie kennzeichnet sich damit einerseits durch eine ›Generalisierung‹ und eine ›Respezifizierung‹ andererseits. Der wissenschaftliche Begriff erweitert sich zum Symbolischen überhaupt, das nun die notwendigen Bedingungen eines jeden gegenständlichen Weltverhältnisses in sich fasst. Gleichzeitig wird der wissenschaftliche Begriff in seiner engeren Bedeutung zu einer spezifischen Ausformung des Symbolischen und markiert so die hinreichenden Bedingungen eines ausgezeichneten Weltverhältnisses und Gegenstandbezuges. Der entscheidende Schritt, den Cassirer dabei mit Hilfe der Kritik der Urteilskraft vollzieht ist, dass er »die Spezifikation des Symbolischen nicht aus einem vorgängigen philosophischen Begriff abzuleiten versucht, sondern als Entfaltung in einem irreduzi-
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bel empirischen und historischen Prozess versteht« (Schubbach 2016: 218).7 Die kopernikanische Wende der kantischen Transzendentalphilosophie, das »›Primat‹ der Funktion vor dem Gegenstand« (Cassirer PsF I: 9), betrifft damit über den engeren Bereich der Erkenntnis hinaus alle Gebiete geistiger Gestaltung, ohne dass diese durch dieses Prinzip bereits hinreichend bestimmt wären. Programmatisch formuliert Cassirer dies in der Einleitung des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen: »Die echte, die konkrete Totalität des Geistes soll nicht von Anfang an in einer einfachen Formel bezeichnet und gleichsam fertig hingegeben werden, sondern sie entwickelt, sie findet sich erst in dem stetig weiterschreitenden Fortgang der kritischen Analyse selbst. Der Umfang des geistigen Seins kann nicht anders bezeichnet und bestimmt werden als dadurch, daß er in diesem Fortgang abgeschritten wird.« (Ebd.: 8) Die Totalität des Geistes, das symbolische Vermögen gewinnt auch hier die Rolle eines subjektiv-notwendigen Prinzips, einer Frage, die es notwendig an die Objektivationen des Geistes zu stellen gilt, deren Antwort jedoch nur in der Auseinandersetzung mit der Kultur selbst gefunden werden kann. Die Möglichkeit der Frage stellt a priori einen Bezug zur menschlichen Kultur her, ihre konkrete Ausgestaltung bleibt der empirischengeistesgeschichtlichen Entwicklung überlassen. Gewährleistet das Prinzip nur noch die Möglichkeit die Spezifikationen des Symbolischen aufzufinden, aber nicht mehr deren Deduktion, kann sich der Fortgang der kritischen Analyse nur am Besonderen und Einzelnen selbst vollziehen: »Nirgends anders als am Besonderen ist, wie sich jetzt zeigt, die Funktion des ›Allgemeinen‹ darstellbar.« (Cassirer GKM: 211)8 In der Reflexion über dieses Besondere gilt es, die jeweiligen Beziehungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede herauszuheben, »die sich in Begriffen und Regeln immer umfassenderer Art aussprechen« (Cassirer KLL: 283) lassen. Das Allgemeine, der Begriff, kann also nicht a priori vorausgesetzt werden, vielmehr gilt es, den Begriff als Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen in Abhängigkeit von der empirischen Erkenntnis zu spezifizieren (vgl. Schubbach 2016: 219). Beispielhaft führt dies Cassirer in seiner Interpretation der erkenntnistheoretischen Konsequenzen der einsteinschen Relativitätstheorie vor. Die Form erweist sich in ihrem fortwährenden, wechselseitigen Bezug auf »die Data der empirischen Beobachtung« als »das aktive und gestaltende, das eigentlich schöpferische Moment« (Cassirer ER: 82). Der Gedanke verwandelt die Probleme, die sich in diesem Prozess für die bestehende Form eröffnen, in Postulate, die die Entwicklung und Gestaltung des Reichs der Formen anleiten (vgl. ebd.: 22–24). »Immer mehr begreift der Gedanke, daß sie [die Formen] ihm in ihrer Besonderung nicht mit einem Schlage gegeben werden kann, sondern daß ihr Bestand sich nur in ihrem Werden und ihrem Gesetz dieses Werdens für ihn enthüllt.« (Ebd.: 82–83) Die Geschichte der Form bildet so die Geschichte der Entdeckung neuer 7
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Gideon Freudenthal (2004) vertritt hierzu allerdings die These, dass Cassirer gerade hieran scheitert, diese historische Entwicklung wirklich in seiner Philosophie aufzuzeigen, insofern seinem Entwicklungsbegriff gerade die empirisch-materiale Seite ermangle, auf die es hier ankommt (siehe hierzu Kapitel 9.4). »In dieser Hinsicht hat der Gedanke, auf den die Lehre vom Schematismus hinzielt, seine entscheidende Ergänzung und Erfüllung erst in der ›KdU‹ gefunden.« (Cassirer GKM: 211)
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Denkmittel (vgl. ebd.). Hierdurch bestätigt sich ferner nochmals die eingangs des Kapitels 8.2 aufgestellte These, wonach für Cassirer die allgemeinsten Bedingungen der Erkenntnis nicht hinreichend sind, um die Form des physikalischen Gegenstandsbezuges zu begründen. Wenn aber die Form des Gegenstandsbezugs jener Begriffe nicht a priori gesichert ist, stellt sich die Frage, ob wir es hier mit durch den Affekt vermittelten Vorstellungen zu tun haben, die von der Erfahrung revidiert werden können. Es gilt hinsichtlich dieser Frage aber zu bedenken, dass die symbolischen Formen eben keine Reaktionen auf äußere Gegebenheiten darstellen, sondern die Form wird begriffen als die vermittelnde und vermittelte Antwort, als spontane, gestaltende Kraft im Reflexionsprozess, der an der Wahrnehmung beginnt (vgl. Cassirer VüM: 49). Setzt die Reflexion aber am Besonderen an, erfordert dies bereits eine Spezifikation des Allgemeinen, die den Bezug zum Gegenstand qualifiziert. Die Qualifizierung des Gegenstandsbezugs ist dann das Ergebnis eines Prozesses, in dem die Gegenstände mittels der Annahme einer solchen Spezifikation provisorisch beurteilt werden, um diese Annahme gegebenenfalls zu revidieren. Daraus folgt, dass mit diesem Prozess auch die Spezifikation empirischen Charakters ist und so innerhalb jener Reflexion nicht mehr grundsätzlich zwischen Empirischem und Apriorischem unterschieden werden kann. Es gelingt der Reflexion nicht mehr, unmittelbar auf die allgemeinsten Bedingungen der Erfahrungen zuzugreifen und die Erfahrung auf diese Weise zu übersteigen (vgl. Schubbach 2016: 220–221). Das Absehen von allem, was aus der Empfindung stammt, hatte noch die Methode in der Kritik der reinen Vernunft bestimmt, wie zu Beginn des Kapitels aufgezeigt wurde. Auf welchem Weg erschließt sich dann nun Cassirers Kulturphilosophie die allgemeinen Bedingungen der Erfahrung? Das Besondere findet die Kulturphilosophie nun in »den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen im Kulturbewußtsein« (Cassirer PdM: 177) vor, mit anderen Worten in den Ergebnissen der kulturwissenschaftlichen Forschung (vgl. hierzu Luft 2015: 184ff.). Sie bleibt bei diesen Tatsachen aber nicht stehen, sondern fragt für jedes Phänomen »nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurück.9 In ihnen sucht sie [die Philosophie] seinen bestimmten Stufenbau, eine Über- und Unterordnung der Strukturgesetze des betreffenden Gebiets, einen Zusammenhang und eine wechselseitige Bestimmung der einzelnen gestaltenden Momente aufzuweisen.« (Ebd.: 178) Die philosophische Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Kultur vollzieht in der Reflexion einen Aufstieg von den Besonderungen hin zu allgemeineren Formungen des 9
Auch wenn Cassirer betont, dass die Wissenschaft nur eine Weise der Welterfahrung neben anderen darstellt, dient ihm letztlich – abgesehen von Cassirers Dichter-Rezeption, die nicht immer aus literaturwissenschaftlicher Perspektive geschieht! – nur die Wissenschaft als Medium, um jene Weisen der Welterfahrung zu erschließen. Selbstverständlich ist dies ein legitimes, wenn nicht sogar gefordertes Vorgehen, sich der Wissenschaften zu bedienen und den Anschluss an diese zu suchen. Die Frage ist hier vielmehr, ob es gerechtfertigt werden kann, sich nur auf die Wissenschaften zu beschränken. Oder anders formuliert: Ob diesem Medium nicht bereits eine Beschränkung innewohnt, die zu einer perspektivischen Verzerrung führt und es nicht erlaubt, bestimmte Probleme der menschlichen Praxis in den Blick zu nehmen. Es gilt zu bedenken, dass sich Cassirer auf bestimmte Wissenschaften konzentriert und beispielsweise Soziologie, Ökonomie und auch Politik(-wissenschaft) maximal eine randständige Rolle spielen.
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Symbolischen, um diese in einem System zueinander zu bestimmen. In der obersten Gattung, in der Einheit des »geistigen Prinzips […], von dem alles seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle, sich zuletzt beherrscht zeigen« (ebd. [Herv. i.O.]), haben wir den Fluchtpunkt der philosophischen Reflexion (und nicht den Ausgangspunkt einer Ableitung).10 Der Philosophie gehe es demnach ferner darum, auf diese Einheit, die »Eigenart der symbolischen Funktion«, hinzuweisen, »ohne sie dabei in eine bloße abstrakte Einfachheit aufgehen zu lassen« (Cassirer SSP: 281 [Herv. i.O.]). Damit wird verständlich, warum Cassirer stets sehr zurückhaltend ist, was eine Definition oder eine klare Bestimmung des zentralen Begriffs seiner Philosophie, jener der symbolischen Form, angeht. Aus dem Vortrag Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften kennen wir die Beschreibung der symbolischen Form als »jede Energie des Geistes […], durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird« (Cassirer BdsF: 79). Unter diesem Eindruck beschrieb Orth (1996a) die symbolische Form in Anlehnung an Eugen Fink als »Operativen Begriff« par excellence.11 Operative Begriffe sind dadurch gekennzeichnet, intellektuelle Schemata zu nutzen, ohne diese selbst zu fixieren. Der philosophischen Reflexion dienen sie als »mediale Denkbahn« und »Medien der Orientierung« (Orth 1996a: 103–104). Sie verleihen dem Denken durch ihren Gebrauch eine Ausrichtung. Als oberste Gattung enthält der Begriff des Symbolischen präsumtiv das Prinzip seiner Einteilung, das Gesetz der Spezifikation des Geistigen, das vorauszusetzen ist, damit überhaupt eine Klassifikation der Phänomene der Kultur stattfinden kann
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Paradigmatisch hierfür ist folgender Abschnitt aus dem ersten Teil der Philosophie der symbolischen Formen: »Die kritische und die metaphysisch-spekulative Lösung dieses Problems aber unterscheiden sich darin, daß beide einen verschiedenen Begriff des ›Allgemeinen‹ und damit einen verschiedenen Sinn des logischen Systems selber voraussetzen. Die erstere Betrachtung geht auf den Begriff des ›Analytisch-Allgemeinen‹ zurück, die zweite zielt auf den des ›Synthetisch-Allgemeinen‹ hin. Dort begnügen wir uns damit, die Mannigfaltigkeit der möglichen Verknüpfungsformen in einem höchsten Systembegriff zu vereinen und sie damit bestimmten fundamentalen Gesetzen unterzuordnen; hier suchen wir zu verstehen, wie sich aus einem einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen entwickelt. Wenn die letztere Betrachtungsweise nur einen Anfangspunkt und einen Zielpunkt zuläßt, die beide durch die stete Anwendung ein und desselben methodischen Prinzips im synthetisch-deduktiven Beweisgang miteinander verknüpft und vermittelt werden – so duldet die andere nicht nur, sondern sie fordert geradezu eine Mehrheit verschiedener ›Dimensionen‹ der Betrachtung. Sie stellt das Problem einer Einheit, die von Anfang an auf Einfachheit verzichtet. Die verschiedenen Weisen der geistigen Formung werden als solche anerkannt, ohne daß der Versuch gemacht wird, sie einer einzigen, einfach-fortschreitenden Reihe einzuordnen. Und doch wird, gerade in einer solchen Ansicht, auf einen Zusammenhang der Einzelformen unter sich keineswegs verzichtet, sondern es wird vielmehr umgekehrt der Gedanke des Systems dadurch noch verschärft, daß an Stelle des Begriffs eines einfachen Systems der Begriff eines komplexen Systems tritt. Jede Form wird sozusagen einer besonderen Ebene zugeteilt, innerhalb welcher sie sich auswirkt und in der sie ihre spezifische Eigenart völlig unabhängig entfaltet – aber gerade in der Gesamtheit dieser ideellen Wirkungsweisen treten nun zugleich bestimmte Analogien, bestimmte typische Verhaltungsweisen hervor, die sich als solche herausheben und beschreiben lassen.« (Cassirer PsF I: 26–27) Ich danke Timo Klattenhoff für den Hinweis auf Orths Aufsatz zur Rolle der operativen Begriffe.
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– auch wenn sich a priori dieses Prinzip nicht bestimmen lässt. Die Klassifikation vollzieht sich im Medium des Symbolischen, dessen vollständige Bestimmung bleibt dabei jedoch eine nie zu vollendende Annäherung. Und doch gewinnt die Arbeit der Reflexion mit dem Symbolischen in diesem Prozess einen Punkt der Orientierung. Denn um eine logizistische Vereinseitigung der Kultur, wie Cassirer sie Hegel vorwirft, zu vermeiden, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, sich in der Mannigfaltigkeit der kulturellen Erscheinungen zu verlieren, muss Cassirer ein Moment annehmen, das sich innerhalb jeder geistigen Form erhält, ein »Medium […], durch welches alle Gestaltung, wie sie sich in den einzelnen geistigen Grundrichtungen vollzieht, hindurchgeht und in welchem sie nichtsdestoweniger ihre besondere Natur, ihren spezifischen Charakter bewahrt« (Cassirer PsF I: 14). Es sichert damit den Weg der Reflexion von den Phänomenen zurück ins Allgemeine. Als ein solches Medium lässt sich der Begriff der symbolischen Form aber nicht jenseits der Phänomene der Kultur angeben, erst hier können wir tatsächlich erfahren, was das Symbolische ist, wenn mit ihm das Verhältnis der Phänomene und Strukturgesetze untereinander vorausgesetzt wird, sodass er sich stets an ihnen zu bewähren hat oder andernfalls zu erweitern ist. Der Begriff des Symbolischen markiert also die Einheit der geistigen Energien, aber dies in Form einer »latente[n] Einheit des Problems« (Cassirer SSP: 280), die das Projekt der Philosophie der symbolischen Formen prägt. Die Generalisierung des Begriffs zum Symbolischen zielt darauf, das kulturwissenschaftliche Material zu erschießen, das uns wiederum die »Respezifikationen des Symbolischen in verschiedenen Formen der Symbolisierung« (Schubbach 2016: 17) eröffnet. »Seine Klärung ist sowohl eine Frage der begrifflichen Präzisierung als auch Sache der materialen Explikation anhand einer Vielfalt von Formen der Symbolisierung.« (Ebd.: 17–18) Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen formuliert Cassirer eingangs programmatisch, dass wir die bildende Kraft des Geistes an seinen mannigfachen Äußerungen vor uns haben, im »Reflex« auf diese Äußerungen erblicken wir »die Wesenheit des Geistes – denn diese kann sich für uns nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen Materials betätigt« (Cassirer PsF I: 19). Es zeichnet sich ab, dass der Begriff der symbolischen Form selbst mit seinen spezifischen Eigenschaften als operativer Begriff für Cassirer die Richtung einer Abstraktion vorgibt, die an den konkreten Phänomenen vollzogen wird, für die Kant (zumindest in der Kritik der reinen Vernunft) noch die Verhältnisunterscheidungen von rein/empirisch und a priori/a posteriori voraussetzte. Im Anschluss an diese Rekonfiguration der kritischen Fragestellung stellt sich das Problem, in welcher Weise ein solches durchgängiges Moment des Symbolischen gewährleistet werden kann, das die höherstufige Einheit der Besonderungen begründet. Warum sollten wir hier ein System der symbolischen Formen annehmen? Für Kant sicherte sich die Form des Systems über die allgemeinen und notwendigen Bedingungen der Erkenntnis, denen die subjektiv-notwendigen Maximen als besondere Voraussetzungen unterzuordnen sind. Mit der Modifikation des Begriffs des Apriori ist für Cassirer diese Voraussetzung nicht mehr ohne weiteres gegeben, »[d]enn die Unterscheidung zwischen deduzierbaren und notwendigen Bedingungen aller Erkenntnis und heuristischen und historischen Prämissen spezifischer Formen der Erkenntnis spielt für ihn keine zentrale Rolle« (Schubbach 2016: 231). Orth weist auf Cassirers Bestreben hin, den »Unterschied von regulativ und konstitutiv dogmatisch zu entwerten, um ihn operativ in der Forschung einsetzen zu können« (Orth 1996b: 188). So
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eindeutig äußert sich zwar Cassirer in seinem vierten Band des Erkenntnisproblems (vgl. Cassirer EPW IV: 141f.), auf den sich Orth bezieht, nicht. Doch arbeitet Cassirer an dieser Stelle deutlich die unverzichtbare Bedeutung der Maxime der Zweckmäßigkeit in der Biologie heraus, die entgegen vitalistisch-metaphysischen Missverständnissen nur ein Ordnungsprinzip darstelle, aber ein Ordnungsprinzip sui generis, das die mechanische Betrachtung ebenso wenig ablöst, wie es von ihr überflüssig gemacht wird. »Hat man dies einmal eingesehen, so ist es müßig darüber zu streiten, welche von beiden höher steht, und noch weniger fruchtbar ist es, wenn man nun der kausalen Erkenntnis den Namen der ›Wissenschaft‹ vorbehalten will.« (Ebd.: 250) Doch nötigt die Auseinandersetzung um den Status der beiden Prinzipien und um ihren Bezug zu den Phänomenen auch die Biologie dazu, ihre »spezifischen Denkmittel« (ebd.: 251) zu entwickeln und sich ihrer kritisch zu versichern. Wenn Kant in den Prolegomena formuliert, dass wir die Erscheinungen buchstabieren müssen, um sie als Erfahrung lesen zu können, gewinnen wir das hierzu nötige Alphabet durch die Analyse des Verstandes. Cassirer liest die Kritik der Urteilskraft dahingehend, dass wir »mit dem Zweckbegriff gegenüber den Begriffen der reinen Mathematik und Mechanik« für die Biologie »gewissermaßen ein anderes Alphabet [...] einführen« (Cassirer KmB: 69) und uns damit eine neue Weise des Buchstabierens eröffnen (vgl. Orth 1996b: 187). Wie wir uns solche verschiedenen Alphabete vorzustellen haben, verdeutlicht Cassirer in dem Nachlasstext Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Hier richtet sich Cassirer gegen eine Kantinterpretation, die in apriorischen Formen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis mehr sehen will als methodische Abstraktionen. Ebenso wenig wie ein Alphabet, das Wörter in ein Zeichensystem übersetzt, um sie lesbar zu machen, dabei aber nicht unabhängig von der gesprochenen Sprache ist, besitzen jene Formen keinen eigenständigen Status, so als existierten sie gesondert und ordneten sodann empirisches Material in sie ein. Gerade die wissenschaftliche Entwicklung zeige, dass eine solche Auffassung nicht haltbar sei. Ihre Bestimmung erfahren die Formen erst in ihrer Anwendung, eine Bestimmung, die ebenfalls wie ihre Anwendung selbst nicht zu einem endgültigen Abschluss kommt. Diese Möglichkeit der Modifikation beschränkt damit allerdings nicht ihre Allgemeingültigkeit, im Gedanken der stetigen Fort- und Umbildung gelangt die apriorische Form erst zu ihrer vollen Bedeutung (vgl. Cassirer MsF: 20–21). »Im Endergebnis führen all diese Überlegungen auf eine Kant-Interpretation hinaus, die sich nicht mehr an eine endgültig fixierte Gliederung des Apriori in Anschauungsformen, Kategorien und Ideen hält, sondern solche Unterscheidungen – als abschließende – eher einebnet, um die Forschung im Felde vielfältiger Erscheinungen nicht unnötig zu beengen.« (Orth 1996b: 187) Es ist wenig überraschend, dass Orth hiermit sein Fazit der Analyse des Apriori-Begriffs bei Simmel wiederholt. Bei Cassirer ist es jedoch das, was Kant in der Ersten Einleitung der Kritik der Urteilskraft »heuristisches Prinzip« (Kant EE: 18) nennt, das ihn zu einer »flexiblen Handhabung des Apriori« (Orth 1996b: 187–188) ermutigt. Die apriorischen Formen sprechen nun »nicht mehr bloß eine Sprache, sondern viele Idiome«, doch diese besitzen weiterhin »eine gemeinsame Grammatik, nämlich die der Symbolischen Formen« (ebd.: 188; vgl. Cassirer PsF I: 17).
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Welche Gründe kann nun Cassirer aber vorbringen, dass es sich hierbei um eine Allgemeinheit und Notwendigkeit der symbolischen Vermittlung handelt, also dass sie als Ausformungen des Symbolbegriffs selbst begreifen lassen? Betrachten wir die Argumente für die Allgemeinheit und Notwendigkeit der symbolischen Vermittlung, stellen wir fest, dass sie stets mit der Kritik am Sensualismus als wissenschaftlicher Basis einhergehen. So zeige die empirisch-psychologische Analyse selbst, dass die Sprache sich nicht auf den bloßen Ab- bzw. Eindruck der Inhalte und Beziehungen einer vermeintlich unmittelbaren Empfindung zurückführen lässt. Es ist das praktische Scheitern der sensualistischen Erklärungsmodelle aus dem Cassirer exemplarisch schließt, dass die Form der Sprache mehr als Affektion sein müsse, sie nur als Grundrichtung geistigen Tuns, als Akt und Funktion geistiger Spontaneität verstanden werden kann (vgl. bspw. Cassirer LdK: 370; SSP: 260). Wenn es sensualistischen Theorien nicht gelingt, das Urphänomen des Ausdrucks zu erklären, ist es die Auseinandersetzung mit den empirischen Einzelerscheinungen selbst, die Kultur- und Geisteswissenschaften dazu nötigt, diese Auseinandersetzung auf einer solchen idealistischen anstatt auf positivistisch-sensualistischer Grundlage zu betreiben (vgl. Cassirer BdsF: 76). Und diese prinzipielle Kluft zwischen dem passiven Eindruck und dem Urphänomen des aktiven Ausdrucks bewahrheite sich immer wieder (vgl. Cassirer LdK: 408 und 467). Eine solche Argumentation auf Basis der Nicht-Hintergehbarkeit des Ausdrucks ist jedoch nicht hinreichend, um aus der Notwendigkeit einer solchen Vermittlung die allgemeine systematische Struktur dieser Vermittlung abzuleiten. Es stellen sich weiterhin die Fragen warum ein allgemeines Formgesetz des Symbolischen existieren sollte und wie bewiesen werden kann, dass es sich bei den unterschiedlichen Formen der Symbolisierung um jeweilige Besonderungen dieses Allgemeinen handelt, diese also ein System bilden. Cassirer kann auf diese beiden Fragen keine theoretische Antwort mehr bieten. Vielmehr stellt er sich auf den Standpunkt, dass eine solche Antwort an sich nicht möglich sei. Er kann also keine argumentative Begründung vorbringen, womit letztlich nur der Weg einer materialen Durchführung des Projekts offenbleibt (vgl. Schubbach 2016: 228). Die Annahme einer systematischen Einheit bleibt ein reines methodisches Postulat der Reflexion und muss in ihrer Architektur im Zweifelsfall Revisionen unterzogen werden (vgl. ebd.: 233–235). Dieser Weg, »durch die konkreten Gebilde des Geistes hindurch[...]«, ist, wie Cassirer explizit formuliert, »zwischen der metaphysisch-deduktiven und der psychologisch-induktiven Methodik« (Cassirer PsF: 13) zu beschreiten. Die Philosophie muss aber »gleich dieser letzteren [Methodik], überall vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewusstseins ausgehen«, um »von der Wirklichkeit des Faktums nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹« (Cassirer PsF II: 13–14) zu fragen. Diese Bedingungen sind schließlich den Gegenständen, die sie ermöglichen, nicht objektiv-notwendig vorgeschrieben und sind nicht unabhängig von diesen gegeben, »sondern im Erkenntnisprozess zwar zwangsläufig anzunehmen, aber zugleich an den Gegenständen zu überprüfen« (Schubbach 2016: 239–240). Ich möchte im Folgenden diese Selbstverortung Cassirers zwischen einer deduktiven und einer induktiven Methodik aufgreifend dafür argumentieren, dass es sich bei der kulturphilosophischen Reflexion der Tatsachen des Kulturbewusstseins respektive der Ergebnisse der Kulturwissenschaft um ein abduktives Verfahren handelt. In
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der einfachsten Charakterisierung: der Schluss von einem gegebenen Einzelnen (einem Resultat) mithilfe einer vorausgesetzten Regel auf einen Fall (eine Regelmäßigkeit).
8.4 Cassirers transzendentale Abduktion Scheitern die sensualistischen Ansätze am Phänomen des Ausdrucks, unsere Erfahrung zu bestimmen, schließt sich daraus, dass die basalen Gegebenheiten des Bewusstseins keine sinnlichen Einzelheiten respektive isolierte Sinnesdaten darstellen. Eine solche Vorstellung isolierter Sinnesdaten wäre ihrerseits bereits eine hochgradige Abstraktion (vgl. bspw. Cassirer PsF III: 81; LdK: 402–403). Bildet dies in negativer Hinsicht eine Gemeinsamkeit der Bewusstseinsinhalte, sind die Formen der Relationen, in denen sie zueinanderstehen und von denen sie ihren qualitativen Sinn erhalten, vielzählig. Die Reflexion kann uns dabei jedoch auf eine Reihe von Grundrelationen führen, die jeweils qualitativ eigenständige Formen der Verknüpfung darstellen und die Einheit des Bewusstseins auszeichnen. Hierunter fallen beispielweise die Beziehungsarten des Raumes, der Zeit, der Zahl, der Ursache sowie der Eigenschaft und des Dinges.12 Ihre Leistung »als Einzelformen der Verknüpfung« wird für uns dagegen aber nur voll begreiflich, »wenn wir sie selbst wieder durch eine Synthesis höherer Art miteinander verknüpft denken« (Cassirer PsF I: 26). Es ist also nicht zureichend, eine Relation als räumliche zu markieren, um ihre tatsächliche und konkrete Bedeutung anzugeben, vielmehr ist es notwendig, die Relation des Raumes in ihrem Gesamtsystem zu beschreiben: »Bezeichnen wir also schematisch die verschiedenen Relationsarten – wie die Relation des Raumes, der Zeit, der Kausalität usf. – als R1 , R2 , R3 …, so gehört zu jeder noch ein besonderer ›Index der Modalität‹ μ1 , μ2 , μ3 …, der angibt, innerhalb welches Funktionsund Bedeutungszusammenhangs sie zu nehmen ist.« (Ebd.: 29) Der angesprochene Index der Modalität verweist also darauf, welcher symbolischen Form eine bestimmte Relation zugehörig ist und damit, nach welchem konstitutiven Prinzip sie gebildet ist.13 Wir haben also ein mindestens dreistufiges Modell: Zunächst 12
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»Das Moment des ›Nebeneinander‹, wie es sich in der Form des Raumes, das Moment des ›Nacheinander‹, wie es sich in der Form der Zeit darstellt – die Verknüpfung von Seinsbestimmungen in der Art, daß die eine als ›Ding‹, die andere als ›Eigenschaft‹ gefaßt wird, oder von aufeinanderfolgenden Ereignissen in der Art, daß das eine als Ursache des anderen erscheint: dies alles sind Beispiele solcher ursprünglichen Beziehungsarten.« (Cassirer PsF I: 25–26) »Denn jeder dieser Bedeutungszusammenhänge, die Sprache wie die wissenschaftliche Erkenntnis, die Kunst wie der Mythos, besitzt sein eigenes konstitutives Prinzip, das allen besonderen Gestaltungen in ihm gleichsam sein Siegel aufdrückt. […] Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird.« (Cassirer PsF I: 29) »Das Bewußtseinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein extensiver Teil zur Summe der Teile sondern wie ein Differential zu seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese selbst in ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetzte des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitgegeben denken – jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eige-
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die ›vorgefundenen‹ Relationen an den Phänomenen (Aktualisierung), im weiteren Schritt die Regel der Synthese jener Relationen (Möglichkeit) und zuletzt den Funktionszusammenhang jener Synthese (Index der Modalität, höherstufige Synthese). Stellt sich nun aber die Frage, warum wir davon ausgehen können, dass die Relationstypen unterschiedlicher Funktionszusammenhänge (symbolischer Formen) unter einer gemeinsamen Qualität anzusprechen sind, gelangen wir wieder zum Problem der systematischen Einheit der symbolischen Formen, des durchgängigen Moments und einheitlichen Mediums oder anders ausgedrückt: zum Symbolischen überhaupt. Die symbolischen Formen finden in den verschiedenen Qualitäten der Relationen die Differenzierungen ihres gemeinsamen Ausgangsproblems vor, einen geistigen Bedeutungsgehalt an ein sinnliches Zeichen zu knüpfen. Die Einheit gewährleistet sich demnach über ihre Problemstellung – wie wir sie im Phänomen des Ausdrucks erkennen konnten. Die Frage nach dem Ursprung, nach dem Nebeneinander und dem Nacheinander stellt sich sozusagen für jede symbolische Form, im Zuge der Beantwortung gewinnen sie allerdings jeweils eine andere Ausprägung. Das Symbolische zieht sich in dieser Form als einheitliches Prinzip durch alle Ebenen und vereinigt diese in einem obersten Begriff, der das logische Prinzip des Systems in sich enthält, ohne dass sich damit die einzelnen Ausformungen deduktiv ableiten ließen. Die Reflexion muss hierzu die Analogien und typischen Gestaltungsweisen der symbolischen Formen eigens herausheben und beschreiben. Es ist klar, dass die Qualität der Relationstypen dabei auf immer höherer, formalerer Ebene bestimmt werden muss, sodass Cassirer, wie wir gesehen hatten, den Raum in Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibniz als »›Möglichkeit des Beisammen‹ und als der Ordnung im möglichen Beisammen« (Cassirer MätR: 419) charakterisiert. Der philosophische Formbegriff muss auf diese Weise »letztlich das Potential zu allen möglichen Formen« (Schubbach 2016: 344) der jeweiligen Symbolisierung umfassen. In der Genese einer symbolischen Form sind alle jene Möglichkeiten enthalten gedacht – und dies nicht in Form einer Deduzierbarkeit oder Hypothese, sondern als Postulat –, deren Potential die philosophische Reflexion anhand der »Vielgestaltigkeit seiner Realisierungen« (ebd.: 346) herauszuarbeiten hat. Die Form als Potential der Entfaltung ist auf diese Art umfangreicher, mächtiger oder unbestimmter, so »dass es die vielfältigen Phänomene der Kultur insgesamt ermöglicht. Zugleich realisiert es sich stets in konkreten kulturellen Feldern wie den Wissenschaften oder den Künsten und ist dann nicht in seiner Allgemeinheit, sondern in seinen empirischen Spezifikationen gegeben« (ebd.: 141). Damit stehen wir vor der Frage, wie nun von der empirischen Spezifikation der Formen auf ihre Allgemeinheit geschlossen werden kann. Zu diesem Zweck müssen wir uns zunächst verdeutlichen, in welcher Hinsicht die empirischen Spezifikationen überhaupt gegeben sind. Denn wie Orth (1996b) herausstellt, eröffnet sich über die Kritik der Urteilskraft für Cassirer ein veränderter Wirklichkeitsbegriff, mit dem sich herausstellt, in welcher Weise wir Formen in der Erfahrung vorfinden. Die reflektierende Urteilskraft bildet über die Einbildungskraft in Cassirers Verständnis ein »genetisch fundierendes Vermögen« (Orth 1996b: 184) für alle anderen Vermögen des Denkens. Orth beeilt sich dabei jenen und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen, die schon im SinnlichEinzelnen angelegt sind.« (Ebd.: 38)
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doch klar zu stellen, dass es sich hierbei um eine »transzendentale Genesis« (ebd.) handelt. Wir müssen die Aussage also so verstehen, dass es die reflektierende Urteilskraft ist, die einen bestimmten Gegenstandsbezug ermöglicht, der sich in weiteren Vermögen spezifisch ausgestaltet. Im ästhetischen Verhalten zeigt sich, dass die »intuitive Einheit der Gestalt« jenseits einer »›diskursiven‹ Sonderung« (Cassirer KLL: 303) der Phänomene stattfindet, genauer gesagt, dieser diskursiven Sonderung vorausgeht. Dem Verstand überhaupt jenseitig ist eine solche Einsicht in die Gestalt jedoch nur, wenn man den Verstand logisch-theoretisch verengt begreift (vgl. ebd.). Auch vortheoretisch sind wir, wo die besonderen Gestalten auf eine Gesamtheit bezogen sind, bereits im »vollen Besitz der Subjektivität« (ebd.: 306 [Herv. i.O.]). Davon unberührt sind die Erscheinungen letztendlich nur mit den diskursiven Mitteln entsprechender Wissenschaften zu erklären, jedoch würden wir diese Erscheinungen »nicht einmal zureichend kennen lernen« (Kant KU: B 337/A 333), wenn sie uns die reflektierende Urteilskraft nicht zuvor eröffnen würde (vgl. Orth 1996b: 185). Im Rekurs auf Kants dritte Kritik formuliert Cassirer: »Der Gegensatz zwischen dem Geschehen, wie es sich uns in einem Uhrwerk und wie es sich uns in einem belebten Körper darbietet, ist am Phänomen und als Phänomen unmittelbar aufweisbar.« (Cassirer KLL: 324) Dabei kann die reflektierende Urteilskraft das Phänomen aber zunächst nur erörtern, aber nicht erklären (vgl. Orth 1996b: 186). »Das heißt: die Funktion der Urteilskraft ist es, etwas verständlich zu machen. Aber solches Verständlichmachen, Verständlichwerden und Erörtern hat nun eine sowohl fundamentale als auch universale Funktion. Denn es ist das vor jeder Erklärung liegende Verständlichwerden, das uns allererst Erscheinungen und Welt eröffnet und thematisch werden lässt; und es sind Verständnisbemühungen, Überlegungen, Betrachtungen oder Besinnungen, die uns das Ganze der Welt verständlicher werden lassen, ohne diese Welt ›erklären‹ zu können oder zu wollen.« (Ebd.) Dass Orths These eines neuen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbegriffs für die Philosophie der symbolischen Formen zutreffend ist, zeigt sich, wenn wir Cassirers Abhandlungen zur Theorie der Kulturwissenschaften heranziehen. In einer »Phänomenologie der Wahrnehmung« (Cassirer LdK: 396) und der dort aufgewiesenen »Ausdruckswahrnehmung« (ebd.: 397) entwickelt Cassirer einen für die Kulturwissenschaften grundlegenden Erfahrungsbegriff. Würden wir die Gegenstände der Kulturwissenschaft – angelehnt an Kant formuliert – nicht einmal kennenlernen, wenn sie uns nicht bereits in anderer Weise in der Wahrnehmung gegeben wären als die Gegenstände der Physik, so setzt der Unterschied zwischen den einzelnen Wissenschaften nicht erst in Form der Erklärungsstrategien oder Begriffsbildung an, sondern bereits in der Wahrnehmung selbst (vgl. ebd.: 395–396). Für die Biologie ist die funktionale Struktur eines Organismus etwas »anschaulich-Gegebenes« (Cassirer PdK: 50) und nicht etwas, das auf Basis physikalischer Beobachtungen erschlossen wird. Gleichermaßen gilt dies für die Kulturwissenschaft: Betrachten wir bspw. ein Gemälde, so sehen wir ein Bild von einer bestimmten Art und von einem bestimmten Charakter in der Materialität der Farben – und nicht die Sinnesreize des vom Öl auf der Leinwand reflektierten Lichts (vgl. Cassirer LdK: 400). Es bedürfte hier der erwähnten Abstraktion, um von jenem ursprünglich gegebenen Gehalt der Wahrnehmung abzusehen. Der Physikalismus bzw. Sensualismus versucht, die-
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se phänomenologische Struktur der Wahrnehmung gewissermaßen umzukehren und ausgehend von Sinnesdaten erst so etwas wie Formen und Strukturen abzuleiten. Das Bild ist anschaulich gegeben, wenn auch immer in Gestalt einer Interpretation. Zwar lassen sich Interpretationen analysieren, ihre Schichten nach und nach abtragen, doch gelangen wir hierbei nie zu einem ›rein Physischen‹. Aus dem kausal geordneten, physischen Dasein lässt sich niemals auf die anschauliche Form eines Bildes schließen. Der Versuch einer kausalen Ableitung stellt bereits einen Kategorienfehler dar. Der Geltungsbereich dieser Kategorie würde dabei überspannt werden, die Kategorie der Kausalität also auf Gebiete angewendet, in denen sie keine Erklärung mehr bietet. Stets ist das, was wir als »Form« bezeichnen, bereits vorausgesetzt (vgl. Cassirer MsF: 100–101). Es erfordert demnach andere Begriffe, um die Erscheinung der Form auszubuchstabieren, um aus ihr eine Erfahrung zu machen. Wollen wir also nicht das gesamte Reich der Formen und Strukturen als Illusion und Täuschung abtun, sind wir zunächst genötigt, die Ausdruckswahrnehmung als basale Form der Erfahrung anzunehmen (vgl. hierzu ebd.; PsF III: 64–67; PdK: 86). Wahrnehmungen sind jeweils Wahrnehmungen von etwas, sie sind auf einen Gegenstand gerichtet. In diesem Gegenstandsbezug lassen sich bereits zwei unterschiedliche Richtungen unterscheiden, die sich mit Cassirer als die Richtung des »Es« und die des »Du« (Cassirer LdK: 396) bezeichnen lassen. In unserer konkreten Weltsicht gehen sie immer schon miteinander einher und lassen sich nur in der Abstraktion gesondert herausheben. Die Art, wie uns Gegenstände in der Wahrnehmung entgegentreten, unterscheidet sich hier dennoch grundsätzlich, nämlich dahingehend, wie sich der Ichpol vom Gegenstandspol trennt: So stehen wir einmal einer Dingwelt als »Ganzes räumlicher Objekte« und ihrer Veränderungen im zeitlichen Verlauf gegenüber und das andere Mal einer Welt »Unserersgleichen« (ebd.), in der Dinge und Personen immer schon einen jeweiligen (geistigen) Sinn ausdrücken. Die Wahrnehmung gewinnt hier jeweils eine gänzlich andere Färbung und andren Gehalt. Zwar bildet auch für die Welt der Ausdruckswahrnehmung Physisches die Grundlage – in dem Sinne, dass kein Ideelles uns ohne einen materiellen Träger zugänglich werden kann –, aber dieses Physische erscheint hier unmittelbar als Verkörperung eines Sinnes. »Und ebendieses Ineinander macht dasjenige aus, woran wir ein Kulturobjekt erkennen. Ein Kulturobjekt hat, wie jedes andere Objekt, eine Stelle in Raum und Zeit. […] Auf der anderen Seite aber erscheint in ihm eben das Physische selbst in einer neuen Funktion. Es ›ist‹ und ›wird‹ nicht nur, sondern in diesem Sein und Werden ›erscheint‹ ein anderes.« (Ebd.: 399–400 [Herv. i.O.]) Alles Kulturelle verknüpft so das Physische mit demjenigen, was in diesem Physischen zur gegenständlichen Darstellung gelangt. Die Realität der kulturellen Welt, d.h., alles, was wir als »Werk« erkennen, ist uns so über die Ausdruckswahrnehmung vermittelt. Während Cassirer hiermit wie auch Simmel eine intuitive Basis für die Kulturwissenschaften annimmt, widerspricht er einem Intuitionismus, der in dieser Basis zugleich den Abschluss des Wissens gefunden zu haben glaubt. Zwar ist in der Tat das »Dass« der Ausdruckswahrnehmung nicht zu bestreiten, jedoch erfordert eine solche Basis stets die Prüfung und Kontrolle in der Reflexion (vgl. Cassirer ZOdA: 107–108). Die Phäno-
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mene, die uns in der Ausdruckswahrnehmung gegeben sind, dürfen folglich ihrerseits nicht einfach ›hingenommen‹ werden, vielmehr gilt es, sie bestimmten Kriterien unterzuordnen. Hierzu gehört, dass sie »keine inneren Widersprüche aufweisen, sondern miteinander im Einklang stehen. Diese Bedingung wäre nicht erfüllt, wenn die ›natürliche‹ Weltansicht uns unwiderstehlich zu einer These drängen würde, die die Theorie als schlechthin unbegründbar oder als sinnlos bezeichnen müßte.« (Cassirer LdK: 402) Wenn Cassirer hier von »Theorie« spricht, sind wir offenbar an diesem Punkt wieder auf einer diskursiven Ebene angelangt. Allerdings fordern eine solche Theorie und diskursive Ebene eine »andere logische Basis« (Cassirer PdK: 101 [Herv. i.O.]) als im Falle der Dingwahrnehmung, denn wie dargelegt könnten wir nichts über die Form erfahren, wenn wir versuchten, die Phänomene nur nach dem Kausalbegriff zu ordnen. Auch hier erfordert es ein anderes Alphabet, um die Erfahrung zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können: Dieses Alphabet entwickelt sich in Form- oder Strukturbegriffen.14 Wir stellen an die Erscheinungen der Ausdruckswahrnehmung eine andere Frage: nicht die Frage nach dem woher, die der Ordnung nach der Kategorie der Kausalität zu Grunde liegt, sondern die Frage nach der Form. Wie in Cassirers Rekonstruktion der Kritik der Urteilskraft haben wir hier zwei verschiedene Maximen vor uns, nach subjektiven Prinzipien eine Ordnung in die Erscheinungen bringen (vgl. u.a. Cassirer LdK: 455). Die Objektivierung der Ausdruckswahrnehmung erfolgt in Strukturbegriffen (vgl. Cassirer PdK: 102; LdK: 416). Während in dieser Hinsicht kulturwissenschaftliche und biologische Begriffsbildung parallel verlaufen, zeigen sich Differenzen in der weiteren Anwendung. Der Strukturbegriff in der Biologie wird von Cassirer (LdK: 380) in Anlehnung an Jakob von Uexküll (1973) als »Bauplan« beschrieben. Die Kulturwissenschaft hingegen spezifiziert ihren Strukturbegriff hin zum »Stilbegriff« (vgl. Cassirer PdK: 52 und 101–103; LdK: 416).15 Gegenüber seinen neukantianischen Lehrern betont Cassirer, dass es sich bei den Formbegriffen der Kulturwissenschaften nicht um Wertbegriffe handelt, es ist »kein Sollen« (Cassirer LdK: 421), das in ihnen zum Ausdruck kommt, sondern ein Sein, nicht das Sein physischer Dinge, sondern das Sein der Formen. Werturteile können sodann auf Basis jener Formbegriffe erfolgen, ohne dass sie auf diese Basis reduziert werden könnten (vgl. ebd.: 420–421). Ebenfalls zurückgewiesen wird die Vorstellung, dass es sich um ideographische Begriffe handelt (vgl. ebd.: 393ff.). Zunächst ist es dem Begriff eigen, stets Individuelles und Allgemeines in Bezug zu setzten, sodass es prinzipiell als ein problematisches Unterfangen erscheint, seine Funktion auf das individuell-Beschreibende zu begrenzen. Weiter genügt ein Blick in die Forschungspraxis, dass es den Kulturwissenschaften um allgemeine Strukturen und Formen geht und nicht um historisch-individuelle Einzelerscheinungen. Wie die Naturwissenschaften versuchen auch sie Gesetzmäßigkeiten an den Phänomenen herauszuarbeiten. So scheitert
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Cassirer nimmt keine genaue Abgrenzung beider Begriffe vor. Jedoch scheint häufiger von Strukturbegriffen die Rede zu sein, wenn es um die spezifischen Begriffe in den Einzelwissenschaften geht, demgegenüber wäre der Formbegriff stärker mit der allgemeinen Ebene assoziiert, bis hin zum Begriff der symbolischen Form selbst. Die genaue Unterscheidung ist an dieser Stelle weniger von Interesse. Wir werden aber später sehen, dass sich beide Begriffe in der jeweiligen Dynamik unterscheiden: Die Veränderung des Bauplans erfolgt im Gegensatz zum Stil nicht auf individueller Ebene (vgl. hierzu auch Möckel 2012).
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die von Wilhelm Windelband und Rickert angestrebte Trennung in nomothetische Naturwissenschaften und ideographische Geisteswissenschaften bereits an dem Blick auf die faktische Arbeitsweise und erhobenen Ansprüche der Wissenschaft selbst, wie Cassirer darlegt. Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich Cassirer zufolge vielmehr dadurch, in welcher Weise jenes Allgemein-Gesetzmäßige gedacht wird (vgl. ebd.: 427–428). Es ist die Lösung des Problems im Verhältnis vom Besonderen zum Allgemeinen, das den jeweiligen Wissenschaftstypus prägt. Die mathematischen Naturwissenschaften versuchen hier, das Besondere unter das Allgemein-Gesetzmäßige zu subsumieren, um so das Einzelereignis zu erklären bzw. zu beschreiben. Entscheidend für diese Form der Subsumtion ist, dass der Einzelfall aus dem allgemeinen Gesetz deduktiv ableitbar sein muss und damit prognostizierbar wird. Dass diese Art der Subsumtion keineswegs selbstverständlich ist, zeigt sich wiederum an den Kulturwissenschaften: Hier wird gar nicht der Anspruch erhoben, Merkmale der Einzelerscheinung aus dem Allgemeinen heraus deduktiv abzuleiten und vorherzusagen. Was als die eigentümliche Unbestimmtheit der Kulturwissenschaften gilt, lässt sich nun folgendermaßen ausdrücken: Die von ihr aufgewiesenen Stilbegriffe »charakterisieren«, statt zu »determinieren« (ebd.: 431 [Herv. i.O.]), das Besondere wird in sie eingeordnet, anstatt untergeordnet. In Stilbegriffen soll ein »ideelle[r] Zusammenhang«, »eine Einheit der Richtung, nicht eine Einheit des Seins« (ebd.: 430 [Herv. i.O.]) aufgewiesen werden. Mit ihrer Hilfe soll es möglich sein, bestimmte kulturelle Erscheinungen, wie bspw. eine Zeichnung oder ein Gemälde, zu identifizieren, einem Stil zuzuordnen oder als Repräsentant einer Epoche zu bestimmen. Stilbegriffe leisten damit trotz ihres im Vergleich zu den Naturwissenschaften abweichend gefassten Anspruches einen Dienst für die Erkenntnis, nämlich jenen, den Moritz Schlick als die eigentliche Aufgabe der Erkenntnis konstatierte: das Wiederfinden (vgl. Cassirer PdK: 104). Die Art der Objektivierung, die hier geleistet wird, bezieht sich also weniger auf die gesetzmäßige Konstanz von Wahrnehmungen im Sinne von Beobachtungen kausaler Prozesse, sondern auf die Konstanz von Bedeutungen (vgl. Cassirer LdK: 433) oder anders ausgedrückt: die Gesetzmäßigkeiten in der Ausdruckswahrnehmung. Es bedarf hierbei nicht des Verweises auf postmoderne Ansätze, um zu erkennen, dass im Rahmen von Bedeutungen keine Konstanz im Sinne einer Exaktheit oder Starrheit zu erwarten sind. Bedeutungen sind keine feststehenden und abgeschlossenen Inhalte, sondern Prozesse einer poietisch-praktischen Weltkonstitution und damit immer auch Ausdruck menschlicher Spontaneität (vgl. Recki 2004: 122f.). In den Stilen der Kunst, in den verschiedenen Sprachen und Dialekten, in den Religionen und Mythen kommt je eine eigene »Weltsicht« (Cassirer LdK: 420) zum Ausdruck, in der Subjekt und Objekt auseinandertreten, sich je neu vermitteln und die Welt ein anderes Gesicht gewinnt. Relationen als Ordnungsprinzipien werden in unterschiedlicher Weise begriffen und gedacht, so wie das Räumliche in zwei verschiedenen Stilen der Malerei nicht auf gleiche Weise gefasst ist. Was die Kulturwissenschaft in ihrer Analyse der Formen herausarbeitet, bildet »eine bestimmte Gesamtorientierung, gewissermaßen eine geistige Einstellung des Auges« (ebd.). Wenn Cassirer hier den humboldtschen Begriff der »inneren Sprachform« (ebd.: 416) verwendet, überrascht es nicht, dass dieser Begriff ihm als einer der Anstöße für die Konzeption des Begriffs der symbolischen Form
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selbst diente, denn jene Stil-Begriffe der Kulturwissenschaften sind zuletzt auf Sinn-Begriffe zurück zu führen. Dies will so viel sagen, dass die entsprechenden Relationstypen, die sich in den Stilen jeweils realisieren, ihrerseits vom Sinnganzen einer symbolischen Form her verstanden werden müssen. So ergeben sich für die Kulturwissenschaften drei zu trennende Momente ihrer Arbeit: die Werdensanalyse, die Werkanalyse und die Formanalyse (vgl. ebd.: 456). Im Rahmen der Werdensanalyse verschafft sich die Kulturwissenschaft Aufklärung über historische Entstehungsprozesse und Zusammenhänge. Es ist einsichtig, dass auch die Kulturwissenschaft hierfür nicht auf die Kategorie der Kausalität verzichten kann – auch wenn anzunehmen ist, dass hier diese Kategorie in anderer Form als in den Naturwissenschaften zur Geltung kommt. Die tragende Grundschicht der Kulturwissenschaften bildet jedoch die Werkanalyse: Ihr obliegt es, in hermeneutisch-verstehender Arbeit die einzelnen Werke zu erschließen. Auf dieser Basis können nun Grundgestalten herausarbeitet werden, die sich zu höheren Klassen zusammenschließen lassen und uns so »das ›Was‹ jeder einzelnen Kulturform« (ebd.) eröffnen. Hier treten wir in den Bereich der Formanalyse ein, die uns zu einer »›Theorie‹ der Kultur« (ebd.) führt. Ihren Abschluss kann eine solche Theorie zuletzt nur in einer Philosophie der symbolischen Formen finden. Ein solcher Abschluss mag zwar in unerreichbarer Ferne liegen, muss also ein stets unvollendetes Projekt bleiben, bleibt aber orientierendes Ideal. Daneben lassen sich von der Formanalyse auch weiter psychologisch die jeweiligen seelischen Akte in der Kultur untersuchen, d.h. die spezifische Gestalt des menschlichen Symbolbewusstseins (vgl. ebd.). Mithilfe des historischen Materials, das die Kultur bietet, versucht die Kulturwissenschaft entsprechende Stilbegriffe zu gewinnen. Nach dem hier dargelegten, kann sie dabei offensichtlich nicht induktiv verfahren. Sie vollzieht eine andere Art der Zusammenschau des Materials, eine spezifische »historische Synthesis« (ebd.: 430). Die Einheit der Richtung, den ideellen Zusammenhang gewinnt sie in einem Prozess den Cassirer (ebd.) in Anlehnung an Husserl als »ideierende Abstraktion« bezeichnet, das Charakteristische soll herausgehoben werden: »Der Begriff spricht hier ›diskursiv‹ aus, was die [Ausdrucks-]Wahrnehmung in Form der rein ›intuitiven‹ Erkenntnis enthält.« (Ebd.: 431 [Ergänzung O.H.]) Der Form- bzw. Stilbegriff bildet gewissermaßen die »logische Übersetzung« (ebd.) jener Differenz, die sich bereits in der Ausdrucks- und Dingwahrnehmung ausspricht. Die Tendenz zur Objektivierung und Verfestigung ist bereits in der jeweiligen Wahrnehmung gegeben: Wir verstehen unsere kulturelle Welt, ihre Werke und Bedeutungen auch bereits ohne die Kulturwissenschaften, doch »dieses ›natürliche‹ Verstehen« (ebd.: 433) reicht gemeinhin nicht hin, um die Kultur im Ganzen, in ihrer Fülle und Tiefe zu erfassen. Die kulturwissenschaftliche Untersuchung überblickt hier ein deutlich umfangreicheres historisches Material, nutzt die verschiedensten Hilfsmittel und legt sich selbst vor allem Rechenschaft über entsprechende Begriffsbildung ab. Denn die Begriffe müssen sich einerseits am Material selbst, bei dessen Objektivierung sie helfen, bewähren und auch in der Theoriebildung ein kohärentes Ganzes bilden. Die Begriffsbildung ist fallibel: Sie ist bestimmten Kriterien unterworfen. Nicht anders verfährt die philosophische Reflexion in der Art der Philosophie der symbolischen Formen, die an die Formanalyse der Kulturwissenschaften anknüpft. »Wir haben es daher insofern mit einem
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›Zirkel‹ zu tun, als von jenen Begriffen wiederum Verständnis und Deutung der relevanten Kulturphänomene abhängen.« (Schubbach 2016: 250) Die kulturwissenschaftlichen Grundbegriffe ebenso wie die philosophischen Begriffe schärfen sich jeweils am Material. Es handelt sich um keinen logischen, zu vermeidenden Zirkel: »Im Falle Cassirers ›Philosophie des Symbolischen‹ sind in diesem Zirkel – ganz im Sinne der Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft nach Kant – Allgemeines und Besonderes wechselseitig aufeinander bezogen. […] Die philosophische Reflexion versucht so die Phänomene zu deuten, indem sie an ihnen ihre möglichen, allgemeinen Bedeutungen abliest, und diese Bedeutungen auf die Probe zu stellen, indem sie für die Phänomene spezifiziert und sie an ihnen überprüft.« (Ebd.: 250–251) Auf Grundlage dieser Charakterisierung – die bei Schubbach in logischer Hinsicht noch unterbestimmt bleibt – können wir nun aufzeigen, dass sich dieser Umgang mit dem Material, das die Kulturwissenschaften bereitstellen, im Rahmen der Philosophie der symbolischen Formen in Abduktionen vollzieht. Da es der Philosophie der symbolischen Formen um die Modalitäten von Kategorien geht, um die innere Grammatik der einzelnen symbolischen Formen, also der Medien, die ein jeweiliges Weltverhältnis eröffnen, möchte ich diese logischen Operationen als transzendentale Abduktionen16 bezeichnen, verstanden als eine Abduktion, die eine Form des Gegenstandsbezugs selbst erschließen soll. Vorab zur Abgrenzung des logischen Schlussverfahrens: Als Deduktion wird der analytische Schluss von einem gegebenen allgemeinen Gesetz und einem vorliegenden Fall (als eine Reihe von Antecedensbedingungen) auf ein jeweiliges Resultat bezeichnet. Die Induktion wiederum schließt synthetisch von entsprechenden Fällen und Resultaten auf ein allgemeines Gesetz. Die Abduktion besteht dann demgegenüber in dem ebenfalls synthetischen Schluss von einem Resultat unter Voraussetzung eines allgemeinen Gesetzes oder einer allgemeinen Regel auf einen Fall (vgl. hierzu Hubig 1991: 158f.). In der Philosophie der symbolischen Formen finden die angesprochenen transzendentalen Abduktionen auf zweierlei Arten statt. Ihre Funktion ist es einerseits, (1) die Modalitäten von Kategorien durch die Modifikation präsumtiv allgemein angenommener Gesetze herauszuarbeiten und andererseits, (2) diese fortwährend neu zu überprüfen. Beide Formen wechseln sich ab und sind in ihren Leistungen unmittelbar aufeinander bezogen, wobei Abduktionen des Typus (2) die ihrerseits doppelte Funktion haben, als Grundlage der höherstufigen Abduktion (1) zu dienen und gleichzeitig diese wieder zu überprüfen. In der Abduktion des Typus (2) sind der Kulturphilosophie Resultate als die von den Kulturwissenschaften herausgestellten Tatsachen gegeben. Die Resultate liegen demnach als Formen, Strukturen und Relationen (und nicht als ›Einzeldinge‹ oder ›isolierte Sinneswahrnehmungen‹ vor). Unter der Voraussetzung von allgemeinen Kategorien, also Regeln der Synthese (Potenzial), sollen diese Resultate als Anwendungen (Aktualisierungen dieser Potenziale), als deren Fälle, erschlossen werden. Betrachten wir unter dieser Perspektive die ersten beiden Bände zur Philosophie der symbolischen Formen, lässt sich Cassirers Vorgehen folgendermaßen rekonstruieren: Im-
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Transzendentale Abduktionen scheinen mir in diesem Sinne eine gewisse Verwandtschaft zu reflexiven oder Präsuppositionsabduktionen aufzuweisen (vgl. Hubig 2006: 206).
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mer wieder bezieht sich Cassirer bei der Untersuchung der Sprache und des Mythos auf die Form des theoretischen Erkenntnisbewussteins. Dieses bietet ihm auf die Art die Hintergrundfolie, auf der sich die beiden anderen Formen, die der Sprache und die des Mythos, abzeichnen (vgl. bspw. Cassirer PsF I: 147, 153, 172, 184 und 210; PsF II: 35f). Wir können hierin sodann das bewusste Scheitern einer Abduktion (2) sehen, die versucht, entsprechende kulturwissenschaftlich herausgearbeitete Phänomene unter jenen Kategorien der wissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen. Doch erweist sich dieses Scheitern als ein fruchtbares, wenn die Abduktion des Typus (2) nun selbst Gegenstand einer höherstufigen Abduktion (1) wird. In dieser Abduktion, die wir auch als »hypostatische Abstraktion« (Hubig 2006: 207) bezeichnen können, wird das Scheitern der Abduktion (2) zum Resultat oder Zeichen für die bislang vorausgesetzten allgemeinen Gesetze, also der Kategorien, unter denen versucht wurde, einen Fall zu erschließen. Die Abduktion (1) erhellt uns die bisher zugrunde gelegten Kategorien unseres Gegenstandsbezuges und eröffnet die Perspektive darauf, inwiefern sich entsprechende Phänomene ihnen nicht fügen. Indem sich auf diese Weise die bisherige Abhängigkeit bestimmter Modalitäten von Kategorien zeigt, ermöglicht die Reflexion, sie entweder gänzlich zu verwerfen oder zu modifizieren (vgl. Hubig 1991: 163). Die kulturphilosophische Reflexion besinnt sich auf die Modalitäten der kategorialen Formung und passt sie an die aufgewiesenen Phänomene an, genauso wie sie sie aus ihnen herausarbeitet. Das Kriterium wäre hierbei, dass eben jene Phänomene (Resultate) als Aktualisierung eines jeweiligen Potenzials einer Modalität der Kategorien, d.h. einer symbolischen Form, begriffen werden können. Und so erkennen wir nun auch das logische Verfahren zu den erarbeiteten Ausführungen: Die Kategorien der theoretischen Erkenntnis, des wissenschaftlichen Begriffs, wandeln sich zum Spezialfall, eben einer bestimmten Modalität der Kategorien, einer Spezifikation des Symbolischen. Eine stringente Ausführung dieser These zu Cassirers Methode bedürfte einer eigenständigen Untersuchung und kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Dennoch möchte hier exemplarisch einige Stellen aus der Philosophie der symbolischen Formen anführen, um sie zu verdeutlichen. Untersucht Cassirer die Form des Raumes in der Sprache, so beginnen seine Ausführungen mit dem Hinweis, den die »allgemeine Erkenntniskritik« gibt, dass der Raum »unentbehrliche Vorbedingung« (Cassirer PsF I: 153 [Herv. i.O.]) des Prozesses der Objektivierung darstellt. Cassirer entnimmt den Beweis der Notwendigkeit der räumlichen Form direkt von Kant, um sodann auszuführen, dass sich dieser »logische Sachverhalt« in der Sprache darin auspräge, »daß auch hier die Konkretion der Orts- und Raumbezeichnungen es ist, die zum Mittel dient, um die Kategorie des ›Gegenstandes‹ sprachlich immer schärfer herauszuarbeiten« (ebd.: 154). Auch mit Blick auf die Zeit führt Cassirer zuerst aus, dass es im Feld der Sprache nicht genügt, die Formen des Raumes und der Zeit zu parallelisieren, wie es in der Erkenntnistheorie vielfach versucht wurde (vgl. ebd.: 168) – nicht zuletzt bei Kant selbst. Es wird argumentiert, dass wir es bei der Zeit mit einer höheren Dimension zu tun haben, wenn das sprachliche Denken die ideellen Zusammenhänge der Zeitunterscheidungen herausarbeitet (vgl. ebd.: 169–170). Immer wieder erfolgt dabei der Vergleich zur entwickelten Unterscheidung von Zeitstufen in der wissenschaftlichen Erkenntnis, maßgeblich der Physik der allgemeinen Relativitätstheorie. Cassirer betont hier die Arbeit, die die gedankliche Form in der Erkenntnis wie auch der Sprache zu leisten hat, um die ein-
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fachen Unterschiede »der einzelnen Zeitstellen« in »den Begriff einer wechselseitigen dynamischen Abhängigkeit zwischen ihnen« (ebd.: 172) umzubilden. Auch im Falle der Zahl knüpft Cassirer an die im engeren Sinne – enger zumindest gegenüber Cassirers eigenem Verständnis – erkenntnistheoretischen Überlegungen Paul Natorps an (vgl. ebd.: 184), um anschließend aufzuzeigen, »wie der logisch-mathematische Begriff der Zahl, ehe er zu dem wird, was er ist, sich erst aus seinem Gegensatz und Gegenteil heraus gestalten muß. Als die wesentlichen logischen Eigenschaften der mathematischen Zahlenreihe hat man ihre Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, ihre Einzigkeit, ihre unendliche Fortsetzbarkeit und die völlige Äquivalenz und Gleichwertigkeit ihrer einzelnen Glieder bezeichnet. Aber keines dieser Merkmale trifft auf jenes Verfahren der Zahlbildung zu, das in der Sprache seinen ersten Ausdruck und Niederschlag findet. Hier gibt es kein notwendiges und allgemeingültiges Prinzip, das alle zahlenmäßigen Setzungen mit einem geistigen Blicke zu umfassen und durch eine einheitliche Regel zu beherrschen erlaubt. Hier gibt es keine Einzigkeit ›der‹ Zahlreihe schlechthin – sondern jede neue Klasse von zählbaren Objekten erfordert, wie wir gesehen haben, im Grunde einen neuen Ansatz und neue Mittel der Zählung.« (Ebd.: 209–210 [Herv. i.O.]) Die Sprache zeigt uns zumeist noch keinen abstrakten Einheitsbegriff, sondern die Sonderung des Zahlmäßigen erfolgt noch über voneinander abgetrennt Seiendem. Wo wir in der Erkenntnis ein quantitatives Kontinuum sehen, erblickt die Sprache noch jeweils »Anderes« (ebd.: 211). Noch deutlicher zeichnet sich die grundlegende Bedeutung der Erkenntniskritik für die Untersuchung der symbolischen Form des Mythos ab. Ausgangspunkt bildet die erkenntniskritische Überzeugung, dass der Gegenstand nur als Produkt einer Formung begriffen werden kann und wenn sich die Reflexion auf nicht-theoretische, nichtwissenschaftliche Weltverhältnisse richtet, so haben wir nur andere Wege und andere »Mittel des Objektivierungsprozesses« zu erwarten – »dieses Gesamtergebnis unserer bisherigen Untersuchungen erfährt eine klare und prägnante Bestätigung, wenn wir nunmehr den Gegensatz des Objektivierungsprozesses im mythischen und im theoretischen, im reinen Erfahrungsdenken ins Auge fassen« (Cassirer PsF II: 35–36 [Herv. i.O.]). Dieser Gegensatz ist Cassirer zufolge also kein prinzipieller, sondern ein gradueller (vgl. ebd.: 43), denn in der mythischen Form ist bereits angelegt, was in der Ausgestaltung der Wissenschaft zur vollen Entfaltung gelangt (vgl. ebd.: 36). Unter dieser Perspektive wird die Vorstellung der Kausalität in der mythischen und der theoretischen Weltauffassung verglichen: »Auch hier also ist nicht der Begriff der Kausalität als solcher, sondern die spezifische Form der kausalen Erklärung, worauf der Unterschied und der Gegensatz der geistigen Welten beruht.« (Ebd.: 60) Der Mythos unterscheidet sich eben nicht dadurch von der Erkenntnis, dass er nicht die Frage nach dem »Warum« stellen würde, sondern welche Ausformung diese Frage selbst erlangt, woran sie gerichtet wird und wie sie im Detail funktioniert. Im empirischen Material der Mythenforschung zeigt sich, dass der Mythos eben nicht versucht, Einzelereignisse als Spezialfälle allgemeinerer Zusammenhänge zu erklären, sondern das Einzelne wieder auf einzelne Willensakte zurückführt, mithin sie sich dadurch verständlich zu machen. Damit offenbaren sich
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darüber hinaus die verschiedenen Stellungen, die der Zweckbegriff, die Vorstellung einer zweckmäßig geordneten Welt, in der Wissenschaft und im Mythos einnimmt (vgl. ebd.: 60–61). »Wenn man das empirisch-wissenschaftliche und das mythische Weltbild miteinander vergleicht, so wird alsbald deutlich, daß der Gegensatz zwischen beiden nicht darauf beruht, daß sie in der Betrachtung und Deutung des Wirklichen ganz verschiedene Kategorien verwenden. Nicht die Beschaffenheit, die Qualität dieser Kategorien, sondern ihre Modalität ist es, worin der Mythos und die empirische-wissenschaftliche Erkenntnis sich unterschieden. Die Verknüpfungsweisen, die beide gebrauchen, um dem Sinnlich-Mannigfaltigen die Form der Einheit zu geben, um das Auseinanderfließende zur Gestalt zu zwingen, zeigen eine durchgehende Analogie und Entsprechung. Es sind dieselben allgemeinsten ›Formen‹ der Anschauung und des Denkens, die die Einheit des mythischen wie die des reinen Erkenntisbewußtseins konstituieren.« (Ebd.: 74) In ihrer abstrakten Funktion liegen in den jeweiligen symbolischen Formen dieselben Verhältnisse und Beziehungen vor – ihre Begriffe gewinnen jedoch in den jeweiligen Sphären je eine unterschiedliche Bedeutung und »Tönung« (ebd.: 75). Im Zuge eines solch abduktiven Verfahrens können jedoch konkurrierende Plausibilitäten dafürsprechen, das Resultat unter den Definitionsbereich jeweils zweier verschiedener Gesetze zu fassen (vgl. Hubig 2006: 207). Mit anderen Worten: Warum sollten wir annehmen, dass wir es in den verschiedenen symbolischen Formen mit jeweiligen Modalitäten derselben Kategorie zu tun haben und nur einen graduellen Unterschied annehmen, während eine Untersuchung sicherlich doch auch versuchen könnte, den Mythos und die Sprache unter prinzipiell eigenen Begriffen zu beschreiben. Hier zeigt sich die Funktion des operativen Begriffs der symbolischen Form, wie wir ihn oben beschrieben hatten, jene vorausgesetzte Einheit des Problems, das sich in den symbolischen Formen ausbuchstabiert: Das System der symbolischen Formen bildet dabei eine subjektiv-methodische Annahme und so auch Überprüfungskriterium der Abduktion. Die jeweiligen Modalitäten der Kategorien müssen sich als besondere Gesetze im allgemeinen, symbolisch-vermittelten Verhältnis begreifen lassen. Widersprüche zwischen den verschiedenen symbolischen Formen dürfen in dieser Hinsicht nur dialektischer Natur sein. Es ist also auf der einen Seite dem operativen Begriff der symbolischen Form zu verdanken, dass die Abduktionen wieder eine klare Orientierung aufweisen und so nicht vor dem Problem konkurrierender Plausibilitäten stehen. Dieser Absicherung ›von oben‹, der Einheit des Systems, in dem sich die Begriffsbildung respektive die Bestimmung der Regeln der Bildung von Vorstellungen vollzieht, steht auf der anderen Seite eine Absicherung über das Bewähren an den Phänomenen der Kultur und den Inhalten der Einzelwissenschaften, gleichsam ›von unten‹, gegenüber. In den Abduktionen des Typus (2) ist eine Philosophie der symbolischen Formen durchgängig auf den Fortschritt der Wissenschaften bezogen und gewinnt in der kritischen Reflexion dieser ein eigenes Kriterium ihrer philosophischen Begriffsentwicklung. Mit der konstanten Überprüfung und Entwicklung der kulturphilosophischen Begriffe in den beiden Abduktionstypen haben wir also wieder den oben konstatierten methodischen Zirkel vor uns. Der transzendentalen Abduktion entspricht damit eine doppelte Form
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der Absicherung. Es bleibt für Cassirer bei Kants Diktum, dass der »kritische Weg [...] allein noch offen« (Kant KrV: B 884/A 856) sei, doch ist dieser Weg nun verzweigter und auch unsicherer geworden, aber keinesfalls willkürlich.
8.5 Das Leben kommt (im Hoheitsanspruch des Geistes) zu sich Für Simmel deutet der Ausbau einer Philosophie zum System auf ihre Falschheit hin, insofern die Starrheit des Systems der schöpferischen Bewegung des Lebens nicht gerecht werden könne. Die Philosophie verfehle sodann ihren pragmatischen Anspruch, Orientierung zu ermöglichen und zu bieten (siehe Kapitel 7.2). Cassirer betont nicht nur ganz klar den systematischen Anspruch seiner Kulturphilosophie, sondern macht ihn darüber hinaus zum wesentlichen und orientierenden Teil seiner Methodik. Gerade deshalb ist das System für Cassirer, wie in den vorangegangenen beiden Unterkapiteln deutlich wurde, nur ein methodisches Postulat bzw. eine subjektiv notwendige Maxime, unter der wir die Welt des Menschen betrachten und befragen. Die Vorstellung eines solchen Systems »geht auf den Begriff des ›Analytisch-Allgemeinen‹ zurück« (Cassirer PsF I: 26), mittels dessen »wir zu verstehen [suchen], wie sich aus einem einzigen Urprinzip die Totalität, die konkrete Gesamtheit der besonderen Formen entwickelt« (ebd.: 27). Dieses Urprinzip ist aber nicht a priori bestimmbar, sondern entwickelt seine Gestalt in der philosophischen Reflexion auf Prozesse symbolischer Formung. Nun ließe sich seitens Simmel sicherlich einwenden, dass bereits diese Bestimmung der philosophischen Betrachtungsweise eine Fixierung darstelle, die dem Lebensprozess nie zur Gänze gerecht werden kann. Doch bedeutet der Begriff des Analytisch-Allgemeinen, »eben nicht von der Urtatsache des sog[enannten] ›Seins‹« als etwas Festem und Starren auszugehen, »sondern von der [Urtatsache; O.H.] des ›Lebens‹«, dem »das Auseinandergehen in eine Mannigfalt[igkeit] verschiedener Richtungen durchaus wesentlich« (Cassirer SMS: 263) ist. Ist »das Leben« damit das »Höchste[,] was wir begreifen« (ebd.: 264), so folgert Ullrich daraus, dass das Leben selbst für Cassirer »das grundlegende analytische Prinzip« (Ullrich 2008: 36 [Herv. i.O.]) des postulierten Systems sein muss. Das Prinzip dieser Bewegung der »Erschaffung immer neuer Gestalten« und der »Vernichtung dieser Gestalten« (Cassirer SMS: 264 [Herv. i.O.]) darzustellen, ist das Ziel Cassirers Philosophie des Symbolischen. Was zur Darstellung kommen soll, ist aber nicht ein »Gegenstand«, sondern der »Prozess der Bewegung selbst« (ebd.). »Die Eigenbewegung des ›Geistes‹ drückt diese Urbewegung in ihrer Sprache aus; aber sie selbst zerlegt sich wieder in einzelne spezif[ische] Sonderbewegungen etc.« (Ebd. [Herv. i.O.]) Cassirer geht vom Urphänomen oder der Urtatsache des Lebens aus und dies meint, wie das Leben als kulturell schöpferischer und spannungsvoller Prozess erscheint. Das Urphänomen ist also kein rein biologisches oder ungeistiges Leben. Hinter das Faktum der Kultur und das Phänomen des Ausdrucks können wir bekanntermaßen nicht zurück. Der Geist vermag, die schöpferische Bewegung darzustellen, aber nicht als Abbild, sondern als sich differenzierende Funktion. Dies ist die Sprache der Eigenbewegung des Geistes. Die Beschreibung der verschiedenen symbolischen Formen, »jene Gliederung und Abteilung, jenes ›Eins, Zwei, Drei‹, das der Philosoph an den Inbegriff dieser Funktionen, an dieses lebendige Gewebe« anlegt, »ist ihm selbst durchaus fremd« (Cassirer MsF:
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6 [Herv. i.O.]).17 Das »Diskretum der Formen«, wie wir es dann auch in der Philosophie der Symbolischen Formen ausgearbeitet sehen, ist etwas, das »der Gedanke nachträglich unterscheidet« (ebd.). Teilt das schöpferische Leben sich in verschiedene Richtungen, so versucht der Geist, diese Richtungen als sich ausdifferenzierende Funktion zu begreifen und sie hierin zusammenzuführen. »Der Begriff des Geistes erweist sich folglich als das höchste synthetische Prinzip in der Grundlegung des komplexen Systems.« (Ullrich 2008: 36 [Herv. i.O.]) Ullrich versucht aufzuzeigen, wie Cassirer neben seiner »semiempirischen Methode« (Recki 2004: 45; siehe Kapitel 8.4) – besonders in den Nachlassschriften Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen und Symbolische Formen. Zu Band IV. – in einem »rein begrifflichen Verfahren der methodischen Reflexion« (Ullrich 2008: 37) einen Begriff des Geistes als Prinzip des Bildens entwickelt. Die philosophische Reflexion zeichnet hier durch ihre »aufeinander bezogenen Reflexionsbegriffe« die »logischgenetischen Phasen der sich durch seine Grundmomente entfaltenden, immanenten Eigenbewegung des Geistes« (ebd.: 38) nach. Die Bedeutungswandel der Begriffe stellen demnach keine »dem Wesen des Geistes äußerliche[n] Modifikationen« (ebd.) dar. Im Folgenden werde ich diese von Ullrich herausgearbeitete Begriffsentwicklung in Kürze darstellen. Ausgangspunkt der Bewegung markiert die Einsicht, dass sich das Leben im Urphänomen des Ausdrucks dartut und das im Ausdruck hervorgerbachte »Bild« »die fundierende Schicht der Realität« (ebd.: 41) ist. Das »Leben, als solches, ist blind-gestaltend« (Cassirer SF IV: 212 [Herv. i.O.]) und d.h., blind für sein eigenes Gestalten. Es kann die geschaffenen Bilder nicht als solche erkennen. Erst die »philosophische Reflexion enthüllt auch die ursprünglichen Ausdruckserlebnisse als ideell bedingt« (ebd.: 208 [Herv. i.O.]) (siehe auch Kapitel 8.3). Der Geist als »reine Reflexionsform« des »an sich blinden, aber schöpferischen Urgrund[s]« (Ullrich 2008: 43) bringt die immanente Differenz von Bildform und Bildgehalt zu Bewusstsein. »Indem der Geist als Prinzip des Sehens sich durch das Leben in Bildern reflektiert, wird das Leben selbst zur Sehe, erscheint das Leben als sich sehendes Leben in ebendiesen Bildern.« (Ebd.) Erkennt und bestimmt sich das Leben (als geistiges Leben) in den nunmehr als objektiv gegenübergestellten Bildern selbst, setzt sich also zu sich selbst in ein Verhältnis und wird »sich selbst objektiv« (Cassirer SF IV: 215), beginnt »das Leiden an den ›Formen‹, in denen es andererseits doch einzig nur ist« (ebd.: 217). Das Leben erkennt sich erst in seiner Selbstbestimmung (durch die Form) als »unendliche Formungsmöglichkeit« (ebd.: 216 [Herv. i.O.]), ist durch diese Selbstbestimmung aber in diesen Formungsmöglichkeiten negiert (entfremdet). Der Widerspruch zwischen Leben und Form ist also kein substanzieller, sondern ein dialektischer Widerspruch zwischen Möglichkeit und Verwirklichung (vgl. Ullrich 2008: 45), und äußert sich folglich als »dialektische Bewegung« (Cassirer SF IV: 218 [Herv. i.O.]), die immer wieder über bestehende Bestimmungsformen hinausführt und neue Formen an ihre Stelle setzt. »Die philosophische Reflexion gelangt somit an einen Punkt, an dem
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Tatsächlich spricht Cassirer spricht an dieser Stelle von dem »lebendige[n] Gewebe des Geistes« (Cassirer MsF: 6), die Betonung scheint aber auf dem lebendigen Gewebe zu liegen. Das Leben als Urphänomen ist ja für Cassirer gerade nichts ungeistiges, sondern gewissermaßen Geist, der sich selbst noch nicht erkannt hat.
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es so aussieht, als sei der (objektive) Geist, der objektive Gehalt und Sinn der Formen, abhängig vom erscheinenden Leben.« (Ullrich 2008: 48 [Herv. i.O.]) Die philosophische Reflexion erkennt nun die »ganze Dingwelt, die Welt der ›Realität‹ als sekundäres Phaenomen« (Cassirer SF IV: 219 [Herv. i.O.]), als »spezifische[...] Deutungen des bildimmanenten Verhältnisses von Ausdrucksfunktion und Ausdrucksgehalt (bzw. Geist und Leben)« (Ullrich 2008: 48). Diese sekundären Deutungen erweisen sich aber auf der nächsten Stufe der Entwicklung als »immer schon von der impliziten, primären Auseinandersetzung von Bilden und Bild fundiert« (ebd.). Auf dieser »tertiäre[n] Ebene der Reflexion« ist in einem »Bildvollzug [...] das Bild des Bildens und das Bild des Bildes in einem Bilden gesehen und aufeinander bezogen« (Ullrich 2008: 49). Anders ausgedrückt erkennt die Reflexion, dass der jeweilige gegenstandslogische Bezug von Formen bestimmt ist, die durch das historisch erscheinende Leben geschaffen sind – und darin gleichzeitig, dass »die mögliche Differenzierung [...] von Bildform und Bildgehalt« (ebd.) dem Bilden untersteht. Mit Blick auf die mögliche Abhängigkeit des Sinns der Formen von dem bloß erscheinenden Leben, stellt sich für dieses Bilden die Frage der Geltung, woran (und ob) es sich legitimeren kann. Dies ist »das Problem der Transzendenz« (ebd.: 50). Eine ›wahre Wirklichkeit‹ jenseits des Bildens scheidet hierfür aus. Es könne »keineswegs« eine transzendente »Ding-Sphaere« (Cassirer SF IV: 249) infrage kommen, insofern dies ein Rückfall in einen überwundenen Realismus wäre oder die Frage hervorrufen würde, wie eben diese gebildet sei. Es müsse demnach eine »Sinnsphaere des Objektiven« (ebd.) angenommen werden. Diese Sphäre ist also nicht ein Etwas, auf das sich vermittels eines durch Kategorien bzw. symbolische Formen gebildeten Bezugs bezogen werden kann, um dann irgendeinen ›Abgleich‹ zu erreichen. Der Bezug auf diese Sinnsphäre besteht vielmehr im Prozess des Bildens von Gegenstandsbezügen, d.h. aber auch nur in »›Intention‹ auf das Objekt« (ebd.) als die Bezugsform, die wir bilden und in der wir auf Objekte bezogen sind, erscheint in der Reflexion dieses Bildens der transzendente Sinn des Objektiven (vgl. Ullrich 2008: 51–52). »In der letzten höchsten Einsicht müssen wir uns freilich zum Begriff der Geltung erheben; aber wir können darum nicht auf den Begriff des Lebens verzichten! Im Gegenteil: er ist der letzte – ein Leben selbst, an dem wir in wandelbaren Symbolen ›teilhaben‹!« (Cassirer SMS: 271) Das Teilhaben verweist auch auf den sozialen Charakter der Geltung bzw. auf die »Form des überpersönlichen Sinnes« (Cassirer SF IV: 220). Entsprechend ist später bei Cassirer die Rede von den »geistig-eth[ischen] Vollzugseinheiten, die von dem geist[igen] Sub[jekt] aufzubauen sind« (ebd.: 248 [Herv. i.O.]). »Eine genau so geartete Wahrheits- bzw. Sinnvoraussetzung anerkennt der symbolische Idealismus allerdings als notwendig nicht nur für den Vollzug der philosophischen Reflexion, sondern für die Konstitution jeglichen Wissens. [...] Der Geist als Prinzip des Bildens erweist sich dabei als Voraussetzung jeglichen Lebensvollzugs, weil er als ursprüngliche Konstruktion des Sinns ideeller Zielpunkt jeglichen Lebensvollzugs ist.« (Ullrich 2008: 51–54) Der ideelle Zielpunkt ist hier aber natürlich kein zu Zustand, sondern das zu sich selbst kommen des geistigen Lebens, das im Prozess des Bildens diesen Prozess reflektiert und als Prinzip begreift. Wie auch Simmel (siehe Kapitel 7.2) gelangt Cassirer zur notwendi-
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gen Vorstellung einer Idee der Geltung. Im Unterschied zu Simmel aber erscheint die Vorstellung dieser Idee als logische Entwicklung der Eigenbewegung des Geistes. Dieser Geistbegriff ist keineswegs nur ein Element der Nachlassschriften, wie Ullrich (ebd.: 54) außerdem darlegt, sondern markiert bereits ab dem ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen ein Fundament des Denkens Cassirers. Und hierdurch weicht auch das Bild der Kultur, das wir in der Philosophie der symbolischen Formen vorfinden, klar von Simmels Entwurf ab. Denn insofern alle geschaffenen Symbolsysteme »von Anfang an mit einem bestimmten Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch auftreten«, erkennt der Geist in ihrer Schöpfung seine »reine Aktivität« (Cassirer PsF I: 19). Allerdings können wir diese nur erfassen, indem »wir die verschiedenen Richtungen seiner ursprünglichen Bildkraft verfolgen. In dieser erblicken wir im Reflex die Wesenheit des Geistes – denn diese kann sich für uns nur dadurch darstellen, daß sie sich in der Gestaltung des sinnlichen Materials betätigt.« (Ebd.) Aber entsprechend sind die Gestaltungen »nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d.h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt« (ebd.: 7). Auf Basis dieses Geistbegriffs wird auch die Rolle der Philosophie verständlich, die Cassirer ihr im Rahmen seines Gesamtwerks zuweist. Die Philosophie ist keine eigene symbolische Form, sie ist vielmehr »zugleich Kritik u. Erfüllung der symbol[ischen] Formen« (Cassirer SMS: 265). Sie »begründet in diesem Sinne keine neue Schöpferische Modalität« (ebd.: 264 [Herv. i.O.]), also keine Form des Gegenstandsbezugs bzw. der Gegenstandskonstitution. Sie ist »Kritik« der symbolischen Formen, »weil sie sich gegen den transzendenten ›Gegenstand‹ wendet; weil sie sich als aktiven geistigen Aufbau der Wirklichkeit begreift, nicht als hinzielend auf ein äußeres Absolutes u. weil sie über die Sinnbildlichkeit des ›Zeichens‹ hinaustreibt, auf ›Elimination‹ des Zeichens u. auf Gewinn der zeichenlosen ›adaequaten‹ Erkenntnis geht.« (ebd.: 265 [Herv. i.O.]) Diese Passage würde ohne den von Ullrich (2008) nachgezeichneten Geistbegriff unverständlich bleiben. Die Philosophie als Reflexion und Kritik ist keine symbolische Form, insofern sie keine Gegenständlichkeit konstituiert, aber ist aktiver geistiger Aufbau der Wirklichkeit, weil sie Selbsterkenntnis des Geistes im Vollzug ist, nämlich des Prinzips des Bildens von Wirklichkeit (das eben keinen transzendenten Gegenstand jenseits seiner selbst kennt). Sie treibt über die Sinnbildlichkeit des Zeichens hinaus, weil sie die Differenz von Bild und Bildform herausstellt und diese in einem Bilden fundiert. Und sie eliminiert das Zeichen, weil das Prinzip des Bildens – der Geist – sich selbst zuletzt in der reinen, oben dargelegten Bewegung bereift, in der das Leben (das analytische Prinzip) zu sich kommt. Diese Bewegung ist aber eben nicht mehr durch eine symbolische Form vermittelt, sondern durch die Reflexion des Geistes auf die symbolischen Formen. Die Aufgabe der Philosophie »besteht im Durchschauen des symbol[ischen] Grundcharakters der Erk[enntnis] selbst« und d.h., nicht die symbolische Form selbst zu überwinden, sondern »jedes Symbol an seiner Stelle [zu] begreifen u. es durch andere als begrenzt u. bedingt [zu] erkennen« (ebd. [Herv. i.O.]). Dies ist nach Cassirer »die einzig mögliche ideelle Befreiung vom Zwang der Symbolik«, der ansonsten »mit jeder Anwendung einer posi-
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tiven Form, einer positiven ›Sprache‹ verbunden« (ebd. [Herv. i.O.]) ist. In dieser Gestalt ist Philosophie die Erfüllung der symbolischen Formen, als sie ihnen zur wahren Ausgestaltung verhilft. Heißt es bei Ullrich, dass sich der Geist in symbolischen Formen konkretisiere und »in diesen [...] die Realität als solche auf[gehe]« (Ullrich 2008: 36), betrifft dies nur das »Prinzip des Bildens auf primärer Ebene« (ebd.: 52). Für die individuelle »personale[...] und leibliche[...] Subjektivität der sekundären Ebene« (ebd.: 52)18 bestehe durchaus die Möglichkeit, der Passivität zu erliegen. Die Syntheseleistung, die bei Simmel im Prozess kultureller Entwicklung gerade keine Leistung ›aus einer Hand‹ mehr war, ist bei Cassirer deutlich und allein für den Geist beansprucht. »Der Geist ist eins, indem er sich in der Vielheit mannigfacher Richtungen des Tuns seiner Identität (als Tun überhaupt) bewusst wird«, aber diese Identität besteht folglich nur »in einem identischen Prinzip des Tuns« (Cassirer SMS: 263 [Herv. i.O.]). Die Kultur, die Welt des Menschen, ist das unbestrittene Hoheitsgebiet des Geistes.
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Dies sind eben die »spezifischen sekundären Deutungen des bildimmanenten Verhältnisses von Ausdrucksfunktion und Ausdrucksgehalt« (Ullrich 2008: 48), bspw. historische Mythoskonstellationen, ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, etc., die ihre Möglichkeit aber im Prinzip des Bildens (primäre Ebene) finden.
9. Dialektik und Leibapriori
Im 5. und 6. Kapitel wurde der Begriff der kulturellen Logik der Objekte sowie der ihres zugehörigen Imperativcharakters entwickelt. Auf einer höhergestellten Reflexionsstufe diskutierte anschließend das 7. Kapitel die Perspektive und Bedingungen, unter denen Simmel mittels des Begriffs der kulturellen Logik der Objekte die Vorstellung eines ›übergeordneten Geschehens‹ modelliert. Über die Frage, welcher Anspruch mit einer solchen Vorstellung ausgedrückt ist, also inwiefern hier etwas für uns indisponibel sein soll und in welchen Modi des Vorstellens dies geschieht, kulminierte die Diskussion in dem von Simmel erhobenen Anspruch philosophischer Reflexion als Graben und dem zugehörigen Bild von Kultur überhaupt. Mit dem zurückliegenden 8. Kapitel ist dem Denken Simmels nun die cassirersche Kulturphilosophie auf entsprechender Reflexionsstufe gegenübergestellt. Neben vielen Gemeinsamkeiten zwischen Simmel und Cassirer wurden bereits Unterschiede in der Frage des Systemanspruchs, der Perspektivität des philosophischen Entwurfs und der kulturell-geistigen Syntheseleistung deutlich. Bei einer bloßen Gegenüberstellung soll es freilich nicht bleiben. Es gilt zu prüfen, was Cassirer auf dieser Reflexionsstufe gegen die Tragödie als Titel für eine bestimmte historische Konstellation, in der die in kulturellen Objekten verkörperten Formen und Formungsprinzipien in einer Weise Orientierungsanspruch erheben, der den Subjektstatus der Individuen prekär werden lässt, einzuwenden hat. Hatten wir uns der Rede vom »Imperativ des Werkes« (Cassirer ÜB: 190 [Herv. i.O.]) bedient, um den Nötigungscharakter einer kulturellen Logik der Objekte aufzuschlüsseln, wurde diese Rede freilich entgegen Cassirers eigener Intention interpretiert. Die symbolischen Formungsprozesse sind Ausdruck der Gesetzlichkeit der menschlichen Freiheit. Die Form ist bildsame, von innen zu ergreifende Form (siehe Kapitel 4.2). Die kulturphilosophische Reflexion setzt an den Werken und Gebilden der Kultur an, um geleitet vom methodischen Postulat des Systems der symbolischen Formen (Kapitel 8.3) die konstitutiven Formungsprinzipien herauszuarbeiten (Kapitel 8.4). Cassirer stellte (Kapitel 8.5) in der Reflexion des Prinzips des Bildens »die einzig mögliche ideelle Befreiung vom Zwang der Symbolik« (Cassirer SMS: 265 [Herv. i.O.]) in Aussicht. Die Rede vom Hoheitsanspruch des Geistes verwies dabei bereits auf eine praktische Dimension des philosophischen Anspruchs. Wir müssen also fragen, ob diese Reflexion einen Zwangscharakter der kulturellen Logik der Objekte aufheben kann. Anders formuliert, zielt die Frage dar-
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auf, in welcher Art eine kulturelle Logik der Objekte für uns als indisponibel erscheinen kann, wenn wir doch in der dialektischen Reflexion in der Lage sind, uns in ein Verhältnis zu ihr zu setzen. Ich möchte dieser Frage nun in einem letzten Kapitel nachgehen.1 Zu verhandeln ist sie m.E. unter dem Verhältnis von kulturkritischer Reflexion und der in geschichtlich-praktischer Hinsicht orientierenden Weltdeutung. In einem ersten Schritt (9.1) gilt es, Cassirers Kulturphilosophie unter der Perspektive zu beleuchten, wie sie als logisches Gewissen der Kultur – also mit inhärent praktischem Anspruch – auftritt. Dabei soll herausgestellt werden, an welcher Stelle ein weiterer Vermittlungsschritt anschließen müsste, wenn eine Kulturkritik nicht in kritizistischen Grenzen verbleiben will. Weiter (9.2) werde ich erneut Cassirers Ansatz zur Leiblichkeit und zu den Basisphänomenen (bzw. dem Basisphänomen der Monas) aufgreifen, um (9.3) mithilfe von Apels (1975) Diskussion des sogenannten Leibprioris und der Perspektivität unseres irreversiblen Welteingriffs der Unaufhebbarkeit des Basisphänomens der Monas nachzugehen. Es geht darum, zu prüfen, in welchem Status und Umfang das Basisphänomen der Monas nicht nur der einzelwissenschaftlichen Theoriebildung, sondern auch der philosophischen Reflexion als konstitutive Bedingung anzusetzen ist. Im letzten Schritt (9.4) kann dadurch der angedeutete Vermittlungsschritt ausformuliert werden, der für eine dialektische Kulturkritik mit Anspruch auf praktische Orientierung in der gesellschaftlich-geschichtlichen Situation notwendig ist. Es zeigt sich sodann, dass dieser Vermittlungsschritt anderen transzendentalen Bedingungen untersteht als die kulturkritische Reflexion, auf der die geschichtlich-praktisch orientierende Weltdeutung nichtsdestoweniger fußt. Mit Blick auf diese Bedingungen werden erst die Hürden sichtbar, die einer positiven Bestimmung der über die reflexive Verhältniseinnahme eröffneten emanzipatorischen Potentiale im Wege stehen (können).
9.1 Die Kritik als das logische Gewissen der Kultur In der Kultur schafft sich die Menschheit einen neuen, gemeinsamen Körper, in der die Schranken, die die biologisch-körperliche Lebensform den Veränderungen und der Dauerhaftigkeit stellt, überwunden sind (siehe Kapitel 4.2). Das Leben dieses kulturellen Körpers ist, eingedenk dieses Verhältnisses von Veränderung und Dauerhaftigkeit, von Spannungen und Konflikten gezeichnet. Dieses ›Drama der Kultur‹ entfaltet immer wieder destruktive Kräfte, denen gegenüber sich die Philosophie nach Cassirer nicht als passiver Zuschauer, der das Spektakel genießt und niederschreibt, verhalten dürfe. Nehmen wir die von mir aus Simmels Ansatz heraus konstruierten Möglichkeitsräume mit einer spezifisch-orientierenden Ausrichtung und Formungsprinzipien, können diese (müssen es aber nicht immer!) für das Individuum Bedrohungen entfalten, 1
Die folgenden vier Unterkapitel basieren auf meinem 2018 erschienen Aufsatz Basisphänomen und Leibapriori (Honer 2018b). Das Unterkapitel 9.3. ist dabei abgesehen von dem Zitationsformat bis auf kleine Überarbeitungen Inhalts- und Formulierungsgleich zum dritten Kapitel des Aufsatzes. Es stellt den Argumentationsgang Apels (1975) dar und setzt ihn an einigen Stellen unmittelbar in Bezug zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Insofern es bezüglich dieses Argumentationsgangs keine neuen Erkenntnisse gibt und darüberhinausgehende Schlüsse erst in Kapitel 9.4 gezogen werden, gab es keinen inhaltlichen Grund einer Umformulierung.
9. Dialektik und Leibapriori
Entfremdungsphänomene bedingen und ihren Status als Handlungssubjekte prekär werden lassen. Die Aufgabe der Kulturkritik in Cassirers Verständnis wäre es, hier einzuhaken und Aufklärung zu leisten – als Erzieherin (siehe Kapitel 4.2) in Erscheinung zu treten. Es zeichne den Geist aus, dass er seinerseits keine dauerhafte »äußere Determination« (Cassirer FuT: 139 [Herv. i.O.]) dulde. Er muss deshalb die wirksamen Kräfte entsprechender Räume durchdringen, als seiner Autorität unterstellt erfassen und so die dortigen Bestimmungen wieder in die Freiheit der bildsamen Form aufheben. Der Weg, den die Kulturkritik dabei beschreitet, wurde in Kapitel 8. skizziert. Sie befragt die verschiedenen Formen und Gebiete der Kultur auf ihren Sinn, ihr Recht, ihren Ursprung und ihre Geltung (vgl. auch ebd.: 141). Die dabei zutage tretenden symbolischen Formen können aber nur in ihrem dynamischen Verhältnis zueinander bestimmt werden, in dem sie sich miteinander verbinden und voneinander abheben. So ist mit jeder Form der Horizont der menschlichen Existenz nicht nur einfach erweitert, als vielmehr »die Art des Sehens« (ebd.: 142 [Herv. i.O.]) selbst verändert. Die kritische Kulturphilosophie zielt darauf ab, das Konstitutionsgefüge und die Möglichkeitsbedingungen in einem System der symbolischen Formen nachzuzeichnen – nur so könne es ihr gelingen, dem Anspruch zu genügen, »das logische Gewissen der Kultur« (ebd.: 142 [Herv. i.O.]) zu sein. Diesem, als Oxymoron anmutenden Ausdruck gilt es genauer nachzugehen. Ihre Aufgabe muss eine Kulturphilosophie unmittelbar an den Werken und Gebilden der Kultur bzw. an der einzelwissenschaftlichen Aufarbeitung derselben beginnen (siehe Kapitel 8.3 und 8.4), um von dort auf das »Prinzip des Werdens« zu reflektieren, um von der »forma formata zur forma formans« (ebd.: 142) zu schreiten. Die Kulturobjekte sind ihr der Schlüssel zu den symbolischen Formen. Die philosophisch-kritische Betrachtung der symbolischen Formen kann dabei zwei verschiedene Perspektiven annehmen, je nachdem, ob nach dem Sinn und dem Wesen der Gebiete der Kultur gefragt wird oder ein richtendes Urteil über den Wert entsprechender Gebiete gefällt wird. Die Sinn- und Wesensfrage bereitet aber für Cassirer erst den rechten Maßstab vor, anhand dessen eine objektive Wertbeurteilung stattfinden kann. Die Wesensbetrachtung habe entsprechend voranzugehen, um dem Werturteil den Weg zu bereiten. Insofern es sich bei der erscheinenden Kultur um die Konkretisierungen und Ausformungen des Geistes handelt (siehe auch Kapitel 8.5), kann der rechte Maßstab nur im Prinzip des Bildens, also – insofern dieses Prinzip zugleich Spontaneität und Autonomie beschreibt – in der menschlichen Freiheit gegeben sein und damit in der Entfernung vom »naiv-triebhaften Glücksverlangen« (ebd.: 173). Sitzt hier der Geist über sich selbst Gericht und ist selbst das Maß des Urteils, bedeutet dies gleichwohl noch keinen Freispruch für seine eigenen Taten. Denn der Geist ist bei Cassirer wie auch bei Simmel in der Kultur in sich zerrissen, in Konflikt mit sich selbst. Die symbolischen Formen streben je nach einer Absolutheit und drohen sich dabei gegenseitig zu verdrängen (vgl. Cassirer PsF I: 10–11). Die Freiheit des Geistes ist nicht nur Maßstab, der an die Kultur angelegt wird, sondern eine »Einheit der Zielrichtung und Zielsetzung« (Cassirer FuT: 173), von der der Geist als Leben abzukommen droht. Die Definition der Philosophie als logisches Gewissen der Kultur hebt gleichermaßen auf ein reflexives wie auch praktisches Moment in der Kritik ab. Das System der symbolischen Formen, das in Kapitel 8.3 und 8.4 als methodisches Postulat der Reflexion hausgearbeitet wurde, markiert gleichzeitig eine ethisch-praktische Aufgabe, die Durchsetzung »ei-
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ner universellen Norm, die die Einzelnormen zugleich befriedigt und beschränkt« (ebd.: 173). Anhand Cassirers Ausführungen in Form und Technik kann dabei gezeigt werden, wie sich die ethisch-praktische Reflexion zu den symbolischen Formen verhält. Dort beschreibt Cassirer exemplarisch das Verhältnis der Technik zu Sprache, Mythos, Wissenschaft und Kunst, legt dabei Verbindungen, Abhängigkeiten aber auch Konfliktpotentiale offen. Die Untersuchung endet mit dem Verhältnis der Technik zur Ethik. »[D]as technische Wirken und Schaffen« soll »nach seinem ethischen Recht und seinem ethischen Sinn« (ebd.: 180 [Herv. i.O.]) befragt werden. Die in der Forschung gerade auch mit Blick auf diese Textstelle diskutierte Frage, ob die Ethik selbst eine symbolische Form sei (vgl. hierzu Recki 2004), ist wie für die Philosophie überhaupt (siehe Kapitel 8.5) klar zu verneinen. Worum es Cassirer an diesem Punkt geht, ist die grundlegend ethisch-praktische Dimension des ganzen Projekts seiner Kulturphilosophie: »Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben.« (Cassirer VüM: 345) Diese Selbstbefreiung ist uns wie das System der symbolischen Formen weniger »gegeben, als sie uns aufgegeben ist« (Cassirer Häg: 72 [Herv. i.O]). Die Aufgabe gilt nicht nur für das Denken, sondern auch für den Willen und das Tun (vgl. ebd.: 64). Sie erfordert deshalb den »Einsatz neuer Willenskräfte«, um den »Aufbau eines Reiches des Willens« bzw. eines »Reich[s] der Zwecke« (Cassirer FuT: 182 [Herv. i.O.]) zu leisten. Es ist ein ethisch-kulturkritisches Projekt, die symbolischen Formen und die Welt der Kultur systematisch zu ordnen: »In diesem Aufbau« (ebd.: 182 [Herv. O.H.]) wird den besonderen symbolischen Formen je ihre Funktion und ein Platz in ihrer Beziehung zueinander zugewiesen. Die Präposition »in« macht deutlich, dass dieses Reich des Willens nicht eine singuläre symbolischen Form ›Ethik‹ meint, die neben den anderen steht, sondern die universelle Norm der symbolischen Formen, den obersten Gattungsbegriff der symbolischen Form, der präsumtiv das Prinzip seiner Spezifikation zu der Pluralität der einzelnen symbolischen Formen in sich enthält. Das Reich des Willens ist die praktische Kehrseite des methodischen Postulats eines Systems der symbolischen Formen (siehe Kapitel 8.3). Bereits die Begrifflichkeit verweist auf den kantischen Ursprung des Gedankens. »Reich« meint in Kants Terminologie die »systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze« (Kant GMS: AA IV 433). Ein Reich der Zwecke, so führt Kant aus, ist sodann möglich, wenn man von dem materialen Inhalt der Privatzwecke jener Wesen abstrahiert und die formale Struktur der Zwecke in ihrer Gültigkeit nach einem allgemeinen Prinzip denkt – bei Kant dem kategorischen Imperativ. Der Imperativ des Werkes gebietet demnach bei Cassirer nicht den Gehorsam gegenüber der vorgefundenen Form, sondern den reflexiven Aufstieg über den interessenlosen Eigengehalt des Werks hin zu den formalen Prinzipien zur praktischen Gestaltung der Kultur (vgl. Cassirer ÜB: 187–190). Folgerichtig bedeutet für Cassirer eine »Ethisierung der Technik« zugleich eine »›Entmaterialisierung‹« (Cassirer FuT: 182). Die ethisch-kritische Reflexion müsse sich über die materiellen Erscheinungen der technischen Geräte und Systeme erheben und deren Form und formale Prinzipien ermitteln, die über das Reich des Willens bestimmt und gleichzeitig beschränkt werden. In einer solchermaßen ethisierten Gestalt könne die Technik unter dem »Ideal einer Solidarität der Arbeit« »eine Art von Schicksalsge-
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meinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind« (ebd.: 183), schmieden. Ihr Beitrag in einem System der symbolischen Formen, im Reich der humanitas, sieht Cassirer darin, den Arbeitswillen zu erziehen. Erst dann werde »sich das echte Verhältnis zwischen ›Technik‹ und ›Form‹ herstellen, wird sich ihre tiefste formbildende Kraft bewähren können« (ebd.: 183). ›Form‹ steht hier selbstverständlich nicht mehr für die isolierte geistige Energie des technischen Wirkens, sondern für ihre Verortung in einem Reich der Formen. Es gelte also, kulturelle Räume hinsichtlich der in ihnen eingeschriebenen problematischen Orientierungen und konstitutiven Regeln zu reflektieren, um sie unter dem Prinzip des Bildens zu denken und so von den Vereinseitigungen und überzogenen Ansprüchen ihrer geschichtlich-materiellen Erscheinungsform, die diese Orientierungen und Regeln bedeuten, zu befreien – oder anders ausdrückt sie in Bezug auf das Reich der Zwecke, dessen Hoheitsgebiet diese Räume aufgrund ihrer Ermöglichungsbedingungen unterstehen, kritisch einzuschränken. Cassirer gilt dieses Reich als die humanitas, als kulturell geteilte, objektive Welt des Menschen zur Teilhabe an derer der Mensch frei werden müsse (vgl. O. Müller 2012: 691). »Die humanitas ist keine feste oder substantielle Größe, sie ergibt sich aus dem menschlichen Zwecksetzungsvermögen in der kulturellen und geschichtlichen Selbstbesinnung – und wird damit zur leitenden Idee in der Ausbildung der kulturellen Formen.« (Ebd.: 693 [Herv. i.O.]) Kulturkritik als logisches Gewissen bedeutet nach Cassirer also diese Verknüpfung von transzendental-theoretischer und transzendental-praktischer Reflexion. Die transzendental-theoretische Reflexion hebt den »impliziten Sinn« der Formen in ihrer funktionalen Stellung zueinander zu einem »expliziten« (Cassirer FuT: 183), während dieser implizite Sinn in der transzendental-praktischen Reflexion gemäß einer subjektiv-notwendigen Maxime immer bereits auf die Idee der humanitas orientiert ist. Dies ist der vom »geist[igen] Sub[jekt]« zu leistende Aufbau der »geistig-eth[ischen] Vollzugseinheiten« (Cassirer SF IV: 248 [Herv. i.O.]). Die »mediale Denkbahn« (Orth 1996a: 103–104), die der Begriff der symbolischen Formen darstellt (siehe Kapitel 8.3), ist gleichzeitig Medium der Handlungsorientierung. Der ›Imperativ des Werkes‹ wird zum Gebot der geistigen Selbstbestimmung. Cassirer beteuert, dass dieser Forderung der geistigen Selbstbestimmung »keine bloß ›ideelle‹ Bedeutung« innewohnt, sondern aus »der Klarheit und Bestimmtheit des Sehens[ … ] eine neue Kraft des Wirkens« (Cassirer FuT: 139 [Herv. i.O.]) ströme. Insofern wir es hier aber wieder mit dem Verschmelzen von Autonomie und Spontaneität im reflektierten Gegenstandsbewusstsein zu tun haben (siehe Kapitel 3.3.; vgl. Recki 2004: 169), erscheint mir Cassirers Entwurf der Kulturkritik in kritizistischen Grenzen zu verbleiben: Begriffe und Vorstellungen werden auf ihre ermöglichenden Kategorien und Formungsprinzipien befragt und diese Kategorien und Formungsprinzipien werden wiederum auf Basis des synthetischen Prinzips des Geistes auf ihre Verhältnisse in einem Bedingungsgefüge untersucht, um sie mit ethisch-praktischem Anspruch zu systematisieren und in ihrer Geltung zu beschränken. Die Vermittlung vom Körper der Kultur, der humanitas, zurück zum geschichtlich-praktisch handelnden Individuum,
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das durch die neue Art des Sehens eine dialektische Weltdeutung und Neubestimmung seines Wirkens vornehmen soll, bleibt unterbestimmt. Cassirer bot hier das »innere[...] Maß« (Cassirer GIBE: 141) an, auf das das Individuum, unterstützt durch die Kulturkritik als Erzieherin, die ihm den Orientierungsrahmen des Geistes bietet, sich pragmatisch besinnen soll (siehe Kapitel 4.2 und 4.3). Genügt dies jedoch für den ausstehenden Vermittlungsschritt? Ich möchte im Folgenden nachweisen, dass die Vermittlung hin zu einer historisch-praktisch orientierenden Weltdeutung anderen Bedingungen der Möglichkeit unterliegt als die kritische Besinnung.
9.2 Das Fenster zur Wirklichkeit Bei Cassirer wird dieser Vermittlungsschritt im Basisphänomen der Monas, dem Ausdrucksphänomen (siehe Kapitel 3.5.2) und der Beschreibung der Ausdruckswahrnehmung (siehe Kapitel 8.3) lediglich angedeutet, ohne dass er selbst Konsequenzen daraus zu ziehen scheint. Jeweils geht es Cassirer darum, zu zeigen, dass die Bezogenheit des Ausdrucks auf ein leiblich existierendes Ich im geistigen Leben unhintergehbar und unaufhebbar ist. Ich werde diese Spuren im Folgenden erneut daraufhin lesen, wie weit sich das Basisphänomen in das entfaltete Symbolbewusstsein und dessen Reflexion hinein erstreckt, um im anschließenden Unterkapitel zu zeigen, dass die Monas in der Darstellung Cassirers noch unzureichend bestimmt ist. In der Erörterung von Cassirers transzendentaler Methode als einer Verschiebung der Kritik der Vernunft hin zu einer Kritik der Kultur wurde dargelegt, dass die Philosophie der symbolischen Formen aufbauend auf der Kritik der Urteilskraft einen neuen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbegriff geltend macht (siehe Kapitel 8.4). Begründet wird dies im Rahmen einer phänomenologischen Untersuchung der Wahrnehmung. Eine solche Untersuchung legt dar, dass sich die Welt für das Symbolbewusstsein mit dem Ausdrucksphänomen bzw. der Ausdruckswahrnehmung konstituiert. In basaler Form wird die Welt in Ausdrucksphänomenen erlebt, sie erscheint unmittelbar sinnbelebt und verständlich: Darlegung und Auslegung der Welt sind noch ungeschieden (vgl. Cassirer PsF III: 105). Erfahrung im Modus der Ausdruckswahrnehmung hält sich noch fern der die Erscheinungen zergliedernden Urteilsformen und begrifflichen Interpretationen (vgl. ebd.: 75): In Ausdrucksphänomenen wird die Welt nicht erschlossen, sondern allererst aufgeschlossen (vgl. Cassirer ÜB: 118 und 131–132). Was das bedeutet, lässt sich anhand sensualistischer bzw. (neo)positivistischer Positionen erkennen. Der Versuch, die Wahrnehmung bzw. Erfahrung physikalistisch auf isolierte und empfangene Sinnesdaten zu beschränken, ergibt das reduzierte Bild einer Wirklichkeit aus physikalischen Körpern und Qualitäten (vgl. Cassirer ÜB: 118). Ausgehend von einem solchen Wirklichkeitsbegriff ist es dann aber unmöglich, bestimmte Bereiche unserer alltäglichen Erfahrung und der uns dort begegnenden Phänomene zu erklären, ja überhaupt nur zu fassen. Sensualistische Positionen stehen so vor der Wahl, entsprechende Phänomene skeptizistisch als Täuschungen abzutun oder im Rahmen von naturalistischen Ableitungen selbst einer Täuschung zu erliegen, indem sie das voraussetzen, was sie erklären wollten (vgl. Cassirer PsF III: 64–67; MsF: 100–101). Vergegenwärtigen wir uns, welche Phänomenbereiche nach Cassirer durch die skeptische
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Bestreitung des Ausdruckphänomens verschlossen blieben, erkennen wir die Trias der sogenannten Basisphänomene »Ich«, »Du« und »Es«: In seiner erkenntnistheoretischen Grundlegung der Kulturwissenschaften legte Cassirer (LdK: 395ff.) dar, dass sich die kulturellen Werke und Schöpfungen erst in der Ausdruckswahrnehmung als Gegenstände begreifen lassen. In physikalischen Begrifflichkeiten ist niemals zu beschreiben, was kulturelle Werke bedeuten (vgl. Cassirer PdK: 86). Das »Es« als kulturelles Werk, erschließt sich nur über den Ausdruck. Ebenso verhält es sich mit dem Phänomen des Fremdpsychischen. Die zahlreichen Versuche, das Wissen vom anderen Subjekt, dass es sich bei diesem um ein beseeltes Wesen handelt, über Wahrnehmung rein körperlicher Beschaffenheiten zu erklären, verfehlen die Gewissheit, mit der das Phänomen im Ausdruck erlebt wird (vgl. Cassirer PsF III: 88–90). Das »Du« als das personale Gegenüber begegnet uns nur im Ausdruck. Zuletzt: Die je eigene körperliche Existenzform, die Einheit von Leib und Seele, die wir je selbst sind, ist das basale Erlebnis in einem jeden Ausdrucksphänomen (vgl. ebd.: 110). »Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt.« (Ebd.: 113 [Herv. i.O.]) Es ist also nicht zu fragen, wie der Leib die Seele kausal hervorbringt oder die Seele umgekehrt auf den Leib einwirkt, sondern die Seele selbst stellt – wie Cassirer im Anschluss an Klages festhält – den Sinn des Leibes dar, so wie umgekehrt der Leib die Erscheinung der Seele bildet (vgl. ebd.). Die begrifflich-theoretischen Urteilsformen können in diesen Bereichen nur ansetzen, wenn sie die Phänomene als solche als gegeben anerkennen. Unter ontologisierenden Scheidungen des Seins wird das Band, das die ursprüngliche phänomenologische Einheit umschloss, unwiederbringlich durchschnitten, sodass die Phänomene unlösbare Rätsel bleiben (vgl. ebd.: 108–110). Systematisch hat Cassirer diese erkenntnistheoretische Dimensionierung unseres Wirklichkeitsbezuges in dem Konvolut über die Basisphänomene ausgearbeitet (vgl. hierzu auch Ullrich 2012: 51–52). Wir haben die Trias dieser Dimensionen bereits in Kapitel 3.5.2 in den verschiedenen Formulierungen von »Ich«, »Du« und »Es« bzw. »Fühlen«, »Wollen« und »Denken« oder »Monas«, »Wirken und Tun« und »Werke« betrachtet und in ihrer transzendentalen Funktion als »Modi der Vermittlung« oder »Fenster der Wirkl[ichkeits]-Erk[enntnis]« (Cassirer ÜB: 132 [Herv. i.O.]) kennengelernt. Zwar erfahren die Basisphänomene in den verschiedenen symbolischen Formen Weiterbestimmungen, müssen aber in ihrem Ursprung als Ausdrucksphänomene für jeden Wirklichkeitsbezug implizit vorausgesetzt werden. Die wissenschaftliche Erkenntnis muss dementsprechend eine transzendental-genealogische Wurzel in der Ausdruckswahrnehmung anerkennen und die Konstitution ihrer Erfahrungsform als Weiterentwicklungsprozess begreifen, der sich nie gänzlich von diesem Ursprung lösen kann (Cassirer PsF III: 90). Wird diese Bedingtheit der theoretischen Weltsicht selbst anerkannt, so lässt sich die Ausdruckswahrnehmung nur noch kritisch begrenzen, jedoch nicht skeptisch aufheben oder gänzlich bestreiten (vgl. Cassirer ÜB: 120). Um wie angekündigt die Form und Reichweite des Basisphänomens der Monas, der »Form der Ichheit« (Ullrich 2012: 82) unseres Weltbezugs, im Symbolbewusstsein zu erhellen, empfiehlt es sich direkt zu Cassirers Ausführungen zur konstitutiven Rolle der Monas in der physikalischen Erkenntnis überzugehen. Cassirer führt an, dass es auch in der Entwicklung hin zu einem »reinen Ich-Sinn« (Cassirer MsF: 97) jenseits der Sphä-
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re »des ›personalen‹ Seins« (ebd.: 109) nicht gänzlich gelingt, den Erlebnischarakter der Form der Ichheit aufzuheben. In der Physik stellt sich dieser in der Funktion des bzw. der Beobachter:in dar. Bestätigt wird diese Ansicht seitens der physikalischen Forschung selbst. In seiner sogenannten Hypothese π formuliert Erwin Schrödinger Cassirer zufolge die notwendige und notwendig »›stillschweigend[e]‹« (Cassirer ÜB: 122) Anerkennung der Voraussetzung eines solchen Erlebnisbezuges nicht nur hinsichtlich des eigenen Ich, sondern auch dem Du gegenüber: »Daß die ›Data‹ der Physik ›irgendwem‹ [und zwar mir sowie auch anderen; O.H.] gegeben sind, das ist ein genereller Charakter, der ihnen anhaftet, daher ein physikalisch bedeutungsloser (sich ›von selbst verstehender‹) Charakter, der in allen physikal[ischen] Aussagen bei Seite gelassen (›ausgeklammert‹) werden kann – aber er besteht trotz dieser Ausklammerung; er ist philosophisch nicht bedeutungslos, sondern gehört zu der vollen Aussage über die Wirkl[keit].« (Ebd.: 122 [Herv. i.O.]) Die Form physikalischer Erkenntnis muss sich hiermit auf eine Bedingung stützen, deren Bedeutung sie aber in ›physikalischer Sprache‹ nicht ausdrücken kann. Denn »es ist nicht möglich, mathemat[isch]-physikalisch zu beschreiben, zu ›definieren‹, was das Wort ›Ich‹ besagt« (ebd.: 121). Cassirer verdeutlicht dies mit Leibniz‘ Gedankenexperiment einer empfindungs- und wahrnehmungsfähigen Maschine (Leibniz 2014: § 17). Über die Untersuchung und Beschreibung der kausalen Abläufe in einer solchen Maschine könnte zwar erklärt werden, inwiefern sie Sinnesreize empfängt und verarbeitet, aber nicht die Perzeption, nicht ein »von Perzeption zu Perzeption Übergehendes« (Cassirer ÜB: 133), das sich »als gegenwärtig, als gewesen und als sein-werdend« (ebd.: 134) zeitlich erlebt (vgl. auch Cassirer SF IV: 227ff.). Es muss implizit vorausgesetzt werden, dass bereits verstanden ist, was ein Wahrnehmungserlebnis als Offenbarung von Wirklichkeit ist. Das Wahrnehmungserlebnis entzieht sich der Form physikalischer Objektivierung, kann also nicht zum Gegenstand physikalischer Untersuchung gemacht werden (siehe auch Kapitel 3.5.2). Es ist eine konstitutive Bedingung dieser Form, die lediglich anerkannt werden kann.
9.3 Die Perspektivität des weltkonstituierenden Eingriffs Cassirer hebt darauf ab, die Ich-Bezogenheitsform unter Berücksichtigung der ihr eigenen Zeitlichkeit der Erlebnisse, bis hin zu dem Erleben der Beobachtungsdaten der Physik, als notwendige apriorische Voraussetzung der Weltoffenbarung zu erweisen. Apel (1975) stellt demgegenüber, ebenfalls im Anschluss an Leibniz, die Frage nach dem transzendentalen Status der perspektivischen, nämlich leibzentrischen Weltvorstellung, d.h. der eigenen Weise der Räumlichkeit der Form der Ichheit. Verdeutlichen wir uns das, worum es Apel geht, noch einmal anhand des Gedankenexperiments: Kann die physikalische Analyse des Körpers die Perzeption nicht erklären, so kann sie auch kein sinnvoller Gegenstand der Physik werden, sondern bildet vielmehr, da die physikalische Betrachtung nicht gänzlich auf sie verzichten kann, eine der ungegenständlichen Voraussetzungen unserer Erkenntnis. Nun ließe sich dieser Befund auf
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Leibniz‘ kritische Ergänzung des sensualistischen Diktums »Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu« um das »nisi ipse intellectus« (Leibniz 1962: 111 [Herv. i.O.])2 übertragen. Die Frage, die sich im Anschluss daran stellt, lautet, ob wir die Perzeption dem ipse intellectus, dem Verstand oder Geist, zurechnen können? Was hieran kontraintuitiv erscheint, ist, dass die Perspektivität jener Perzeption an die innerweltliche Stellung und Funktion der Sinnesorgane geknüpft ist, die ihrerseits doch unzweifelhaft etwas Körperliches darstellen. An welcher Stelle steht also in dieser Formel der ipse sensu qua Leiblichkeit? (Vgl. Apel 1975: 65) Wollte man hier argumentieren, die Bedingung der Möglichkeit des Sehens ließe sich vom Auge3 als körperliches Organ gewissermaßen ablösen und dem ipse intellectus zuschreiben, mithin die Formel so als vollständige Disjunktion zwischen Empirischem und Apriorischem unserer Erkenntnis auffassen, gerät man jedoch zurück zur cartesischen Subjekt-Objekt-Relation und dem ihr entsprechenden Dualismus von res cogitans und res extensa (vgl. ebd.: 264–265). Gleichzeitig droht man damit hinter Cassirers Ansatz zurückzufallen, das Leibphänomen als ursprüngliches Ausdrucksphänomen der Vergegenständlichung in der theoretischen Weltsicht und damit auch der Scheidung in Subjekt und Objekt vorgängig zu betrachten. Müssen wir also nicht auch die Perspektivität der Wahrnehmung der Welt als transzendentale Bedingung dem Basisphänomen der Monas zugehörig betrachten? Obwohl die Monadologie erstmals die perspektivische Weltrepräsentation aus der Sicht der Monade berücksichtigt, zieht Leibniz mit der Einführung der prästabilierten Harmonie und der daraus resultierenden Verneinung einer gegenseitigen Beeinflussung von Körper und Seele lediglich die radikalste Konsequenz aus René Descartes’ Auffassung der Erkenntnisrelation (vgl. Apel 1975: 266). Wenn die geistige Innenwelt der Monade das gesamte mechanistische Universum als interne Repräsentation enthält, muss sie zwangsläufig auch den eigenen Leib, als Zentrum ihrer Perspektive, repräsentieren, um sich die Welt überhaupt perspektivisch vorstellen zu können. In diesem Zusammenhang tritt der Begriff der Vorstellung in einem doppelten Sinn auf (vgl. Leibniz 2014: § 62): einmal als perspektivische Vorstellung aus der Sicht des Leibes und einmal als die Vorstellung des eigenen Körpers selbst, unabhängig von einer durch den Leib vermittelten Perspektive. Die hierin verborgene Schwierigkeit besteht Apel zufolge darin, dass der Leib in der Funktion des perspektivischen Zentrums – d.h. als Bedingung der Möglichkeit einer bestimmten Vorstellungsart – einer sphärenmäßigen Aufteilung der cartesischen Subjekt-Objekt-Relation folgend selbst als vorfindbarer Teil der objektiven Körperwelt behandelt werden müsste. Legt man aber dabei wieder »den Begriff einer perspektivischen und insofern immer schon leibbedingten Weltvorstellung« (Apel 1975: 268) zugrunde, so lässt sich das Verhältnis zum eigenen Leib nur unter einem regressus ad infinitum denken. Wir könnten in Folge dessen keine Trennung mehr zwischen dem Erkenntnissubjekt und seiner leiblichen Verfasstheit vornehmen. Apel resümiert: »Das Apriori des ›intellectus‹ genügt nicht, wenn die menschliche Erkenntnis a priori perspektivisch ist, gefordert scheint vielmehr so etwas wie ein ›Leibapriori‹.« (Ebd.: 268)
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»Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war – außer dem Verstand selbst.« Dass allerdings das Problem der Perspektive und Perspektivität keineswegs an die Sehfähigkeit geknüpft ist, stellt John Michael Krois (2011: 214f.) am Beispiel der von Blinden angefertigten Zeichnungen heraus.
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Ist es aber nicht wiederum möglich, ein solches Leibapriori mittels einer Reflexion auf den entsprechenden Leibstandort aufzuheben, sodass sich die in ihm formulierten transzendentalen Bedingungen aus dem ipse intellectus ableiten ließen? Als Basisphänomen bildete die Form der Ichheit in ihrem Dass eine Konstante, die in den symbolischen Formen ihre Ausgestaltung erfährt (vgl. Ullrich 2012: 77; siehe auch Kapitel 3.5.2). Es wäre also zu überlegen, ob die zum Leib gehörende perspektivische Form der Wahrnehmung in dieses Dass eingeschlossen ist, oder sich nicht gerade dieser Aspekt in der Entfaltung des Symbolbewusstseins vollständig aufheben lässt. Dafür spräche bspw. die von Cassirer immer wieder hervorgehobene Tendenz in der Entfaltung des Symbolbewusstseins, sich von der unmittelbaren Wahrnehmung zu entfernen (siehe u.a. Cassirer ER: 111). Die Frage, die wir hier also zu diskutieren haben, lautet, welche Reichweite und welchen Umfang ein solches Leibapriori besitzt – und zuletzt welche Bedeutung ihm im Folgenden für die philosophische Reflexion selbst zukommt. Wie Apel ausführt, findet sich bei Leibniz ein Gedanke in Richtung einer solchen Aufhebung, wenn dieser zwischen Perzeption als endlicher und leibvermittelter Weltvorstellung und Apperzeption als der »Teilhabe an den ›ewigen Wahrheiten‹« (Apel, 1975: 268) unterscheidet. Als Ebenbild Gottes sei es dem Menschen vergönnt, den göttlichen Schöpfungsgedanken zu folgen, die das Beziehungsgefüge zwischen den Monaden stiften. Gott wird hierbei als unendlich große Kugel vorgestellt, die so ihren Mittelpunkt in jeder einzelnen Monade besitzt. Mit dieser Art der Vermittlung soll veranschaulicht werden, wie in einer exzentrisch gedachten Monadologie »sämtliche Perspektiven und Leibzentren aus einem idealen Beziehungsgefüge zu deduzieren« und damit jegliches Leibapriori »zu einem innerweltlich vorkommenden Standort« (ebd.: 269) zu degradieren wären. Doch bleibt dieses Modell aufgrund der faktisch weiterbestehenden Bindung an einzelne Leibperspektiven auf der Ebene eines Gleichnisses, sodass Apel seinerseits die Frage stellt: »Inwieweit ist der Mensch tatsächlich in der Lage, exzentrisch gedachte und empirisch verifizierbare Relationstheorien aufzustellen, Theorien also, in denen sein eigener Standpunkt der Weltvorstellung in der Weise objektiv verfügbar gemacht ist, daß er zu einem möglichen empirischen Datum wird?« (Ebd.: 269) Als möglichen Fall einer solchermaßen exakt wissenschaftlichen, exzentrischen Monadologie diskutiert Apel zunächst die einsteinsche Relativitätstheorie: Vermittelte bei Leibniz Gott als unendliche Kugel zwischen den perspektivischen Weltvorstellungen der Monaden, so ist es in der Relativitätstheorie die mathematische Funktion der LorentzTransformation, die es erlaubt, die verschiedenen Bezugssysteme über die Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum als unabhängiges Maßinstrument ins Verhältnis zu setzen (vgl. ebd.: 270). So gedacht, könnte hier demonstriert werden, wie sich das Leibapriori in der Selbstentfaltung des Geistes zugunsten einer vollständigen Disjunktion zwischen geistigem Subjekt und innerweltlichen Objekten aufheben lässt. Allerdings fußt diese Aufhebung gerade darauf, dass die Relativitätstheorie die Voraussetzungen der traditionellen Subjekt-Objekt-Erkenntnisrelation unterläuft, indem sie präreflexiv die Vorstellbarkeit der Welt an die Identifikation des Erkenntnissubjekts mit der Leibvermittlung selbst knüpft. Der entscheidende Schritt ist hier, dass Albert
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Einstein konsequent unsere anschaulich-schematisierbaren Begriffe (›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹, ›Zukunft‹, ›Gleichzeitigkeit‹) über mögliche Messungen zu definieren sucht. Apels Deutung zufolge schließt dies in sich, dass jene Begriffe, anstatt sie aus der Reflexion des exzentrischen Bewusstseins als reine Denknotwendigkeiten zu entwickeln, »in ihrem Sinn a priori über einen Eingriff des leibhaften Menschen in die Welt vermittelt sind« (ebd.: 271). Denn auch der technisch gestützte Messvorgang der Physik gründet sich letzthin »in einem vorquantitativen ›Sichmessen‹ des leibhaft existierenden Menschen mit der Welt« (ebd.: 272).4 Eine entsprechende Rolle spricht Cassirer dem Leib bereits in den ersten beiden Bänden der Philosophie der symbolischen Formen zu. Der Leib erscheint hier als maßgebendes und ursprüngliches Gliederungsschema, stellt in dieser Funktion die Orientierungspunkte bereit, auf die räumliche Differenzierungen der Welt übertragen werden. Auch die Begrifflichkeiten der exakten Naturwissenschaften können auf diese qualitativen Schematisierungen nicht gänzlich verzichten, auch wenn die theoretische Weltsicht danach strebt, sich von dieser Grundlage zu emanzipieren (vgl. Cassirer PsF I: 157–159; PsF II: 112–113; siehe hierzu auch Wiegerling 2008: 77–78). In der Relativitätstheorie gelingt es dem menschlichen Geist, eine Monadologie zu formulieren, die alle möglichen Leibstandpunkte und ihre zugehörigen Perspektiven in einer objektiven Theorie verfügbar macht; aber damit ist erstens alle »Vorstellbarkeit (d.h. alle anschauliche Schematisierbarkeit)« aus der »Idee des theoretisch Objektiven« verschwunden und zweitens ihre Konstitution selbst »a priori von der Identifizierung des Bewußtseins mit einer leibzentrischen Perspektive abhängig gemacht« (Apel 1975: 276). Implizit beinhaltet damit die Konzeption der Relativitätstheorie die Anerkennung eines Leibapriori, wenn auch nur auf einer präreflexiven, aber dennoch weltkonstitutiven Stufe, die in der reflexionsvermittelten, exzentrischen Theoriebildung aufgehoben wird. Ohne dass mir hier der Raum zur Verfügung steht, Apels Interpretation der Relativitätstheorie mit Cassirers eigener zu vergleichen, scheint sie mit den dargestellten Ausführungen zu den Basisphänomenen vereinbar, mithin ihnen sogar entgegen zu kommen. Das Basisphänomen der Monas muss als transzendental-genealogische Basis der Erkenntnis anerkannt werden und kommt auf präreflexiver Stufe zur Geltung, während der Erlebnischarakter in seiner Bezugsform der Ichheit in den Beobachtungsdaten der Physik fortbesteht. Mehr noch: In beiden Konzeptionen wird die ursprüngliche Form der Weltoffenbarung und ihre konstitutive Bedeutung für die kulturellen Weltbezüge beschrieben.
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Am Beispiel des Begriffs der Gegenwart: Dem reinen Nachdenken eröffnet sich die Gegenwart als unendlich kleiner Zeitpunkt zwischen Zukunft und Vergangenheit. Als solcher ›Zeitpunkt‹ steht der Begriff jedoch im Widerspruch zum anschaulich gegebenen und physiologisch bestimmten ›Augenblick‹ als Zeitintervall. Auch wenn in der technikgestützten Messung über die physiologische Bestimmung hinausgegangen wird, bleibt sie doch abhängig von den Bedingungen leibvermittelter Erkenntnis. Vermittelt sich der Befund von Gleichzeitigkeit über die Naturkonstante der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum, also über das Wahrnehmungserlebnis des Lichtstrahls vom jeweiligen Bezugssystems aus in Abhängigkeit des Abstandes des Leibes vom zu beobachtenden Ereignis, dann stellt sich auch der physikalische Begriff der Gegenwart als Zeitintervall dar, dessen Ausdehnung nur im Falle kurzer Distanzen vernachlässigt werden kann (vgl. Apel 1975: 273–274).
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Verfolgt man die Spur des Leibapriori weiter, so fragt man sich, ob nicht auf die gleiche Weise in sämtlichen Gebieten des Wissens die leibzentrische Weltkonstitution im Rahmen einer reflexionsvermittelten, exzentrischen Theoriebildung aufzuheben wäre, die ihrerseits in einem letzten Schritt der philosophischen Reflexion wieder eingeholt werde könnte, um so das Apriori der Erkenntnis rückwirkend auf den intellectus zu reduzieren (vgl. ebd.: 277). Denn dies wäre ja wiederum grundsätzlich jene Stufe, auf der sich eine Transzendentalphilosophie, die von der Kritik der Vernunft zur Kritik der Kultur schreitet, verorten würde – eine Transzendentalphilosophie, die also bestrebt ist, die kulturelle Welt des Menschen und ihre Erzeugnisse exzentrisch aus der Gesetzlichkeit des menschlichen Symbolbewusstseins heraus zu begreifen. Denn bei der Erklärung einer zentrischen Positionierung und eines zentrisch-perspektivischen Umweltbezugs, müsse ja schon vorausgesetzt werden, was es heißt, exzentrisch positioniert zu sein. Gleichwohl wird die zulassende bzw. mediale Basis der zentrischen Positionalität anerkannt (siehe hierzu Kapitel 3.2; vgl. Cassirer MsF: 35–36, 43 und 60; siehe hierzu Orth 1991: 260–266). Ferner gilt es auch zu bedenken, dass die Aufhebung jener Form, wie sie in der Relativitätstheorie vorliegt, nur möglich ist, weil es sich bei ihr um eine empirische Theorie handelt, in der tatsächlich jedes Bezugssystem mithilfe einer Transformationsformel verifizierbar als möglicher Fall in der Welt abgeleitet und somit vergegenständlicht werden kann, d.h., zum Objekt des ipse intellectus wird. Wohingegen es die philosophische Reflexion gewissermaßen nur mit einer »formale[n] Antizipation der Aufhebung des Konkreten im Allgemeinen« (Apel 1975: 277) zu tun hat. Eine Ableitung anschaulicher Welterfahrung aus der Theorie heraus erscheint als wenig realistisches Ziel und würde überdies explizit dem Verhältnis von spontanem Akt des Weltverstehens und seiner Aufhebung in einem System der symbolischen Formen widersprechen, das eben Fluchtpunkt der Reflexion und nicht Ausgangspunkt einer Ableitung darstellt (vgl. Cassirer PSF I: 26–27; siehe hierzu auch Kapitel 8.3 und 8.4). Cassirer sieht es als Aufgabe der Philosophie der symbolischen Formen, die Theorie der Kultur, die ihre Grundlage in der Formanalyse der empirischen Kulturwissenschaften findet, in einer philosophischen Reflexion abzuschließen (vgl. Cassirer LdK: 456). So knüpft die philosophisch-formale Reflexion an den von den Kulturwissenschaften aufbereiteten anschaulichen und leibvermittelten Weltgehalten an. Folglich müssen wir ein präreflexives Apriori des Leibes inklusive der leibzentrischen Perspektive als »unaufhebbare Bedingung der Möglichkeit allen materialen (anschaulich-bedeutsamen) Weltgehalts« (Apel 1975: 277) gleichzeitig als Bedingung der Möglichkeit einer kulturkritischen Reflexion ansetzen. Weiterhin zu klären ist dann aber, in welchem Sinne das Leibapriori in der Kulturkritik aufgehoben wird, ferner in welchem Verhältnis Leibapriori und das Apriori des intellectus in einer geschichtlichpraktischen Weltdeutung stehen. Apel argumentiert nun, dass sich die Aufhebung des Leibapriori in der Relativitätstheorie und der traditionellen Erkenntnistheorie letztlich einem Spezialfall technischer Verfügbarmachung in der Makrophysik verdankt und überrascht sodann mit dem Vorschlag, die Grundsituation des menschlichen Weltverstehens in einer Analogie zur Mikrophysik, d.h. zur Quantentheorie nach Werner Heisenberg und Richard von Weizsäcker, zu modellieren. Denn hier zeige sich, dass der Verzicht auf die Identifikation des anschaulich Versteh- und Vorstellbaren mit dem theoretisch Denkbaren nicht zu ei-
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ner vollständigen Aufhebung sämtlich möglicher Beobachtungsperspektiven und Weltaspekte in einem mathematischen Transformationssystem führt (vgl. ebd.: 278). Beeinflusst in der Mikrophysik der einzelne Beobachtungsakt das Messergebnis, lässt sich dieses nur noch auf statistischer Ebene im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitsfunktion erklären. Umgekehrt kann dann die mathematische Theorie die einzelnen Beobachtungsakte nicht mehr aus einem Formalismus ableiten wie noch in der Relativitätstheorie, sondern beschreibt nur noch »die quantitative Form einer objektiven Möglichkeit« (ebd.: 279), die sich in der Beobachtung aktualisiert und auf die Wahrscheinlichkeitsfunktion zurückwirkt. Die Objektivität des Gegenstandes der Natur, die sich im mathematischen Formalismus ausdrückt, umfasst damit nicht länger das einzelne beobachtete Faktum. Die Beobachtung selbst ist ein eingreifender, weltkonstitutiver Handlungsakt, der selbst nicht mehr klar von seinem Gegenstand abgegrenzt werden kann (vgl. ebd.: 280). In der Quantentheorie bleibt damit neben der mathematischen Theorie des ipse intellectus das Apriori eines leibzentrischen Beobachtungsaktes nicht nur auf präreflexiver Stufe enthalten, was sich darin zeigt, dass die anschaulich-schematisierbare Begrifflichkeit in der Sprache der Experimentalphysik neben der mathematischen Sprache der theoretischen Physik weiterbesteht (ebd.: 279). Ihr jeweiliges Verhältnis zueinander kommt in dem von Niels Bohr eingeführten Konzept der Komplementarität zum Ausdruck. Die einzelnen, leibvermittelten Beobachtungsakte konstituieren einander ausschließende Perspektiven, die in der mathematischen Theorie unter Verzicht auf anschauliche Vorstellbarkeit als sich gegenseitig ergänzende Aspekte der Welt synthetisiert werden können (vgl. ebd.: 281). Die Analogie zur Grundsituation des menschlichen Weltverstehens veranschaulicht Apel wiederum an einem Beispiel aus der leibnizschen Monadologie (Leibniz 2014: § 57). Richten wir unseren Blick von verschiedenen Standorten aus auf eine Stadt, so entstehen jeweils verschiedene Panoramen vor uns. Man wird geneigt sein, diese Panoramen als perspektivische Vervielfältigungen desselben Gegenstands zu erachten. Allerdings läge diesem Verständnis bereits die Konzeption eines mathematisch-physikalischen Objekts zugrunde, in der wir von seinen technisch nicht-relevanten Hinsichten abstrahieren, um so die jeweiligen Aspekte in einem Kontinuum aufgehen zu lassen. Diese Aufhebung der leibzentrischen Standpunkte – wie wir sie auch in der Relativitätstheorie sehen konnten – gelingt nur, solange die Wahrnehmungsakte für uns nicht um ihrer selbst willen von Interesse sind. Denken wir jenes Panorama als den Blick einer Malerin, die mit ihrer Staffelei auf einem Hügel vor den Toren der Stadt steht, ist es wegen seiner Unvorhersehbarkeit und Einzigartigkeit nicht mehr möglich, dieses Bild als bloße Hinsicht auf einen Gegenstand zu fassen und in dieser Form abzuleiten. Sein Verständnis bleibt mit der Leibvermittlung des weltkonstitutiven Eingriffs verhaftet. Was es zeigt und was es verbirgt, ist grundsätzlich verschieden von dem Bild eines oder einer anderen Künstler:in und steht zu einem solchen zumindest auf dieser Ebene in Widerspruch (vgl. Apel 1975: 283–284). Was hier zum Ausdruck gelangt und zum Werk gerinnt, ist ein Inneres, »das Zeugnis einer individuellen Lebensform« (Cassirer FuT: 179). Doch greift auch die Behandlung als individuelle Lebensform noch zu kurz. Die weltkonstitutiven Akte, die im Fokus der Geisteswissenschaften stehen, sind in ihrer Leibvermittlung fortdauernd hermeneutisch-sozialgeschichtlich zu rekonstruieren. Denn trotz der logischen Vorgängigkeit des Leibphänomens kommen in den ent-
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sprechenden Akten Haltungen, Normierungen, Dispositionen und Rhythmisierungen zum Ausdruck – schlicht alles, was wir zur kulturellen Prägung des Leibes im Zuge der Traditionsvermittlung, den kontingenten materiellen Bedingungen und der persönlichindividuellen Geschichte rechnen können (vgl. Wiegerling 2008: 83–84; siehe auch Kapitel 3.5.2); freilich ohne dass jene Akte deswegen als Fall aus diesen Prägungen und Bedingungen strikt abzuleiten wären. Mit Cassirer gesprochen verbindet sich dieser spontane Akt der Weltkonstitution gleichzeitig mit dem Ganzen der Menschheit, prägt sich in den Körper der Kultur, oder ist, wie es Apel formuliert, geneigt, das Weltbild »in epochemachender Weise« (Apel 1975: 285) zu verändern. Während diese Geschichtlichkeit des irreversiblen leibzentrischen Beobachtungsaktes in der Mikrophysik durch seine Betrachtung aus der exzentrischen mathematischen Theorie des ipse intellectus vernachlässigt werden kann (vgl. ebd.: 285), bildet dies genau das Thema einer Dialektik, die als Kulturkritik auftritt. Welche Schlüsse lassen sich hieraus für einen kulturphilosophischen Begriff der dialektischen Praxis ziehen?
9.4 Die Hürden des dialektischen Verhältnisses Wir sind von der Frage ausgegangen, in welcher Form die kulturelle Logik der Objekte im Falle einer den eigenen Subjektstatus prekär werden lassenden, aber dennoch als nötigend erscheinenden Orientierung für uns indisponibel sein kann. Insofern die dialektische Reflexion auf ein kritisch-gestaltendes Verhältnis zum eigenen Weltverhältnis abhebt, wäre eine Indisponibilität nur gegeben, wenn sich Hürden in dieser Verhältniseinnahme erkennen lassen. Diese Hürden können nun umrissen werden. Als Einheit von transzendental-theoretischer und transzendental-praktischer Reflexion folgt die Kulturkritik stets dem gleichen Weg: Vermittelt über die empirischen (Kultur-)Wissenschaften gewinnt sie ihren Gegenstand in den symbolischen Objektivationen, d.h. den leibvermittelten Akten der Wirklichkeitskonstitution. Ausgehend »von der Wirklichkeit des Faktums«, der jeweiligen Objektivation, fragt die Kulturkritik unter dem ›Imperativ des Werkes‹ »nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹« (Cassirer PsF II: 13–14). Werden auf diese Art zunächst die konstitutiven Prinzipien der verschiedenen Formen des Weltverstehens – als deren Aktualisierungen die einzelnen symbolischweltkonstitutiven Akte begriffen werden – herausgehoben, folgt in der philosophischen Reflexion die Synthese jener symbolischen Formen zu einem dynamischen System, in dem sich das Symbolbewusstsein seiner eigenen Formungskraft – seines Prinzips des Bildens – vergewissert. Die Mikrophysik führt über statistische Wahrscheinlichkeitsfunktionen die sich widersprechenden leibzentrischen Beobachtungsakte in ihrer quantitativen Form der Möglichkeit in eine Synthese und hebt sie damit in ihrer Widersprüchlichkeit auf. Die dialektische Reflexion des Symbolbewusstseins abstrahiert von den materialen Inhalten, von den Zwecken und kontingenten Bedingungen kultureller Praktiken, um die Form(en) der Objektivierung unter einem Prinzip des Bildens in ihrem Geltungsanspruch zu bestimmen. Ausgehend von dieser Beschreibung können wir davon sprechen, dass die leibzentrischen Welteingriffe nur in ihrer qualitativen Form der Möglichkeit aufgehoben werden. Anstatt die weltkonstituierenden Beobachtungsakte mathema-
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tisch mittels einer Wahrscheinlichkeitsfunktion zu beschreiben, sind hier einander ausschließende (in einem dialektischen Widerspruch stehende) Weisen des Aufbaus von Wirklichkeit kritisch-transzendental in ein Verhältnis gesetzt, in dem sich Stand und Entwicklung des Symbolbewusstseins ausdrücken, mit anderen Worten: seine Geschichtlichkeit. Analog zur Komplementarität in der Quantentheorie erreicht der Geist in der dialektischen Kulturkritik aus exzentrischer Position heraus eine nichtanschauliche Synthese der nicht-ableitbaren leibzentrischen Welteingriffe. Der Kulturkritik geht es jedoch in dieser Selbstaufstufung des Symbolbewusstseins darum, eine veränderte Art des Sehens zu markieren, die die emanzipatorischen Potentiale in einem Reich der humanitas erkennt. Diese Deutung ist allerdings, insofern sie der Reflexion auf die Geschichtlichkeit der symbolischen Formungskraft entspringt, je auf den eigenen historischen Standpunkt relativiert. Das analytische Prinzip, nach dem sich die symbolischen Formen ausdifferenzieren, muss zwar a priori vorausgesetzt werden, ist aber a priori nicht zu bestimmen. Der Geist enthüllt es erst nach und nach in der Reflexion auf seine historische Konkretisierung. Entsprechend ist die ›Klarheit und Bestimmtheit des Sehens‹ zunächst reflexiv. Sie ist die Selbstbestimmung des Geistes, der in seiner Weltverhältnisse ermöglichenden exzentrischen Positionalität auf die bestehenden, in leiblich-zentrischen Akten vermittelten Weltverhältnisse blickt und selbst ein neues Verhältnis zu diesen hervorbringt. In der philosophischen Reflexion befreit sich der Geist vom Zwang der Symbolik, insofern seine Selbsterkenntnis nicht als Gegenstandsbezug zu denken ist (siehe Kapitel 8.5). Auf diese Weise erscheint es also zunächst möglich, sich in ein kritisch-transzendentales Verhältnis zu Formungsprinzipien jeweiliger Möglichkeitsräume zu setzen und deren Geltungsanspruch zu klären, zu beschränken oder zurückzuweisen. Die kategorische Nötigung der kulturellen Logik der Objekte, also jene der konstitutiven Regeln eines Möglichkeitsraumes, die die Bildung von Handlungsschemata ermöglichen aber auch einschränken, wäre auf diese Weise aufzuheben oder die in ihr tatsächlich gelegene Autonomie aufzudecken. Eine Hürde in der Verhältniseinnahme zeigt sich hier nur in der historischen Relativierung der Perspektive. Insofern der Geist aber »reine Reflexionsform« (Ullrich 2008: 43) ist, in der sich das sich ausdifferenzierende schöpferische Leben seinem Prinzip nach zusammenführt, ist es nicht möglich, aus dieser ›Klarheit und Bestimmtheit des Sehens‹ unmittelbar ein neues Weltverhältnis zu bestimmen. Anders ausgedrückt kann aus der kritisch bestimmten qualitativen Form der Möglichkeit eben kein spontaner weltkonstitutiver Akt abgeleitet werden. Soll also tatsächlich ›eine neue Kraft des Wirkens‹ entstehen, muss sich ein solcher Akt erneut durch eine leibzentrische Perspektive – und d.h. auch: symbolisch – vermitteln. Dieser Vermittlungsschritt unterliegt dann aber offensichtlich anderen transzendentalen Bedingungen. Für die kulturkritische Reflexion bildet das Leibapriori die ermöglichende bzw. zulassende Bedingung, um an den Konkretisierungen des Geistes auf das menschliche Weltverhältnis zu reflektieren und dieses exzentrisch zu bestimmen; entsprechend liegt im Leibapriori auch der Grund für die Geschichtlichkeit des Geistes. Wo sich das dabei gewonnene emanzipatorische Potential dann wieder in einem Blick auf die Welt aktualisieren, wo es praktische Orientierung in der historischen Situation bieten soll, ist es notwendig, dass das aufgestufte Symbolbewusstsein unter die Bedingungen des Leibapriori zurückkehrt.
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Die Hürde besteht auf dieser Ebene nun darin, ein neues perspektivisch-erstpersonales Verhältnis zur kulturellen Logik der Objekte einzunehmen. Eine »dialektische Sinndeutung« verlangt neben dem historischen auch einen innerweltlich-perspektivischen Standpunkt, sie enthält »stets eine Stellungnahme zur Welt im Hinblick auf zukünftige Praxis« (Apel 1973: 25). Ermöglicht wird dieser Entwurf künftiger Praxis als mögliche Handlungs- und Deutungsschemata erst aus dem Basisphänomen der Monas, insofern dieses, wie hier dargestellt, um die leibzentrische Perspektive auf die Welt erweitert wird. Das exzentrisch gedachte Reich der humanitas nach gemeinschaftlichen Gesetzen kann den Entwurf einer solchen Praxis dann aber nicht mehr eigenmächtig leisten, sondern dem möglichen Entwurf nur ein historisches Koordinatensystem des Symbolbewusstseins als Orientierungsmittel liefern. Hier sind wir vielmehr im pragmatischen Geltungsbereich dessen, was Simmel »Weltbild« nennt (siehe Kapitel 7.1). Das Weltbild ist der philosophische Entwurf, der unser Verständnis für das Symbolgeflecht der Kultur vertieft, Bedeutungen und Bedeutungsräume explizit macht sowie dabei seiner eigenen Perspektivität und Begrenztheit Rechnung trägt. Gerade dadurch kann die Philosophie als Weltbildentwurf aber ihrem Anspruch, »Orientierung über Orientierung« (Orth 1993: 91) zu bieten, genügen. Aus konstitutiven Regeln eines Handlungsbereichs lässt sich immer nur die Möglichkeit strategischer Regeln ableiten. Deren mögliche Einschlägigkeit zeigt sich aber erst, wenn zumindest perspektivische Standpunkte und situative Gegebenheiten angenommen werden. Der Entwurf ist gerade nicht allgemeingültig, sondern abhängig vom innerweltlichen Standpunkt des individuellen oder kollektiven Subjekts der dialektischen Sinndeutung. Plakativ: Der Weg zur »Solidarität der Arbeit« (Cassirer FuT: 183) führt über die Solidarität der Arbeiter:innen.5 Wie die Dialektik der kritischen Reflexion ihren Gehalt erst aus den historischen, kulturellen Praktiken schöpfte, tritt sie auch erst dort in wirksam Widerspruch zum Bestehenden, wo der Geist seine Verleiblichung findet – und d.h., wo er einen leibvermittelten weltkonstitutiven Eingriff vollzieht. Die Verleiblichung ist die Bedingung, unter der eine historische Lage ihre Engführung zur Konfliktsituation erfährt. Mit dem Entwurf einer Praxis, die leibzentrisch anderen Praktiken unvereinbar gegenübersteht, entfaltet sich die neue Kraft des Wirkens als »›Kraft des Negativen‹« (Apel 1973: 24). Diese Kraft des Negativen gewinnt sich damit aus der positiven Bestimmung der in der Reflexion geleisteten Repotentialisierung. Sollen die Konflikte – die freilich auch unabhängig von jeder philosophisch-geistigen Reflexion bestehen und (bewusst oder unbewusst) Veränderung hervorbringen – nicht gänzlich blind ausgetragen werden, bedarf es eines Entwurfs der Praxis und der Perspektive auf ihre Realisierung. Anders ausgedrückt erfordert die gelingende perspektivisch-erstpersonale Verhältniseinnahme, dem Orientierungsanspruch einer kulturellen Logik der Objekte einen neuen pragmatischen Imperativ gegenüberzustellen. Die Vermittlung eines solchen pragmatischen Imperativs muss allerdings nicht durch einen explizierten Entwurf vonstattengehen, sondern kann auch über andere Individuen geschehen, die als Vorbilder einen Entwurf verkörpern (vgl. hierzu auch Luckner 2005: 9). Cassirers Rede von den großen, kulturverändernden und neue
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Auf die Auffälligkeit, dass Cassirer von erster aber nicht letzterer spricht, weist Jan Müller (2007) hin.
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Wege beschreitenden Individuen, die in die Rolle der Erzieher:innen treten (vgl. Cassirer ZOdA: 191; LdK: 474; GIBE: 144; siehe auch Kapitel 3.2 und 4.2), lässt sich auf diese Weise verstehen. Der oder die Erzieher:in führt die sich eröffnenden Möglichkeiten einer positiven Bestimmung der Freiheit vor und reißt hierin den Zögling mit sich, wird zum Anstoß für die bildende Aktivität des Zöglings. Pragmatische Imperative bieten Orientierungswissen. Orientierungswissen erfordert neben seiner provisorischen und situativen Geltung aber auch die Übersetzung in eine Teilnehmerperspektive und die Authentifizierung aus dieser Teilnehmerperspektive (siehe Kapitel 6.2). Auch für die Vorbild- und Anstoßfunktion des oder der Erzieher:in gilt diese Bedingung. Diese Übersetzung bedeutet letztendlich aber auch nichts anderes als eine bestimmte Form der Leibvermittlung: Eine Vermittlung durch unseren Leib als Medium, in dem geistig-kulturelle, individualgeschichtliche und naturhafte Prägungen zentriert und zusammengeführt werden – und aus der dann eine bestimmte Orientierung hervorgeht (siehe auch Kapitel 3.5.2). Simmel thematisiert diese Vermittlung durch das individuell-leibliche Leben, durch die je eigene Lebensgeschichte, aus der heraus sich ein Sollen eröffnet und erkannt werden kann, in der vital-individuellen Anschauung (siehe Kapitel 3.5.3). Die jeweilige Orientierung muss angeeignet werden. Sie muss affektiv-identifizierend in ein personales und uns zugängliches Selbstverständnis integriert werden, das einer Logik, nämlich der Logik der Persönlichkeit, folgt. Die Verleiblichung als Bedingung für die Kraft des Negativen verweist ferner auf die Bedingungen der Materialisierung von Sinn – von symbolischer Prägnanz, wie Cassirer (PSF III: 231) sagen würde – und des Sinns der Materialität. Das aufgestufte Symbolbewusstsein begibt sich mit der leiblichen Vermittlung nämlich wieder in den Zwang zur Symbolik und damit gleichzeitig (zumindest partiell) unter den Zwang der Symbolik. Soll der Entwurf einer Praxis pragmatisch-orientierend sein, sich in ihm also eine gelingende Verhältniseinnahme ausdrücken, muss er sich hinsichtlich bestehender Interessenlagen, zur Verfügung stehender Ressourcen, tradierter kultureller Prägungen sowie kontingenten materiellen und leiblichen Bedingungen bewähren. Es bedeutet außerdem, dass der Praxisentwurf sich in Symbolen vermitteln muss und in dieser Vermittlung zu anderen Symbolen und Symbolgeflechten in einem Verhältnis steht, in dem seine Bedeutung je über sich hinausweist. Die neue Praxis und die neu entstehenden Werke müssen, auch wenn sie Veränderung bedeuten, an das Bestehende anknüpfen (vgl. Cassirer LdK: 475–477). Im bestehenden kulturellen Symbolgeflecht sind je technische Sicherungen der Sinnproduktion einbegriffen (siehe Kapitel 6.4), in denen aber der Entwurf neue Möglichkeiten entdecken oder schaffen und schließlich nutzen muss. Die (real-, sozialoder intellektual-)technische Form legt die ›Spuren für...‹ der Wertprädikation und der Verständlichkeit von Sinn, aber diese ›Spuren für...‹ enthüllen, erweitern und verändern sich erst nach und nach. Was hier als Unerwartetes hervortritt, ist in seinem Charakter offen. Es kann den Entwurf behindern, befördern oder sich ambivalent auswirken. Ein Grund für die Beharrlichkeit der Formen sieht Cassirer auch »in all dem, was man die Technik der einzelnen Künste nennt« (ebd.: 475), doch bleibt diese Wirkweise der Technik erstaunlich unterbestimmt. Zumal, wenn es kurz darauf heißt, dass »die besondere Art des Ausdrucks«, also in welchem »Medium« der Ausdruck erfolgt, ob »in Farben oder Tönen, in Wort oder Marmor«, »zur Konzeption des Kunstwerks«, seiner »Intuition« gehöre und »nicht erst zur Technik der Werkgestaltung« (ebd.: 478 [Herv. i.O.]). Die
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
technische Form bzw. Überformung dieses Mediums und seiner sinnkonstitutiven Rolle erscheint hier ausgeblendet. Dieser Punkt führt uns erneut zu dem Gedanken, dass symbolische Strukturen eigendynamisch Sinn hervorbringen, sei es durch ihre Beziehungen untereinander oder durch das eidetisch Dunkle respektive das unverstandene Materielle in der Konstitution von kulturellem Sinn (vgl. Apel 1973: 25; Simmel LA: 323). Wenn der Geist sich wieder materialisiert, muss ein sinnhafter Gehalt »an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet« (Cassirer BdsF: 79) werden. Soll dieses Knüpfen und Zueignen aber eine Bedeutung haben, muss die Materialisierung des sinnhaften Gehalts selbst bedeutungskonstitutiv sein (vgl. Freudenthal 2004: 270 und 272). In Cassirers Dialektik der kritischen Reflexion folgt der »Entmaterialisierung« kein Vorblick auf eine solche ›Rematerialisierung‹, auf den es hier ankommt. Gideon Freudenthal (2004) formuliert hieraus den weitreichenden Vorwurf, dass Cassirer entgegen seines Begriffes der symbolischen Prägnanz, der die Synthese von geistigem Sinn und sinnlichem Zeichen ausdrückt, den bedeutungskonstitutiven Aspekt der Materialität der Symbole nicht berücksichtige. »Das tiefere Problem liegt darin, dass Cassirer das Symbol als Verkörperung eines bereits existierenden Bewusstseinsinhalts auffasst und nicht als etwas, das an der Entstehung dieses Inhalts beteiligt ist. [...] Wie der geistige Gehalt über das Sinnliche ›hinausweist‹, so weist auch das Symbol darüber hinaus, aber das ›Hinausweisen‹ ist nicht im sinnlichen Symbol begründet, sondern im Geist. Durch alle Äußerungen Cassirers über die Verwobenheit des Materiellen mit dem Geistigen zieht sich konsequent der Grundgedanke, dass der Geist sich zwar in der Materie verkörpern muss, das [sic!] diese Materialisierung aber seinen Inhalt nicht verändert. Wenn dies aber so ist, dann trägt das Symbol nichts Neues bei bzw. aus der symbolischen Formung folgt keine echte Entwicklung. Denn will man ›Entwicklung‹ nicht auf die Entfaltung eines Begriffs in der Zeit reduzieren [d.h. das analytische Prinzip, nach dem sich die symbolischen Formen differenzieren; O.H.], dann ist die sinnlich-materielle Natur dieses Begriffs im Symbol wesentlich für die Entwicklung der Erkenntnis.« (Ebd.: 271–272) Sein eigener »Idealismus« bringe Cassirer »dazu, gerade den Gedanken aufzugeben, den er als das Prinzip der Entwicklung eingeführt hatte« (ebd.: 281). Der rematerialisierte oder verleiblichte Geist kann dann kein reiner Geist sein, sondern eben nur geistiges Leben. Wenn wir Ullrichs (2008: 43) Hinweis ernst nehmen, dass der Geist »reine Reflexionsform« ist, dann kann der Geist nicht im Sinne eines Entwurfs vorausschauen. Er kann dann nur im Nachhinein – also in der Reflexion auf das Getane und Geschaffene – das Materielle des Zeichens in sich aufheben. Aber diesen Schritt hat Cassirer Freudenthal zufolge sozusagen immer schon vollzogen, ohne ihn wirklich zu berücksichtigen, wenn er jedes »Zustandekommen [von Entwicklung] entweder gar nicht oder aber mit Bezug auf den ›Geist‹ u.ä. erklärt« (Freudenthal 2004: 282). »Die materielle Kultur wird als Kultur anerkannt, nachdem sie von der Materie gereinigt worden ist und sich in letzter Instanz als ›Geist‹ erwiesen hat. [...] Kein Wort davon, dass Technik etwas Materielles ist. [...] Im Abschnitt über Sprache fällt kein Wort über das, was die Schrift im Gegensatz zur mündlichen Tradition auszeichnet, über Gedrucktes im Vergleich zu Handschriftlichem. Es geht Cassirer ausschließlich um die geistige
9. Dialektik und Leibapriori
Bedeutung. Die Missachtung des Materiellen zeigt sich auch in der Erläuterung der Hauptthese über die Symbole, vor allem bei der Anwendung auf Gebiete, die spezielle Zeichensysteme verwenden. So findet sich zwar ein allgemeiner Satz über die Bedeutung von Symbolen in der Wissenschaft, jedoch eine Untersuchung der Rolle spezieller Symbole, z.B. in der Mathematik, unterbleibt.« (Ebd.: 281–283) Führt man diesen Gedanken weiter, so stellen sich Zweifel ein, ob der Geist überhaupt zur »zeichenlosen ›adaequaten‹ Erkenntnis« (Cassirer SMS: 265 [Herv. i.O.]) in der Lage ist. Die Erkenntnis des eigenen Prinzips des Bildens ist keine gegenständliche Erkenntnis mehr und entsprechend nicht durch eine symbolische Form vermittelt. Aber kann sie deshalb gänzlich auf Zeichen verzichten? Auch die Reflexion auf die Entwicklung der Reflexionsbegriffe und der sich darin abzeichnenden Eigenbewegung des Geistes muss in irgendwie sprachlichen Zeichen vollzogen und festgehalten werden. Auf den Gedanken, dass es keine Intuition, also auch keinen Sinn, jenseits der Zeichen gibt, verweist Cassirer (LdK: 480) sogar selbst, aber ohne dass daraus (abgesehen von der Berechtigung von Stil- und Gattungsunterscheidungen in der Kunst) weitere Schlüsse gezogen werden. Ein möglicher Schluss wäre nämlich, die Geschichtlichkeit des Symbolbewusstseins bzw. des Geistes noch radikaler zu denken, und zwar mit Blick darauf, wie der Reflexionsvollzug des Geistes durch Materielles mitgeprägt wird. Dies würde uns zu einer letzten Hürde der Verhältniseinnahme führen, die auf der Ebene der kritisch-reflexiven Dialektik erscheint. Denn muss sich der Geist selbst zumindest partiell als bedingt ansehen, wäre er genötigt, in einer rekonstruktiven Analyse der (auch) materiellen Verfasstheit seiner bedingenden Medialität offenzulegen, wie »die Dinge um uns und in uns in Form gebracht« (Simmel PdG: 112) wurden, um auf diese Weise seine eigene Bedingtheit immer wieder erneut aufzuheben. Denn der Geist dulde, wie Cassirer (FuT: 139 [Herv. i.O.]) sagt, »auf die Dauer keine schlechthin äußere Determination«. Diese Determination aufzuheben, wäre dann aber eine andere, ergänzende Form der ›Entmaterialisierung‹, die gerade nicht im Absehen vom Materiellen besteht. Der Geist müsste immer weiter graben, ohne an ein Ende zu kommen. Er müsste sich selbst und seiner dialektischen Reflexion je mit einem Funken Misstrauen begegnen. Dies war der Weg, den Simmel vorgeschlagen hat. Seinen Geltungsanspruch aufgeben, da waren sich Simmel und Cassirer einig, kann der Geist aber nicht.
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10. Kein Fazit, aber zum Trost
Wir haben nun Hürden herausgearbeitet, die für eine (gelingende) dialektische Verhältniseinnahme gegenüber der kulturellen Logik der Objekte bestehen und die den Nötigungscharakter der kulturellen Logik der Objekte indisponibel erscheinen lassen können. Für die technikphilosophische Diskussion um die Macht der Technik scheint mir hierin ein wichtiger Impuls gelegen, den es als technikphilosophische Aktualität Simmels und Cassirers festzuhalten und weiterzuführen gilt. Die Aktualisierung der virtuellen Kontroverse zwischen Simmel und Cassirer ist damit jedoch wohl kaum abgeschlossen. Die Werke Simmels und Cassirers, ergänzt um jeweilige Veröffentlichungen aus dem Nachlass, sind umfangreich, schwer zu überblicken und noch schwieriger wirklich zu durchdringen. Selbiges gilt für die Forschungsliteratur zu beiden Autoren. Auch wenn die Aktualisierung sich des Mediums des technikphilosophischen Diskurses um die Macht der Technik bedient, um die Betrachtung zu bündeln, stellt sich dieselbe Herausforderung, das Material zu bewältigen, auf Seiten des technikphilosophischen Diskurses. Es gäbe also noch vieles zu sagen und vieles zu entgegnen. Christoph Hubig schrieb mir zur Einreichung meiner Dissertation, auf der dieses Buch basiert, dass man beim Philosophieren niemals fertig werde, sondern nur, wenn es jeweils geboten ist, (vorübergehend) aufhören könne. Das Kriterium des Aufhörens kann aber je nur ein pragmatisches sein. Dieses Kriterium ist für mich an dieser Stelle erfüllt.1 Das entstandene Werk besitzt in seinen Möglichkeiten und seiner Rezeption ein eigenes Leben, dessen Kontrolle sich uns als endliche Individuen entzieht. Wenn angesichts dessen eine »Herrschaft [über den ethisch-sozialen Kosmos und über sich selbst] ohne Einschränkung für den Einzelnen nicht möglich ist, und wenn vom Standpunkt des Individuums hierin ein schmerzlicher Verzicht liegt«, wie Cassirer zugesteht, »so mag es sich in dem Gedanken trösten, daß ja auch die Menschheit kein Abstraktum, kein bloßes Gattungswesen, sondern ein echtes Individuum ist« (Cassirer GIBE: 147). Mit Simmel lässt sich hier anschließen, dass der »Trost« »das merkwürdige Erlebnis [ist], das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das
1
Einer meiner Katzen hat über meine Ausgabe der Philosophie des Geldes gekotzt, außerdem fällt sie langsam auseinander. Die Ausgabe, nicht die Katze.
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Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte
Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele« (Simmel Tagebuch: 272–273).
Siglenverzeichnis
Werke Simmels GSG
Georg Simmel Gesamtausgabe
Briefe
Briefe 1880–1911 (GSG 22)
BuTK
Der Begriff und die Tragödie der Kultur (in: GSG 14)
DB
Der Bilderrahmen. Ein ästhetischer Versuch (in: GSG 7)
DH
Der Henkel (in: GSG 14)
DM
Die Mode (in: GSG 14)
DZuK
Die Zukunft unserer Kultur (in: GSG 17)
EPK
Einleitung (in: GSG 14)
EPmK-KG
Ethik und Probleme der modernen Kultur. Sommer-Semester 1913. Mitschrift von Kurt Gassen (in: GSG 21)
FE
Fragment einer Einleitung (in: GSG 20)
Goethe
Goethe (in: GSG 15)
GP-AL
Griechische Philosophie (mit Berücksichtigung der späteren Entwicklung) Sommer-Semester 1913. Mitschrift von Adolf Löwe (in: GSG 21)
HP
Hauptprobleme der Philosophie (in: GSG 14)
IdmZ
Der Individualismus der modernen Zeit (in: GSG 20)
Konflikt
Der Konflikt der modernen Kultur (in: GSG 16)
Krisis
Die Krisis der Kultur (in: GSG 16)
KVL
Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität (in: GSG 9)
LA
Lebensanschauungen (in: GSG 16)
PdG
Philosophie des Geldes (GSG 6)
PhS
Zur Philosophie des Schauspielers (in: GSG 20)
310
Oliver Honer: Die kulturelle Logik der Objekte PrGP
Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (in: GSG 9)
PusK
Persönliche und sachliche Kultur (in: GSG 5)
Rel
Die Religion (in: GSG 10)
SÄ
Soziologische Ästhetik (in: GSG 5)
SG
Soziologie der Geselligkeit (in: GSG 12)
Soz
Soziologie (GSG 11)
SP
Schulpädagogik (in: GSG 20)
Tagebuch
Aus dem nachgelassenen Tagebuche (in: GSG 20)
TGLT
Tendencies in German Life and Thought since 1870 (in: GSG 18)
ÜgPP
Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie (in: GSG 12)
VWhV
Vom Wesen des historischen Verstehens (in: GSG 16)
WdK
Vom Wesen der Kultur (in: GSG 8)
Werke Cassirers ECW
Ernst Cassirer Werke
ECN
Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte
BdsF
Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (in: ECW 16)
EPW IV
Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band (ECW 5)
ER
Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen (ECW 10)
Form
»Form« (in: ECN 3)
FuF
Form und Freiheit (ECW 7)
FuT
Form und Technik (in: ECW 17)
GIBE
Goethes Idee der Bildung und Erziehung (in: ECW 18)
GKM
Die Grundprobleme der kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation (in: ECW 9)
Häg
Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart (in: ECW 21)
KLL
Kants Leben und Lehre (ECW 8)
KmB
Kant und die moderne Biologie (in: Geist und Leben)
LdK
Zur Logik der Kulturwissenschaften (in: ECW 24)
MätR
Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (in: ECW 17)
MdS
Vom Mythus des Staates
Siglenverzeichnis MsF
Zur Metaphysik der symbolischen Formen (in: ECN 1)
PdK
Probleme der Kulturphilosophie (in: ECN 5)
PdM
Zur Philosophie der Mythologie (in: ECW 16)
PsF I
Philosophie der symbolischen Formen I (ECW 11)
PsF II
Philosophie der symbolischen Formen II (ECW 12)
PsF III
Philosophie der symbolischen Formen III (ECW 13)
SF IV
Symbolische Formen. Zu Band IV (in: ECN 1)
SMS
Symbolbegriff: Metaphysik des Symbolischen (in: ECN 1)
SSP
Das Symbolproblem im System der Philosophie (in: ECW 17)
ÜB
Über Basisphänomene (in: ECN 1)
VüM
Versuch über den Menschen
ZOdA
Zur Objektivität der Ausdrucksfunktion (in: ECN 5)
Werke Kants AA
Akademieausgabe
EE
Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft
ÜE
Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll
GMS
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (zitiert nach AA IV)
KrV
Kritik der reinen Vernunft
KU
Kritik der Urteilskraft
MdS
Metaphysik der Sitten (zitiert nach AA VI)
311
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